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German Pages 607 Year 2014
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 22 (2014) Herausgegeben von Joachim Hruschka Jan C. Joerden
Duncker & Humblot · Berlin
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 22
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Im Jahre 1993 begründet von B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka und Jan C. Joerden
Herausgegeben von J o a c h i m H r u s c h k a · J a n C. J o e r d e n
Band 22
Duncker & Humblot · Berlin
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 22 (2014) Themenschwerpunkt:
Grund und Grenzen der Solidarität in Recht und Ethik – Foundation and Limitation of Solidarity in Law and Ethics Herausgegeben von Joachim Hruschka Jan C. Joerden
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Empfohlene Abkürzung: JRE Recommended Abbreviation: JRE Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-4610 ISBN 978-3-428-14526-3 (Print) ISBN 978-3-428-54526-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84526-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Nach langer, schwerer Krankheit ist am 4. März 2014 unsere Mitherausgeberin Frau Prof. B. Sharon Byrd in Erlangen verstorben. Sharon Byrd hat das Jahrbuch für Recht und Ethik, das seit dem Jahre 1993 veröffentlicht wird, mitbegründet und seine Gestalt und seinen Inhalt maßgeblich mitbestimmt. Wir bringen in einem ersten Teil des diesjährigen Bandes Nachrufe der Professoren Alice Pinheiro Walla (Cork / Wien), Karl Meessen (Jena/ Düsseldorf), Heather M. Roff (Denver) und Franz Streng (Erlangen) sowie ein Schriftenverzeichnis von Sharon Byrd zum Abdruck. Die Herausgeber werden sich an Sharon Byrd immer dankbar erinnern. Der Themenschwerpunkt dieses Bandes des Jahrbuchs ist der Frage nach „Grund und Grenzen der Solidarität in Recht und Ethik – Foundation and Limitation of Solidarity in Law and Ethics“ gewidmet. Dieser Fragestellung wird zunächst mit einer Begriffsklärung im Bereich von Ethik und Recht nachgegangen. Danach werden Problemfelder des Solidaritätsbegriffs im Hinblick auf die Staatsverfassung und das gesellschaftliche Zusammenleben näher analysiert. Abgeschlossen wird der diesjährige Band des Jahrbuchs wieder mit einem für unterschiedliche Themenstellungen aus dem „Bereich Recht und Ethik“ geöffneten Diskussionsforum. Für ihre Mitwirkung bei der Herstellung der Druckvorlagen für diesen Band ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), insbesondere Johannes Bochmann, Lydia Ludolph, Susen Pönitzsch, Luisa Wittner und Sebastian Wrobel zu danken. Johannes Bochmann danken wir zudem für die sorgfältige Erstellung der Register. Last, but not least gebührt wiederum Lars Hartmann (Berlin) Dank für die umsichtige Betreuung der Drucklegung im Verlag Duncker & Humblot. Hingewiesen sei schließlich auf die Internet-Seiten des Jahrbuchs für Recht und Ethik: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html Dort sind auch weitere Informationen zum Jahrbuch erhältlich – insbesondere die englische bzw. deutsche Zusammenfassung der Artikel und Bestellinformationen. Die Herausgeber
Preface Our co-editor Prof. B. Sharon Byrd has passed away on 4th March, 2014 in Erlangen after long and serious illness. Sharon Byrd was one of the originators of the Annual Review of Law and Ethics, which has been issued since 1993, and has contributed substantially to its shape and content. In a first part of this volume, we present obituaries written by professors Alice Pinheiro Walla (Cork / Wien), Karl Meessen (Jena/ Düsseldorf), Heather M. Roff (Denver) and Franz Streng (Erlangen), as well as a list of Sharon Byrd’s publications. The editors will always remember Sharon Byrd with deep gratitude. The thematic priority of this volume of the Annual Review is the question of “Grund und Grenzen der Solidarität in Recht und Ethik – Foundation and Limitation of Solidarity in Law and Ethics”. Firstly, in dealing with this topic, some terms from the fields of Law and Ethics will be clarified. After that, the notion of solidarity is analyzed closer in regard to the State’s constitution and social co-existance. Once again, this volume of the Annual Review is completed by a discussion forum open for diverse topics from the area of Law and Ethics. Our gratitude goes to Johannes Bochmann, Lydia Ludolph, Susen Pönitzsch, Luisa Wittner and Sebastian Wrobel, members of the Chair for Criminal Law and Legal Philosophy at the European University Viadrina Frankfurt (Oder), for their support in preparing the manuscripts for publication. We also appreciate Johannes Bochmann’s contribution in preparing the indices. Last, but not least, we would like to thank Lars Hartmann at Duncker & Humblot (Berlin) for his comprehensive assistance in printing the volume. We would also like to draw the readers’ attention to our website: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html where they will find further information on the Annual Review of Law and Ethics, including English and German summaries of the articles it contains and purchasing procedures. The Editors
Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Alice Pinheiro Walla: B. Sharon Byrd, Professor of Anglo-American Law and Jurisprudence and Kant scholar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Meessen: Professor B. Sharon Byrd, LL.M., J.S.D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heather M. Roff: In Memory of Professor B. Sharon Byrd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Franz Streng: Ansprache bei der Trauerfeier für B. Sharon Byrd am 11. März 2014 . . . . .
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B. Sharon Byrd, Bibliography . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Solidarität als Begriff der Ethik – Solidarity as a Concept of Ethics Gerhard Droesser: Solidarität: nicht mehr Sitte und nicht nur moralischer Appell . . . . . . .
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Thomas Hoppe: Die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft (Responsibility to Protect) in rechtsethischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Lienkamp: Solidarität und Retinität in Zeiten des Klimawandels. Überlegungen aus der Perspektive einer Ethik der Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ursula Nothelle-Wildfeuer: Solidarität – ethisches Kontrast- oder Sozialprinzip der Moderne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Markus Vogt: Zur moralischen Grammatik der Solidarität und ihrer (begrenzten) Anwendbarkeit auf intergenerationelle Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Solidarität als Begriff des Rechts – Solidarity as a Concept of Law Anna Coninx: Restriktives Solidaritätsverständnis und extensive Gefahrenzuständigkeit. Wie ein anachronistisches Verständnis der entschuldigenden Notstandshilfe die fragwürdige Konfliktlösung von Notstandsfällen im Defensivnotstand begünstigt . . . . . . . . 117 Michael Pawlik: Solidarität als strafrechtliche Legitimationskategorie: das Beispiel des rechtfertigenden Aggressivnotstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Nele Schneidereit: Angeborene Rechte – Bürgerrechte – soziale Rechte: Christian Wolffs Lehre von den iura connata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Solidarität im (sozialen) Staat – Solidarity in the (social) State Georg Geismann: Marktwirtschaft und Freiheit oder Die kantische Republik als „sozialer Rechtsstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Inhaltsverzeichnis – Table of Contents
Sigrid Graumann: Assistierte Freiheit. Vorschlag einer moralphilosophischen Begründung sozialer Menschenrechte über verbindliche gemeinschaftliche Solidaritätspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Stefan Huster: Hat das Leben keinen Preis? Absolute und relative Ansprüche im System der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Matthias Möhring-Hesse: Solidaristische Sozialpolitik: Ein Spiel mit dem Feuer . . . . . . . . 269 Konrad Ott: Deliberative Zwischenreiche und Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Solidarität und Gesellschaft – Solidarity and Society Thomas Laubach: Aus Solidarität arm – oder reich? Papst Franziskus über Solidarität, Armut und die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Julian Müller / Christoph Lütge: Wettbewerb der Solidarsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Wolfgang Maaser: Wohlfahrtsverbände und gesellschaftliche Solidarität – Problemdiagnosen zum Verhältnis von partikularen Hilfekulturen und Gerechtigkeitsansprüchen . . 349 Sonja Sailer-Pfister: Die Armen zur aktiven Teilhabe befähigen – theologische und sozialethische Überlegungen zu einem partizipatorischen Solidaritätsbegriff . . . . . . . . . . 365 Michael Schramm: „The Social Nature of Existence“. Eine evolutionäre Metaphysik der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Günter Wilhelms: Der Mensch und seine Gesellschaft – Solidarität in der modernen Ordnungsdebatte. Perspektiven christlicher Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Diskussionsforum – Discussion Forum Raphael Cohen-Almagor: Countering Hate on the Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Christoph Haar / Danaë Simmermacher: The Foundation of the Human Being Regarded as a Legal Entity in the ‘School of Salamanca’. Dominium and Ius in the Thought of Vitoria and Molina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Michael Mauer: Aspekte der Logik rechtlichen Argumentierens. Anmerkungen zu Ulfrid Neumanns „Juristische Logik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Karin Michel: Zum Problem der Indikation. Ethische und rechtliche Aspekte willensunabhängiger Therapiebegrenzung – Ein Praxisbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Kenneth R. Westphal: Moralkonstruktivismus, Vertragstheorie und Grundpflichten: Kant contra Gauthier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Tagungsberichte – Conference Reports Joanna Długosz: Deutsch-japanisch-polnisch-türkische Tagung „Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis“ vom 26. bis 30. August 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
Inhaltsverzeichnis – Table of Contents
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Maximilian Schochow und Manuel Willer: „Vorgeburtliche Medizin“. Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland vom 21. bis 23. Juli 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Personenverzeichnis / Index of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Sachverzeichnis / Index of Subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Hinweise für Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Information for Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
B. Sharon Byrd Professor of Anglo-American Law and Jurisprudence and Kant scholar 28th April 1947 in Dayton, Ohio, U.S. – 4th March 2014 in Erlangen, Germany It was a bright morning during her funeral at the Erlangen central cemetery on the 11th March 2014. Law students and colleagues from her German institutions were present, as were academics from different parts of the world: a young Hungarian legal historian, an American professor. When asked how they knew Sharon they gave a similar answer: she had helped them in some way. Sharon had helped a lot of people: students, young academics at the start of their careers, foreigners attempting to settle in a foreign culture. Commenting on this with friends, one of them observed that this was a beautiful way to be remembered. Sharon obtained her first degree at the prestigious Smith College in Northampton (Massachusetts) in 1969, majoring in Philosophy. She later studied law at the University of California in Los Angeles (UCLA). Her favorite subject, which would remain one of her research interests throughout her academic career, was criminal law. She first came to Germany in 1972 with an Alexander von Humboldt Fellowship, to work at the Max Planck Institute in Freiburg im Breisgau. Returning to the U.S., she spent some time working for the Federal Trade Commission in Washington D.C. She acquired her LL.M (Master of Law) and her J.S.D. (Juris Scientiae Doctor) from Columbia University in New York. Sharon was known as a passionate teacher, who not only genuinely enjoyed working with her students, but did her best to foster their abilities. She began her teaching career in Germany in 1984 at the Friedrich-Alexander University of Erlangen. Later, she taught at the University of Augsburg and the Friedrich-Schiller University of Jena. In 1996, she was made honorary professor at the University of Erlangen, but continued to teach regularly in Augsburg and Jena (where she became coordinator of the Law and Languages Program of the Faculty of Law). She taught Anglo-American Law, including courses on contract law, torts and the U.S. Constitution. Despite her teaching commitments, Sharon regularly organized reading groups on Kant’s works, especially on his legal philosophy. It is important to stress that these reading groups were attended mostly by law students, who are not usually interested in legal philosophy, even less in Immanuel Kant. That these reading groups were formed and continued to exist in her law departments is a credit to Sharon’s initiative, her absolute analytic clarity and her infectious enthusiasm for Kant’s thought. Another example of her devotion to her students is her work with the Jena student team for the Philip C. Jessup International Law Moot Court competition, which fo-
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B. Sharon Byrd
cuses on international law cases and involves competitors from over 500 law schools worldwide. Sharon worked intensively each year with her Jena team for the national moot court competition in Germany. The two best national teams would then be allowed to compete internationally in Washington D.C. In the twelve years of her moot court preparation, Sharon’s Jena team often either placed first or second and took first prize in three of the last four years. This meant that the University of Jena was very often present at the international competition, not least due to Sharon’s dedication to the team. Sharon served the broader academic community in a number of ways: she was chairperson of the selection committee of the highly competitive Cecil Rhodes Foundation scholarship in Germany for study in Oxford. She also worked as an honorary member of the Melton Foundation, which funds studies and brings together students from universities in the U.S., Chile, India, China and Germany (in this case, the University of Jena). Being an American who lived in Germany, Sharon understood the importance of building bridges between cultures, something she performed brilliantly and with great pleasure and enthusiasm. It was only with the onset of her illness in autumn 2007 that Sharon ended her work with the Melton Foundation. She retired in autumn 2013. Sharon has left an invaluable academic legacy, especially for Kant scholarship. In her influential 1989 article “Kant’s Theory of Punishment – Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution” (Law and Philosophy, vol. 8), she refuted the traditionally held belief that Kant was a retributivist about punishment. She also wrote several articles with her husband, the German law professor Joachim Hruschka. In 2010, after nearly five years of work, they published together the groundbreaking Kant’s Doctrine of Right. A Commentary (Cambridge University Press). The book is a landmark after many years of neglect of Kant’s legal philosophy in English speaking Kant scholarship and is distinctive for its holistic approach to Kant’s theory, scholarly rigor and its careful reconstruction of the work’s philosophical-historical background. Among the book’s many contributions, the commentary offers for the first time an interpretation of the three leges in the Doctrine of Right and stresses the long ignored influence of Achenwall in Kant’s legal thought. As a law scholar, Sharon argued for the right of self-defense for women who are victims of domestic violence in a number of articles such as “Till Death Do Us Part: A Comparative Law Approach to Justifying Self-Defense by Battered Women” (Duke Journal of Comparative and International Law, vol.1, 1991). Traditionally, men who beat their wives to death are less likely to be convicted of murder than women who kill their abusive husbands. This is because murder, as opposed to manslaughter, involves that idea the victim could not have expected the attack. Women, however, are less likely to kill their abusive partners in open confrontation. Sharon explores the possibility of invoking the right to self defense to justify a battered woman in killing the abuser in his sleep.
B. Sharon Byrd
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Sharon was also a co-editor of the journal Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics and a member of the editorial board of Law and Philosophy and author of successful textbooks in jurisprudence such as Introduction to Anglo-American Law & Language (3rd ed. 2011) and Law and Language of Contracts and Torts (2nd ed. 2010). Sharon Byrd’s remarkable and lasting contribution to Kant’s scholarship and to teaching in Germany would have been enough to keep her name alive for many generations to come. But she will also be remembered for her generosity, her genuine concern for others and the fact that despite her remarkable knowledge and academic achievements she was humble, jovial and a wonderful person to be with. She was fair-minded and honest in considering new arguments and different points of view. She also helped many young people at the start of their careers. She will live in every student she inspired, in every bridge she built between different cultures, in every academic she mentored and helped to flourish, in every friendship she cultivated. Those who had the privilege to know Sharon will sorely miss her. She remains for us all a living example of humanity and relentless scholarly passion. Alice Pinheiro Walla
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Professor B. Sharon Byrd, LL.M., J.S.D.
Professor B. Sharon Byrd, LL.M., J.S.D. Sharon Byrd wurde am 28. April 1947 in Dayton (Ohio) geboren. 1972 kam sie als Alexander-von-Humboldt-Stipendiatinnach Deutschland. Ab 1996 baute sie die Ausbildung in der englischen Fachsprache für Juristinnen und Juristen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena auf und leitete seither das Jenaer Law & Language Center, dem in der Folge weitere Programme wie Droit et Langue, Derecho y Lengua, Russisches Recht und deutsche Rechtssprache für ausländischer Studierende zugeordnet wurden. Kurz nach Eintritt in den Ruhestand starb Sharon Byrd am 4. März 2014 in Erlangen, wo sie mit dem Rechtsphilosophen und Strafrechtler Prof. Dr. Joachim Hruschka verheiratet war. Jena war schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein Standort für wirtschaftsrechtliche Forschung und Lehre. Heute kann Wirtschaftsrecht nur noch unter Einschluss des europäischen und internationalen Wirtschaftsrechts und daher nur noch gestützt auf eine umfassende Beherrschung der englischen Sprache betrieben werden. In Thüringen hatten bis zur Wende weder Schüler noch Lehrer ausreichend Gelegenheit, ihre englischen Sprachkenntnisse in einem englischsprachigen Land zu erweitern und zu vertiefen. So war es für die Juristische Fakultät ein besonderer Glücksfall, Sharon Byrd gewinnen zu können. Sie war es dann auch, die Jahr für Jahr eine aus drei bis fünf Studierenden bestehende Mannschaft aufstellen und für Jena in den weltweit unter hunderten von Universitäten ausgetragenen Philip-Jessup-Moot-Court Wettbewerb schicken konnte. Immer wieder gehörte Jena zu den höchstens zwei Mannschaften, die als Sieger im innerdeutschen Wettbewerb für Deutschland in den USA gegen Siegermannschaften aus allen Kontinenten antreten durften. Die Teilnahme am Moot Court kostete die Teilnehmer jeweils ein ganzes Wintersemester zur Vorbereitung der englischsprachigen Schriftsätze und Plädoyers, die jeweils für beide Seiten eines erdachten internationalrechtlichen Streitfalls vorgelegt und verteidigt werden mussten. Ihr „Gewinn“ bestand zunächst nur darin, dass das betreffende Semester nicht auf den sogenannten Freischuss angerechnet wurde. Nach einem erfolgreichen Examen war dann aber zumindest ein erster Zugang zu den großen internationalen Anwaltskanzleien in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und München und zu anderen internationalrechtlichen Laufbahnen praktisch garantiert. Bekanntlich gibt es zwei Arten von Englisch: Englisch als Muttersprache der Bevölkerung vieler Länder und Englisch als Zweitsprache des Rests der Welt. Sharon Byrd legte Wert darauf, allen ihren Studierenden, also nicht nur den wenigen Teilnehmern am Moot-Court-Wettbewerb, das native speaker Englisch einer amerikanischen Juristin zu vermitteln. Für Teilnehmer eines Fortgeschrittenenkurses in Jena konnte die Aufgabe daher lauten: eine beliebige Verlautbarung der Europäischen Kommission aus dem krausen Zweitsprachen-Englisch der meisten Bediensteten der Kommission in elegantes native speaker Englisch zu übersetzen. Dies setzte sowohl sprachliches als auch inhaltliches Verständnis voraus. Als ehemalige Mitarbei-
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terin der amerikanischen Federal Trade Commission und als Verfasserin von Lehrbüchern und Bearbeiterin von Fach-Lexika hatte sie beides. Ihre sprachwissenschaftlichen und rechtsvergleichenden Einsichten wurzelten letztlich in ihren rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Forschungsarbeiten, in deren Mittelpunkt stand immer wieder – schließlich sprach sie perfekt Deutsch – Immanuel Kant. Über alle ihre beruflichen Fähigkeiten hinaus war Sharon eine außerordentliche Persönlichkeit voll menschlicher Wärme. Ihr Tod bedeutet einen großen Verlust für viele Freunde in aller Welt und nicht zuletzt für die Studierenden der FriedrichSchiller-Universität, hätte sie doch gewiss auch im Ruhestand noch Jenaer MootCourt-Teams betreut und die eine oder andere Lehrveranstaltung angeboten. Aber ihr Nachfolger, sie wusste das und freute sich darüber, steht bereits fest: ab 1. April 2014 übernimmt Dr. Ciarán Burke, ein native speaker aus Irland, als Professor die Leitung des Law & Language Center der Friedrich-Schiller-UniversitätJena. Karl Meessen (Zuerst publiziert auf der Homepage der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena)
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In Memory of Professor B. Sharon Byrd
In Memory of Professor B. Sharon Byrd On March 4, 2014, our beloved friend and colleague, Professor B. Sharon Byrd passed away. She lost her battle with cancer. She was buried on March 11, the following week, in Erlangen, Germany. Sharon, as her friends know her, is survived by her husband, partner and friend, Professor Joachim Hruschka. Telling the story of Sharon’s life is beyond the scope of this short memorial. However, I will try to do her the honor she so deserves. She was born on April 28, 1947 in Dayton, Ohio. From the way she told it, she was a precocious child. It is no small wonder, given her keen mind and array of talents. She went on to study at Smith College, earning her Bachelors degree in 1969, only to move to the other side of the country and begin law school the following year at the University of California Los Angeles. Several years later, after her graduation from UCLA, she decided to return to the academy, where she procured her LL.M. and J.S.D. from Columbia. From there, her adventurous spirit led her to Germany, to take a faculty post in the law program at Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Her academic life was and is quite impressive. Her editorial work on the Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics is very well respected, having yielded over twenty years of top quality philosophy on Kant and jurisprudence. Moreover, she sat on the editorial board of Law and Philosophy, and with her beloved husband, Joachim, edited Kant and Law (Ashgate, 2006). However, it is her own work on Kant’s political thought that is most notable. She is author to over eighteen articles on Kant’s juridical theory, as well as most recently coauthoring with Joachim an extensive and extraordinary book, Kant’s Doctrine of Right (Cambridge, 2010). Her desire to understand Kant’s work holistically, as well as to garner support for its study is almost unmatched in our field. However, it is Sharon’s heart that she is most well known for. She was one of the most generous academics I have ever had the honor to meet. I reached out to Sharon while writing my dissertation on Kant’s political thought. We corresponded for some time, and it was only towards the end of my graduate study that she suggested I come to Germany to work with her and Joachim for a few months. During this time, they opened their home and hearts to me, and it was then that I came to understand and truly appreciate this beautiful and strong woman. In a way, she collected academics. She reached out to so many and responded in kind. If one valued Kant, there was a firm basis for friendship. Though she held onto her interpretations fiercely, she was open to many differing opinions. It is no surprise then, that so many people hold her in such high respect. She was thoughtful, kind, open, and caring; though, she brook no fools, and she pressed us for excellence. She told me once that she had befriended Mary Gregor shortly before Mary died. Indeed, she said that she and Mary had formed a fast friendship, and that she felt it
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was sad and unfair that Mary was taken from her when there was so much yet to discuss. This conversation with Sharon rings more poignantly today. Though I was lucky to have had years of correspondence and time with Sharon, learning from her and arguing with her, I now feel that she too has been taken too soon, for we also have so many things yet to discuss. With love and respect for our dear friend, colleague and mentor. Heather M. Roff (First published in The North American Kant Society – Newsletter Vol. XXXVII, No. 37 [March 2014])
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Ansprache bei der Trauerfeier für B. Sharon Byrd
Ansprache bei der Trauerfeier für B. Sharon Byrd am 11. März 2014 Heute tragen wir mit Frau B. Sharon Byrd die Ehefrau unseres Kollegen Joachim Hruschka zu Grabe und zugleich trauern wir um sie als Honorarprofessorin des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität. Frau Byrd hatte nach ihrer juristischen Ausbildung am Smith College in Northampton/ Massachusetts und an der University auf California in Los Angeles ein Alexander von Humboldt-Forschungsstipendium wahrgenommen, das sie 1972 nach Deutschland, genauer an das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, führte. Zwei Jahre später kehrte sie für eine Anwaltstätigkeit an der Federal Trade Commission in Washington, D.C. in die USA zurück. 1976 kam sie erneut nach Deutschland und arbeitete als freie Übersetzerin im Wissenschaftsbereich. 1984 bis 1985 war sie wissenschaftliche Angestellte an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität und dann noch einmal 1986 bis 1988. Zwischen diesen beiden Tätigkeiten an unserer Fakultät erwarb sie an der Law School der Columbia University, New York, den Grad eines „Master of Laws“ (LL.M.). Eben dort wurde sie im Jahre 1991 dann zum „Doctor of the Science of Law“ (J.S.D.) graduiert. Von 1988 an war Frau Byrd am Sprachenzentrum der Universität Augsburg tätig und betreute ab 1996 an der Universität Jena das „Law & Language Center“. Der seit 1984 enge Kontakt zur Friedrich-Alexander-Universität blieb trotz der Tätigkeiten an anderen Universitäten bestehen. Ab dem WS 1989 / 90 war Frau Byrd Lehrbeauftragte an unserer Fakultät mit Veranstaltungen zu „Introduction to Anglo-American Law“, „General English for Law Students“ und „Advanced English for Law Students“. In Anbetracht ihrer großen fachlichen und didaktischen Leistungen wurde sie auf Antrag der Juristischen Fakultät vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft mit Wirkung zum 10. Mai 1996 zur Honorarprofessorin für „Anglo-American Law and Jurisprudence“ bestellt. Bis zu ihrer schweren Erkrankung im Jahre 2007 hat sie in Erlangen in diesen Fächern Lehrveranstaltungen abgehalten. Frau Byrd als Wissenschaftlerin wird man freilich nur gerecht, wenn man ihre Beschäftigung mit der Rechtsphilosophie, insbesondere der Philosophie Immanuel Kants, hervorhebt. Hier hat die Verstorbene nicht nur eine größere Anzahl von Schriften publiziert. Sie war auch viel gefragte Referentin bei in- und ausländischen Tagungen. Eine Reihe von Veröffentlichungen entstand gemeinsam mit ihrem Mann. So waren sie Herausgeber des „Jahrbuchs für Recht und Ethik“. Ganz besonders hervorzuheben ist gewiss das im Jahre 2010 erschienene gemeinsame Werk von B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka, „Kants Doctrine of Right. A Commentary.“ Ich darf sagen, dass mir diese wie auch schon frühere Publikationen von Frau Byrd wirklich neue Einsichten in die Straftheorie Kants verschafft haben.
Ansprache bei der Trauerfeier für B. Sharon Byrd
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Wir verlieren mit der Verstorbenen nicht nur eine erfolgreiche Rechtslehrerin und angesehene Wissenschaftlerin. Wir verlieren auch eine ausgesprochen sympathische und gewinnende Kollegin. Sie war stets zugewandt und bereit zu helfen. Die Einladungen im Hause Hruschka/ Byrd waren geprägt nicht nur von großer Gastfreundschaft, sondern auch von dem Bemühen, Fakultätsgrenzen zu überschreiten und eine Universitas herzustellen. Wir Erlanger Kollegen werden die Verstorbene vermissen und ihr ein ehrendes Andenken bewahren. Franz Streng
B. Sharon Byrd Bibliography I. Books Introduction to Anglo-American Law & Language / Einführung in die anglo-amerikanische Rechtssprache (3rd ed.), C.H. Beck Verlag: München (2011). Kant’s Doctrine of Right – A Commentary (with Joachim Hruschka), Cambridge: Cambridge University Press (2010). Introduction to Anglo-American Law and Language, vol. II Contract and Tort Law (2nd ed.), C.H. Beck Verlag: München (2010). Zitierfibel für Juristen (with Matthias Lehmann), C.H. Beck Verlag: München (2007). [Alfred Romain] Dictionary of Legal and Commercial Terms / Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache part. II German-English (4th ed., with Carola Thielecke), C.H Beck Verlag: München (2002). Introduction to Anglo-American Law & Language / Einführung in die anglo-amerikanische Rechtssprache (2nd ed.), C.H. Beck Verlag: München (2001). [Alfred Romain] Dictionary of Legal and Commercial Terms / Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache part. I English-German (5th ed., with Hans Anton Bader), C.H. Beck Verlag: München (2000). The Law and Language of Contracts and Torts / Anglo-amerikanisches Vertrags- und Deliktsrecht, C.H. Beck Verlag: München (1998). Introduction to Anglo-American Law & Language / Einführung in die anglo-amerikanische Rechtssprache, C.H. Beck Verlag: München (1997).
II. Editorial Work Kant and Law (with Joachim Hruschka), Hants: Ashgate Publishers, 2006. Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, (with Joachim Hruschka and Jan C. Joerden), Duncker & Humblot: Berlin. Volume 1: Prepositive Law and Political Upheaval (1993) Volume 2: Imputation of Conduct (1994) Volume 3: Human Rights and the Rule of Law (1995) Volume 4: Bioethics and the Law (1996) Volume 5: 200th Anniversary of Kant’s Metaphysics of Morals (1997)
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Volume 6: Altruism and Supererogation (1998) Volume 7: The Human Analyzed (1999) Volume 8: The Development of the Moral Sciences in the Seventeenth and Eighteenth Centuries (2000) Volume 9: Hard Cases in Genethics (2001) Volume 10: Guidelines for Genethics (2002) Volume 11: Criminal Law and Legal Philosophy (2003) Volume 12: The Development of Moral First Principles in the Philosophy of the Enlightenment (2004) Volume 13: Philosophia Practica Universalis: Festschrift für Joachim Hruschka (2005) Volume 14: Law and Morals for Immanuel Kant (2006) Volume 15: The Law and Ethics of Medicine (2007) Volume 16: Kant’s Doctrine of Right in the Context of Eighteenth Century Natural Law (2008) Volume 17: I. Kant’s Peace Project; II. Compensation (2009) Volume 18: Business Ethics (2010) Volume 19: Political Ethics (2011) Volume 20: Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau’s Works (2012) Volume 21: The Rule of Law-Principle (2013) Law and Philosophy Kluwer Academic Publishers: Dordrecht, NL Editorial Board since 2003.
III. Articles, Contributions to Books „The elusive story of Kant’s permissive laws“ in: Lara Denis & Oliver Sensen (eds.), Kant’s Lectures on Ethics – A Critical Guide, Cambridge University Press (forthcoming). 23 articles about criminal law and other legal issues in Kant’s Doctrine of Right, in: Marcus Willascheck/ Georg Mohr / Jürgen Stolzenberg/ Stefano Bacin (eds.), Kant-Lexikon, Verlag Walter de Gruyter: Berlin (forthcoming). „Intelligible possession of objects of choice“ in: Lara Denis (ed.), Kant’s Metaphysics of Morals – A Critical Guide, Cambridge University Press, pp. 93 – 110 (2010). „From the State of Nature to the Juridical State of States“ (with Joachim Hruschka), Law and Philosophy, vol. 27, pp. 599 – 641 (2008). „Kant, das Recht zum Kriege und der rechtliche Zustand im Verhältnis der Staaten zueinander“ (with Joachim Hruschka), Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, vol. 94, pp. 70 – 85 (2008). „Kant zu Strafrecht und Strafe im Rechtsstaat“ (with Joachim Hruschka), JuristenZeitung (2007) pp. 957 – 964. „Der ursprünglich und a priori vereinigte Wille und seine Konsequenzen in Kants ‚Rechtslehre‘“ (with Joachim Hruschka), Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, vol. 14, pp. 141 – 165 (2006).
Bibliography
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„Introduction“ (with Joachim Hruschka) to: Kant and Law (see supra II. Editorial Work), pp. XIII– XXIX (2006). „The Natural Law Duty to Recognize Private Property Ownership. Kant’s Theory of Property in his Doctrine of Right“ (with Joachim Hruschka), University of Toronto Law Journal, vol. 56, pp. 217 – 282 (2006). „Kant on ‚Why must I keep my promise?‘“ (with Joachim Hruschka), Chicago-Kent Law Review, vol. 81, pp. 47 – 74 (2006). „Lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae in Kants Rechtslehre“ (with Joachim Hruschka), Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, vol. 91, pp. 484 – 500 (2005). „On Getting the Reasonable Person out of the Courtroom“ Ohio State Journal of Criminal Law, vol. 2, pp. 571 – 577 (2004). „Der Völkerstaat als Garant der Menschenrechte und des ewigen Friedens“ in: Jana Hasse/ Erwin Müller/ Patricia Schneider (eds.), Menschenrechte – Bilanz und Perspektiven, Nomos Verlag: Baden-Baden, pp. 70 – 90 (2002). „Multikulturalismus in einem Kantischen Staat von Teufeln?“ in: Matthias Kaufmann (ed.), Integration oder Toleranz? – Minderheiten als philosophisches Problem, Alber-Verlag: Freiburg i. Br., pp. 180 – 187 (2001). „Kant’s Theory of Contract“ The Southern Journal of Philosophy, University of Memphis, vol. 36, Supplement, pp. 131 – 153 (1998); reprinted in: Mark Timmons (ed.), Kant’s Metaphysics of Morals – Interpretative Essays, Oxford University Press, pp.111 – 131 (2002). „The State as a ‚Moral Person‘“ in: Hoke Robinson (ed.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Marquette University Press: Milwaukee, Wisconsin, vol. I.1, pp. 171 – 189 (1995). „Perpetual Peace: A 20th Century Project“ in: Hoke Robinson (ed.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Marquette University Press: Milwaukee, Wisconsin, vol. I.1, pp. 343 – 358 (1995). „Putative Self-Defense and Rules of Imputation – In Defense of the Battered Woman“ Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, vol. 2, pp. 283 – 306 (1994); reprinted in: Leo Katz/ Michael S. Moore/ Stephen J. Morse (eds.), Foundations of Criminal Law, Oxford University Press, pp. 260 – 271 (1999). „Incantations of Loyalty“ Law and Philosophy, vol. 13, pp. 241 – 250 (1994). „Mißhandelte Frauen: Opfer ihrer Männer und Opfer des Strafrechts“ in: Wilfried Bottke (ed.), Familie als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, EOS-Verlag Erzabtei St. Ottilien, pp. 117 – 135 (1994). „Two Models of Justice“ Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, vol. 1, pp. 45 – 68 (1993). „A jogbiztonság és anyagi igazságszolgáltatás közé: Az elévülési határidök visszamenöleges hatálya“ in: Erhard von der Bank (kiadó), A múlt feldolgozása a jogállam eszközeivel, Jogtudományi konferencia elöadásgyüjteménye, Konrad Adenauer Stiftung, Budapest, pp. 31 – 45 (1992).
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„Kants Freiheitsbegriff und die Überschneidung von Recht und Moral“ in: Heinz Lampert (ed.), Freiheit als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, EOS-Verlag Erzabtei St. Ottilien, pp. 155 – 175 (1992). „Till Death Do Us Part: A Comparative Law Approach to Justifying Lethal Self-Defense by Battered Women“, Duke Journal of Comparative and International Law, vol. 1, pp. 169 – 211 (1991). „Justice and Lex Talionis“ 2 S’vara: A Journal of Philosophy and Judaism, Columbia University: New York / Shalom Hartmann Institute: Jerusalem, vol. 2, pp. 65 – 68 (1991). „Strafgerechtigkeit bei Kant“ in: Wilfried Bottke & Anton Rauscher (eds.), Gerechtigkeit als Aufgabe: Festgabe für Heinz Lampert, EOS-Verlag Erzabtei St. Ottilien, pp. 137 – 158 (1990). „Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution“ Law and Philosophy, vol. 8, pp. 151 – 200 (1989). „Wrongdoing and Attribution: Implications Beyond the Justification-Excuse Distinction“, Wayne Law Review, vol. 33, pp. 1289 – 1342 (1987).
Solidarität als Begriff der Ethik – Solidarity as a Concept of Ethics
Solidarität: nicht mehr Sitte und nicht nur moralischer Appell Gerhard Droesser
I. Vergesellschaftung aus Freiheit: Kommunikationen Wieweit ist der Begriff der Solidarität immer noch oder wieder für eine moderne Ethik überhaupt wichtig? Welche Perspektiven werden mit dem Wort aufgedeckt, die von anderen Begriffen und Anschauungen nicht benannt und übersehen sind? Oder ist er nicht vielmehr wie das fünfte Rad am Wagen: Überflüssig, weil das womöglich von ihm Gemeinte anders und genauer gesagt werden kann? Sollte der Solidaritätsbegriff der modernen Ethik etwas Neues zu sagen haben, dann wird er nicht gegen, sondern aus dem Prinzip der Subjektivität – der Moralität – zu entwickeln sein. Das Subjektivitätsprinzip ist ja eines der Charakteristika der westlichen Moderne, der bürgerlichen Gesellschaft, und zunächst als Negieren der traditionalen Gesellschaftsordnungen bestimmt. Es wird mit ihm gerade die Einzelheit des Einzelnen betont (Hobbes, Locke, Declaration of Independence etc.). Mit ihm ist gesagt: Jedes Individuum bestimmt sich als Ursprung, Zentrum und Zweck seines Handelns. Egozentrierung ist ein anderes Wort für Selbstverwirklichung, Selbstverwirklichung wird mit „Glück“ – mit der Konnotation materiellen Prosperierens – identifiziert.1 Diesem Ansatz nach sind die Schicksale des Mitmenschen dem individuellen Subjekt gleichgültig. Der Mitmensch hat ja seinerseits die Chance, sein Glück zu realisieren. Sofern die Individuen sich handelnd aufeinander beziehen, gebrauchen sie sich wechselseitig als Mittel des je eigenen Glücksprojekts. Es bleibt aber nicht bei einer Theorie der Indifferenz, des gleichgültigen Nebeneinanders der Einzelnen. Die Idealform ihrer wechselseitigen Ergänzung – mindestens in der materiellen Dimension – ist der Tausch: Jeder der Marktteilnehmer, so argumentiert Adam Smith2, stellt den anderen das zur Verfügung, dessen sie zu ihrer Selbstverwirklichung bedürfen, aber nicht selbst produzieren können oder wollen. 1 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werke – Band VII, Frankfurt am Main 1968, S. 44 f.; jedem vernünftigen Wesen eignet die „Absicht auf Glückseligkeit“. 2 Vgl. Smith, Adam, Der Wohlstand der Nationen (1776), Horst Claus Recktenwald (Hrsg.), München 1978.
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Der Tausch ist eine Vergesellschaftungsform, in der die individuellen Lebenszentren dennoch – in ihrem terminus ad quem – jeweils für sich bleiben und werden. Welche Güter ein Individuum hat oder haben kann und wie es sie integriert, ist grundsätzlich seine Angelegenheit. Dennoch ist die Selbstintegration (als Konsumtion) durch Marktvermittlung ja ihrerseits von der Kaufkraft des individuellen Subjekts abhängig, die es als Produzent und erfolgreicher Warenanbieter erwirbt. Wenn aber Produkte zu Waren werden sollen, muss der Produzent konzeptualisieren, welche Bedürfnisse seine Mitmenschen haben und welche Güter diese befriedigen könnten. Das Ego muss sich also – gerade wenn es als Ego reüssieren will – eine Vorstellung der Gesellschaft als den möglichen Warenabnehmern bilden, es erweitert sich um den Begriff des Anderen, für den es produziert. Mit ihm ist nicht die gesamte Persönlichkeit des Anderen definiert, sondern nur die relativen Identitäten, die er als möglicher Konsument – aller Vermutung nach – haben könnte. Um des eigenen Erfolgs willen, müssen – aus der Produzentenperspektive – die Konsumerwartungen des Anderen mit großer Aufmerksamkeit beobachtet werden. Diese Erwartungserwartung steuert dann die Produktion, die ja auf Absatz ausgerichtet ist. Man produziert etwas, von dem man glaubt, dass es anderen Menschen Nutzen bringt – auch wenn etwa der Nutzen nur ein von ihnen vermeinter ist. Die Interessen des Anderen werden (unter dem Risiko falscher Erwartungen und entsprechender Enttäuschungen) interpretiert. Die Egostrukturen werden – auf der Ebene des Tauschens – aufeinander durchlässig. In der Tauschbeziehung wird aus wechselseitigen Egointeressen (und nicht aus traditionellen Bindungen oder irrationalen Gefühlen) ein gesellschaftliches Band geknüpft, jeder besondere Tauschakt realisiert und konkretisiert neu diese abstrakt-allgemeine Möglichkeit. „Solidarisierung“ könnte so als Fließgeschehen kultureller Produktion und Rezeption bezeichnet werden. Der Warentausch wäre nur die äußere Erscheinung weit komplexerer Sinnbeziehungen, in die pragmatische, ästhetische, moralische und religiöse Orientierungen eingelassen sind. In diesem Gewebe von Wechselreden, von Geben und Empfangen, erweitert und rekonstituiert sich die Identität der individuellen Subjekte. Die vom Gegenüber angebotenen Möglichkeiten werden angeeignet, die eigenen Sinnleistungen im Blick auf den Gegenüber entworfen. Erfolgreiche und wiederholbare Kommunikationen kristallisieren in stabilere Sinngebilde, objektive soziale Formen.3 „Solidarisierung“ wäre so als Phase im Konstitutionsvorgang sozialer Praxen zu bezeichnen. Sie ist eine Weise der intersubjektiven Vermittlung, kein Selbstzweck, sondern Bedingung der Möglichkeit der Entfaltung des individuellen Selbst. Diese Vermittlung vollzieht sich einerseits ganz „natürlich“; erst bei Störungen wird sie
3 Vgl. Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Stuttgart 1982.
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als Moment des sozialen Aktes reflektiert und von den Akteuren verantwortet. Jeder bestimmte Solidarisierungsakt birgt auch die Möglichkeit des Scheiterns.
II. Pluralität der Ethosformen: Variationen Das Tauschen kann als fortlaufendes Kommunikationsgeschehen zwischen Anbietern und Nachfragern beschrieben werden, wobei jedes individuelle Subjekt beide Rollen zugleich wahrnimmt (auf die Reden des Anderen hört und respondierend auf ihn eingeht). Die grundlegende Einheit der Gesellschaft ist dann keine Zwangsordnung – sei diese durch Sitte und Gesetz vorgegeben oder als moralisches Projekt und Ideal aufgegeben, sondern ein Einigungsvorgang, der sich aus verschiedenen Interaktionen immer wieder neu herstellt. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel der individuellen Freiheiten; sie ist die Selbstsystematisierung der Freiheit, die wiederum neue Differenzierungen ermöglicht und provoziert. In diesem Modell sprechen die individuellen Subjekte sich zwar an, sie nehmen aufeinander Bezug, aber sie machen einander nicht zum Objekt und auch nicht zum Objekt ihres moralischen Wollens. Kein Individuum drängt sich der Freiheit des anderen auf. Objekte sind nur die Gebrauchsdinge, an denen die Freiheit des einen wie des anderen interessiert sind. Niemand ist genötigt, sich als Vollzugsorgan einer gesamtgesellschaftlichen Moral zu stilisieren, sich zum Werkzeug einer sozialrevolutionären Idee zu machen. Das wäre auch nicht sinnvoll. Abstrakte Moralen sind überflüssige Ideologien, die nur mit Gewalt der sozialen Realität aufgedrängt werden können. Solche Ideologien nehmen ja gerade die soziale Beziehung nicht ernst, in der der Gedanke eines besonderen Subjekts ein anderes denkendes Subjekt zum Gegenüber hat, sich mithin per se relativiert. Ideologien sind monologisch (ein partikulares Subjekt behauptet, im Besitz der schlechthinnigen Wahrheit zu sein), absolutistisch (ein partikularer Wille setzt sich als allgemeiner Wille), uniformisiert (die Differenz zum anderen wird nicht berücksichtigt); die dogmatisierende Moral weiß a priori, was ihren Adressaten guttut und natürlich auch, wie sie ihre Defekte beheben kann. Das Konzept des moralischen Handelns ist dann instrumentell und verfügend, wer ihr Sollen akzeptiert, ist ihr distanzlos ausgeliefert. Diese abstrakte Solidaritätsmoral muss notwendig der Ideologiekritik verfallen. Die individuellen Subjekte sind darum nicht als amoralisch, von jedem Ethos verlassen, zu beschreiben: Befreit sind sie nur von der Last, als Träger einer allgemeinen Gesellschaftsmoral zu operieren. Dazu im Gegensatz werden sie die vielfältigsten Ethosformen zu entwerfen und zu leben imstande sein. Ethosformen, die ihnen nicht von außen zugemutet werden, sondern die zur Entfaltung ihres konkreten Lebensvollzugs gehören und sich wie selbstverständlich finden. „Selbstverwirklichung“ ist eine Dimension, in der jedes Individuum sich auf seine Weise hervorbringt. Abstrakte Typenbildungen können dann von außen und a posteriori erfolgen: Aber den besonderen Subjekten ist als Allgemeines nur die
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Leerfunktion oder das Sollen der Selbstbestimmung vorgegeben, das jedes je auf seine Weise zu erfüllen und zu gestalten hat. Korrespondierend dazu ist auch die Beziehung zum Mitmenschen nur eine Allgemeinbestimmung oder Leerfunktion, die ganz verschieden ausgelegt und realisiert werden kann. Denn, wenn man mit dem Wort „Tausch“ zunächst an die Wechselgabe materieller Güter denkt, so löst sich diese Engführung mit dem Wort der „Kommunikation“: Jede auf ein konkretes Subjekt gerichtete Äußerungsform ist darunter befasst. Damit verschwindet auch der ökonomische Zwang, für eine bestimmte Gabe eine als „gleichwertig“ erachtete, verrechenbare Gegengabe zu erhalten. Auf welche Weise das angeredete Subjekt zurückgibt, ist von vornherein nicht auszumachen. Die angemessene Antwort auf das Angeredet-werden kann sich ja verzögern und in spätere Kommunikationen mit Dritten einfließen, von der der impulsgebende Sprecher vielleicht niemals erfahren wird. Selbstverwirklichung macht sich ja nicht in einem Augenblick fertig, sondern entsteht in den langwierigen Prozessen der lebensgeschichtlichen Selbstbildung. Entscheidend ist, dass auch der Andere nicht gezwungen wird, sondern die Anrede als Anregung annehmen, aber auch ablehnen kann. Die Anrede wendet sich freien Subjekten zu. Aber, indem sie sich äußern, nehmen sie aufeinander Beziehung, sie provozieren ihre Unterschiedenheit und legen darin die Möglichkeiten schöpferischer Sinnsynthesen frei. Die Auffassung, die die Individuen von sich und ihrer Gesellschaft und deren Idealen haben, ist derart nicht starr; ihre ethischen Selbstdeutungen und Selbsterfahrungen können intensiviert und erweitert werden, Individuen und Gesellschaften sind an sich lernfähig.
III. Asymmetrische Verhältnisse: Exklusionen Das Wort „Solidarität“ wird demnach auf die Ebene individueller Subjekte und ihrer Interaktionen zurückgenommen. Soziale Beziehungen werden aus individueller Freiheit begründet und verantwortet. Dabei können die Verantwortlichkeiten schwach oder stark sein – das ist abhängig von der jeweiligen Situation, von der sozialen Nähe und Ferne der Interaktionspartner, von der Bereitschaft und Fähigkeit des Individuums, sich zu engagieren. Die ethische Figur kann einmal mehr die Sorge für sich selbst, dann wieder die für den anderen betonen. Sie gibt vielen Variationen Spielraum. „Solidarität“ würde so die gesellschaftlichen Einigungsvorgänge bezeichnen, die sich durch die Kommunikation freier Subjekte wie nebenbei konstituieren. Die Bedingung für die Kommunikation ist, dass die Teilnehmer aneinander Interesse nehmen. Gemeinhin nehmen sie dann aneinander Interesse, wenn einer dem anderen etwas zu bieten hat, wenn beide damit voneinander und nicht nur materiellen Nutzen haben.
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Das ökonomische Tauschmodell funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass dieses wechselseitige Interesse besteht, dass von beiden Seiten ein Angebot, dem auch nachgefragt wird, gemacht werden kann; und dass beide Seiten den Tausch als mehr oder minder „gerecht“ empfinden. Niemand gibt umsonst, niemand kann haben, nur darum, weil er sich es wünscht. Marktangebote haben ihren Preis, den die Konsumenten bezahlen müssen. Nun ist das nicht immer der Fall. Es gibt Angebote, für die keine oder nur eine unzureichende Nachfrage besteht, die gesellschaftlich keinen oder nur einen geringen Wert haben. Die Anbieter erhalten dann auf dem Markt nur eine inferiore Stellung, sofern ihnen viele Möglichkeiten, die ihre individuelle Selbstverwirklichung ermöglichen könnte, verschlossen bleiben. Oder im Extrem: Sie haben nichts anzubieten, was nur irgendwie einen Preis erzielen könnte. Dann sind sie aus dem gesellschaftlichen Wechselspiel ausgeschlossen – Opfer der Freiheit: Dabei geht es nicht nur um materielle Armut, sondern um das Abgeschnittensein von all den Anschlussstellen, die ihnen das Mitwirken an der Gesellschaft als freie und gleiche Bürger ermöglichen würden. Aristoteles etwa setzt richtig voraus, dass zur Partizipation an der Polis vernünftiges Sprechen und Denken gehören: Aber das sind Niveauvorgaben, die nur unter günstigen kulturellen Bedingungen entfaltet werden können. Es müssen sowohl reale Bildungsangebote auf die marginalisierten Subjekte zugeschnitten als auch Praxen und Strategien geschaffen werden, die sie diese objektiven Chancen auch subjektiv aneignen lassen.4 Wie geht die über den ökonomischen Äquivalententausch vermittelte Gesellschaft mit den Exkludierten um? Das pragmatische sozialpolitische Grundmotiv ist wohl, den sozialen Frieden zu bewahren, die realistische Einsicht, dass auch der prosperierende Teil der Gesellschaft sich mehr Nachteile einhandeln würde, ließe er soziale Krisen einfach unbehandelt laufen. Im Kalkül des gesellschaftlichen Eigennutzens haben auch die Ausgeschlossenen rein durch ihr Dasein politisches Gewicht. Sie sind nicht völlig verschwunden, sondern gehören zur Umwelt des Systems. Man solidarisiert sich mit ihnen: übernimmt die Verantwortung, nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit (die Adressaten sind als Individuen anonymisiert), sondern in der Erwartung, dass ihre Integration oder die Reintegration gelingt, langfristig sich wieder einigermaßen systemkonforme Beziehungen herstellen. Das ist immerhin ein Fortschritt gegenüber den Verfahren, mit denen man einst mit den die soziale Identität bedrohenden Elementen fertig zu werden suchte, z. B. die vagabundierenden Armen einfach aufzuknüpfen.5 Mit Asylbewerbern ist man auch heute weit weniger rücksichtsvoll als mit den „ordentlichen“ Arbeitslosen. Die Kosten einer Abschiebung werden wohl für weit geringer erachtet, als die der gesellschaftlichen Eingliederung. Das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ dient der moralischen Diskriminierung (in der sich populistische Politiker mit der Überzeugung eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung einig wissen). 4 5
Vgl. Aristoteles, Politik, Ursula Wolf (Hrsg.), Reinbek/ Hamburg 2009. Vgl. More, Thomas: Utopia (1516), 1999 (Everyman), hier: The First Book, 13 ff.
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„Solidarität“ würde hier die zwischen dem Innen und Außen des Sozialsystems vermittelnden Aktivitäten bezeichnen, die sich am Maß der Systemerhaltung orientieren. Sie ist nichts Naturwüchsiges, die die Individuen unmittelbar – etwa durch ethnische Identität – von vorneweg verbindet. Aber ihre instrumentelle Rationalität, die über Inklusion und Exklusion entscheidet, operiert dennoch unter der Fiktion einer „geschlossenen Gesellschaft“. Sie entscheidet, wer dazugehören darf und wer nicht. Die ethischen Reaktionen auf exkludierte Individuen oder Gruppen dagegen wären ein Fall der asymmetrischen Kommunikation. In ihr wird nicht mehr gleich und gleich getauscht; das ethisch reflektierende und handlungsmächtige Subjekt sucht vielmehr die Tauschfähigkeit seines Gegenübers überhaupt erst herzustellen. Dieser ist dabei nicht Almosenempfänger, der von der Großmut des Gebers abhängig ist. Er ist vielmehr formal als frei und gleich anerkannt. Das handlungsmächtige Subjekt kommt ihm so weit entgegen, bis es zur Selbstbestimmung fähig ist (Empowerment). Langfristig sind wieder symmetrische Verhältnisse angezielt. Das ist die Haltung der Subsidiarität, die natürlich nur dann sinnvoll ist, wenn sie ihre Mittel nicht umstandslos freigibt, sondern sich auf die konkreten Bedürfnisse des Gegenübers einlässt, also nicht von oben verfügt, sondern ihn an der Konstitution der sozialen Beziehungen gleichwertig partizipieren lässt. Man muss ihn gewissermaßen von unten her in die Selbstbesinnung hineinziehen, dass bedeutet, sich auf lange und schwierige Bildungsprozesse einzulassen. Es geht also nicht einfach um die Frage der „richtigen“ Distribution von Gütern, nicht einfach darum, den Armen und Marginalisierten ruhigzustellen. Man verschafft ihm vielmehr die Bedingungen, die ihm erlauben, von seiner Möglichkeit zur Selbstbestimmung Gebrauch zu machen. Das ist ethisch auch dann anspruchsvoll, wenn man dem Geber nicht gesinnungshafte Menschenliebe, sondern rationale Motive und Egointeressen unterstellt. Die Unterscheidung liegt in der Konstruktion des Handlungsbegriffs: Bleibt es bei instrumentell einseitigem Druck auf den Anderen oder wird er als zur Autonomie bestimmtes Subjekt einbezogen und angesprochen? Natürlich kann er dann später seine Eigeninteressen auch gegen mich geltend machen. Aber das ist nichts gegen den Gewinn, dass er mir – einmal anerkannt – umgekehrt die Anerkennung meiner Freiheit nicht versagen kann.
IV. Ichbildung im sozialen Kontext: Dialoge Wieweit lassen sich „Subjektivität“ und „Solidarisierung“ zusammensprechen, so, dass diese an jener die Bedingung ihrer Möglichkeit hat? In fundamentalethischer Perspektive könnte „solidarisch“ heißen, dass ein – handlungsmächtiges – Subjekt eine frei gewählte Beziehung zu einem, in seinem Lebensvollzug behinderten, konkreten Anderen aufnimmt, sich ihm an die Seite stellt. Wenn man den Subjektivitätsbegriff auf ein jeweils isoliertes – sich tautologisch als „A=A“ bestimmen-
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des – Ich beschränken würde, bliebe diese Öffnung auf den Anderen von einer äußeren Moral diktiert, sie wäre keine wesentliche Möglichkeit des Subjektes selbst. Abstrakte Theorien vernachlässigen dementsprechend auch das Geworden-sein des Individuums, an dem ja der gesellschaftliche Andere immer konstitutiv beteiligt ist. „Einbezogen in die Gesellschaft“ bedeutet nicht, dass das Ego in sich fertig wäre und dann auch noch – akzidentiell – mit den gesellschaftlichen Kommunikationsformen vertraut gemacht würde. Sondern vielmehr wird das Lebewesen, das potentiell ein Ego werden kann, durch den gesellschaftlichen Anderen – zunächst repräsentiert durch signifikante Personen, in erster Linie die Mutter – gebildet, indem es in vielerlei Rollenspielen als „Du“ angesprochen wird. Das „Du“ ist der Andere des Anderen. Das Angesprochen-sein als „Du“ ist die Voraussetzung dafür, dass ein Individuum sich als „Ich“ begreifen kann, es ist die notwendige Voraussetzung der Reflexion-in-sich, die sich insofern immer auf ein konkretes kontextuell bestimmtes Selbst bezieht. Der gewordene gesellschaftliche Andere gewährt dem werdenden Individuum das Leben und den Lebensraum, den Spielraum seiner Entfaltungen. Im Zuge seiner Sozialisation wird das Individuum mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert, es lernt das rollen- und normgerechte Verhalten und mit ihm auch die Möglichkeit, sich der Rolle und der Norm zu widersetzen. Es erfährt sich damit ebenso als gebunden und frei. Die Freiheitserfahrung erlaubt eine eigene und selbstverantwortliche Identität aufzubauen. Es entstehen Fragehaltungen: Wie kann und soll ich auf die Erwartungen der anderen eingehen? Und: Warum soll ich das tun? Wieweit will ich den Forderungen der anderen entsprechen und wieweit will ich das nicht?6 Die von den anderen eingeleitete und zunächst von ihnen dominierte Sozialbeziehung ist also durch das „Ich“ grundsätzlich problematisierbar – und auch, wenn die vorgegebenen Erwartungen erfüllt werden, ist es keine mechanische Wiederholung; die Erfüllung verlangt ja ein konkretes Handeln in einer konkreten Situation, die eine differenzierte Interpretation der Erwartungsregel nötig macht. Je selbstbewusster ein Subjekt ist, desto weniger selbstverständlich sind auch seine affirmativen Akte. Die Affirmation wird dann durch das Abwägen vieler Gründe und Gegengründe errungen, sie geht durch die Negation hindurch. Die Erwartung des sozialen Anderen wird durch die reflektierte Stellungnahme des Individuums beantwortet; der Andere und das Ich sind im Dialog. Niemand kann sich von der sozialen Beziehung abschneiden, sofern ja auch die Negation kommuniziert werden muss und die anderen als Gegenüber gerade bestätigt. Die Objektivität des gesellschaftlichen Anderen ist mithin ein Konstituens der Individualität und umgekehrt. Unter dieser Formel sind natürlich die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Verhältnisse und ebenso die unterschiedlichsten individuellen Selbstkonzeptionen zu befassen. Auch können die Gewichtungen ganz unterschiedlich verteilt sein. Es gibt 6 Vgl. Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft (1934), Frankfurt am Main 1973; ferner: Spitz, René, Vom Säugling zum Kleinkind – Naturgeschichte der Mutter-KindBeziehungen im ersten Lebensjahr (1965), Stuttgart 1987.
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bekanntlich Gesellschaften, in denen die sozialen Imperative sehr stark sind und alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, und es gibt Gesellschaften, in denen der individuelle Freiheitsspielraum sehr hoch veranschlagt ist. In traditionalen Gesellschaften ist Solidarität mit dem sozialen Zwang identisch, alternative Möglichkeiten werden sanktioniert (ohne dass sie völlig zum Verschwinden gebracht werden könnten), moderne Gesellschaften sind durch einen Reichtum individueller Möglichkeiten charakterisiert – mit der Konsequenz, dass sich auch die Herstellung sozialer Einigungen kompliziert und vermannigfaltigt. Sie kompliziert sich, weil sie sich aus den verschiedensten individuellen Lebensperspektiven und verschiedenen ethischen Selbstkonzeptionen erst herauskristallisieren muss. Diese verschiedenen ethischen Konzeptionen können nicht platt als bloßes Nebeneinander von Meinungen hingenommen werden; das würde gerade bedeuten, dass sie nur Theorie wären und mit dem realen Leben nichts zu tun hätten.
V. Konkretion des ethischen Projekts: Entscheidungen Gerade die extreme Krise: Wenn ein Individuum nicht über die Mittel verfügt, in die etablierten gesellschaftlichen Kommunikationen einzutreten oder sich in ihnen zu behaupten, macht aber darauf aufmerksam, dass die „normalen“ Kommunikationen nur relative Aspekte oder Momente der Totalität einer individuellen Persönlichkeit berühren können. Das seiner Lebensmöglichkeit beraubte Subjekt ist ja nicht nichts, sondern eben eines seiner selbst entfremdetes oder entwirklichtes Subjekt. Als solches aber kann es wahrgenommen und angesprochen werden. Das verlangt freilich, sich ihm in einer Weise zuzuwenden, die den Normalalltag und seine Selbstdeutung transzendiert. Der Anschluss des Ausgeschlossenen an die bestehenden Kommunikationen soll ja erst ermöglicht werden. Damit ist verlangt, dass die kommunikationsfähigen Subjekte aus der Position ihrer Stärke sich auf das sozial marginalisierte Gegenüber so beziehen, dass sie ihm stellvertretend ein Modell gelingenden Lebens vorschlagen, das er für sich zu realisieren hätte, wozu er aber de facto allein außerstande ist. Dieser stellvertretende Lebensentwurf ist eine abstrakte Möglichkeit, die symbolische Vorleistung einer Praxis, die jetzt noch nicht ist, die zu realisieren das ausgeschlossene Subjekt nicht genötigt, sondern eingeladen wird. Der Akt der Hinwendung zum deprivierten Anderen, zu der Leerstelle seines Ich-selbst schafft den Kommunikationsraum, der in vielfältigen Bildungsprozessen, die aber alle auf seine Selbstwerdung und Selbstaneignung gerichtet sind, zu konkretisieren ist. Dabei ist zu erwarten und zu wünschen, dass die konkrete Selbstaneignung sich mit dem „als ob“ unterstellten Lebensentwurf nicht decken wird, sondern ihre eigenen Wege gehen und ihren eigenen Ausdruck finden wird. Die Hinwendung zum Anderen ist keine Vereinnahmung, auch keine Herablassung, sondern spricht ihn in seiner Freiheit und seiner Freiheitsbestimmung an, von gleich zu gleich. Konkrete Beziehungen zwischen Ego und Alter können dann nur in symmetrischen Kommunikationen aufgebaut werden. Im konkreten Durchspielen
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und Durchexperimentieren von Dialogizität entsteht Vertrauen in das gemeinsam getragene Projekt und auf beiden Seiten Selbstvertrauen. An sich hat jedes „starke Subjekt“ die Wahl, sich auf – nicht von vornherein gedeckte – Dialogprozesse einzulassen. Der Solidarisierungsakt erfolgt von seiner Seite aus Freiheit. Aber die Wahl ist nicht willkürlich: Das bedürftige Subjekt stellt sich in den Weg, zieht die Wahl auf sich, appelliert. Die Zuwendung zu diesem Anderen als „Diesem“ und nicht „Jenem“ ist eine Reaktion darauf, dass er sich – nicht anders auch aus Freiheit – real bereits zugewandt hat, nicht mehr als eine von unzähligen Beziehungsmöglichkeiten abgetan werden kann. Man wird ihn nicht mehr los, auch nicht, wenn man sich gegen ihn entscheidet.7 Solidarisierungsakte würde ich mithin als freie Parteinahme für andere Menschen bezeichnen, die in Not sind und deren prekäre Lage nicht durch die etablierten sozialen Netzwerke aufgefangen werden. Menschen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht oder nur als Störfaktoren auftauchen, die unfähig sind, selbst ihre Lage zu verstehen und ihre Interessen angemessen zu vertreten. Solidarität stand einst für die wechselseitige Verpflichtung der Mitglieder traditionaler Gesellschaften zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Heute beginnt sie mit einem Anruf, „Appell“8, durch den die auf den Einzelnen konzentrierte Subjektivitätsmoral auf den Anderen über die sozial etablierten Grenzen und Scheuklappen hinaus erweitert werden soll. Dieser Sprung über das bestehende Ethos verlangt eine Entscheidung, die mit guten Gründen gestützt werden muss, da sie auch unterbleiben kann. Man macht sich jemandem verbindlich, auch über längere Zeitspannen hinweg. Auch der exkludierte Andere ist eine allgemeine Kategorie, unter der die verschiedensten Möglichkeiten sozialer Beziehungen befasst werden können. Er umschließt nahe und ferne Beziehungen, Beziehungen zwischen Einzelnen, Gruppen und Institutionen. So ist zu erwarten, dass es eine Vielzahl von Solidaritäten mit unterschiedlichen Wirkungschancen gibt. Man kann etwa verbal gegen Unrecht, das in fernen Ländern Menschen angetan wird, protestieren – ohne dass das zu konkreten Handlungen führen müsste, zu nichts, was den Protestierenden Verbindlichkeiten auferlegen würde. Solche moralischen Einstellungen – bleiben sie nur gesinnungshaft – lösen sich schnell wieder auf, ohne dass sich an der Lage der Betroffenen viel ändern würde. Zudem sind abstrakte moralische Überzeugungen dafür anfällig, Kausalerklärungen, die „Schuldige“ und „Unschuldige“ eindeutig trennen, zu akzeptieren, ohne Bereitschaft, sich die Komplexität einer sozialen Situation verstehend zu erschließen. Sie sind ein bequemes, aber untaugliches Mittel der Komplexitätsreduktion oder der Beschwichtigung von Gewissensbissen.
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Vgl. Lévinas, Emmanuel, Totalité et Infini (1971). Vgl. Bergson, Henri, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, dt. Jena 1933.
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Dahingegen müsste man für ein wirksames ethisches Handeln ein Verständnis der jeweils gegebenen problematischen Situation erfordern sowie eine moralische Urteilskraft, die ihre Positionen nicht einfach voraussetzt, sondern sie im Zuge der deutenden Rekonstruktion ihrer Gegenstände erst erschließt. Das hermeneutische Verstehen bewegt sich in einem offenen unabschließbaren Zirkel, es führt nicht zu fixen Ergebnissen. Jede Antwort weckt neue Fragen auf, z. B.: Welche der Parteien in einem Bürgerkrieg soll man denn unterstützen, wenn beide Gräueltaten begehen? Die politische Analyse ist Angelegenheit von Experten, die selbst wieder bestimmten Leitideen und Vorurteilen folgen, deren Herkunft und Perspektivik in den Deutungshorizont der ethisch reflektierenden Subjekte gar nicht eingeholt oder durch eine ihrer selbst völlig sichere Kritik beurteilt werden könnte. Die Spannung zwischen der Situationshermeneutik und den moralischen Urteilen kann nicht aufgehoben werden, sie ist nur durch die Bereitschaft, Sach- und Sollensurteile zu relativieren, zu mildern. Moderne Solidarität wird sich entsprechend den verschiedenen Adressatengruppen vielfältig organisieren. Exklusionen und Diskriminierungen sollten zunächst sprachlich benannt, öffentlich gemacht werden. Hierfür genügen nicht singuläre Sprechakte, sie würden in den gesellschaftlichen Kommunikationen schnell vergessen. Die moralischen Sprecher müssen sich vernetzen, sich organisieren, damit ihre Stimmen Dauer und Gewicht erhalten. Der virtuelle Handlungsbogen, der von einem solidarisierungsbereitem Subjekt zu seinem Adressaten gezogen werden kann, gibt ja zunächst nur das Sich-in-Beziehung-setzen an. Hier sind verschiedene Distanzen möglich. Aus der Ferne kommt der Solidarisierungsakt nur dann ans Ziel, wenn er seine Sache vertrauenswürdigen Vermittlern übergibt, kundigen Personen oder Organisationen. Das ethisch reflektierende Subjekt ist ständig auf Informationen angewiesen, die die problematisierten Kontexte und Akteure verstehen lässt, und es bedarf verlässlicher Kommunikationspartner, mit denen es sich über Programme und Strategien absprechen kann. So ließen sich simplifizierte Theorien – Vorurteile – selbstkritisch überholen: Durch den Aufbau von Diskursen, durch Revision, Erweiterung und Verdichtung von Theorien, durch ihre Öffnung auf die Phänomene. Das ist für eine sinnvolle Praxisbestimmung unerlässlich. Wenn wir diese Ansatzstellen und Partner nicht finden, bleibt die Theoriearbeit lediglich sterile Selbstreproduktion. Jede Organisation bedeutet Festlegung auf bestimmte Ziele. Das ist notwendig, will man der moralischen Falle, sich mit Allem und Jedem zu identifizieren und mit den vortrefflichsten Absichten handlungsohnmächtig zu werden, entgehen. Man muss pragmatisch fragen, was Aussicht auf die aller Einschätzung nach bestmögliche Wirkung hat. Solidarisierung ist dann möglich, wenn das ethisch reflektierende Subjekt seine Relativität erkennt, seinen Adressatenkreis und seine Perspektiven festlegt. Das wäre dann der Übergang zur institutionalisierten Solidarität, ohne dass „Institution“ ausschließlich mit den staatlichen Einrichtungen identifiziert werden müsste. Unter ihren Begriff fallen natürlich auch die – im Sinne Humboldts – freien Assoziationen, z. B. NGOs.
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Die Adressaten wären nicht als passive Empfänger zu behandeln, sondern von Anfang an in die Aktion so einzubeziehen, dass sie ein adäquates Bewusstsein über ihre Lage erlangen, Distanz zu ihr gewinnen und nicht in fatalistischer Resignation verharren. Es wäre zusammen mit ihnen eine für sie realistische und akzeptable Lebensperspektive zu entwickeln.9 Die Idee der Moralität lässt sich nicht von bestimmten Kollektiveinheiten vereinnahmen. Eine an ihr orientierte Solidaritätsbereitschaft wird sich darum weder mit einer Klasse – gegen andere Klassen – noch mit einer Nation – gegen andere Nationen – identifizieren. Primär ist ihr potentieller Gegenüber jeder einzelne Mensch – als „Zweck an sich selbst“, und insbesondere der, der sein Menschsein nur unzureichend oder überhaupt nicht realisieren kann. Dabei ist dem ethisch reflektierenden Subjekt klar, dass es seine ihm vertrauten Standards womöglich auf kulturelle Kontexte und Personen anlegt, die durch andere moralische Wertvorstellungen geprägt sind. Insofern ist der fremde Andere, mit dem es sich identifiziert, auch sein eigenes Konstrukt, Bild, das es sich von ihm macht, in dem es sich zugleich selbst spiegelt. Solidarisierungsakte mit den diskriminierten Angehörigen einer fremdkulturellen Gesellschaft werden die in ihr bestehenden Moralen kritisieren müssen. Das ethisch reflektierende Subjekt hat dann selbstkritisch nach der Berechtigung seiner Intervention zu fragen, das heißt, die Perspektive der dominanten Moral zu verstehen und zugleich zu kritisieren. Damit wird auch das eigene ethische Urteil thematisiert, relativiert und präzisiert. Dennoch sollten die Grundeinsichten, die die individuelle Perspektive leiten, nicht aufgegeben werden. Ihre Korrektur ergibt sich zweifellos im Hinblick auf die Chancen ihrer praktischen Umsetzung: Was ist an Veränderungen möglich? Niemand aber wird die Wertorientierungen des eigenen Ansatzes gegenüber Positionen aufgeben oder einschränken wollen, die in der eigenen biographischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung als überholt erfahren und aufgearbeitet sind. Man würde also eine fremde kulturelle Struktur nicht als Selbstzweck betrachten, sondern fragen, wieweit sie die Bedingung individueller Selbstverwirklichung und individuellen Glücks bereitstellt oder verhindert. Man kann nicht sinnvoll wollen, dass etwa Frauen aufgrund der Sozialstrukturen einer traditionellen Kultur das Recht auf Bildung und Selbstbildung und damit auf autonome Lebensentwürfe vorenthalten wird. Gerade die eigene Erfahrung profiliert meinen Willen, gibt mir Erkenntniskraft, Phantasie, mir ein durch strukturelle Defizite leidendes Leben vorzustellen. Natürlich ist das Vorstellungsbild nur ein Modell, keine reale Schilderung der Situation. Man muss selbst nicht hungern, um intuitiv zu wissen, was es heißt, Hunger zu haben: Wir fragen: Was ist uns wertvoll, an was haben wir Freude, was bedrückt uns – das genügt, um die durchschnittlichen Fähigkeiten des „Menschen überhaupt“ zu erfassen – und wir haben in unseren sozialen Kontexten genügend Beispiele, die wir zum Denkbild des unterdrückten Menschen zusammenrücken können. 9 Vgl. Nussbaum, Martha C., Gerechtigkeit oder Das gute Leben (1988), Frankfurt am Main 1999.
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Summary In modern societies the social coherence is realized by the communication and cooperation of individual actors. Therefore, the idea of solidarity doesn’t seem to match with the set of theories which concentrate on the understanding of the interactions of autonomously acting moral subjects. However, modern societies further not only the pursuit of happiness of its members, they also marginalize a considerable number of them, in the extreme depriving them of any kind of participation in the societal goods. The notion of solidarity, the essay argues, could be used to define the moral practices which intend to knit anew the social bonds between the excluded individuals or groups and the social system. Acts of solidarity are characterized by the attitudes of dialogue, mutual respect, intercultural experience, responsibility, and trust in each other. The aim of these practices is the empowerment of the victims, to make them discover and cultivate their own human potential, to build up a strong personal identity.
Die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft (Responsibility to Protect) in rechtsethischer Perspektive Thomas Hoppe In der wöchentlichen Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks „Schabat Schalom“ nahm am 16. Mai 2014 der Landesrabbiner von Schleswig-Holstein, Walter Rothschild (Berlin), die Auslegung des aktuellen Wochenabschnitts der Thora (der fünf Bücher Mose) vor. Er kam gegen Ende auf die zahlreichen humanitären Katastrophen zu sprechen, die unter den Augen der Weltgemeinschaft gegenwärtig stattfinden, insbesondere auch auf die Situation der Zivilbevölkerung in Syrien, der vielerorts der dringend benötigte Zugang zu Nahrung, Wasser und Strom von den Konfliktparteien verweigert wird. Rothschild ging es darum, den Blick auf die Verantwortung der Menschen für diese von ihnen angerichtete Katastrophe zu lenken: „Wie kann so etwas passieren? Weil ein Konflikt so schlimm sein kann, wenn wir das erlauben. Was mich mehrmals in den letzten Jahren schockiert und enttäuscht hat, ist, wie machtlos die sogenannten Weltmächte und sogar die Vereinten Nationen sind, wenn es um Konfliktbegrenzung geht. Politiker reden monatelang miteinander und gegeneinander und nebeneinander, und ab und zu werden einige Blauhelme losgeschickt, aber sie sind nicht immer dafür gerüstet, den Opfern zu helfen. Man redet von einem ‚Mandat‘, das sie angeblich bräuchten, bevor sie sich bewegen können. Als ob leidende Menschen zu retten, nicht in sich selbst genug wäre! Aber so funktioniert Politik nicht.“
I. Rothschild macht in diesen wenigen Sätzen auf die ethische Kernproblematik aufmerksam, von der die heutige Realität der internationalen Beziehungen gekennzeichnet ist. Die Konkurrenz der Staaten, aber zunehmend auch nichtstaatlicher Akteure um den Zugewinn an Macht im internationalen System und die Methoden ihrer Interessendurchsetzung führen immer wieder in bewaffnete Konflikte, in denen daran unbeteiligte Zivilisten in der Regel die Hauptleidtragenden sind. Interventionen zu ihrem Schutz jedoch stehen vor hohen Hürden, sie sind von Beschlussfassungen in Gremien wie dem UN-Sicherheitsrat abhängig, in denen sich nur allzu oft die Handlungslogiken konventionellen Staatenverhaltens im Bereich der Außenpolitik nur erneut manifestieren. In ihnen kommt menschenrechtlichen und humanitären Erwägungen im Allgemeinen keine prioritäre, vor allem keine ausschlagge-
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bende Rolle zu. Und sollte es anders zu sein scheinen, entsteht sofort der Verdacht, Argumente, in denen explizit auf ethische Standards statt auf politische Interessen Bezug genommen werde, sollten wohl vor allem verdecken, dass Ziele maßgebend sind, die nicht offen genannt werden sollen. Für einen solchen macchiavellistischen Umgang mit moralischen Argumenten liegen durchaus Beispiele bereit. Kann aber eine solche Verfassung der Staatenwelt tatsächlich die Ausgangsbasis für ein ethisches Urteil darüber sein, wann und unter welchen Umständen ein Eingreifen zum Schutz verfolgter und bedrohter Menschen legitim, ja geboten erscheint? Im politischen Diskurs, gerade in Deutschland, ist diese Denkform fest etabliert: Nur Interventionen mit Billigung des UN-Sicherheitsrats erscheinen nicht nur juristisch unbedenklich, sondern aus der damit verbundenen völkerrechtlichen Legalisierung wird unmittelbar auch deren Legitimität hergeleitet. Dabei hatte die NATO, deren Mitglied Deutschland ist, bereits im Herbst 1998 die Grenzen dieses Denkansatzes deutlich vor Augen geführt bekommen. In der Auseinandersetzung mit dem damaligen serbischen Staatschef Slobodan Milosevic um eine Entschärfung der Spannungen im Kosovo wäre es zu einem Militäreinsatz gekommen, wenn Milosevic nicht in Verhandlungen mit dem amerikanischen Unterhändler Richard Holbrooke im letzten Moment nachgegeben hätte. Ein halbes Jahr später fand die militärische Eskalation tatsächlich statt, und zwar nachdem weitere Verhandlungen auf Schloss Rambouillet bei Paris ebenso gescheitert waren wie Versuche, für einen Militäreinsatz einen legalisierenden Beschluss im UN-Sicherheitsrat zu erhalten. Die NATO entschied sich angesichts der Zunahme von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die im Kosovo in großem Maßstab drohte und teilweise bereits begonnen hatte, für einen Einsatz ohne völkerrechtliche Mandatierung. Dieser wurde angesichts der dafür geltend gemachten politisch-moralischen Gründe von dem Münchner Völkerrechtler Bruno Simma als „lässliche Sünde“1 gegen die internationale Rechtsordnung qualifiziert, was bedeutete, dass Legalität und Legitimität des Handelns der NATO eben nicht als kongruent zu betrachten waren: Einem formell nicht legalisierten Handeln konnte nach Auffassung nicht nur Simmas durchaus in signifikantem Ausmaß Legitimität zuerkannt werden.2 Dieser Gedanke wird umso plausibler, wenn man sich vom Ensemble bereits vorfindlicher Rechtsnormen, der lex lata, löst und sowohl nach dessen Begründungsstruktur fragt wie untersucht, ob es im politischen Bereich Dynamiken gibt, auf der Basis dieser Begründungsstruktur eine Weiterentwicklung des geltenden Rechts, einschließlich notwendiger Korrekturen, ins Auge zu fassen. Für den Bereich des Friedenssicherungsrechts der Vereinten Nationen lassen sich die tragenden rechtsethischen Überzeugungen vor allem aus der Präambel der UN-Charta entnehmen. Dort wird nicht nur betont, es gelte, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krie1 Bruno Simma (Int.), „Die Nato-Bomben sind eine lässliche Sünde“, in: Süddeutsche Zeitung 25. 3. 1999, 5. 2 Vgl. Jürgen Habermas, „Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral“, in: Die Zeit Nr. 18 / 29. 4. 1999, 1.6 – 7.
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ges zu bewahren“, sondern ebenso, man sei „fest entschlossen, … unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen“. Die die Vereinten Nationen bildenden Staaten haben beschlossen, im „Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken“, und gründen zu diesem Zweck die Weltorganisation. Eine politisch-moralische Zielbestimmung dieser Institution liegt also allen in der Charta enthaltenen positivrechtlichen Einzelregelungen voraus. Anders gesagt: Ein vorpositives Verständnis von grundlegenden Bedingungen einer rechtfertigungsfähigen internationalen Ordnung bildet die normative Basis dieser einzelnen Rechtsbestimmungen. Dieses Recht beansprucht nicht aus sich selbst heraus Geltung, sondern weil es sich dem Anspruch verpflichtet sieht, einem Frieden zu dienen, in dem zugleich elementare Anforderungen an Gerechtigkeit über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus respektiert sind. Dabei geht es zunächst und vor allem um Minimalbedingungen menschlicher Existenz, also etwa den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit von bedrohten Menschen, nicht aber um einen so weit entfalteten normativen Gerechtigkeitsbegriff, dass er auf eine umfassende Reglementierung vieler Lebensbereiche hinausliefe. Ein solcherart limitiertes Gerechtigkeitskonzept ist mit Pluralität und Gestaltungsfreiheit in vielfältigen sozialen Beziehungen und Strukturen daher vereinbar, soweit darin nicht der Kernbereich des Schutzes menschenwürdiger Existenz angetastet wird. In der jüdischen wie christlichen Tradition findet dieser rechtsphilosophische Ansatz viele korrespondierende Bezugspunkte. Nicht nur in den Rechtsnormen des sogenannten „Bundesbuchs“ (Exodus 21 ff.), sondern auch in der prophetischen und weisheitlichen Literatur (etwa Jesaja 1,17; Amos 5,7 ff.; Psalm 82,3 – 4) wird die zentrale Verpflichtung im Eintreten für die Armen und Schwachen und darin gesehen, dass man ihnen „ihr Recht verschafft“, das nur allzu oft von den Mächtigen gebrochen oder gebeugt wird. In der „Gerichtsrede“ im Matthäus-Evangelium (Mt 25,31 ff.) werden verdienstliches oder verurteilenswertes Handeln der Menschen nicht am Grad seiner Entsprechung gegenüber einer Vielzahl von Einzelgeboten der alltäglichen Lebensgestaltung festgemacht, sondern daran, wie es auf die Not reagierte – oder eben nicht reagierte –, die dem Menschen in Gestalt seines der Hilfe und Rettung bedürfenden, in seiner personalen Würde bedrohten oder verletzten Mitmenschen begegnete. Auch in der Entwicklung des säkularen Menschenrechtsdenkens lässt sich feststellen, dass seine wesentlichen inhaltlichen Konkretionen aus der Analyse von tiefreichenden Leid- und Unrechtserfahrungen gewonnen werden. Diese Negativität stellt den ethischen Grund dafür dar, mit dem Instrument des Rechts – hier individueller Menschen- bzw. Grundrechte – darauf zu reagieren, indem nach Wegen gesucht wird, wie man solchen Erfahrungen vorbeugen oder ihnen abhelfen kann. Der Einsatz für eine „bessere“ Welt geschieht dadurch, dass man zunächst die vorhandene nicht einfach in ihrer schädigenden Wirkqualität auf individuelles Leben bestehen lässt, sondern deren Auswirkungen zu verhindern, wenigstens aber zu lindern
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sucht (in der jüdischen Tradition gibt es das sich an jede und jeden richtende Motiv des tikkun ha olam, was sich übersetzen lässt als „die Welt zusammenfügen“ – eine Welt, die in vielen Trümmern vorangegangener Zerstörung liegt –, soweit dies im eigenen Handlungsbereich möglich ist). Die Menschenrechte versuchen insofern nichts anderes, als unverzichtbare ethische Minima, „Anfangsbedingungen des Menschseins“ (Otfried Höffe3), zu sichern. Sie sind keineswegs Ausdruck eines vieldimensional entfalteten Hochethos, in dem Raum ist und sein muss für viel Partikulares, das aber gerade darum nicht in universalisierbarer Weise zur Geltung gebracht werden kann.4
II. Auf rechtsphilosophischer Ebene ist die Diskussion über eine aus ethischen Gründen zu begrenzende Verpflichtungskraft positiver Gesetze nach 1945 explizit geführt worden. Der große Rechtsgelehrte Gustav Radbruch veröffentlichte 1946 in der Süddeutschen Juristenzeitung einen Aufsatz unter dem Titel „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, der Rechtsgeschichte geschrieben hat. Damals ging es um die Strafbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit trotz entgegenstehender, weil diese Verbrechen scheinbar legalisierender Gesetze. Die als Radbruchsche Formel bekannt gewordene Formulierung lautet: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“.5
Das Vorliegen dieser Konstellation wurde von deutschen Gerichten vornehmlich in Bezug auf Tötungshandlungen in staatlichem Auftrag während der NS-Zeit bejaht und die Radbruchsche Formel bemerkenswerter Weise nach 1990 auch auf die strafrechtliche Ahndung von Tötungsdelikten an der innerdeutschen Grenze bis Herbst 1989 angewendet. Der Unterschied im Hinblick auf das hier in Rede stehende Problem besteht lediglich darin, dass sich die Gesetzlichkeit, auf die Bezug zu nehmen ist, nicht als Legalisierung von Verbrechenstatbeständen ausnimmt. Vielmehr geht es darum, dass ein Normensystem, in dem Legalität und Legitimität 3 Vgl. Otfried Höffe, „Kein Geschenk, sondern Gabe. Identität im Verschiedenen – Menschenrechte im interkulturellen Diskurs“, in: Frankfurter Rundschau 1. 10. 1996, 12. 4 Vgl. Thomas Hoppe, „Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit, Gleichheit und Solidarität“, Stuttgart: Kohlhammer, 2002, 83. 5 Gustav Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung 1 (1946) 105 – 108, wieder abgedruckt in: Radbruch-Gesamtausgabe Bd. 3, Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag, 1990, 83 – 93, hier 89. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Björn Schumacher, „Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel“, Göttingen: Diss. (Eigendruck) 1985.
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gleichgesetzt werden, unter Umständen die Verhinderung oder Beendigung solcher Tatbestände zu blockieren und deren Invollzugsetzung daher zu begünstigen droht, weil es letzten Endes erst ermöglicht, dass sie sich in großem Umfang realisieren lassen. Auf die Bedeutung eines nichtpositivistischen Zugangs zum Recht hat vor wenigen Jahren erneut Robert Alexy in seiner Abhandlung „Die Doppelnatur des Rechts“6 hingewiesen. Sein Argument, das Recht weise stets eine „ideale“ und eine „reale“ Dimension auf, es erschöpfe sich daher nicht in seiner Positivität, „stützt sich auf die These, dass das Recht notwendig einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt und dass dieser Anspruch einen Anspruch auf moralische Richtigkeit einschließt. Dieser Anspruch auf Richtigkeit ist die Quelle der notwendigen Verbindung von Recht und Moral.“7 Von ihm kann man nicht absehen, weil anderenfalls absurde Entscheidungen möglich würden, was auf einen performativen Widerspruch hinausliefe. Schlimmer noch: „Ein Rechtssystem kann zwar zu einem System degenerieren, das ausschließlich auf der Ausübung roher Gewalt beruht. Solch ein System würde jedoch kein Rechtssystem mehr sein, sondern vielmehr sein Gegenstück, ein System nackter Machtbeziehungen. Dass der Anspruch auf Richtigkeit in einem solchen System nicht erhoben wird, ist deshalb kein Argument gegen seine Notwendigkeit in einem Rechtssystem.“8 Relevant wird der Anspruch auf Richtigkeit des Rechts bzw. seiner Anwendung durch den Richter vor allem in zwei Fällen: Erstens dann, wenn vom Gesetz her mehrere Entscheidungsalternativen zur Verfügung stehen und die letztlich getroffene substanziell zu begründen ist, also nicht als Resultat willkürlicher Dezision erscheinen darf. Zweitens „in den Fällen …, in denen das autoritative Material, etwa der Wortlaut eines Gesetzes, nur eine einzige Entscheidung zulässt, die ungerecht ist. In solchen Fällen läuft der Anspruch auf Richtigkeit entweder auf den Anspruch hinaus, dass es moralisch gerechtfertigt ist, wegen des moralischen Wertes der Rechtssicherheit das ungerechte Gesetz zu befolgen, oder er führt zu dem Anspruch, dass es moralisch gerechtfertigt ist, eine Ausnahme zu ihm zu machen, es vielleicht sogar für ungültig zu erklären, weil in diesem Fall die Gerechtigkeit dem moralischen Wert der Rechtssicherheit vorgeht.“9 Diese Überlegung entspricht im Ergebnis der Radbruchschen Formel, auf die Alexy im weiteren Entwicklungsgang seiner Argumentation explizit zu sprechen kommt.10 Insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechte arbeitet Alexy heraus, dass neben den Bestimmungen der Radbruchschen Formel weitere Verknüpfungen der „idealen“ (aus Gerechtigkeitsüberlegungen gewonnenen) mit der „realen“ DimenIn: Der Staat 50 (2011) 389 – 404. Ebd., 389. 8 Ebd., 391 f. 9 Ebd., 393. 10 Vgl. ebd., 398 ff., vor allem 401. 6 7
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sion des Rechts vorliegen, indem Menschenrechte, die vorpositiv, nämlich diskursiv begründet werden, als Grundrechte positiviert werden können und dies im Interesse des Anspruchs auf Richtigkeit des Rechts auch müssen.11 Diese „Doppelnatur … ist … die wesentlichste Eigenschaft des Rechts, und sie zeigt, warum der Rechtspositivismus eine inadäquate Theorie der Natur des Rechts ist.“ 12 Das bedeutet umgekehrt: Wenn in Kollisionsfällen von positivem Recht mit vorpositiven Gerechtigkeitsstandards keine Abwägung mehr stattfinden könnte, weil die Vorordnung des positivierten Rechts aufgrund der zugrundeliegenden rechtsphilosophischen Konzeption keine Ausnahmen zuließe – mit den Worten Radbruchs: der Begriff des „gesetzlichen Unrechts“ gar nicht sinnvoll gebildet werden könnte –, so würde das Wesen des Rechts selbst in einer entscheidenden Hinsicht verkannt. Darauf gründende Rechtsauslegungen würden den einmal im Konzept enthaltenen Irrtum nur je erneut widerspiegeln. Dieser Sachverhalt ist in rechtsethischer Hinsicht von der denkbar größten Tragweite. Ebenfalls ausschließlich philosophisch argumentiert eine normtheoretische Konzeption, die einen Schutzanspruch jedes Menschen in Bezug auf seine grundlegenden Rechte zu begründen sucht und aus ihr Schlussfolgerungen für eine internationale Schutzverantwortung herleitet. Sie hat der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer in seinem Essay „Mehr als humanitäre Intervention – Menschenrechte in der globalen Gesellschaft“13 vorgelegt. Zunächst geht er von einem „minimalistischen“ Rechtsbegriff“ aus, „der das Recht auf Leben und Freiheit, aber nicht viel mehr umfasst.“14 Aus dem Recht, „nicht ermordet oder versklavt zu werden, aber auch … aus Massenmord oder Versklavung gerettet zu werden“, ergibt sich eine ethische Schutzverpflichtung für diejenigen Staaten, die dieses Recht wirksam durchsetzen können: „Hätten die erstgenannten negativen Rechte einen Wert ohne die letztgenannten positiven?“15 Walzer stellt fest, dass die Vereinten Nationen eine Garantenfunktion für den Schutz und die Durchsetzung dieser Rechte bislang nicht übernähmen, was ihn zu der Frage führt: „An welcher Stelle ist diese Pflicht in der internationalen Gesellschaft verankert?“ Er hält folgende Antwort für möglich: „Staaten, die intervenieren können, sollten auch intervenieren, und das sogar militärisch, wenn alle anderen Mittel versagen. … dass es eine solche Pflicht tatsächlich gibt, wird stillschweigend anerkannt, wenn etwa der amerikanische Präsident Bill Clinton sein Bedauern darüber zum Ausdruck bringt, dass Amerika den Massakern in Ruanda untätig zugesehen hat. Wenn ein Massaker begonnen hat, sollte dem jemand Einhalt gebieten. … Zumindest in Extremfällen haben wir alle ein Recht darauf, von jemandem, der dazu in der Lage ist, gerettet zu werden.“16 11 12 13 14 15 16
Vgl. ebd., 402. Ebd., 404. In: Internationale Politik 60 (2005) H.2, 8 – 20. Ebd., 8. Ebd., 10. Ebd., 13.
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Darüber hinaus müssen freilich auch die Ursachen für die existenziellen Gefährdungen beseitigt werden, die die Schutzpflicht haben aktuell werden lassen: Die „Opfer von Massakern [haben] nicht nur ein Recht darauf …, dass das Morden beendet wird, sondern auch darauf, dass den Mördern die Macht zu morden genommen wird.“17 Zumindest in diesem Bereich verfangen für Walzer auch kulturalistische Infragestellungen des Universalitätsanspruchs grundlegender Menschenrechte, also der von verschiedenen Seiten vorgebrachte Verdacht, sie seien Ausdruck eines lediglich partikularen Ethos, keineswegs: „Ich bin der festen Auffassung, dass sich aus beinahe jedem lokalen kulturellen Kontext auch Argumente für das gleiche Recht aller auf Schutz und Unterstützung entwickeln lassen. Amartya Sen hat genau dieses Argument gegen die Behauptung, die ‚asiatischen Werte‘ schlössen solche Rechte aus, in Stellung gebracht.“18 Walzers Argumentation geht insofern über diejenige Radbruchs und Alexys hinaus, als er den Schutz bzw. die Durchsetzung von Rechten im Rahmen des von ihm eingeführten „minimalistischen“ Rechtsbegriffs durch eine juridisch abgesicherte Institution (z. B. den UN-Sicherheitsrat) zwar begrüßen, diese grundsätzliche institutionelle Zuordnung von Rechten und Pflichten aber nicht zur Bedingung dafür machen würde, dass bei Gefahr im Verzuge gehandelt werden darf – notfalls auch von einem oder mehreren Einzelstaaten, wenn diese dazu imstande sind, diese Gefahren abzuwenden, die drohende oder bereits eingetretene Katastrophe also nicht nur noch zu vergrößern. Das ethische Interesse an wirksamer, die Not wendender Intervention überwiegt die Bedeutung der damit verbundenen juristischen Fragen, die ethische Legitimität solchen Intervenierens kann hier mangelnde Legalität durchaus kompensieren. Die Anwendung der Radbruchschen Formel erübrigt sich unter solchen Umständen – oder man kann auch argumentieren: Es liegen solche Umstände vor, in denen die Anwendung dieser Formel zu demjenigen praktischen Ergebnis führt, das Walzer in seinem Essay zu erläutern sucht. Folgt man den rechtsethischen und -philosophischen Überlegungen Radbruchs, Alexys und Walzers, so hängt in der politischen Praxis alles an der verantwortungsvollen, nicht missbräuchlichen Inanspruchnahme einer Berechtigung zum Eingreifen auch jenseits der Legalität stiftenden Beschlussfassung des UN-Sicherheitsrates. Dass sie verantwortungsvoll geschehe, wird von ihren Befürwortern regelmäßig behauptet, von ihren Gegnern ebenso regelmäßig bestritten werden. Auch deswegen sollte durch Fortbildung des internationalen Rechts so weit wie möglich vermieden werden, dass ein solcher Konflikt, eine Kollision zwischen juristischen und ethischen Normen, überhaupt entsteht. Freilich bestehen keine Aussichten darauf, dass solche Bemühungen den Kollisionsfall vollständig zu einer „leeren Menge“ werden lassen könnten. Gerade deswegen bleiben die Argumente der genannten Autoren für die Diskussion um die internationale Schutzverantwortung in so hohem Maße relevant. 17 18
Ebd., 15. Ebd., 19.
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III. Seit dem Ende des Kosovo-Kriegs hat die Frage, ob man den ethischen wie humanitären Herausforderungen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen innerhalb von Staaten für die Staatengemeinschaft als ganze bedeuten, mit dem bisherigen Normensystem gerecht werden kann, zu einer Reihe von Vorschlägen geführt, die de lege ferenda eine modifizierte Form des Friedenssicherungsrechts befürworten. Nicht nur die Kosovo-Erfahrung im Frühjahr 1999 war hierfür ausschlaggebend, sondern ebenso die Folgen des Nichteinschreitens der Staatengemeinschaft während des Genozids in Ruanda 1994, der in wenigen Wochen fast einer Million Menschen das Leben kostete, sowie das Massaker von Srebrenica in Bosnien im Juli 1995. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, ergriff nach der Kosovo-Intervention die Initiative zur Erstellung einer Studie hochrangiger Experten aus dem außen- und sicherheitspolitischen Bereich, die erweiterte internationale Handlungsmöglichkeiten in Fällen massiver innerstaatlicher Gewaltanwendung gegen Teile der Bevölkerung prüfen sollte. Der Bericht dieser Studiengruppe, der „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS), erschien im Jahr 2001 unter dem Titel „The Responsibility to Protect“19 (abgekürzt: R2P), was im Deutschen zumeist mit „Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft“ übersetzt und alsbald zu einem neuen terminus technicus in der internationalen Debatte wurde. Die Kommission machte weitreichende Vorschläge, auch zur Frage, welche alternativen Möglichkeiten der Entscheidungsfindung für den Fall einer Blockade im UN-Sicherheitsrat durch das Veto eines oder mehrerer ständiger Mitglieder zur Verfügung stehen sollten. Nur ein Teil ihrer Empfehlungen fand schließlich Aufnahme in die Resolution der UN-Generalversammlung zum 60. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen von 2005.20 Das Spektrum von politischen Situationen, in denen die Schutzverantwortung aktuell werden kann, wurde dort gegenüber dem ICISS-Bericht verengt; explizit genannt werden Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Überwiegend handelt es sich um menschenrechtliche Grundnormen, die heute völkerrechtlich zum ius cogens gehören und „deren Einhaltung nicht nur einem bestimmten anderen Rechtssubjekt geschuldet ist, sondern der gesamten Staatengemeinschaft und anderen Völkerrechtssubjekten.“21 In der Resolution fehlen jedoch vor allem Überlegungen zu einem möglichen Veto-Verzicht bei Abstimmungen über humanitäre Notlagen22 und zu Möglichkeiten des Handelns auch ohne Mandat des Sicherheits19 20
139.
Ottawa: International Development Research Centre, December 2001. Vgl. Resolution 60 / 1 der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Ziffern 138 und
21 Peter Rudolf, „Schutzverantwortung und humanitäre Intervention“, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Studie SWP-S 3 / 2013, 13. 22 Auch im Abschlussbericht zum umfangreichen „Princeton Project on National Security“, in dem außen-, sicherheits- und rechtspolitische Experten in den USA eine grundlegende Be-
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rates, wenn dieser blockiert ist.23 Wie zögerlich politische Institutionen sind, an dieser für die potentiellen Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit prekären Situation, die ihren gebotenen Schutz unter große Ungewissheiten stellt, etwas zu ändern, zeigt etwa der Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des standsaufnahme der normativen wie faktischen Defizite gegenwärtiger weltordnungspolitischer Strukturen vorlegten, wurde dieser Forderung großes Gewicht im Interesse zeitgerechten und wirksamen Handelns in Krisensituationen beigemessen. Vgl. G. John Ikenberry / Anne-Marie Slaughter, „Forging a World of Liberty under Law“, Princeton, N.J.: The Woodrow Wilson School of Public and International Affairs, 27. 9. 2006, hier 25. Bekannt geworden ist das Projekt jedoch vor allem, weil es explizit über eine Alternative für den Fall nachdenkt, dass mit notwendigen Reformen im Bereich der Vereinten Nationen auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist – wobei den USA durchaus ein erheblicher Anteil am Ausbleiben solcher Reformen zugerechnet wird (23). Es plädiert für die Schaffung einer neuen Struktur, eines „Concert of Democracies“, das ggf. statt der Vereinten Nationen die Aufgaben einer kollektiven Friedenssicherung, die nicht auf Kosten der Menschenrechte realisiert wird, übernehmen können soll: „ideally within existing regional and global institutions, but if those institutions fail, then independently“ … The membership of the Concert would be selective, but self-selected. … Members would have to pledge not to use or plan to use force against one another; commit to holding multiparty, free-and-fair elections at regular intervals; guarantee civil and political rights for their citizens enforceable by an independent judiciary; and accept that states have a ‚responsibility to protect‘ their citizens from avoidable catastrophe and that the international community has a right to act if they fail to uphold it. … the Concert would become an alternative forum for the approval of the use of force in cases where the use of the veto at the Security Council prevented free nations from keeping faith with the aims of the U.N. Charter. Should this necessity arise, Concert members … would have to seek approval [on the use of force] at the United Nations first, but they would commit to accept authorization by the Concert as an equally legitimate and acceptable alternative” (25 f.). Vgl. sehr ähnlich Madeleine K. Albright / Richard S. Williamson, „The United States and R2P – From Words to Action“, Washington, D.C.: U.S. Institute for Peace, 2013, hier 20: „Given the potential for deadlock in the Security Council, the United States and other countries should retain the responsibility to assist endangered populations, especially when such an endeavor is supported by well-established regional or subregional organizations.“ Es ist leicht erkennbar, dass hier wie dort dieselbe normtheoretische Grundüberlegung maßgeblich ist, wie sie bei Radbruch, Alexy und Walzer begegnet. 23 Zu den Gründen notiert Lothar Brock, „Dilemmata des internationalen Schutzes von Menschen vor innerstaatlicher Gewalt“, in: Die Friedens-Warte 88 (2013) 163 – 185: „Die Länder des Südens waren daran interessiert, dieses Schlupfloch für einen Unilateralismus zu schließen, das die ICISS-Version gelassen hatte“ (177). Brock entwickelt hierfür deutliche Sympathie und begründet sie folgendermaßen: „Das Argument, die Entwicklung der globalen Moral (Schutz von Menschen vor exzessiver Gewalt) schaffe einen Handlungsbedarf, der nach den Regeln der UN nicht abgedeckt werden könne und von daher ein kompensatorisches Handeln von interventionswilligen Staaten erfordere, läuft auf eine Völkerrechtspolitik hinaus, die das ohnehin schon prekäre Gewaltverbot der UN-Charta noch weiter schwächen würde. Dem wirkt die R2P in der Version von 2005 entgegen“ (180). Ähnlich argumentiert Michael Haspel, „Das Konzept der Human Security kommt zu kurz!“, in: Sicherheit + Frieden 32 (2014) 62 ff., hier 63. Die Frage ist aber gerade, ob in extremis die Stärkung des Gewaltverbots der Charta oder der Schutz von Menschen vor exzessiver Gewalt ethisch vorrangig ist. Will man in solchen Notlagen nicht einen Vorrang der Charta behaupten, was sich kaum überzeugend begründen ließe, so erscheinen auch die Engführungen der Resolution 60 / 1 nicht begrüßenswert, sondern mindestens ambivalent, wenn nicht sogar hoch problematisch. Vgl. Dieter Janssen, „Menschenrechtsschutz in Krisengebieten“, Frankfurt/ M.: Campus, 2008, 322: „Das durch die UN-Charta etablierte System … wird nur dann Legitimi-
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EU-Parlaments vom März 2013. Dort wird angesichts des „Unvermögens“ der Staatengemeinschaft, „in Syrien Maßnahmen zu ergreifen“, zwar dazu aufgefordert, „Lehren zu ziehen“, deren weitestgehende lautet aber: „den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates … die Annahme eines freiwilligen Verhaltenskodex vorzuschlagen, der den Einsatz des Vetorechts in Fällen von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschränken würde.“24 Trotzdem ist festzustellen, dass die bekräftigende Aufnahme des R2P-Konzepts in ein solches UN-Dokument eine Veränderung der politischen Situation bewirkt hat, in welcher Interventionsfragen zu erörtern sind. Bis dahin hatte nahezu ausschließlich das in der UN-Charta verankerte völkerrechtliche Interventionsverbot den Referenzrahmen für entsprechende Erörterungen dargestellt. Nun aber ging es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dieses Verbot als eingeschränkt verstanden werden müsse, gerade um durch die Modalitäten seiner Anwendung nicht ad absurdum geführt zu werden. Es sollte die Unabhängigkeit der Einzelstaaten gegen illegitime internationale Pressionen schützen, nicht aber als Freibrief dafür verstanden werden können, dass Regime im Schutz der Souveränität ihres Staates folgenlos die Verfolgung und Ermordung von Teilen ihrer Bürger entweder selbst veranlassen oder sie ungehindert geschehen lassen. Damit zieht das R2P-Konzept die Konsequenz aus dem Sachverhalt, dass in juristischer Hinsicht zwar ganz überwiegend weiterhin die einzelnen Staaten als Völkerrechtssubjekte betrachtet werden, für eine ethische Betrachtung diese durchaus kontingente Struktur der Staatenwelt jedoch sekundär ist. Sie bleibt ihrerseits daraufhin zu prüfen, ob und wie weit sie den Schutz der elementaren Rechte eines jeden Menschen verlässlich gewährleistet. Konzipiert man, wie es hier geschieht, den gesamten Legitimitätsdiskurs auch für den Bereich der internationalen Beziehungen vom Menschenrechtsschutz her, so bildet das R2P-Konzept den normativen Referenzrahmen, von dem her letztlich Reichweite und Grenzen aller übrigen Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen ethisch einzuschätzen sind. Die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft ist dabei strikt am Kriterium der Subsidiarität orientiert: Nur wenn der einzelne Staat nicht willens oder nicht fähig ist, Gräueltaten zu verhindern, wird sie wirksam, anderenfalls obliegen die entsprechenden Schutzpflichten gegenüber seinen Bürgern dem betreffenden Staat selbst. Dieser kann, soweit er ihnen gerecht wird, rechtens darauf verweisen, weiterhin durch das Interventionsverbot gegen auswärtige Einmischung geschützt zu sein. Problematisch bleibt dabei bis auf weiteres, dass der Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft über eine Berechtigung zum Eingreifen hinaus nicht der Chatät reklamieren können, wenn es den Schutz von Leib und Leben der Menschen in aller Welt nicht nur rhetorisch betont, sondern auch konkret in seinen Institutionen verankert.“ 24 Europäisches Parlament, „Bericht mit einem Vorschlag für eine Empfehlung des Europäischen Parlaments an den Rat zu dem Grundsatz der Vereinten Nationen ‚Responsibility to Protect‘“, 27. 3. 2013, Dok. A7-0130 / 2013, 13.
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rakter einer Handlungsverpflichtung, also eine „Rechtspflicht zur Einmischung“, zugesprochen wurde. In der Resolution 60 / 1 ist die Rede von Reaktionen „on a case-by-case basis“, also von Einzelfallentscheidungen, die sich je verschieden ausnehmen können, ohne dass sie einer inhaltlich deutlich konturierten Kriteriologie folgen müssten, die wenigstens einigermaßen einheitlich angewendet wird.25 Hier wie auch in anderen Zusammenhängen zeigt sich das Zögern der Staaten, sich durch präzise rechtliche Festlegungen über das Maß hinaus zu binden, das mit politischen Opportunitätsüberlegungen verträglich erscheint. In der gegenwärtigen Diskussion hat es sich als notwendig erwiesen, das R2PKonzept gegen den Verdacht in Schutz zu nehmen, in neuer Weise Ausdruck einer bellizistischen Sichtweise auf die internationalen Beziehungen zu sein. Bevor bewaffnete Intervention (Responsibility to React) in Betracht gezogen werden darf, gilt es der prioritären Pflicht zur Prävention (Responsibility to Prevent) zu entsprechen: Nach Möglichkeit soll verhindert werden, dass politische Krisen bis zu einem Punkt eskalieren, an dem nur noch die Wahl zwischen dem Verzicht auf jegliches wirksame Handeln und militärischer Intervention verbleibt.26 Auch die Pflicht zur Nachsorge nach einem gewaltförmig gewordenen Konflikt (Responsibility to Rebuild) entspringt letzten Endes dem Präventionsgedanken, nämlich gegenüber der Gefahr einer Wiederholung des Geschehenen, die erneut die Frage nach bewaffnetem Eingreifen aufwerfen könnte. In der Logik und Absicht des R2P-Konzepts liegt daher nicht die Inflationierung, sondern im Gegenteil die Reduzierung der Zahl von Fällen, in denen man auf Intervention zurückgreifen muss. Freilich gibt es sich nicht der Illusion hin, mit dem konsequenten Ausschöpfen aller Präventionsmöglichkeiten lasse sich das Interventionsproblem quasi erledigen, da es dann entsprechende Zuspitzungen von Krisen und Konflikten gar nicht mehr geben werde. Es folgt aus diesen Überlegungen die strenge Pflicht zur Prüfung jeder derartigen Konfliktkonstellation unter dem Gesichtspunkt, welche Form ihrer Bearbeitung unter der Perspektive des R2P-Konzepts angemessen erscheint. Dabei kommt dem Interesse an einer Vermeidung von Gewalt besonderes Gewicht zu, ohne dass jedoch gewaltfreie Handlungsweisen zur ausschließlichen ethisch vertretbaren Option werden könnten. Letzteres wäre zwar wünschenswert, scheint in der real existierenden Welt auf absehbare Zeit aber nicht umsetzbar, will man nicht riskieren, wehrlose Dritte den Preis dafür zahlen zu lassen.
25 Vgl. Andreas von Arnauld, „‚Emerging legal norm‘? Rhetorische Floskeln reichen nicht“, in: Sicherheit + Frieden 32 (2014) 61 f. 26 Auf die Wichtigkeit dieser Überlegung verweist auch Walzer, der davor warnt, angesichts der Risiken und Gefahren militärischen Handelns zu früh nach dem Einsatz dieses Instruments zu rufen, vgl. Walzer (Fn. 13), 17.20.
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IV. Die weitaus meiste Aufmerksamkeit in der internationalen Diskussion zieht von den drei genannten Umsetzungsformen der R2P – Prevent, React, Rebuild – die militärische Intervention auf sich, weil sie mit den größten Bedenken verbunden ist. Als besonders kritisch erweist sich dabei die Abschätzung der voraussichtlichen Folgen einer Interventionsentscheidung:27 (1) Ein grundlegender ethischer Zielkonflikt besteht darin, dass überhaupt Gewalt angewendet wird, die auch im günstigsten Fall stets zerstörerische Konsequenzen hat und deswegen bereits aus sich heraus zu Verhärtung und Verbitterung auf Seiten der von ihren Folgen Betroffenen beitragen kann. (2) Das häufig eher kurzfristige interessenpolitische Kalkül führt rasch zur Uneinigkeit der Akteure, wenn deren Interessen zu divergieren beginnen. Dies gefährdet den Erfolg einer Intervention besonders dann, wenn die bereit gestellten Kräfte bereits zu Beginn unzureichend sind und / oder die komplexen Aufgaben einer längerfristigen Konfliktnachsorge und des Aufbaus eines Gemeinwesens, das neuerlich entstehende humanitäre Notlagen nicht befürchten lässt, unterschätzt werden. (3) Auch relativ erfolgreiche Interventionen können im besten Fall zwar das Schlimmste verhindern, selten jedoch einen flächendeckenden Schutz für die Zivilbevölkerung garantieren, obwohl dies eines der zentralen Ziele ist, die sich aus dem R2P-Ansatz ergeben. Denn viel hängt von den Gegebenheiten vor Ort ab; sogar eine umfangreich angesetzte Intervention kann in einem ausgedehnten Flächenstaat wie etwa dem Kongo darauf hinauslaufen, dass weite Landstriche ungeschützt bleiben, weil es den trotz ihres unter Umständen bedeutenden Umfangs dennoch begrenzt bleibenden Interventionstruppen faktisch unmöglich ist, überall hinreichend präsent zu sein, wo sie benötigt werden. Die oft beschriebene Selektivität von Interventionsentscheidungen hat daher neben politischen Ursachen auch solche, die auf tatsächlichen Restriktionen vor Ort beruhen und nicht einfach beseitigt werden können. Sowohl bei Einsätzen im Rahmen oder auch außerhalb der Vereinten Nationen ist von zentraler Bedeutung für die Erfolgsaussichten, dass von Beginn an die humanitär begründete Intervention problemadäquat mandatiert, mit einer realistischen Zielvorstellung versehen und personell wie materiell angemessen ausgestattet und vorbereitet wird.28 Vor allem an einer hinreichenden Ausstattung der zivilen und polizeilichen Kräfte fehlt es häufig. 27 Vgl. zum folgenden Abschnitt Thomas Hoppe (Hrsg.), „Verantwortung zu schützen. Interventionspolitik seit 1990 – eine friedensethische Bilanz“, Berlin: Dr. Köster, 2014, bes. 7 – 52. 28 Zum Versagen der Vereinten Nationen, insbesondere ihres Sicherheitsrats, im Hinblick auf die Bereitstellung notwendiger Ressourcen zur Verhinderung des Genozids in Ruanda vgl. Manfred Eisele, „Ruanda 1994. Die internationale Gemeinschaft hat nur wenige Lehren gezogen“, in: Vereinte Nationen 62 (2014) H.2, 51 – 58, bes. 57.
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(4) In der Regel bestimmt nicht der Intervenierende allein den Gang der Ereignisse, es sei denn, er ist so haushoch überlegen, dass er seine politischen Ziele schon von einem frühen Zeitpunkt an und weitgehend, ohne mit nennenswertem Widerstand rechnen zu müssen, durchsetzen kann. Die Eigendynamik insbesondere bewaffneter Auseinandersetzungen lässt sich grundsätzlich nur schwer im Voraus kalkulieren und zwingt im Laufe der Zeit immer wieder zu Veränderungen des eigenen Handlungskonzepts, in idealer Weise so, dass dadurch Eskalationskontrolle und Deeskalation wahrscheinlicher werden als weitere Eskalation. (5) Darüber hinaus lassen sich auch die politischen Dynamiken nicht in einem vorher gefassten „Masterplan“ quasi einfangen. Hierin liegt die Ambivalenz der populären Forderung begründet, man müsse bereits zu Beginn einer solchen Unternehmung eine „exit-Strategie“ konzipiert haben, so als könne man diese während des Zeitraums der Intervention in Ruhe abarbeiten. In Wirklichkeit ändern sich mit den Unvorhersehbarkeiten des Konfliktverlaufs auch die Zielsetzungen, die zu erreichen man für realistisch halten und nur insoweit auch einfordern darf. (6) Zu diesen ungewollten, aber schwer vermeidbaren Verläufen kommt hinzu, dass politische Akteure vor Ort, die von der Intervention profitieren, ihre eigene Agenda verfolgen und häufig versuchen, die Interventen und ihre politischen wie militärischen Entscheidungen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Beispiele dafür hält die Entwicklung der Kosovo-Intervention 1999 bereit, aber auch der Prozess, der der Libyen-Intervention 2011 folgte. Auch die Veränderungen im Irak und in Afghanistan, die bis heute andauern, sind Belege für die Bedeutung dieser Problematik. Dadurch tritt der Zielkonflikt klar hervor, der für die intervenierende Seite entsteht: Die Erreichung wenigstens der wesentlichen Zielsetzungen der Intervention soll gegen Versuche ihrer Verfälschung oder Vereitelung sichergestellt, gleichzeitig aber vermieden werden, dass die temporäre Präsenz externer Akteure im Interventionsgebiet dort als Oktroi, als fremdbestimmter politischer Status interpretiert und aus diesem Grund abgelehnt wird. Denn ein sich auf solche Weise leicht herausbildendes Ressentiment verhindert, dass sich die Menschen im Interventionsgebiet mit den Zielen der Intervention identifizieren, auch wenn diese in ihrem besten eigenen Interesse formuliert wurden. Die Frage nach Reichweite und Grenzen legitimen Eingreifens stellt sich daher auch so, dass es jeweils eigens zu klären gilt, unter welchen Voraussetzungen eine humanitär begründete Intervention überhaupt Aussichten auf eine gewisse Nachhaltigkeit in sich birgt. Im Zusammenhang mit der Libyen-Intervention wurde viel kritisiert, am Anfang habe lediglich das UN-Mandat zum Schutz bedrohter Zivilbevölkerung gestanden, während im Lauf der Intervention die politische Zielsetzung substanziell verändert worden sei, indem offenkundig mehr und mehr ein Regimewechsel, also der Sturz des Despoten Muammar Ghaddafi und der ihn stützenden politischen Klientel, angezielt wurde. Wie immer man dies im Hinblick auf den konkreten Fall Libyen bewerten mag – die Annahme liegt nahe, dass ein Regime,
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das für einen Völkermord oder andere schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist und den eigentlichen Interventionsgrund liefert, in Zukunft kaum erwarten lässt, dass es die elementaren Rechte der Menschen zu respektieren und die dazu notwendigen Schutzgarantien zu geben bereit sein wird. Je gravierender der Anlass zur Intervention, um so unplausibler erscheint daher der Gedanke, sie ohne einen Regimewechsel erfolgreich beenden zu können. Politische Kompromisse, in denen der Machterhalt der bisherigen Funktionselite – und in gleichem Maße die Zurücknahme des politischen Einflusses der Interventen – vorerst in Aussicht gestellt wird, erscheinen in diesem Licht wie Wetten darauf, dass von einer Vielzahl möglicher, darunter auch schlechter weiterer Entwicklungen ausgerechnet der am wenigsten wahrscheinliche beste Fall eintreten dürfte. Insofern besteht faktisch häufig eine direkte innere Verbindung zwischen nachhaltiger Unterbindung von systematischen schweren Menschenrechtsverbrechen und einer Entfernung der dafür Verantwortlichen von der politischen Macht. Dadurch kann es schwer werden, das Eine vom Anderen zu trennen. In einem solchen Fall bedeutet die Beendigung einer Intervention durch einen Regimewechsel nicht zwangsläufig einen Missbrauch des erteilten Mandats für die Mission.29
V. Die zahlreichen und gravierenden negativen Nebenfolgen einer bewaffneten Intervention unterstreichen die Bedeutung, die nicht nur politisch, sondern gerade auch ethisch einem entschlossenen Bemühen um Gewaltprävention zukommt, wie es sich in der Forderung nach einer Responsibility to Prevent ausdrückt. Dabei besteht das Hauptproblem gegenwärtig nicht in einem generellen Mangel an verfügbaren Informationen über sich kritisch zuspitzende humanitäre Situationen. Wohl aber besteht eine breite Lücke zwischen qualifizierten Informationslagen (early warning) einerseits und der Bereitschaft zu zeitgerechtem Handeln (early action) andererseits, damit gewaltförmige Kriseneskalationen abgewendet werden können. Von vielen Seiten werden Vorschläge dazu unterbreitet, wie sich diese Lücke verkleinern oder womöglich schließen ließe. Gerade hier liegen bedeutende Möglichkeiten für nicht29 Vgl. im Einzelnen hierzu, insbesondere zu den völkerrechtlichen Implikationen Lars Brozus / Christian Schaller, „Über die Responsibility to Protect zum Regimewechsel“, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Studie SWP-S 13 / 2013. Schaller kommt zu dem Ergebnis: „Letztlich ist es eine politische Entscheidung, ob der Sicherheitsrat ein humanitäres Schutzmandat so eng fasst, dass Maßnahmen, die zum Regimesturz führen können, eindeutig ausgeschlossen sind. Ergeht ein Beschluss [wie im Fall Libyen 2011] …, der den Mandatsnehmern bewusst erhebliche Interpretations- und Entscheidungsspielräume belässt, ist ein Einsatz jedenfalls nicht schon deshalb völkerrechtswidrig, weil es in der Folge absehbar zu einem Regimewechsel kommt. … Maßgeblich ist, dass das Eingreifen objektiv geeignet ist, den Schutzzweck der Resolution zu verwirklichen. … Völkerrechtswidrig wäre das Vorgehen … erst dann gewesen, wenn humanitäre Gründe offenkundig nur als Vorwand gedient hätten“ (15).
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staatliche Akteure, ihre spezifischen Kenntnisse etwa eines Krisengebiets und der in ihm präsenten politischen bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure in den Prozess politischer Entscheidungsfindung einzuspeisen. Ferner wird dafür plädiert, zu überlegen, „wie die vielen nationalen, regionalen und internationalen Frühwarnsysteme bestmöglich miteinander vernetzt werden können.“30 Allerdings wird zu Recht auch darauf hingewiesen, dass dieselben Gründe, die vor einer Interventionsentscheidung im Rahmen der R2P zögern lassen, oft auch diejenigen sind, aus denen es an einer vorausschauenden und umsichtigen Präventionspolitik mangelt. Einer dieser Gründe ist in der mangelnden Kohärenz der Politik der Nationalstaaten zu sehen. Sie gehen häufig von einer auf nur ihre eigene Interessenlage fixierten politischen Analyse aus und betreiben in diesem Sinn traditionelle Außen- und Wirtschaftspolitik, ohne auf die systemischen Auswirkungen ihrer politischen Handlungen auf andere, davon mitbetroffene Staaten und Gesellschaften hinreichend zu achten. Offenkundig ist dies besonders auf dem Sektor der Rüstungsexportpolitik: Die leichte und weltweite Verfügbarkeit moderner Kleinwaffen trägt wesentlich dazu bei, Kriege und Bürgerkriege in die Länge zu ziehen, wenn sie nicht sogar die Voraussetzung dafür darstellt, dass sie überhaupt stattfinden können. Aus den damit verbundenen humanitären Katastrophen entstehen nicht nur gelegentlich jene Situationen, in denen die internationale Schutzverpflichtung aktuell wird, soll die betroffene Zivilbevölkerung nicht ihrem Schicksal überlassen bleiben. Doch auch jenseits des Rüstungssektors besteht auf vielen Politikfeldern das genannte Kohärenzproblem, das immer neu Probleme erzeugt, derer man dann aufwändig und mit oft nur begrenzter Erfolgssicht wieder Herr zu werden versucht. Dies zeigt, dass es entscheidend darauf ankommt, wie weit das reale Verhalten staatlicher, aber auch großer privatwirtschaftlicher Akteure sich tatsächlich und nicht nur deklaratorisch an elementaren Standards einer Ethik der internationalen Beziehungen ausrichtet und bereit ist, dieser Finalisierung konsequenter zu folgen. Als grundlegendster dieser Standards erscheint der Imperativ, von schweren, systematisch und massenhaft verübten Menschenrechtsverbrechen (wie sie im R2P-Konzept definiert sind) bedrohte und verfolgte Menschen nicht schutzlos zu lassen – und natürlich erst recht nicht selbst Umstände schaffen zu helfen, die solche Not erzeugen. Daher kann die Konzeption einer Ethik der internationalen Beziehungen ausgehend von diesem Imperativ entfaltet werden, der Schutzgedanke ist ihre Grundlage. So lässt sich an den Hinweis von Rabbiner Rothschild, der eingangs genannt wurde, abschließend noch einmal anknüpfen: Ethisch betrachtet, ist es zunächst tatsächlich genug, leidende Menschen zu retten. Die komplexen Verwirklichungsbe30 Ebd., 29; im Blick auf Deutschland und Möglichkeiten zur zielgerichteten Verbesserung seiner Präventionspolitik Sarah Brockmeier, „Deutschland und der Völkermord in Ruanda: Eine verpasste Chance zu lernen“, in: Vereinte Nationen 62 (2014) H.2, 72 – 76.
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dingungen einer solchen ethischen Position im Rahmen der Politik stellen das zentrale Problem dar, das jedoch, wie sich an der intensiven Debatte um die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft zeigt, zunehmend bewusst und nicht mehr, wie lange Zeit hindurch, einfach hingenommen wird. Man könnte sagen, eine Maxime, die in der jüdischen Ethik von wesentlicher Bedeutung ist und auf die sich letztlich jede Ethik gründen lässt, finde endlich auch in der politischen Praxis mehr Aufmerksamkeit: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“ Das ist der Grund, warum dieser Gedanke, einmal „politikfähig“ geworden, nicht mehr verloren gehen darf, sondern weiter ausgearbeitet und qualifiziert werden muss.
Summary A topic of controversy concerning the debate on an international “Responsibility to Protect” (R2P), is how to argue for legitimacy of an intervention into the sphere of sovereignty of nation states and of restrictions on the international legal norm of non-intervention. R2P means that the norm of non-intervention is not at stake when people are to be protected against – or rescued from – gross and massive atrocities and violations of fundamental human rights (genocide, crimes against the laws and customs of war, ethnic cleansing, crimes against humanity) and the nation state’s authorities in charge are not able and / or willing to act in favour of the endangered people. The article argues that the fundamental reasons for legitimacy of interventions in cases where R2P will become acute lie in an essentially non-positivistic conception of philosophy and ethics of law. This concept is open for and tending to codification in legal norms when possible, but the power and range of its obligations do not result out of such codification itself. Therefore, missing those codifications alone, the realization of political and moral duties to intervene on behalf of R2P will not be without the necessary legitimacy. This is not to deny that, for reasons of prudence, a contradiction between political-moral norms and norms which are legally binding should be avoided as much as possible, especially in the area of protection of fundamental human rights and prevention of crimes against humanity. Carrying out interventions, the calculation of consequences ex ante is crucial, especially concerning the fact that such action is of a dynamic character which only seldomly leaves only the chance for the intervening parties to determine the outcome of events by themselves alone. Bearing in mind the ambivalences of any military action, it should be given first priority to a politics of preventing the occurrence of gross human rights violations in general. This principle is explicitly mentioned and endorsed in the concept of R2P. In this respect, it is of urgent importance to work on closing the large gap which exists today between fairly well-established early warning capacities on one side, insufficient capabilities to early action on the other.
Solidarität und Retinität in Zeiten des Klimawandels Überlegungen aus der Perspektive einer Ethik der Nachhaltigkeit1 Andreas Lienkamp
Zuvor Der gegenwärtige, menschengemachte Klimawandel ist aufgrund seiner schon eingetretenen, nicht mehr vermeidbaren und noch zu befürchtenden erheblichen negativen Auswirkungen auf das Erdsystem und damit auf Menschen, Tiere und Pflanzen eines der größten Probleme des 21. Jahrhunderts. Wegen seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung ist er zugleich eine der größten Herausforderungen für interpersonale, zwischenstaatliche und intergenerationelle Solidarität. Aber auch das Verhältnis unserer Spezies zur außerhumanen Natur ist in eine schwere Krise geraten, die nach einer grundlegenden Neuausrichtung ruft, deren Maßstab hier – in Analogie zum Begriff der Solidarität – als Retinität bezeichnet wird. Der vorliegende Artikel nimmt die Perspektive einer christlichen Ethik der Nachhaltigkeit2 ein, die sich begreift als eine am Leitbild nachhaltiger Entwicklung ausgerichtete, analytisch-normative Handlungswissenschaft. Als solche benötigt sie drei Kompetenzen bzw. Instrumente: erstens Optik (griech. optikē technē), d. h. die Fertigkeit der genauen Wahrnehmung der naturalen und sozialen Wirklichkeit, zweitens Kritik (griech. kritikē technē), also die Kunst der Unterscheidung, Prüfung und Bewertung, und drittens Pragmatik (griech. pragmatikē technē), d. h. das Wissen um das gute und richtige Handeln. Entsprechend sind die folgenden Überlegungen nach der Methode Sehen – Urteilen – Handeln aufgebaut. In einem ersten Schritt werden Symptome, Ursachen und Folgen des Klimawandels beleuchtet, in einem zweiten Schritt dann vor diesem Hintergrund Solidarität und Retinität als Seins- und Sollensprinzipien entfaltet und in einem dritten Schritt schließlich Überlegungen zum Schutz des Klimas und zum Schutz vor dem Klima präsentiert, die sich ihrerseits an den zuvor erläuterten ethischen Prinzipien orientieren werden. 1 Der Autor dankt Frau Dr. Birgit Hegewald, Postdoc am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück, für die Durchsicht des Manuskripts sowie für inhaltliche Anregungen. 2 Diesen Ansatz habe ich in meiner Habilitationsschrift ausführlich begründet und entfaltet: Lienkamp, Andreas, Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive, Paderborn/ München / Wien / Zürich: Schöningh, 2009.
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I. Optik: Der gegenwärtige Klimawandel – Symptome, Ursachen und Folgen Der Fünfte Sachstandsbericht (Fifth Assessment Report, AR5) des Weltklimarates IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) lässt kaum noch Zweifel: Der Mensch ist die entscheidende Ursache der globalen Erwärmung und damit auch der aus ihr resultierenden Folgen: „Human influence has been detected in warming of the atmosphere and the ocean, in changes in the global water cycle, in reductions in snow and ice, in global mean sea level rise, and in changes in some climate extremes […]. It is extremely likely that human influence has been the dominant cause of the observed warming since the mid-20th century.“ 3
Extremely likely wird im AR5 definiert als eine Wahrscheinlichkeit von 95 bis 100 Prozent4! Damit ist die Gewissheit sowohl in der Völkergemeinschaft als auch in der Scientific Community gegenüber dem letzten Report aus dem Jahr 2007 noch einmal gewachsen. Mit der 1992 unterzeichneten Klimarahmenkonvention (UNFCCC) haben sich die mittlerweile 196 Vertragsparteien auf das „Endziel“ („ultimate objective“) geeinigt, durch eine rechtzeitige Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems zu verhindern5. Inzwischen wurde dies durch das sog. 2° C-Limit konkretisiert6, da spätestens dann mit gefährlichen Auswirkungen zu rechnen ist, wenn die globale durchschnittliche Erdoberflächentemperatur um mehr als 2° C gegenüber dem vorindustriellen Niveau ansteigt. Aus Sicht der akut vom steigenden Meeresspiegel bedrohten kleinen Insel- und tiefliegenden Küstenstaaten ist dieser Schwellenwert allerdings zu hoch, wie ihr Slogan „one point five to stay alive“ verdeutlicht.7 Der messbare Temperaturanstieg beträgt für den Zeitraum 1880 bis 2012 rund 0,8° C.8 Weitere 0,6° C 3 Intergovernmental Panel on Climate Change, „Summary for Policymakers“, in: Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Cambridge, U.K. / New York: Cambridge University Press 2013, S. 1 – 29, hier S. 17. 4 IPCC WG1 2013 (Fn. 3), S. 4 Anm. 2. Darüber liegt nur noch „virtually certain“, „so gut wie sicher“, mit 99 bis 100 Prozent Wahrscheinlichkeit. 5 Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (Klimakonvention), in: Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro – Dokumente. Klimakonvention, Konvention über die Biologische Vielfalt, RioDeklaration, Walderklärung, hrsg. vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bonn: BMU, 1992, S. 3 – 19, hier Art. 2. 6 United Nations Framework Convention on Climate Change / Conference of the Parties, Decision 1 / CP.16 (FCCC/ CP / 2010 / 7 / Add.1), 2011, Nr. 4, http://unfccc.int/resource/docs/2010/ cop16/eng/07a01.pdf. 7 Vgl. Alliance of Small Island States, SIDS climate change dilemma: keeping average temperature increase below 1.5°C to stay alive, http://climatepasifika.blogspot.de/ 2010_06_25_ archive.html. 8 IPCC WG1 2013 (Fn. 3), S. 5.
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sind bereits vorprogrammiert und werden aufgrund der Trägheit des Klimasystems selbst dann noch hinzukommen, wenn die Menschheit sofort aufhören würde, Treibhausgase zu emittieren. Damit ist ein Temperaturanstieg um mindestens 1,4° C bereits unvermeidbar. Abbildung 1 stellt neben den (in schwarz eingetragenen) Messdaten die beiden extremen Szenarien dar, die aufzeigen, innerhalb welcher Bandbreite sich die Temperatur in Abhängigkeit von den Emissionen und anderen Variablen bis zum Jahrhundertende entwickeln könnte:
RCP: „Representative Concentration Pathway“ (RCP8.5: „total radiative forcing in year 2100 relative to 1750: 8,5 W / m2“; RCP2.6: 2,6 W / m2)9. Die rechte Skala gibt den Temperaturanstieg gegenüber dem vorindustriellen Niveau an.
Abbildung 1: „Past and projected global annual average surface temperature“10
Demnach ist – entsprechend dem Hochemissions-Szenario RCP8.5 (mit einem zusätzlichen Strahlungsantrieb von 8,5 W / m2) – eine Erwärmung bis zum Jahr 2100 um bis zu 5,41° C möglich.11 Diese wäre ohne Präzedens in der Geschichte IPCC WG1 2013 (Fn. 3), S. 19. Intergovernmental Panel on Climate Change, „Summary for Policymakers“, in: Climate Change 2014: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Part A: Global and Sectoral Aspects. Contribution of Working Group II to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Cambridge, U.K. / New York: Cambridge University Press 2014, S. 1 – 32, hier S. 13. 11 Beim Vergleich mit den Daten im AR4 muss zu den Temperaturangaben des AR5 jeweils 0,61° C addiert werden (also: 4,8° C + 0,61° C = 5,41° C). Vgl. IPCC WG1 2013 (Fn. 3), 9
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der menschlichen Zivilisation und hätte einen völlig veränderten Planeten zur Folge. Die Anpassung an derartige und zudem ungewöhnlich schnell ablaufende Veränderungen würde die Menschheit vor eine kaum lösbare Aufgabe stellen, zumal die gesamte Infrastruktur, die landwirtschaftliche und industrielle Produktion, die kollektiven und individuellen Erfahrungen sowie Wissenschaft und Technik an ein über lange Zeit stabiles Klima adaptiert sind. Substanzielle Veränderungen in diesen Bereichen, sofern denn möglich, brauchen viel Zeit und sind nur mit gewaltigen (u. a. finanziellen) Anstrengungen zu realisieren. Aber auch die anderen Szenarien, selbst das harmlos erscheinende RCP2.6-Szenario, wären zwar geringere, allerdings immer noch mehr oder weniger schwerwiegende Übel. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Szenarien sind keine Prognosen, sondern Wenn-Dann-Aussagen. „Sie dienen vor allem dazu, die Konsequenzen verschiedener Handlungsoptionen zu beleuchten. […] Falls sich die Weltgemeinschaft dafür entscheidet, Klimaschutz zu betreiben und die CO2-Konzentration zu stabilisieren, treten die pessimistischeren Szenarien nicht ein – das bedeutet natürlich nicht, dass dies dann ‚falsche Vorhersagen‘ waren, vielmehr wären diese Szenarien eine rechtzeitige Vorwarnung gewesen.“12 1. Ursachen des Klimawandels Seit Beginn der Industrialisierung verändert die Menschheit in signifikanter Weise die Zusammensetzung der Atmosphäre, insbesondere durch gewaltige Treibhausgasemissionen sowie durch großflächige Waldvernichtung. Der jährliche Ausstoß von Kohlen(stoff)dioxid, des wichtigsten vom Menschen emittierten Treibhausgases, liegt derzeit bei rund 35 Gigatonnen CO2 pro Jahr und wird sich im Jahr 2020 voraussichtlich sogar auf 41 Gigatonnen belaufen13, wenn sich der vorherrschende Trend fortsetzt. Aufgrund der über Jahrzehnte hohen Emissionen und der langen Verweildauer des Gases in der Atmosphäre ist die CO2-Konzentration bis heute stetig gestiegen und hat im August 2014 saisonbereinigt 398,73 ppm erreicht.14 Dieser Wert ist der höchste seit mindestens 800.000 Jahren, vermutlich sogar seit 15 Millionen Jahren. Der vorindustrielle Wert lag über längere Zeit relativ S. 17 f., und Treber, Manfred/ Kreft, Sönke, Weltklimarat IPCC veröffentlicht den ersten Teil seines Fünften Sachstandsberichts: Klimawandel menschengemacht, Handlungsdruck steigt – Wissenschaftler stellen insbesondere die Verwundbarkeit der Ozeane heraus. Zusammenfassung und Bewertung, in: KlimaKompakt Spezial, hrsg. von Germanwatch, Nr. 55 vom 31. 10. 2013, S. 1 – 12, hier S. 4 und 8. 12 Rahmstorf, Stefan/ Schellnhuber, Hans Joachim, Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie, 7. vollst. überarb. u. akt. Aufl., München: Beck, 2012, S. 46 f. 13 Vgl. World Bank (ed.), Turn Down the Heat: Why a 4° C Warmer World Must be Avoided. A Report for the World Bank by the Potsdam Institute for Climate Impact Research and Climate Analytics. Washington D.C.: The World Bank, 2012, S. xiv. 14 Tans, Pieter et al., Mauna Loa CO monthly mean data, 2014, ftp://aftp.cmdl.noaa.gov/ 2 products/trends/co2/co2_mm_mlo.txt.
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konstant bei rund 280 ppm. Abbildung 2 zeigt die Messdaten, die seit den späten 1950er Jahren auf dem Mauna Loa auf Hawaii gesammelt werden:
Abbildung 2: Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre15
Die nach oben weisende Tendenz ist eindeutig und bislang ungebrochen.16 Aber nicht nur die atmosphärische Konzentration von Kohlen(stoff)dioxid, sondern auch die anderer wirksamer Treibhausgase wie Methan oder Lachgas hat erheblich zugenommen.17 Hauptursachen sind: der starke Anstieg der Verbrennung kohlenstoffhaltiger fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl und Erdgas), die Ausweitung der industriellen Produktion und des (verbrennungsmotorisierten) Verkehrs, das Wachstum der Weltbevölkerung – gekoppelt mit einem Anstieg des durchschnittlichen ProKopf-Verbrauchs von Energie und Ressourcen –, Änderungen bei der Landnutzung, hier sind vor allem Waldrodung, aber auch Wald- und Buschbrände sowie Düngemitteleinsatz zu nennen, die Ausweitung der Viehwirtschaft, vor allem die hohe Zahl methan-emittierender Wiederkäuer, sowie völlig neue klimaschädliche Substanzen, die durch den Menschen erzeugt werden, wie z. B. die FCKW und ihre Ersatzstoffe. 15 Tans, Pieter et al., Trends in Atmospheric Carbon Dioxide, 2014, http://www.esrl.noaa. gov/gmd/ccgg/trends/. 16 Zu den kleineren Auf- und Abwärtsbewegungen der Kurve vgl. Lienkamp, Andreas, „Der Klimawandel als ethisches Problem“, in: Geiger, Gunter/ van Saan-Klein, Beatrice (Hrsg.), Menschenrechte weltweit – Schöpfung bewahren! Grundlagen einer ethischen Umweltpolitik, Opladen/ Berlin/ Toronto: Verlag Barbara Budrich, 2013, S. 121 – 154, hier S. 127 Anm. 6. 17 Vgl. Rahmstorf / Schellnhuber 2012 (Fn. 12), S. 33 – 36, sowie das Schaubild ebd., S. 34.
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2. Folgen des Klimawandels Der Anstieg der durchschnittlichen Temperaturen der Erdoberfläche und der Ozeane hat erhebliche Folgen für die Natur und den Menschen, der buchstäblich auf Gedeih und Verderb mit dieser seiner Existenzgrundlage verwoben und von ihr sowie von einem lebensfreundlichen Klima abhängig ist. So gleichmäßig sich die Treibhausgase in der Atmosphäre verteilen, so ungleich ist die Temperaturentwicklung, wie der AR5 hervorhebt: „The Arctic region will warm more rapidly than the global mean, and mean warming over land will be larger than over the ocean“. 18 Letzteres hat zur Folge, dass die meisten Landlebewesen, einschließlich des Menschen, steigenden Temperaturen ausgesetzt sein werden, die zum Teil erheblich über dem globalen Mittelwert liegen. a) … für die Natur Höhere Temperaturen führen zu einer Schrumpfung der polaren Eisbedeckung, der Gebirgsgletscher und der Schneeflächen sowie zum Auftauen von Permafrostgebieten. Der dadurch bedingte zusätzliche Wasserzufluss in die Ozeane lässt den Meeresspiegel steigen (etwa 3 / 5 des beobachteten Zuwachses). Ein weiterer Anstieg geht auf die thermische Ausdehnung zurück, eine Folge der höheren Wassertemperaturen (etwa 2 / 5). Der AR5 gibt für das RCP8.5-Szenario einen möglichen Anstieg bis zum Jahrhundertende um 98 cm (gegenüber dem Zeitraum 1986 bis 2005) an.19 Weniger konservative Schätzungen gehen von einer Erhöhung um 104 cm bis 143 cm im Jahr 2100 aus, denkbar ist danach aber auch ein Anstieg um bis zu zwei Meter.20 Betrachtet man längere Zeiträume, so ist die potenzielle Entwicklung noch bedenklicher: Nach einer in Nature Climate Change veröffentlichten Studie kann es bei einem 2° C-Szenario bis zum Jahr 2300 zu einem Anstieg um 1,6 bis 4 m (gegenüber dem Jahr 2000) kommen; der beste Schätzwert liegt hier bei 2,7 m.21 Eine Folge des steigenden Meeresspiegels ist, dass tiefliegende Inseln, Deltaund Küstengebiete dauerhaft überflutet werden und Sturmfluten das salzige Meerwasser entsprechend weiter ins Landesinnere drücken. Zudem werden extreme Wetterereignisse häufiger und / oder intensiver: Heftigere Stürme, einschließlich tropischer Wirbelstürme, führen zu stärkeren Zerstörungen, Starkniederschläge lösen IPCC WG1 2013 (Fn. 3), S. 18. IPCC WG1 2013 (Fn. 3), S. 25. 20 Vgl. Vermeer, Martin/ Rahmstorf, Stefan, „Global sea level linked to global temperature“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 106 (2009) Nr. 51, S. 21527 – 21532, hier S. 21531. 21 Vgl. Schaeffer, Michiel/ Hare, William/ Rahmstorf, Stefan/ Vermeer, Martin, „Long-term sea-level rise implied by 1.5° C and 2° C warming levels“, in: Nature Climate Change 2 (2012) S. 867 – 870. 18 19
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Erosionen und Überschwemmungen aus, größere Hitze zieht Dürren und Waldbrände nach sich. Klimazonen verschieben sich, was vor allem dort, wo Lebewesen nicht in größere Höhen oder polwärts ausweichen können, eine Verringerung der Biodiversität nach sich zieht. Darüber hinaus werden angestammte durch besser an die veränderten Bedingungen angepasste oder resilientere einwandernde oder eingeschleppte Arten verdrängt, ja ganze Ökosysteme bedroht, wie z. B. die Korallenriffe durch zu warmes und ansteigendes Meerwasser. Die Versauerung der Ozeane durch den Eintrag von CO2 (das mit H2O zu Kohlensäure reagiert und die Kalkschalenbildung von Meeresbewohnern beeinträchtigt) hat ebenfalls negative Auswirkungen auf die Artenvielfalt und die Nahrungskette. Ein besonderes Problem sind die „positiven“, d. h. den Klimawandel verstärkenden Rückkopplungen. Das bedeutet, dass Folgen des gegenwärtigen Klimawandels selbst wieder zu Ursachen werden. Hier ist erstens die Eis-Albedo-Rückkopplung zu nennen: Die Erwärmung der bodennahen Atmosphäre führt zu einem Abschmelzen von eis- und schneebedeckten („weißen“) Flächen. Dadurch sinkt die Albedo, das Rückstrahlvermögen der Erde, was zu zusätzlicher Erwärmung führt, und der Prozess beginnt von vorn, nun aber in gesteigerter Form. Zweitens ist die WolkenWasserdampf-Rückkopplung zu berücksichtigen: Die Erwärmung der bodennahen Atmosphäre bedingt, dass die Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann. Die unsichtbaren Moleküle stellen ein wirksames Treibhausgas dar. Eine höhere Konzentration verstärkt den Treibhauseffekt und führt zu zusätzlicher Erwärmung. Die dritte Rückkopplung beinhaltet, dass eine wärmere bodennahe Atmosphäre zum Auftauen von Permafrost führt. In den bis dato dauerhaft gefrorenen Böden z. B. Sibiriens oder Kanadas lagern gewaltige Mengen gebundenen Kohlen(stoff)dioxids und Methans, die mit der Erwärmung nach und nach freigesetzt werden. Eine höhere CO2- und CH4-Konzentration in der Atmosphäre erzeugt eine zusätzliche Erwärmung usf. Das vierte Phänomen ist die veränderliche CO2-Aufnahmekapazität der Weltmeere. Höhere Wassertemperaturen führen dazu, dass weniger Kohlen(stoff)dioxid gespeichert werden kann. CO2 wird folglich in die Atmosphäre emittiert und sorgt für eine zusätzliche Erwärmung von Luft und Wasser. Die Gefahr ist, dass solche sich selbst verstärkenden Prozesse eine Eigendynamik entfalten, die möglicherweise nicht mehr gestoppt werden kann. Die Klimaforschung spricht in diesem Zusammenhang von „Kippelementen“ oder „Kippschaltern“ im Erdsystem. Das sind großräumige Ereignisse, die auf abrupte und teils irreversible Weise infolge der Erderwärmung auftreten könnten. Diese Schalter darf die Menschheit auf keinen Fall umlegen. b) … für den Menschen Die Veränderungen in der Natur bleiben nicht ohne Folgen für die Menschheit. So muss mit einem vorzeitigen Tod einer großen Zahl von Menschen durch Stürme, Überschwemmungen, Hitze oder Trockenheit gerechnet werden. Allein im Sommer 2003 wurden in zwölf europäischen Ländern mehr als 80.000 zusätzliche, hitzebe-
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dingte Todesfälle registriert.22 Jener Sommer war ein Extremereignis. Bei business as usual könnte eine derartige Hitzeperiode aber schon in den 2040er Jahren zu einem gewöhnlichen Ereignis werden. In den 2060er Jahren würde ein solcher Sommer sogar zu den eher „kühlen“ gerechnet werden. Ein anderes Beispiel ist der Supertaifun Haiyan, durch den im November 2013 über 4.000 Menschen zu Tode kamen. Zwar kann nicht jeder tropische Wirbelsturm dem Klimawandel unmittelbar zugerechnet werden (auch vor der fossilen Industrialisierung hat es Ereignisse dieser Art gegeben). Dass aber solche Stürme vor allem über wärmerem Ozeanwasser an Intensität zunehmen, gilt für den Nordatlantik und die Zeit seit 1970 als virtually certain (99 – 100 %) und für das Jahrhundertende für den Nordatlantik und den westlichen Nordpazifik als more likely than not (50 – 100 % Wahrscheinlichkeit).23 In der Kombination mit einer wachsenden Bevölkerung in gefährdeten Küstenregionen, dem weiteren (vorerst unaufhaltsamen) Meeresspiegelanstieg und Überschwemmungen in der Folge von zunehmenden Starkniederschlägen werden die Schäden solcher Sturmereignisse anwachsen. Dass die genannten Veränderungen die körperliche und seelische Gesundheit von Menschen beeinträchtigen, liegt auf der Hand. Hinzu kommt die mögliche Ausbreitung vektorenübertragener oder wasserabhängiger Krankheiten. Infolge ausbleibender oder zu heftiger Niederschläge sinken zudem die Ernteerträge; aufgrund von Überflutung gehen landwirtschaftlicheNutzflächen auf Dauer verloren, oder sie werden durch Meerwasserintrusion, Wüstenbildung und Bodendegradation auf lange Zeit für eine landwirtschaftliche Nutzung unbrauchbar. Dadurch nehmen Hunger und Unterernährung zu. Der Gletscherschwund wiederum hat negative Auswirkungen auf die Wasservorräte und -versorgung großer Teile der Weltbevölkerung, da durch den Rückgang der Süßwassernachschub aus den Bergen geringer ausfällt. Auch infolge ausbleibender Niederschläge, sinkender Grundwasserpegel und des Eindringens von Meerwasser in Süßwasserreservoire schrumpfen die weltweiten Trinkwasservorräte. Werden überlebenswichtige Ressourcen knapper, sei es physisch oder hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit, dann werden immer mehr Menschen von deren Nutzung ausgeschlossen, auch aufgrund steigender Preise und unzureichender Kaufkraft. Soziale Konflikte um Ressourcen nehmen schon jetzt zu.24 Menschen müssen fliehen, wenn ihr bisheriges Wohngebiet überflutet oder aus anderen Gründen unwirtlich geworden ist. Damit verlieren sie zugleich ihre Heimat und zumindest ein gewisses 22 Vgl. Robine, Jean-Marie et al., Report on excess mortality in Europe during summer 2003 (EU Community Action Programme for Public Health, Grant Agreement 2005114), 2007, S. 2, http://ec.europa.eu/health/ph_projects/2005/action1/docs/action1_2005_a2_15_en.pdf. 23 IPCC WG1 2013 (Fn. 3), S. 7. 24 Vgl. dazu Lienkamp, Andreas, „Die wachsende Konkurrenz um die Güter der Erde. Ressourcenkonflikte aus schöpfungstheologischer und christlich-ethischer Sicht“, in: Amosinternational 8 (2014) Nr. 1, S. 3 – 11, sowie Schneckener, Ulrich/ Scheliha, Arnulf von / Lienkamp, Andreas/ Klagge, Britta (Hrsg.), Wettstreit um Ressourcen. Konflikte um Klima, Wasser und Boden, München: oekom, 2014.
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Maß an Sicherheit. Des Weiteren ist ihre kulturelle Identität bedroht. Zusammengenommen bedeuten die genannten Entwicklungen einen erheblichen Verlust an Lebensqualität, im Extremfall den Tod. Hinzu kommen enorme private, betriebs- und volkswirtschaftliche finanzielle Schäden, wovon die Rückversicherungswirtschaft aufgrund zunehmender Schadenereignisse schon seit längerem zu berichten weiß. Wie sollen sich insbesondere ärmere Länder, Regionen, Kommunen, Unternehmen oder Individuen an veränderte klimatische Bedingungen und häufigere Extremwetterereignisse anpassen? Wie sollen sie sich dagegen versichern? Wenn schon Städte wie Bremen finanzielle Probleme haben, sich gegen einen steigenden Meeresspiegel und Sturmfluten hinreichend zu schützen, was sollen dann erst Staaten wie Vietnam oder Bangladesch oder bedrohte Megacities wie Mumbai, Shanghai oder Dhaka sagen? Wie deutlich wurde, ist der Klimawandel kein isoliertes Problem. Vielmehr verstärkt er andere Gerechtigkeitsprobleme wie Hunger, Armut oder gewaltförmige Konflikte. 3. Hauptverursacher und Hauptleidtragende Seit der Klimarahmenkonvention und dem zugehörigen Protokoll von Kyoto betont die internationale Gemeinschaft immer wieder die „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten“ („common but differentiated responsibilities“) der einzelnen Staaten.25 Hintergrund ist, dass diese historisch und gegenwärtig, absolut und pro Kopf ihrer Bevölkerung in höchst unterschiedlichem Ausmaß zum Klimawandel beigetragen haben und noch immer beitragen. Die Hauptverursacher, deren Wohlstand maßgeblich auf der kostenlosen Übernutzung der globalen Allmende Klimasystem basiert, sind vor allem die Industrie-, aber auch die Schwellenländer sowie die reichen Eliten in den Entwicklungsländern. Ethisch relevant ist dabei nicht nur die unterschiedliche Beteiligung an der anthropogenen Manipulation des Klimasystems, sondern auch und vor allem, dass die negativen Auswirkungen insbesondere bei denen auftreten (werden), die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben: die armen, schwachen und benachteiligten und damit besonders vulnerablen Individuen und Staaten, die nachrückenden Generationen und die außermenschlichen Geschöpfe. Etwas vereinfacht gesagt ist das Verhältnis umgekehrt proportional: Diejenigen, die am meisten emittiert haben, sind am wenigsten betroffen und verwundbar; diejenigen, die am wenigsten klimaschädlich agiert haben, werden am stärksten in Mitleidenschaft gezogen. So konstatiert die Arbeitsgruppe 2 des Weltklimarates: „Climate-related hazards affect poor people’s lives directly through impacts on livelihoods, reductions in crop yields, or
25 Klimakonvention 1992 (Fn. 5), Präambel, Art. 3 Nr. 1, Art. 4 I, Art. 7 II b, c, Art. 22 II), Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, in: Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2002, Teil II, Nr. 16, ausgegeben zu Bonn am 2. Mai 2002, S. 967 – 997, Art. 10, 13 IV c, d, Art. 24 II.
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destruction of homes and indirectly through, for example, increased food prices and food insecurity.“26 Abbildung 3 demonstriert die beschriebene Diskrepanz: Es gibt nur einige wenige Länder, die sowohl zu den höchsten Pro-Kopf-Emittenten als auch zu den verwundbarsten Staaten gehören. Andrew C. Revkin spricht von „climate divide“27, Hermann Held von einer „fast perfekten Antikorrelation“28 zwischen den historischen wie aktuellen Hauptverursachern einerseits und den heutigen Hauptleidtragenden des Klimawandels andererseits. Zu dieser erheblichen Diskrepanz kommt hinzu, dass die maßgeblichen Emittenten und Entscheidungsträger der Gegenwart aufgrund ihrer begrenzten Lebenszeit die negativen Folgen nicht oder nur bedingt am eigenen Leib zu spüren bekommen werden, wie schon der Brundtland-Bericht nüchtern feststellt: „Most of today’s decision makers will be dead before the planet feels the heavier effects of acid precipitation, global warming, ozone depletion, or widespread desertification and species loss.“29
Abbildung 3: Größte Verwundbarkeit versus größte CO2-Emissionen pro Kopf30 IPCC WG2 2014 (Fn. 10), S. 6 f. Revkin, Andrew C., The Climate Divide. Reports From Four Fronts in the War on Warming, in: The New York Times, April 3, 2007, http://www.nytimes.com/ 2007 / 04 / 03 / science/ earth/ 03clim.html. 28 Held, Hermann, Natürliche Ressourcen. Bedrohung der Ökologie, intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit. Vortrag im Rahmen der Jubiläumstagung des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften „Ressourcen – Lebensqualität – Sinn. Gerechtigkeit für die Zukunft denken“, Münster 4. 10. 2012, o. S. 29 World Commission on Environment and Development, Our Common Future, in: United Nations General Assembly. Forty-second session, 4. August 1987. A / 42 / 427, Overview, Nr. 26. 26 27
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Zudem wird es für die Reichen und Mächtigen noch eine ganze Weile Optionen geben, über die die Armen und Ohnmächtigen nicht verfügen. Wer genügend Geld besitzt, ist eher in der Lage, den Folgen des Klimawandels auszuweichen, sich anzupassen, zu schützen, zu versichern oder entstandene reversible Schäden zu beheben. Neben die Spaltung der Weltgesellschaft tritt also die Spaltung zwischen den jetzt Lebenden, insbesondere denen, die klimarelevante Entscheidungen treffen können, und den nachrückenden Generationen, die die Kinder, die Ungeborenen und noch Ungezeugten umfassen. Und schließlich gibt es die Spaltung zwischen der grundsätzlich entscheidungsfähigen Menschheit und den anderen Lebewesen und Ökosystemen, die allenfalls, wenn überhaupt, reagieren können.
II. Kritik: Solidarität und Retinität als Seins- und Sollensprinzipien Nachdem dargelegt wurde, welche enorme Herausforderung der Klimawandel für die Menschheit darstellt, soll nun das Solidaritätsprinzip als wichtiges Kriterium einer Ethik der Nachhaltigkeit vorgestellt werden. Allerdings gibt es gute Gründe, den Solidaritätsbegriff für den zwischenmenschlichen Bereich zu reservieren, ihn also nicht auf die Beziehung des Menschen zur außerhumanen Natur anzuwenden. Da sich die Verantwortung des Menschen gemäß dem hier zu Grunde gelegten ethischen Konzept aber nicht auf die Angehörigen seiner eigenen Spezies beschränkt, musste ein analoger Begriff gefunden werden. So prägte Wilhelm Korff Ende der 1980er Jahre den Terminus „Retinität“: „Die zentrale Intention […] war die Abwehr von Konzeptionen, die spezifisch zwischenmenschliche Begriffe wie ‚Solidarität‘ […] auf die ethische Bestimmung des menschlichen Verhältnisses zur Natur übertragen.“31 Solidarität und Retinität sind also nicht nur verwandte, sondern komplementäre Begriffe, die als solche nachfolgend näher definiert werden sollen. Anschließend werden die Gründe benannt, warum von einer moralischen Pflicht zur Solidarität und Retinität gesprochen werden kann. 1. Solidarität Trotz seiner Wurzeln im römischen Recht ist Solidarität ein moderner Begriff, der schon kurz nach der französischen Revolution zum Synonym der fraternité und 30 Schellnhuber, Hans Joachim, What Is Dangerous Climate Change? CLIM Hearing, European Parliament, Brussels, 10. September 2007, S. 25, http://www.europarl.europa.eu/com parl/tempcom/clim/sessions/20070910/schellnhuber_en.pdf. 31 Vogt, Markus, „Art. Retinität“, in: Korff, Wilhelm/ Beck, Lutwin/ Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Studienausgabe, Bd. 3, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, S. 209 – 210, hier S. 209.
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dann in der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zu einem antikapitalistischen Kampfbegriff avancierte. Als „internationale Solidarität“ nahm er hier bereits – wenigstens tendenziell – universale Züge an.32 Mit Oswald von Nell-Breuning lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: zum einen die „Gemeinverstrickung“ im Sinne eines soziologisch ermittelbaren Faktums, eines tatsächlichen Sachverhalts (solidarité de fait, Seinsprinzip), und zum anderen die „Gemeinverhaftung“, verstanden als eine ethische Forderung, eine normative Aussage (solidarité de devoir, Sollensprinzip).33 Gemeinverstrickung könnte man mit Interdependenz („Alles hängt mit allem zusammen“), Gemeinverhaftung hingegen mit Verantwortung („Einer für alle – alle für einen“) übersetzen. Wenn man anerkennt, dass Solidarität nicht nur eine unbestreitbare deskriptive, sondern zugleich eine universalisierbare präskriptive Kategorie darstellt,34 dass es also eine moralische Pflicht zur Solidarität gibt, dann steht es einem nicht frei, sich solidarisch zu verhalten oder nicht. Und dann steht es einem ebenfalls nicht frei, Solidarität willkürlich zu begrenzen. „Wenn nicht das, was mir nützt, maßgebend ist, sondern die Achtung vor den anderen“, so Ernst Tugendhat, „besteht keine Möglichkeit, daß ich noch bestimmen dürfte, wer die anderen sind. Die Regeln beziehen sich auf alle: sie sind universell. Und ebenso muß man die Regeln jetzt notwendig als egalitär fassen, da doch eine beliebige Person dafür maßgebend sein soll, welche Regeln gelten.“35 Trifft dies zu, dann besitzt Solidarität als normativer Begriff einen unbedingten und universalen Charakter. Für Helmut Peukert stellt die so verstandene Solidarität mit den Anderen die „konstitutive Bedingung der Möglichkeit des eigenen Menschseins“ dar.36 Teilt man diese Auffassung, dann folgt daraus, dass die Solidaritätspflichten nicht an den Grenzen von Familie und Freundeskreis, des lokalen bzw. nationalen Gemeinwesens oder bei den jetzt Lebenden enden, auch wenn vielen ganz offensichtlich das „Hemd“ näher ist als der „Rock“ und so sehr dies wiederum aus moralpsychologischer Sicht nachvollziehbar ist.37 32 Obligatio in solidum meint im Schuldrecht die Haftung des einzelnen für die Schulden der Gemeinschaft wie auch die Haftung der Gemeinschaft für die Verpflichtungen ihrer Mitglieder. Vgl. Bayertz, Kurt / Boshammer, Susanne, „Art. Solidarität“, in: Gosepath, Stefan/ Hinsch, Wilfried/ Rösler, Beate (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, Berlin: de Gruyter, 2008, S. 1197 – 1201, hier S. 1197. 33 Nell-Breuning, Oswald von, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, 2. Aufl., München: Olzog, 1985, S. 54. 34 Dies wird in Abschnitt II.3. näher untersucht. 35 Tugendhat, Ernst, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1993, S. 84. 36 Peukert, Helmut, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1978, S. 309. 37 Siehe etwa die Einwände von Richard Rorty, die hier allerdings nicht weiter verfolgt werden können. Vgl. dazu Bayertz / Boshammer 2008 (Fn. 32), S. 1199, sowie ebd., S. 1200, die Ausführungen zu Vor- und Nachteilen partikularistischer und universalistischer Ansätze.
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„Diese Solidarität ist insofern universal, als sie sich sowohl auf die zukünftigen Generationen wie auf das Zerstörte und Vernichtete der Vergangenheit bezieht. Erinnerung an die Opfer der Geschichte hat nicht nur die funktionale Bedeutung, zum Kampf für eine bessere Zukunft zu motivieren. Fortschritt nur nach vorn war für [Walter] Benjamin die Fortsetzung der Katastrophe. Erinnern des Vernichteten überschreitet das Aneignen von ‚Kulturgütern‘, es zielt auf eine umfassendere Bildung menschlichen solidarischen Bewusstseins“38.
Gerade angesichts derjenigen, die dem Klimawandel bereits zum Opfer gefallen sind, ist auch diese rückschauende Solidarität im Blick zu behalten. Ist Solidarität dem Belieben entzogen, so stellt sich die Frage nach den vorrangigen Adressaten mit entsprechenden legitimen Ansprüchen. Für Wilhelm Korff sind es die Armen, die „ein Recht auf die Solidarität der Reichen“ haben.39 Dies müsse sich auch in der Rechtsordnung niederschlagen, auch auf der Ebene globaler Wirtschaftsbeziehungen.40 Denn „Solidarität […] ist nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind.“41
Mit dieser semantischen Anspielung stellt Johannes Paul II. die Solidarität der Gerechtigkeit an die Seite, deren klassische Definition bei Ulpian lautet: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.“42 Was das „Gemeinwohl“ bzw. das „Recht“ ist, für das man sich unablässig einsetzen soll, ist in diesen Formeln allerdings ebenso wenig bestimmt wie das Verhältnis von Solidarität und Gerechtigkeit. Dietmar Mieth verknüpft die beiden zuletzt genannten Begriffe und führt sie damit einer entscheidenden Klärung zu. Beim Gemeinwohl gebe es zwei Interpretationen: eine (aus christlicher Sicht unhaltbare) utilitaristische oder „völkische“ Variante, wonach das größte Wohl der größten Zahl entscheidender sei als das Wohl des Einzelnen; zum anderen gebe es aber auch eine menschenrechtliche Variante, wonach das demokratische Gemeinwohl in der Summe der Garantien der Menschenwürde und der Menschenrechte aller bestehe. „Das heißt: Man muss sich im Namen des Gemeinwohls für die Rechte des Einzel38 Peukert, Helmut, „Kritische Theorie und Pädagogik“, in: Zeitschrift für Pädagogik 30 (1983) S. 195 – 217, hier S. 215. 39 Korff, Wilhelm, „‚Die Schöpfung hat Gott im Rücken und vor sich‘. Wilhelm Korff im Gespräch mit Wolfgang Küpper“, in: Bachleitner, Gerhard/ Wingen, Wolfram (Hrsg.), Moderne im Umbruch. Fragen nach einer zukunftsfähigen Ethik (Studien zur theologischen Ethik 98), Fribourg: Universitätsverlag/ Freiburg-Wien: Herder, 2003, S. 176 – 211, hier S. 188. 40 Vgl. ebd. 41 Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 82, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn: DBK, 1988, Nr. 38. 42 Domitius Ulpianus, Fragment 10 (überliefert in den Institutionen Justinians I., I.1.pr.).
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nen einsetzen.“43 Hier finden Gemeinwohl und Recht und zugleich Solidarität und Gerechtigkeit ihre Zuordnung. Der gegenwärtig beobachtbare Klimawandel, der gefährliche Ausmaße anzunehmen beginnt, bedroht und verletzt Menschenrechte. Näherhin sind dies das Recht auf Leben und physisch-psychische Integrität, das Recht auf Gesundheit, Nahrung und Trinkwasser, das Recht auf menschenwürdige (Erwerbs)Arbeit und Eigentum, das Recht auf Heimat und Frieden, auf nachhaltige Entwicklung und soziale Sicherheit sowie das Recht auf eine intakte natürliche Umwelt. Für Mary Robinson stellt der Klimawandel darum eine Menschenrechtsverletzung dar: „The increasing threat of climate change has the potential to violate the fundamental freedoms of those living in areas most at risk. […] Climate change is a subtle form of human rights violation.“ Auch wenn eine eindeutige Verantwortungszuschreibung nicht leicht falle, so seien doch Menschenrechtsexperten, zivilgesellschaftliche Organisationen und indigene Völker überzeugt „that the failure of the highest emitting nations to take action does constitute a breach of human rights law“44. Aber nicht nur die Würde und Rechte der lebenden, auch die der noch nicht existierenden Menschen können schon jetzt durch klimaschädigende Handlungen und deren in die Zukunft reichende negative Folgen missachtet werden: „Passing along the problem of global climate change to future generations as a result of our delay, indecision, or self-interest would be easy. But we simply cannot leave this problem for the children of tomorrow. As stewards of their heritage, we have an obligation to respect their dignity and to pass on their natural inheritance, so that their lives are protected and, if possible, made better than our own.“45
Solidarität kann, gemäß Mieth, als der Einsatz oder „Kampf“ für Gerechtigkeit, für Menschenwürde und Menschenrechte verstanden werden.46 Menschenrechten auf der einen Seite entsprechen Solidaritätspflichten auf der anderen. Solidarität sei damit gleichsam die Verpflichtungsseite der Gerechtigkeit. Zunächst einmal lässt sich an der fraternité des Dritten Standes wie an der Solidarität der Arbeiterbewegung ablesen, dass Solidarität als das „Zusammenstehen um gemeinsamer Ziele willen auf einer gemeinsamen Erfahrung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung beruht“47. Diese Solidarität komme „von unten“ und umfasse primär die Betroffenen selbst. Für diese Gestalt der miteinander (und unvermeidlich auch gegen andere Interessen) praktizierten Solidarität führt Mieth den Begriff der „Consolidarität“ ein. Ein Beispiel aus unserem Zusammenhang ist die AOSIS, das Mieth, Dietmar, Kleine Ethikschule, Freiburg / Basel/ Wien: Herder, 2004, S. 144. Robinson, Mary, „Issue Human Rights“, in: NorthSouthEastWest. A 360° view of climate change, published by the Climate Group, Edenbridge: St Ives Westerham Press, 2005, S. 64 – 65, hier S. 65. 45 United States Conference of Catholic Bishops, Global Climate Change: A Plea for Dialogue, Prudence, and the Common Good, Washington, D.C.: USCCB, 2001, S. 10. 46 Vgl. Mieth 2004 (Fn. 43), S. 146. 47 Ebd., S. 145. 43 44
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Bündnis kleiner Insel- und tiefliegender Küstenstaaten (ein Fünftel aller UN-Mitglieder), die sich aufgrund ihrer großen Verwundbarkeit durch den Klimawandel zur Vertretung ihrer Interessen, u. a. im System der Vereinten Nationen, zusammengeschlossen haben.48 Da die Betroffenen aber oftmals nicht stark oder mächtig genug sind, ihr Recht eigenständig zu erstreiten, bedarf es in derart ungleichgewichtigen Konstellationen auch der Solidarisierung im Sinne eines anwaltschaftlichen Eintretens von nicht unmittelbar (wohl aber moralisch) Betroffenen, auch von Organisationen, Staaten oder der Völkergemeinschaft, für Menschen, Gruppen oder Staaten, die nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, die ihnen vorenthaltene Gerechtigkeit einzufordern oder selbst (wieder)herzustellen. Diese Gestalt bezeichnet Mieth als Prosolidarität49. Es ist selbstverständlich, dass es mit den Ungeborenen und kommenden Generationen nur eine solche Solidarität geben kann. Prosolidarität kann zur Consolidarität hinzutreten, kann aber auch allein praktiziert werden. Als thematisch einschlägiges Beispiel kann hier die „klima-allianz deutschland“ angeführt werden, ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis von derzeit über 110 deutschen NGOs, das sich für eine deutliche Verringerung der Treibhausgasemissionen einsetzt sowie dafür, dass Deutschland „nach dem Verursacherprinzip für einen Teil der Kosten von Klimaschäden und Anpassungsmaßnahmen in den besonders betroffenen Entwicklungsländern“ aufkommt.50 2. Retinität Die ökologische Krise, so Papst Johannes Paul II., habe zu der „schmerzlichen Erkenntnis geführt, dass wir nicht in einen Bereich des Ökosystems eingreifen können, ohne angemessen auf die Folgen dieser Eingriffe für andere Bereiche zu achten als auch auf das Wohlergehen künftiger Generationen.“51 Wir haben es, so der Papst, 48 „The Alliance of Small Island States (AOSIS) is a coalition of small island and low-lying coastal countries that share similar development challenges and concerns about the environment, especially their vulnerability to the adverse effects of global climate change. It functions primarily as an ad hoc lobby and negotiating voice for small island developing States (SIDS) within the United Nations system.“ AOSIS, About AOSIS, http://aosis.org/about/. 49 Vgl. Mieth, Dietmar, Moral und Erfahrung, Bd. 2: Entfaltung einer theologisch-ethischen Hermeneutik, Freiburg: Herder/ Fribourg: Universitätsverlag, 1998, S. 179; Mieth 2004 (Fn. 43), S. 145 f. 50 klima-allianz deutschland, Das Bündnis stellt sich vor, http://www.die-klima-allianz.de/ wer-wir-sind/das-bundnis/: „Angesichts der immensen Herausforderung, die der Klimawandel für Natur und Gesellschaft darstellt, haben sich über 110 Organisationen zu einem Bündnis zusammengeschlossen: der klima-allianz deutschland. Gemeinsam setzen sie sich dafür ein, dass jetzt politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine drastische Senkung der Treibhausgase in Deutschland bewirken.“ 51 Johannes Paul II., Friede mit Gott dem Schöpfer – Friede mit der ganzen Schöpfung. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar [1990] [8. 12. 1989], Nr. 6, http://ecu net.de/agenda/agenda.materialien/agenda.materialien.papstzuroekokrise1989/index.html.
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mit „empfindlichen ökologischen Gleichgewichten“ zu tun – innerhalb einer Schöpfungsordnung, die durch wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnet sei.52 Hinter diesen Überlegungen, die auch auf das ökologische Krisenphänomen Klimawandel zutreffen, steht der für die Nachhaltigkeitsdebatte zentrale Gedanke der Gesamtvernetzung aller Wirklichkeitsbereiche, der auch in der Rede vom „Erdsystem“ zum Ausdruck kommt.53 Dieser Gedanke entspricht mit Blick auf den Menschen und seine Beziehungen zur Mitwelt dem Begriff der Anthroporelationalität, der ja gerade in Abgrenzung von einer monadenhaften und in ihren Auswirkungen zerstörerischen Anthropozentrik entwickelt worden ist.54 Wilhelm Korff hat für diese Gesamtvernetzung den Begriff der „Retinität“ geprägt (von lat. rete, das Netz).55 Der Terminus erinnert sehr an die oben skizzierte Auslegung der Solidarität und ihre von Nell-Breuning herausgearbeiteten Aspekte der „Gemeinverstrickung“ und „Gemeinverhaftung“. Auch der Grundsatz der Retinität beschreibt nicht nur einen tatsächlichen Sachverhalt, sondern beinhaltet ebenso sehr einen ethischen „Imperativ“.56 Auch hier werden sowohl die Interpendenz als auch die Verantwortung angesprochen. Denn Retinität fordert die (über)lebensnotwendige Rückbindung aller gesellschaftlichen Prozesse und Zivilisationssysteme – „mitsamt der unerhörten Dynamik ihrer Ökonomien“57 – in das sie umgreifende und tragende Netzwerk der Natur und ihrer Regelkreise. Bei aller Ähnlichkeit weist das Retinitätsprinzip aber deutlich über das der Solidarität hinaus. Denn „der ethische Anspruch, das vielfältige Netzwerk der Natur, das den Menschen hervorgebracht hat und das seine Existenz trägt, zu schützen, bezieht auch die naturalen Bedingungen menschlicher Existenz ein und ist insofern umfassender angelegt als alle spezifisch zwischenmenschlichen Forderungen.“58
Dieser Neuansatz sowie der Begriff selbst fanden durch Wilhelm Korff und Markus Vogt Aufnahme in das Umweltgutachten 1994 des „Rates von Sachverständigen für Umweltfragen“ (SRU). Im Begriff der Retinität, so der SRU, sei die entVgl. ebd., Nr. 7 f. Rahmstorf und Richardson schreiben mit Blick auf die positiven Rückkopplungen in den Weltmeeren: „Abermals werden wir daran erinnert, dass die verschiedenen Komponenten des Systems Erde alle miteinander zusammenhängen. […] Um die Zukunft des Ozeans zu sichern, ist es wichtig, dass wir ihn als Teil des Erdsystems insgesamt würdigen und sämtliche Interaktionen innerhalb dieses Systems zu verstehen versuchen. Obwohl unser Wissen, wie das System Erde funktioniert, noch ziemlich rudimentär ist, reicht es doch aus zu erkennen, dass eine Veränderung an einer Stelle zu unerwarteten Folgen an einer völlig anderen führen kann.“ Rahmstorf, Stefan/ Richardson, Katherine, Wie bedroht sind die Ozeane? Biologische und physikalische Aspekte, Frankfurt/ M.: Fischer, 2007, S. 165. 54 Vgl. Lienkamp 2009 (Fn. 2), Abschnitt 3.1.6. 55 Erstmals in Korff, Wilhelm, „Leitideen verantworteter Technik“, in: Stimmen der Zeit 114 (1989) S. 253 – 266. 56 Korff 2003 (Fn. 39), S. 197. 57 Ebd. 58 Vogt 2000 (Fn. 31), S. 210. 52 53
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scheidende umweltethische Bestimmungsgröße und damit das Kernstück einer umfassenden Umweltethik festgehalten: „Will der Mensch seine personale Würde als Vernunftwesen im Umgang mit sich selbst und mit anderen wahren, so kann er der darin implizierten Verantwortung für die Natur nur gerecht werden, wenn er die ‚Gesamtvernetzung‘ all seiner zivilisatorischen Tätigkeiten und Erzeugnisse mit dieser ihn tragenden Natur zum Prinzip seines Handelns macht. Das Retinitätsprinzip ist das Schlüsselprinzip der Umweltethik“59;
oder wie es Korff an anderer Stelle genannt hat: „die normative Bestimmungsgröße für eine anwendungsorientierte Umweltethik“60; oder, wie es Markus Vogt ausdrückt: die „ethische Interpretation“ des Nachhaltigkeitsleitbildes.61 Über Vogt gelangte der Gedanke der Retinität – ähnlich wie das zugehörige SustainabilityLeitbild – auch in die beiden zeitgleich erarbeiteten kirchlichen Dokumente „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“62 sowie „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“63 und darüber dann auch in den Expertentext der deutschen Bischöfe zum Klimawandel.64 Das Retinitätsprinzip kann inzwischen, zumindest im deutschsprachigen Raum, wie das Nachhaltigkeitsprinzip als fester Bestandteil der Kriteriologie kirchlicher Sozialverkündigung und christlicher Ethik angesehen werden. Ein wichtiges Beispiel für den unmittelbaren Anwendungsbezug ist die durch den Klimawandel bedrohte Artenvielfalt. Dazu Korff: „Die Erhaltung größtmöglicher Biodiversität erweist sich […] als eine wesentliche, dem Retinitätsprinzip unmittelbar inhärente Forderung.“65 So, wie Solidarität als Einsatz oder (gewaltfreier) Kampf für soziale, d. h. sowohl globale wie intergenerationelle Gerechtigkeit verstanden wird, so kann Retinität als Engagement für ökologische Gerechtigkeit interpretiert werden. 59 Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Umweltgutachten 1994 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen (BT-Drs. 12 / 6995), Bonn: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft, 1994, Nr. 10*. Vgl. auch ebd., Nr. 9. 60 Korff 2003 (Fn. 39), S. 197. 61 Vogt 2000 (Fn. 31), S. 209. 62 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Eingeleitet und kommentiert von Marianne Heimbach-Steins und Andreas Lienkamp (Hrsg.), unter Mitarbeit von Gerhard Kruip und Stefan Lunte, München: Don Bosco, 1997, Nr. 124 f. 63 Vgl. Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Handeln für die Zukunft der Schöpfung (Die deutschen Bischöfe – Erklärungen der Kommissionen 19, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn: DBK, 1998, Nr. 96, 114, 118 ff, 140 f. 64 Vgl. Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen / Kommission Weltkirche, Der Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit. Ein Expertentext zur Herausforderung des globalen Klimawandels (Die deutschen Bischöfe – Erklärungen der Kommissionen 29, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), 2., aktualisierte Aufl. Bonn: DBK, 2007, Nr. 42. 65 Korff 2003 (Fn. 39), S. 199.
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Die folgende Tabelle fasst die dargestellten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Solidaritäts- und dem Retinitätsprinzip zusammen: Solidarität
Retinität
Begriffsverwendung
Beziehungen zwischen Menschen Beziehungen zwischen Menschen (gruppen) sowie Staaten(gruppen) und außerhumaner Natur
Seinsprinzip/ Interdependenz
„Gemeinverstrickung“
Gesamtvernetzung aller Wirklichkeitsbereiche sowie der ökonomischen, ökologischen und sozialen Handlungsfelder
Sollensprinzip/ Verantwortung
„Gemeinverhaftung“
„Gefordert ist die Rückbindung der menschlichen Kulturwelt – mitsamt der Dynamik der sie bestimmenden Wirtschaft – in das sie tragende Netzwerk der ökologischen Regelkreise.“66
Gerechtigkeitsbezug
Einsatz für soziale Gerechtigkeit global intergenerationell
Einsatz für ökologische Gerechtigkeit
Pro-/ Con-
Pro- und Consolidarität
nur „Proretinität“
3. Gründe für eine moralische Pflicht zur Solidarität und Retinität Die bloße Tatsache der Interdependenz (Sein) kann für sich genommen nicht schon Verantwortung (Sollen) begründen. Wie u. a. die Geschichte des Kolonialismus zeigt, gibt es auch gefährliche oder gar zerstörerische Abhängigkeiten. Darum müssen Solidarität und Retinität so fundiert werden, dass ein naturalistischer Fehlschluss von einem Sein auf ein Sollen vermieden wird. a) Die Würde des Menschen und der Eigenwert der außerhumanen Natur Universale, also geografisch und temporal entgrenzte Solidarität und Retinität als normative Prinzipien schweben nicht im luftleeren Raum, sondern basieren ihrerseits auf starken normativen Setzungen, nämlich zum einen auf der Idee der gleichen, unantastbaren Würde aller Menschen, auch der zukünftigen, sowie zum ande66
DBK 1998 (Fn. 63), Nr. 118.
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ren auf dem (vom Nutzen für den Menschen unabhängigen) Eigenwert der außerhumanen Natur. Wenn nach dieser Vorstellung, die u. a. von unserer Verfassung, den Vereinten Nationen und den Weltreligionen geteilt wird, alle Wesen einschließlich der ökosystemischen Zusammenhänge wertvoll sind, sind die individuellen und kollektiven Subjekte, einschließlich der Staaten und supranationalen Akteure, dazu verpflichtet, ihnen mit entsprechender Wert-Schätzung zu begegnen. Diese Achtung vor dem Wert der anderen ist eine geschuldete. Denn wenn etwas als ein Wert und damit als gut charakterisiert wird, dann bedeutet dies schon rein logisch (aufgrund des gerundivischen Charakters des Wertungswortes „gut“), dass es sein soll67, dass es in seiner Existenz nicht gefährdet, ja nicht einmal in seiner Integrität beschädigt, vielmehr erhalten und gefördert werden soll. b) Goldene Regel, Liebesgebot und Kategorischer Imperativ Menschheitsweite Geltung Dass und wie andere zu achten sind, zeigen die Goldene Regel, das Liebesgebot und der Kategorische Imperativ, allesamt Grundregeln (wechselseitiger) Achtung, die das eine Moralprinzip (einer humanistisch bzw. christlich-menschenrechtlichen Ethik) in verschiedenen sprachlichen Fassungen zum Ausdruck bringen. In einer autonomen Moral sind sie dann verbindlich, wenn ihre Befolgung von einem neutralen Beobachtungspunkt als lebensdienlich wie leidverhindernd und darum vernünftig erscheint und sie insofern verallgemeinerbar sind. Auch wenn sie aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten stammen und inhaltliche Nuancen aufweisen, so zielen doch alle drei auf den Respekt vor dem Wert der Person – der eigenen wie der der anderen, wobei es keinen Grund gibt, den eigenen Wert höher (oder geringer) einzuschätzen. Grundlage ist also nicht die Gleichheit hinsichtlich dieser oder jener Eigenschaft, sondern die Gleichwertigkeit, d. h. der gleiche Wert aller Lebewesen, die von menschlichen Eltern abstammen bzw. die ein menschliches Genom aufweisen. Nach der Goldenen Regel – „Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden wolltest, befändest du dich in ihrer Lage!“68 – sind alle, auch kollektive Akteure zum Tun des Guten bzw. zur Fürsorge (beneficence), zumindest aber zur Unterlassung des Bösen resp. zur Schadensvermeidung (nonmaleficence) verpflichtet. So heißt es in der Rio-Deklaration: „Die Staaten haben […] die Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass Tätigkeiten unter ihrer Hoheitsgewalt oder Kontrolle der Umwelt anderer Staaten oder Gebieten außerhalb nationaler Hoheitsgewalt kei67 Vgl. Schüller, Bruno, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie, 2. Aufl., Düsseldorf: Patmos, 1980, S. 65: „Das Gute ist das der Liebe Würdige und Werte, das, was anerkannt und bejaht zu werden verdient.“ 68 Schüller 1980 (Fn. 67), S. 310.
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nen Schaden zufügen.“69 So wie man selbst will, „dass die eigenen Bedürfnisse und Interessen von anderen in Rechnung gestellt werden“, so hat man auch die – sozialund umweltverträglichen – „Bedürfnisse und Interessen der anderen zu berücksichtigen“.70 Kann das Gegenüber diese nicht oder nur unzureichend artikulieren, so hat man sich mit Hilfe der Vorstellungskraft „in die Situation aller von der Entscheidung Betroffenen zu versetzen“71 und dann in einer fairen Güterabwägung zu entscheiden. Dies ist eine interkulturell geteilte Auffassung, die in vielen Religionen zur ethischen Grundlage zählt.72 Werde die Goldene Regel „begründet in der gleichen Menschenwürde, als in einem der sittlichen Entscheidung des Menschen vorgegebenen unbedingten Wert“, so habe sie „kategorischen Charakter“.73 Das häufig falsch interpretierte Gebot der Nächstenliebe aus Levitikus 19,18 erschließt sich, wenn man es nahe am hebräischen Urtext übersetzt: „Du sollst deinem [sic!] Nächsten/ deinem Mitmenschen/ dem Anderen lieben; er ist wie du.“ Da nach Levitikus 19,34 auch der Fremde und nach Matthäus 5,4474 selbst der mir feindlich Gesonnene zu „lieben“ ist, ist offensichtlich, dass hier nicht lediglich die mir Nahestehenden gemeint sein können. Vor 100 Jahren, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, machte sich Leo Baeck für die menschheitsweite Auslegung der biblischen Weisung stark: „Wer immer ein anderer ist, mag er fern oder fremd oder auch feindlich zu mir stehen, er gehört zu mir, als Wesen von meinem Wesen, mit mir von Gottes wegen verbunden. […] ‚Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.‘ Auf diesem ‚wie du‘ [hebr. kāmokā, A. L.] liegt der ganze Nachdruck. Darin ist jene Einheit alles Menschlichen ausgesprochen“.75 Der Dativ „deinem Nächsten“ deutet an, was mit dem Verb „lieben“ gemeint ist. Es geht nicht um ein Mögen, sondern darum, allen mit Wohlwollen und denen, die dessen bedürfen, entsprechend den jeweiligen eigenen Möglichkeiten, mit Wohltun, also mit Taten der Liebe zu begegnen.76 Das wiederum heißt biblisch, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten: „Das Recht 69 Erklärung von Rio zu Umwelt und Entwicklung, in: Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro – Dokumente. Klimakonvention, Konvention über die Biologische Vielfalt, Rio-Deklaration, Walderklärung, hrsg. vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bonn: BMU, 1992, S. 39 – 43, hier Grundsatz 2. 70 Höffe, Otfried, „Art. Goldene Regel“, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 6. Aufl., München: Beck, 2002, S. 101 – 102, hier S. 101. 71 Schüller 1980 (Fn. 67), S. 310; vgl. Höffe 2002 (Fn. 70), S. 101. 72 Vgl. Stiftung Weltethos (Hrsg.), Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos. Beilage zur Ausstellung, Tübingen: Stiftung Weltethos, 2000, sowie Scarboro Missions (Ed.), The Golden Rule Across the World’s Religion. Thirteen Sacred Texts – English, French, Spanish, Italian, German and Portuguese, Toronto 2010, http://www.scarboromissions.ca/Golden_rule/docs/sa cred_texts_comparison.doc. 73 Wolbert, Werner, „Art. Ethik“, in: Rotter, Hans / Virt, Günter (Hrsg.), Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck-Wien: Tyrolia, 1990, S. 158 – 164, hier S. 162. 74 Vgl. dazu auch die alttestamentlichen Texte Exodus 23,4f und Sprichwörter 25,21. 75 Baeck, Leo, „Die Schöpfung des Mitmenschen“, in: Verband der deutschen Juden (Hrsg.), Soziale Ethik im Judentum, 2. Aufl., Frankfurt/ M.: J. Kauffmann, 1914, S. 9 – 15, hier S. 11.
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ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ 77 Auch der Grund wird genannt: Ich soll den anderen gegenüber so handeln, weil wir einander gleich sind, theologisch gesprochen: als lebendige Bilder bzw. Statuen Gottes.78 Denn jeder Mensch besitzt diese gottgegebene und deshalb unantastbare Würde: Gott habe den Menschen „nur wenig geringer gemacht als ein Gottwesen […] ihn mit Würde (hebr. kāḇôḏ) und Pracht gekrönt.“79 Deshalb schulden sich alle wechselseitig (Menschen-)Recht und Gerechtigkeit.80 Von den verschiedenen Fassungen des von Immanuel Kant konzipierten Kategorischen Imperativs soll hier die bekannte Menschenwürdeformel betrachtet werden: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 81 Diese Formulierung beinhaltet, dass ich mich und andere – mit deren Einverständnis – als Mittel einsetzen bzw. nutzen darf, aber ich darf weder mich noch andere nur als ein solches Mittel betrachten. Vielmehr muss stets präsent sein, dass alle Menschen „Zweck an sich“ sind, das heißt einen zu achtenden und zu schützenden Wert innehaben: Der Mensch, so Kant, besitzt „eine unverlierbare Würde (dignitas interna)“, der mit „Achtung (reverentia)“ zu begegnen ist.82 Kant unterstreicht darüber hinaus, dass nicht nur der Imperativ der Achtung der Menschenwürde, sondern auch „die Achtung fürs Recht der Menschen“ unbedingte Pflicht sei.83 Intergenerationelle Geltung Alle drei beleuchteten Fassungen des (auf Respekt basierenden) Moralprinzips gelten kategorisch, also in räumlicher und zeitlicher Hinsicht universal. Das heißt, dass sie nicht nur global, sondern auch intergenerationell zu beachten sind. Für die Goldene Regel wird dies durch die Definition nachhaltiger Entwicklung im Brundtland-Bericht deutlich: „Humanity has the ability to make development sustainable to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of 76 Vgl. Cohen, Hermann, Der Nächste. Vier Abhandlungen über das Verhalten von Mensch zu Mensch nach der Lehre des Judentums, Berlin: Schocken, 1935, S. 59, sowie Buber, Martin, „Vorbemerkung“, in: ebd., S. 6 – 7, hier S. 6. 77 Amos 5,24. 78 Vgl. Genesis 1,26 f. 79 Psalm 8,6. 80 Leo Baeck spricht von „dem einen Menschengeschlecht und dem einen Menschenrecht“. Baeck 1914 (Fn. 75), S. 12. 81 Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 385 – 463, hier S. 429. 82 Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 203 – 493, hier S. 436. 83 Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transcendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts (1795), in: Akademie Ausgabe, Bd. 8, S. 341 – 386, hier S. 385.
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future generations to meet their own needs.“84 Wichtig ist dabei, dass der Bericht der World Commission on Environment and Development unter „needs“ nicht alle möglichen Bedürfnisse versteht, sondern „in particular the essential needs of the world’s poor, to which overriding priority should be given“85. Für das Liebesgebot ist bedeutsam, dass die Menschenwürde, also der gleiche Wert jedes Menschen als Grund der Liebe, nicht nur den ersten Menschen verliehen wurde, sondern nach biblischer Vorstellung von Generation zu Generation, und zwar ohne Vorbedingungen, „weitervererbt“ wird.86 Das heißt, sie kommt auch allen künftigen Menschen zu, die folglich einen gleichen Anspruch auf Recht und Gerechtigkeit besitzen werden, der aufgrund der zeitlichen Reichweite heutiger menschlicher Handlungen in die Zukunft hinein schon jetzt zu beachten ist. Den Kategorischen Imperativ hat u. a. Hans Jonas auf das Verhältnis der jetzigen zu den kommenden Generationen übertragen: „‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘; oder negativ ausgedrückt: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens‘; oder einfach: ‚Gefährde nicht die Bedingungen für den indefinitiven Fortbestand der Menschheit auf Erden‘; oder, wieder positiv gewendet: ‚Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein‘“!87
Interspezielle Geltung Die drei Metanormen gelten aber auch interspeziell, d. h. für das Verhalten unserer Gattung gegenüber der außerhumanen Natur. Für die Goldene Regel sei hier auf die Quintessenz von Äsops Fabel „Knaben und Frösche“ verwiesen: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz.“88 Auch die regula aurea des Jainismus weist in diese Richtung: „Man sollte alle Lebewesen so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.“89 Eine moderne Fassung, die ähnlich wie Äsop auf die Fähigkeit zur Empathie setzt, bietet Christine Stevens an: „The basis of all animal rights should be the Golden Rule: we should treat them as we would wish them to treat us, were any other species in our dominant position.“ 90 Nach Albert Schweitzer sollen die Menschen allen Kreaturen, „soweit wir es nur immer
World Commission on Environment and Development 1987 (Fn. 29), Overview, Nr. 27. Ebd., Kap. 2, Nr. 1. 86 Vgl. Genesis 5,3. 87 Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1979, S. 36. 88 Aesop, Fabeln, http://gutenberg.spiegel.de/buch/1928/48. 89 Mahavira, Sutrakritanga 1;11,33, zit. nach Scarboro Missions 2010 (Fn. 72), S. 3. 90 Stevens, Christine, zit. nach Scarboro Missions, Commentaries on the Golden Rule, https://www.scarboromissions.ca/Golden_rule/golden_rule_commentaries.php. 84 85
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können, Hilfe bringen und Leiden ersparen“91, was dem in der Goldenen Regel enthaltenen Fürsorge- und Nichtschadensprinzip entspricht. Derselbe Albert Schweitzer hat – in einem nach seinem Dafürhalten revolutionären Akt92 – den Adressatenkreis des Liebesgebots über die Menschheit hinaus auf alle Geschöpfe ausgeweitet: „Jeder unbefangen denkende Mensch kann nicht anders als die Liebe nicht nur den Menschen, sondern auch der Kreatur gegenüber zu betätigen.“93 In den Geschöpfen zeigt sich für Christinnen und Christen seit Augustinus und Bonaventura die Spur Gottes. Mit den sog. Billigungsformeln bringt die erste, jüngere Schöpfungserzählung der Genesis mehrfach und deutlich zum Ausdruck, dass Gott alle seine Werke für „gut“ und das komplexe Ganze des austarierten Systems der Schöpfung sogar für „sehr gut“94 befindet. Hier greift der Satz: bonum est amandum, das Gute ist zu lieben. Hinzu kommt, dass der Gott der Bibel ein „Liebhaber des Lebens“95 ist und dass der Mensch ihn im Sinne der Imitatio Dei auch in dieser Hinsicht nachahmen soll.96 Jürgen Werbick unterstreicht, dass die Gutheit der Schöpfung nur gewahrt werde, wenn der Mensch seine Autonomie an der Schöpferintention ausrichte und „das ihm als Mitgeschöpf in Obhut Gegebene niemals nur als Mittel zum selbstgesetzten Zweck betrachtet.“97 Damit erweitert er den Anwendungsbereich des Kategorischen Imperativs auf die außerhumane Natur. Seit dem „Erdgipfel“ von Rio de Janeiro (1992) ist diese Überzeugung auch auf der Ebene der Völkergemeinschaft verankert. So unterstreichen die Vertragsparteien des „Übereinkommens über die Biologische Vielfalt“ gleich im ersten Satz der Präambel, dass sie sich „des Eigenwerts [intrinsic value] der biologischen Vielfalt sowie des Wertes der biologischen Vielfalt und ihrer Bestandteile“ gewahr sind und dass sie die Konvention als Ganze in diesem Bewusstsein verabschieden.98 Solidarität und Retinität – global, intergenerationell und interspeziell – haben als normative Maßstäbe somit ein solides ethisches Fundament. Was aber folgt aus ihnen konkret in Zeiten des Klimawandels? 91 Schweitzer, Albert, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, hrsg. von Hans Walter Bähr, 7. Aufl., München: Beck, 1997, S. 95. 92 Vgl. ebd., S. 97. 93 Ebd., S. 95. 94 Genesis 1,4. 10. 12.18.21.25 bzw. 1,31, Jesus Sirach 39,16 sowie 1 Timotheus 4,4. 95 Weisheit 11,26. 96 Vgl. Epheser 5,1. 97 Werbick, Jürgen, „Art. Schöpfung“, in: Korff, Wilhelm/ Beck, Lutwin/ Mikat, Paul (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Studienausgabe, Bd. 3, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, S. 242 – 245, hier S. 245. 98 Übereinkommen über die Biologische Vielfalt, in: Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro – Dokumente. Klimakonvention, Konvention über die Biologische Vielfalt, Rio-Deklaration, Walderklärung, hrsg. vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bonn: BMU, 1992, S. 23 – 38, hier Präambel.
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III. Pragmatik: Schutz des Klimas und Schutz vor dem Klima Papst Johannes Paul II. hatte schon 1987, fünf Jahre vor der Unterzeichnung der Klimakonvention, die These aufgestellt, dass das Klima ein Gut sei, das geschützt werden müsse, weshalb die Konsumentinnen und Konsumenten sowie die Unternehmen ein stärkeres Verantwortungsgefühl entwickeln müssten.99 Zwölf Jahre später wurde er noch deutlicher, als er die „Zerstörung der Natur“ und vor allem die unkontrollierte Freisetzung von gefährlichen Gasen100 sowie die Vernichtung der Regenwälder, die Hauptursachen des Klimawandels, als „soziale Sünde“ anprangerte, die zum Himmel schreie.101 Auch für seinen Nachfolger, Papst Benedikt XVI., steht außer Frage, dass der Schutz der Umwelt, die Förderung nachhaltiger Entwicklung und die besondere Aufmerksamkeit für den Klimawandel Angelegenheiten von größter Bedeutung für die ganze Menschheitsfamilie darstellen.102 Insbesondere da, wo die Menschenwürde missachtet und die Schöpfung gefährdet werde, habe die Kirche ein politisches Mandat wahrzunehmen, denn sie „trägt Verantwortung für die Schöpfung und ist sich bewußt, daß sie diese auch auf politischer Ebene ausüben muß, um die Erde, das Wasser und die Luft“, zugleich Hauptbestandteile des Klimasystems, „als Gaben Gottes, des Schöpfers, für alle zu bewahren“.103 Papst Franziskus, der schon mit seiner programmatischen Namenswahl den Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung auf die Agenda seines Pontifikats setzte, schließt an seine Vorgänger an, wenn er in seiner Rede vor der FAO am 20. Juni 2013 hervorhebt, dass die Lage der Welt nicht nur aufgrund der Wirtschaftskrise sehr schwierig sei, „sondern auch aufgrund von Problemen, die mit der Sicherheit zu tun haben, mit der großen Zahl andauernder Kriege, mit dem Klimawandel und der Bewahrung biologischer Vielfalt. All das sind Umstände, die […] neues Engagement erfordern“.104
99 Vgl. Johannes Paul II., zit. nach Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg/ Basel/ Wien: Herder, 2006, Nr. 470. 100 Im Original „gas nocivi“, in der englischen Übersetzung „harmful gases“. „Giftstoffe“, so die deutschsprachige Fassung, herausgegeben vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, geht an der gemeinten Sache vorbei. 101 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Ecclesia in America“ (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 141, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn: DBK, 1999, Nr. 25 und 56. 102 Benedikt XVI., Letter to the Ecumenical Patriarch of Constantinople on the occasion of the Seventh Symposium of the Religion, Science and the Environment movement, September 1, 2007, http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/letters/2007/documents/hf_benxvi_let_20070901_symposium-environment_en.html. 103 Benedikt XVI., Willst du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 2010, Nr. 13, http://www.vatican.va/holy_father/be nedict_xvi/messages/peace/documents/hf_ben-xvi_mes_20091208_xliii-world-day-peace_ge. html. 104 Franziskus, Ansprache bei der 38. Sitzung der der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), 20. Juni 2013, Nr. 3, http://www.vatican.va/holy_fa
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Deshalb, so die Deutsche Bischofskonferenz, müsse auf weltpolitischer Ebene, aber auch im eigenen kirchlichen Handeln, mit größeren Anstrengungen als bisher versucht werden, den Klimawandel zu bremsen (mitigation) und seine negativen Auswirkungen durch Anpassungsmaßnahmen abzufedern (adaptation).105 Dies ist „keine Frage des Mitleids, sondern eine Frage der Gerechtigkeit“, die den Opfern und den nachrückenden Generationen gemäß dem Verursacherprinzip geschuldet ist!106 Der WBGU hat mehrere planetarische Leitplanken bzw. Limits der Nachhaltigkeit aufgestellt, die die Spur weisen, in der sich alles politische und ökonomische Handeln bewegen muss, wenn man einen gefährlichen Klimawandel noch verhindern will: 1. Der Temperaturanstieg gegenüber vorindustriellem Niveau sollte 2° C 107, besser: 1,5° C, nicht überschreiten. 2. Der Anstieg des Meeresspiegels sollte insgesamt nicht mehr als 100 cm und zudem nicht mehr als 5 cm pro Dekade betragen, damit sich die Betroffenen noch anpassen können.108 3. Bis zur Mitte des Jahrhunderts dürften allerhöchstens noch 750 Mrd. Tonnen CO2 emittiert werden. Nur dann könnte – mit einer Zwei-Drittel-Wahrscheinlichkeit – der Temperaturanstieg unter 2° C bleiben. Will man eine Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent, so dürften maximal noch 600 Mrd. Tonnen CO2 ausgestoßen werden.109 4. Die Emissionen pro Person und Jahr sollten im Jahr 2050 höchstens 1 t betragen.110 Das heißt für Deutschland, dass der Pro-Kopf-Ausstoß von derzeit annähernd zwölf Tonnen um über 90 Prozent gesenkt werden muss. Zum Vergleich: Die Bewohner/ -innen Tuvalus liegen bei weniger als einer halben Tonne. Beim Klimaschutz gibt es nicht die eine Problemlösung, vielmehr muss eine Fülle von (geeigneten, erforderlichen und angemessenen) technischen und politischen Instrumenten ausgeschöpft werden. Gefragt sind ein Instrumentenmix sowie ther/francesco/speeches/2013/june/documents/papa-francesco_20130620_38-sessione-fao_ge. html. 105 Vgl. DBK 2007 (Fn. 64), Nr. 49. 106 Vgl. DBK 2007 (Fn. 64), Nr. 57, sowie Robinson, Mary, Climate Change and Justice. Barbara Ward Lecture, London, 11 December 2006, 2, http://pubs.iied.org/pdfs/G00101.pdf: „I believe that […] we can no longer think about climate change as an issue where the rich give charity to the poor to help them to cope with its adverse impacts. Rather, this has now become an issue of global injustice that will need a radically different framing to bring about global justice.“ 107 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten, Berlin: WBGU, 2011, S. 1. 108 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Die Zukunft der Meere – zu warm, zu hoch, zu sauer. Sondergutachten, Berlin: WBGU, 2006, S. 50. 109 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Kassensturz für den Weltklimavertrag – Der Budgetansatz. Sondergutachten, Berlin: WBGU, 2009, S. 2. 110 Vgl. ebd., S. 3.
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entsprechende Anstrengungen auf allen Ebenen: von der Staatengemeinschaft bis hin zu Privathaushalten.111 1. Minderung – das Unbeherrschbare vermeiden Das IPCC definiert Minderung, engl. mitigation, als eine Intervention, die der Mensch vornimmt, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren oder um deren Senken zu verbessern.112 Zu den technischen Instrumenten, die helfen können, einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden, gehören an erster Stelle das Energiesparen und der Abbau von Ressourcen- und Energieverschwendung sowie die Steigerung der Ressourcen- und Energieeffizienz. Diese Werkzeuge reduzieren den Verbrauch und damit die Emissionen und sorgen zudem für die Schonung nicht erneuerbarer Rohstoffe und jener Gebiete, deren Lagerstätten unangetastet bleiben. Darüber hinaus senken entsprechende Maßnahmen die laufenden Kosten von Unternehmen, Organisationen sowie von privaten und öffentlichen Haushalten. Zur Minderungsstrategie gehört des Weiteren der Umbau der Energiewirtschaft von fossilen hin zu erneuerbaren Energien, wobei – wegen der unvertretbaren Risiken der Kernenergie, aber auch der CO2-Speicherung in unterirdischen Deponien113 – als Brückentechnologien allenfalls die kohlenstoffarmen, hocheffizienten Kraftwärmekopplungsanlagen sowie Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerke in Frage kommen. Weiterhin gehören dazu die Verbesserung der Speichertechniken wie der sozial- und umweltverträgliche Ausbau verlustarmer Netze. Auch der Stopp der Waldvernichtung, Programme zur Aufforstung, die Umstellung auf eine nachhaltige Forstwirtschaft sowie nicht zuletzt der vollständige ökologische Umbau der Landwirtschaft zählen zu den technischen Instrumenten, die dabei helfen können, dem gefährlichen anthropogenen Klimawandel Einhalt zu gebieten. Zu den politischen Maßnahmen gehören die (oben genannte) vertragliche Festlegung eines Budgets, also einer Obergrenze der global noch vertretbaren Treibhausgasemissionen (max. 750 bzw. besser max. 600 Mrd. Tonnen CO2 bis 2050) sowie differenzierte, verbindliche, sanktionsbewehrte, terminierte und ambitionierte Reduktionsziele. Der Peak, d. h. die Spitze des Treibhausgasausstoßes, sollte so bald wie möglich, spätestens aber im Jahr 2015 erreicht werden. Danach müssen die Emissionen kontinuierlich gegen Null sinken. Stellt man in Rechnung, dass der glo111 Zum Folgenden vgl. Lienkamp 2009 (Fn. 2), S. 382 – 455, und DBK 2007 (Fn. 64), Nr. 46 – 64. 112 Intergovernmental Panel on Climate Change, „Summary for Policymakers“, in: Climate Change 2014, Mitigation of Climate Change. Contribution of Working Group III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Cambridge, U.K. / New York: Cambridge University Press, 2014, S. 1 – 31, hier S. 4: „Mitigation is a human intervention to reduce the sources or enhance the sinks of greenhouse gases.“ 113 Vgl. Der Schöpfung verpflichtet. Anregungen für einen nachhaltigen Umgang mit Energie. Ein Expertentext zu den ethischen Grundlagen einer nachhaltigen Energieversorgung (Arbeitshilfen 245, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn: DBK, 2011.
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bale Ausstoß im Jahr 2010 bei 34,6 Mrd. Tonnen CO2 lag, wäre das Budget bei business as usual (ausgehend vom Basisjahr 2010) bereits nach 22 bzw. 17 Jahren aufgebraucht, d. h. 2032 bzw. 2027. Danach dürfte die Menschheit dann keine Treibhausgase mehr emittieren.
Abbildung 4: Beispiele für globale Emissionspfade, bei denen im Zeitraum 2010 – 2050 jeweils 750 Mrd. Tonnen CO2 emittiert werden (die Flächen unter allen drei Kurven sind gleich)114
Den hellgrauen Pfad in Abbildung 4 hat die Menschheit bereits verpasst. Der schwarze würde ein Ende der Emissionen um das Jahr 2040 mit sich bringen, vor allem aber Jahr für Jahr eine Minderung um neun Prozent erfordern, was schier unmöglich erscheint. Realistisch ist also allein die dunkelgraue Kurve. Gemäß dieser müsste bis zum Jahr 2047 eine klimaneutrale Welt geschaffen werden und dazu der Ausstoß jährlich um 5,3 Prozent gesenkt werden, was angesichts der nach wie vor steigenden Emissionen ebenfalls eine hoch anspruchsvolle, jedoch nicht unlösbare Aufgabe darstellt. Aber selbst dann, wenn das Ziel verfehlt wird, die globale Erwärmung unter 2° C bzw. 1,5° C zu halten, ist jedes Zehntel Grad Temperaturanstieg, das vermieden wird, aktiver Schutz von Menschenrechten und ein Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung. Es gibt also keinen Grund, angesichts der Größe der Aufgabe zu resignieren oder von weiteren Klima- und Waldschutzanstrengungen abzulassen. Zu den politischen Mechanismen gehören weiterhin Energie- bzw. Klimasteuern im Rahmen einer ökologischen Steuer- und Finanzreform, die diesen Namen verdient. Deutschland ist bislang nicht über eine „Light-Version“ hinausgekommen, die zudem noch eine Reihe fragwürdiger Ausnahmen enthält, die nicht nur die im 114
WBGU 2011 (Fn. 107), S. 40.
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internationalen Wettbewerb stehenden energieintensiven Unternehmen begünstigen. Die negativen externen Effekte wirtschaftlichen Handelns müssen aus Gründen der Gerechtigkeit möglichst vollständig internalisiert werden. Das bedeutet, dass die Preise die „ökologische Wahrheit“ sagen müssen,115 wodurch klimaschädliche Produkte und Dienstleistungen teurer und klimafreundliche im Verhältnis dazu günstiger werden. „Those who produce greenhouse-gas emissions are bringing about climate change, thereby imposing costs on the world and on future generations, but they do not face directly, neither via markets nor in other ways, the full consequences of the costs of their actions.“ 116
Dies kann und muss dadurch geändert werden, dass die nachteiligen Drittwirkungen klima- und umweltschädigenden Handelns, etwa des Verbrennens fossiler Energieträger oder der Vernichtung von Wald, über Steuern oder Abgaben in die Kosten der Wirtschaftssubjekte, Unternehmen wie Haushalte, einbezogen werden. Umweltfreundliches Handeln bzw. der Faktor Arbeit kann dafür im Gegenzug entlastet werden; unbillige Härten können und sollen durch entsprechende Anhebung der Sozialtransfers vermieden werden. Auch der Aufbau eines globalen, wirksamen Emissionshandelssystems nach dem Muster cap and trade, mit stetiger und hinreichender Verknappung der zu versteigernden Emissionslizenzen, die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, die Förderung von Forschung und Technologietransfer, eine Bevölkerungspolitik ohne Zwang (auf der Basis von Bildung und Armutsbekämpfung) sowie – last but not least – lebensbegleitende Umwelterziehung und -bildung sind ebenfalls viel versprechende Schritte, um den Klimawandel einzudämmen. 2. Anpassung – das Unvermeidbare beherrschen Die Tatsache, dass es nicht nur einen Schutz des Klimas, sondern auch einen Schutz vor dem (anthropogen gestörten) Klima braucht, wurde spätestens in Rio erkannt und in das Völkerrecht integriert. Minderung und Anpassung gehören seitdem zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. So verpflichten sich die Vertragsstaaten der Klimakonvention, Programme zu erarbeiten und umzusetzen, in denen nicht nur Anstrengungen zum Klimaschutz, sondern auch „Maßnahmen zur Erleichterung einer angemessenen Anpassung an die Klimaänderungen vorgesehen sind“.117 Anpassung, engl. adaptation, definiert das IPCC als den Prozess der Angleichung an das gegenwärtige oder zu erwartende Klima und dessen Auswirkungen.118 115 Weizsäcker, Ernst Ulrich von, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik als Antwort auf die Globalisierung, 5. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 145. 116 Stern, Nicholas, The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge: University Press, 2007, S. 27. 117 Klimakonvention 1992 (Fn. 5), Art. 4 I b.
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Führt man sich vor Augen, dass – wie der Stern Review klargestellt hat – „die Vermeidung weiterer Emissionen die beste und preiswerteste Anpassungsstrategie“ darstellt119, dann sind die Prioritäten klar gesetzt. Dennoch muss man sich mit adaptation im engeren Sinne beschäftigen, allein schon wegen des unbestreitbaren Faktums des unvermeidlichen Klimawandels. Selbst durch strikteste Minderungsmaßnahmen ließen sich, so das IPCC, weitere Auswirkungen der Klimaänderung in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr vermeiden. „Deshalb sind Anpassungsmaßnahmen – vor allem zur Bewältigung kurzfristiger Folgen – unerlässlich.“120 Minderung und Anpassung stehen also für zwei sich ergänzende, nicht alternative Maßnahmenbündel. Die Position „Anpassung statt Vermeidung“ baut somit eine Scheinalternative auf. In Wahrheit ist beides unerlässlich: „Erhebliche Anpassung an den Klimawandel wird auch bei einer Erwärmung um global ‚nur‘ 2° C notwendig sein.“ Und ohne Begrenzung des Temperaturanstiegs „auf 2° C wäre eine erfolgreiche Anpassung an den Klimawandel kaum möglich.“121 Beispiele für adaptation sind der Schutz vor Überflutungen und Überschwemmungen, etwa durch Küsten- und Uferschutz, der Aufbau von Frühwarnsystemen, landwirtschaftliche Anpassung vor allem an höhere Temperaturen und ausbleibende Niederschläge, ein hinreichend und nach dem Verursacherprinzip ausgestatteter Finanzierungsfonds für Anpassungsprogramme vor allem der ärmsten und verwundbarsten Länder, die Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit, Mikrokreditsysteme für die Armen, die völkerrechtliche Anerkennung und Integration von Klimaflüchtlingen sowie der Ausbau des Katastrophenschutzes. Insgesamt zielen alle diese Maßnahmen auf eine Senkung der Vulnerabilität bzw. eine Stärkung der Resilienz von Lebewesen, Ökosystemen und Staaten. 3. Mitigation und Adaptation als ethische Verpflichtungen William Joseph Brennan, langjähriger Richter am US Supreme Court, bringt die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Praxis mit ei118 IPCC WG2 2014 (Fn. 10), S. 5: „The process of adjustment to actual or expected climate and its effects. In human systems, adaptation seeks to moderate or avoid harm or exploit beneficial opportunities. In some natural systems, human intervention may facilitate adjustment to expected climate and its effects.“ 119 Lechtenböhmer, Stefan/ Scholten, Anja, „Anpassungsstrategien an den unvermeidlichen Klimawandel: Global, national und regional“, in: Hiller, Bettina/ Lange, Manfred A. (Hrsg.), Globale Umweltveränderungenund Wetterextreme – Was kostet der Wandel? (Zentrum für Umweltforschung – Vorträge und Studien 17), Münster: ZUFO, 2007, S. 135 – 147, hier S. 146. 120 International Panel on Climate Change, Vierter Sachstandsbericht des IPCC (AR4). Klimaänderung 2007: Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger, deutsche Übersetzung hrsg. von ProClim – Forum for Climate and Global Change, dem Umweltbundesamt Österreich und der Deutschen IPCC-Koordinierungsstelle, Bern / Wien / Berlin: ProClim u. a., 2007, S. 37. 121 Rahmstorf / Schellnhuber 2012 (Fn. 12), S. 124.
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nem paradox anmutenden Satz treffend auf den Punkt: „Nichthandeln kann ebensolcher Machtmissbrauch sein wie Handeln.“122 Angewandt auf den menschengemachten Klimawandel bedeutet dies: Wer über das Wissen, die Fähigkeit und die Macht verfügt, das Problem anzugehen, es aber dennoch unterlässt, tätig zu werden, der missbraucht seine Macht. So betont auch Mary Robinson: „Those with the power to prevent these changes also have a responsibility to recognise the potential impact of failure on the human rights of millions of vulnerable people.“123 Dies gilt umso mehr, wenn man die zentrale Erkenntnis des Stern Review berücksichtigt, dass mit relativ geringen Kosten, die sich bis zum Jahr 2050 sehr wahrscheinlich auf etwa ein Prozent des jährlich erwirtschafteten globalen Bruttoinlandsprodukts belaufen werden, die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels vermieden werden könnten und Nichthandeln mit einem weltweiten Wohlfahrtsverlust in Höhe von fünf bis zwanzig Prozent Konsumeinbuße pro Person einherginge,124 ganz abgesehen von dem vermeidbaren, zum Teil irreversiblen Schaden und dem Leid, die aus der Sicht einer Ethik der Nachhaltigkeit nicht hinnehmbar sind. Es wäre also nicht nur ökonomisch unvernünftig, sondern auch unverantwortlich, die Dringlichkeit der Agenda zu ignorieren. Denn: „[…] significant delays in addressing climate change may compound the problem and make future remedies more difficult, painful, and costly. On the other hand, the impact of prudent actions today can potentially improve the situation over time, avoiding more sweeping action in the future.“125 Werden diese Chancen vertan, so werden vor allem die Armen, die nachrückenden Generationen und die außermenschliche Natur die Leidtragenden sein: „Inaction and inadequate or misguided responses to climate change will likely place even greater burdens on already desperately poor peoples.“126
Ähnlich wie Stern, ähnlich auch wie die Katholischen Bischöfe der USA und Deutschlands betont Jim Yong Kim, der Präsident der Weltbank-Gruppe, in seinem Vorwort zu deren Bericht „Turn down the heat“: „Ambitious action on climate change […] is a moral imperative“, but it makes also „good economic sense“127. Oder mit den Worten von Mary Robinson: „[…] beyond the economic imperative there is the ethical imperative to move in this direction.“128
122 Brennan, William J., Dissenting Opinion. DeShaney v. Winnebago County Department of Social Services (489 U.S. 189, 1988 – 89), http://www.law.cornell.edu/supremecourt/text/ 489/189. 123 Robinson 2005 (Fn. 44), S. 65. 124 Vgl. Stern 2007 (Fn. 116), S. XV, 239 f. und 650 f. 125 United States Conference of Catholic Bishops 2001 (Fn. 45), S. 6. 126 Ebd., S. 3. 127 Kim, Jim Yong, Foreword, in: The World Bank (Ed.), Turn Down the Heat: Why a 4°C Warmer World Must be Avoided. A Report for the World Bank by the Potsdam Institute for Climate Impact Research and Climate Analytics, Washington D.C.: The World Bank, 2012, S. ix-x, hier S. ix. 128 Robinson 2006 (Fn. 106), S. 4.
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Nicht zuletzt Der gegenwärtige Klimawandel, der gefährliche Ausmaße anzunehmen beginnt, ist keine Naturkatastrophe, kein unabwendbares Schicksal, sondern menschengemacht und als solcher eine massive Ungerechtigkeit, die bestehendes Unrecht noch verschärft. In Mitleidenschaft gezogen werden vor allem diejenigen Personen, Gebiete und Staaten sowie Tiere, Pflanzen und Ökosysteme, die leicht verwundbar und wenig widerstandsfähig sind. Auf dem Spiel stehen „das Überleben unserer Zivilisation und die Bewohnbarkeit der Erde“.129 Wie deutlich wurde, ist der anthropogene Klimawandel nicht nur eine technische, ökonomische und politische, sondern auch eine moralische und spirituelle Herausforderung. Die globale Erwärmung und ihre Folgen stellen Verstöße gegen grundlegende humane und christliche Prinzipien dar: gegen die Pflicht zur Achtung der Würde und des Wertes der anderen, gegen die globale, intergenerationelle und ökologische Gerechtigkeit sowie gegen grundlegende Menschenrechte jetzt lebender und künftiger Generationen. Ein zentrales Gerechtigkeitsproblem ist dabei die Nichtidentität von Hauptverursachern und Hauptleidtragenden. Die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben das äußerst ernste Problem mehrfach benannt und alle handlungsfähigen Akteure nachdrücklich zu einem stärkeren Engagement für den Klimaschutz aufgefordert. Aus Solidarität mit den gegenwärtigen und künftigen Opfern sowie aus Gründen der Retinität muss mit deutlich größeren Anstrengungen als bisher versucht werden, den Klimawandel zu bremsen (mitigation) und seine negativen Auswirkungen durch Anpassungsmaßnahmen abzufedern (adaptation). Ethisch gefordert sind darüber hinaus die Unterstützung der Armen bei der Anpassung und die Entschädigung der Hauptleidtragenden durch die Hauptverursacher. Dies alles ist keine Frage des Mitleids, sondern eine Frage der Gerechtigkeit! Wir sind die letzte Generation, die einen gefährlichen Klimawandel verhindern kann – aber nur, wenn wir schnell und entschieden gegensteuern. Wir haben das Wissen. Wir haben die finanziellen und technischen Mittel. Laut Mary Robinson mangelt es nur an einem: „At the global level it is obviously ethical, rational and feasible to take action now. The technology exists – what we lack is the political commitment to act.“130 Was allein fehlt, ist also der politische Wille. Aber dieser ist, wie Al Gore unterstreicht, glücklicherweise eine erneuerbare Ressource. „Let’s renew it!“131
129 Gore, Al, Eine unbequeme Wahrheit. Die drohende Klimakatastrophe und was wir dagegen tun können, 3. Aufl., München: Riemann, 2006, S. 11; vgl. ebd., S. 71. 130 Robinson 2006 (Fn. 106), S. 5. 131 Gore, Al, Academy Awards Acceptance Speech, February 25, 2007, http://aaspeeches db.oscars.org/link/079-10.
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Summary Because of its severe negative impact on human-beings, animals, plants and the whole ecosystem, the dangerous anthropogenic climate change is one of the biggest problems of our century and a moral challenge as well as a spiritual one. It is extremely likely that human influence is the dominant cause of global warming. A Christian ethics of sustainability as an analytical, normative science of action relies upon three instruments: firstly exact perception of the natural and social reality, in the second place a thorough assessment, and thirdly knowledge about good and right action. This text is structured accordingly and illuminates the symptoms, causes and effects of climate change upon creation. Then, it explicates the central ethical criteria of solidarity and retinity. Finally, conclusions are drawn and practical consequences are shown. An ambitious but necessary goal is to keep the average temperature increase below 1.5°C. A special problem is caused by positive feedback climate processes: Effects of the current climate change can become causes themselves and thereby escalate the dangerous phenomenon immensely. One example is the ice-albedo feedback. Such self-reinforcing tendencies can even function as partly irreversible socalled „tipping points“. There is a nearly inverse proportion (“climate divide“) between polluters (especially highly industrialised countries) and victims of climate change (very often poor inhabitants of highly vulnerable regions). Similarly, disproportions exist between the present generation and future generations and between human and nonhuman creatures. Moral and Christian duties encompass solidarity (between human beings) and retinity (of human beings towards non-human creatures). Solidarity is a non-violent struggle for social justice, global and intergenerational, including the past and the future. Two dimensions can be differentiated: interdependence (everything is intertwined) and responsibility (one for all and all for one). The crucial principle of retinity is an ethical imperative which goes much further. It describes the interconnectedness of humankind and the whole creation and is a commitment towards ecological justice. Human beings are the living statues of God and His representatives on earth. As God is not only a friend but even a lover of life, in this spirit, man shall imitate Him. There are three versions of the moral principle, based on (mutual) respect, which are to be applied: the golden rule (containing beneficence and nonmaleficence), the biblical command of love, and the categorical imperative (defined by Immanuel Kant). Inaction can be as abusive of power as action. Consequently, churches have to execute a political mandate, too. Measures to stop global warming are not a matter of compassion but of justice. Global warming and its effects are violations of fundamental humane and Christian tenets. At stake are the survival of our civilisation and the inhabitability of our planet. Mitigation and adaptation to changing climatic and environmental conditions are two complementary strategies, both being important. Technical and political instruments must be suitable, neces-
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sary, and adequate. There are many possibilities to protect climate itself and against the adverse effects of its change. The only thing lacking is political will. But this is, according to Al Gore, a renewable resource – fortunately.
Solidarität – ethisches Kontrast- oder Sozialprinzip der Moderne? Ursula Nothelle-Wildfeuer I. Einleitung: Solidarität – deskriptiv und normativ Der Begriff der Solidarität erfreut sich gegenwärtig in der gesellschaftlichen und politischen Debatte äußerst großer Beliebtheit. Ein genauerer Blick macht aber offenkundig, dass der Begriff der Solidarität zu einem „Containerbegriff“ geworden ist, der je nach Intention und Kontext nahezu beliebig gefüllt wird, aber weder in der politischen Alltagsrhetorik noch in der politischen und ethischen Theoriebildung klar definiert wird. Umso bedeutsamer ist es, Begriff und Inhalt der Idee der Solidarität genauer in den Blick zu nehmen und zu klären, ob und ggf. welche spezifischen Kriterien zur Vermeidung von Beliebigkeit in der Benutzung des Begriffs es gibt. Im Laufe der im 19. Jahrhundert einsetzenden Entwicklungsgeschichte des Begriffs „Solidarität“ im engeren Sinn wurden von Seiten der Soziologie und vor allem der sozialen Bewegungen der unterschiedlichen politischen Richtungen Bemühungen unternommen, der Idee der Solidarität Verbreitung und Anerkennung zu verschaffen. Im 20. Jahrhundert reklamierten vor allem die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen den Begriff im Sinne der internationalen Arbeitersolidarität. Kam es angesichts der realen Verhältnisse politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung in den Staaten Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg zur Diskreditierung dieses Gedankens, so rehabilitierte die oppositionelle Gewerkschaft Solidarność 1980 in Polen durch ihre Gründung den Begriff der Solidarität politisch.1 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts berufen sich angesichts globaler ökologischer, politischer und ökonomischer Bedrohungen die unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen Gruppierungen auf die Idee der Solidarität und machen sie sich als Motivation für ihre unterschiedlichen Ziele zunutze. Dennoch bleibt das Phänomen der „theoretische[n] Randexistenz des Solidaritätsbegriffs“2 festzustellen, das vor allem begründet liegt in dem spezifischen Cha1 Anton Rauscher, „Grundlegung und Begriffsgeschichte des Solidaritätsprinzips“, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Die soziale Dimension menschlichen Lebens, Bd. 4., St. Ottilien: EOSVerlag, 1995, S. 1 – 35, 5 – 9. 2 Kurt Bayertz, „Die Solidarität und die Schwierigkeiten ihrer Begründung“, in: Giuseppe Orsi (Hrsg.), Solidarität (= Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 4), Frankfurt am Main u. a.: Lang, 1995, S. 9. (Hervorhebung v. Verf.)
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rakter dieses Grundwerts angesichts der gegenwärtigen geistesgeschichtlichen und philosophischen Entwicklung hin zum Individualismus. Bei aller Unterschiedlichkeit der historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexte seiner Verwendung und bei aller Vielfalt der Definitionen lassen sich doch immer die folgenden beiden konstitutiven Grundelemente als Kern des Solidaritätsbegriffs herauskristallisieren: erstens das Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit von Menschen in einer dann jeweils näher zu bestimmenden Gemeinschaft; zweitens der aus diesem Bewusstsein resultierende Wille, das, was man dieser Gemeinschaft an Leistung schuldig ist, in ihr und für sie zu erbringen. Der Begriff der Solidarität impliziert folglich immer beide Dimensionen in je unterschiedlicher Gewichtung: zum einen die deskriptiv-soziologische, zum anderen die normativ-ethische Dimension. Die Ausgestaltung der normativen Dimension ist es dann allerdings, die erst die spezifischen Konturen des Begriffs verdeutlicht. Im Folgenden ist darum der Frage nachzugehen, ob diese Idee der Solidarität ihre spezifische Entfaltung findet als ein Sozialprinzip der Moderne oder ob sie eher eine Randexistenz führt oder sogar im Kontrast zu eben dieser Moderne steht.
II. Die Entfaltung des Solidaritätsgedankens als Reaktion auf die Entwicklung der Moderne Auch wenn es in der antiken Polis, insbesondere aber im Alten und Neuen Testament Phänomene, Verhaltensweisen und Strukturen gibt, die mit dem Begriff der Solidarität bezeichnet werden, so muss man doch feststellen, dass der Begriff der Solidarität erst in der Moderne seine eigentliche Prägung und Gestalt erfahren hat. Man kann sogar sagen, in seinen heutigen Konturen ist er als Reaktion auf die Entwicklung der Moderne entstanden.3 Zentral für die Profilierung des Solidaritätsbegriffs sind dabei der Zerfall der mittelalterlichen Ständegesellschaft und die Entwicklung zu einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die von der Philosophie der Aufklärung proklamierte Autonomie des moralischen Subjekts ließ die Bedeutung von Gemeinschaftswerten und Traditionen im öffentlichen Bewusstsein zurücktreten. Die Folge war, dass soziale Bindungen bisweilen nur noch als rationale Vertragsverhältnisse interpretiert wurden und insbesondere im Wirtschaftsleben weithin der Geist eines rücksichtslosen Individualismus kultiviert zu werden schien. Je nach Tendenz der Bewertung dieses geschichtlichen und philosophischen Prozesses wird der Solidaritätsbegriff unterschiedlich verortet:
3 Vgl. dazu ausführlicher Ursula Nothelle-Wildfeuer / Arnd Küppers, „Solidarität“, in: Armin G. Wildfeuer/ Petra Kolmer (Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg im Breisgau: Alber, 2011, S. 2027 – 2041.
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1. Der Solidaritätsbegriff als „Widerstand“ gegen den Individualismus der Moderne Im Kontext der Französischen Revolution etwa wird der Begriff der solidarité zunehmend für die Revolutionsparole fraternité benutzt. Im Wesentlichen geht es dabei um die sozialreformerische Entwicklung eines auf dem Menschen- und Bürgerrechtsdenken begründeten Rechtsanspruchs auf Hilfeleistung durch den Staat – in Folge der Französischen Revolution beginnt dies 1790 mit der staatlichen Garantie von Mindestlöhnen und des Unterhalts im Falle von Arbeitsunfähigkeit.4 Allerdings gerät diese „revolutionäre Umwälzung der alten Armenhilfe in ein neues Unterstützungsrecht zum Fiasko […] und der Staat [kehrt] seit 1794 wieder zum Prinzip der fallweisen Unterstützung ohne Rechtsanspruch zurück“.5 In der Weiterentwicklung wird also der Wohltätigkeitscharakter – auch terminologisch – wiederbelebt. Dennoch bleibt auch das sozialrevolutionäre Verständnis von Solidarität wirksam. P. Leroux, der französische Philosoph und als christlicher Sozialist bezeichnete Schüler Saint-Simons, ist es, der den Begriff im 19. Jahrhundert in seiner neuen ethischen Bedeutung explizit in die Philosophie einführt und in deutlicher Abgrenzung von christlicher Mildtätigkeit und Barmherzigkeit von der wechselseitigen Solidarität der Menschen spricht. Die Solidarität „ersetzt […] die Religion in ihrer emotionalen, Gemeinschaftssinn stiftenden Funktion.“6 Auch im Blick auf die Bestimmung von Solidarität in der Gegenwart sieht der Philosoph Kurt Bayertz diese Entwicklung der Moderne bis heute und deren Konsequenzen als problematisch an. Ihm zufolge lässt sich das Phänomen der „theoretische[n] Randexistenz des Solidaritätsbegriffs“7 nämlich erklären durch einen Verweis auf die gegenwärtige politische und ethische Kultur, in der gerade der Autonomie des Individuums der höchste Wert beigemessen werde. In dieses individualistische Paradigma, innerhalb dessen die Gesellschaft und andere Individuen primär als Bedrohung erschienen und Pflichten stets einer eigenen Begründung bedürften, füge sich offenkundig die Idee der Solidarität nur sehr schwer ein: Sie „begründet keine Rechte des Individuums, sondern legt ihm Verpflichtungen auf; sie zielt nicht auf die Abwehr äußerer Eingriffe in die Autonomie des Individuums, sondern mutet ihm den Verzicht auf die Wahrnehmung eigener Rechte zugunsten der Gemeinschaft oder anderer Individuen zu.“8 Die Idee der Solidarität lasse sich im Gegensatz 4 Siehe dazu und zum Folgenden Karl H. Metz, „Solidarität und Geschichte. Institutionen und sozialer Begriff der Solidarität in Westeuropa im 19. Jahrhundert“, in: Kurt Bayertz (Hrsg.): Solidarität: Begriff und Problem. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 172 – 194, 174 ff. 5 Ebd., 175. (Hervorhebung v. Verf.) 6 Karl H. Metz, „Solidarität und Geschichte. Institutionen und sozialer Begriff der Solidarität in Westeuropa im 19. Jahrhundert“, in: Giuseppe Orsi (Fn. 2), S. 17 – 36, 21. 7 Kurt Bayertz (Fn. 2), S. 9. (Hervorhebung v. Verf.) 8 Ebd.
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dazu aber nur dort theoretisch entfalten, wo nicht die Idee vom autonomen Individuum den ausschließlich relevanten Wert darstelle, sondern wo die wesensmäßige Verbundenheit der Menschen untereinander als autonome Individuen, ihre personale Grundstruktur und damit gegebene Einbindung in die sozialen Strukturen eine unverzichtbare Voraussetzung aller Theorie sei. Hier ist auch auf den Kontext der christlichen Anthropologie zu verweisen, der zufolge die soziale Dimension des Personseins gleichbedeutend wie die individuale Dimension zur Bestimmung des Menschen hinzugehört und von daher Solidarität möglich und nötig macht. In der gegenwärtigen Debatte sind es vor allem auch die Vertreter des Kommunitarismus, die diese Kritik an der Entwicklung der Moderne, am Liberalismus mit seiner Theorie des „ungebundenen Selbst“9 als gesellschafts- und solidaritätszerstörend stark machen. Diesen destruktiven Individualisierungstendenzen setzt der Kommunitarismus ein Verständnis vom Individuum entgegen, das lebensnotwendig sozial eingebunden ist, ein Verständnis von Gesellschaft, die einen übergreifenden Wertzusammenhang darstellt sowie ein Verständnis von gesellschaftlicher Solidarität, die tugend- und institutionenethisch stark zu machen ist. 2. Der Solidaritätsbegriff als Konstitutivum der Moderne Wurde bislang aufgezeigt, wie und wo der Solidaritätsbegriff sich im Widerstand gegen die Tendenzen der Moderne entwickelt, so gibt es auch eine andere Entwicklungsströmung, die die Entwicklung des Solidaritätsbegriffs als positive Reaktion auf die Entfaltung der Moderne versteht. So führt G. Frankenberg10 im Bemühen um eine zivilgesellschaftliche Begründung von Solidarität aus, dass eben das jeweils andere Individuum und die entsprechende Interaktion erst „die Autonomie der Individuen“ konstituiert, denn „[o]hne Konfrontation mit der Fremdheit der anderen ist kein Individuum in seiner […] Besonderheit erkennbar und kann keine Anerkennung in seiner […] unverwechselbaren Individualität finden. Ohne andere und Fremde ist also weder individuelle Autonomie noch ein Leben in Gesellschaft denkbar.“11 Daraus erwächst dann nach Frankenberg ein fürsorglicher Impuls für die anderen Gesellschaftsmitglieder. Somit kann er als Fazit formulieren: „Zivile Solidarität, d. h. die Solidarität mit den Mitgliedern einer Gesellschaft als Bürgern, die rechtlicher Anerkennung, sozialer Wertschätzung und Fürsorge entspringt, zielt auf 9 Siehe hierzu Michael J. Sandel, „Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst“, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus – Eine Debatte über die moralische Grundlagen moderner Gesellschaften (Theorie und Gesellschaft, Bd. 26), 3. Aufl., Frankfurt/ New York: Campus-Verlag, 1995, S. 18 – 35. 10 Vgl. Günter Frankenberg, „Solidarität in einer ,Gesellschaft der Individuen‘? Stichworte zur Zivilisierung des Sozialstaates“, in: Günter Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S. 210 – 223. 11 Ebd., 219.
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die Befähigung zur selbstorganisierten Bewältigung des Lebens in Gesellschaft ab.“12 In diesem Kontext einer vorrangig positiven Bewertung der Moderne ist auch der Ansatz des Vaters der Soziologie Emile Durkheim zu nennen, der innerhalb der sich im 19. Jahrhundert als Wissenschaft konstituierenden Soziologie äußerst bedeutsam wird.13 Für Durkheim wird der Begriff der Solidarität zum Schlüsselbegriff seines soziologischen Denkens. Ihn interessiert dabei im Wesentlichen die Frage „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zur gleichen Zeit persönlicher und solidarischer sein?“14 Ausgehend vom jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft unterscheidet Durkheim zwischen mechanischer und organischer Solidarität. Solidarität in vormodernen „niederen“ Gesellschaften, in denen das Individuum noch nicht als autonomes Wesen verstanden wird, entsteht ihm zufolge aus der Ähnlichkeit der Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Lage und meint die Bindung der Menschen an die Gruppe bzw. an die Gesellschaft. Diese Solidarität bezeichnet er als „mechanische.“15 Der die weitere Entwicklung der modernen Gesellschaft kennzeichnende Prozess der sozialen Differenzierung führt dem französischen Soziologen zufolge zu einer völlig neuen Form von Solidarität, weil der Einzelne auf die Arbeit und die Arbeitsprodukte seiner Mitmenschen existentiell angewiesen ist. Diese organische Solidarität, die durch Arbeitsteilung entsteht, denn „jeder hängt umso enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andererseits [ist] die Tätigkeit eines jeden umso persönlicher, je spezieller sie ist“16, lebt von der Individualität der Menschen. Für die heutige Debatte um Solidarität zeigt R. Zoll eine Möglichkeit zur prototypischen Interpretation der beiden Formen von Solidarität auf: Sie können als zwei gleich berechtigt nebeneinander bestehende Solidaritätsformen in der Moderne bezeichnet werden. „Dann ist die Grundlage der mechanischen Solidarität die Gleichheit oder Ähnlichkeit der sozialen Lage und / oder die Gleichheit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder sozialen Gruppe und / oder die Gleichheit der (eventuell aus dieser Lage erwachsenden) Interessen und Ziele“, während „die Grundlage der organischen Solidarität […] eine Mischung aus Differenz und Gleichheit“ 17 ist. Dabei ist dann, konsequent zu Ende gedacht, die Gleichheit fundamental die Gleichheit der Würde der Menschen bei realer Ungleichheit.
Ebd., 220. Siehe dazu und zum Folgenden Rainer Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 25 ff. 14 Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, übers. v. L. Schmidts, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 182. 15 Ebd., S. 182. 16 Ebd., S. 183. 17 Rainer Zoll (Fn. 13), S. 32. 12 13
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III. Die unterschiedlichen Dimensionen des Solidaritätsbegriffs 1. Die beiden Stoßrichtungen des Solidaritätsgedankens Schauen wir auf das gegenwärtige Bemühen um die Realisierung der normativen Seite von Solidarität, so impliziert dies zwei unterschiedliche Stoßrichtungen: Zum einen eine vertikale Ausrichtung, damit ist die Rede von der Verantwortung der Einflussreichen oder einer übergeordneten Instanz den Schwächsten gegenüber gemeint, wobei diese Verantwortung ausgeht von der Sorge um das gemeinsame Wohl aller und sich zeigt in Gütern und Dienstleistungen, kurz: im Anteil-Geben am Besitz, aber auch darin, dass durch die entsprechenden Gruppen Rahmenbedingungen geschaffen werden, durch die den Empfängern der Solidarität die Realisierung eigener Vorstellungen vom gelingenden Leben möglich wird. Notwendige Kondition dieser Solidarität bleibt dabei von der Seite der Stärkeren aus die Intention, die Schwächeren zu befähigen, mit ihren eigenen Kompetenzen, Leistungen und Schätzen an Menschlichkeit und Kultur, die sonst verloren gehen würden oder zumindest unberücksichtigt blieben, auch selbst einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, sowie von der Seite der Schwächeren aus die Bereitschaft zum eigenständigen und eigeninitiativen Beitrag. Hier kommt der Gedanke der Subsidiarität ins Spiel. Damit gerät dann auch bereits die zweite Stoßrichtung bei der Realisierung der Idee der Solidarität – und hier dann auch das Subsidiaritätsprinzip – in den Blick, nämlich die der Menschen untereinander und deren Initiativen gegenseitiger Hilfe. Es wird offenkundig, dass die Idee der Solidarität mit dem Moment der Gegenseitigkeit immer auch das Leistungsprinzip impliziert, also die Empfänger von Solidarität ermutigt, ja sie sogar verpflichtet, keine rein passive oder gar feindliche Haltung der Gesellschaft gegenüber einzunehmen, sondern das selbst zu tun, wozu sie in der Lage sind und ihre Rechte entsprechend wahrzunehmen und einzufordern. Diese horizontale Stoßrichtung der Solidarität findet sich in besonderer Weise realisiert in der Solidarität der Arbeiter im 19. Jahrhundert, die zunächst der geballten Macht des Kapitals hilflos gegenüberstanden, sich aber im Laufe der für sie äußerst negativen Folgen der Industrialisierung solidarisierten und zur gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen und zum Kampf für sie zusammenschlossen zu Arbeitervereinen und Gewerkschaften. Während die sozialistische Arbeiterbewegung in der Klassensolidarität des Proletariats keinen Bezug auf die allgemeinmenschliche Solidarität postulierte, sondern einfachhin auf gemeinsame Interessen rekurrierte, behielt die christliche Arbeiterbewegung die allen gemeinsame Menschenwürde als Grundlage im Blick. Wenn etwa F. Engels schreibt, „daß das einfache, auf der Einsicht in die Dieselbigkeit der Klassenlage beruhende Gefühl der Solidarität hinreicht, unter den Arbeitern aller Länder und Zungen eine und dieselbe große Partei des Proletariats zu schaffen und zusammenzuhalten“18, so vermeidet er nach
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K. Bayertz von vornherein alle Schwierigkeiten der anthropologischen Konzeption, indem er Solidarität fordert, „wo faktische gemeinsame Interessen vorhanden sind.“19 Gemeinsame Interessen reichen aber als Grundlage für Solidarität nicht aus, vielmehr müssen die Interessen auch legitim sein. In einem rein deskriptiven Sinn mag man von Solidarität auch im Blick auf die Mafia oder terroristische Vereinigungen sprechen, in einem normativen Sinn aber ist die Rede von Solidarität nur dort gerechtfertigt, „wo die gemeinsamen Ziele und Interessen unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit als legitim gelten können.“20 2. Spezifizierung als Sozialprinzip In der Tradition der Katholischen Soziallehre kommt dem Begriff der Solidarität insofern noch einmal eine besondere Bedeutung zu, als sie hier nicht nur individualethisch als Tugend verstanden wird, sondern als Sozialprinzip. Spezifisch sozialethisch ist dabei der Bezug „auf das Soziale im eigentlichen Sinne, also auf den Bereich des Institutionellen, auf die zu sozialen Strukturen, Ordnungen, Verhältnissen verfestigte soziale Interaktion“21, woraus sich dann ethisch gesehen der vorrangige Bezug auf die (soziale) Gerechtigkeit ergibt, die es zu realisieren gilt. Mithin ist auch und gerade im christlich-sozialen Kontext mit diesem Prinzip der Solidarität nicht ein rein äußerlicher Appell an Hilfsbereitschaft und Gutherzigkeit oder eine aufgesetzte Attitüde gemeint, nicht „ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern“22, sondern bei der Solidarität handelt es sich – neben dem Gemeinwohl- und dem Subsidiaritätsprinzip – um eins der drei zentralen sozialethischen Ordnungsprinzipien.23 Dabei geben derartige Prinzipien die „Grundausrichtungen für das Handeln“ an, sind „strukturierungs- und verfahrensrelevante Grundsätze“24, die aber noch keine Handlungsanweisung oder Normen für konkrete Situationen darstellen. 18 Friedrich Engels, „Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten“, in: K. Marx u. F. Engels Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 21, Berlin: Dietz, 1962, S. 223. 19 Kurt Bayertz (Fn. 2), S. 12 f. 20 Kurt Bayertz (Fn. 4), S. 45. 21 Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn: Schöningh, 1997, S.198. 22 Papst Johannes Paul II., Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ vom 30. 12. 1987, deutscher Text: Bonn, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 82, Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1988, Nr. 38,6. 23 Vgl. Gustav Gundlach, „Solidaritätsprinzip“, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon – Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Bd. 7, Freiburg 6: Herder, 1962, S. 119 – 122, 119 f. 24 Alois Baumgartner / Wilhelm Korff, „Sozialprinzipien als ethische Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft: Personalität, Solidarität und Subsidiarität“, in: Wilhelm Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik. Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 225 – 237, 225. (im Original z. T. kursiv gedruckt.)
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Das Sozialprinzip der Solidarität hat seinen Ansatzpunkt bei dem – philosophisch gesprochen – Person-Sein des Menschen und der daraus resultierenden wesensmäßigen Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen, theologisch gesprochen bei der Würde der Menschen aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit und bei deren gleichzeitiger realer Ungleichheit. Ausgangspunkt ist die soziale Dimension dieses menschlichen Person-Seins, ist also die wechselseitige Bezogenheit der Personen untereinander und auf die gesamte Gesellschaft, woraus sich dann zugleich die gegenseitige Verpflichtung zum Mit-Sein, zur wechselseitigen Achtung der Menschenwürde ergibt. Es ist auch gerade die Solidarität, die erst das Person-Sein zu seiner ganzen Fülle entwickelt. O. von Nell-Breuning prägt dazu die für die klassische katholische Soziallehre charakteristisch gewordene Definition: „Den tatsächlichen Sachverhalt, daß Einzelwohl und Gemeinwohl ineinander verstrickt sind, bezeichnen wir als „Gemeinverstrickung“; die normative Aussage, daß Glieder und Ganzes wechselseitig füreinander Verantwortung tragen, als „Gemeinverhaftung““25. Dieses Prinzip hat der Jesuit H. Pesch am Ende des 19. Jahrhunderts im Entwurf des Solidarismus zum Mittelpunkt und zur Basis der Gesellschaftsauffassung der katholischen Soziallehre gemacht. Damit griff er zurück auf den Ansatz französischer Sozialphilosophen und Politiker (Ch. Gide u. a.), die sich mit den sozialen Folgen der Industrialisierung und des Kapitalismus auseinandergesetzt hatten und den Individualismus und Sozialismus miteinander aussöhnen wollten. Peschs Anliegen mit dem Solidarismus, in dessen Mittelpunkt die solidarische Verbundenheit aller Menschen stand, war es, „den ungezügelten Kapitalismus wie auch die kapitalist[ische] Klassen-Gesellschaft durch ein „soziales Arbeitssystem“ zu überwinden“26 und Gemeinwohl und Einzelwohl, Aufgaben und Grenzen staatlicher Interventionen zu einem Ausgleich zu bringen.27 Während die klassische Soziallehre das Solidaritätsprinzip als „ontisches und ethisches Prinzip zugleich“28 bestimmt, sucht die neuere christliche Sozialethik die in dieser Definition implizierte, mit dem Naturrecht gegebenen Gefahr des Missverständnisses als naturalistischem Fehlschluss zu vermeiden und leitet das Solidaritätsprinzip von seiner „Hinordnung auf den Menschen als Person“29 ab.
25 Oswald von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien / München / Zürich: Europaverlag, 1980, S. 47. 26 Anton Rauscher, „Solidarismus“, in: Walter Kasper u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Freiburg/ Basel/ Wien u. a.: Herder, 2000, S. 706. 27 Vgl. Alois Baumgartner, „Solidarität: I. Begriffsgeschichte“, in: Walter Kasper (Fn. 26), S. 706 – 708, 708. 28 Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, hrsg., bearb. u. ergänzt von L. Roos, Kevelaer: Butzon & Bercker, 1997, S. 47. 29 Alois Baumgartner / Wilhelm Korff, „Das Prinzip Solidarität – Strukturgesetz einer verantworteten Welt“, in: Stimmen der Zeit 208 (1990), S. 238.
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a) Entscheidend für ein angemessenes Verständnis des Solidaritätsprinzips ist, dass es nicht nur um ein Handeln gemeinsam mit anderen zu tun ist, sondern dass wesentlich die Ausrichtung auf das Wohl der Gesamtheit, auf das gemeinsame Gute, das Gemeinwohl also, dazugehört. In der Enzyklika Sollicitudo rei socialis Johannes Pauls II. von 1987, die eine zentrale Fundstelle für die kirchlich-sozialethische Bestimmung des Begriffs der Solidarität darstellt, erachtet der Papst auch den Bezug auf das Gemeinwohl für eine angemessene Umschreibung dessen, was mit Solidarität gemeint ist, als entscheidend. Solidarität ist demnach „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das „Gemeinwohl“ einzusetzen, d. h., für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind.“ 30 Solidarität meint also „den aus gemeinsamen Voraussetzungen motivierten Willen, das zu tun, was man einander schuldig ist.“31 Diese Definition von Solidarität zeigt wohl nicht bloß zufällig deutliche Anklänge an die klassische Definition von Gerechtigkeit als der beständigen und vom Willen mitgetragenen und zugleich vernunftbestimmten Haltung, jedem das Seine zu geben. Die Übung von Solidarität bedeutet mithin die auf dem Menschsein beruhende Pflicht, unter Rückbezug auf ein als Ziel vorgegebenes Ganzes (Gemeinwohl) Gerechtigkeit zu verwirklichen. Nur in dieser untrennbaren Verknüpfung des Begriffs der Solidarität als Instrument mit dem der (sozialen) Gerechtigkeit als Ziel ist also eine adäquate inhaltliche Bestimmung möglich. Aus der Verknüpfung des Ethos der Solidarität mit der Ausrichtung an dem Ziel des Gemeinwohls ergibt sich eine wesentliche Konsequenz für dessen universelle Geltung als Sozialprinzip: Solidarität meint alltagssprachlich das Sich-ZusammenTun im Hinblick auf ein gemeinsames Interesse, sei es ein Nutzen oder eine Not, sei es eine gemeinsame Aufgabe oder Freude. Diese Ziele können sehr partikulär und in ihrer moralisch-ethischen Qualität sehr unterschiedlich sein. Der Taubenzüchterverein erwartet genauso Solidarität seiner Mitglieder wie die kriminelle Bande. Sehr viele Teilsolidaritäten sind heute gefordert: in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis genauso wie mit Arbeitslosen, Globalisierungsverlierern, Sozialreformverlierern, Opfern von Terror und Gewalt in der ganzen Welt; Solidarität wird somit deklariert zum „Lernziel“ für kleine Gruppen. Sie soll politisch dazu führen, durch demonstrativ zur Schau gestellte Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zuständen sowie durch die gemeinsam demonstrierte Kampfereitschaft Änderungen herbeizuführen und eigene Ziele der Realisierung näher zu bringen.32 Diese Teilsolidaritäten spielen alle für das Funktionieren der Gesellschaft eine Rolle, aber das Ganze der Gesellschaft und ihr Wohl, das wiederum fundamental hingeordnet ist auf den Menschen als Person und deren Würde, darf nicht aus dem Blick geraten. Es muss ein wesentliches, sogar Papst Johannes Paul II. (Fn. 22), Nr. 39,9. (im Original z. T. kursiv gedruckt.) Wilhelm Korff / Alois Baumgartner, Kommentar zu: Solidarität – die Antwort auf das Elend in der heutigen Welt: Enzyklika Sollicitudo rei socialis Papst Johannes Pauls II., Freiburg / Basel/ Wien: Herder, 1988, S. 129. 32 Vgl. Karl Otto Hondrich / Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Fischer, 1992, S. 9. 30 31
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das entscheidende Kriterium sein, um die positiven Konsequenzen und die misslichen Nebenfolgen solcher Teilsolidaritäten im Falle des Konflikts abwägen zu können. Erst unter dieser Voraussetzung des Gemeinwohlbezugs wird „Solidarität als ein universelles Sozialprinzip erkennbar, das strukturell unbegrenzte Geltung beansprucht. Denn wenn die Würde des Menschen auf seinem Personsein gründet und Sozialbezogenheit zur Natur dieses Personseins gehört, dann schließt dies notwendig Solidarität mit allem ein, was Menschenantlitz trägt.“33 Vor diesem Hintergrund gilt es, die Rede von der „vorrangigen Option für die Armen“34 als die adäquate theologische Interpretation der Idee der Solidarität in den Blick zu nehmen: Die Soziallehre der Kirche sieht in der Option für die Armen – ein Terminus, der seine Wurzeln in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hat – eine soziale Verpflichtung, die den gesamten Lebensstil eines jeden Menschen betrifft. So bedeutet die „Option für die Armen“ den „Mitvollzug des unbedingten Diensteinsatzes Gottes für den Menschen durch den Menschen“.35 Dabei geht es nicht um eine ausschließliche oder ausschließende Option, sondern um „Parteilichkeit. Nicht die Parteilichkeit für die Armen gegen die Reichen, sondern Parteilichkeit für den Menschen, für alle und für jeden einzeln“36 ist gemeint. Daraus ergibt sich letztlich die Notwendigkeit, Solidarität einzuordnen in den Kontext der Allgemeingültigkeit der Menschenwürde. „1. Jede Form von Solidarisierung, die sich auf gleichzeitiger Mißachtung des Allgemeingültigkeitsanspruchs der Menschenwürde gründet, ist ethisch verwerflich. […] 2. Jede Form von Solidarisierung, die dem Anspruch der Menschenwürde faktisch nur im Blick auf die eigene Gruppe und deren Zielsetzung Rechnung trägt, bleibt ethisch defizitär.“37 Neben dieser Entgrenzung des Solidaritätsbegriffs durch seine konstitutive Anbindung an die menschliche Person und das Gemeinwohl ergibt sich aus der gleichen Verwiesenheit von Solidarität und Gemeinwohl aufeinander auch eine neue Begrenzung: Solidarität meint nicht einfachhin pauschal „universale Brüderlichkeit“38 im Sinne des „Seid umschlungen, Millionen“, vielmehr muss Solidarität, die dem Evangelium entspricht „zunächst einmal mit denen [bestehen], die die Menschenrechte suchen, und nicht mit denen, die sie brechen.“39 Jede Form von Solidarisierung, die den Bezug auf die Gerechtigkeit, letztlich also auf den Menschen als Wesen personaler Würde unbeachtet lässt, wird mithin ethisch ebenfalls defizitär! Alois Baumgartner / Wilhelm Korff (Fn. 29), S. 238. Vgl. dazu etwa die Formulierung in Johannes Paul II. (Fn. 22), Nr. 42,2. 35 Herwig Büchele, „Option für die Armen – eine vorrangige Orientierung der Katholischen Soziallehre“, in: Günter Baadte/ Anton Rauscher (Hrsg.), Christliche Gesellschaftslehre. Eine Ortsbestimmung, Graz: Styria, 1989, S.112. 36 Ebd. (Hervorhebung v. Verf.) 37 Wilhelm Korff, „Zur naturrechtlichen Grundlegung der katholischen Soziallehre“, in: Günter Baadte/ Anton Rauscher (Fn. 35), S. 45. 38 Dietmar Mieth, Die neuen Tugenden. Ein ethischer Entwurf, Düsseldorf: Patmos, 1984, S. 92. 39 Ebd., 93. 33 34
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b) Recht verstandene Solidarität impliziert nicht nur die Notwendigkeit, den eigenen Aufgabenteil innerhalb der Gemeinschaft zu übernehmen, sondern Solidarität „hält in gewisser Weise auch davon ab, auf eine fremde Verpflichtung einzugehen und als eigenen Teil zu übernehmen, was ein anderer zu tun hat.“40 Mithin impliziert das so verstandene Solidaritätsprinzip auch zugleich notwendig die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips, fordert und bestätigt folglich den unverzichtbaren spezifischen Beitrag jedes einzelnen für die Gesamtheit. Letztlich ist diese Integration beider Prinzipien aus der beiden zugrunde liegenden Menschenwürde zu begründen. Nur da, wo die Menschen ermutigt werden, den Teil, den sie – immer im Blick auf das Ganze einer Gesellschaft – selber übernehmen können, auch tatsächlich selbst zu übernehmen und auf eigenen Füßen zu stehen, kann wirkliche Solidarität möglich werden und wachsen.41 „Jede Form von Solidarisierung, die den universellen Anspruch der Menschenwürde als Forderung zur Gleichschaltung versteht, muß zur Unterdrückung des personalen Selbstand der Menschen führen und erweist sich darin als ethisch abwegig. […] Jede Form von Solidarisierung, die auf Schwächung oder Aufhebung der Eigenfunktion kleinerer, ihr zuzuordnender Solidarstrukturen zielt, lähmt und zerstört ihre eigenen Entfaltungskräfte.“42
IV. Konkretionen des Solidaritätsgedankens 1. Der Sozialstaat und seine Legitimation zwischen Gerechtigkeit und Solidarität Als ein zentraler Bereich der Konkretion des Solidaritätsprinzips und der gesellschaftlichen Praxis der Solidarität ist der Sozialstaat in den Blick zu nehmen. Er wird heute weithin verstanden als institutionalisierte, organisierte, „Systemen übertragene Solidarität.“43 Hier wird in besonderer Weise deutlich, dass Solidarität als Sozialprinzip nicht allein auf bloße Freiwilligkeit setzt, sondern sich auch in entsprechenden rechtlichen Regelungen manifestiert. Die Anfänge der Entwicklung zum Sozialstaat liegen gesamtstaatlich gesehen in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, wobei aber darauf hinzuweisen ist, dass das so entstandene Sozialversicherungssystem in Deutschland zwar von der heute gegebenen theoretischen Fundierung her die Institutionalisierung des Solidaritätsprinzips darstellt, dass aber bei der Einrichtung der verschiedenen Zweige der 40 Karol Wojtyla, Person und Tat. Endgültige Textfassung in Zusammenarbeit mit dem Autor von Anna-Teresa Tymiencka, Freiburg: Herder, 1981, S. 329. 41 Vgl. dazu auch Eckart Pankoke, „Grenzen der Solidarität. Vom Mit-Leid zur SolidarPartnerschaft“, in: Giuseppe Orsi (Fn. 2), S. 95: „Solidarität ist in all diesen Bereichen eben nur über Subsidiarität noch zu ermöglichen.“ (Im Original z. T. kursiv.) 42 Alois Baumgartner / Wilhelm Korff (Fn. 29), S. 240. 43 Hans Braun, „Und wer ist mein Nächster?“. Solidarität als Praxis und Programm, Tübingen: DGVT-Verlag, 2003, S. 75.
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Sozialversicherung „Vorstellung oder Begriff der „Solidarität“ […] keine Rolle [spielten]. Für Bismarck zählte vor allem das realpolitische Argument, eben der sich ändernden gesellschaftlichen Machtlage [durch die Provokation des Sozialismus. Anm. d. Verf.] eine präventive Antwort des Staates entgegenzusetzen.“ 44 Nicht Bismarck, sondern neben der Arbeiterbewegung war es vor allem das Christentum, das mit seinem Bemühen um soziale Gerechtigkeit als Antwort auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts den Begriff der Solidarität und damit der sittlichen Verantwortung für die sozial und wirtschaftlich Schwächeren in die Diskussion einbrachte. Die sozialstaatliche Entwicklung findet ihren Höhepunkt gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch den Ausbau eines äußerst diffizilen und engmaschigen sozialen Netzes in vielen westeuropäischen Demokratien. Allerdings sind diese Systeme mittlerweile eindeutig zumindest an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit geraten. Aber auch, was die ethische (und politische) Rechtfertigung anbelangt, sind hier Grenzen erreicht, die deutlich machen, dass eine Begründung allein auf der Basis der Idee der Solidarität nicht ausreicht, sondern ebenfalls gleichwertig das Prinzip der Subsidiarität tangiert ist. Aber in den mittlerweile verflossenen Zeiten „ungebrochenen Wachstums und übersprudelnder Sozialkassen haftete dieser Botschaft etwas AltmodischSozialromantisches an“ – sah man es doch gerade als Höhepunkt der Entwicklung an, dass der „Wohlfahrtsstaat […] dem einzelnen in historisch ungekanntem Maße lebenslange Vollabsicherung gegen alle nur erdenklichen Risiken [versprach].“ 45 Dass auf diesem Weg intensiv beigetragen wurde zur Schwächung der gesellschaftlichen Solidarbeziehungen, sieht man erst jetzt, nachdem der Zenit überschritten ist und man aufgrund externer Faktoren gezwungen ist, die Situation neu zu überdenken. Mit Recht verweisen vor allen Dingen die liberalen Kritiker des Wohlfahrtsstaates prononciert darauf, dass die Empfänger (staatlicher) sozialer Leistungen gewollt oder ungewollt Eigeninitiative und -verantwortung abbauen und sie durch diese Form der Solidarität in eine sie entmündigende, passive Erwartungshaltung dem Staat gegenüber verfallen. Diese Entwicklung führte nun zu der inzwischen weit verbreiteten Mentalität, in jeder Lebenslage nach „Vater Staat“ zu rufen, den Sozialstaat also zu einem ausufernden Wohlfahrts- oder Fürsorgestaat werden zu lassen, der aber Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen in keiner Weise mehr gerecht wird und auf eine – so schon W. Röpke als einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft – entmündigende und letztlich freiheitsberaubende Wirkung soziale Gerechtigkeit realisiert: „Zusammen mit den gleichzeitigen Bestrebungen, den Massen sowohl das Denken wie die Ausfüllung der Muße abzunehmen, und sie bei gleichzeitigem Verlust elementarer Freiheiten – ja sogar des Bedürfnisses nach solchen Freiheiten – mit allen möglichen Annehmlichkeiten des Zivilisationskomforts Karl H. Metz (Fn. 6), S. 31 f. André Habisch, „Solidarität – aber wie? Überlegungen zum sozialpolitischen Engagement der Kirchen“, in: Die Neue Ordnung 50 (1996), S. 444 – 454. 44 45
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einzulullen, entwürdigen wir den Menschen schließlich zur völlig domestizierten Kreatur, zum schweifwedelnden Haustier. Das Ideal der „komfortablen Stallfütterung“ könnten wir es nennen und damit ungefähr das treffen, was die Alten mit dem Ruf „panem et circenses“ umschrieben.“46 Mit diesem Verweis auf die Freiheit als fundamentaler anthropologischer Größe wird zugleich deutlich, dass es einem solidarisch (und das bedeutet zugleich immer auch subsidiär) verantworteten Sozialstaat nicht einfachhin um eine möglichst weitgehende Rundumversorgung durch den Staat gehen kann, sondern dass seine zentrale Intention in der Sorge um solidarische Ermöglichung die Freiheit des einzelnen und der kleineren gesellschaftlichen Einheiten zur Beteiligung an allen gesellschaftlichen Prozessen besteht: Aufgabe eines so konzipierten Sozialstaates „ist es insofern, die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen und politischen Rahmenbedingungen zu schaffen“47, unter denen sich Freiheit im sozialen Raum als Partizipation an allen sie betreffenden Vorgängen, mithin soziale Gerechtigkeit im Sinne einer Beteiligungsgerechtigkeit realisieren kann. Ein solcher Sozialstaat, untrennbar verknüpft mit der Würde und Freiheit des Menschen, stellt folglich auch nicht ein sekundäres, abgeleitetes Staatsziel dar, sondern steht gleichwertig neben den Staatszielen des Rechtsstaates und des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates. Aus dieser Perspektive scheiden auch Sozialstaatskonzeptionen aus, die ihn allein als Erste-Hilfe-Station zur Notlinderung in einer Art „Überbrückungsfunktion“ sehen. Er ist auch sozialethisch-systematisch nicht als möglichst durch „Wohlstand für alle“ zu überwindende Institution zu verstehen, sondern als bleibender Ausdruck einer Kultur der Solidarität. 2. Soziales Engagement und seine Begründung zwischen Selbsthilfe und Solidarität Über die organisierte Solidarität hinaus spielt für das Gelingen einer subsidiaritäts- und solidaritätsbasierten Marktwirtschafts- und Gesellschaftsordnung die Mesosolidarität, d. h. die „inszenierte Solidarität“48 in Form von Selbsthilfe und sozialem Engagement, eine entscheidende Rolle. Die Selbsthilfe, die sich auf vielen Gebieten etabliert hat, ist wiederum Ausdruck der horizontalen Stoßrichtung der Solidarität und gegenwärtig weit verbreitet. Menschen erfahren in diesem Engagement durchaus, was es bedeutet, sich motiviert durch starke Binnensolidarität, jenseits des eigenen sozialen Nahraums zur Realisierung bestimmter Ziele einzusetzen. Al46 Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 6. Auflage, Bern: Haupt, 1979, S. 267. 47 Armin G. Wildfeuer, „Um der Freiheit willen: Zur legitimationstheoretischen Rekonstruktion eines originären Erziehungs- und Bildungsauftrages des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates“, in: Ursula Nothelle-Wildfeuer/ Norbert Glatzel (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Grafschaft: Vektor-Verlag, 2000, S. 297 – 316, 304. 48 Hans Braun, (Fn. 43), S. 41.
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lerdings sind hier oftmals die weiterreichende Solidarität und die Orientierung am Gemeinwohl nur schwach ausgebildet. Als wohl wichtigste Form dieser Mesosolidarität ist das soziale Engagement in Form des „Ehrenamtes“ bzw. des bürgerschaftlichen Engagements zu nennen. Dabei ist das gegenwärtige Bild dieser Form der Solidaritätsrealisierung ambivalent: Für zahlreiche Aufgabenfelder aus dem traditionellen Bereich des ehrenamtlichen Engagements lassen sich unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen und den klassischen Strukturen des Ehrenamtes keine oder nicht genügend Ehrenamtliche finden. Auf der anderen Seite ist sogar die Rede von einem „noch nicht gehobenen Potential“ im Blick auf das so genannte neue Ehrenamt, das sich in Form, Struktur und Motivation deutlich von den bisherigen Formen unterscheidet, diese aber nicht ganz ersetzen, sondern sie ergänzen kann. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Ehrenamt in seiner gegenwärtigen doppelten Akzentuierung des individuell-personalen Moments einerseits, andererseits aber auch in seiner expliziten Ausrichtung auf das Gemeinwohl, auf gemeinwohlbezogene Werte und gesellschaftliche Interessen, auf Solidarität ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft als Zivilgesellschaft ist. Dort, wo staatliche Institutionen nicht der richtige Ansprechpartner sind, wo zeit- und ortsnahe sowie unkomplizierte Hilfe nötig ist, realisiert sich die Zivilgesellschaft. In ihr nehmen die Bürger und Bürgerinnen eigene Rechte wahr, nehmen aber auch ihre Verantwortung ernst und kommen ihren Pflichten im Blick auf Solidarität und Gemeinwohl nach, die aus dem Ideal einer teilweise religiös, teilweise aber auch säkular verstandenen Humanität resultieren. Damit wird deutlich, dass es, wie am Beginn der Neuzeit, auch jetzt aussieht: einerseits leidet die Gesellschaft sicher an „Solidaritätserschöpfung“ und „Solidaritätsauszehrung“,49 gleichwohl gibt es aber andererseits gerade angesichts der neuzeitlichen und modernen Entwicklungen unbestreitbar die Produktivität hinsichtlich neuer, freiwillig übernommener Solidaritätsformen.
V. Solidarität als konstitutives Prinzip der Moderne War die Leitfrage der vorstehenden Überlegungen die nach Möglichkeit und ggf. Kriterien für einen spezifischen und normativ differenzierten Gebrauch des Begriffs der Solidarität, so hat sich im Durchgang durch die verschiedenen Aspekte ein deutliches Ergebnis herausgestellt: Begriff und Idee der Solidarität im engeren Sinn haben sich erst im Kontext der Entwicklung der Moderne herauskristallisiert, sowohl in Absetzung von dieser, aber auch und entscheidend als deren Konstitutivum. Gerade in dieser zweiten Linie wurde offenkundig, dass sich normative Kriterien für einen spezifischen und präzisen Gebrauch des Begriffs von Solidarität entwickeln 49 Vgl. Heiner Keupp, Eine Gesellschaft der Ichlinge. Zum bürgerschaftlichen Engagement von Heranwachsenden, hrsg. vom sozialpädagogischen Institut im SOS-Kinderdorf e. V., München, 2000, S. 8 f.
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lassen in notwendigem Bezug auf den für die Moderne so prägenden Begriff der Würde des Menschen und des Gemeinwohls. Vor diesem Hintergrund ist die Rede von der Solidarität nicht länger dem Verdacht eines „Totschlagarguments“ bzw. eines nichts sagenden Containerbegriffs ausgesetzt, sondern erhält spezifische Konturen, die diese Idee, vor allem auch als Sozialprinzip, für den gesellschaftlichen und politischen Diskurs der Gegenwart und für die strukturelle Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar machen.
Summary The term of solidarity is actually used very often in nearly every political or societal discussion, but in a theoretical debate it has just a marginal relevance. Therefore, its meaning has to be defined clearly. Although there are phenomena, patterns of behaviour and structures to be found in the antique polity as well as in the Old and New Testaments, which can be called solidarity, one must see that the special term of solidarity has been built in the context of the modern age. On the one hand, solidarity was understood as resistance to the individualism of the modern age, on the other hand, it develops as a constitutive part of the modern age. This latter application becomes more important, especially in the Christian social teaching and ethics by way of the solidarity principle as one of the social principles. This is specified and defined through its reference to the dignity of man and to common welfare. Thus, it became significant for the development of the welfare state as well as for the volunteering. Against this background, the term and idea of solidarity are no longer marginal but constitutive for the order of our society and economics.
Zur moralischen Grammatik der Solidarität und ihrer (begrenzten) Anwendbarkeit auf intergenerationelle Konflikte Markus Vogt Jeder normative Leitbegriff hat seine spezifische „moralische Grammatik“, also eine je eigene Logik von Fragestellungen und Unterscheidungen hinsichtlich der Bewertung von Phänomenen. Die Leistungsfähigkeit der Begriffe hängt wesentlich davon ab, ob sie zu den jeweiligen Untersuchungsgegenständen und Problemstellungen passen. Jeder normative Begriff hat seine spezifischen Grenzen und blinden Flecken, die seinen Gebrauchswert als Werkzeug der Evaluation und Kommunikation einschränken. So untersucht beispielsweise der Gerechtigkeitsdiskurs vorrangig die Rechtfertigungsfähigkeit der Verteilung von Gütern und Rechten und findet im modernen politischen Diskurs besonders in vertragstheoretisch modellierbaren Verhältnissen seine Anwendung.1 Wer nach Verantwortung fragt, will wissen, wer wann für welche Handlungen bzw. deren Folgen einzustehen hat, also moralisch zuständig und rechenschaftspflichtig ist.2 Die Menschenrechte stellen in der Kantschen Tradition den Anspruch der Autonomie und Freiheitssicherung in den Mittelpunkt.3 Nicht zu1 Zu den damit verbundenen Stärken und Grenzen des Diskurses vgl. Kersting, Wolfgang, Kritik der Gleichheit: Über Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist: Velbrück, 2002; Nussbaum, Martha, Die Grenzen der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2010; Honneth, Axel, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2013. 2 Vgl. Vogt, Markus, „Verantworten – im Horizont demografischer Entwicklung“, in: Hoff, Gregor Maria (Hrsg.), Verantworten (Salzburger Hochschulwochen 2012), Innsbruck: Tyrolia, 2012, S. 129 – 180. 3 Zur moralischen Logik der Menschenrechte und ihrer Problematisierung von Seiten verschiedener asiatischer und arabischer Staaten sowie Religionsgemeinschaften vgl. Legutke, Daniel, „Zwischen islamischen Werten und allgemeinen Menschenrechten. Zur Rolle der Organisation für Islamische Zusammenarbeit im UN-Menschenrechtsrat“, in: AmosInternational 2 / 2013 (Menschenrechte interreligiös), S. 26 ff. Man kann allerdings zweifeln, ob die hier angemahnten Grenzen des Menschenrechtsdiskurses tatsächlich Grenzen der Leistungsfähigkeit des Begriffes und seiner bisherigen Verwendung sind. Der Zweifel lässt sich auch als Verweigerung gegenüber dem mit ihm verbundenen Anspruch von Rationalität und „Aufklärung“ deuten. Vgl. dazu Gabriel, Ingeborg, „Naturrecht, Menschenrechte und die theologische Fundierung der Sozialethik“, in: Vogt, Markus (Hrsg.), Theologie der Sozialethik, Freiburg i. Br.: Herder, 2013, S. 229 – 251.
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letzt für eine stärkere Integration religiöser sowie einiger spezifisch kultureller Traditionen wie auch für die breite Anschlussfähigkeit des Menschenrechtsdiskurses ist es bedeutsam, anerkennungstheoretische Elemente zu integrieren.4 Die moralische Grammatik des Solidaritätsbegriffs ergibt sich aus der Suche nach Gründen und Kriterien für die Verpflichtung zu helfen. Seine Grenze und Ergänzungsbedürftigkeit liegt unter anderem darin, dass er häufig weder klar gegen kollektivistische Ansprüche abgegrenzt wird, noch abwägungsfähig auf die Frage komplexer Handlungsfolgen antwortet.5 Von daher macht es durchaus einen Unterschied, ob man nach der Gerechtigkeit, nach der Solidarität oder nach der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen fragt. Der Begriff der Gerechtigkeit ist in der heute üblichen Verwendung im politischen Diskurs meist mit gesellschaftlich anerkannten Regeln und vorpositiven Rechten konnotiert. Der Begriff der Solidarität bezieht sich eher auf einseitige Vorleistungen zugunsten Schwächerer, die im Ethos verankert sind, aber auch strukturell als Risikoausgleich oder soziale Sicherung eingefordert werden. Sein systematischer Anspruch einer umfassenden Konfliktregelung ist gegenüber der Rede von „Gerechtigkeit“ weniger ausgeprägt; der damit verknüpfte inhaltliche Anspruch von Hilfeleistung und die unmittelbare Adressierung an den Einzelnen und die Gruppe der möglichen Akteure dagegen oft prägnanter.6 Die moralische Kategorie „Verantwortung“ wird seit der Prägung des Begriffs „Verantwortungsethik“ durch Max Weber in der Münchner Rede „Politik als Beruf“7 primär vom Einstehen für die Handlungsfolgen her gedacht. Die Fokussierung des Begriffs auf das Entscheidungsverfahren einer konsequentialistischen Abwägung ist im ökologischen Diskurs angesichts der hohen Reichweite und Komplexität der Folgen von technischen Entscheidungen hilfreich und unabdingbar, führt jedoch zugleich auch in prinzipieller Weise zu Überforderungen.8 Trotz der bis heute 4 Vgl. Joas, Hans, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschrechte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2011; Honneth (Fn. 1); Joerden, Jan, „Menschenwürde bei Margalit und Kant“, in: Hilgendorf, Eric (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung. Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 37 – 52. 5 Aus diesem Grund hat es sich in der jüngeren Christlichen Sozialethik eingebürgert, das Solidaritätsprinzip im Zusammenhang mit dem der Subsidiarität zu diskutieren. Zur Logik und Abgrenzung der sogenannten Sozialprinzipien, die häufig als Kern der katholischen Soziallehre gelten, die jedoch kaum aus sich selbst heraus den Anspruch einer systematischen Grundlegung der Ethik tragen können, vgl. Vogt, Markus, Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, 3. Aufl. München: oekom, 2013, S. 456 – 470. 6 Zur Dialektik beider Begriffe vgl. Haker, Hille, „Neue Erwägungen zu Solidarität und Gerechtigkeit“, in: Concilium 50 (2014), S. 7 – 18. 7 Weber, Max, Politik als Beruf, Stuttgart: Reclam, 1993 (Erstveröffentlichung 1919). 8 Hans Jonas antwortet auf diese Problematik mit einer defensiven Auslegung des Verantwortungsbegriffs durch die Entscheidungsregel „Heuristik der Furcht“ (Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung, 5. Aufl. 1984, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 63 f.). Dagegen wird eingewandt, dass dies angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse zu einer Lähmung der Handlungsfähigkeit führe und die Folgen des Nichthandelns nicht hinreichend
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anhaltenden Kontroverse um die Grammatik des Verantwortungsbegriffs hinsichtlich der damit zu verbindenden Entscheidungsregeln in komplexen Zusammenhängen ist er nicht ohne Grund seit dem Epochenwerk Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas der am häufigsten verwendete Begriff für die ethische Diskussion um die Ansprüche einer Zukunftsethik. Seine spezifische Stärke besteht darin, dass er die notwendige Debatte über die Abwägung widerstreitender Interessen und Ansprüche auch in ihrer zeitlichen Dimension angestoßen hat. Aufgrund dieser spezifischen Leistungsfähigkeit und Fokussierung kann der mit ihm verbundene Erkenntnisgewinn nicht vollständig unter der Rubrik „Solidarität mit künftigen Generationen“ abgebildet werden. Dennoch hat der Solidaritätsbegriff in Bezug auf die ethischen Ansprüche des Verhaltens gegenüber künftigen Generationen seine eigene Bedeutsamkeit und Funktion. Man kann sich dem auch ex negativo annähern. So meint etwa Vittorio Hösle, dass das klassische Solidaritätsproblem, das er auf die Verteilung von Gütern bezieht, mit den hiervon ausgehenden ethischen Begrifflichkeiten aus dem 19. Jahrhundert stamme und dort seinen angemessenen Ort habe; heute sei diese Zuspitzung der Debatte jedoch durch die ökologische Frage, deren normative Reflexion neue Begriffe brauche, abgelöst.9 Die Schlussfolgerung von Hösle scheint mir voreilig: Die Verteilungsfrage ist nach wie vor und in dramatischer Weise gerade auch in ökologischen und intergenerationellen Kontexten virulent.10 Sie ist durch die ökologische und intergenerationelle Problemstellung des 21. Jahrhunderts nicht abgelöst, sondern komplex überlagert und in neuer Dringlichkeit zurückgekehrt. Unabhängig von der Frage, ob man die Verteilung von Gütern und Rechten unter der Rubrik „Gerechtigkeit“ oder unter der von „Solidarität“ diskutiert, ist unabweisbar, dass die damit verbundenen Ansprüche sich heute angesichts der Verknappung natürlicher Ressourcen und der Gefährdung von Lebensräumen ganz neu bewähren müssen. Eine Umweltethik, die sich ganz auf naturphilosophische Grundlagenfragen des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur konzentriert (wie dies in der seit den 1970er Jahren anhaltenden Debatte um Anthropo-, Patho-, Bio- und Physiozentrik11 teilweise geschehen ist), verfehlt ihre eigenen von der Sache her gegebenen Aufgaben. Sie sollte auch die konkurrierenden Ansprüche von Menschen hinsichtlich der Nutzung der Ressourcen reflektieren und sich damit als Teil der Politischen Ethik verstehen.12 Dabei kann die Tradition des Solidaritätsbegriffs hinsichtin die Rechnung mit einbeziehe; vgl. dazu Hasted, Heiner, Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991 sowie Vogt (Fn. 5), S. 389 f. 9 Vgl. Hösle, Vittorio, „Zeiten des Übergangs: Die grüne Lehre: Die Politik muss soziale Gerechtigkeit der Nachhaltigkeit unterordnen“, in: Süddeutsche Zeitung, 16. 04. 2011. 10 Vgl. Eser, Uta, „Umweltethik und Politische Ethik. Natur als Gegenstand von Interessenkonflikten“, in: Maring, Matthias (Hrsg.), Bereichsethiken im Dialog, Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 2014, S. 221 – 238. 11 Vgl. zu dieser Debatte Vogt (Fn. 5), S. 216 – 262. 12 So Eser (Fn. 10).
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lich der Regeln und Grundhaltungen für eine Rücksichtnahme auf Schwächere und künftige Generationen sowie der Regeln für Kooperation Wesentliches beitragen. Eine Entfaltung des Solidaritätsbegriffs im Kontext ökologischer und intergenerationeller Konflikte hilft, die Umweltethik aus ihrer Isolierung als bereichsspezifische Sonderethik herauszuholen und in die Tradition der Politischen Ethik einzubinden. Aus dem hier skizzierten Umriss der Forschungsthese sowie der damit verknüpften Fragestellung ergibt sich die Gliederung der folgenden Ausführungen: (1) Zunächst soll der Begriff der Solidarität charakterisiert werden, wobei ich mich angesichts der Weite der Debatte auf den Übergang des französischen Solidarismus zur Christlichen Sozialethik konzentriere. (2) Der zweite Abschnitt fokussiert die Herausforderungen intergenerationeller Solidarität im Klimaschutz, wobei Aspekte der globalen Armutsbekämpfung in der Gegenwart systematisch einbezogen werden, weil gerade in der Verknüpfung beider Dimensionen von entgrenzter Solidarität ein entscheidender Konflikt besteht.
I. Die Grammatik der Solidarität 1. Zur Begriffsgeschichte: Abgrenzung gegen den Almosenstaat Das Wort „Solidarität“ leitet sich von lat. solidus, dicht, fest, solide ab.13 Im französischen Sprachgebrauch haben die Begriffe „solidarité“ und „solidité“ im 17. und 18. Jahrhundert die Bedeutung einer gemeinschaftlichen Zusammengehörigkeit und Übereinstimmung erhalten. Oft werden damit auch praktische und psychologische Aspekte verbunden, wie zum Beispiel „Sich-Zusammenschließen“, „Sich-Verbünden“, „Füreinander-Eintreten“, „Gemeinschaftsgefühl“ und „Gemeinsinn“. Neben dieser allgemeinen Bedeutung bezeichnen die Begriffe „solidarité“ und „solidité“ auch die Haftungspflicht jedes Einzelnen für die Gesamtschuld einer Gruppe sowie der Gruppe für den Einzelnen („Alle für einen, einer für alle!“). Diese Konzeption einer Solidarhaftung entspricht der römischen Rechtsfigur „obligatio in solidum“. Sie zielt primär auf Hilfeleistung in Notfällen. Diese spezielle, juristisch-normative Bedeutung des Solidaritätskonzeptes hat wesentlich zur Entwicklung des Versicherungsgedankens beigetragen und in diesem Rahmen die europäische Sozialgeschichte wesentlich mitgeprägt. In seiner allgemeinen, vorwiegend deskriptiven Bedeutung ist der Begriff „solidarité“ vor allem im Rahmen der Anfänge soziologischer Theoriebildung wirksam 13 Vgl. zu den Ausführungen in diesem Abschnitt: Wildt, Andreas, „Solidarität als Strukturbegriff politisch-sozialer Gerechtigkeit“, in: JCSW 48, 2007, S. 39 – 60; Fiegle, Thomas, Von der Solidarité zur Solidarität. Ein französisch-deutscher Begriffstransfer, Münster: LIT, 2003; Hübenthal, Christoph, „Solidarität – Historische Erkundung und systematische Entfaltung“, in: Mieth, Dietmar (Hrsg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart: Kohlhammer, 2009, S. 62 – 89.
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geworden und hat dort einen analytischen Zugang zu Phänomenen der Kooperation und Hilfeleistung angeregt. Zum Grundbegriff einer anthropologisch fundierten Moral wird „solidarité“ insbesondere bei Pierre Leroux (1797 – 1871). Für diesen ist Solidarität die wahrhafte Nächstenliebe („la véritable charité“). Während die christliche Nächstenliebe eine extrinsisch durch den Gottesbezug motivierte Pflicht meine, sei die Solidarität eine direkte, wechselseitige und emotionale Beziehung zwischen Menschen, die angeboren und damit anthropologisch grundgelegt sei und spontan in Erscheinung trete.14 In der philosophisch-politischen Debatte werden aus den soziologischen „Gesetzlichkeiten“ der Solidarität sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen abgeleitet, entweder kollektive Pflichten wechselseitiger Hilfe, die man als „frühsozialistisch“ bezeichnen kann, oder liberale Konzeptionen, die um der spontanen Wirksamkeit von Solidaritätsimpulsen willen gerade auf staatlich-strukturelle Solidarsysteme verzichten wollen.15 In der marxistisch geprägten Arbeiterbewegung bezeichnet „Solidarität“ eine durch die objektiven Verhältnisse geprägte Moral des politischen Kampfes.16 In einem auffallenden Kontrast zu seiner grundlegenden Skepsis gegenüber jeglicher Moral betont Engels, dass die Solidarität „Verpflichtungen“ auferlege. So mutiert „Solidarität“ zum Handlungs- und Kampfbegriff der marxistischen und marxistisch beeinflussten Arbeiterbewegung. Zugleich wird Solidarität zum zentralen Merkmal der angestrebten Gesellschaft: „Der Begriff der allgemein menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus.“17 Solidarität wird zur Begründung und Motivation eines Kampfes für soziale Gleichheit, die vorwiegend auf Besitzverhältnisse bezogen und in hohem Maße idealisiert wird. Unter dem Einfluss französischer Philosophen, Soziologen und Ökonomen wurde der Solidaritätsbegriff schließlich im bürgerlichen Solidarismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur zentralen Begründungsfigur des Sozialstaats und ging in dieser Bedeutungsvariante in die katholische Soziallehre ein.18 Vor allem die solidaristischen Konzeptionen der Jesuiten Pesch, Gundlach und Nell-Breuning prägten 14 Vgl. Leroux, Pierre Henri, De l’Humanité, de son principe, et de son avenier, Paris: Perrotin, 1840, S. 164 – 171. 15 Vgl. Vogt, Markus, Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologischethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg i. Br.: Herder, 1997, S. 143 – 191 (am Beispiel der evolutionstheoretisch ansetzenden Soziologie, Gesellschaftstheorie und Ethik von Herbert Spencer). 16 Vgl. zum Folgenden Wildt, Andreas, Solidarität und soziale Gerechtigkeit (unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags beim Werkstattgespräch Christliche Sozialethik im Januar 2006 in Berlin). 17 Liebknecht, Wilhelm, „Zu Trutz und Schutz“ (1871), in: Ders., Kleine politische Schriften, hg. v. Wolfgang Schröder, Leipzig: Reclam, 1976, 84 – 132. 18 Vgl. Große Kracht, Herrmann-Josef/ Spieß, Christian (Hrsg.), Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2008.
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die Entwicklung der katholischen Soziallehre. Unter dem Einfluss der päpstlichen Rundschreiben und flankiert durch katholische Sozialreformer, Theologen und Philosophen wurde der Begriff der Solidarität weltweit rezipiert und weiterentwickelt. Vor allem über den Weg einer sozialpolitischen Interpretation hat er in Deutschland wesentlich zur Konzeption der sozialen Marktwirtschaft und damit der Institutionen des Sozialstaates beigetragen. Solidarität hat sich parteiübergreifend zu einem Basisbegriff der moralisch-politischen Kommunikation mit hoher Appellqualität entwickelt. Dadurch ist jedoch der deskriptiv-wissenschaftliche Bestandteil des älteren Solidaritätsbegriffs ganz in den Hintergrund getreten. Das gilt auch für die philosophische Rezeption etwa bei Max Scheler, Nikolai Hartmann, Karl Jaspers und Jürgen Habermas.19 Aus der Begriffsgeschichte ergeben sich vor allem drei Merkmale der moralischen Grammatik der Solidarität:20 (1) Für den Solidaritätsbegriff ist der Anspruch kennzeichnend, normative und deskriptive Elemente zu verknüpfen. (2) „Solidarität“ hat eine kämpferische Komponente, die zu einem gemeinschaftlichen Bündnis gegen soziale Ungleichheit motiviert. (3) Solidarität zielt auf Risikoausgleich und die Garantie einer auch strukturell verankerten Grundsicherung. 2. Zur christlichen Begründung von Solidarität Die solidarische Zuwendung zum Schwachen und Bedürftigen findet in der biblischen Tradition ihre stärkste Begründung. Christliche Ethik ist darauf angelegt, die Hilflosen zu verteidigen, den Stummen die eigene Stimme zu leihen und den Ärmsten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Solidarität im christlichen Sinne meint das Füreinander-Einstehen im Aufbegehren gegen Bedingungen, die der Entfaltung des Humanen entgegenstehen.21 Durch die Option für die Armen erhält das Verständnis von Solidarität im christlichen Kontext eine ganz eigene Zuspitzung. Sie ist in der Bibel nicht nur ein moralischer Imperativ, sondern zugleich Ausdruck einer Gotteserfahrung:22 Immer wieder erwählt Gott ausgerechnet die Schwachen, Kleinen, Vergessenen und am Rande Stehenden als Träger seiner Botschaft. Die Armentheologie gehört zu den prägenden Traditionssträngen biblischer Überlieferung. Solidarität mit den Armen gilt als Praxis des christlichen Glaubens. Durch vielfältige Äußerungen und Symbolhandlungen hat Solidarität im Anspruch einer Theologie der Armut unter Papst Franziskus neue Aktualität für die Kirche erlangt. Vgl. Wildt (Fn. 16), 2. Vgl. ebd., 6. 21 Vgl. Baumgartner, Alois/ Korff, Wilhelm, „Sozialprinzipien als ethische Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft: Personalität, Solidarität, Subsidiarität“, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. I, 2. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 225 – 237. 22 Vgl. Vogt, Markus, „Die Stärke der Schwachen. Vorstudien zu einem sozialethischen Programm“, in: MThZ 1 / 2009, S. 2 – 17. 19 20
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Das Wort ‚Solidarität‘ stammt nicht aus der christlichen Tradition, wurde jedoch über den Weg des neukantianischen Solidarismus sowie über den Personalismus von Johannes Paul II. auf eigene Weise gedeutet und zum zentralen Leitbegriff der katholischen Soziallehre ausgestaltet.23 Erst Johannes Paul II. hat ihn explizit in den Mittelpunkt seiner Sozialverkündigung gestellt und den Aspekt der „Globalisierung der Solidarität“ als grundlegende Aufgabe für Armutsüberwindung betont. Mit der Übernahme des Begriffs „Strukturen der Sünde“ hat er einen strukturethischen Akzent im christlichen Verständnis von Solidarität gesetzt.24 Solidarität im christlichen Sinn bedeutet demnach: gemeinsam die Strukturen der Sünde überwinden.25 Das bis heute längst nicht ausgeschöpfte ethische Innovationspotential des Solidaritätsbegriffs für die christliche Sozialethik besteht darin, dass er eine rechtsfähige, über privat-karitative Perspektiven hinausgehende mitmenschliche Verbundenheit und Verpflichtung formuliert.26 Gerade im Kontext des wohlsituierten Kulturchristentums gibt es immer wieder den Rückfall in ein halbiertes Verständnis von Solidarität im Sinne einer paternalistisch-fürsorglichen und mildtätig-helfenden Pro-Solidarität (z. B. Mildtätigkeitsveranstaltungen, die als Solidaritätsaktionen ausgegeben werden), ohne dabei zugleich das reziprok-emanzipative Element der Con-Solidarität, die wechselseitige Hilfe auf gleicher Augenhöhe meint, mit zu denken.27 Insofern Solidarität als Strukturprinzip nicht nur auf punktuelle Assistenz drängt, sondern auf eine „nachhaltige Änderung der Notlagen“ sowie eine „Korrektur struktureller Defizite“28, ist sie heute durch globale Probleme wie z. B. Klimawandel, Hungerbekämpfung oder Finanzkrise mit einer neuen Qualitätsstufe von Komplexität konfrontiert. 23 Ganz ungebrochen ist diese christliche Adaption freilich bis heute nicht: So bevorzugt beispielsweise Papst Benedikt in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate den Begriff der „Brüderlichkeit“ und grenzt ihn explizit gegen den der Solidarität ab; vgl. Benedikt XVI., „Caritas in veritate“ (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 186), Bonn, 2009, Nr. 13 (dort sind in der offiziellen Übersetzung die beiden Begriffe „Brüderlichkeit“ und „Solidarität“ parallel gebraucht; bei der Erstellung der deutschen Übersetzung wurde lange darum gerungen). Hinter dem Sprachproblem steht ein Misstrauen gegen Konnotationen des Begriffs von seiner Prägung in der französischen Revolution sowie im Sozialismus. 24 Die Enzyklika spricht auch von „strukturgewordener Sünde“; Johannes Paul II, „Sollicitudo rei socialis, Enzyklika über die Sorge der Kirche“ (1987), in: KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre, 9. Aufl. Bornheim: Ketteler-Verlag, 2007, Nr. 121. 25 Vgl. Hainz, Michael, „Solidarität heißt: Strukturen der Sünde gemeinsam überwinden. Zur Aktualität der Sozialenzyklika ‚Sollicitudo rei socialis‘“, in: Institut für Gesellschaftspolitik (Hrsg.): Newsletter August 2013, S. 1 – 7. 26 Vgl. dazu und zum folgenden Gedanken umfassend Große Kracht / Spieß (Fn. 18). 27 Vgl. für die Begriffe Mieth, Dietmar, Moral und Erfahrung, Bd. II: Entfaltung einer theologisch-ethischen Hermeneutik (Studien zur theologischen Ethik 76), Fribourg: Universitätsverlag, Freiburg i. Br. / Wien: Herder, 1998. 28 Baumgartner, Alois, „Solidarität“, in: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.), Christliche Sozialethik: Ein Lehrbuch. Bd. I, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2004, S. 287; vgl. ebd., S. 291.
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Vor diesem Hintergrund wird der christliche Solidaritätsbegriff zu einem kritischen Maßstab zur Beurteilung der gegenwärtigen Weltwirtschaft, die Papst Franziskus als „Wirtschaft der Ausschließung“ und der extremen Ungleichheit kennzeichnet.29 Der protestantische Theologe Wilhelm Graf hat schon zu Beginn des Pontifikates von Franziskus kritisiert, dass dieser „nur Barmherzigkeit“ für die Armen, also mitleidsinduzierte Pro-Solidarität, nicht jedoch ein strukturell und anreizethisch wirksames Modell der Armutsüberwindung zu bieten habe.30 Der im Vergleich zur Katholischen Kirche seit Jahren sehr viel größere Zuspruch zu den protestantisch-evangelikalen Kreisen in Lateinamerika hänge damit zusammen, dass diese statt einer paternalistischen Solidaritätsethik auf Bildung, Disziplin und Steigerung der Leistungsfähigkeit setzten. Sieht man von der polemischen Zuspitzung sowie der unterschlagenen Problematik mancher ideologischen Verengung und Fremdfinanzierung bei den evangelikalen Kirchen in Lateinamerika ab, ist der Grundgedanke durchaus anregend: Solidarität braucht eine ausgewogene Mischung und Zuordnung von Elementen der Pround Con-Solidarität, der „innerweltlichen Disziplinierung“ im klassisch Weberschen und calvinistischen Sinn sowie zugleich einer strukturellen Verankerung durch entsprechende rechtliche Regelungen. Die Entstehung des Sozialstaates in Deutschland und Europa verdankt sich genau dieser Mischung in einer produktiven Konkurrenz der unterschiedlichen Ansätze von Katholizismus, Protestantismus und Calvinismus.31 Auch intergenerationelle Solidarität braucht eine produktive Mischung von Elementen der Fürsorge, der Kooperation, des Wettbewerbs und der rechtlich verankerten Pflicht. 3. Solidarität und Subsidiarität Der entscheidende Streit um die Interpretation von Solidarität ist heute die Frage ihrer Zuordnung zur Subsidiarität. Diese muss so ausgestaltet werden, dass sich die beiden Prinzipien nicht wechselseitig neutralisieren, sondern einander vertiefen und stützen. Deshalb zunächst zum Begriff der Subsidiarität: Das Subsidiaritätsprinzip hat seine tiefste Begründung im christlichen Menschenbild, das den Menschen nicht als Kollektivwesen auffasst, sondern als ein Wesen, das – trotz ständiger Verfehlungen und Verstrickungen in Schuld – eigenverantwortlich handeln will und kann. Es 29 Vgl. Franziskus, „Evangelii Gaudium: Apostolisches Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“ (Verlautbarungen des Heiligen Stuhls 194), Bonn 2013, Nr. 53 f. 30 Vgl. Graf, Wilhelm F.: „Für die Armen gibt’s nur Barmherzigkeit. Die katholische Kirche hat die Menschen in Lateinamerika nicht aus der Armut befreit. Die Pfingstkirchen dagegen bringen ihnen den Aufstieg in den Mittelstand. Und sie sind erfolgreich, in: FAS vom 24. 3. 2013. 31 Vgl. Vogt, Markus, „Konfessionelle Wurzeln des Sozialstaates. Der Beitrag des Sozialkatholizismus“, in: Spieker, Michael (Hrsg.), Der Sozialstaat. Fundamente und Reformdiskurse, Baden-Baden: Nomos, 2012, S. 87 – 107.
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widerspricht der Würde des Menschen, ihn mehr als notwendig zu bevormunden. Alle Gesetze und alle soziale Hilfe sollen auf die Ermöglichung und Stützung von Eigenverantwortung ausgerichtet sein. Subsidiarität antwortet nicht auf Zielfragen moderner Gesellschaft (diesbezüglich erbringt sie wenig Neues gegenüber Personalität und Solidarität), sondern auf Steuerungsprobleme.32 Entscheidende Probleme der gesellschaftlichen Ordnung sind heute nicht Folgen eines mangelnden Konsenses hinsichtlich der Ziele, sondern der Durchsetzung der Ziele in den nicht hierarchisch organisierten und zunehmend komplexen Strukturen der Weltgesellschaft. Deshalb haben „wir es bei der krisenhaften Entwicklung der technischen und wissenschaftlichen Zivilisation nicht mit Zielkrisen zu tun, also nicht mit dem Übergang zu neuen Wertorientierungen, sondern mit Steuerungskrisen“33. Der ethische Anspruch der Subsidiarität kann nicht alleine auf der Ebene der systemischen Optimierung abgegolten werden. Ziel ist, dass Individuen und gesellschaftliche Gruppen in höherem Maße Subjekte selbstbestimmter Steuerung werden. So knüpft sich ein enger Zusammenhang zwischen Subsidiarität und der seit längerem geführten Diskussion zur civil society oder Bürgergesellschaft. Die notwendige Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung gelingt nur, wenn das Sozialstaats- bzw. Hilfsgebot über soziale Anspruchsrechte hinaus auch im Sinne aktiver Teilhabe- und Beteiligungsrechte interpretiert wird. Solidarität muss daher subsidiär organisiert und wahrgenommen werden. Im Anspruch des christlichen Menschenbildes unterscheidet sie sich von einer Kollektivierung der Haftung. Subsidiäre Solidarität ist auf die Ermöglichung von individueller Gestaltungskompetenz angelegt, als Hilfe zur Selbsthilfe, nicht als paternalistische Bevormundung. Nach dem Prinzip „global denken – lokal handeln“ schließen sich regionales Handeln und globale Solidarität nicht gegenseitig aus, sondern können sich wechselseitig stützen. Denn die Stärkung von Solidarität auf der Mikroebene durch zivilgesellschaftliche Kompetenzen und Förderung kommunaler Selbstverwaltungen kann in vielen Bereichen eine wichtige Voraussetzung zur Ermöglichung von internationalen gesellschaftlichen Netzwerken sein. Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips setzt das Streben nach Sicherung globaler und intergenerationeller Solidarität nicht auf eine Weltregierung, sondern auf Handlungsfähigkeit durch die Koordination unterschiedlicher Akteure in der Weltbürgergesellschaft. Das Konzept Global Governance34 nimmt dafür Staat, Unter32 Vgl. Wilhelms, Günther, „Subsidiarität im Kontext der ausdifferenzierten Gesellschaft“, in: Baumgartner, Alois / Putz, Gertraud (Hrsg.), Sozialprinzipien. Leitideen in einer sich wandelnden Welt, Innsbruck: Tyrolia, 2001, S. 131 – 137. 33 Ebd., S. 132 (bezogen auf Ausführungen von Herrmann Lübbe). 34 Vgl. Nuscheler, Franz, „Globale Herausforderungen am Ende des 20. Jahrhunderts“, in: Brieskorn, Norbert (Hrsg.), Globale Solidarität – die verschiedenen Kulturen und die eine Welt, Stuttgart: Kohlhammer, 1997, S. 1 – 23; Vogt, Markus, Globale Nachbarschaft. Christliche Sozialethik vor neuen Herausforderung, München: Don Bosco 2000, S. 28 – 36.
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nehmen und Zivilgesellschaft als die drei entscheidenden Akteursgruppen in den Blick und versteht neue Formen ihrer Kooperation als notwendige Voraussetzung dafür, dass eine verantwortliche und solidarische Steuerung der Globalisierungsprozesse überhaupt gelingen kann. Gerade angesichts des substantiellen Mangels an Institutionen für langfristige Daseinsfürsorge ist eine Flankierung der Solidarität durch das Subsidaritätsprinzip entscheidend, um den Sackgassen einer Staatsfixierung zu entkommen. Die Staaten sind jedoch sehr wohl in der Pflicht, stärker zur Ermöglichung von Initiativen der Daseinsvorsorge beizutragen, nicht zuletzt durch einen rechtlichen Schutz entsprechender Initiativen vor Ausbeutung. Das Recht, das eine Ordnung des Misstrauens ist,35 kann nicht alles regeln und ist subsidiär auf zivilgesellschaftliche Eigeninitiativen angewiesen, gerade auch im Bereich der intergenerationellen Zukunftsvorsorge, die in vielen Bereichen weder berechenbar noch erzwingbar ist. Dennoch bleibt auch hier die Logik des Rechtes, die auf höhere Verbindlichkeit zielt, unverzichtbar. Das Recht sollte jedoch auf Anschlussfähigkeit an kulturelle Ressourcen achten, um diese unter Freiheitsbedingungen für seine Ziele zu aktivieren.36 4. Intergenerationelle Solidarität Seit Ende der 1970er-Jahre nimmt in den Industrienationen das Vertrauen in die Zukunft deutlich ab. Deshalb ist der Anspruch der Solidarität bzw. Gerechtigkeit oder Verantwortung für künftige Generationen zu einer zentralen Forderung geworden.37 Die Einlösung des Anspruchs intergenerationeller Gerechtigkeit ist heute vor allem durch den beschleunigten Verbrauch natürlicher Ressourcen, durch die stark wachsende Verschmutzung der Umwelt sowie in besonderem Maße durch die Klimaveränderung gefährdet.38 Deshalb ist die Sicherung der Funktionstüchtigkeit der Biosphäre heute eine der wichtigsten Sozialleistungen für die Zukunft. Die Entscheidung für intergenerationelle Gerechtigkeit erfordert eine Kurskorrektur der gesellschaftlichen Entwicklung. Denn auf Dauer macht das heutige Wohlstandsmodell der Industriegesellschaften große Teile der Erde unbewohnbar. Nötig ist daher eine umfassend ausgerichtete Zukunftsethik für die technologische Zivilisation.39 35 Vgl. Korff, Wilhelm, „Recht und Ethik“, in: Albrecht, Hans-Jörg u. a. (Hrsg.), Wechselwirkungen. Beiträge zum 65. Geburtstag von Albin Eser, Freiburg i. Br.: Edition iuscrim, 2001, S. 27 – 41. 36 Vgl. Joerden, Jan, Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, Berlin: Springer, 2010. 37 Vgl. exemplarisch für die Fülle an Literatur: Jonas 1979; Birnbacher, Dieter/ Brudermüller, Gerd (Hrsg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2001; Veith, Werner, Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung, Stuttgart: Kohlhammer, 2006; Meyer, Lukas / Gosseries, Axel, Intergenerational Justice, London: Oxford University Press, 2012. 38 Vgl. Vogt (Fn. 5), S. 406 – 426. 39 Ein früher und wegweisender Entwurf: Jonas 1979, bes. S. 35 – 102.
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Das Postulat intergenerationeller Solidarität stellt die Ethik vor eine Reihe methodischer Schwierigkeiten, weil sich Zukunft nicht ausrechnen lässt. Insbesondere sind die Bedürfnisse und Kenntnisse künftiger Menschen nur unvollständig bekannt. Deshalb hilft die Idee einer Gleichverteilung der Ressourcen zwischen den Generationen in vielen Bereichen nicht weiter. Zielgröße sollte vielmehr sein, den Nachkommen eine Welt zu hinterlassen, die ihnen genügend Freiheitsräume und Mittel bietet, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Da Gerechtigkeit in der Weltbürgergesellschaft gegenwärtig vorwiegend als moralische Verpflichtung zur Ausbreitung des westlichen Wohlstandsmodells verstanden wird und dieses in der gegenwärtigen Form nicht mit den ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten Erde vereinbar ist,40 ergibt sich eine fundamentale Spannung zwischen globaler Gerechtigkeit und intergenerationeller Solidarität.
II. Aspekte der Solidarität im Klimaschutz 1. Zur Analyse der moralischen Herausforderung Die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen ist heute eine der fundamentalsten Solidarleistungen für die Zukunft und zugleich ein unverzichtbares Element der Armutsbekämpfung.41 Insbesondere der Klimawandel, der existentielle Menschenrechte von mehreren hundert Millionen Menschen gefährdet,42 ist heute ein vorrangiger Brennpunkt intergenerationeller Solidarität.43 Langfristig und global ist die Sicherung menschenwürdiger Existenz heute nicht ohne Maßnahmen zur Minderung des Klimawandels (mitigation) sowie zur Anpassung an seine Folgen (adaptation) möglich. „Der Klimawandel stellt gegenwärtig die wohl umfassendste Gefährdung der Lebensgrundlagen der heutigen und der kommenden Generationen sowie der außermenschlichen Natur dar“44.
40 Vgl. dazu Haber, Wolfgang, „Ökologie: eine Wissenschaft unbequemer Wahrheiten – auch für die Ethik“, in: Vogt, Markus/ Ostheimer, Jochen / Uekötter, Frank (Hrsg.), Wo steht die Umweltethik? Argumentationsmuster im Wandel, Marburg: Metropolis, 2013, S. 325 – 343, 331 – 341. 41 Vgl. zum Folgenden Vogt (Fn. 5), S. 44 – 49, 427 – 441. 42 Vgl. United Nations Development Programme, Human Development Report 2007 / 2008. Fighting climate change: Human solidarity in a divided world, New York 2007. Zum aktuellen Stand der Klimaforschung vgl. den IPCC-Bericht von 2014 (www.de-ipcc.de/de/200. php). 43 Vgl. Die deutschen Bischöfe / Kommission für gesellschaftliche und Soziale Fragen / Kommission Weltkirche, Der Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit (Kommissionstexte 29), 2. Aufl. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2007, Nr. 12 – 31; zu Konsequenzen für die Energiepolitik vgl. Die deutschen Bischöfe, Der Schöpfung verpflichtet – Anregungen für einen nachhaltigen Umgang mit Energie (Arbeitshilfen 245), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2011. 44 Die deutschen Bischöfe (Fn. 43), Nr. 1.
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Insofern der Klimawandel im Wesentlichen durch Menschen verursacht (anthropogen) ist,45 ist er ethisch betrachtet nicht eine Frage des Schicksals, sondern des Risikos und damit der Gerechtigkeit. Der exzessive Verbrauch fossiler Energien in den Industrieländern ist eine „ökologische Aggression“, die Millionen von Menschen in Entwicklungsländern existentieller Lebenschancen beraubt und als neue Form des Kolonialismus (diesmal anonym über Atmosphärengase) eingestuft werden kann.46 Gerechtigkeit ist im 21. Jahrhundert nicht ohne Klimaschutz und Klimaschutz nicht ohne Gerechtigkeit zu realisieren. Da der Gerechtigkeitsbegriff diese fundamentalen moralischen Zusammenhänge deutlicher ausdrückt als „Solidarität“, dominiert er die ethischen Debatten um den Klimawandel. Da das Klima ein kollektives Gut ist, dessen Schädigung alle gemeinsam trifft und dessen Nutzen sich kaum individualisieren lässt, sind Investitionen für Klimaschutz leicht ausbeutbar. Daher braucht es eine spezifische institutionelle Absicherung von Klimaschutz. Notwendig wäre ein neuer globaler Gesellschaftsvertrag für nachhaltigen Klimaschutz („global deal“) sowie die Gründung einer eigenständigen, mit Sanktionsmacht ausgestatteten Organisation für Umweltfragen innerhalb der UNO. Da vertragliche Regelungen, die Recht und Gerechtigkeit für alle auf globaler Ebenen in diesem Feld auch nur ansatzweise zu erzwingen vermögen, jedoch in absehbarer Zeit nicht in Sicht scheinen, sind individuelle und gruppenbezogenen Vorleistungen der Solidarität für die Leidtragenden des Klimawandels unverzichtbar. Auf der Rückseite enttäuschter Gerechtigkeitspostulate gewinnt der Solidaritätsbegriff gegenwärtig eine neue Resonanz in der Klimadebatte. Dabei sind unterschiedliche Aspekte von Solidarität mit je eigenen Chancen und Problemen der Durchsetzung zu unterscheiden. Die Besonderheit der Solidaritätsprobleme, die sich mit dem Klimawandel stellen, liegt in dem großen Abstand zwischen Verursachern und Leidtragenden: – Unsere heutige Lebens- und Wirtschaftsweise, die zu Klimaänderungen führt, ist eine Hypothek auf die Zukunft und wird vor allem die kommenden Generationen belasten. – Die armen Länder des Südens können sich den Veränderungen weit weniger anpassen und sind so auf die Hilfe der Industriestaaten angewiesen. Diese sind jedoch vergleichsweise wenig zu vorsorgendem Klimaschutz motiviert, weil der Klimawandel bei ihnen später und geringer spürbar wird. – Der Klimawandel beeinträchtigt in grundlegender Weise die Lebensräume von Fauna und Flora und berührt damit das Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
45 Vgl. die Kernbotschaften zum fünften Sachstandsbericht des IPCC, in: http://www. bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/ipcc_sachstandsbericht_5_ teil_1_bf.pdf, [zuletzt aufgerufen am 17. 06. 2014]. 46 So Töpfer, Klaus, „Globaler Umweltschutz und Armutsbekämpfung“, in: zur debatte 7 / 2003, S. 13 f.
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Aufgrund dieser Signatur ist der Klimawandel ein exemplarisches Feld neuer Dimensionen von Solidarität im 21. Jahrhundert. Er fordert seine zeitliche und räumliche Entgrenzung, was nur dann nicht in eine Überforderung und Verflachung mündet, wenn es zugleich gelingt, die damit verbundenen Ansprüche und Pflichten verbindlich zu präzisieren, akteursspezifisch einzugrenzen, freiheitlich zu pluralisieren und strukturell zu verankern. Da der Begriff der Solidarität jedoch nur einen Teil der normativen Konflikte tiefenscharf abbilden kann, müssen die jeweiligen Anschlussstellen zu den Debatten um Gerechtigkeit, (Schöpfungs)Verantwortung und Wohlstandssicherung stets mit bedacht werden. Nur so kann der Begriff vor einer Überfrachtung, die ihn auf Dauer ausfranzt und unbrauchbar macht, bewahrt werden. 2. Konkurrierende Aspekte von Solidarität Die Solidaritätsprobleme des Klimawandels betreffen ganz unterschiedliche Problemebenen: Langfristige Solidarität äußert sich in Maßnahmen der Vermeidung durch Abkehr von der fossilen Energieversorgung; mittelfristig stehen Maßnahmen der Anpassung und Milderung im Vordergrund (z. B. Wasserversorgung, Umsiedlungen, ökologische und agrarpolitische Anpassungen etc.); kurzfristige Solidarität (nachsorgende Hilfe bei Katastrophen) lässt sich mit Hilfe medial erzeugten Mitleids am ehesten organisieren; insofern die Armen besonders leiden, ist fürsorgliche Pro-Solidarität gefragt. Insofern alle betroffen sind, ist Klimaschutz eine Frage der kooperativen Con-Solidarität. Der durch den Klimawandel ausgelöste Kooperationsdruck liegt quer zu bestehenden Gemeinschaften und fordert exemplarisch, sich auf ferne Not einzulassen. „Diese Art von Solidarität setzt Selbstüberwindung und Selbstüberschreitung voraus.“47 Insofern die Potentiale der Solidarität im Alltag meist verborgen bleiben und sich erst durch den Druck und Anlass einer akuten Bedrohung entfalten, ist der Klimawandel eine Chance global-menschheitlicher und intergenerationeller Horizonterweiterung von Solidarität. Vorsorgender Klimaschutz setzt eine Entwicklung des Völkerrechts vom Koexistenzrecht zum Kooperationsrecht voraus.48 Nur durch eine solche Transformation des Rechts kann es gelingen, die vereinzelten Initiativen solidarischer Nothilfe und Kooperation strukturell zu verankern. Die entscheidende ethisch-politische Herausforderung besteht darin, die moralischen, politischen und wirtschaftlichen Ressourcen solidarischen Handelns über nachsorgende Katastrophenhilfen hinaus für vorsorgenden Klimaschutz und innovative Energietechnik zu aktivieren. Dies erfordert vor allem eine Stärkung globaler Steuerungsinstitutionen. Die ethische Bewältigung
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Baumgartner (Fn. 28), S. 284. Vgl. Epiney, Astrid, „Gerechtigkeit im Umweltvölkerrecht“, in: APuZ 24 / 2007, S. 31 –
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des Klimawandels ist auf einen institutionellen Wandel in Richtung „Global Governance“ mit neuen strategischen Bündnissen zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft angewiesen. Solidarität im Klimawandel braucht institutionelle Innovationen, um auf Dauer ausgelegt und zu einem Impulsgeber für Strukturen globaler und intergenerationeller Gerechtigkeit zu werden. 3. Option für die Armen und ein neues Verständnis von Entwicklung Für die Kirchen ist die Solidarität mit den Opfern des Klimawandels wesentlicher Ausgangspunkt ihres Engagements. Die vorrangige Option für die Armen lenkt in diesem Kontext den Blick besonders auf die Klimaflüchtlinge, die in Zukunft einen immer größeren Teil der Ärmsten dieser Erde ausmachen werden. Darüber hinaus ändert sich angesichts der Klimafrage der Begriff von Entwicklung: Die reichen Nationen des Nordens, die den weitaus größten Teil der klimarelevanten Treibhausgase emittieren, werden ihrerseits zu „Entwicklungsländern“: Sie selbst müssen sich grundlegend ändern, wenn sie Teil einer zukunftsfähigen Zivilisation sein wollen. Eine der wichtigsten und schwierigsten Solidaritätsleistungen der reichen Industrienationen gegenüber künftigen Generationen ist, dass sie ihre Energieversorgung radikal umstellen und zu ökologisch angemessenen Maßen in Wirtschaft und Konsum zurückkehren. Dies ist umso dringlicher, als die reichen westlichen Nationen Vorbild für die globale Zivilisationsentwicklung sind und Verbote „aufholender Entwicklung“ für die Länder des Globalen Südens weder moralisch noch ethisch-politisch akzeptabel sind. Solidarität auf gleicher Augenhöhe ist gefragt, insofern sich Industriestaaten selbst einem tiefgreifenden Strukturwandel unterziehen müssen, was weit schwieriger ist als die fürsorgliche Solidarität des Abgebens vom eigenen Überfluss. 4. Solidarische Subpolitik Präventive Verantwortung durch globale Solidarität in der Weltbürgergesellschaft ist der Preis, den die moderne Zivilisation für die erweiterten Spielräume der Freiheit im Projekt der Moderne zahlen muss, wenn dieses im Sinne der Humanität gelingen und nicht in sein Gegenteil umschlagen soll. Je länger wir zögern, diesen Preis zu zahlen, desto höher wird die ökologische, soziale und ökonomische Rechnung sein, die der Klimawandel stellt. Doch die Basis einer Politik, die sich den Herausforderungen globaler und intergenerationeller Solidarität ernsthaft stellt, scheint schmal. In dem Millenniumsprogramm der UNO „Halbierung der Armut bis 2015“ spielen ökologische Aspekte bisher eine untergeordnete Rolle. Es ist offen, ob es für den Post-2015-Prozess gelingen wird, die MDGs (Millennium Development Goals) und die MSDs (Millennium Sustainable Goals), also die Ziele der globalen Armutsbekämpfung und die
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der ökologischen Nachhaltigkeit, zu vereinen. Die Weichen im Globalisierungsprozess sind weiterhin auf einen Ausverkauf der Ressourcen gestellt. Klimaschutz passt nur mühsam in das dominante Handlungsmuster eines kurzfristigen und bestenfalls auf das eigene Funktionssystem (Betrieb, Partei, Nation etc.) begrenzte Muster von Solidarität. Es gibt jedoch auch positive Beobachtungen: Die Dynamik des Klimaschutzes hat sich auf mehrere Ebenen verlagert. Jenseits des Strebens nach einem umfassenden Weltklimavertrag scheint ein Netz neuer Koalitionen und Initiativen für einzelne Handlungsfelder neuen Schwung zu bringen, beispielsweise durch bilaterale Abkommen für Waldschutz und Techniktransfer.49 Man könnte dies mit Ulrich Beck als „Subpolitik“ bezeichnen.50 Hierfür ist der eher kämpferische und flexible Begriff der Solidarität als ethische Leitkategorie möglicherweise besser geeignet als die strukturell noch anspruchsvollere und interpretationsbedürftigere Kategorie der Gerechtigkeit. Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist jedoch gewaltig. Das gegenwärtige Gefüge der politischen Institutionen ist zu schwach, um globale und intergenerationelle Solidarität wirksam zu organisieren. Diese erfordert nichts Geringeres als eine „Große Transformation“ des fossilen Wohlstandsmodells.51 Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie umfasst eine Reformation ethisch-politischer Leitbegriffe wie Wachstum und Lebensqualität und geht strukturell weit über das hinaus, was mit Solidaritätsappellen zu erreichen ist.52 49 So haben Norwegen und Frankreich 2012 in Rio ein REDD-plus-Partnership-Programm initiiert, in dessen Rahmen 60 Länder insgesamt 4 Mrd. Euro an finanziellen Mitteln zum Schutz der Wälder zugesagt haben. Auch das „Schnellstartabkommen“ für bilaterale Kooperationen und Technologietransferpläne zwischen Deutschland und Südafrika sowie Russland ist ein Erfolg. Positiv aufgenommen wurde der Vorschlag einer von UN-Generalsekretär Moon einberufenen Arbeitsgruppe für einen Klimaschutz-Fonds, der ab 2020 jährlich 100 Mrd. USDollar umfassen soll, um solidarische Katastrophenvorsorge und eine Stärkung der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der armen Länder zu unterstützen. Er könnte durch Abgaben auf Flugbenzin gespeist werden. Zur Würdigung der neuen Dynamik vgl. das Germanwatch-Hintergrundpapier: Bals, Christoph, „Cancún legt Grundlagen für eine Aufwärtsspirale im Klimaschutz – Jetzt ist die EU an der Reihe. Ein Resümee der Klimakonferenz in Mexiko“ (Germanwatch-Hintergrundpapier), Bonn: Germanwatch Nord-Süd Initiative e. V., 2010; Vogt (Fn. 5), S. 436 – 440; zur Diskussion um die Differenz zwischen solchen Einzelaktionen der Solidarisierung und dem Anspruch der Klimagerechtigkeit vgl. Ekardt, Felix (Hrsg.), „Klimagerechtigkeit: Ethische, rechtliche, ökonomische und transdisziplinäre Zugänge“ (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung 2), Marburg: Metropolis, 2012. 50 Vgl. Beck, Ulrich, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 368. 51 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel. Gesellschaftsvertag für eine Große Transformation, Berlin 2011. 52 Nach Lucht bedarf es neuer Kosmologien, jedenfalls tiefgehenden Transformationen des Weltbildes hinsichtlich des Verständnisses von Raum, Zeit und der Mensch-Natur-Beziehung; vgl. Lucht, Wolfgang, „Global Change and the Need for New Cosmologies“, in: Gerten, Dieter/ Bergmann, Sigurd (Hrsg.): Religion in Environmental and Climate Change. Suffering, Values, Lifestyles, London / New York: Continuum 2012, S. 16 – 31. Etwas bescheidener könnte man
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5. Verantwortung, Gerechtigkeit oder Solidarität? Postulate der intergenerationellen Gerechtigkeit scheinen gegenwärtig in der Sackgasse mangelnder Institutionen für verbindliches Handeln der globalen Zukunfts- und Daseinsvorsorge stecken zu bleiben. Analog hat sich die Debatte um intergenerationelle Verantwortung teilweise im Gestrüpp nicht abwägbarer Komplexität (z. B. hinsichtlich des Vergleiches der Risiken von CO2-Emissionen und Atomenergie) verfangen und wird teilweise von dem weniger von einem leerlaufenden Moralismus belasteten Begriff des Risikos abgelöst. Der von seiner Geschichte her kämpferische und auch auf Interessenkonflikte bezogene Solidaritätsbegriff könnte hier eine spezifische Lücke der Kommunikation füllen: Einseitige Vorleistungen in einem fließenden Übergang zu Kooperationen mit wechselseitigem Vorteil (Pro- und Con-Solidarität) könnten hier „subpolitisch“ neue Handlungsspielräume erschließen und Auswege aus den gegenwärtigen Sackgassen des globalen Klima- und Umweltschutzdiskurses zu bahnen helfen. Auch die scheinbar unentrinnbare Dynamik ständiger Beschleunigung, die das Projekt der Moderne in den zugleich ressourcenintensiven und lähmenden Zustand eines „rasenden Stillstandes“ münden lässt und sich als Strukturzwang teilweise sowohl der Disposition des Einzelnen als auch der Möglichkeit politischer Steuerung entzieht, könnte – wenn überhaupt – durch solidarische Initiativen eines anderen Umgangs mit Zeit und Raum unterbrochen werden.53 Solidarität hat von der Tradition her eine kämpferische Komponente: Sie beschreibt den Prozess des Sich-Solidarisierens, um gemeinsam eine Gefährdung zu bewältigen. Dies ist anschlussfähig an die Problemlage des Klimaschutzes und der intergenerationellen Herausforderung. Im Unterschied zum Begriff Verantwortung liegt es in seiner Tradition, auch Interessen- und Machtkonflikte zu thematisieren, was hier von entscheidender Bedeutung ist: Es sind primär nicht Abwägungsfragen, die die gegenwärtige Gesellschaft an den moralisch und rational nötigen Investitionen in Klimaschutz und intergenerationelle Gerechtigkeit hindern, sondern die Gefangenheit in gesellschaftlichen Interessenkonflikten. Der Solidaritätsbegriff könnte von daher durchaus zum Kristallisationskern einer neuen sozialen Dynamik werden. Sein Vorteil gegenüber der Kategorie Gerechtigkeit ist, dass er begrenzter ansetzt. Es geht ihm um konkrete Hilfe und Kooperation, die heute global und intergenerationell gedacht und organisiert werden müssen. Um solche Solidarisierungsprozesse zu stabilisieren, bedarf es dann freilich ihrer Einbindung in ein umfassendes Konauch von veränderten Modellen wirtschaftlicher Entwicklung, politischer Steuerung sowie von Zeit und Raum sprechen. 53 Zur „rasenden Beschleunigung“ vgl. Rosa, Hartmut, „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, 421, 428 – 490. Zu einem Versuch solidarischer Gegensteuerung im Bereich der Ökonomie: Felber, Christian, Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft, Wien: Deuticke Verlag 2010. Schon ein kurzer Blick auf diese Zusammenhänge zeigt, dass es dabei auch zahlreiche Konfliktdimensionen gibt, die außerhalb der Reichweite des Solidaritätsbegriffs liegen.
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zept von Gerechtigkeit und dessen Implementierung in entsprechende Rechtsgefüge.
Summary Structuring intergenerational conflicts based upon the concept of „solidarity“ is limited in a specific way. However, it has an advantage in comparison to alternative concepts like „justice“ or „responsibility“: these may be more ambitious in reference to liability, complexity or balancing, but they therefore tend to reach impasses in political discourse. As a result of its historical imprint, the concept of solidarity contains a combative element, and it responds directly to urgent need. In the climate debate, its moral grammar could facilitate new options to act. Since globally effective consensus and enforcement structures to secure intergenerational services required to sustain human life are hardly in sight at present, „sub-political“ approaches of caring pro-solidarity in transition to cooperative con-solidarity seem promising.
Literatur Bals, Christoph, Cancún legt Grundlagen für eine Aufwärtsspirale im Klimaschutz – Jetzt ist die EU an der Reihe. Ein Resümee der Klimakonferenz in Mexiko (Germanwatch-Hintergrundpapier), Bonn: Germanwatch Nord-Süd Initiative e. V., 2010. Baumgartner, Alois, „Solidarität“, in: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.), Christliche Sozialethik: Ein Lehrbuch. Bd. I, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2004, S. 283 – 292. Baumgartner, Alois / Korff, Wilhelm, „Sozialprinzipien als ethische Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft: Personalität, Solidarität, Subsidiarität“, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. I, 2.Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 225 – 237. Beck, Ulrich, Die Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 368. Benedikt XVI., „Caritas in veritate“ (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 186), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2009. Birnbacher, Dieter/ Brudermüller, Gerd (Hrsg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2001. Die deutschen Bischöfe, Der Schöpfung verpflichtet – Anregungen für einen nachhaltigen Umgang mit Energie (Arbeitshilfen 245), Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2011. Die deutschen Bischöfe / Kommission für gesellschaftliche und Soziale Fragen / Kommission Weltkirche, Der Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit (Kommissionstexte 29), 2. Aufl. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2007.
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Solidarität als Begriff des Rechts – Solidarity as a Concept of Law
Restriktives Solidaritätsverständnis und extensive Gefahrenzuständigkeit Wie ein anachronistisches Verständnis der entschuldigenden Notstandshilfe die fragwürdige Konfliktlösung von Notstandsfällen im Defensivnotstand begünstigt* Anna Coninx I. Das Problem: Gefahrenzurechnung statt Solidarität Im Diskurs über mitmenschliche Solidarität und Strafrecht nimmt der rechtfertigende Notstand (Art. 17 ch-StGB1, § 34 d-StGB2) einen prominenten Platz ein. Auffallend ist, dass eine Grundskepsis die Debatte dominiert. So fragt etwa Kurt Seelmann „darf es (…) Solidaritätspflichten im Strafrecht eigentlich geben?“ 3, und obwohl diese Frage grundsätzlich positiv beantwortet wird, scheint ein breiter Konsens zu bestehen, dass dem Notstandsopfer nur eine minimale Solidarität abgefordert werden dürfe.4 Zurückhaltung gegenüber einer generellen mitmenschlichen Solidarität übt man auch beim entschuldigenden Notstand (Art. 18 ch-StGB, § 35 d-StGB). Zwar stehen hier keine rechtlichen Solidaritätspflichten in Frage, weil die Tat gerade nicht gerechtfertigt ist.5 Trotzdem spielen Solidaritätsüberlegungen auch auf der Ebene der Entschuldigung eine Rolle, und zwar bei der Notstandshilfe: Wird der Notstandstäter nicht zugunsten eigener, sondern fremder Rechtsgüter tätig, kommt eine Entschuldigung gemäss § 35 d-StGB nur dann in Betracht, wenn der Notstandstäter zugunsten eines „Angehörigen“ oder einer „anderen ihm nahestehenden Person“ handelt. Die Lehre spricht von einem sogenannten „besondere[n] Soli* Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Martino Mona für wertvolle Anregungen und Kritik.
Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR. 311.0). Deutsches Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322). 3 Seelmann, „Solidaritätspflichtenim Strafrecht?“, in: Jung / Müller-Dietz/ Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, Baden-Baden 1991, S. 295. 4 Vgl. Merkel, „§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?“, in: JZ 8 / 2007, S. 373 (384); Seelmann, Strafrecht: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Basel 2012, S. 67; siehe auch Hörnle, „Der entschuldigende Notstand (§ 35)“, in: JuS 2009, S. 873 (876). 5 Vgl. Seelmann, „Ideengeschichte des Solidaritätsbegriffs im Strafrecht“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden 2013, S. 35 (35 f.). 1 2
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daritätsverhältnis“6 bzw. „Näheverhältnis“7. Demgegenüber kann sich der Notstandstäter, der zugunsten eines ihm fremden Menschen handelt, nicht unter dem Titel des § 35 d-StGB entlasten. In der Schweiz ist diese Einschränkung gesetzlich nicht vorgesehen, sie wird aber von einer Minderheit vertreten.8 Die Skepsis gegenüber dem Solidaritätsgedanken, der Grund und Umfang von Rechtspositionen schafft, mag mitunter erklären, weshalb Lehre und Praxis neben den gesetzlich verankerten Notstandsregelungen im Laufe der Zeit andere Institute geschaffen haben, um in Notlagen (insbesondere im Lebensnotstand) zu sachgerechten Lösungen zu kommen; bekannt sind die rechtfertigende Pflichtenkollision, die Wahrung berechtigter Interessen, der übergesetzliche rechtfertigende Notstand,9 sowie der Defensivnotstand10 und der übergesetzliche entschuldigende Notstand11. Weitere Möglichkeiten der Konfliktlösung eröffnen die Theorie des „rechtsfreien Raums“12 oder die Idee eines „Strafunrechtsausschliessungsgrundes“ aufgrund einer „notstandsähnlichen Lage“.13 Die Vermutung liegt nahe, dass diese Institute mitunter eine Reaktion auf die restriktive Regelung der gesetzlichen Notstandsinstitute sind. So zeigt etwa die Entwicklungsgeschichte des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands, dass dieser deswegen geschaffen wurde, weil Fälle vorgelegen haben, in denen es am gesetzlich geforderten Näheverhältnis zwischen Notstandstäter und Geretteten fehlte („Euthanasieärzte-Fälle“).14 Besonders auffallend ist sodann ein eigentliches Erstarken des Konzepts des Defensivnotstands, insbesondere bei Vorliegen eines Lebensnotstandes. Das vom Zivilrecht inspirierte Institut wurde in den letzten Jahren vermehrt auch im Strafrecht herangezogen, um die Rechtmäßigkeit von Tötungen zu begründen, etwa im Fall des Abschusses eines von Terroristen 6 Neumann, Kommentar zu § 35 StGB, in: Kindhäuser/ Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl., Baden-Baden 2013, § 35 N 6 und 40; Hörnle (Fn. 4), S. 877; siehe auch Kühl, Strafrecht – Allgemeiner Teil, 7. Aufl., München 2012, § 12 N 38. 7 Zum Beispiel Frischknecht, „Zumutbarkeit, Näheverhältnis und der Wille des Gesetzgebers – zur Auslegung des Art. 18 StGB, entschuldigender Notstand“, in: recht 5 / 2008, S. 186. 8 Vgl. Frischknecht (Fn. 7), S. 189; Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 4. Aufl., Bern 2011, § 11 N 76; Wiprächtiger, „Revision des Allgemeinen Teils des StGB. Änderung im Schatten des Sanktionenrechts“, in: ZStrR 123 / 2005, S. 403 (417). 9 Vgl. Seelmann (Fn. 4), S. 70 f.; Hurtado Pozo, Partie générale, Basel 2008, N 778; Stratenwerth (Fn. 8), § 10 N 53 ff. 10 Vgl. ausführlich hinten, IV. 11 Vgl. Kühl (Fn. 6), § 12 N 92 ff.; Neumann (Fn. 6), § 35 N 54 ff. In der Schweiz wird dieses Institut nur vereinzelt erwähnt, vgl. Stratenwerth (Fn. 8), § 11 N 85; Hurtado Pozo (Fn. 9), N 779. 12 Kaufmann, „Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung. Dargestellt am Problem des Schwangerschaftsabbruchs“, in: Schröder/ Zipf (Hrsg.), Festschrift für Reinhart Maurach, Karlsruhe 1972, S. 327 ff. 13 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, Köln 1983, S. 326 ff. 14 Kühl (Fn. 6), § 12 N 95 und 97; vgl. auch Stratenwerth (Fn. 8), § 11 N 85.
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gekaperten Passagierflugzeuges.15 Während die Tötung eines Menschen zur Rettung eines Menschenlebens unter dem Titel des Aggressivnotstandes von der herrschenden Lehre in Deutschland als auch der Schweiz in jedem Fall als unrechtmäßig angesehen wird,16 plädiert die Mehrheit der Stimmen in Deutschland, dass dies bei Vorliegen eines Defensivnotstandes rechtmäßig sei; in der Schweiz hat diesbezüglich bisher kaum eine Grundlagendiskussion stattgefunden.17 Die gegenwärtige Tendenz, den Anwendungsbereich der klassischen Notstandsinstitute restriktiv zu gestalten und parallel dazu den Defensivnotstand (weiter-) zu entwickeln, der sich nicht auf den Gedanken der Solidarität, sondern auf die Zurechnung von Gefahren zum Verantwortungsbereich einer Person stützt,18 muss kritisch hinterfragt werden. Erstens sind die theoretischen Grundlagen des Defensivnotstandes mit einem freiheitlichen Strafrechtsverständnis schwer zu vereinbaren, weil sie von einer äußerst weitreichenden Gefahrenzuständigkeit ausgehen, die im zivilrechtlichen Kontext Sinn machen, im Strafrecht aber problematisch sind. Zweitens würde es zu sachgerechteren Lösungen führen, den Anwendungsbereich des rechtfertigenden und des entschuldigenden Aggressivnotstandes in spezifischen Konstellationen zu erweitern. Die Debatte über Grund und Grenzen von Solidaritätspflichten im rechtfertigenden Notstand – insbesondere im Lebensnotstand – wurde in den letzten Jahren intensiv geführt;19 ich werde nicht darauf eingehen. Stattdessen will ich das 15 Vgl. mit unterschiedlichen Begründungen: Gropp, „Der Radartechnikerfall – ein durch Menschen ausgelöster Defensivnotstand? Ein Nachruf auf § 14 III Luftsicherheitsgesetz“, GA 2006, S. 284 (288); Hirsch, „Defensiver Notstand gegenüber ohnehin Verlorenen“, in: Hettinger et al. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2007, S. 149 (insb. 167 ff.); Rogall, „Ist der Abschuss gekaperter Flugzeuge widerrechtlich?“ in: NStZ 1 / 2008, S. 1 (3); Schünemann, „Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung“, in: Neumann et al. (Hrsg), Verantwortetes Recht, Die Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns, ARSP Beiheft 100, S. 145 (152 f.); vgl. sodann die Hinweise bei Neumann, Kommentar zu § 34 StGB, in: Kindhäuser/ Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl., Baden-Baden 2013, § 34 N 77c. 16 Vgl. etwa Iwangoff, Die Duldungspflichten im rechtfertigenden Notstand, Basel 2009, S. 126 ff.; Roxin, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Grundlagen, Der Aufbau der Verbrechenslehre, Bd. 1, 4. Aufl., München 2006, §16 N 33 ff. m. w. H.; Stratenwerth (Fn. 8), § 10 N 45 und 47; kritisch Coninx, Das Solidaritätsprinzip im Lebensnotstand, Bern 2012; Neumann (Fn. 15), § 34 N 77 ff. 17 Vgl. hinten, IV. 18 Vgl. Neumann (Fn. 6), § 35 N 86; Merkel (Fn. 4), S. 384. 19 Vgl. Coninx (Fn. 16); Iwangoff (Fn. 16); Kühnbach, Solidaritätspflichten Unbeteiligter. Dargelegt am Beispiel von Aggressivnotstand, Defensivnotstand, unterlassener Hilfeleistung und polizeilichem Notstand, Baden-Baden 2007; Neumann (Fn. 15), § 34 N 74 ff.; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand. Zugleich ein Beitrag zum Problem strafrechtlicher Solidaritätspflichten, Berlin 2002; Perdomo-Torres, Die Duldungspflicht im rechtfertigenden Notstand, Baden-Baden 2011; Renzikowski, Notstand und Notwehr, Berlin 1994; Zimmermann, Rettungstötungen. Untersuchungen zur strafrechtlichen Beurteilung von Tötungshandlungen im Lebensnotstand, Bonn 2008. Für kürzere, aber gehaltvolle Abhandlungen der grundsätzlichen Legitimationsfragen des rechtfertigenden Notstandes vgl. C. Bernhard, „Struktur des rechtfertigenden Notstands“, in: Mona / Seelmann (Hrsg.), Grenzen des rechtfertigenden Notstands,
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Dogma kritisch hinterfragen, dass die entschuldigende Notstandshilfe nur gegenüber Angehörigen oder sonstigen nahestehenden Personen möglich ist, nicht aber gegenüber einem Fremden.20 Sodann werde ich darlegen, dass die Grenzziehungen der Notstandshilfe auf der Ebene der Entschuldigung nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern miteinbezogen werden muss, dass sich die Konfliktlösungen verlagern und eine Lösung mittels Defensivnotstand weitgehend deshalb attraktiv erscheint, weil bei Gleichwertigkeit der Rechtsgüter nicht nur eine Rechtfertigung unter dem Titel des Aggressivnotstandes unmöglich ist, sondern auch die Entschuldigung aufgrund der restriktiven Vorgaben des Näheverhältnisses scheitert. II. Keine Entschuldigung bei Notstandshilfe gegenüber Fremden In § 35 d-StGB ist ausdrücklich festgehalten, dass eine Entschuldigung nur in Betracht kommt, wenn der Notstandstäter entweder zugunsten eigener Rechtsgüter oder zugunsten eines „Angehörigen oder einer anderen, dem Notstandstäter nahestehenden Person“ tätig wird,21 nicht aber wenn es sich dabei um einen bloßen Bekannten oder Fremden handelt. Nach § 11 Abs. 1 lit. a d-StGB fallen unter den Begriff des Angehörigen „Verwandte und Verschwägerte gerader Linie,22 der Ehegatte, der Lebenspartner, der Verlobte, auch im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner der Geschwister, Geschwister der Ehegatten oder Lebenspartner, und zwar auch dann, wenn die Ehe oder die Lebenspartnerschaft, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht oder wenn die Verwandtschaft oder Schwägerschaft erloschen ist.“ In der Schweiz besteht in Art. 110 Abs. 1 ch-StGB eine ähnliche Regelung, wobei der Kreis etwas enger gefasst wird.23 Basel 2006, S. 15 ff.; Frisch, „Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien“, in: Paeffgen et al. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, Berlin 2011, S. 425 ff.; Hörnle, „Töten, um viele zu retten“, in: Putzke et al. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum 70. Geburtstag, Tübingen 2008, S. 555 ff.; Merkel, „Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Rechtswissenschaft (und einige verbreitete Missverständnisse zu § 34 StGB)“, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt am Main (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt a. M. 1995, S. 171 ff.; vgl. auch die Beiträge in Lübbe (Hrsg.), Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen, Paderborn 2004. 20 Diesen Gedanken habe ich bereits ansatzweise an anderer Stelle thematisiert, vgl. Coninx, „Der entschuldigende Notstand zwischen Unrecht und Schuld“, ZStrR 2 / 2013, S. 113 (133 ff.). 21 § 35 d-StGB „(1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld (…) [hervorgehoben von A.C.].“ 22 Großeltern und deren Vorfahren, Enkel- und Urenkel, vgl. Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, Tübingen 2011, S. 13.
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Ein Näheverhältnis soll außerdem gegenüber Personen bestehen, zu denen der Täter Beziehungen unterhält, die auf „Gegenseitigkeit“ beruhen und auf eine „gewisse Dauer“ angelegt sind,24 und „ähnliche Solidaritätsgefühle wie idR unter Angehörigen“25 hervorrufen, was beim Konkubinat oder engen Freundschaften und langjährigen Hausgemeinschaften sowie bei Patenverhältnissen angenommen wird.26 Mit Blick auf die Begründung dieser restriktiven Handhabung der entschuldigenden Notstandshilfe ist wesentlich, dass die deutsche Lehre das Kriterium des „Personenkreises“ nach § 35 d-StGB als objektives Kriterium wie etwa die notstandsfähigen Rechtsgüter begreift.27 Es ist weniger die tatsächliche seelische Zwangslage, welche die Entschuldigung erklärt, vielmehr wird quasi von außen geschaut, ob sich der Notstandtäter „situationsadäquat“28 verhält, was dann der Fall ist, wenn ein Näheverhältnis vorliegt, das sich auf anerkannte gesellschaftliche Wertungen bezüglich sozialer Beziehungen stützt.29 Ich nenne diese Form der gesetzlich vermuteten bzw. gesellschaftlich anerkannten Verbundenheit im Folgenden „institutionalisiertes Näheverhältnis“. Die Beschränkung der entschuldigenden Notstandshilfe auf einen privilegierten Personenkreis bedeutet, dass der Notstandstäter, wird er nicht angesichts einer institutionalisierten Verbindung zum Bedrohten aktiv, nach deutschem Recht von vornherein weder straffrei ausgehen soll, noch die Strafe gemildert werden kann.30 Vielmehr fällt er aus dem Anwendungsbereich des § 35 d-StGB heraus. Im Gegensatz zum deutschen Recht wird im schweizerischen Strafgesetzbuch kein institutionalisiertes Näheverhältnis vorausgesetzt, um eine Entschuldigung in 23 „Angehörige einer Person sind ihr Ehegatte, ihre eingetragene Partnerin oder ihr eingetragener Partner, ihre Verwandten gerader Linie, ihre vollbürtigen und halbbürtigen Geschwister, ihre Adoptiveltern, ihre Adoptivgeschwister und Adoptivkinder.“ 24 Vgl. Perron, Kommentar zu § 35 StGB, in: Schönke / Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Aufl., München 2010, § 35 N 15; Neumann (Fn. 6), § 35 N 18; Roxin (Fn. 16), § 22 N 31. 25 Perron (Fn. 24), § 35 N 15; vgl. auch Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21. September 1998, BBl 1999, S. 2009. 26 Vgl. Neumann (Fn. 6), § 35 N 18; Roxin (Fn. 16), § 22 N 31; Perron (Fn. 24), § 35 N 15. 27 Vgl. Neumann (Fn. 6), § 35 N 18: Der „Kreis der begünstigten Personen [wird] objektiv bestimmt. So kommt es bei Rettungshandlungen zugunsten von Angehörigen (…) nicht darauf an, ob mit dem Täter tatsächlich eine enge persönliche Beziehung besteht.“; so auch Perron (Fn. 24), § 35 N 15; vgl. auch die systematische Behandlung des Problems etwa bei Kühl (Fn. 6), § 12 N 34 ff.; Roxin (Fn. 16), § 22 N 30. 28 Vgl. Neumann (Fn. 6), § 35 N 6. 29 Vgl. ibid., § 35 N 6, 18. 30 Vgl. Roxin (Fn. 16), § 22 N 10: „Wer einen ihm nicht nahe stehenden Menschen auf Kosten eines anderen rettet, bleibt in vollem Umfang strafbar.“; vgl. auch Jakobs, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Berlin 1993, 20. Abschn. N 3.
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Betracht zu ziehen.31 Zwar war ein solches im Entwurf des Bundesrates vorgesehen, es wurde aber in der vorberatenden Kommission wieder gestrichen.32 Nichtsdestotrotz gibt es auch in der schweizerischen Lehre eine beachtliche Minderheit, die für eine restriktive Handhabung der Notstandshilfe plädiert.33 Allerdings soll das Näheverhältnis anders als in Deutschland nicht als objektive Voraussetzung der Notstandslage gelten, sondern vielmehr als Kriterium der Zumutbarkeit (Art. 18 Abs. 2 ch-StGB) verstanden werden.34 Die Unzumutbarkeit von normgemäßem Verhalten ist bei der Bedrohung eigener Rechtsgüter, insbesondere wenn das Rechtsgut Leben in Frage steht, ohne weiteres plausibel: Aufgrund des Selbsterhaltungstriebes ist es für den Menschen nicht zumutbar, auf das eigene Leben zu verzichten. Komplizierter ist dagegen die Begründung im Fall der Notstandshilfe. So wird geltend gemacht, dass die Preisgabe des gefährdeten Rechtsguts nur dann unzumutbar und der Notstandshelfer entschuldigt werden kann, wenn ihn die Not eines anderen ebenso bedrücke, wie wenn er selbst von der Gefahr betroffen wäre.35 Diese Umstände, die den Notstandstäter in eine psychische Zwangslage versetzen, obwohl er selbst nicht in seinen Rechtsgüter bedroht ist, werden von vornherein nur dann als plausibel erachtet, wenn der Täter dem Bedrohten nahesteht.36 So wird argumentiert, dass nur die Not eines Angehörigen oder allgemeiner einer „Sympathieperson“ einen vergleichbaren psychischen Druck bewirken könne, wie wenn der Notstandshelfer selbst in Gefahr wäre.37 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es dem Täter immer zumut31 Art. 18 ch-StGB (1): „Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um sich oder eine andere Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen oder andere hochwertige Güter zu retten, wird milder bestraft, wenn ihm zuzumuten war, das gefährdete Gut preiszugeben. (2) War dem Täter nicht zuzumuten, das gefährdete Gut preiszugeben, so handelt er nicht schuldhaft.“ 32 Vgl. Trechsel / Geth, in: Trechsel/ Pieth (Hrsg.), Praxiskommentar Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Zürich/ St. Gallen 2013, Art. 18 N 5; Monnier, in: Commentaire romand, Code pénal I, Art. 1 – 110 CP, Roth / Moreillon (Hrsg.), Basel 2009, Art. 18 N 1; Dupuis / Geller / Monnier / Moreillon / Piguet / Bettex / Stoll (Hrsg.), Code pénal, petit commentaire, Basel 2012, Art. 18 N 2; Seelmann (Fn. 4), S. 93; vgl. auch Frischknecht (Fn. 7), S. 190 f., der davon ausgeht, dass mangels ausreichender Information über diese Änderung im Parlament nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Gesetzgeber das Näheverhältnis aus der Bestimmung streichen wollte. 33 Vgl. die Literaturhinweise vorne, Fn. 8. 34 Frischknecht (Fn. 7), S. 189; Stratenwerth (Fn. 8), AT, § 11 N 76 „(…) zumindest unter diesem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit“. 35 Vgl. Brägger, Der Notstand im Schweizerischen Strafrecht, Bern 1937, S. 141. 36 Vgl. Frischknecht (Fn. 7), S.189: „Damit ein psychischer Druck vorhanden ist, der zu einer Zwangslage beim Täter führt, ist ein Näheverhältnis zwischen ihm und der Person vorausgesetzt, die von der Notstandslage betroffen ist (…) Wenn hingegen die Güter eines anderen, der dem Täter nicht nahe steht, betroffen sind, kann sich der Täter nicht in einer psychischen Zwangslage befinden. Es ist ihm deshalb zuzumuten, von der Notstandshandlung abzusehen.“; Bernsmann, Entschuldigung durch Notstand, Köln 1989, S. 83. 37 Vgl. Kühl (Fn. 6), § 12 N 34.
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bar ist, das Rechtsgut eines anderen Menschen preiszugeben, auch wenn dieser in größter Not ist, es sich aber um einen „Fremden“ handelt. Wird das institutionalisierte Näheverhältnis als Element der Zumutbarkeit verstanden, wie dies von einem Teil der schweizerischen Lehre vertreten wird, fällt der Notstandshelfer, der keinen ihm nahestehenden Menschen rettet, nicht per se vollständig aus dem Anwendungsbereich des entschuldigenden Notstands heraus. Vielmehr eröffnet sich die Möglichkeit einer Strafmilderung sofern die anderen objektiven und subjektiven Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands gegeben sind (Art. 18 Abs. 1 ch-StGB). Wer etwa verhindert, dass sein Arbeitskollege – der nicht unter den Begriff der Sympathieperson fallen soll38 – eine Körperverletzung erleidet, und dabei einen anderen verletzt, kann also immerhin mit einer Strafmilderung rechnen. Zu einer Strafmilderung kommt es deshalb, weil eine unmittelbare, nicht abwendbare Gefahr für ein hochwertiges Rechtsgut gemäss Art. 18 Abs. 1 ch-StGB gegeben ist, und der Notstandstäter aktiv wird, um die hochwertigen Rechtsgüter eines Dritten zu retten und das Unrecht verglichen mit einer bloßen Vernichtung von Rechtsgütern entsprechend vermindert erscheint.39 Straflos dagegen bleibt der Täter auch nach schweizerischer Interpretation des Näheverhältnisses als Element der Zumutbarkeit nur, wenn er – entsprechend den Vorgaben eines institutionalisierten Näheverhältnisses – einen Angehörigen rettet, oder einen Menschen, zu dem er eine enge emotionale Beziehung unterhält. Wer sich vor Strafe schützen will, sollte sich gegenüber Fremden in Not demnach besser unsolidarisch verhalten bzw. sich aus fremden Konflikten raushalten. III. Das Näheverhältnis ist ein anachronistisches Kriterium Ich will nicht bestreiten, dass der Notstandshelfer, soll er entschuldigt werden, in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt sein muss, wie wenn er selbst von der Notlage betroffen wäre. Ich behaupte jedoch, dass das Kriterium des institutionalisierten Näheverhältnisses nicht sachgerecht ist, um darüber zu entscheiden. Nicht überzeugend ist zunächst, das Näheverhältnis als objektives Kriterium anzusehen, wobei die Verbundenheit zwischen Personen gesetzlich vermutet wird. Es ist sicher richtig, dass die psychische Zwangslage allein die Entschuldigung nicht angemessen erklären kann.40 Aber es ist nicht einsichtig, weshalb der Kern der Entschuldigung – die Unzumutbarkeit von normgemäßem Verhalten – völlig losgelöst von realen psychischen Abhängigkeiten und Gefühlen und damit unabhängig von der tatsächlichen Entscheidungsfreiheit im konkreten Fall bestimmt werden soll. 38 39 40
Vgl. Perron (Fn. 24), § 35 N 15 und hinten, III. Vgl. ausführlich Coninx (Fn. 16), insb. S. 126 ff. Vgl. Stratenwerth (Fn. 8), § 11 N 62.
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Diese Kritik gilt allerdings nicht für Notstandstheorien, die den Strafausschluss von vornherein nicht mittels des Gedankens der Zumutbarkeit erklären, sondern vielmehr bei einem Mangel an „präventiver Bestrafungsnotwendigkeit“41 ansetzen. Die Voraussetzung des Näheverhältnisses erscheint hier deshalb legitim, weil angenommen wird, die Öffentlichkeit habe von vornherein nur Verständnis für denjenigen Täter, der einen Angehörigen oder eine ihm nahestehende Person rettet, und sei entsprechend auch nur in diesen Fällen mit einem Strafausschluss einverstanden.42 Unverständlich bleibt dann jedoch, weshalb dem so sein soll.43 So lassen sich nämlich Fälle denken, in denen es zumindest plausibel erscheint, dass die Öffentlichkeit weit mehr Verständnis hat, wenn der Täter gerade nicht einen Angehörigen, sondern vielmehr einen Fremden rettet. Würde man etwa den Mann, der das fremde, hilflose Kind rettet und dafür seinen eigenen Vater töten muss, in der Öffentlichkeit nicht womöglich gar als Helden ansehen, als einen eben, der nicht das Eigeninteresse verfolgt, sondern seinen Vater – und damit auch ein Teil seiner selbst – opfert? Damit wird denn auch die Schwäche dieser Notstandstheorie deutlich, die sich am Strafzweck ausrichtet: Solange diese funktional ausgerichtete Interpretation des entschuldigenden Notstands frei ist von Empirie bleibt sie letztlich spekulativ. 44 Ihre Annahmen können nur auf Plausibilität beruhen. An einer empirischen Feststellung, dass die Notstandsregelung nur dann generalpräventiv wirkt bzw. man ihr nur dann Verständnis entgegenbringt, wenn ein institutionalisiertes Näheverhältnis besteht, fehlt es jedoch. Auch die Meinung, welche in der Schweiz vertreten wird und das institutionalisierte Näheverhältnis als Element der Zumutbarkeit versteht, befriedigt letztlich nicht. Zwar stützt sich die Entschuldigung nach diesem Modell zumindest teilweise auf den Gedanken der seelischen Zwangslage. Unbefriedigend ist indessen, dass ein Näheverhältnis nur dann angenommen und der Täter entlastet werden kann, wenn eine bestimmt geartete Beziehung vorliegt. Die Kategorisierung von strafrechtlich anerkannten und strafrechtlich unbeachtlichen Beziehungsstrukturen in Notstandssituationen führt aber zu unbefriedigenden Resultaten und ist mit Abgrenzungsproblemen verbunden. Dies zeigen die Beispiele des vielzitierten „Arbeitskollegen“ oder „Sportkameraden“, zu denen nach deutscher Lehre mangels emotionaler Bindung kein Näheverhältnis bestehen soll.45 Eine intensive Zusammenarbeit kann durchaus eine enge und vertrauensvolle Beziehung schaffen, auch wenn die Arbeitsbeziehung Roxin (Fn. 16), § 19 N 3 und 5 sowie § 22 N 4. Ibid., § 22 N 30: „In Wirklichkeit erklärt sich die gesetzliche Regelung daraus, dass nur bei dem angeführten Personenkreis die an sich missbilligte Notstandstat in der Öffentlichkeit so viel Verständnis findet, dass eine gesetzgeberische Nachsicht generalpräventiv vertretbar erscheint.“ 43 So auch Walter, „Wann ist § 35 Abs. 2 StGB analog anwendbar?“, in: Heinrich et. al. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Berlin 2011, S. 763 (770); vgl. auch Bernsmann (Fn. 36), S. 215 ff. 44 So auch Walter (Fn. 43), S. 763 (771). 45 Vgl. Perron (Fn. 24), § 35 N 15; Roxin (Fn. 16), § 22 N 31. 41 42
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nur einen (aber in vielen Fällen durchaus bedeutenden) Bereich des Lebens ausmacht. So erscheint es nicht sachgerecht, dass die professionelle Krankenpflegerin, welche einen alten Mann pflegt, für den Fall, dass sie Notstand zugunsten ihres Klienten übt, von vornherein nicht entschuldigt werden kann, wogegen seine Schwägerin unter § 35 d-StGB entlastet werden könnte. Einen Schuldausschluss in diesen Fällen aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehung zu gewähren und aufgrund einer sogenannt professionellen Beziehung zu verweigern, lässt sich nicht vernünftig begründen. Nicht nachvollziehbar ist sodann, weshalb eine einseitige Beziehung nicht die Möglichkeit eines Schuldausschlusses eröffnen soll:46 Der junge Mann, der eine Frau, die er heimlich während Jahren begehrt auf Kosten der Verletzung eines anderen Menschen rettet, ohne dass die Frau seine Gefühle jemals kannte oder erwidert hätte, kann sich doch in einer bei weitem größeren Zwangslage befinden als der Enkel, der seinen Grossvater nur flüchtig kennt und Notstandshilfe aus einem diffusen Pflichtbewusstsein heraus leistet. Und selbst die Not des gänzlich Fremden, welcher dem Notstandstäter noch nie begegnet ist, kann in diesem zweifellos eine psychische Zwangslage auslösen. Gerade gegenüber einem fremden Kind, das um sein Leben bangt, dürfte mancher hochempathisch fühlen,47 womöglich ist die seelische Bedrängnis weitaus größer als gegenüber einem ihm kaum bekannten Schwager in Not. Dass die Konstruktion des Näheverhältnisses letztlich ein doktrinäres Kriterium ist, das von fragwürdigen gesellschaftlichen Prämissen ausgeht, zeigt sich an Erörterungen über das Näheverhältnis zwischen der Ex-Freundin und dem Notstandstäter, welches nach Trennungen verneint wird, selbst wenn der Notstandstäter seine vormalige Freundin immer noch liebt;48 eine Einschränkung, die bemerkenswerterweise für den geschiedenen Ehegatten oder ehemaligen Schwager nicht gilt (vgl. 11 Abs. 1 lit. a d-StGB). Insgesamt scheint, dass mittels kaum überprüften Intuitionen bezüglich gesellschaftlich akzeptierten „objektivierbaren Beziehungsstrukturen“ und Blutsverwandtschaft der Anwendungsbereich des entschuldigenden Notstands beschränkt wird. Die Regelung geht letztlich von einem anachronistischen Stammesdenken aus, das die Welt in Beziehungen zu Verwandten und Nichtverwandten trennt.49 Wie wenig überzeugend die Reduktion der Notstandshilfe auf „besondere Solidaritätsverhältnisse“ ist, hat Carl Stooss bereits bei der Formulierung der Entwürfe des schweizerischen Strafgesetzbuches im Jahre 1893 unmissverständlich festgehalten: 46 So wohl die überwiegende deutsche Lehre, vgl. Roxin (Fn. 16), § 22 N 31; Kühl (Fn. 6), § 12 N 38; Lenckner / Sternberg-Lieben, Kommentar zu § 35 StGB, in: Schönke / Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Aufl., München 2010, § 35 N 15; Neumann (Fn. 6), § 35 N 18; a. A. Jakobs (Fn. 30), 20. Abschn. N 7. 47 Vgl. die Hinweise bei Bernsmann (Fn. 36), S. 84. 48 Lenckner / Sternberg-Lieben (Fn. 46), § 35 N 15. 49 Vgl. Bernsmann (Fn. 36), S. 87.
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„(…) die Einschränkung des Notstandes auf Rettung des eigenen Rechtsgutes und desjenigen von Angehörigen ist doktrinär. Steht mir der Freund, das unbekannte schwache Weib in einer Gefahr menschlich oft nicht vielleicht ebenso nahe, als ein Vetter oder Schwager? Warum soll ich die letztern durch ein Verbrechen straflos retten dürfen, die andern nicht?“ 50
Es ist die individuelle Zwangslage und nicht ein gesetzlich vermutetes Näheverhältnis, welches die Rechtsgutverletzung verständlich machen soll und eine Entschuldigung im Einzelfall als sachgerecht erscheinen lässt. Der Notstandstäter sollte entschuldigt sein, wenn er über die Voraussetzungen der Notstandslage nach Art. 18 Abs. 1 ch-StGB (unmittelbare, nicht anders abwendbare Gefahr für ein hochwertiges Rechtsgut) hinaus in seiner Entscheidungsfreiheit wesentlich eingeschränkt ist. Dafür muss er sich dem Menschen, den er rettet, „nahe“ fühlen – anderenfalls würde er nicht in eine psychische Zwangslage geraten. Die geforderte Verbundenheit zwischen Gerettetem und Notstandshelfer muss sich aber nicht zwingend auf ein institutionalisiertes Näheverhältnis stützen, sondern kann beispielsweise auch erst im Moment der Gefahr entstehen. Der Verzicht auf ein institutionalisiertes Näheverhältnisses bedeutet allerdings nicht, dass nicht ein gewisses Mass an Objektivierung nötig ist, um über die Frage der Zumutbarkeit zu entscheiden. Klare Kriterien sind in der Lehre – soweit ersichtlich – noch nicht entwickelt worden. Es ist insbesondere auch Aufgabe der Rechtsprechung eine entsprechende Konkretisierung vorzunehmen. Dass die Not eines Angehörigen in vielen Fällen eine starke psychische Bedrängnis hervorruft, bedeutet nicht, dass dies in allen Konstellationen gegeben ist. Umgekehrt kann beispielsweise ein fremdes Kind in einer existenziellen Notlage hochempathische Gefühle in einem erwecken. Entscheidend sollte die richterliche Überzeugung im Einzelfall sein, nicht gesetzlich vermutete Beziehungen. IV. Eine Folgebetrachtung: Ausweichen auf den Defensivnotstand Wie einleitend bemerkt, sind parallel zum gesetzlich normierten rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand andere Institute entwickelt worden, um in Notstandslagen zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen. Besonders intensiv diskutiert wird der Defensivnotstand. Es ist hier nicht der Ort, um das Institut des Defensivnotstands umfassend darzustellen, eine Skizze soll für die vorliegend interessierende Thematik genügen. Die Lehre unterscheidet insbesondere seit den 1960er Jahren in Deutschland51 und in den 50 Stooss, Motive zum Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch. Allgemeiner Teil, Basel/ Genf 1893, S. 34. 51 Vgl. insb. Lampe, „Defensiver und aggressiver übergesetzlicher Notstand“, in: NJW 1968, S. 88 ff.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand. Zur Problematik der Notstandsregelung im Entwurf eines Strafgesetzbuches (E / 1962), Tübingen 1965, S. 102, 162 f.; Köhler, „Die objektive Zurechnung der Gefahr als Voraussetzung der Eingriffsbefugnis im Defensiv-
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letzten Jahren zunehmend auch in der Schweiz52 zwischen dem (rechtfertigenden) Defensivnotstand und dem (rechtfertigenden) Aggressivnotstand. Eine Defensivnotstandslage liegt nach herrschender Lehre dann vor, wenn die abzuwehrende Gefahr aus der „Rechtssphäre“53 beziehungsweise „Herrschaftssphäre“54 des Notstandopfers stammt.55 Die Figur des Defensivnotstands ist dem Zivilrecht entnommen: Im deutschen Recht ist der zivilrechtliche Defensivnotstand in § 228 BGB56 normiert, in der Schweiz werden die zivilrechtlichen Notstandsbefugnisse gestützt auf Art. 52 Abs. 2 OR57 und Art. 57 Abs. 1 OR sowie Art. 701 Abs. 1 ZGB58 diskutiert.59 Der Notstandstäter greift also in die Rechtsgüter desjenigen ein, aus dessen Rechts- beziehungsweise Herrschaftssphäre die Gefahr droht; insofern ist seine Handlung nicht aggressiv, sondern defensiv.60 Im Unterschied zu einer Notwehrlage liegt aber keine rechtswidrig herbeigeführte Gefahrschaffung, das heisst ein Angriff des Duldungspflichtigen vor. Vielmehr handelt es sich um eine Gefahr, die zwar vom Notstandsopfer ausgeht, diesem aber rechtlich nicht vorgeworfen werden kann. Dabei sollen mitunter Gefahren erfasst sein, die auf vorsatzlose, nicht sorgfaltswidrige Handlungen beziehungsweise Nicht-Handlungen des Notstandsopfers zurückgehen.61 Die Lehre spricht in diesem Zusammenhang von einer sogenannten notstand“, in: Hoyer et al. (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 257 ff.; Merkel (Fn. 4), S. 384; Neumann (Fn. 15), § 34 N 86 ff.; Pawlik, „Der rechtfertigende Defensivnotstand“, in: JURA 1 / 2002, S. 26 ff.; Renzikowski (Fn. 19), S. 43 ff., 238 ff.; Roxin, „Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand“, in: Vogler / Herrmann (Hrsg.), Festschrift für Hans Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Berlin 1985, S. 457 ff. 52 Vgl. ausführlich Martin, Defensivnotstand unter besonderer Berücksichtigung der „Haustyrannentötung“, Zürich 2010; Donatsch / Tag, Strafrecht I, 8. Aufl., Zürich 2006, 235 f.; Iwangoff (Fn. 16), 94 ff.; Maihold, Strafrecht – Allgemeiner Teil. Fragen, Fälle und Lösungen zur Prüfungsvorbereitung, 2. Auflage, Basel 2008, S. 87 ff.; Seelmann (Fn. 4), S. 67 f.; Seelmann, Kommentar zu Art. 17 StGB, in: Niggli/ Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 17 N 10; Trechsel / Geth (Fn. 32), Art. 17 N 8, Art. 18 N 2. 53 Kühnbach (Fn. 19), S. 87. 54 Martin (Fn. 52), S. 43; vgl. insb. auch Pawlik (Fn. 19), S. 323 f. 55 Vgl. Frisch (Fn. 19), S. 428 ff.; Iwangoff (Fn. 16), S. 95; Köhler (Fn. 51), S. 268; Kühnbach (Fn. 19), S. 87 ff.; Merkel (Fn. 4), S. 384; Pawlik (Fn. 51), S. 26; Seelmann (Fn. 52), Art. 17 N 10. 56 Bürgerliches Gesetzbuch vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738). 57 Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) (SR. 220). 58 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR. 210). 59 Vgl. Hofstetter, „Der Notstand im schweizerischen Recht – Einheit oder Vielfalt?“, in: Mona / Seelmann (Hrsg.), Grenzen des rechtfertigenden Notstands, Basel 2006, S. 185 ff.; Iwangoff (Fn. 16), insb. S. 86 ff., 111 ff.; Maihold (Fn. 52), S. 82 f.; Martin (Fn. 52), S. 153 ff.; Seelmann (Fn. 52), Art. 17 N 10. 60 Vgl. Kühnbach (Fn. 19), S. 87 f. 61 Vgl. Martin (Fn. 52), S. 65 ff.
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„Zustandsverantwortlichkeit“62, womit eine objektive Sphärenverantwortung gemeint ist, wie sie das Zivilrecht beispielsweise bei Verkehrssicherungspflichten kennt.63 Die Beispiele sind vielfältig: Eine Defensivnotstandslage wird etwa angenommen, wenn ein unbeaufsichtigter Hund einen Menschen attackiert,64 im Fall des Haustyrannen65 sowie teilweise auch in der Konstellation, dass ein Schuldunfähiger einen anderen Menschen angreift.66 Die Rechtsfolgen bei Annahme einer Defensivnotstandslage sind beträchtlich. Das Notstandsopfer muss sich im Vergleich zum Aggressivnotstand weitaus „schärfere Zugriffe“67 auf seine Rechtsgüter gefallen lassen. Während im Aggressivnotstand die Interessen des Notstandstäters wesentlich überwiegen müssen, um die Rechtmäßigkeit zu bejahen, gilt beim Defensivnotstand ein umgekehrter Proportionalitätsmaßstab.68 Rechtmäßig ist der Eingriff dann, wenn die Interessen des Duldungspflichtigen nicht „unverhältnismäßig überwiegen.“69 Anders als bei klassischen Notstandsfällen, soll die Interessenabwägung beim Defensivnotstand nicht primär rechtsgutbezogen ausfallen; vielmehr soll entscheidend sein, ob die Gefahr vom Duldungspflichtigen ausgeht.70 Dies bedeutet aber, dass auch bei der Verletzung eines gleichwertigen Rechtsgutes eine Rechtfertigung möglich ist, es wird sogar die Meinung vertreten, dass der Defensivnotstandstäter ein minderwertiges Rechtsgut schützen darf.71 Mit Blick auf den entschuldigenden Notstand wird ersichtlich, dass die Abgrenzung zum rechtfertigenden Notstand durch die Figur Defensivnotstand erheblich relativiert wird, weil die klassische Unterscheidung der Notstandsinstitute bekanntlich gerade auf einer rechtsgutbezogenen Interpretation der Interessenabwägung fußt. Die herrschende Lehre in Deutschland und Teile der Lehre in der Schweiz sind der Meinung, dass sich strafrechtliche Defensivnotstandsfälle trotzdem in die Systematik von Art. 17 ch-StGB bezieNeumann (Fn. 15), § 34 N 77c; Pawlik (Fn. 19), S. 323 ff. Vgl. Seelmann, „Nichtstun als Straftat – Bedeutungszuwachs und Problempotenzial der unechten Unterlassungsdelikte“, in: ZStrR 2007, S. 262 (271); Frisch (Fn. 19), S. 429. 64 Vgl. Pawlik (Fn. 51), S. 26 ff. 65 Umfassend Martin (Fn. 52), S. 85 f., 129 ff., 194 ff. 66 Vgl. Jakobs (Fn. 30), 12. Abschn. N 18; Pawlik (Fn. 51), S. 28; Renzikowski (Fn. 19), S. 243 f.; vgl. auch die ausführlichen Hinweise bei Martin (Fn. 52), S. 11, und Pawlik (Fn. 19), S. 307 Fn. 113. 67 Kühl (Fn. 6), § 8 N 134. 68 Vgl. Seelmann (Fn. 4), S. 67; Iwangoff (Fn. 16), S. 109 f. 69 Seelmann (Fn. 4), S. 67; Seelmann (Fn. 52), Art. 17 N 11; vgl. auch Iwangoff (Fn. 16), S. 97, 109 f.; Maihold (Fn. 52), S. 87 ff.; Kühnbach (Fn. 19), S. 89; Renzikowski (Fn. 19), S. 240. 70 Vgl. Seelmann (Fn. 4), S. 68; Maihold (Fn. 52), S. 87 f. 71 Vgl. Maihold (Fn. 52), S. 87; Pawlik (Fn. 19), S. 316, der dafür plädiert, dass die Tötung im Defensivnotstand auch in Fällen erlaubt sei, in denen die Tötung das einzige Mittel ist, um den Gefährdeten vor einer „erheblichen Körperverletzung oder – in Ausnahmefällen – einem schwerwiegenden wirtschaftlichen oder ideellen Verlust zu bewahren.“ 62 63
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hungsweise § 34 d-StGB einfügen lassen.72 Um eine Vereinbarkeit mit dem Gesetzeswortlaut von Art. 17 ch-StGB zu ermöglichen, der explizit ein „überwiegendes Interesse“ fordert, wird zuweilen vorgeschlagen, das überwiegende Interesse bei Vorliegen eines Defensivnotstandes darin zu sehen, dass man sich gegen eine Person wehren darf, wenn diese für die Gefahrschaffung „verantwortlich“ ist.73 Die Vermutung liegt nahe, dass die strafrechtliche Implementierung des ursprünglich zivilrechtlichen Konstruktes des Defensivnotstandes eine Reaktion auf die restriktive Handhabung des rechtfertigenden als auch des entschuldigenden Notstands ist. Insbesondere die Voraussetzung eines Näheverhältnisses bei der entschuldigenden Notstandshilfe hat zur Folge, dass bei Gleichwertigkeit der Rechtsgüter eine Entschuldigung zumindest nach deutschem Recht ausgeschlossen ist, wenn die Notstandshandlung zugunsten eines Dritten vorgenommen wird, zu dem kein Näheverhältnis bestand. Diese Konsequenz eines falsch verstandenen Näheverhältnisses erscheint indessen sicher für die Fälle unhaltbar, in denen die Gefahr vom Notstandsopfer ausging. Anstatt das Konzept des Näheverhältnisses zu reformieren, wird hier als Lösung der Defensivnotstand ins Spiel gebracht. Dass in Fällen auf den Defensivnotstand zurückgegriffen wird, deren Konflikte richtigerweise auf der Ebene der Schuld gelöst würden, lässt sich etwa anhand des von Reinhard Merkel gebildeten Dreizentner-Falls zeigen, den ich vorliegend leicht modifiziert darstelle.74 Man stelle sich vor, dass sich in einem Skiort ein von einem Karneval kommender, betrunkener, dicker Mann auf seinem Heimweg auf einen Schlitten legt und nach kurzer Zeit in einen Tiefschlaf fällt. Auf dem Schlitten liegend wird er von zwei Jungen eine Skipiste hinunter gestossen, die sich einen Spaß erlauben. Der Dreizentner-Mann, aufgrund des Alkoholwertes in komatösem Zustand, rast geradezu auf zwei vierjährige Mädchen zu, die unten am Hang einen Schneemann bauen. Ein Pistenfahrzeugfahrer, der unmittelbar auf der Piste steht, sieht das Unglück kommen. Er, der selbst eine Tochter im Alter der Mädchen hat, und hochempathisch mit diesen fühlt, beschleunigt die Fahrt, so dass sein Pistenfahrzeug als Prellbock dient. Der Dreizentner-Mann prallt in das Fahrzeug und wird dabei getötet. Die Mädchen, die bei einem Zusammenstoß mit dem Schlitten mit an 72 Für die Schweiz vgl. Seelmann (Fn. 4), S. 68; Maihold (Fn. 52), S. 87 f.; Iwangoff (Fn. 16), S. 111 f.; Donatsch / Tag (Fn. 52), S. 235 f.; differenzierend Martin (Fn. 52), S. 188 f., der den Defensivnotstand sowohl unter Art. 17 als auch Art. 18 StGB subsumieren will; ebenso Trechsel / Geth (Fn. 32), Art. 17 N 8, Art. 18 N 2, die den Defensivnotstand sowohl im Rahmen der Rechtfertigung als auch der Entschuldigung erwähnen. Für Deutschland vgl. Perron, Kommentar zu § 34 StGB, in: Schönke / Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Aufl., München 2010, § 34 N 30; kritisch Neumann (Fn. 15), § 34 N 86 m. w. H. 73 Vgl. Seelmann (Fn. 4), S. 68: „Denn das Interesse, sich gegen einen für die Gefahr Verantwortlichen bis zur Grenze der Unverhältnismässigkeit zur Wehr zu setzen, muss als ‚höherwertiges Interesse‘ gelten.“; Iwangoff (Fn. 16), S. 112; vgl. auch Roxin (Fn. 16), § 16 N 75. 74 Merkel (Fn. 4), S. 383, gestaltet den Fall so, dass ein Polizist Notstandshilfe übt. Um diese zusätzliche Problematik zu vermeiden, wie in Fällen zu entscheiden ist, in denen der Staat Notstandshilfe leistet, wird vorliegend eine Privatperson gewählt. Zudem verwendet der Notstandstäter bei Merkel eine Feuerwaffe.
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Sicherheit grenzender Wahrscheinlich sehr schwere oder sogar tödliche Verletzungen erlitten hätten, während der Dreizentner-Mann höchstens mit einem paar blauen Flecken hätte rechnen müssen, bleiben unverletzt. Merkel plädiert für die Rechtmässigkeit der Tötung des Dreizentner-Manns durch den Notstandstäter gestützt auf das „Zurechnungsprinzip des defensiven Notstands“.75 Die Begründung lautet wie folgt: Der Dreizentner-Mann wäre zum „entscheidenden Bestandteil der Gefahrenquelle geworden“; er würde durch die Notstandshandlung mit dieser „rechtmäßig unschädlich“ gemacht.76 Merkel verschweigt, dass nach deutschem Recht und einer Mindermeinung in der Schweiz derselbe Notstandstäter aber nicht entschuldigt werden könnte, weil kein Näheverhältnis vorlag. Ein Konzept des Notstandes, das dazu führt, dass ein und dieselbe Person für ihre identische Notstandstat zur Abwendung einer Gefahr für das Leben zwar ohne Weiteres gerechtfertigt nicht aber entschuldigt ist, überzeugt nicht. Die bloße Tatsache also, dass der Dreizentner-Mann eine Gefahr für andere Menschen darstellt, die er aber im rechtlichen Sinne nicht verschuldet hat, soll Grund dafür sein, diesen rechtmäßig zu töten. In der Tat ist die überwiegende Lehre in Deutschland der Meinung, dass die Tötung eines Menschen zur Rettung eines anderen Menschen bei Vorliegen eines Defensivnotstandes mangels wesentlich überwiegenden Interessens des Duldungspflichtigen rechtmäßig sei.77 In der Schweiz ist eine klare Meinungsbildung noch ausstehend. Christian Schwarzenegger bemerkt mit Verweis auf die deutsche Lehre, dass bei einer Perforation (nascens muss zur Rettung oder schwerwiegenden Gesundheitsschädigung der Mutter getötet werden) die rechtfertigende Defensivnotstandshilfe einschlägig sei.78 Gian Martin plädiert dafür, die Rechtfertigung einer Tötung gestützt auf den Defensivnotstand nur in „extremen Ausnahmefällen“79 anzunehmen.80 Demgegenüber lehnt Nicolai Iwangoff die Rechtfertigung der Tötung im Lebensnotstand explizit ab, weil eine zu große Differenz zur Notwehr bestünde: Im Defensivnotstand habe sich der Täter – im Gegensatz zur Notwehrlage – „nicht bewusst gegen die Rechtsordnung aufgeIbid., S. 383. Ibid., S. 383 [hervorgehoben im Original]. 77 Vgl. vorne, Fn. 15; Köhler (Fn. 51), S. 267; Küper, „Grund und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht“, Berlin 1979, S. 74; Neumann (Fn. 15), § 34 N 77c und 86 ff.; Pawlik, „§ 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch“, in: JZ 2004, S. 1045 (1048); Renzikowski (Fn. 19), S. 246 ff.; Roxin (Fn. 16), § 16 N 78; Streng, „Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter?“, in: Jahn et al. (Hrsg.), Strafrechtspraxis und Reform, Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag, Berlin 2010, S. 135 (145); Zimmermann (Fn. 19), S. 168 f.; a. A. Bott, In dubio pro Straffreiheit?, Heidelberg 2011, S. 94 ff.; Erb, Kommentar zu § 34, in: Joecks/ Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1: §§ 1 – 37 StGB, 2. Aufl., München 2011, § 34 N 155 ff.; Perron (Fn. 72), § 34 N 30. 78 Vgl. Schwarzenegger, Kommentar vor Art. 111 StGB, in: Niggli / Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 3. Aufl., Basel 2013, vor Art. 111 N 6, 12. 79 Martin (Fn. 52), S. 189. 80 Vgl. ibid., S. 148, 184 ff. 75 76
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lehnt und die Anerkennung des betroffenen Rechtssubjekts nicht verweigert“. 81 Schließlich würden sich wohl auch diejenigen Lehrstimmen gegen die Rechtmäßigkeit der Tötung im Defensivnotstand aussprechen, die Abwägungen von Lebensinteressen in Notstandskonstellationen per se ausschließen.82 Andere Autoren erwähnen zwar den Defensivnotstand, setzen sich aber nicht mit dem Problem des Lebensnotstandes auseinander.83 Das Bundesgericht hat die Präventivnotwehr, die in Deutschland als Untergruppe des Defensivnotstandes gilt,84 bei der Tötung eines Haustyrannen zwar angesprochen, ohne jedoch den Begriff des Defensivnotstandes zu verwenden.85 Vor dem Hintergrund der weitreichenden Rechtsfolgen des Defensivnotstandes erstaunt es, dass dessen Prämissen höchst unsicher sind bzw. von der Lehre unterschiedlich bestimmt werden.86 Problematisch ist erstens, dass die Charakterisierung der Defensivnotstandslage sehr vage ist und einer Konkretisierung bedürfte. In der schweizerischen Literatur finden sich nur sehr allgemeine Hinweise im Stil von: „beim Defensivnotstand ist das Notstandsopfer für den Ursprung der Gefahr verantwortlich“87 oder: „das Notstandsopfer ist nicht unbeteiligt, weil die Gefahr seinem Herrschaftsbereich entstammt und ihm deshalb zugerechnet werden muss.“ 88 Kann gestützt auf diesen offenbar sehr weit gefassten Verantwortungsbegriff dem dicken Mann im Dreizentner-Fall überzeugend erklärt werden, dass er getötet werden darf, eben deshalb, weil er so schwer ist, dass sein Gewicht auf dem Schlitten tödlich wirkt? Würden wir dasselbe auch über ein Kind sagen, das auf einem schwer beladenen Schlitten schläft, und den Hang hinunter runtergestoßen wird, wobei sich die Frage stellt, ob es zur Rettung eines anderen Menschen getötet werden darf? Oder werden wir letztlich von kaum überprüften Intuitionen geleitet – der dicke Mann, der sich am Karneval ins Koma sauft, ist uns per se suspekt, während wir den spielenden Mädchen empathisch gegenüber stehen? Es scheint unklar bzw. umstritten, anhand welcher Kriterien eine Gefahr der Rechts- beziehungsweise Herrschaftssphäre eines Menschen zugerechnet wird, ob diese Kriterien ausreichen, um eine Duldungspflicht zu begründen und welches Rechtsprinzip dahintersteht. Die Konkretisierung der Zurechnung im Defensivnotstand wird im Wesentlichen anhand von Fallgruppen vorgenommen, wobei die Hürde sehr tief angesetzt wird: Die Gefahrzuständigkeit des Notstandsopfers wird mitunter losgelöst von willens81 82 83
N 2.
Iwangoff (Fn. 16), S. 131. Vgl. Stratenwerth (Fn. 8), § 10 N 45 und § 11 N 85; Seelmann (Fn. 4), S. 69 f. Vgl. Donatsch / Tag (Fn. 52), S. 235 f.; Trechsel / Geth (Fn. 32), Art. 17 N 8 und Art. 18
Vgl Martin (Fn. 52), S. 82 ff. BGE 122 IV 5; vgl. Martin (Fn. 52), S. 51, 195 ff. 86 So auch Frisch (Fn. 19), S. 425 f.; Streng (Fn. 77), S. 145; Coninx (Fn. 16), S. 59 ff., insb. S. 83 ff. 87 Martin (Fn. 52), S. 46; vgl. auch Seelmann (Fn. 4), S. 68. 88 Martin (Fn. 52), S. 43; vgl. auch Iwangoff (Fn. 16), S. 94 ff. 84 85
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getragenem Verhalten aufgrund von rein ursächlicher Gefahrenherbeiführung bejaht.89 Überdies ist nicht erforderlich, dass ein „gefahrkausales Handeln“ vorliegt; vielmehr sei auch Adressat eines defensiven Notstandseingriffes, „wer die Gefahrenquelle oder doch ein relevanter Teil von ihr bloß ist“.90 So kann beispielsweise die Autolenkerin, die (unverschuldetermaßen) einen Schlaganfall erlitten hat und die Kontrolle über ihr Auto verloren hat, rechtmäßig verletzt oder – je nach Lehrmeinung – gar getötet werden, um das Leben eines anderen Menschen zu retten;91 dieselbe Argumentation könnte im Dreizentner-Fall vorgebracht werden. Die bloße Tatsache also, dass jemand eine Gefahr für andere Menschen darstellt, die er aber in keiner Weise pflichtwidrig verursacht hat,92 soll der maßgebliche Gesichtspunkt der Interessenabwägung sein.93 Die alleinige organisatorische Zuständigkeit (die jedem Rechtssubjekt zukommt) und die kausale Gefahrverursachung, die mitunter nicht einmal ein Verhalten verlangt, stellen aber zu schwache Voraussetzungen dar, um jemanden zu verpflichten eine Rechtsgutverletzung zu dulden, ohne dass höherwertige Rechtsgüter geschützt werden.94 Die Problematik besteht darin, dass auf der Grundlage von strafrechtlich nicht relevanten Rechtspositionen strafrechtlich relevante Pflichten begründet werden, die mitunter gar eine Duldungspflicht der eigenen Tötung umfassen können. Will man die Duldungspflicht des Notstandsopfers (in Anlehnung an die Duldungspflichten bei Vorliegen einer Notwehrlage) mit dem Gedanken der Verantwortung – und damit letztlich mit strafrechtlichen Zurechnungsüberlegungen – verbinden, muss wenigstens ein Verhalten gegeben und der Handlungsunwert eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt sein.95 Dabei zeigt sich im Übrigen, dass zivilrechtliche Denkmuster nur mit größter Sorgfalt ins Strafrecht übernommen werden sollten, weil es im Strafrecht nicht darum geht, wer finanziell für einen Schaden aufkommen soll, sondern ob das Notstandsopfer eine Duldungspflicht trifft respektive, ob sich der Notstandstäter strafbar macht. Wie unbefriedigend eine Lösung des Dreizentner-Falls mittels Defensivnotstand ist, wird sodann deutlich, wenn dieser so modifiziert wird, dass kein Defensivnotstand, sondern ein Aggressivnotstand vorliegt: Dazu nehmen wir zusätzlich an, dass der Pistenfahrzeugfahrer sieht, wie ein Skirennfahrer übungshalber den Hang runter fährt. Dieser stellt offensichtlich keine Gefahr für die Mädchen dar, weil er seine Vgl. Iwangoff (Fn. 16), S. 107; Martin (Fn. 52), S. 72 ff.; Renzikowski (Fn. 19), S. 243. Vgl. Merkel (Fn. 4), S. 384 [hervorgehoben im Original]; vgl. auch Martin (Fn. 52), S. 65 ff. 91 In Anlehnung an Merkel, „Wenn der Staat Unschuldige opfert“, in: „Die Zeit“ vom 8. 7. 2004, S. 33; Merkel (Fn. 4), S. 384; vgl. zu Nichthandlungen im Strassenverkehr Martin (Fn. 52), S. 69 ff. 92 Vgl. Martin (Fn. 52), S. 51. 93 Vgl. Seelmann (Fn. 4), S. 67 f. 94 Vgl. Coninx (Fn. 16), S. 90. 95 Vgl. Hoyer, „Das Rechtsinstitut der Notwehr“, JuS 1988, S. 89 (95). 89 90
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Rennfahrt unter Kontrolle hat. Der Pistenfahrzeugfahrer realisiert, dass er, will er den Dreizentner-Mann, der auf die Mädchen zurast, aufhalten, dem Skirennfahrer nicht mehr ausweichen kann. Dennoch beschleunigt er die Fahrt, um die Mädchen zu retten. Der Skirennfahrer prallt in sein Fahrzeug und verstirbt (SkirennfahrerFall); kurz darauf prallt der dicke Mann in das Fahrzeug und verstirbt ebenfalls, die Mädchen sind aber gerettet. In dieser Konstellation liegt gegenüber dem Skirennfahrer offensichtlich kein Defensivnotstand, sondern ein Aggressivnotstand vor. Der Pistenfahrzeug-Fahrer wäre mit Blick auf die Tötung des Skifahrers nach deutschem Recht nicht nur nicht gerechtfertigt – weil Leben gegen Leben weder qualitativ noch quantitativ abgewogen werden darf –, es gäbe auch keine Möglichkeit ihn zu entschuldigen, weil zwischen ihm und den Mädchen kein Näheverhältnis bestand. Wird das Näheverhältnis sodann entsprechend der deutschen Lehre als objektives Kriterium verstanden, käme nicht einmal eine Strafmilderung im Rahmen der Notstandsinstitute in Frage. Der Pistenfahrzeugfahrer wäre also im Skirennfahrer-Fall strafbar, im Dreizentner-Fall dagegen gestützt auf den Defensivnotstand vollumfänglich straflos. Nun befriedigt diese Ungleichbehandlung der Tötung des Dreizentner-Manns und des Skirennfahrers offensichtlich nicht. Beide Male hat der Pistenfahrzeugfahrer einen Menschen getötet, der zufällig, das heißt unverschuldetermaßen, in einen Gefahrenverlauf verwickelt ist. Der schlafende, wehrlose Dreizentner-Mann soll einzig deshalb getötet werden dürfen, weil er – bzw. der rasende Schlitten – eine Todesgefahr für die Mädchen darstellt. Diese Erklärung der Tötungserlaubnis stützt sich aber auf eine viel zu dünne Grundlage. Weitaus überzeugender wäre es zu argumentieren, dass die Tötung der beiden Männer rechtswidrig ist. Der Grund dafür liegt darin, dass sich die Rechtfertigung des Notstandseingriffes am Notstandsopfer (das heisst in unserem Fall am Dreizentner-Mann) ausrichtet: Dem Notstandsopfer muss (normativ) erklärt werden, weshalb es seine Tötung dulden muss.96 Eine überzeugende Erklärung aber, weshalb der Dreizentner-Mann, der genauso unverschuldet in eine Gefahrenlage geraten ist wie der Skirennfahrer, getötet werden darf, während der Skirennfahrer rechtswidrig getötet würde, kann nicht ausgemacht werden. Die rechtliche Auseinandersetzung der Tötung des Dreizentner-Manns sollte wie diejenige des Skirennfahrers auf der Ebene der Schuld geführt werden. Denn der eigentliche Kern des Problems liegt in der psychischen Zwangslage des Pistenfahrzeugfahrers und nicht darin, ob der Dreizentner-Mann – in Abgrenzung zum Skirennfahrer – selbst die Gefahrenquelle darstellt. Dazu muss aber das anachronistische Kriterium des Näheverhältnisses aufgegeben werden. Gian Martin, der sich in der Schweiz bisher am eingehendsten mit dem Defensivnotstand beschäftigt hat, schlägt vor, die Differenz von Aggressivnotstand und De96
Vgl. Coninx (Fn. 16), S. 19 ff.
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fensivnotstand auch auf der Ebene der Entschuldigung zu berücksichtigen.97 Dies ist indes nicht zielführend, weil die Rechtsfolge der Annahme eines Defensivnotstandes gerade darin besteht, dass sich der Proportionalitätsmaßstab verändert, insofern der Notstandstäter keine überwiegenden Interessen wahren muss. Weil aber beim entschuldigenden Notstand ohnehin ein weniger strikter Proportionalitätsmaßstab gilt, verändert die Annahme einer entschuldigenden Defensivnotstandslage mit Blick auf die Rechtsfolgen nichts. Eine Behandlung des Defensivnotstandes auf der Ebene der Entschuldigung ist aber auch inhaltlich verquer: Im Rahmen der Entschuldigung (Art. 18 Abs. 2 ch-StGB) werden Überlegungen der Proportionalität der Notstandshandlung mit Zumutbarkeitsüberlegungen verknüpft, insofern geschaut wird, ob infolge der beidseitig bedrohten Rechtsgüter eine Preisgabe des bedrohten Gutes unzumutbar erscheint. Dieser Gedanke aber, der sich am Notstandstäter ausrichtet (ihm muss die Preisgabe unzumutbar sein), kann nicht sinnvoll mit der Gefahrzuständigkeit verknüpft werden, die auf die Position des Notstandsopfers Bezug nimmt. Wäre der Defensivnotstand auf der Ebene der Entschuldigung zu berücksichtigen, müsste man argumentieren, dass die Hinnahme einer Notstandsgefahr weniger zumutbar wäre, wenn die Gefahr aus der Rechtssphäre des Notstandsopfers stammt. Eine Begründung, die offensichtlich nicht passt, was daran liegt, dass die Gewichtung der Gefahrzuständigkeit – und damit letztlich die Abgrenzung von Freiheitssphären – die Ebene des Unrechts betrifft und nicht die Ebene der Schuld. Die Argumentation, dass die meisten Defensivnotstandslagen nicht unter Art. 17 ch-StGB zu subsumieren seien, sondern allenfalls im Rahmen von Art. 18 ch-StGB berücksichtigt werden sollten,98 ist somit zum einen materiell nicht überzeugend, zum anderen fällt die Unterscheidung von Aggressivnotstand und Defensivnotstand rechtlich letztlich nicht ins Gewicht. Um im Dreizentner-Fall den Notstandskonflikt auf der Ebene der Entschuldigung gestützt auf § 35 d-StGB oder Art. 18 Abs. 2 ch-StGB anstatt über den rechtfertigenden Defensivnotstand zu lösen, müsste indes auf ein institutionalisiertes Näheverhältnis verzichtet werden, weil die Mädchen zumindest nach deutschem Recht nicht von einem privilegierten Personenkreis erfasst wären. Die Tötung bliebe nach diesem Lösungsansatz rechtswidrig, weil der Pistenfahrzeugfahrer einen unschuldigen, wehrlosen Menschen getötet hat. Straflos wäre der Pistenfahrzeugfahrer, wenn er dem Richter plausibel machen könnte, dass er sich in einer psychischen Zwangslage befunden hat und es für ihn nicht zumutbar gewesen war, zuzusehen, wie zwei kleine, spielende Mädchen, die nicht fähig waren, sich selbst zu retten, sterben. Nur auf diese Weise könnten belastende und befreiende Komponenten, die in der Sphäre des Pistenfahrzeug-Fahrers liegen, berücksichtigt werden. Die Erklärung der Straflosigkeit mittels Unzumutbarkeit wäre weitaus überzeugender als zu argumentieren, dass der Dreizentner-Mann selbst die Gefahr darstellte, sein Tod also letztlich seine Sache ist. 97 98
Vgl. Martin (Fn. 52), S. 189 ff. Vgl. Martin (Fn. 52), S. 148, 208, 227 f.
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V. Schluss Ich habe aufgezeigt, dass eine Beschränkung der entschuldigenden Notstandshilfe auf „besondere Solidaritätsverhältnisse in engen sozialen Gemeinschaften“ 99 von fragwürdigen gesellschaftlichen Prämissen bezüglich Blutsverwandtschaft bzw. gesellschaftlich akzeptierten „objektivierbaren Beziehungsstrukturen“ ausgeht. Dieses Dogma sollte kritisch hinterfragt werden. Die schweizerische gesetzliche Regelung, die auf ein institutionalisiertes Näheverhältnis verzichtet und den Anwendungsbereich der entschuldigenden Notstandshilfe gegenüber Fremden ermöglicht, kann damit bestätigt werden; die Mindermeinung, die ein solches in Art. 18 Abs. 2 ch-StGB hineinlesen will, ist abzulehnen. Sodann habe ich argumentiert, dass die restriktive Interpretation der entschuldigenden Notstandshilfe nicht isoliert betrachtet werden darf. Praxis und Lehre haben im Laufe der Zeit andere Institute geschaffen, um jenseits der relativ engen Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen. In den letzten Jahren haben Autoren vermehrt für Notstandstötungen mittels Defensivnotstand plädiert; dieser erlaubt die Lösung des Konfliktes bei gleichwertigen Rechtsgütern auf der Ebene der Rechtfertigung. Das Strafrecht, das sich traditionellerweise um die Zuweisung von Verantwortlichkeiten kümmert, wähnt sich offenbar bei der Zurechnung von Gefahren auf sichererem Boden, als wenn es um die gerechte Verteilung von zufälligen Verletzungen (Rechtfertigung)100 oder um die Nachsicht bei der Bestrafung gestützt auf Solidaritätsüberlegungen (entschuldigende Notstandshilfe) geht. Diese Sicherheit besteht aber nur scheinbar und ist äußerst problematisch. Summary According to the German Penal Code, the invocation of the exculpatory defence of necessity (‘Entschuldigender Notstand’) is only justified if the defendant preserves his own life, limb, or liberty or the one of a relative or an otherwise close person (so called ‘besonderes Solidaritätsverhältnis’ or ‘Näheverhältnis’). By contrast, if the defendant kills or injures an individual in order to rescue a stranger who is under threat of death or serious harm he cannot escape a criminal conviction. It is commonly argued that it is not so much the emotional distress of the defendant that is key but whether the defendant acted in a reasonable way in the given circumstances. Harming or even killing a person under extreme pressure in order to rescue another person is only regarded as reasonable if there is a pre-existing, legally recognized relationship between the offender and the one to be rescued. In this paper, I challenge the conventional wisdom by showing that the limits of the exculpatory necessity defence according to (blood) relationship and close friendship are ana99 100
Neumann (Fn. 6), § 35 N 6. Ausführlich Coninx (Fn. 16), S. 36 ff.
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chronistic. But even more troublesome is that the restrictive interpretation of the exculpatory necessity defence has led scholars and courts to develop other solutions to block criminal liability in cases of acute danger. In recent times, a specific version of the necessity defence has become very popular among scholars, the so-called ‘defensive necessity’ (‘Defensivnotstand’). This kind of necessity defence that has been inspired by civil law justifies burdensome infringements and even the killing of persons based on the fact that these persons are part of the acute danger without being at fault. The innocent non-aggressor who is merely part of a danger of imminent harm or death, i. e., a comatose Fat-Man on a sledge moving at high speed towards a group of children playing downhill – is strictly liable and has to bear the burden; if necessary he can be killed. The attribution of risk of imminent harm or death based on strict liability might be a good way of allocating losses in tort law, but in criminal law this liability rule requires people to suffer their killing based on a very thin normative foundation. I argue that instead of solving life versus life conflicts based on the attribution of faultlessly being part of dangers we should rethink the exculpatory necessity defence and expand its scope in order to open the possibility for an excuse in cases in which the defendant acts in favour of a stranger.
Solidarität als strafrechtliche Legitimationskategorie: das Beispiel des rechtfertigenden Aggressivnotstandes Michael Pawlik
I. „Es kann keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte“ – wirklich? Juristische Interpreten pflegen dem zweiten Teil von Kants „Metaphysik der Sitten“, der „Tugendlehre“, nur geringe Aufmerksamkeit zu schenken. Namentlich das Lehrstück über die – auch unter Moralphilosophen höchst umstrittenen – Pflichten gegen sich selbst1 scheint der an rechtlichen Fragen interessierte Leser guten Gewissens ignorieren zu können. Dem ist aber nicht so, denn ausgerechnet hier entwickelt Kant eine auch rechtswissenschaftlich bedeutsame pflichtentheoretische Differenzierung. Er unterscheidet zwischen negativen Pflichten, welche insofern einschränkend seien, als sie bloß auf die moralische Selbsterhaltung gingen, und positiven Pflichten, welche erweiternd wirkten, weil sie dem Einzelnen die Vervollkommnung seiner selbst auftrügen.2 In der „Tugendlehre“ bleibt die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten zwar letztlich folgenlos, weil der Mensch nach Kants Überzeugung nicht nur dazu verpflichtet ist, sich in der Vollkommenheit seiner Natur zu erhalten, sondern auch dazu, sich vollkommener zu machen, als die bloße Natur ihn schuf.3 Anders sieht es hingegen im Bereich der „Rechtslehre“ aus. Pufendorf, Christian Wolff und, an diesen anknüpfend, das Preußische Allgemeine Landrecht nehmen noch unbedenklich eine Rechtspflicht des einzelnen an, zu tun, was die Wohlfahrt des Gemeinwesens befördere.4 Demgegenüber bezieht sich der kantische Rechtsbegriff, dem Vorbild Achenwalls und nicht zuletzt demjenigen Mendelssohns folgend,5 nicht auf „das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürf1 Kant, Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke in zehn Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 5. Aufl., 1983, Bd. 7, S. 549 ff.; dazu Esser, Eine Ethik für Endliche, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2004, S. 348 ff. 2 Kant (Fn. 1), S. 551. 3 Kant (Fn. 1), S. 552. 4 Nachweise in: Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, S. 163. 5 Auch dazu Pawlik (Fn. 4), S. 163.
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nis) des anderen […], sondern lediglich auf die Willkür des anderen“.6 Als Rechtspersonen begegnen Menschen bei Kant einander demnach nur im Hinblick auf ihre Handlungsfreiheit. „Eine Rechtsgemeinschaft ist keine Solidargemeinschaft der Bedürftigen, sondern eine Selbstschutzgemeinschaftder Handlungsmächtigen.“ 7 Unter dem Dach eines solchen Rechtsverständnisses ist lediglich Raum für negative Pflichten, die der Erhaltung der von dem Handelnden vorgefundenen Rechtspositionen anderer Personen dienen, nicht aber für positive Pflichten, die auf die Erweiterung fremder Handlungsspielräume ausgehen.8 Die Not ist in dieser Sichtweise „ein kontingentes Ereignis in der empirischen Welt“, ein „internes Freiheitshindernis“ innerhalb der Rechtssphäre des von der Notlage Betroffenen,9 und innerhalb dieser Rechtssphäre muss daher auch ihre Verarbeitung erfolgen.10 Notstandshandlungen – „Gewalttätigkeit[en] gegen den, der keine gegen mich ausübte“11 – sind folglich ebenso unbedingt verboten, wie Notwehrhandlungen – die Zurückweisung „ungerechte[r] Angreifer“ – zulässig sind.12 Kants bekannte Parömie, die isoliert betrachtet wie eine petitio principii erscheint, ist daher innerhalb seines Systems völlig konsequent: Es könne keine Not geben, „welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte“.13 Der Rechtsbegriff, der dieser Ableitung zugrunde liegt, ist allerdings dermaßen eng, dass nicht einmal sein Urheber selbst ihn durchzuhalten vermag. Auch Kant kennt vielmehr Konstellationen, in denen von Rechts wegen die Erweiterung fremder Handlungsspielräume geschuldet wird. Einen offenkundigen Fall dieser Art bildet die – von Kant übrigens nicht überzeugend begründete – Fürsorgepflicht der Eltern für ihre Kinder.14 Aber auch die für Kants Staatslehre grundlegende Pflicht, den Naturzustand zu verlassen und in den bürgerlichen Zustand überzugehen, sprengt das Korsett einer rein negativen Erhaltungsordnung. Zwar gibt es bei Kant anders als bei Hobbes bereits im Naturzustand als dem Zustand des reinen Privatrechts ein rechtliches Mein und Dein. Da die Interpretationskompetenz über Existenz und Reichweite dieser Rechtspositionen bei den einzelnen Naturzustandsbewohnern liege, könnten die Menschen im Naturzustand aber niemals vor Gewalttätigkeiten Kant (Fn. 1), S. 337. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 98. 8 Dies wurde zuletzt nachgewiesen von Coninx, Das Solidaritätsprinzip im Lebensnotstand, Bern: Stämpfli, 2012, S. 138 ff. 9 Kersting (Fn. 7), S. 98. 10 Eine Tugendpflicht zu aktiver Hilfeleistung kennt Kant dagegen sehr wohl (Kant [Fn. 1], S. 524, 589). 11 Kant (Fn. 1), S. 343. 12 Zu Kants Notwehrlehre Hruschka, „Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre“, ZStW 115 (2003), S. 201 ff.; Pawlik, „Die Notwehr nach Kant und Hegel“, ZStW 114 (2002), S. 266 ff. 13 Kant (Fn. 1), S. 343. 14 Näher dazu Pawlik (Fn. 4), S. 164 f. 6 7
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sicher sein.15 Jedermann ist nach Kant dazu verpflichtet, diesen von ihm ungeachtet seiner rechtsförmigen Ingredienzien ausdrücklich als nicht-rechtlich bezeichneten Zustand16 zu verlassen und „in einen Zustand [zu] treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird“. 17 Worauf stützt Kant diese Verpflichtung? Nicht etwa, wie Locke, auf Klugheitsgründe18 – derartige Gründe wären zur Begründung einer erzwingbaren Verpflichtung auch von vornherein zu schwach –,19 sondern auf die Erwägung, dass erst in einem solchen Zustand „jeder seines Rechts teilhaftig werden“ könne.20 In der Tat erstarken die dem Einzelnen zustehenden Rechte erst unter den Bedingungen des bürgerlichen Zustandes zu verlässlichen Stützen einer planvollen Lebensgestaltung. Wenn aber dies der Grund ist, aus dem jeder dem anderen den Übergang in den bürgerlichen Zustand schuldet, so wird dadurch bewiesen, dass es auch nach Kant im staatlich institutionalisierten Recht um mehr geht als um die bloße Respektierung eines vorgefundenen status quo. Der eigentliche Inhalt der von Kant angenommenen Grundpflicht des Bürgers besteht vielmehr darin, an der Herstellung (und sodann der Aufrechterhaltung) eines Zustandes nicht nur papierner, sondern realer Freiheitlichkeit mitzuwirken. Dieser Befund „lässt es jedoch schwierig werden, eine prinzipielle Grenze zwischen sogenannten negativen Abwehrrechten und weitergehenden positiven Teilhaberechten zu ziehen“.21 Weshalb nämlich sollte die genannte Verpflichtung auf die Beseitigung derjenigen Risikofaktoren für einen realiter selbstbestimmten Umgang anderer Personen mit ihren Rechtspositionen beschränkt bleiben, die sich daraus ergeben, dass im Naturzustand „jeder seinem eigenen Kopfe folgt“,22 während alle weiteren existenziell bedeutsamen Unsicherheiten dem Betroffenen selbst aufgebürdet werden? Unter der Perspektive von Kants Staatsrecht ist dies zwar eine mögliche, aber – anders als Kant in seinen Ausführungen über das Notrecht suggeriert – keineswegs eine zwingende Grenzziehung. Die Frage, ob an ihr (generell oder doch jedenfalls für den Bereich des Strafrechts) festgehalten werden soll, lässt sich deshalb nicht mit einem apodiktischen Ja oder Nein beantworten, sondern erfordert differenziertere Überlegungen. Kant (Fn. 1), S. 430. Kant (Fn. 1), S. 423. 17 Kant (Fn. 1), S. 430. 18 Vgl. Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, § 95 (S. 82); dazu Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994, S. 127. 19 Näher dazu unter IV. 20 Kant (Fn. 1), S. 423. 21 Kliemt, Solidarität in Freiheit, Freiburg / München: Alber, 1995, S. 76; ebenso Bayertz, „Staat und Solidarität“, in: ders. (Hrsg.), Politik und Ethik, Stuttgart: Reclam, 1996, S. 316. 22 Kant (Fn. 1), S. 430. 15 16
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Verhältnismäßig unproblematisch erscheint die Annahme positiver Pflichten demnach dort, wo sie – beispielsweise durch die Übernahme eines entsprechenden Berufs oder die Entscheidung für die Elternrolle – an einen zuständigkeitsbegründenden Willensakt des Pflichtigen anknüpfen kann.23 Die Freiwilligkeit der Rollenwahl ist „die wichtigste implizite gesellschaftliche Strategie zur Senkung der beim moralischen Subjekt anfallenden ‚Kosten‘“.24 Weshalb? Weil ein voluntaristisches Verständnis moralischer bzw. rechtlicher Verpflichtungen25 sich ohne Weiteres mit dem heute vorherrschenden „moralischen Individualismus“26 und dessen Zentralidee der Selbstbestimmung vereinbaren lässt, in deren Verfolgung moderne Menschen nach einer Bemerkung Peter Bieris ihre Würde und ihr Glück zu finden meinen.27 Wer selbstbestimmt lebt, lässt sich seine Handlungsinhalte nicht von anderen vorgeben, sondern setzt sie nach Maßgabe seiner Wertüberzeugungen und Ziele eigenständig fest.28 Umgekehrt hat der selbstbestimmt Handelnde die Folgen seiner Selbstbestimmung zu tragen.29 Wer eine soziale Rolle übernommen hat, darf sich deshalb nicht beklagen, wenn er an den sich aus ihr ergebenden Anforderungen festgehalten wird. Weitaus heikler ist demgegenüber die Zuschreibung von Verantwortung im Fall von vorverhaltensunabhängigen Pflichten, die allein an die besondere Leistungsfähigkeit des Pflichtigen anknüpfen.30 Hier fehlt es an einem konkret fassbaren Übernahmeakt; es genügt, dass der Pflichtige und der Notleidende sich im Geltungsbereich derselben Rechtsordnung befinden und jenem die Abwendung der Notlage seines Rechtsgenossen zumutbar ist. Strafrechtlich kann diese Verantwortung zum einen in der Weise in Erscheinung treten, dass die Vorenthaltung der geforderten Zuwendung als Grund für eine Bestrafung des Pflichtigen fungiert: der Fall der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Zum anderen kann sie sich in Gestalt einer Pflicht zur Duldung fremder Eingriffe äußern. So liegt es im Fall des rechtfertigenden Aggressivnotstandes (§ 34 StGB), der im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen steht. Dieses Rechtsinstitut mutet es einem Bürger zu, zugunsten eines anderen einen Eingriff in seinen Rechtskreis hinzunehmen, obgleich er für dessen Gefährdung nicht verantwortlich ist und ihm auch ansonsten keine besondere Fürsorge 23 Näher Pawlik (Fn. 4), S. 186 ff. – Ebenso Bayertz (Fn. 21), S. 305; ders., „Begriff und Problem der Solidarität“, in: ders. (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 14; Mieth, Positive Pflichten, Berlin/ Boston: de Gruyter, 2012, S. 15 ff.; v. d. Pfordten, „Zur Rechtfertigung von Hilfeleistungspflichten“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 109. 24 Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart: Reclam, 1995, S. 318. 25 Diese Bezeichnung übernehme ich von Sandel, „Solidarität“, Transit 44 (2013), S. 112. 26 Sandel (Fn. 25), S. 112. 27 Bieri, Wie wollen wir leben?, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2013, S. 7. 28 Bieri (Fn. 27), S. 57. 29 Pawlik (Fn. 4), S. 219 f. 30 Birnbacher, „Grenzen der Verantwortung“, in: Bayertz (Hrsg.), Verantwortung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, S. 173.
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schuldet. Lassen sich Verpflichtungen dieser Art in einer Weise begründen, die dem vom Selbstbestimmungsgedanken ausgehenden Druck standzuhalten vermag?
II. Der Solidaritätsbegriff als „nicht interpretierte These“ In der deutschen Strafrechtswissenschaft wird im Unterschied zu anderen Rechtskulturen31 diese Frage nahezu einhellig bejaht.32 Seit einigen Jahrzehnten33 verweist ein wachsender Teil der Lehre zur Begründung auf die „Solidarität der Rechtsgemeinschaft, die von dem einzelnen in bestimmten Fällen der Not ein gewisses Maß an Opferbereitschaft fordert“.34 So wie in der französischen Revolution die fraternité als Vorgängerbegriff der solidarité35 die Härten der liberté abmildern sollte,36 31 Nachweise bei Dannecker, „Der Allgemeine Teil eines europäischen Strafrechts als Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft“, in: Weigend/ Küpper (Hrsg.), Festschrift für Hans Joachim Hirsch, Berlin/ New York: de Gruyter, 1999, S. 141, 159 ff. 32 Kritisch allerdings Seelmann, „Ideengeschichte des Solidaritätsbegriffs im Strafrecht“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 47. 33 Bezogen auf die unterlassene Hilfeleistung finden sich entsprechende Stimmen bereits in den 50er Jahren, die Diskussion über den rechtfertigenden Aggressivnotstand zieht seit den 70er Jahren nach. Nachweise bei Kühnbach, Solidaritätspflichten Unbeteiligter, Baden-Baden: Nomos, 2007, S. 96 ff. (unterlassene Hilfeleistung), 52 ff. (Aggressivnotstand). 34 Wessels, Strafrecht Allgemeiner Teil, Karlsruhe/ Heidelberg: C. F. Müller, 1. Aufl., 1970, S. 45; gleichlautend Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, Heidelberg: C. F. Müller, 43. Aufl., 2013, Rdn. 295. – Ebenso Coninx (Fn. 8), S. 14 f.; Erb, in: Joecks / Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, München: Beck, 2. Aufl., 2011, § 34 Rdn. 7 f.; Frisch, „Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien“, in: Paeffgen u. a. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaftals Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe, Berlin: Duncker & Humblot, 2011, S. 439; Frister, „Die Notwehr im System der Notrechte“, GA 1988, S. 292; Günther, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Köln: Wolters Kluwer, 8. Aufl., 140. Ergänzungslieferung (Stand: Oktober 2013), § 34 Rdn. 2; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin/ New York: de Gruyter, 2. Aufl., 1991, § 11 Rdn. 3; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, München: Vahlen, 7. Aufl., 2012, § 8 Rdn. 172, § 9 Rdn. 17; Lackner / Kühl, Strafgesetzbuch Kommentar, München: Beck, 28. Aufl., 2014, § 34 Rdn. 1; Kühnbach (Fn. 33), S. 223 ff.; Neumann, in: Kindhäuser/ Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Baden-Baden: Nomos, 4. Aufl., 2013, Bd. 1, § 34 Rdn. 9; ders., „Die rechtsethische Begründung des rechtfertigenden Notstands auf der Basis von Utilitarismus, Solidaritätsprinzip und Loyalitätsprinzip“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 164 ff.; Renzikowski, Notstand und Notwehr, Berlin: Duncker & Humblot, 1994, S. 188 ff., 206; Wilenmann, Freiheitsdistribution und Verantwortungsbegriff, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 124, 148. 35 Einzelheiten bei Röttgers, „Fraternité und Solidarität in politischer Theorie und Praxis – Begriffsgeschichtliche Beobachtungen“, in: Busche (Hrsg.), Solidarität, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 19 ff. 36 Dallinger, Die Solidarität der modernen Gesellschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 24. – Steinvorth, „Kann Solidarität erzwingbar sein?“, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 56 f., stellt nicht ohne Pathos fest,
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fungiert Solidarität als Gegenwert, genauer: als Korrektiv zum Wert der Selbstbestimmung.37 Dementsprechend wird die generelle Beschränkung der strafrechtlichen Zuständigkeitslehre auf Selbstbindungsakte des Pflichtigen zwar im Allgemeinen anerkannt, soll aber in schwerwiegenden Notlagen ergänzt werden durch ein Auffangregime wechselseitiger Unterstützung.38 „Solidarität“ ist also gleichsam die Ausnahme, die die Regel „Selbstbestimmung“ gerade dadurch stärkt, dass sie einige potentiell anstoßerregende Konsequenzen derselben vermeiden hilft. Die Rückführung des rechtfertigenden Aggressivnotstandes auf den Solidaritätsgedanken bietet unübersehbare argumentationsstrategische Vorteile. Die euphemistische, freiwillige Hingabe (Wessels’ „Opferbereitschaft“) suggerierende Bezeichnung „Solidarität“39 eignet sich hervorragend dazu, durch die Inaussichtstellung einer „Idylle des gesellschaftlichen Ausgleichs“40 den Zwangscharakter der auf diese Weise gerechtfertigten Maßnahmen zu kaschieren41 und Kritiker von vornherein zu entmutigen, denn wer möchte schon als Befürworter unsolidarischen Verhalten gelten?42 Aber führt die Berufung auf einen Terminus, dessen Natur nach einem harten, aber treffenden Urteil der französischen Philosophin Véronique Munoz-Dardé in vielen Fällen darin besteht, „als letztes rhetorisches Mittel zu dienen, um die Reflexion zum Schweigen zu bringen, statt ihr auf die Sprünge zu helfen“, 43 auch zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn? Verhilft sie mit anderen Worten dazu, den rechtfertigenden Aggressivnotstand besser zu begreifen? mit der Solidaritätsidee habe die Französische Revolution dem liberalen Staatsmodell die erste Wunde geschlagen und ihm ein Merkmal des Sozialstaatsmodells aufgezwungen. 37 Capaldi, „Was stimmt nicht mit der Solidarität?“, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 86 f.; Khushf, „Solidarität als moralischer und politischer Begriff“, ebd., S. 121, 127; Dallinger (Fn. 36), S. 236. 38 Exemplarisch Kühl, „Zur Anwendung des Solidaritätsbegriffs auf die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 101. 39 Vgl. Bayertz (Fn. 23), S. 12, 37; Baurmann, „Solidarität als soziale Norm und als Norm der Verfassung“, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 345; Bierhoff / Küpper, „Sozialpsychologie der Solidarität“, ebd., S. 263; Denninger, „Verfassungsrecht und Solidarität“, ebd., S. 337; Engelhardt, „Solidarität: postmoderne Perspektiven“, ebd., S. 434; Wildt, „Solidarität – Begriffsgeschichte und Definition heute“, ebd., S. 211 ff.; Hondrich / Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Fischer, 1992, S. 15 f., 114. 40 So kennzeichnet Klein, „Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik“, in: ders. (Hrsg.), Politische Semantik, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1989, S. 37, das Wortfeld der frühen sozialliberalen Koalition, in dem „Solidarität“ eine gewichtige Rolle spielte. 41 Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Berlin: Suhrkamp, 2. Aufl., 2012, S. 128. 42 Kliemt (Fn. 21), S. 69 f.; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, Berlin/ New York: de Gruyter, 2002, S. 59 f.; Zürcher, Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft, Tübingen/ Basel: Francke, 1998, S. 9. 43 Munoz-Dardé, „Brüderlichkeit und Gerechtigkeit“, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 147.
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Dies erscheint keineswegs sicher.44 Da es sich bei dem Terminus „Solidarität“ eher um ein (inzwischen ziemlich aus dem Mode gekommenes) politisches „Fahnenwort mit Aufforderungscharakter“45 als um einen wissenschaftlich, namentlich philosophisch hinreichend vorkonturierten Begriff handelt,46 ist ihm eine notorische Unschärfe eigen.47 Zwar besitzt „Solidarität“ einen weitgehend unangefochtenen Kerngehalt in Gestalt der Idee gegenseitiger und gemeinschaftsstiftender Verbundenheit zwischen verschiedenen Personen, die ein Element der Verantwortung und der Sorge für andere einschließt.48 Solidarisches Verhalten verlangt danach „Zuwendung und Zuwendungen, die den Status quo des Anderen nicht nur erhalten, sondern ihn bessern, die nicht nur ‚Sicherheit‘, sondern ‚Wohlfahrt‘ produzieren“.49 Die pauschale Aussage, dass der rechtfertigende Aggressivnotstand auf dem so verstandenen Solidaritätsgedanken beruhe, führt aber nicht über die Tautologie hinaus, dass der Pflichtige Zuwendung schulde, weil er Zuwendung schulde.50 Das Legitimationsproblem wird dadurch nicht gelöst, sondern lediglich auf höherem Abstraktionsniveau reformuliert. Wer mit wissenschaftlichem Anspruch von Solidarität spricht, muss also erläutern, was er damit genau meint, und vor allem muss er begründen, wie dieser Begriff sich in das strafrechtliche Zurechnungssystem einfügt und worin sein legitimatorischer Mehrwert besteht. Solange seine Verwender im Strafrecht diesen Anforderungen nicht gerecht werden, sich vielmehr mit hilflos-rührenden Beteuerungen begnügen,51 gilt das Urteil des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss über die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes auch für den strafrechtsdogmatischen Solidaritätsbegriff: Er erscheint als eine „nicht interpretierte These“.52 Damit drängt
Anderer Ansicht zuletzt Kühl (Fn. 38), S. 100. Ehtreiber, Stichwort „Solidarität“, in: Panagl/ Gerlich (Hrsg.), Wörterbuch der politischen Sprache in Österreich, Wien: Österreichischer Bundesverlag, 2007, S. 385. 46 Bayertz, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 9; Preuß, Nationale, supranationale und internationale Solidarität, ebd., S. 401. 47 Die diesbezügliche Kritik wird dokumentiert in: Pawlik (Fn. 42), S. 58 f., sowie in Dallinger (Fn. 36), S. 21 f. 48 Pawlik (Fn. 42), S. 60 m. w. N.; ebenso jüngst Saliger, „Kontraktualistische Solidarität“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 61. 49 Denninger (Fn. 39), S. 335. 50 Pawlik (Fn. 42), S. 58. 51 Ein Bespiel aus dem neuesten Schrifttum: Persak, „Die Kriminalisierung der unterlassenen Hilfeleistung – ein solidaritätsbasierter Ansatz“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 218 (Solidarität sei „als Wert zu verstehen, der für Individuen ebenso wichtig ist wie für Gesellschaften und der das ist, was Menschen menschlich macht“). 52 Theodor Heuss in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 29. 9. 1948, wiedergegeben bei: Wernicke (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5 / I, Boppard am Rhein: Boldt, 1993, S. 72. 44 45
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sich freilich die Frage auf: Bedarf es dieser These überhaupt? Darauf wird im folgenden Abschnitt eingegangen.
III. Interessenabwägung statt Solidarität? Der Terminus „Solidarität“ hat bis heute keinen unangefochtenen Platz in der Allgemeinen Verbrechenslehre erobern können. In zahlreichen führenden Kommentaren und Lehrbüchern wird er entweder überhaupt nicht53 oder nur en passant erwähnt.54 Diese Zurückhaltung hat ihren Grund in der Überzeugung der betreffenden Autoren, dass ein adäquates Verständnis des rechtfertigenden Aggressivnotstandes sich auch auf einem anderen, konventionelleren Weg finden lasse: über das Modell einer Interessenabwägung. Eine eigenständige verbrechenstheoretische Kategorie namens Solidarität sei daneben überflüssig.55 Der herkömmlichen Deutung des rechtfertigenden Aggressivnotstandes liegt eine Aufgabenbestimmung des Strafrechts zugrunde, die so harmlos und gewinnend-verständig daherkommt, dass sie sich nach wie vor breiter Zustimmung erfreut. Die Aufgabe des Strafrechts besteht danach im Schutz von Rechtsgütern.56 Wer ein Rechtsgut verletzt oder gefährdet, führt einen Zustand herbei, der dem Schutzzweck des Strafrechts zuwiderläuft und daher als negativ bewertet wird; er verwirklicht einen Erfolgsunwert. Wer ein Rechtsgut vor der drohenden Vernichtung bewahrt, realisiert demgegenüber einen Erfolgswert.57 Wie aber verhält es sich in den Konstellationen der Notwehr, des defensiven und des aggressiven Notstandes, wo ein und dieselbe Handlung sowohl die Beeinträchtigung als auch die Errettung von Rechtsgütern bewirkt? Hier bleibt nur der Ausweg einer Abwägung: Mittels einer vergleichenden Bewertung muss ermittelt werden, welche der beiden Handlungsfolgen stärker ins Gewicht fällt.58 53 Vgl. Rönnau, in: Laufhütte/ Rissing-van Saan / Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Berlin: de Gruyter, 12. Aufl., 2007, Bd. 2, Vor § 32 Rdn. 1 ff.; Zieschang, ebd., § 34 Rdn. 1 ff.; Rosenau, in: Satzger/ Schmitt/ Widmaier, StGB. Strafgesetzbuch. Kommentar, Köln: Heymanns, 2009, Vor §§ 32 ff. Rdn. 1 ff., § 34 Rdn. 1 ff. 54 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, München: Beck, 61. Aufl., 2014, § 34 Rdn. 2. 55 Perron, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, München: Beck, 29. Aufl., 2014, § 34 Rdn. 10. 56 Exemplarisch Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin: Duncker & Humblot, 5. Aufl., 1996, § 1 III 1 (S. 7); Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, München: Beck, 5. Aufl., 2013, § 3 Rdn. 2; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, München: Beck, 4. Aufl., 2006, § 2 Rdn. 1; Wessels / Beulke / Satzger (Fn. 34), Rdn. 6; Swoboda, „Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen“, ZStW 122 (2010), S. 24 ff. 57 Beispielhaft Lenckner / Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, München: Beck, 29. Aufl., 2014, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 10. 58 Eingehend Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, Tübingen: Mohr Siebeck, 1965, S. 50 ff.
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Die ursprüngliche Legitimation des rechtfertigenden Aggressivnotstandes setzte diesen Begründungsansatz gleichsam in Reinform um. Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurde der rechtfertigende Aggressivnotstand mit der Begründung propagiert, er trage dazu bei, der Gesellschaft bzw. dem Staat einen möglichst großen Gesamtbestand an Gütern zu sichern.59 Dass diese dezidiert kollektivistische Deutung rasch breites Gehör fand, verdankte sie nicht zuletzt dem Umstand, dass die Unterordnung individueller Rechtspositionen unter die Belange des (sei es staatlich, sei es völkisch gedachten) Ganzen dem sozialen und politischen Denken namentlich des juristisch tonangebenden deutschen Bildungsbürgertums vertraut und unmittelbar einleuchtend erschien.60 Freilich wurde dogmatisch weniger heiß gegessen, als legitimationstheoretisch gekocht wurde. Der Logik eines auf maximale Gütererhaltung ausgerichteten Begründungsschemas hätte es entsprochen, eine unbeschränkte Verrechnung auch von höchstpersönlichen Rechtsgütern zu gestatten und schon ein einfaches Überwiegen des geretteten Gutes gegenüber dem Eingriffsgut zur Rechtfertigung genügen zu lassen.61 Einem anderen schwerwiegende Verletzungen beizubringen, um sich selbst vor dem drohenden Tod zu retten, wäre danach rechtmäßig,62 ebenso die Tötung einer Person zur Rettung von zwei Personen. Derartige Radikalismen waren indessen zu keiner Zeit mehrheitsfähig.63 Die rasche Durchsetzung des rechtfertigenden Aggressivnotstandes dürfte sich insofern der Verknüpfung eines kernigen, den Zeitgeschmack bedienenden Legitimationsgedankens mit einer die Grenzen des guten bürgerlichen Geschmacks achtenden dogmatischen Durchführung verdanken. Die Verflüssigung der Güter- zu einer allgemeinen Interessenabwägung seit den 1920er Jahren64 verschaffte diesem Wunsch nach möglichst großer Flexibilität im Umgang mit Einzelfällen sodann die theoretische Basis. Seit den 1960er Jahren vollzog sich der Aufstieg der bereits im ersten Abschnitt erwähnten Selbstbestimmungsidee im allgemeinen Lebensgefühl und – mit der üblichen zeitlichen Verzögerung – auch in der Strafrechtsdogmatik. Allerdings wurde die prinzipielle Legitimität des rechtfertigenden Aggressivnotstandes auch jetzt nicht ernsthaft in Frage gestellt. Vielmehr trägt die herrschende Auffassung dem gewandelten Zeitgeist seither nur insofern Rechnung, als sie die Abwägungsrelevanz des Freiheitsinteresses des Eingriffsadressaten mit größerem Nachdruck betont als früher.65 Näher dazu Pawlik (Fn. 42), S. 34 ff. Ebenso Renzikowski, „Solidarität in Notsituationen“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 32. 61 Pawlik (Fn. 42), S. 37 f.; Neumann (Fn. 34), S. 158. 62 Coninx, „Zufall und Verteilungsgerechtigkeit“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 190. 63 Pawlik (Fn. 42), S. 38 f. 64 Pawlik (Fn. 42), S. 45 ff. 65 Exemplarisch Lenckner (Fn. 58), S. 112 f., 127 f.; ders., „Der Grundsatz der Güterabwägung als Grundlage der Rechtfertigung“, GA 1985, S. 312; Roxin (Fn. 56), § 16 Rdn. 46, 71. 59 60
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Dieser konzeptionelle Rahmen unterscheidet sich diametral von demjenigen, der den neueren solidaritätsgestützten Deutungen zugrunde liegt. Während der Solidaritätsbegriff dort vom systematischen Primat des Selbstbestimmungsgedankens lebt, als dessen Korrektiv er dient, bleibt im Modell der Interessenabwägung die Sozialbindung des Eingriffsadressaten methodisch und axiologisch vorrangig. Zwar verwenden auch einige Vertreter der letztgenannten Notstandsdeutung den Terminus „Solidarität“.66 Innerhalb des Interessenabwägungsmodells kann der Solidarität aber lediglich die Rolle eines Geschmacksverstärkers zukommen, der der etwas antiquiert erscheinenden Rede von der Sozialbindung ein dem sozialdemokratisierten Zeitgeist besser mundendes Aroma verleiht. Eine genuin systematische Bedeutung besitzt sie hingegen nicht. Eben wegen seiner kollektivistischen Einfärbung ist das Interessenabwägungsmodell unvereinbar mit einer verbrechenstheoretischen Konzeption, die die Aufgabe des Strafrechts in der Aufrechterhaltung eines Zustandes der Freiheitlichkeit erblickt.67 Der dogmatische Hauptmangel jenes Modells besteht darin, dass es einen von Zuständigkeitserwägungen abgelösten Rechtsgutbegriff zugrunde legt. Die Gefährlichkeit einer derart eindimensionalen Rechtsgutlehre wird gewöhnlich – und durchaus zu Recht – darin gesehen, dass sie einer unkontrollierbaren Expansion des Strafrechts das Wort redet.68 Weniger offenkundig, legitimationstheoretisch aber nicht weniger heikel ist der diesem Denken innewohnende Hang zu personenübergreifenden Nutzenkalkülen. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, strafrechtliche Konflikte nicht als Konflikte zwischen Personen, also Rechtsinhabern, sondern als Konflikte zwischen Rechtsgütern wahrzunehmen, an denen unterschiedliche Personen gewisse Interessen haben, drängt es sich geradezu auf, zunächst einmal diese Rechtsgüter miteinander zu vergleichen und das Freiheitsinteresse des Eingriffsadressaten lediglich als sekundäres Korrektiv anzusehen. Rawls’ bekannte Kritik, dass kollektivistische Begründungsverfahren die Verschiedenheit der Menschen nicht ernst nähmen,69 erfährt am Interessenabwägungsmodell und dem ihm zugrunde liegenden Rechtsgutverständnis eine anschauliche Bestätigung.70 Die Herabsetzung des Selbstbestimmungsrechts zu einem bloßen Interesse, das dem Vergleich und der Verrechnung mit gegenläufigen Interessen offensteht, führt schließlich auch dazu, dass das Interessenabwägungsmodell keine absoluten Aufopferungsgrenzen zu fixieren vermag. Dass solche Grenzen existieren, wird in der heutigen Notstandsliteratur indes einhellig anerkannt. Zwar ist es selbstverständlich 66 Vgl. etwa Roxin, „Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand“, in: Vogler (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, Bd. 1, Berlin: Duncker und Humblot, 1985, S. 457, 471 f. 67 Dazu näher Pawlik (Fn. 4), S. 90 ff. 68 Pawlik (Fn. 4), S. 137 ff. 69 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 10. Aufl., 1998, S. 45. 70 Ebenso Neumann (Fn. 34), S. 161 ff.
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möglich, sie von außen her – positiv-rechtlich gesprochen: über die Angemessenheitsklausel des § 34 S. 2 StGB – an das Interessenabwägungsmodell anzustücken;71 aber dann verfügt man nicht mehr über eine Theorie des rechtfertigenden Aggressivnotstandes, sondern lediglich über ein aus zwei nicht zueinander passenden Hälften zusammengesetztes Monstrum. Insgesamt erweist die Auseinandersetzung um den dogmatischen Stellenwert der Solidaritätskategorie sich somit als Bestandteil einer umfassenden Neuorientierung der Allgemeinen Verbrechenslehre: ihrer Abkehr vom abstrakten Rechtsgutdenken zugunsten eines verbrechenstheoretischen Modells, in dessen Mittelpunkt eine an dem Ziel der Aufrechterhaltung eines Zustandes der Freiheitlichkeit orientierte dynamische Abgrenzung personaler Verantwortungsbereiche steht.72 Erst im Rahmen eines solchen Strafrechtsverständnisses kann der Solidarität ein eigenständiger verbrechenstheoretischer Rang zuwachsen: als Bestandteil eines in sich ausgewogenen Systems von Figuren der Zuständigkeitsbegründung. Dazu bedarf sie freilich eines überzeugungskräftigen begründungstheoretischen Fundaments. Wie ein solcher Unterbau aussehen könnte, wird in den beiden folgenden Abschnitten erörtert.
IV. Solidarität als Klugheitsgebot? Eine Zeit, die sich selbst als „nachmetaphysisch“ feiert und die Kraft ursprünglicher Gemeinschaftserfahrungen, wie sie sich beispielsweise in der Spontaneität des Helfens im Augenblick der Not äußert,73 unter Ideologieverdacht stellt, eine solche Zeit hat eine natürliche Präferenz für klugheitsbasierte, in der Figur des verständigen Eigeninteresses wurzelnde Begründungsstrategien. Die Attraktivität prudentieller Ansätze liegt darin, dass sie aufgrund ihrer Verankerung im methodologischen Individualismus die Akzeptanzschwelle für selbstbestimmungs- und selbstoptimierungsaffine Zeitgenossen, die den Sinn für den Eigenwert sozialer Bindungen weitgehend verloren haben, niedrig halten. Dies gilt auch für die neuere strafrechtliche Solidaritätsdiskussion.74 Als Beurteilungsinstanz, der gegenüber die Pflicht zur So71 Gallas, „Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs“, ZStW 80 (1968), S. 26 f.; Jescheck / Weigend (Fn. 56), § 33 IV 3 d (S. 363 f.); Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), Berlin: Duncker und Humblot, 1990, S. 192 ff. 72 Zu Recht bemerkt Neumann (Fn. 34), S. 163, wenn man dem Strafrecht die Funktion des Rechtsgüterschutzes zuspreche, dann sei der Akzent auf die erste Silbe des Wortes „Rechtsgut“ zu legen. „Das Strafrecht schützt nicht Güter, sondern die Verteilung von Gütern, die sich an allgemeinen rechtlichen Regeln orientiert.“ 73 Di Fabio, „Was schulden wir einander? – Keine Leistung ohne Gegenleistung?“, in: Di Fabio / Oermann (Hrsg.), Was schulden wir einander?, Berlin: Berlin University Press, 2008, S. 29. 74 Grundlegend Merkel, „Zaungäste“, in: Institut für KriminalwissenschaftenFrankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt a. M.: Lang, 1995, S. 185; zuletzt Coninx (Fn. 8), S. 21 ff. – Weitere Nachweise in: Pawlik (Fn. 4), S. 249 Fn. 567.
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lidarität legitimiert werden soll, gilt dementsprechend nicht etwa ein über einen ursprünglichen Sinn für Altruismus verfügender und daher von der Notlage anderer Personen unmittelbar affizierter homo socialis, sondern ein auf sein eigenes Wohlergehen fokussierter und deshalb nur durch den Nachweis eigener Vorteile zu überzeugender homo calculans. Darin liegt eine Abkehr von den ideengeschichtlichen Wurzeln des rechtfertigenden Aggressivnotstandes, wie sie radikaler kaum denkbar ist. Von einem Instrument zur Optimierung des kollektiven Gesamtinteresses ist dieser zu einem Mittel individueller Lebensklugheit geworden. Die Tatsache, dass die Vertreter dieser Auffassung dem gegenwärtigen Zeitgeist ein Mehr an Hingabebereitschaft nicht plausibel machen zu können glauben, lehrt mindestens eben so viel über die soziale Umwelt der Strafrechtswissenschaft wie über diese selbst. Auch wenn zünftige Dogmatiker es nicht gerne hören: Strafrechtswissenschaft ist stets auch Kulturwissenschaft. Die Deutungsgeschichte des rechtfertigenden Aggressivnotstandes ist dafür ein besonders plastisches Beispiel. Der klugheitsbasierten Auffassung zufolge erkaufen die einzelnen Bürger sich durch die Institution des rechtfertigenden Aggressivnotstandes einen Zuwachs an Daseinssicherheit in existenzbedrohenden Notlagen, indem sie einander für den Fall bedeutsamer, nicht anders abwendbarer Notlagen wechselseitig die Befugnis zum Eingriff in ihre Rechtskreise zugestehen. Das dieser These zugrunde liegende Legitimationsargument ist schon vor mehr als 300 Jahren von Leibniz formuliert worden: „Einen Nachteil hinnehmen mit der Gewissheit oder dem Vertrauen, ihn wiedererstattet zu bekommen, ist billig, weil es auf einen unschädlichen Nutzen hinausläuft. Sogar auch ein bestimmtes Maß an Unglück zu ertragen mit der Gewissheit, dass umgekehrt der andere mein Unglück verhindert, ist von Vorteil.“75 Wie aber ist dieser Gedanke konstruktiv im Einzelnen umzusetzen? Merkel und Coninx bauen ihn in das Kategoriensystem des Neokontraktualismus rawlsscher Provenienz ein. Von Rawls übernehmen sie vor allem die Begründungsfigur des „Schleiers des Nichtwissens“76, bei Merkel ergänzt um die Kategorie der Grundgüter: „Güter, die nicht bloß als Mittel zur Verwirklichung irgendeines konkreten, sondern als Grundlage jedes nur denkbaren Lebensplans […] erforderlich sind.“77 Dass alle an der Entscheidung über die Einführung einer bestimmten Rechtsordnung Beteiligten hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ agieren, bedeutet: Niemand von ihnen kann zuvor wissen, welche Rolle ihm im Rahmen eines künftigen Notstandskonflikts zufallen wird – ob die Rolle des Eingriffsberechtigten oder die des Duldungspflichtigen.78 Dies lege den Gedanken nahe, zumindest solche Interessen, die mit den Grundgütern in direktem Zusammenhang stehen, „einer gewissen Solidaritätsobhut jedes einzelnen gegenüber jedem anderen anzuvertrauen: zum Beispiel ei75 76 77 78
Leibniz, Frühe Schriften zum Naturrecht, Hamburg: Meiner, 2003, S. 153. Merkel (Fn. 74), S. 185; Coninx (Fn. 8), S. 101 ff. Merkel (Fn. 74), S. 184. Coninx (Fn. 8), S. 21 ff., 111 ff.
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ner vorsichtig ausbalancierten Notstandsregelung wie der des § 34 StGB.“ 79 Der Solidaritätseffekt sei demnach „nicht Ausdruck einer genuin moralischen Einstellung […], sondern Folge einer ausschließlich rational motivierten Kooperation“; deshalb könne kein rationaler Egoist die betreffende Regelung „mit guten (rationalen) Gründen ablehnen“.80 So attraktiv die Konzeption einer „Solidarität des gegenseitigen Vorteils“81 auf den ersten Blick erscheint, in einem entscheidenden Punkt macht sie sich ihre Legitimationsaufgabe zu einfach. Sie vermag nicht überzeugend zu begründen, dass derjenige, der seiner gesetzlichen Duldungspflicht nicht nachkommt, dadurch ein Unrecht begeht.82 Die Klugheitsgründe, die zugunsten der geltenden Notstandsregelung sprechen, mögen so stark sein wie nur möglich; das ändert aber nichts daran, dass ein mit Erwägungen dieser Art konfrontierter Akteur ihnen zufolge nicht in einem starken Sinne vorwerfbar, sondern allenfalls unklug handelt, wenn er einem Notleidenden im Einzelfall die erwartete Solidarität verweigert.83 Das Risiko, dem er sich aussetzt, besteht darin, dass die Rechtsgemeinschaft seinem Protest gegen den Eingriff in seinen Rechtskreis kein Gehör schenken, ja ihn für den Fall, dass seine Gegenwehr einen Straftatbestand verwirklicht, sogar mit einer Strafe belegen wird. Aus der Warte eines prudentiellen Nutzenmaximierers sind dies freilich lediglich Kalkulationsposten, deren Funktion sich darin erschöpft, ihm Konformität mit der gesetzlichen Notstandsregelung als die nach Lage der Dinge günstigste Verhaltensvariante anzuempfehlen. Straftheoretisch gesprochen läuft die klugheitsbasierte Notstandsdeutung mithin auf das Modell der negativen Generalprävention hinaus. Wer diese für verfehlt hält,84 kann daher jener nicht zustimmen. Diese Begründungslücke scheint sich allerdings unschwer schließen zu lassen. Danach ist es zwar nicht vorwerfbar, sich einer Regelung nach Art des § 34 StGB von vornherein zu verweigern. Sehr wohl aber verdiene einen Vorwurf, wer zwar in guten Tagen den Anschein erweckt, als akzeptiere er diese Regelung samt den Vorteilen, die sie ihm bietet, im Moment der Krise dann aber die Erbringung seines eigenen Beitrags in Gestalt der Duldung fremder Notstandseingriffe ablehnt. Wer sich so verhalte, handele nicht nur unklug, sondern unfair.85 Das Fairnessprinzip erklärt es in dieser Lesart „für unsittlich, die Früchte eines von mehreren getragenen Unternehmens zwar zu genießen, die Lasten oder Opfer, die mit diesem Unternehmen Merkel (Fn. 74), S. 184. Merkel (Fn. 74), S. 185. 81 Saliger (Fn. 48), S. 63. 82 Ebenso von Hirsch / Schorscher, „Die Kriminalisierung der unterlassenen Hilfeleistung: Eine Frage von ‚Solidarität‘ oder Altruismus?“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 82. Verkannt wird diese Schwierigkeit von Saliger (Fn. 48), S. 75. 83 Steinvorth (Fn. 36), S. 59. 84 Die Gründe dafür werden dargelegt in: Pawlik (Fn. 4), S. 66 ff. 85 Bayertz (Fn. 23), S. 43; Baurmann (Fn. 39), S. 349, 367. 79 80
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notwendig verbunden sind, aber allein den anderen zu überlassen.“86 Wer so agiere, verhalte sich gleichheitswidrig; es lasse sich nämlich kein überzeugender Grund angeben, weshalb jemand, nur weil er zufällig diese bestimmte Person sei, anders als jeder andere gestellt sein sollte.87 Auch diese Einbindung der Notstandsrechtfertigung in die „Welt des großen Synallagmas“88, in der das Prinzip der Gegenseitigkeit zum herrschenden Integrationsmechanismus aufgerückt ist,89 büßt bei genauerem Hinsehen jedoch erheblich an Glanz ein. Die auf dem Fairnessgedanken beruhende Deutung lebt von der Annahme, dass das Verhalten des Pflichtigen im Vorfeld der Notstandssituation als stillschweigende Zustimmung zu der die Möglichkeit seiner Inanspruchnahme vorsehenden Notstandsregelung interpretiert werden könne. Die Ausnutzung einer rein faktischen Besserstellung verpflichtet mich nämlich zu nichts. Ich muss vielmehr zu erkennen gegeben haben, dass ich mich meinerseits an der Erzeugung der von mir in Anspruch genommenen Vorteile beteiligen wolle. Dabei geht es nicht um einen psychischen Befund, sondern um eine normative Wertung. Sie zu treffen ist in den hier interessierenden Notstandsfällen freilich alles andere als einfach. Der in Anspruch Genommene hat sich nämlich darauf beschränkt, im Wissen um die (unterstellte) Normbefolgungsbereitschaft seiner Mitbürger seiner Wege zu gehen. Genügt dies, um ihn unter Fairnessgesichtspunkten als seinerseits zur Normbefolgung verpflichtet behandeln zu können? Fragen dieser Art sind aus der Geschichte der Gesellschaftsvertragslehren bekannt. So hat Locke schon allein den Umstand, dass jemand sich innerhalb des Gebiets einer bestimmten Regierung aufhält, als freiwillige Anerkennung von deren Autorität angesehen.90 Dahinter steht der Gedanke, dass der Betreffende jenes Gebiet auch hätte meiden können, um sich stattdessen „irgendeinem anderen Staatswesen einzuverleiben oder sich mit anderen über die Begründung eines neuen zu verständigen in vacuis locis“.91 Habe er aber seine Wahlfreiheit zwischen den Territorien A und B zugunsten des ersteren genutzt, so müsse er diese Entscheidung als stillschweigende Zustimmung zu deren rechtlicher Verfasstheit gegen sich gelten lassen. Diese Überlegung ist bereits durch Hume in überzeugender Weise entkräftet worden. Hume weist darauf hin, dass die von Locke unterstellte Existenz einer zumutbaren Alternative in vielen Fällen eine schlechte Fiktion darstellt. Kann man, so fragt Hume, ernsthaft sagen, dass ein armer Bauer oder Handwerker, der nichts von der Welt weiß und sich mühsam von Tag zu Tag durchschlägt, die freie Wahl besitze, sein Land zu verlassen? Dies zu bejahen ist für Hume ebenso abwegig wie die Be86 Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, Freiburg: Alber, 2. Aufl., 1977, S. 112. 87 Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1983, S. 6. 88 Di Fabio (Fn. 73), S. 20. 89 Di Fabio (Fn. 73), S. 27. 90 Locke (Fn. 18), § 119 (S. 101). 91 Locke (Fn. 18), § 121 (S. 102).
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hauptung, dass jemand, der schlafend auf ein Schiff gebracht worden ist und unweigerlich ertrinken müsste, sobald er es verlässt, sich durch sein Verbleiben auf dem Fahrzeug freiwillig der Befehlsgewalt des Kapitäns unterstelle.92 Das von Hume geltend gemachte Bedenken trifft auch den soeben skizzierten Versuch einer fairnessgestützten Notstandslegitimation. Wer der Notstandsregelung entgehen will, muss den Geltungsbereich der Strafrechtsordnung, zu der diese Bestimmung gehört, verlassen; er muss also auswandern und damit all die Schwierigkeiten auf sich nehmen, die ein solcher Schritt für gewöhnlich mit sich bringt. Aus dem Umstand, dass er vor dieser radikalen Konsequenz zurückschreckt, auf seine stillschweigende Billigung der Notstandsregelung zu schließen ist zwar theoretisch möglich, wirkt aber, um das Mindeste zu sagen, außerordentlich gekünstelt. Diesem argumentum ad absurdum mag freilich entgegengehalten werden, es sei seinerseits unfair. Im Unterschied zu Humes armem Bauern stehe es einem Bürger der Bundesrepublik rechtlich frei, politisch aktiv zu werden, kulminierend in dem Recht, für die Wahl zum Bundestag zu kandidieren, in dessen Macht es steht, die gegenwärtige Notstandsregelung beizubehalten oder abzuändern. Dieses Recht begründe dann umgekehrt seine Pflicht, den geltenden Strafrechtsnormen – so auch der Notstandsbestimmung – Folge zu leisten. Das Recht auf demokratische Mitwirkung konsumiert hier den prudentiellen Ausgangspunkt, freilich um den Preis, dass es das Kind mit dem Bade ausschüttet, indem es legitimationstheoretische Überlegungen der hiesigen Art von vornherein als unbeachtlich erscheinen lässt. Coninx zufolge ist das klugheitsbasierte Solidaritätsprinzip denn auch nicht die Legitimationsgrundlage des rechtfertigenden Aggressivnotstands, sondern nur die ratio legis.93 Dies ist freilich ein höchst anfechtbarer Versuch zur Rettung des prudentiellen Ansatzes. Was ist eine ratio legis wert, die nach eigenem Bekunden ihrer Vertreter nicht zu begründen vermag, weshalb die betreffende Norm die Rechtsunterworfenen verpflichtet? Dass die klugheitsbasierte Deutung den Bürgern ein gewichtiges Motiv zugunsten der jetzigen Notstandsregelung liefert, ist unbestreitbar. Aber Motiv und Rechtsgrund sind zweierlei. Darin, dass sie den Graben zwischen beiden nicht zu schließen vermag, besteht die legitimationstheoretischeCrux der Klugheitsauffassung. Ein weiteres, unter verbrechenstheoretischen Gesichtspunkten noch schwerer wiegendes Problem betrifft die inhaltliche Beschaffenheit des Unrechts, das der unfair agierende Notstandspflichtige verwirklicht. Fair zu handeln bedeutet nach dem soeben Ausgeführten: den eigenen Anteil an den Lasten eines gemeinschaftlichen Unternehmens zu tragen. Die Befugnis, faires Verhalten zu fordern und sich über unfaires Verhalten zu beklagen, steht demnach den übrigen Mitgliedern der betreffenden Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit zu. Bezogen auf den hier interessierenden Fall des Notstandes bedeutet dies: Da es sich dabei um ein Unternehmen handelt, an dem sämtliche Rechtsgenossen beteiligt sind, ist das Unrecht, das ein mitwirkungsunwilliger Bürger begeht, ebenfalls ein Unrecht gegenüber der Rechtsgemein92 93
Zitiert nach Kersting (Fn. 18), S. 139. In diesem Sinne Coninx (Fn. 8), S. 33.
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schaft als Ganzer. Nicht dass er einen in einer Notlage befindlichen Mitbürger im Stich gelassen habe, wird dem Täter demnach als solidaritätspflichtwidrig vorgeworfen, sondern dass er sich einen Vorteil gegenüber seinen mitwirkungswilligen Rechtsgenossen erschlichen habe. Der Notstandstäter, der unter den Voraussetzungen des § 34 StGB in einen fremden Rechtskreis eingreift, wird umgekehrt auf die Rolle eines quivis ex populo festgelegt, der nicht (zumindest auch) einen eigenen Solidaritätsanspruch, sondern ausschließlich einen Mitwirkungsanspruch der Allgemeinheit durchsetzt. In einem Wort: Es gibt dieser Deutung zufolge nur Notstandshelfer. Wären die Vertreter eines um den Fairnessgedanken ergänzten Klugheitsdenkens wirklich dazu bereit, sich zu dieser Konsequenz zu bekennen?94
V. Der Notstandstäter als Repräsentant der staatlichen Solidargemeinschaft In der Diskussion über das Für und Wider von Rawls’ Reformulierung der Gesellschaftsvertragslehre wird nicht selten der Umstand übersehen, dass Rawls diese Lehre nicht als Selbstzweck, sondern als Darstellungsmittel betrachtet. Die gerechtigkeitstheoretische Grundüberzeugung, in deren Dienst sie steht, lautet, dass „die Zufälligkeiten der natürlichen Begabungen und der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu politischen und wirtschaftlichen Vorteilen führen“ sollen.95 Die Fähigkeiten, die die Natur dem Einzelnen mitgegeben hat oder die ihm aus der Unterstützung durch ein bildungsaffines Elternhaus erwachsen sind, erscheinen in Rawls’ Worten als „moralisch willkürlich“,96 denn sie ließen sich „keinesfalls aufgrund von Verdiensten rechtfertigen“.97 Aus ihnen dürften dem Betreffenden deshalb keine Vorteile bei der Güterverteilung erwachsen. Weder Natur noch soziale Herkunft, sondern das eigene Verdienst solle bestimmend sein für die Stellung des Einzelnen und seine Ausstattung mit Lebensgütern. Ähnlich wie Rawls bezweckt auch Dworkin eine Neutralisierung natürlicher und sozialer Kontingenzen. Ungleiche Anteile an sozialen Gütern sind danach nur dann fair, wenn sie sich aus den Entscheidungen und absichtlichen Handlungen der Güterinhaber ergeben. Die einzelnen Personen müssen für die Kosten ihrer Entscheidungen selbst aufkommen. Unfair sei hingegen die Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund von Unterschieden in der natürlichen Ausstattung oder den sozialen Umständen. Wofür man nicht verantwortlich sei, was man nicht beeinflussen könne, das dürfe kein zulässiges Güterverteilungskriterium sein. Dworkin kleidet diese Idee in ein viel zitiertes Gegensatzpaar: Einerseits müssten wir zulassen, dass die 94 Ablehnend auch von Hirsch / Schorscher (Fn. 82), S. 82, im Hinblick auf das Parallelproblem bei der unterlassenen Hilfeleistung. 95 Rawls (Fn. 69), S. 32. 96 Rawls (Fn. 69), S. 32. 97 Rawls (Fn. 69), S. 23.
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Ressourcenverteilung zu jedem Zeitpunkt ambitionssensibel sei. Das heißt, dass sie Kosten und Nutzen der Entscheidungen für andere widerspiegeln soll. Andererseits dürften wir es nicht zulassen, dass die Verteilung der Ressourcen in irgendeinem Moment begabungssensibel sei.98 Den Menschen dürfe es deshalb nicht erlaubt werden, die durch überlegenes Talent erlangten Vorteile zu behalten.99 Als Grundlage einer die Freiheit der einzelnen Bürger achtenden sozialstaatlichen Umverteilungspolitik eignen diese von „hochfahrendem Wirklichkeitsverlust“100 gekennzeichneten Konzeptionen sich wegen der ihnen innewohnenden, tendenziell grenzenlosen Expansionsdynamik nicht.101 Was die Position Dworkins angeht, so ist es illusionär anzunehmen, dass es möglich sei, unverdiente und verdiente Vorteile einigermaßen trennscharf voneinander unterscheiden und dadurch „zu jedem erdenklichen Zeitpunkt die Komponenten im Vermögen einer jeden Person feststellen zu können, die sich auf Unterschiede im Talent und nicht auf die Unterschiede in den Ambitionen zurückführen lassen“.102 Wie Dworkin selbst eingesteht, besteht „keinerlei Hoffnung, dass wir diese Komponenten identifizieren können, selbst mit vollkommener Information über die Persönlichkeiten der Menschen. Der gegenseitige Einfluss, den Talente und Ambitionen aufeinander haben, wird diesen Ansatz nämlich durchkreuzen.“103 Rawls betrachtet deshalb sogar „den überlegenen Charakter, der die Initiative zur Ausbildung der Fähigkeiten mit sich bringt“, als unverdientes Privileg.104 Dies läuft nicht nur auf die allzu simple Quintessenz hinaus, dass niemand irgendetwas verdiene, eine Position, die Kersting als „rechtfertigungstheoretischen Sozialismus“ bezeichnet,105 sondern es führt auch zur Zerstörung personaler Identität, weil Personen sich in dieser Sichtweise in „Knotenpunkte äußerer Verursachungsketten“ auflösen.106 Ungeachtet ihrer personen- und gerechtigkeitstheoretischen Exaltationen weisen Rawls und Dworkin aber zu Recht darauf hin, dass in einer Gesellschaft, die sich als „zweite Natur“107 versteht und ihr Ziel in der Herstellung eines Zustandes möglichst gleicher Freiheit für alle ihre Mitglieder erblickt, die Berufung auf den Zufall, 98 Dworkin, Was ist Gleichheit?, Berlin: Suhrkamp, 2011, S. 114 f.; im Wesentlichen übereinstimmend Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 358 ff. 99 Dworkin (Fn. 98), S. 116. 100 Geyer, „Da horcht jeder Innenminister auf“, FAZ vom 21. 5. 2014, S. 12. 101 Ebenso Kersting, „Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit“, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2000, S. 205 ff.; Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg: Hamburger Edition, 2013, S. 291 ff. 102 Dworkin (Fn. 98), S. 118. – Wie hier Kersting (Fn. 101), S. 227; Rosanvallon (Fn. 101), S. 291. 103 Dworkin (Fn. 98), S. 118; ähnlich Gosepath (Fn. 98), S. 402. 104 Rawls (Fn. 69), S. 125. 105 Kersting (Fn. 101), S. 215. 106 Kersting (Fn. 101), S. 216. 107 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 57.
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der nun einmal treffe, wen er wolle, keine per se hinreichende Begründung dafür ist, Verluste stets dort zu belassen, wohin sie fallen.108 Vor allem aber erinnern die beiden Autoren an den hohen Stellenwert, den individualistische, um den Leitwert der Selbstbestimmung kreisende Gesellschaften meritokratischen Erwägungen zuzubilligen pflegen. Derartige Gesellschaften suchen nicht nur Verbindlichkeiten auf Selbstbindungsakte zurückzuführen,109 sie tendieren vielmehr auch dazu, die Gerechtigkeit einer distributiven Struktur zuvörderst anhand des Kriteriums des individuellen Verdienstes zu beurteilen. Diese Affinität lässt sich auch zur Legitimation des rechtfertigenden Aggressivnotstandes fruchtbar machen. In der Grundsituation dieses Rechtsinstituts geht es nicht darum, ob die Konfliktbeteiligten die Güter, die sie besitzen, verdientermaßen innehaben, sondern nur darum, dass ein Güterverlust jeden der beiden Beteiligten unverdient treffen würde; aufgrund dieser eingeschränkten Problemstellung entfällt die vorstehend geschilderte Gefahr einer Überhitzung des Verdienstgedankens. Demnach behält einerseits die kantische Position, dass die für mich zufällige Notlage eines Anderen diesem keinen unmittelbaren Unterstützungsanspruch gegen mich gibt, ihre prinzipielle Berechtigung. Aber – und darin liegt die entscheidende Erweiterung – diese Feststellung beschreibt die Problematik der Situation nicht abschließend. Vielmehr kann auch der in Not Befindliche selbst geltend machen, der Verlust, der ihm drohe, würde ihn „unverdient“ treffen, da er ohne erhebliches Eigenverschulden in die Notlage hineingeraten sei. Eine Entlastung des Betreffenden auf fremde Kosten, wie sie in der Situation des rechtfertigenden Aggressivnotstandes praktiziert wird, kann aus dieser Perspektive nicht als von vornherein illegitim betrachtet werden. Im Bereich der sozialstaatlichen Absicherung existenzieller Daseinsrisiken wird sie denn auch ausgiebig praktiziert.110 Zwar drängt sich eine solche Verlagerung in Bezug auf die Nöte „momentane[n] Charakter[s]“111, wie sie für den rechtfertigenden Aggressivnotstand typisch sind, weniger nachdrücklich auf als im Hinblick auf die Risiken und Notlagen, die den Gegenstand des Sozialrechts bilden. Während das Sozialrecht über weite Strecken auf gesellschaftsstrukturell bedingte Bedürfnisse reagiert,112 handelt es sich bei den Notstandsgefahren typischerweise um „the random and unpredictable emergencies of life“,113 die weitgehend unabhängig sind von einer bestimmten Form sozialer Ebenso Coninx (Fn. 8), S. 50 ff.; dies. (Fn. 62), S. 189. Dazu unter I. 110 Darauf weist auch Neumann (Fn. 34), S. 169, hin. 111 Hegel, Philosophie des Rechts (Nachschrift der Vorlesung von 1819 / 20), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 196. 112 BVerfGE 69, 304; BVerfG NJW 1986, 39 ff.; Hänlein, in: Kreikebohm/ Stellbrink (Hrsg.), Kommentar zum Sozialrecht, München: Beck, 3. Aufl., 2013, SGB I § 10 Rn. 1 ff.; Mrozynski, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – Kommentar, München: Beck, 5. Aufl., 2014, SGB I § 1 Rn. 11 ff.; Seewald, in: Leitherer (Hrsg.), Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Band 1, München: Beck, 80. Ergänzungslieferung (Stand: 1. Dezember 2013), SGB I § 1 Rn. 2 ff. 108 109
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Organisation.114 Zudem verfügt eine Rechtsordnung wie die deutsche über ein umfangreiches und verlässlich funktionierendes Netz von Institutionen der Gefahrenabwehr, in Anbetracht dessen Situationen, in denen ein Bürger zur Abwendung einer Notlage in den Rechtskreis eines unbeteiligten Mitbürgers eingreifen muss, seltene Ausnahmen darstellen. Deshalb könnte eine solche Rechtsordnung sich ohne weiteres auf den Standpunkt stellen, derartige Fälle ausschließlich auf den Ebenen der Entschuldigung und der Strafzumessung zu verarbeiten. Der rechtfertigende Aggressivnotstand gehört insofern nicht zum unverzichtbaren Grundbestand einer modernen Strafrechtsordnung.115 Ebenso wenig wie seine Nichtanerkennung stellt jedoch die Anerkennung dieses Rechtsinstituts eine Sünde wider den Geist der Freiheit dar. Allerdings erfüllen die Bürger ihre Solidaritätspflicht im Staat der Gegenwart grundsätzlich auf indirekte Weise, nämlich durch die Zahlung von Steuern.116 Nicht von einzelnen seiner Mitbürger kann ein Notleidender demnach Abhilfe verlangen, sondern von der Gesamtheit seiner Mitbürger in deren organisatorischer Verbundenheit: der Solidargemeinschaft als ganzer. Derjenige, dessen Gut im Notstandsfall als Rettungsmittel herausgegriffen wird, muss hingegen über seine regulären Beiträge hinaus auch noch dieses spezielle Opfer bringen. Der Satz, dass der Zufall ein schlechtes Distributionsprinzip ist, greift hier nochmals, und zwar zu seinen Gunsten ein: diesmal nicht im Verhältnis zu seinem in der Notlage befindlichen Kontrahenten, sondern in der Beziehung zu seinen nicht aufopferungspflichtigen Mitbürgern. Wie lässt sich diesem Befund angemessen Rechnung tragen? Die hiesige Antwort ist ebenso schlicht wie ungewohnt. Die Notstandslage darf danach nicht allein als interpersonales Geschehen, also als Konflikt zwischen Eingreifendem und Eingriffsadressaten begriffen werden.117 Der Solidaritätsanspruch des in einer Notlage befindlichen Bürgers richtet sich vielmehr auch in der Situation des Aggressivnotstandes gegen seine Mitbürger in ihrer Gesamtheit. Die konkret in Anspruch genommene Einzelperson fungiert lediglich als eine Art Durchlaufstation, vornehmer ausgedrückt: als Repräsentantin der Allgemeinheit.118 113 Feinberg, Freedom and Fulfillment, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1992, S. 193. 114 Ausführlich zu den strukturellen Unterschieden zwischen akuten und permanenten Notlagen Mieth (Fn. 23), S. 222 ff. 115 Pawlik (Fn. 42), S. 123. – Ebenso v. d. Pfordten (Fn. 23), S. 112. 116 Pawlik (Fn. 42), S. 120. 117 Anderer Ansicht Neumann (Fn. 34), S. 165 f., 172 f.; Coninx (Fn. 8), S. 14 f.; für die parallel liegende Problematik der unterlassenen Hilfeleistung auch von Hirsch / Schorscher (Fn. 82), S. 91; Maihold, „Jenseits weltanschaulicher Ideologien?“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 147 f. 118 Pawlik (Fn. 42), S. 123; ders. (Fn. 4), S. 250. – Im Wesentlichen wie hier Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, Berlin: Duncker & Humblot, 2002, S. 260 ff.; Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2012, S. 48 f.; ders., Norm, Person, Gesellschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 3. Aufl., 2008, S. 85; Joerden, „Solidaritätspflichten und Strafrecht“, in: von Hirsch/ Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 50 f.; Kühnbach (Fn. 33), S. 226; Wilenmann (Fn. 34),
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Die Duldungspflicht, die sich auf diesem Wege legitimieren lässt, ist ihrem Umfang nach eng begrenzt. Zum einen genießen staatlich-institutionelle Konfliktlösungsmechanismen einen strikten Vorrang gegenüber den „freihändigen“ Notstandseingriffen.119 Zum anderen darf der Notstandspflichtige nicht von Rechts wegen ärmer gemacht werden. Die Belastung, die sich für ihn daraus ergibt, dass der Zugriff nun einmal seine Rechtsgüter trifft, darf deshalb nur eine vorläufige sein; ihm dürfen lediglich „der Tausch gegen ein Wertäquivalent und die Kreditierung des Gegenwerts“120 abverlangt werden. Seine Einbußen müssen mithin von solcher Art sein, dass sie sich wieder ausgleichen lassen, und die Allgemeinheit muss sicherstellen, dass dieser Ausgleich auch tatsächlich erfolgt.121 Eine solche Deutung sieht sich freilich mit dem heute grassierenden Misstrauen gegenüber institutionell vermittelten Verpflichtungen konfrontiert.122 Deshalb sei ausdrücklich betont, dass sie weder „den Hilfsbedürftigen und seine Interessen ausblendet“123 noch einer Rückkehr zu einem kollektivistischen Notstandsverständnis das Wort redet,124 welches die Allgemeinheit als Selbstzweck und die einzelnen Bürger als deren Funktionäre behandelt. Die Zwischenschaltung der Allgemeinheit erfolgt vielmehr ausschließlich zum Zweck der Entlastung des Notstandspflichtigen von den Folgen des ihn treffenden Eingriffs.125 Die Allgemeinheit fungiert mit anderen Worten als Dienerin des einzelnen Eingriffsadressaten, nicht als seine Herrin. Das Unrecht, das dieser verwirklicht, wenn er seine Duldungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt, ist deshalb nicht ein Unrecht gegenüber seiner Rechtsgemeinschaft als Ganzer, sondern ein Unrecht gegenüber dem zur Solidarität berechtigten Notleidenden selbst. Gerade indem der hiesige Lösungsvorschlag die herkömmliche Fronstellung zwischen Individualismus und Kollektivismus unterläuft, vermag er die Spielräume des modernen Freiheitsdenkens für die Notstandsproblematik fruchtbar zu machen. Wer sie nutzt, der staunt darüber, wie einfach es im Grunde ist, den rechtfertigenden Aggressivnotstand zur Zufriedenheit des heutigen Zeitgeistes zu legitimieren.
S. 146 f.; ähnlich Fabre, „Good Samaritanism“, in: Seglow (Hrsg.), The Ethics of Altruism, London: Frank Cass Publishers, 2004, S. 137. 119 Einzelheiten in: Pawlik (Fn. 42), S. 218 ff. 120 Kühnbach (Fn. 33), S. 234. 121 Näher Pawlik (Fn. 4), S. 251 f. 122 Dazu Beckmann, „Über Solidarität und Individualismus“, in: Busche (Hrsg.), Solidarität, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 56. 123 So aber Maihold (Fn. 117), S. 147. 124 Dies behauptet Neumann (Fn. 34), S. 172. 125 Entgegen Neumann (Fn. 34), S. 173, kann deshalb nicht die Rede davon sein, dass die hiesige Konzeption die Trennung zwischen der Zuständigkeit des Staates einerseits und von Privatpersonen andererseits in Frage stelle.
Solidarität als strafrechtliche Legitimationskategorie
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Summary The justifying “aggressive state of emergency”126 (section 34 of the German Criminal Code / StGB) is a challenge to liberal criminal legal systems, as it imposes a legal obligation to tolerate an intrusion into his own legal sphere onto an innocent bystander. This obligation is traditionally based on the notion of “weighing of interests”, which is, however, not convincing due to the utilitaristic structure of this idea. More recently, the topos of “solidarity” has replaced the traditional approach as a basis of legitimation, but this topos is not more than a mere catchphrase, as long as it lacks a reasonable justification. To close this justification gap, it is widespread to use prudential considerations. Accordingly, it is prudent for every citizen to agree on a rule along the lines of section 34 StGB with his fellow citizens, for the sake of minimizing his own risks of life. But this approach cannot convincingly answer the question regarding the reason for the obligation imposed by the “state of emergency” rules. Additionally, it falsifies the quality of legal wrong that a citizen commits by breaching his obligation during the state of emergency. Therefore, this essay suggests to see the “offender” who is justified by a state of emergency as representative of the State’s caring society (staatliche Solidargemeinschaft). The right to solidarity, that can be claimed by any citizen in a state of emergency, is directed against his fellow citizens as a whole, just as in all other cases of need through no fault of one’s own. The precise individual person the duty is actually imposed onto is merely a “transit station”. Therefore, only such duties may be imposed onto him that can be compensated afterwards, and the community must also ensure that such compensation actually takes place.
126 In German: Rechtfertigender Aggressivnotstand. This term is often translated as “necessity”, cf. also the translation of the German Criminal Code by Bohlander, http://www.gesetzeim-internet.de/englisch_stgb/englisch_stgb.html;This translation is not quite exact, as German law distinguishes two kinds of acts justified by “necessity”, on the one hand acts that are directed against the source of danger (“defensive state of emergency”), and on the other hand acts that are directed against an innocent bystander (“aggressive state of emergency”).
Angeborene Rechte – Bürgerrechte – soziale Rechte: Christian Wolffs Lehre von den iura connata1 Nele Schneidereit Menschenrechte werden für gewöhnlich unterschieden in negative Abwehrrechte und positive Sozialrechte. Zu ersteren zählen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, Freiheit von Folter, unmenschlicher Behandlung, Religions- und Gewissensfreiheit etc. Zu letzteren werden soziale Rechte auf Arbeit, Bildung, Wohnung, Erholung und Kultur gerechnet.2 Erfordern erstere die Unterlassung bestimmter Handlungen durch Staaten, so können letztere erst durch gezieltes staatliches Handeln gewährleistet werden. Menschenrechte als negative Abwehrrechte werden seit Ende des 18. Jahrhunderts in der amerikanischen Bill of Rights und der französischen Déclaration als Bürgerrechte interpretiert, d. h., dass sie den Menschen von Natur aus zukommen und im Staat nicht aufgegeben werden dürfen oder können. In dieser englisch-französischen Tradition des 18. Jahrhunderts kommt den positiven Sozialrechten kein ausgewiesener Ort zu. Anders verhält es sich bei der insgesamt weniger ausgeprägten Tradition des Menschenrechtsgedankens in Deutschland, wo der Wohlfahrtsstaatsgedanke bereits im 18. Jahrhundert verbreitet war. Namentlich Christian Wolff entfaltet in seiner Naturrechtslehre die Lehre von angeborenen Rechten, die er nicht nur als Freiheitsrechte, sondern auch als Sozialrechte versteht. In der Geschichte der Menschenrechte nimmt Wolff in der Regel keinen sehr prominenten Platz ein. Dieser Umstand ist nicht vollkommen gerechtfertigt, da Wolff eine Lehre von den allen Menschen angeborenen Rechten vorlegt, die sich in Ansätzen zwar auch bei Samuel von Pufendorf findet, dort aber nicht den Charakter eines Rechtekatalogs erhält. Zudem weist Wolffs Lehre von den iura connata eben die im Vergleich zu John Locke neue Dimension sozialer Rechte auf. Gerechtfertigt ist die Vernachlässigung Wolffs für die Geschichte der Menschenrechte, insofern er die negativen Abwehrrechte im Fall der persönlichen Freiheit so konstruiert, dass sie zwar 1 Dieser Beitrag entstand aus einem Vortrag, den ich auf der Tagung zur „Völkerrechtsphilosophie der Frühaufklärung“ im Oktober 2013 in Kappeln bei Zürich gehalten habe. Die Tagung wurde vom Arbeitskreis Ideengeschichte der Rechtsphilosophie unter der Leitung von Francis Cheneval, Oliver Diggelmann und Tilmann Altwicker ausgerichtet. Die ausgearbeitete Fassung des Beitrags verdankt sich ganz wesentlich den Anregungen, die ich durch die Diskussion erhalten habe. 2 Vgl. Kokott 1999, S. 180.
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nicht gewaltsam entzogen werden darf, im Staat aber durchaus massiven Einschränkungen unterliegt, denen sich die Individuen freiwillig unterwerfen (müssen). Die Einschränkung der persönlichen Freiheit hat einige Autoren zu der Ansicht veranlasst, Wolffs politische Philosophie diene im Wesentlichen der Legitimierung absolutistischer Herrschaft (Klippel, Grunert, Böhr, Lutterbeck).3 Andere sehen Wolff gleichwohl als Vordenker eines grundrechtsbezogenen Liberalismus (Thomann, Bachmann, Garber).4 Die erste These der folgenden Ausführungen ist, dass Wolff nicht aufgrund seiner iura connata-Lehre als liberaler Vordenker verstanden werden kann. Bereits ein bloß kursorischer Vergleich der angeborenen Rechte bei Wolff mit den 17 Artikeln der Menschenrechtserklärung von 1789 zeigt, dass Wolff die Freiheitsrechte von Bürgern nicht sehr am Herzen lagen.5 Meinungs- und Religionsfreiheit gehören ebenso wenig zum Katalog der Wolffschen iura connata wie ein Recht auf Eigentum oder Schutz vor Unterdrückung. Zudem lässt sich zeigen, dass es innersystematische Gründe dafür gibt, dass die Menschenrechte bei Wolff keine Bürgerrechte sein können. Historisch betrachtet wäre die iura connata-Lehre nur deshalb interessant, um die Vorhandenheit eines eigenständigen Menschenrechtsdiskurses in Deutschland vor 1789 belegen zu können. Anders jedoch stellt sich die Sache dar, wenn man sich Wolff als frühen Vertreter sozialer Anspruchsrechte vergegenwärtigt. Im Gegensatz zu den von Jean-Jacques Rousseau und Locke beeinflussten Menschenrechtserklärungen von 1789 spricht Wolff nämlich von Rechten auf Speise und Trank, Arznei, Wohnung und Arbeit, von materialen sozialen Rechten also, für deren Gewährleistung der Staat zuständig ist.
3 Vgl. Klippel 1976 und 1991 sowie Grunert 2006, Böhr 1982, Lutterbeck 2002. Georg Jellinek, Hans Planitz, Hasso Hofmann und Martin Kriele vertreten die demgegenüber gemäßigte Auffassung, dass Wolffs iura connata ohne jede Wirkung geblieben und also praktisch bedeutungslos seien (vgl. Klippel 1991, S. 354 f. sowie Thomann 1987, S. 259). Diese Kritik kann jedoch kaum als Kritik an Wolff gelten, denn dasselbe ließe sich von den Menschenrechten noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein behaupten. 4 Vgl. Thomann 1987, Bachmann 1986, Garber 1982, ibs. S. 107 – 116. Bachmann hebt die Gültigkeit der angeborenen Rechte „entgegen einer vielfach wiederholten Legende […] auch und gerade im sogenannten zukömmlichen [adventitius], ja schließlich auch im gesellschaftlichen, also staatlichen Zustand“ hervor (Bachmann 1986, S. 163). Prominenter Vorläufer dieser Position ist Ernst Cassirer in Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916 u. ö.). Stipperger ist bemüht, sich der notorischen Kritik an Wolffs Nähe zum aufgeklärten Absolutismus nicht anzuschließen, sondern differenziert zu urteilen. Gleichwohl bemerkt er: „Wo Thomann protoliberale, prae-demokratische Tendenzen sieht, geht es bei Wolff lediglich um die Rationalisierung jeder auch noch so freiheitsaufzehrenden Regierungsform […]“ (Stipperger 1984, S. 131). Um Ausgewogenheit bemüht sind auch Pauly 1994 sowie Link 1986. 5 Zum Verhältnis wolffschen Denkens und der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 vgl. Thomann 1984; vgl. auch Garber 1982. Es wird sogar ein Einfluss auf die amerikanische Bill of Rights vermutet, vgl. Oestreich 1978, S. 54 sowie Bachmann 1977, S. 103. Diethelm Klippel dagegen bestreitet einen Einfluss Wolffs auf die Déclaration (vgl. Klippel 1991) ebenso wie den auf die Bill of Rights (Klippel 1976, S. 79). Zur Geschichte der Menschenrechte allgemein vgl. Haratsch 2010.
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Die zweite These dieses Artikels besteht also darin, Wolff durchaus den Status eines Vordenkers zuzuweisen, jedoch nicht in freiheits-, sondern in sozialrechtlicher Hinsicht mit Bezug auf die Menschenrechte. Der Grund, weshalb Wolffs iura connata sowohl national als auch international heute von Interesse sein könnten, ist ihr Charakter sozialer Anspruchsrechte. Die Betonung des sozialrechtlichen Elements verweist zugleich darauf, dass Wolffs prinzipiell aufklärerischer Ansatz sich oft in unangenehmer Spannung zu Illiberalität, Paternalismus und Absolutismus befindet. Ich werde im Folgenden zunächst Wolffs Lehre von den iura connata vorstellen. Im Anschluss daran werde ich zeigen, dass diese Lehre in einer Weise begründet wird, die die Einschränkung der Freiheitsrechte im bürgerlichen und sogar schon im vorstaatlichen Zustand logisch erzwingt. Zu überlegen wäre im Anschluss, ob Wolffs naturrechtlicher Ansatz der Begründung sozialer Anspruchsrechte den gleichen Problemen unterliegt, die einen aktualisierenden Anschluss verbieten.
I. Die Lehre von den iura connata Mit Christian Wolffs achtbändigem Ius naturae (1740 – 48) liegt die wohl umfangreichste Naturrechtslehre vor. Doch besticht sie nicht allein durch ihren Umfang, sondern auch durch einige Neuerungen gegenüber ihren unmittelbaren Vorgängern, den Naturrechtslehren Pufendorfs und Christian Thomasius’. Eine dieser Neuerungen ist die Lehre von den iura connata, von angeborenen, unbedingten, unentziehbaren Rechten, die Wolff aus dem Wesen und der Natur des Menschen selbst herleitet.6 In der Kurzfassung seiner Naturrechtslehre, den Institutiones iuris naturae et gentium (1750),7 führt Wolff die iura connata im 3. und 4. Hauptstück des I. Buches, mithin als Elemente der allgemeinen Pflichtenlehre ein. Diese ist unterteilt in die Lehre vom Recht der Natur überhaupt und den daraus folgenden Pflichten gegen sich selbst, gegen andere und gegen Gott. Wolff nennt folgende angeborene Rechte: Die Rechte auf Beförderung der eigenen Vollkommenheit, auf Gleichheit, auf Freiheit, das Recht auf Sicherheit und Verteidigung sowie das Recht auf Ausbildung seiner Verstandeskräfte und auf Wissenschaft; das Recht auf Erhaltung von Leben und Gesundheit, auf Wohnung und Arbeit, sogar auf „Zierrath“, 6 Klippel ist der Ansicht, dass sich auch bei Thomasius und Christian Nettelbladt bereits die Vorstellung von iura connata finde (Klippel 1976, S. 75). Der Umfang des Katalogs dieser Rechte bei Wolff jedoch scheint mir zu rechtfertigen, die ausgearbeitete Idee eher bei ihm zu verorten. 7 Im Folgenden zitiere ich unter Angabe der jeweiligen Paragraphen aus der von Wolff genehmigten Übersetzung von Gottlob Samuel Nicolai von 1754 (Grundsätze des Natur- und Völkerrechts). Stipperger problematisiert gerade mit Bezug auf den für die iura connata zentralen § 95 die Arbeit mit der Übersetzung, da Nicolai offenbar Ergänzungen vorgenommen hatte (Stipperger 1984, S. 47). Da Wolff einverstanden mit der Übersetzung war und der betreffenden Ergänzung im weiteren Verlauf keine Bedeutung zukommt, ergänze ich die lateinischen Passagen um der Kürze des Artikels willen nicht. Anders verfahre ich bei der Zitation aus dem Jus gentium, da die englische Übersetzung nicht von Wolff genehmigt ist.
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Glückseligkeit sowie auf Dinge, die zu Bequemlichkeit und Vergnügen des Lebens beitragen. Die angeborenen Rechte sind „unveränderlich und nothwendig“, da sie aus den natürlichen Pflichten des Menschen entstehen, die wiederum mit der Annahme von „Wesen und […] Natur des Menschen und der übrigen Dinge“8 einhergehen und folglich in ein anthropologisches Fundament eingelassen sind. Sie sind allerdings nicht unveräußerlich, sondern nur unentziehbar, d. h. die Menschen können nicht zu ihrer Aufgabe gezwungen werden, können sie aber freiwillig aufgeben oder einschränken lassen.9 Von Gott gegeben sind sie nur, insofern Gott letzter Grund aller Dinge überhaupt ist, nicht aber, weil sie unmittelbares Gebot Gottes wären. Zugänglich sind sie uns durch Erkenntnis unserer Natur und unseres Wesens, also durch Vernunft allein. Recht und Gesetz der Natur sind bei Wolff kein Offenbarungswissen, sondern Vernunftwahrheiten, und es ist auch nicht Gott, der uns verpflichtet, sondern wir selbst sind es.10 Die weitgehend säkulare, nur indirekt theologische Begründung der Gleichheit der Rechte mit der gleichen Natur der Menschen ist analog zu den Menschenrechtsdiskursen in England und Frankreich. Spezifisch für Wolff bzw. für die Diskussion in Deutschland ist jedoch, diese Rechte mit den aus der Natur der Menschen fließenden Pflichten zu begründen.11 Von Natur aus haben die Menschen bei Wolff zunächst die Pflicht zur Vervollkommnung ihrer selbst und ihres Zustandes. Aus dieser Pflicht ergibt sich ein Recht auf alles, was zur Erfüllung dieser Pflicht notwendig ist. Dieser Pflicht entspricht ein Recht zu allen Handlungen, ohne die wir der Pflicht nicht Genüge tun können. Unter Recht versteht Wolff dabei die „Fähigkeit; oder das moralische Vermögen etwas zu thun oder zu unterlassen“ oder auch die Möglichkeit zu handeln, die aus der Pflicht (Verbindlichkeit) erst entsteht.12 Rechte aus Pflichten herzuleiten, ist im Rahmen des Wolffschen Lehrgebäudes ein überaus schlüssiger Gedanke. Ist doch die Amalgamierung von Sein und Sollen sowie von theoretischer und praktischer Philosophie spezifisch für Wolffs RationaWolff 1754, § 38. Vgl. dazu auch Bachmann 1977, S. 110 – 114. 10 Kerngedanke des Voluntarismus bei Pufendorf und Thomasius ist, dass Pflichten unmittelbarer Ausdruck des göttlichen Willens sind. Dieter Hüning arbeitet heraus, dass Wolff demgegenüber eine Selbstverpflichtungsethik entwirft, deren zentrales Element die Theorie der natürlichen Verbindlichkeit (obligatio naturalis) ist (vgl. Hüning 2004, S. 112). Auch Hasso Hofmann weist darauf hin, dass Wolff anders als Thomasius Willensfreiheit kenne (vgl. Hofmann 2004, S. 15); Anton Bissinger meint, Autonomie als zentrales Moment der Wolffschen Ethik ausmachen zu können (Bissinger 1986, S. 155). Wolffs Idee, dass wir das Gute von Natur aus begehren, scheint mir in einem Spannungsverhältnis zur These der Willensfreiheit bei Wolff zu stehen. 11 Diesen mündlich gegebenen Hinweis verdanke ich Manfred Walther. Entsprechend auch Hofmann 2004, S. 21 sowie Bachmann 1977, S. 98 f., der betont, dass die logische Verknüpfung von Pflicht und Recht bei Wolff, aber nicht bei Pufendorf und Thomasius begegnet. 12 Vgl. Wolff 1754, § 66. 8 9
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lismus. Eine Sache ihrem Wesen nach zu erkennen, bedeutet immer auch zu wissen, wie man diese Sache betreffend handeln muss. Jede Erkenntnis hat daher eine stark normative Dimension, die Wolff Verbindlichkeit (obligatio) nennt und die anzeigt, dass wir zu bestimmten Endzwecken ‚verbunden‘, also verpflichtet sind. Diese Pflicht (obligatio) ist so universal gültig wie die Wahrheit des Erkannten es in erkenntnistheoretischer Hinsicht ist. Pflicht (obligatio) ist in dieser Weise bei Wolff begründet – er muss keine natürlichen Rechte behaupten, sondern kann sie aus den Verpflichtungen ableiten, die sich aus den praktischen Implikationen unserer Weltweisheit selbst ergeben. Verbindlichkeiten, die aus der Erkenntnis des menschlichen Wesens entspringen, sind nicht nur unveränderlich und notwendig, sie sind auch allgemein und kein Mensch kann von ihnen befreit werden.13 Verbindlichkeit geht über unseren alltäglichen Begriff von Pflicht hinaus. Zu einem Zweck verbunden sein bedeutet immer auch, zu den erforderlichen Handlungen motiviert zu sein, weil wir das Gute begehren, das mit der Vorstellung eines perfektionierten Wesens verbunden ist. Die zur Erreichung dieser Endzwecke notwendigen Handlungen nennt Wolff Pflichten (officia).14 Verbindlichkeit entsteht also aus der Vorstellung desjenigen Guten, das mit einer pflichtmäßigen Handlung als Konsequenz einhergeht. Wolffs Pflichtenlehre ist insofern eher eine Lehre von den Handlungen, zu denen wir aufgrund unserer Vorstellung vom Guten als wesensmäßiger Vollkommenheit motiviert sind. Es sind daher solche Handlungen Pflichten, die wir wollen, weil wir sie als Beförderung von Vollkommenheit erkennen.15 1. Das Recht auf Handlungen, die die Vollkommenheit befördern Die erste natürliche Verbindlichkeit des Menschen durch die Natur besteht darin, „die Handlungen zu begehen, welche seine und seines Zustandes Vollkommenheit befördern“.16 Das natürliche Recht auf alle Handlungen, ohne die wir der natürlichen Verbindlichkeit zur Vervollkommnung nicht nachkommen können, begründet Wolff damit, dass uns unsere Natur unweigerlich zu Zwecken verbindet und dass sie uns daher auch ein Recht auf die erforderlichen Mittel gewähren müsse.17 Aus der Pflicht zur Vervollkommnung und dem ihr korrespondierenden Recht auf entVgl. Wolff 1754, § 42. Vgl. Wolff 1754, § 57. Diese begriffliche Unterscheidung begegnet noch bei Kant wieder, wie in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten zu sehen ist. 15 Das Protestantisch-Rigide, das die Leser aus dem begründungstheoretischen Primat der Pflicht vor dem Recht bei Wolff anweht, wird also etwas relativiert, da wir bei Wolff – anders als bei Kant – von Natur aus das Gute begehren, also nicht mit dem moralischen Gesetz, das uns als Pflicht begegnet, gegen unser Begehren angehen müssen. Die Ablehnung der Lehre vom Primat der Pflicht sollte daher nicht auf einen vermeintlichen deontischen Rigorismus abheben, sondern auf die zugrundeliegende Einheit von Sein und Sollen, durch die wir das Gute bei Wolff nicht nicht begehren können. 16 Wolff 1754, § 36. 17 Vgl. Wolff 1754, § 46. 13 14
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sprechende Handlungen leitet Wolff alle weiteren Pflichten und Rechte ab, daher ist hier ein Wort zum Begriff der Vollkommenheit am Platze. „Wesentliche Vollkommenheit“ (perfectio essentialis) ist „diejenige, welche in der Uebereinstimmung der wesentlichen Bestimmungen enthalten ist; durch welche man sich nämlich eine Sache als eine Sache von dieser Art, oder Gattung vorstellet“.18 Die Vollkommenheit des Menschen besteht darin, seine Vermögen (Verstand, Seele/ Wille, Leib) so in Übereinstimmung zu bringen, dass seine freien Handlungen in ihren Endzwecken mit dem Endzweck seiner Natur identisch sind, sodass er ein sittliches und vernunftgemäßes Leben führt. Das rationalistische Axiom der durchgängigen Erkennbarkeit der Welt macht vor der Natur und dem Wesen des Menschen nicht halt. Die Natur des Menschen ist erkennbar und aus ihr folgt, was wir als Menschen tun müssen, um in vollem Sinne Menschen zu sein. Handlungstheoretisch ist dieses Tun möglich, indem wir durch unsere Natur solche Handlungen begehren, die unsere Vervollkommnung befördern. Diese Beförderung ist eine natürliche Verbindlichkeit, d. h. etwas, wozu wir durch unsere eigene sittlich-vernünftige Natur bzw. deren Erkenntnis verpflichtet sind.19 Die Pflicht, die Vollkommenheit zu befördern, hat Vorrang vor den anderen Pflichten, insofern sie alle als Bedingungen der Erfüllung von Vervollkommnungspflicht und -recht und nicht als genuine Pflichten und Rechte entwickelt werden. Überhaupt lässt sich die Reihenfolge der iura connata bei Wolff als Reihung mit abnehmender Relevanz verstehen. Die Hierarchisierung der natürlichen Rechte ist neben ihrer Herleitung aus Pflichten der Grund, weshalb diese Rechte zwar angeboren, aber nicht unaufgebbar sind, wie ich weiter unten zeigen werde. 2. Allgemeine Abwehrrechte: Gleichheit, Freiheit und das Recht auf Verteidigung Wolff leitet aus der Allgemeinheit und Identität des Rechts auf Vervollkommnung für alle Menschen ihre Rechtsgleichheit ab, denn „[i]m moralischen Verstande sind die Menschen einander gleich (homines aequales), deren Rechte und Verbindlichkeiten einerley sind; aber ungleich (inaequales) diejenigen, deren Verbindlichkeiten und Rechte nicht einerley sind“.20 Von Natur aus sind also alle Menschen theoretisch rechtsgleich – auch wenn sie sich hinsichtlich erworbener Rechte faktisch unterscheiden. Die gegen eine naturgegebene Ständeordnung gerichtete natürWolff 1754, § 11. Die freie Handlung kann von der natürlichen abweichen, von Natur her ist der Mensch aber bestimmt, „das Gute zu begehren und das Böse zu verabscheuen“, so dass „die innere Güte ein Bewegungsgrund gewiße Handlungen auszuüben“ ist (Wolff 1754, o. S. [S. 10]). Wolffs Theorie moralischer Notwendigkeit (necessitas) ist bereits von Alexander Baumgarten durch die ‚moralische Nötigung‘ (necessitatio) ersetzt worden – in beiden Fällen bleibt der Begriff sittlicher Freiheit prekär. Vgl. Schwaiger 2000, S. 152 und Schwaiger 2011, S. 151 – 153. 20 Wolff 1754, § 70. 18 19
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liche Gleichheit der Menschen begründet für Wolff wiederum ihre Freiheit.21 Da niemand einen Rang vor einem anderen hat, so hat auch niemand ein naturgegebenes Recht über die Handlungen eines anderen: „Von Natur sind also alle Menschen frey“.22 Gleichheit wird bei Wolff begründungstheoretisch vor (handlungsbezogene) Freiheit gestellt. Vervollkommnungspflicht, Gleichheit an Rang und Freiheit von Herrschaft und zu Handlungen bilden den Grundstock der Lehre von den natürlichen Rechten bei Wolff. Es handelt sich um vollkommene Rechte, d. h. solche, deren Erfüllung ich nicht nur erbitten, sondern auch erzwingen darf. Anders als die folgenden Abwehrund Sozialrechte sind sie sehr wenig konkret. Das erste natürliche Recht auf alle Mittel, die zur Vervollkommnung notwendig sind, gibt insgesamt nur den Bereich vor, der dann durch die weiteren Rechte geregelt werden muss. Gleichheit und Freiheit sind insofern nur sehr theoretische Begriffe, als die Gleichheit der natürlichen Verbindlichkeiten durch erworbene Verbindlichkeiten aufgehoben werden kann und die Freiheit von Herrschaft im Staat sowie in vorstaatlichen Gemeinschaften aufgehoben wird. Der Übergang in den Staat bzw. das Leben in Gemeinschaften ist bei Wolff aber notwendig. Auf den Staat verweisen auch alle folgenden Rechte. Zunächst das „Recht der Sicherheit (jus securitas)“, das in der „Befreyung von der Furcht beleidiget zu werden bestehet“23 und das Wolff damit begründet, dass jede objektive Rechtsverletzung zugleich subjektiv eine nicht zu duldende Beleidigung (i. S. v. Leid zu fügen) einer konkreten Person ist. Alle Personen haben aber ein Recht darauf, dass ihre Rechte nicht verletzt werden, weil durch die damit verbundene Beleidigung ihr Zustand unvollkommener wird. Dieses Recht schließt die Rechte ein, sich zu wehren und zu verteidigen (jus defensionis), Beleidigungen der eigenen Rechte zu verhüten (laesiones praecavere) und der Strafe als Besserungsmaßnahme (poena emendatrix) und als Exempel (poena exemplaris).24 Bezogen sich diese Rechte auf den Menschen als Einzelnen, so ist Wolff doch mit aller Deutlichkeit bewusst, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das zur Erfüllung seiner natürlichen Pflicht der Hilfe anderer bedarf. Daher hat der Mensch weiterhin die Rechte, andere um Hilfe zu bitten (ius petendi officia humanitatis) oder sie zu Dienstleistungen zu verpflichten, so dass ihre von Natur aus nur unvollkommene humanitäre Pflicht eine vollkommene (d. h. erzwingbare) wird.25 Notfalls 21 Stipperger verneint die Deduktion von Freiheit aus Gleichheit und die damit verbundene Hierarchisierung vehement; alle natürlichen Rechte stünden bei Wolff nebeneinander argumentiert er (Stipperger 1984, S. 48 f.). Der Text selbst legt eine deduktive Ordnung nahe, mit der noch nicht gesagt ist, dass Wolff Freiheit für weniger wichtig als Gleichheit hielt. Bachmann betont, dass ein „logischer Zusammenhang“ von Freiheit und Gleichheit nur durch die Herleitung der Freiheit aus der Gleichheit entsteht (vgl. Bachmann 1977, S. 101 f.). 22 Wolff 1754, § 77. 23 Wolff 1754, § 89. 24 Vgl. Wolff 1754, §§ 90 – 93.
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hat man auch das Recht, mit Gewalt gegen drohendes oder geschehenes Unrecht vorzugehen (jus belli). Letztere beide Rechte verweisen bereits darauf, dass Wolff die angeborenen Rechte der Menschen auf den Staat als moralische Person überträgt, da es sich in beiden Fällen um Rechte handelt, die nur in größeren Sozialverbänden denkbar sind. 3. Soziale Rechte, die aus Pflichten gegen sich selbst hergeleitet werden Die Lehre von den allgemeinen Rechten der Menschen ist mit diesen wenigen Rechten abgeschlossen. Weitere konkrete Rechte ergeben sich jedoch aus den Pflichten des Menschen gegen sich selbst (4. Hauptstück der Grundsätze), die als Ausgestaltung der Vervollkommnungspflicht aufgefasst werden können. Gemäß dem Ziel der Vollkommenheit unterscheidet Wolff persönliche Pflichten gegen die Seele, den Leib sowie unseren äußeren Zustand. Er begründet zunächst ein Recht auf Ausbildung der Erkenntniskräfte sowie auf Ausbildung unserer Vermögen, damit wir die Fertigkeiten zu unserer Selbstvervollkommnung erlangen können. Man könnte dieses Recht vielleicht mit einem Recht auf Bildung und auf Wissenschaft übersetzen.26 Weiterhin folgt ein Recht auf Erhaltung des Lebens sowie auf Gesundheit und Wiederherstellung der Gesundheit, woran die Rechte auf Speise und Trank, auf „Artzneyen“, auf Kleidung und Wohnung sowie die zu ihrer Beschaffung notwendige Arbeit gebunden sind.27 Aus der Pflicht zur Vollkommenheit folgen aber auch ein „Recht zu den Zierrathen“ zur Erhaltung der Schönheit sowie ein Recht auf das, was zu Glückseligkeit und Bequemlichkeit des menschlichen Daseins beiträgt.28 Im natürlichen Zustand kommen den von Natur her gleichen und freien Menschen also die Abwehrrechte auf Sicherheit und Verteidigung sowie die Anspruchsrechte auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung, Arbeit, Bequemlichkeit und Glückseligkeit zu. Die Abwehrrechte entsprechen dem natürlichen Verbot der Einschränkung der Vollkommenheit der Person und ihres Zustandes; Personen haben das Recht, nicht durch andere unvollkommener zu werden. Die Anspruchsrechte dagegen entsprechen dem Gebot der Beförderung ihrer Vollkommenheit. Diese Rechte haben die Menschen gegen andere Menschen von Natur her, also auch bzw. nur im vor- oder außerstaatlichen Zustand.
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Vgl. Wolff 1754, § 97. Vgl. Wolff 1754, §§ 105 – 111. Vgl. Wolff 1754, §§ 113 – 116. Vgl. Wolff 1754, §§ 117 – 119.
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II. Naturrecht und bürgerliches Recht – Sind die iura connata Bürgerrechte? Fraglich ist nun, wie bzw. ob diese Rechte im Staat als Grund- oder Bürgerrechte eingelöst werden. An dieser Frage entscheidet sich auch der Streit um die Frage, „ob Wolff und seine Schüler Anhänger oder gar Funktionäre des absolutistischen Staatsgedankens oder […] Vorkämpfer der liberalen, ja freiheitlichen, ja revolutionären Lehren“ von 1789 waren. Um diese Fragen zu klären, ist ein Blick auf Wolffs Lehre von der Entstehung des Staates sinnvoll.29 Es zeigt sich, dass die Einschränkung der angeborenen Handlungsfreiheit bei Wolff systematisch notwendig ist, dass darin jedoch nur ein Problem besteht. Ein weiteres ist darin zu erkennen, dass Wolff keine Freiheitsrechte (auf freie Meinungsäußerung, Wahl von Religion, Wohnort, Beruf etc.) im eigentlichen Sinne kennt. Eine weitere Dimension erhalten diese Probleme durch Wolffs Haltung zu Widerstandsrechten gegen die Staatsgewalt. 1. Notwendige Einschränkung der Freiheit Absolute individuelle Freiheit muss bei Wolff nicht erst im Staat, sondern auch im vorstaatlichen Zustand eingeschränkt werden, da wir kooperieren müssen, um unserer Vervollkommnungspflicht nachkommen zu können. Die natürliche Verbindlichkeit, sich und seinen Zustand zu vervollkommnen, ergänzt Wolff nämlich noch vor Nennung der aus ihr resultierenden angeborenen Rechte durch eine Sozialitätspflicht, denn es kann „niemand sich und seinen Zustand allein vollkommen machen […]; sondern ein jeder [hat] anderer Hülfe nöthig“.30 Da wir die Pflicht zur Vervollkommnung haben, die wir nur mit Hilfe anderer erfüllen können, müssen wir nicht nur anderen helfen und ihnen nicht schaden, sondern auch unsere Kräfte vereinigen. Das Gleiche wiederholt sich auf der Ebene einfacher Zusammenschlüsse, denn auch einzelne „Häuser“ können weder den sozialen Anspruchsrechten der Individuen („Nothdurft, Bequemlichkeit und […] Vergnügen, […] Glückseligkeit“) noch den Abwehrrechten („ihre Rechte ruhig geniessen“, Vertragssicherheit und Sicherheit vor Diebstahl und „Gewalttätigkeit“) genüge tun.31 Man kann also sagen, dass aus der ersten Pflicht zur Vervollkommnung die iura connata folgen, aber zugleich auch eine zweite Pflicht entsteht, die die iura connata systematisch einschränkt: 29 Zur Staatsentstehungslehre vgl. den besonnenen Artikel von Christoph Link, der Wolff in die systematische Nähe von Grotius rückt, da beide im Naturzustand einen „appetitus socialis“ und vorstaatliche Strukturen gesellschaftlicher Organisation erkennen. Daher gehe auch der „Vorwurf der ‚atomisierenden‘ Gesellschaftstheorie der Aufklärung, den die Romantik immer wieder erhob, […] zumindest bei Wolff ins Leere“ (Link 1986, S. 172 f.). 30 Wolff 1754, § 44. 31 Wolff 1754, § 972.
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Diese Struktur verhindert eine unbedingte Geltung der angeborenen Rechte dann, wenn die angeborenen Rechte nicht über der Sozialitätspflicht stehen, weil beide allein aus der allgemeinen menschlichen Pflicht zur Vervollkommnung deduziert werden. Die Vervollkommnungs- und damit aus anthropologischen Gründen einhergehend die Kooperationspflicht haben Vorrang vor allen Abwehr- und Sozialrechten, da die letzteren allein zur Erfüllung der Pflicht zur Vervollkommnung dienen. Anders als bei Hobbes, bei dem der Mensch von Natur aus ein Recht auf alles hat, was seiner Erhaltung dient, oder bei Locke, der dem Menschen von Natur aus das Recht auf Leib, Leben und Eigentum zuspricht, gibt es bei Wolff einen Primat der Pflicht. Aus diesem Grund sind die natürlichen Rechte – anders als bei Hobbes und Locke zwar nicht unentziehbar, aber durchaus aufgebbar, wenn damit der Pflicht zur Vervollkommnung nachgekommen wird. Es zeigt sich bei Wolff sogar, dass die angeborenen Rechte nicht erst im Staat, sondern bereits im vorstaatlichen Zustand eingeschränkt sind. Der Staat gehört bei Wolff dem „erworbenen Zustand“ (adventitius32) zu. Während im ursprünglichen Zustand (originarius) dem Menschen alle natürlichen Verbindlichkeiten und Rechte zukommen, hebt der erworbene Zustand diese z. T. auf. Der natürliche besteht von Natur aus, der erworbene „nur durch eine dazu gekommene menschliche Handlung“.33 Wolff unterscheidet also einen status naturalis originarius von einem durch menschliche Handlung bedingten status adventitius, zu dem der status civilis sowie idealiter irgendwann die civitas maxima gehören. Obwohl wir also im status naturalis als sittliche Personen unentziehbare Rechte haben, zwingt uns der status adventitius zur Einschränkung einiger dieser Rechte in Gemeinschaften sowie dann durch einen Staat.34 Dies geschieht zwangsläufig, da der Vervollkommnungspflicht in ei32 ‚Entstanden‘ ist die von Wolff autorisierte Übersetzung von adventitius. Hofmann merkt zum Begriff adventitius an, dass er nicht glücklich mit „zukömmlich“ übersetzt werde, wie von Bachmann vorgeschlagen. Wolff übernehme den Begriff wohl von Pufendorf, der damit jeden Zustand meint, der durch menschliche Handlungen vom status naturalis abweicht. Es sei damit also ein „akzidentielle[r]“ oder wie Hofmann Klaus Luig folgend vorschlägt, „erworbene[r]“ Zustand gemeint. Bei Wolff ist damit ein durch menschliches Handeln entstandener, aber vorstaatlicher Zustand gemeint, so Hofmann (vgl. Hofmann 2004, S. 19). 33 Wolff 1754, § 102. 34 Der Naturzustandsbegriff bei Wolff ist etwas verwirrend, da er einerseits auf einen idealen, normativen Zustand bezogen wird (status originarius) und andererseits auf einen erworbenen, der bei der Erfüllung der ersten Pflicht durch menschliches Handeln entsteht (status adventitius) und der zur Errichtung eines Staates zwingt. Bachmann versteht den Staat als „Sonderfall“ des status adventitius bei Wolff (vgl. Bachmann 1986, S. 164). (Am Rande sei bemerkt, dass sich das altbekannte Problem des Verhältnisses der Naturzustandsauffassungen von Zweitem Diskurs und Contrat social bei Rousseau auflöst, wenn man eine ähnliche Kon-
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nem durch menschliches Handeln geprägten Zustand immer nur in Gemeinschaft bzw. in einem Staat nachgekommen werden kann. Der Naturzustand als ursprünglicher Zustand ist also lediglich normatives Ideal, während alle staatlichen und vorstaatlichen Zustände entstandene (adventitius) sind. Alle Einschränkung natürlicher Rechte ist nun durch Handlungsnotwendigkeiten im entstandenen Zustand legitimiert: „so muß man merken, daß der Mensch im ursprünglichen Zustande an und vor sich selbst ein Recht haben könne, dessen Ausübung aber nicht anders, als in dem entstandenen statt findet, in so weit nämlich die Handlung eines andern macht, daß es statt finden kann“. 35
Uneingeschränkte natürliche Rechte hat der Mensch also nur im idealen ursprünglichen Zustand, konkret zukommen können sie ihm aber stets nur in historisch realen, von anderen mitgeprägten Zuständen, die aber eben immer auch mit Einschränkungen der ursprünglich angeborenen Rechte einhergehen. Was daraus folgt, ist, dass die Einschränkung der natürlichen Rechte bei Wolff systematisch bereits vorstaatlich notwendig ist. Institutionalisiert wird sie durch den notwendigen Übergang in einen staatlichen Zustand, der eine Einschränkung der ursprünglichen Freiheit bedeutet, die durch die Gewährleistung der anderen Abwehrund Anspruchsrechte und damit letztlich durch die Pflicht und das Recht auf Vervollkommnung legitimiert ist. Denn erst durch die Positivierung des Rechts ist die Möglichkeit der Durchsetzung der iura connata gegeben, die im status adventitius nicht gesichert war. Um ihrer Vervollkommnungspflicht nachkommen zu können, sind die Individuen verpflichtet, ihr Miteinander durch einen Gesellschaftsvertrag in einen Staat zu überführen, in dem die natürlichen Abwehr- und Anspruchsrechte der Individuen gewährleisten werden können. Der Staatszweck besteht in „hinlänglichem Lebensunterhalt (in sufficientia vitae), d. i. im Ueberfluß alles dessen, was zur Nothdurft, zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen des Lebens, auch zur Glückseligkeit des Menschen erfordert wird, in der inneren Ruhe des Staates (tranquillitate civitatis), d. i. in der Befreyung von der Furcht für Unrecht, oder Verletzung seines Rechts (§ 87), und der Sicherheit (securitate), oder der Befreyung von der Furcht vor äußerer Gewalt. Die Wohlfahrt eines Staates (salus civitatis) aber bestehet in dem Genuß des hinlänglichen Lebensunterhalts, der Ruhe und der Sicherheit […]. In so weit nun dieses zu erhalten stehet, wird es das gemeine Beste (bonum publicum) genannt […].“36
In den Zweck des entstandenen Staates nimmt Wolff die natürlichen Rechte der Menschen auf. Er verweist in diesem Zusammenhang auf den § 87, in dem er das struktion in Betracht zieht.) Thomann weist darauf hin, dass der Naturzustand bei Wolff „weder eine Fiktion, noch eine Utopie, noch eine rein metaphysische Konstruktion“ ist, sondern „durchaus empirisch, auf den Bedürfnissen“ der Menschen beruhendes „Ideal“ (vgl. Thomann 1987, S. 260). Walter Pauly nennt ihn den „anthropologischen Ausgangspunkt“ von Wolffs Lehre (Pauly 1994, S. 141). 35 Wolff 1754, § 102. 36 Wolff 1754, § 972.
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Recht auf Sicherheit begründet und damit die Notwendigkeit einer Sicherheit gewährenden größeren Macht in dem Abschnitt über die angeborenen Rechte angelegt hatte. In diese iura connata-ermöglichende Legitimierung von Staaten als Wohlfahrtsdurchsetzungsinstrumenten ist eine unrechtsverhindernde von Staaten als Sicherheitsanstalten eingelassen. Verschiedentlich betont Wolff, dass „ungezähmte Freyheit […] dem Unrecht Thür und Angel öffnet“37 und dass die Menschen häufig nicht vernünftig genug sind, um zu kooperieren. Da Herrschaft definiert ist als das „Recht über die Handlungen des anderen“,38 Freiheit aber als Recht auf Selbstbestimmung in Handlung und Urteil verstanden wird, ist der Zustand des Menschen im Staat offenbar einer der eingeschränkten Handlungsfreiheit.39 Wolff bedient sich damit der Hobbesschen Idee, dass die ursprüngliche Freiheit der Menschen zu einem in hohem Maße unvollkommenen Zustand führt. Die angeborene vollkommene Freiheit des Einzelnen kann daher auf keinen Fall unbeschadet in den staatlichen Zustand überführt werden. Um der natürlichen Vervollkommnungspflicht nachkommen zu können, muss die natürliche Freiheit eingeschränkt werden. Diese Rechtseinschränkung geschieht, um den anderen Rechten zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Rechte auf Handlungen, die die Vollkommenheit befördern, und auf Gleichheit sind durch diese Einschränkung nicht nur unbenommen, sondern erst ermöglicht. Geht man von einem Begriff der Handlungsfreiheit (gegenüber einem der Autonomie) aus, dann ist die Einschränkung der Freiheit im bürgerlichen Zustand gut begründet, wie bereits Hobbes’ Gedankenexperiment des Naturzustands zeigt. Wenn man die Einschränkung der absoluten Freiheit bei Wolff beklagt,40 so sollte man berücksichtigen, dass die Abgabe absoluter Handlungsfreiheit im Staat charakteristisch für den staatstheoretischen Kontraktualismus überhaupt und nicht per se den Absolutismus legitimierend ist. Die Quellen von Wolffs Paternalismus41 und seine Nähe zum aufgeklärten Absolutismus42 würde ich daher auch nicht in dieser Wolff 1754, § 87. Wolff 1754, o. S. [S. 14]. 39 Vgl. Wolff 1754, § 1071. 40 Klippel ist sogar der Ansicht, dass die „erste Funktion der iura connata“ sei, die „Rechte der Staaten und ihrer Herrscher“ zu beschreiben (vgl. Klippel 1991, S. 357) und dass sie daher gerade „keine Abwehrsubstanz gegenüber staatlicher Tätigkeit“ darstellen (Klippel 1991, S. 358). Ersteres stimmt so nicht, da wenigstens der Staatszweck durch diese Rechte beschrieben ist, der die Rechte der Staaten durchaus einschränkt. Letzteres hingegen ist in der Tat ein Problem und führt dazu, dass Klippel Recht hat, die iura connata Wolffs „gerade nicht in die Theoriegeschichte der Freiheitsrechte aufzunehmen“ (ebd.). Diese setze in Deutschland erst mit den Physiokraten (Isaak Iselin, Johann A. Schlettwein) sowie der von Kant beeinflussten Allgemeinen Staatsrechtslehre (Johann G. Fichte, Johann B. Erhard, Johann H. Abicht u. a.) ein, so Klippel. 41 Frank Grunert legt dar, inwiefern der Paternalismus als „notwendige Folge“ mit den theoretischen Prämissen von Wolffs politischer Philosophie einhergeht (Grunert 2006, S. 12). 42 „Man muß Wolff in Anbetracht dieser Nähe seiner Philosophie zur brandenburgischpreußischen Staatsmaschine zugute halten, dass die Instrumentalisierung des Menschen letzt37 38
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klassischen Einschränkung physischer Freiheit sehen, sondern eher darin, dass der rechtsdurchsetzende Zweck des Staates alles Recht erhält, die anderen angeborenen Rechte des Einzelnen zum Zwecke dieser Durchsetzung zu beschneiden, sowie darin, dass Wolff keine spezifischen Freiheitsrechte kennt.43 Beide Aspekte haben wiederum darin ihre Begründung, dass Wolff Pflichterfüllung über Rechtsansprüche stellt. Der vollständig uneingeschränkte Erhalt persönlicher Freiheit unter staatlicher Herrschaft könnte darüber hinaus nur mit einem positiven Begriff von Freiheit als Autonomie vorgestellt werden, wie man ihn bei Kant oder Rousseau, aber noch nicht bei Hobbes oder Locke findet. 2. Abweichungen des bürgerlichen vom natürlichen Recht Zugute gehalten werden muss Wolff, dass hinsichtlich der Rechtseinschränkung in sozial strukturierten Zuständen immerhin eine Spannung besteht. Denn einerseits betont er, dass das „bürgerlich gerechte (civiliter justum) enger eingeschränkt ist, als das natürlich gerechte“,44 andererseits, dass „das angebohrne Recht so genau mit dem Menschen verbunden [ist], daß es ihm nicht genommen werden kann“. 45 Grundsätzlich müssen die natürlichen Rechte also auch im Staat unbedingte und vollumfängliche Geltung haben.46 Die Herrschaft ist – unangesehen ihrer Form – auf diejenigen Handlungen der Bürger beschränkt, die „zur Beförderung der gemeinen Wohlfahrt gehören“ und darüber hinaus ist ihre Freiheit „ungekränkt“.47 Das Verhältnis der natürlichen zu den bürgerlichen Rechten ist daher grundsätzlich eines der Identität. Abweichungen (Einschränkungen persönlicher Rechte) sind nur erlaubt, um den natürlichen Rechten zur Durchsetzung zu verhelfen.48 Aufgabe des praktischen Philosophen ist die Prüfung des Grades der Übereinstimmung von bürgerlichem und angeborenem Recht.49 lich immer auf diesen selbst bezogen bleibt, was vom Regiment des Preußenkönigs nicht gesagt werden kann“ (Lutterbeck 2002, S. 202). Pauly betont sogar, man werde „bei Wolff keine Textstelle finden, aus der ein Hang zum Absolutismus erkennbar wäre“ (Pauly 1994, S. 142). 43 Bachmann macht für diesen Umstand die Systematik Wolffs verantwortlich – er ist der Ansicht, dass Recht auf Eigentum und freie Meinungsäußerung etc. erst in einem Staat denkbar wären und deshalb nicht zum Katalog angeborener Rechte gehören können (Bachmann 1977, S. 108 f.). Dass sich dies auch anders denken lässt, zeigt z. B. Locke in seinen Two Treatises of Government von 1689. 44 Wolff 1754, § 83. 45 Wolff 1754, § 74. 46 Vgl. Wolff 1754, § 1069. 47 Wolff 1754, § 980, vgl. auch § 1069. 48 Vgl. Wolff 1754, § 1071. Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht vgl. ähnlich Pauly 1994, S. 139. 49 Bereits in der Vorrede kündigt Wolff an, dass im positiven Recht nur dann Wahrheit sei, wenn es mit dem natürlichen Recht übereinstimmt, was durch die demonstrativische Methode
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Die natürlichen Rechte bleiben auch im status civile normativer Maßstab und erlauben in eingeschränktem Sinne sogar Gehorsamsverweigerung (passiven Widerstand) gegen die Staatsgewalt. Denn die Unentziehbarkeit der iura connata ist damit begründet, dass sie der Erfüllung der obersten Pflicht zur Vervollkommnung wegen gelten. Von dieser Pflicht kann sich niemand befreien und so darf auch niemand gezwungen werden, diese Rechte aufzugeben: „so ist man dem Oberherrn keinen Gehorsam schuldig, wenn er befehlen sollte, was einem gebietenden, oder verbietenden natürlichen Gesetze entgegen stehet, und man muß es geduldig leiden, wenn man desfalls gestraft, oder vielmehr mißgehandelt wird“. 50
Unter Verweis auf die §§ 88 und 90 (angeborenes jus defensionis) erlaubt Wolff sogar aktiven Widerstand gegen den Oberherrn, der gegen die im Einrichtungsvertrag festgelegten Regeln der Herrschaftsverwaltung („Grundgesetze“ 51) verstößt.52 Diese Rechte auf passiven und aktiven Widerstand stehen jedoch zwei anderen Momenten gegenüber, die gerade keinen Widerstand erlauben.53 Erstens ist schlechte Regierung für Wolff kein Grund zum Widerstand. Wer einen Befehl des Oberherrn zu hart findet, darf lediglich eine „demüthige Bitte“ vortragen, da das gemeinsam gesetzte Recht „nur nach seinem Willen ausgeübet werden muß“.54 Die Interpretation und Ausübung der Gesetze obliegt dem Oberherrn allein. Solange er sich an das Hauptgesetz der allgemeinen Wohlfahrt55 hält, begeht er formal keine Rechtsverletzung gegen seine Bürger, da er ihnen bei der Erfüllung ihrer Pflicht zur Vervollkommnung hilft. Dass die staatliche Verfolgung des gemeinen Besten mitnichten stets das individuelle Beste oder auch nur Rechtmäßige für die Bürger eines Staates zur Folge hat, ist aus zahlreichen Lehrstücken der Geschichte bekannt. Bei Wolff kommt zweitens erschwerend hinzu, dass die natürlichen Rechte gar nicht bruchlos in den bürgerlichen Gesetzen aufgehen. Diese sollen die Mittel sein, erwiesen werden müsse (vgl. Wolff 1754, o. S. [S. 3]). Was Recht ist, kann allein die Vernunft bestimmen. 50 Wolff 1754, § 1079. 51 Wolff 1754, § 984. 52 Vgl. Wolff 1754, § 1079. 53 Stipperger unterscheidet Wolffs Haltung zum Widerstand gegen die Obrigkeit im Staat im Jus naturae und in der Deutschen Politik. Letztere kennt nur eine „Gehorsamsverweigerungspflicht“, aber keine Pflicht zu aktivem Widerstand, die sich laut Stipperger in den Bänden VII und VIII des Jus naturae findet und deren Reflex wie gezeigt auch in den Institutiones kenntlich wird (vgl. Stipperger 1984, S. 149 – 158). In der Tat beziehen sich die Autoren, die bei Wolff keinerlei Recht auf Widerstand finden, meist auf Belegstellen aus der Deutschen Politik (Hofmann, Grunert), wo Wolff vor Veränderungen warnt (Hofmann 2004, S. 13 verweist hier auf den § 503 der Deutschen Politik). Anders als Grunert, weist Hofmann explizit auf die systematischen Unterschiede zwischen der Deutschen Politik und den lateinischen Bänden hin (vgl. Hofmann 2004, S. 18 f.). 54 Wolff 1754, § 1080. 55 Vgl. Wolff 1754, § 976.
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durch die „die gemeinsame Wohlfahrt des Staates erhalten wird“.56 Gründe der Abweichung der bürgerlichen von den natürlichen Gesetzen liegen im „Zustande eines Staates überhaupt“ (Einschränkung der Freiheit) oder im Zustand „desjenigen Staates, in welchem das Gesetz gegeben wird, insonderheit“ (alle möglichen anderen Rechtseinschränkungen). Zudem erfordere die Einheit der bürgerlichen Gesetze, „daß man auch das, was mit dem Naturrecht nicht ganz übereinkommt, aus andern bürgerlichen Gesetzen aber folget, annehmen müsse“.57 Abweichungen liegen also im Wesen des Staates überhaupt, in den spezifischen Anforderungen des wohlfahrtsmaximierenden Staates und der Forderung nach Einheit des Rechts begründet. Im Jus gentium heißt es zum Verhältnis von natürlichen und positiven Rechten weiterhin, dass letztere niemals die Genauigkeit der ersteren abbilden können. Das Verhältnis sei aber weder komplette Ablehnung noch Übereinstimmung.58 Abweichungen seien zur Verhinderung größeren Übels bzw. zur Durchsetzung der natürlichen Rechte selbst zulässig. Wolff betont jedoch selbst die Ubiquität menschlicher Irrtümer, durch die „right has been transformed to reckless license“,59 so dass es mehr Wunsch als Hoffnung sei, dass „nations should be brought back to the straight road from the bypath into which they have strayed too far“.60 Die notwendigen oder irrtümlichen Abweichungen des positiven vom natürlichen Recht im Verbund mit der Zustimmung zu jeder Art der Regierungsausübung durch Einwilligung in die Einrichtung der Regierung überhaupt, erlauben der Regierung de facto einen Verstoß gegen alle angeborenen Rechte, solange dieser Verstoß der Wohlfahrtsmaximierung dient und dabei nicht die Regierungsregeln verletzt werden. Gegen die Abweichungen oder eine schlechte Regierung gibt es keinerlei Mittel zur individuellen Durchsetzung angeborener Rechte. Obwohl Wolff also Freiheit als angeborenes Recht anerkennt, kennt er keine liberalen Freiheitsrechte des bürgerlichen Individuums. Es gibt kein Recht auf Eigentum,61 keines auf freie Meinungsäußerung, auf Gewissensfreiheit oder auf selbstbestimmte Wahl des Lebensweges. Die iura connata der Individuen gehen auf den Staat als künstliche Person über, ohne dass die Individuen auf ihrer Grundlage gegen den Staat vorgehen könnten. Im Hintergrund steht bei Wolff die platonische Tradition des Staates als einem organischen Gemeinwesen, dessen Seele die Regierung bildet und in dem die Individuen in Ständen ihren staatserhaltenden und gemeinwohlmaximierenden Aufgaben nachgehen: „some ought to do one thing, Wolff 1754, § 1073. Wolff 1754, § 1073. 58 Vgl. Wolff, Law of Nations, S. 5 f. (Wolff, Jus gentium, o. S. [S. 3 f.]). 59 Wolff, Law of Nations, S. 8 (Wolff, Jus gentium, o. S. [S. 10]: „jus in libidinosam licentiam vertatur“). 60 Wolff, Law of Nations, S. 8 (Wolff, Jus gentium, o. S. [S. 10]: „ut gentes ad viam rectam reducantur a deviis, ad quae nimis procul aberrarunt“). 61 Vgl. Wolff, Law of Nations/ Jus gentium, § 135. 56 57
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others another, just as in the human body there are different functions for different organs, fitted to accomplish one definite general purpose“.62 Diese Vorstellung eines wohlgeordneten Staates ist dem Ideal individueller Freiheit diametral entgegengesetzt, und sie ist auch nicht kongruent mit dem Ideal individueller Wohlfahrt, denn der Staat muss für sich selbst sorgen, die Individuen aber für den Staat.63
III. Schluss Resümierend kann gesagt werden, dass Wolffs Lehre von den iura connata keine Frühform der Menschenrechtsdoktrin ist, die 1789 zuerst öffentlich proklamiert wurde. Die iura connata sind keine unentziehbaren Individualrechte, die im Staat erhalten bleiben und gegen staatliches Handeln reklamiert werden können. Sofern das Volk einer Regierung zugestimmt hat, können die Bürger sich nicht auf ihre natürlichen Rechte berufen, wenn sie den Eindruck haben, dass der Staat dagegen verstößt, solange das Oberhaupt behauptet, dieser Verstoß diene dem Gemeinwohl, das in der Erfüllung aller natürlichen Abwehr- und Anspruchsrechte besteht. Als Staatszweck sind die natürlichen Rechte den persönlichen Vorlieben, dem Erstreben eines selbstgewählten Lebensziels entzogen, und es obliegt allein der Regierung, die Mittel zur Erfüllung eines auch material qualifizierten Gerechtigkeitsideals zu bestimmen.64 Wie Böhr, Lutterbeck, Grunert und andere gegen die Vertreter einer freiheitsrechtlichen Lesart Wolffs betonen, hat der Regent zwar die Erfüllung der natürlichen Rechte der Individuen zum Regierungsziel, die Individuen haben aber keinerlei Möglichkeit, gegen die zu diesem Zweck eingesetzten Mittel aufzubegehren. Es ist eine moralische, aber nicht justiziable Pflicht des Staates, den Bürgern ihre natürlichen Rechte einzuräumen.65 Der Bürger ist bei Wolff noch kein Rechtssubjekt „weder als Träger von Freiheitsschutzrechten im Sinne der liberalistischen Interpretation noch als Träger materialer Rechtsforderungen an die staatliche Gesellschaft“, wie Böhr betont.66 Das Individuum wird bei Wolff „zum Objekt der Perfektibilisierungsbemühungen des Staates“, wobei der Staat unablässig einen Wissensvorsprung über das Wie der Ver62 Wolff, Law of Nations/ Jus gentium, § 43: „alius hoc, alius aliud agere debere, sicuti in corpore humano diversae sunt diversorum organorum functiones ad unum quendam finem universalem obtinendum requisitae“. 63 Vgl. Wolff, Law of Nations/ Jus gentium, § 135. 64 Vgl. Lutterbeck 2002, S. 199. 65 Vgl. Böhr 1982, S. 589, Lutterbeck 2002, S. 194. „Die ursprünglichen Rechte auf alles, was der Mensch zur Pflichterfüllung bedarf, gehen vollkommen im ‚imperium civile‘ auf, da der Staat als die soziale Einheit begründet wird, welcher durch die Vereinigung die Sorge um die Sicherheit der Kontrahenten ebenso wie die Vorsorge für die materiellen Voraussetzungen zur menschlichen Zweckerfüllung überantwortet worden ist. […] Grundrechte werden in Staatszwecke umgedeutet.“ (Lutterbeck 2002, S. 196). 66 Böhr 1982, S. 589.
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vollkommnung reklamieren kann, bei dem er nur die Pflicht hat, sich von akademisch Gebildeten beraten zu lassen.67 Ex negativo lässt sich bei Wolff verstehen, dass die Vorstellung eines „Maximalstaates“ (Böhr), der zum Zweck allein die allgemeine Wohlfahrt, nicht aber den Erhalt der individuellen Freiheit hat, die Idee angeborener individueller Rechte gleicher und freier Individuen auch dann noch negiert, wenn diese in den Staatszweck aufgehoben sind, wenn die Regierung freie Wahl über die Mittel zur Durchsetzung dieses Zweckes hat und die Bürger zugleich kein grundsätzliches Recht auf Widerstand gegen eine schlechte (rechtsverletzende) Regierung haben. Die im Absolutismus faktisch resultierende Einschränkung angeborener Rechte hat bei Wolff ihren systematischen Grund im Primat der Pflicht vor dem Recht, was wiederum systematisch aus der rationalismustypischen Einheit von Erkenntnis des Guten und Wollen des Guten resultiert.68 Unter einem anderen Gesichtspunkt jedoch ist Wolff tatsächlich Vordenker in der Geschichte der Menschenrechte, insofern er Menschenrechte nicht nur als liberale Abwehrrechte, sondern auch als soziale Anspruchsrechte auffasst.69 Zwar zeigen Wolffs lutherisch geprägten wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen die Gefahr des Paternalismus in aller Deutlichkeit. Doch haben liberale Staatsvorstellungen auch eine unschöne Kehrseite; wer einer verarmten Mehrheit der Bürger Meinungs- und Religionsfreiheit als oberstes Ziel der Regierung predigt, kann mit Recht des Zynismus bezichtigt werden. Freiheitsrechte sollten zwar keinesfalls für soziale Anspruchsrechte eingeschränkt werden, doch letztere sind als soziale Rechte inzwischen auch – wenngleich nur moralisch einklagbarer und nicht unumstrittener – Teil der Menschenrechtscharta. Unter diesem Gesichtspunkt sozialer Anspruchsrechte als angeborener individueller Rechte könnte Wolff früher Stichwortgeber auch für Debatten um globale Gerechtigkeit sein.70 Allerdings bleibt hier zu bemerken, dass die systematische Ursache für Wolffs Illiberalismus auch hier einen aktualisierenden Anschluss verbietet. Die Begründung der sozialen Rechte erfolgte nicht über unableitbare Grundrechte auf Leib, Leben, Arbeit, Wohnung und Gesundheit, sondern durch die erste Pflicht zur Vervollkommnung. Durch diese begründet Wolff zwar die sozialen Rechte, die aus den Pflichten des Menschen gegen sich selbst entstehen, insofern er seine eigene Vollkommenheit befördern soll. Durch die begleitende Pflicht zu kooperieren, und zwar idealiter in einem Staat, der als Wohlfahrtsstaat die Vervollkommnung seiner Bürger Grunert 2006, S. 17 f. „Freies Handeln, Moralität und vernünftige Praxis werden zu deckungsgleichen Begriffen. […] Das zentrale Problem des Thomasischen Werks, das Verhältnis von Verstand und Willen, tritt […] bei dem Intellektualisten Wolff gar nicht auf. Willensfreiheit wird auf Erkenntnisbereitschaft reduziert, insofern Wolff davon ausgeht, dass das erkannte Gute notwendig den Willen determiniere“ (Lutterbeck 2002, S. 185). Zu Recht und Moral bei Wolff differenziert: Stipperger 1984, S. 138 – 148. 69 So auch Link 1986, S. 181 f. sowie S. 186 f. 70 So auch Pauly 1994, S. 141. 67 68
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zum Zweck hat, verliert der Mensch aber sein Recht zur Bestimmung der Mittel seiner Vervollkommnung. So kann man sagen, dass Wolff ideengeschichtlich zwar Stichwortgeber für Menschenrechte als Anspruchsrechte sein mag, dass seine Begründung dieser Rechte aber in keiner Weise mit der heutigen Auffassung von Menschenrechten als nicht nur angeborenen, sondern auch unaufgebbaren Rechten kompatibel ist.71
Summary In the history of human rights, Christian Wolff is usually not mentioned. The article shows why this is inadequate and yet in certain respects adequate. It is inadequate because Wolff brought forward a theory of innate rights, which is new in its elaborateness compared to his precursor Samuel von Pufendorf. Furthermore, Wolff’s iura connata theory has a dimension of social rights that cannot be found in John Locke’s earlier theory of natural rights. He speaks not only of defensive rights, but also of the rights to food and water, the right to housing, the right to health, and to education. From the angle of social rights, Wolff’s philosophy deserves therefore somewhat more attention in the history of human rights than is paid until now. Still, the neglect of Wolff in the history of human rights is reasonable insofar as his iura connata are not to be understood as civil rights. Contrary to a number of liberal interpretations of Wolff’s Jus naturae, the article argues that it entails a systematic reason for curtailing the innate rights in all social states from pre-civic condition (status adventitius) to civil society: Wolff justifies his list of innate rights with the duty to aspire perfection of oneself (Vollkommenheit). The conversion of duty to right comes along with a duty to cooperate with others. Though Wolff calls it impossible to deprive someone of his innate rights by force, it is necessary for the individual to give them up in order to attend to her duty to aspire perfection of herself. The innate rights thus dissolve into the purpose of the social welfare state, against which the citizens cannot revolt without violating their duty to aspire perfection.
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71 Generell zu Problemen, ältere Vorstellungen der Menschenrechte auf unsere Zeit zu übertragen, vgl. Menke / Pollmann 2007, S. 16 ff.
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Solidarität im (sozialen) Staat – Solidarity in the (social) State
Marktwirtschaft und Freiheit oder Die kantische Republik als „sozialer Rechtsstaat“*1 Georg Geismann Die Wirtschaft ist eine zu ernste Angelegenheit, als dass man sie ganz sich selbst überlassen darf.
I. Die Wirtschaftswissenschaft als empirische Sozialwissenschaft kann schon in ihrer Theorie, noch weniger aber in ihrer gesellschaftlichen Anwendung auf die Einbeziehung von Erkenntnissen der anderen Sozialwissenschaften verzichten. Ebenso bilden die gesellschaftlichen Anwendungsbereiche einen Kausalnexus, bei dem Eingriffe an einer Stelle Auswirkungen an anderen Stellen nach sich ziehen. Ich zöge es daher auch vor, generell von Gesellschaftspolitik zu sprechen, innerhalb derer man dann die verschiedenen Arten von Politiken begrifflich unterscheiden, wenn auch sachlich nicht streng trennen könnte.2 Nun ist die Wirtschaft, wie schon Aristoteles erkannte, zwar der unterste der menschlichen Lebensbereiche, zugleich aber schlechthin unentbehrlich, da durch sie die für ein spezifisch menschliches, also selbstbestimmtes Leben notwendigen Mittel „erwirtschaftet“ werden. Daher ist auch eine auf Wirtschaft bezogene Politik integraler, aber zugleich insofern untergeordneter Bestandteil von Gesellschaftspolitik, als zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen ein Verweis auf ökonomische Zweckdienlichkeit (z. B. Wachstumsförderung) nicht aus* Besonderen Dank schulde ich meinem Freund Reinhard Zintl von der Universität Bamberg für hilfreiche Kritik und wichtige Anregungen. 1 Dieser Ausdruck wurde meines Wissens erstmals von Hermann Heller benutzt. 2 Siehe dazu Kurt W. Rothschild, „The absence of power in contemporary economic theory“, in: Journal of Socio-Economics, 31 (2002) 433 – 442; Hans Albert, „The neglect of sociology in economic science“, in: Kurt W. Rothschild (Hrsg.), Power in Economics, Harmondsworth: Verlag Penguin Books, 1971, 21 – 35; Hans Albert spricht an anderer Stelle zu Recht von einer „allgemeinen Soziologie als Wissenschaft von der sozialen Steuerung, und damit auch: von der Ordnung der Gesellschaft“ (Hans Albert, „Die Idee der politischen Ökonomie und das Problem der rationalen Politik,“ in: Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster (Hrsg.), Feier zur Verleihung des Ernst Helmut Vits-Preises 30. November 1976,13).
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reicht. Vielmehr muss sie sich wie überhaupt alle gesellschaftspolitischen Maßnahmen daran messen lassen, ob sie dem Endzweck der Gesellschaft als einer res publica dient. Und das ist bekanntlich nicht die Wirtschaft, sondern die gesetzliche Freiheit von jedermann. All dies nimmt den verschiedenen Politiken (etwa Geldpolitik, Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik etc.) nichts von ihrem spezifischen Wert; aber dieser ist stets der Wert eines Mittels zum Zweck, nicht eines Zwecks an sich. Die Wirtschaftswissenschaft ist wie alle Sozialwissenschaften eine empirische Wissenschaft, die mit Hilfe theorie-geleiteter nomologischer Hypothesen und empirischer Forschung einen bestimmten Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit verstehend erklären und möglichst auch für Prognosen verwenden will. Sie kann nur feststellen, dass etwas so und so ist, und es unter Verweis auf bestimmte Kausalzusammenhänge explizieren. Auf dieser Basis auch eine normative Aussage zu machen (so und so soll es sein), würde einen sog. naturalistischen Fehlschluss bedeuten. Der Ökonom wäre hier in derselben Lage wie der Atomphysiker, der (wohlgemerkt) als Physiker eine moralische (ethische oder rechtliche) Beurteilung der Atombombe abgäbe. Gleiches gilt auch für die „Wirtschaftspolitik“ als angewandte Wirtschaftswissenschaft. Auch hier kann der Ökonom als solcher mit sozialtechnologischer Kompetenz nur sagen, welche Wirkungen (einschließlich Risiken und Nebenwirkungen) bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen (vermutlich) haben werden bzw. welche Maßnahmen erforderlich wären, um bestimmte wirtschaftspolitische oder andere politische Ziele zu erreichen. Die Zielsetzung selber, also das normative Moment der Wirtschaftspolitik, ist jedoch nicht seine Sache und kann es nicht sein.3 Wo immer ein Ökonom, sei er in der Wissenschaft oder in der Wirtschaft tätig, wirtschaftspolitische Vorschläge macht, sind diese keineswegs bloß auf angeblich rein ökonomischer Erkenntnis gegründet, so, als gründe ihre Qualität oder Notwendigkeit auf bloßen Marktgesetzen („Sachzwängen“), sondern stets zugleich auf bestimmten normativen Vorgaben, die ihrerseits begründungsbedürftig sind. Wenn etwa Effizienz im Sinne von Gewinnmaximierung oder einer Steigerung des „Wohlstands der Nationen“ nicht nur einen (wichtigen) Gegenstand ökonomischer Forschung bildet, sondern zum Ziel aller wirtschaftlichen Tätigkeit erklärt wird,4 beruht dies auf außerökonomischen Voraussetzungen. 3 In Bezug auf die Neigung vieler Ökonomen, wirtschaftspolitische Empfehlungen auszusprechen, ist zu sagen: solche Empfehlungen setzen immer ein Werturteil über das wirtschaftlich oder gesellschaftlich Wünschbare oder Gesollte voraus. Zu Werturteilen und damit zu solchen Empfehlungen verleiht jedoch die Ökonomie als empirische Wissenschaft keinerlei Befähigung. Gefährlich an der Lage ist, dass die Adressaten der Empfehlungen diese gerade deshalb ernst nehmen, weil sie von Fachleuten auf dem Gebiet der Wirtschaft kommen, während der Sache nach Fachleute auf dem Gebiet der Sozialphilosophie in Betracht kämen. Wohlgemerkt: Hier wird nicht etwa gegen das Abgeben von wirtschaftspolitischen Werturteilen argumentiert, sondern nur dagegen, dass dafür eine falsche Fachkompetenz bemüht wird, tatsächlich also ein Mangel an Kompetenz vorliegt. Der Ökonom als Sozialwissenschaftler hat Fachkompetenz mit Bezug auf den Einsatz von Mitteln zu ihm vorgegebenen Zwecken.
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Es sind diese Voraussetzungen, die darüber entscheiden, welche wirtschaftspolitischen Fragen überhaupt als relevant angesehen werden, und die dann natürlich auch die Antworten maßgeblich bestimmen. Daher ist vor aller konkreten Wirtschaftspolitik zu klären, nach welchen Prinzipien das Gemeinwesen und dessen Wirtschaft geordnet sein soll. Eine solche Klärung gehört zur Domäne der Philosophie. Wenn sich allerdings hier immer wieder Ethiker, darunter sogar Theologen, zu Wort melden, so ist festzuhalten: Wenn man unter „Wirtschaftsethik“ die Lehre von den ethischen oder (im engeren Sinn) moralischen Prinzipien mit Bezug auf das Verhalten im Bereich des Wirtschaftens versteht, dann kommt sie für die Lösung der hier aufgeworfenen Probleme nicht in Betracht. Die Befugnisse und Ansprüche, die Gebote und Verbote, um die es hier geht, sind nicht ethischer, sondern juridischer Natur. Und also geht es um Rechtsphilosophie, angewandt auf das Wirtschaftsleben.
II. Zu konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Problemen hat Kant5 zwar nur sporadische Anmerkungen hinterlassen, denen unmittelbar nicht einmal zu entnehmen ist, wie er insbesondere über ein Recht des Staates, in die Verteilung von Eigentum6 (einschließlich quantitativer und qualitativer Beschränkungen) einzugreifen, gedacht hat. Wohl aber hat er wie kein anderer Philosoph mit Hilfe seines ausschließlich durch äußere Freiheit (Handlungsfreiheit) definierten Rechtsbegriffs den modernen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat („Republik“7) begründet. Es empfiehlt sich daher, sich der von ihm entwickelten Prinzipien8 zu bedienen, wenn es um normative Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik geht.9 4 Kritisch dazu Hans Albert, „Grundprobleme rationaler Ordnungspolitik. Vom wohlfahrtsökonomischen Kalkül zur Analyse institutioneller Alternativen“, in: Hellmuth Milde/ Hans G. Monissen (Hrsg.), Rationale Wirtschaftspolitik in komplexen Gesellschaften, Stuttgart: Kohlhammer, 1985, 53 – 63. 5 Für die Verweise auf Kants Schriften werden die folgenden Siglen verwendet: RL = Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; TL = Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre; TP = Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; KrV = Kritik der reinen Vernunft; VARL = Vorarbeit zu Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; ZeF = Zum ewigen Frieden; SF = Der Streit der Fakultäten; Anth = Anthropologie in pragmatischer Hinsicht; IaG = Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; V-MS / Vigil = Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (Vorlesungsnachschrift). Die Zahl vor dem (ersten) Punkt bezieht sich auf den Band der Akademie-Ausgabe, die Zahl dahinter auf die Seite. Bei einem zweiten Punkt folgt dahinter ein Verweis auf die Zeile. – Zusätze von mir innerhalb von Zitaten stehen in eckigen Klammern. Durch solche Klammern sind auch Auslassungen gekennzeichnet. 6 Unter Eigentum verstehe ich im Folgenden jede Art von rechtlicher Verfügungsgewalt über äußeres Mein und Dein im weitesten Sinn: Einkommen, Kapital- und Immobilienvermögen, aber auch die über eine gemietete Wohnung, über einen Sitzplatz im Theater oder auf einer Bank am Seeufer, und selbstverständlich auch über immaterielle Güter (geistiges Eigentum); siehe dazu auch RL 06.274.04 – 05; 06.289 f. 7 Siehe KrV 03.247 (B 372 f.); RL 06.340; Anth 07.331.
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Für seine Selbsterhaltung als öffentlich-rechtliche Ordnung ist der Staat hinsichtlich der dauerhaften Erfüllung seiner Aufgaben generell von Bedingungen abhängig, die er selber schaffen muss. Insbesondere ist dies der Fall mit Bezug auf die Sicherung der staatsbürgerlichen Grundrechte. Damit erwächst dem Staat auch die spezielle Aufgabe, die Ordnung des Wirtschaftsprozesses so zu gestalten, dass diese Sicherung gewährleistet und nicht vielmehr gefährdet ist. Was Kant über das Verhältnis von Privatrechtszustand und Zustand des öffentlichen Rechts gesagt hat, scheint weder eindeutig noch kongruent zu sein. Einmal redet er davon, dass „die Materie des Privatrechts“ in beiden Zuständen „eben dieselbe“10 und die bürgerliche Verfassung „allein der rechtliche Zustand [sei], durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird“11. Etwas später aber spricht er von einem Zustand, „darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht […] zu Theil wird“12. Und schon in der Gemeinspruchsschrift hatte es geheißen: „das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann.“13 Es stellt sich damit die Frage, ob die Eigentumsverteilung selber eine vorstaatliche und vom Staat vorgefundene ist, die dieser lediglich zu schützen hat, oder ob der Staat mit Bezug auf das Erwerben und Haben von Eigentum ein Eingriffsrecht hat, für das dann das Prinzip aufzuzeigen wäre. Mit der erwähnten „Materie des Privatrechts“ dürfte Kant nun allerdings keineswegs eine historisch zwar zufällige, aber dennoch für den Staat verbindlich vorgegebene konkrete Verteilung von äußerem Mein und Dein gemeint haben, sondern eine gesetzlich erst noch zu bestimmende Verteilung, wobei diese Bestimmung gemäß den schon im Naturzustand (des bloßen Privatrechts14) geltenden und im bürgerlichen Zustand (des öffentlichen Rechts) weiterhin geltenden (Verteilungs-)Prinzipien des Privatrechts zu erfolgen hat. Entsprechend lautet der Kontext, in welchem die hier oben zitierte Stelle steht: „[Das öffentliche Recht] enthält nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in [dem Privatrecht] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden.“15 Dem Staat ist somit zwar eine Verteilung vorgegeben. Insofern ist in der Tat die „bürgerliche [= staat8 Siehe dazu im Einzelnen Georg Geismann, Kant und kein Ende, Bd. 3: Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2012. 9 Siehe hierzu auch den herausragenden Aufsatz von Jürgen v. Kempski, „Über den Liberalismus“, in: Merkur 1953, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Politik, Schriften 2, Frankfurt/ Main: Verlag Suhrkamp, 1992, 300 – 320. 10 RL 06.306.33. 11 RL 06.256. 12 RL 06.312. 13 TP 08.289. 14 Vgl. ZeF 08.383.20; 08.385.06. 15 RL 06.306.
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liche] Verfassung“ „allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird. – Alle Garantie setzt also das Seine von jemanden (dem es gesichert wird) schon voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden“.16 Es ist ja gerade die Funktion des öffentlich-rechtlichen Zustandes, angeborenem und erworbenem privatem Recht, das im Naturzustand, also „vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen)“, zwar schon gültiges, aber nicht auch wirksames Recht ist, „Effekt“ zu verschaffen. Aber was das jeweils vorausgesetzte und nur zu sichernde Seine ist, hat allererst der Staat, und zwar auf eine ihm ebenfalls vorgegebene Weise, gesetzlich zu bestimmen. Die empirischen Akte der eigenmächtigen Besitzergreifung und der darauf bezogenen einseitigen Willenserklärung (apprehensio und declaratio) sind zwar eine notwendige, nicht aber auch eine hinreichende Voraussetzung für die anschließende Zueignung (appropriatio). Privatrechtsbegründend ist ausschließlich diese Zueignung, und sie kann nur durch die in der Idee oder in Wirklichkeit vereinigte Willkür aller erfolgen; nur durch sie wird aus einem empirischen ein rechtlicher Besitz. Die Okkupation ist daher als solche ein Prinzip der (provisorischen) Verteilung lediglich im Naturzustand, insofern darin die erste ursprüngliche Erwerbung wegen ihrer zeitlichen Priorität „die rechtliche Präsumtion für sich hat“ und der in Besitz genommene äußere Gegenstand „comparativ für einen rechtlichen“ gilt, – aber in Erwartung eines bürgerlichen Zustandes und also eines „zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens“.17 Ob ein beliebig großes Stück Land, von dem man durch simples Aufstecken einer Fahne (declaratio) empirisch Besitz ergriffen hat, auch peremtorisch zum rechtlichen Besitz wird, ist durch die physische Besitzergreifung trotz zeitlicher Priorität keineswegs „präjudiziert“, sondern dies hat der bürgerliche Gesetzgeber allererst zu entscheiden; denn „das Recht gegen einen jeden Besitzer einer Sache bedeutet nur die Befugniß der besonderen Willkür zum Gebrauch eines Objects, so fern sie als im synthetisch-allgemeinen Willen enthalten und mit dem Gesetz desselben zusammenstimmend gedacht werden kann.“18 „Die Möglichkeit des blos rechtlichen Besitzes ist als a priori gegeben, [mein Komma] die rechtliche Bestimmung desselben aber ist nicht durch jedes eigene Willkühr sondern nur durch äußere positive Gesetze also nur im bürgerlichen Zustande möglich.“19 Mit Bezug auf den „prior occupans“ heißt es in den Vorarbeiten zur Rechtslehre: „Die Grenzen der Berechtigung aber werden eigenmächtig, [mein Komma] doch [= jedoch] in Beziehung auf künftig mögliche Theilnehmer bestimmt“.20
Das „Absehen“ von der bürgerlichen Verfassung ist zugleich das Hinsehen auf das auch im Zustand einer bürgerlichen Verfassung geltende „Naturrecht“ als „dasjenige [Recht], was für [diese Verfassung] aus Principien a priori abgeleitet werden [… und] durch die statutarischen Gesetze der letzteren nicht Abbruch leiden“
16 17 18 19 20
RL 06.256 (2. Hervorhebung von mir). Siehe RL 06.257; 06.264. RL 06.269. VARL 23.288 (m. H.). VARL 23.241.
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kann.21 Indem der Staat seine Gesetzgebung an diesen apriorischen Prinzipien ausrichtet, ist es ihm rechtlich möglich, die Materie des Privatrechts allgemein-verbindlich festzustellen. Zwar schafft der Staat nicht privates Recht, sondern sichert nur das bestehende. Aber ob das, was „nach jedes seinen Rechtsbegriffen“ („provisorisch“) erworben wurde, als wirklich bestehendes („peremtorisches“) Privatrecht anzuerkennen ist, wird durch ihn als die „öffentliche (distributive) Gerechtigkeit“22 „ausgemacht und bestimmt“ und durch ihn als ausübende Gewalt gesichert.23 Die „Gunst des Gesetzes […] in Ansehung der Bestimmung der Grenzen des rechtlichmöglichen Besitzes“, von der in der Privatrechtslehre die Rede ist, erstreckt sich eben nicht weiter, „als bis zur Einwilligung Anderer (Theilnehmender) zu Errichtung des [rechtlichen Zustandes]“. Nur so lange führt eine Erwerbung „allen Effect einer rechtmäßigen Erwerbung bei sich“.24 Ob also die rechtliche Präsumtion, die ein äußeres Mein und Dein im Naturzustand für sich hat, dazu führt, dass es „durch Vereinigung mit dem Willen Aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem rechtlichen“ gemacht wird,25 entscheidet sich erst im Staat, der feststellt, ob es „nach allgemeinen Principien des [privaten und des öffentlichen] Naturrechts“26 wirklich erworben wurde. Es ist nicht so, dass aus einem provisorischen Recht mit dem Übergang in die Rechtssicherungsordnung des Staates zwangsläufig ein peremtorisches Recht würde. Vielmehr unterscheiden sich Naturzustand und bürgerlicher Zustand nach Kant dadurch, dass im ersten Zustand etwas nur provisorisch und nur im zweiten Zustand etwas peremtorisch erworben werden kann. Wenn etwas erworben wird, dann wird die Erwerbung im bürgerlichen Zustand zu einer peremtorischen; aber ob etwas erworben wurde, wird erst in diesem Zustand gesetzlich bestimmt; und in dieser Bestimmung ist der positive Gesetzgeber seinerseits an die Idee des „ursprünglichen Vertrages“27 gebunden. „[D]er RL 06.256. Diese jedermann sein Recht austeilende Gerechtigkeit ist etwas völlig anderes als die von Hayek als „Fata Morgana“ perhorreszierte distributive Gerechtigkeit. Siehe Friedrich A. v. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. 2: The Mirage of Social Justice, London / New York: Verlag Routledge, 1976. 23 Siehe RL 06.312 (ohne Kants Hervorhebung). Um Missverständnisse auszuschließen, sei eigens betont, dass hier stets von der „respublica noumenon“ die Rede ist, also vom „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“ (RL 06.313; SF 07.91) Wirkliche Staaten weichen von dieser Norm mehr oder weniger stark ab. Gerade deshalb muss alles Staatshandeln unter beständiger Kontrolle der Bürger stehen und an dieser Norm gemessen werden. 24 RL 06.267. 25 Siehe RL 06.257. 26 RL 06.366. 27 Siehe dazu TP 08.295; 08.299; ZeF 08.344; 08.355. Dieser Vertrag ist eine reine Vernunftidee, also nicht etwa ein mit Bezug auf seinen Inhalt und seine Legitimation empirisch geschlossener oder abzuschließender. Er fällt somit auch nicht unter die etwa von Kliemt kritisierten „Zustimmungstheorien der Staatsrechfertigung“. Siehe Georg Geismann (Fn. 8), 69 ff.; 21 22
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Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, so fern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen.“28 „Das provisorische Recht dauert im bürgerlichen Zustande in seinen Folgen fort und wird in das Recht des letztern aufgenommen soweit es der Natur des letztern nicht wiederstreitet.“29 „Das Mein und Dein ist bis zu Gründung dieser Vereinigung [der Willkür von jedermann zum allgemeinen Willen] also nur provisorisch aber doch inneren Rechtgesetzen [des Naturrechts] unterworfen nämlich die Freyheit des rechtlichen Besitzes auf die Bedingung einzuschränken daß sie jene Vereinigung möglich machen. […] Nur die a priori nothwendige Vereinigung des Willens um der Freyheit willen und gewisser bestimter Gesetze ihrer Einstimmung da das Object der Willkühr zuvor in der vereinigten Willkühr durch Vernunft gedacht wird und diese vereinigte Willkühr jedem das Seine bestimmt kann die Erwerbung möglich machen.“30 Der im Staat zum Ausdruck kommende allgemeine Wille muss (in der Idee) schon für den Naturzustand vorausgesetzt werden, um überhaupt von einem Privatrecht, sei es auch bloß provisorisch, reden zu können. Somit stellt sich für die Politik als „ausübende Rechtslehre“31 stets erneut die Frage, ob eine gegebene Verteilung von äußerem Mein und Dein als von einem allgemeinen (vereinigten) Willen gewollt gedacht werden kann.32 Nun wird Kant gemeinhin nicht als ein Befürworter des Wohlfahrtsstaates angesehen. Und das ist auch richtig, wenn man darunter einen Staat versteht, dessen Aufgabe es ist, für die „Glückseligkeit“ seiner Bürger zu sorgen, „in Ansehung [deren als eines empirischen Zwecks], und worin ihn ein jeder setzen will, die Menschen gar verschieden denken, so daß ihr Wille unter kein gemeinschaftliches Princip, Hartmut Kliemt, Zustimmungstheorien der Staatsrechfertigung. Freiburg/ München: Verlag Alber, 1980. 28 RL 06.312 f. (m. H.). 29 VARL 23.293 (m. H.). 30 VARL 23.278 f. (m. H.); vgl. auch RL 06.257; 06.263 f. 31 ZeF 08.370. 32 Vgl. RL 06.258.25 – 26; 06.263.26 – 30; 06.269.13 – 16; VARL 23.237.30 – 34; 23.288.22 – 32; 23.323.33 – 34. Diesbezüglich heißt es bei Hayek: „Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum die Tatsache, daß sich eine Gruppe zusammengetan hat, um Gesetz und Ordnung zu sichern und die Bereitstellung gewisser Dienstleistungen zu besorgen, den einzelnen Mitgliedern einen Anspruch auf einen bestimmten Anteil am Wohlstand der Gruppe geben soll.“ (Friedrich A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen: Verlag Mohr (Paul Siebeck), 1971, 123) Nun, mit diesem empiristischen Ansatz, dem zufolge sich angeblich irgendwann eine Gruppe zusammengetan hat, lässt sich die normative Frage nach einem Recht nicht einmal sinnvoll stellen; und die hier vorgetragenen Überlegungen zur neuzeitlichen Legitimation staatlicher Herrschaft, also zum Staatsrecht, sind Hayek offensichtlich fremd. Typischerweise wirft er gar nicht erst die Frage auf, warum denn irgendein Mitglied der Gruppe sich Gesetz und Ordnung, von wem immer gegeben, unterwerfen und die konkrete Bereitstellung von Dienstleistungen akzeptieren soll.
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folglich auch unter kein äußeres, mit jedermanns Freiheit zusammenstimmendes Gesetz gebracht werden kann.“33 Kants Ablehnung des Wohlfahrtsstaates („imperium paternale“) gründet in dessen freiheitswidrigen Konsequenzen.34 Werden das Wohlergehen der Bürger und eine etwa darauf bezogene Güterverteilung dennoch zum Inhalt staatlicher Gesetzgebung gemacht, dann legitimerweise ausschließlich als notwendige Mittel35 zur Sicherung der Rechte des Menschen und des Bürgers für jedermann und damit zur Erreichung einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung“36. Kants eigene „sozialpolitische“ Vorschläge sind zwar zeitgebunden beschränkt auf das Armenwesen, auf Findelhäuser, auf das Kirchenwesen sowie – in einem Anhang zur zweiten Auflage der Rechtslehre – auf Stiftungen im Sinne wohltätiger Anstalten (Hospitäler,37 Kirchen,38 Orden39 und Majorate40), aber seine Begründung entspricht genau den hier angestellten Überlegungen. Es geht dabei nicht um so etwas wie materiale Gerechtigkeit41 und auch nicht um eigenständige wohlfahrtsstaatliche, den rechtsstaatlichen gleichgeordnete Prinzipien, sondern allein um die Frage, ob der Staat zwecks Erfüllung seiner ihm aus der 33 TP 08.290; siehe auch TP 08.298; TL 06.454; SF 07.87; Anth 07.331; ferner Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Aufl., BonnBad Godesberg: Verlag Neue Gesellschaft, 1976, 31 ff. Sogar der berühmte „pursuit of happiness“, wie er in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung neben Leben und Freiheit zum „unalienable right“ erklärt wurde, ist kein Recht und kann es nicht sein. Durch das Recht ist der Freiheitsgebrauch auf diejenige Verfolgung beliebiger Zwecke, die mit der Freiheit aller Anderen allgemeingesetzlich kompatibel ist, eingeschränkt. Weder ist es rechtlich möglich, irgendeinen Zweck, wie hier die Glückseligkeit, zu privilegieren, noch ihn auszuschließen. Jeder Zweck aber, also auch die Glückseligkeit, steht unter der genannten rechtlichen Einschränkung. 34 Siehe TP 08.290 f.; TL 06.454.06 – 18. 35 Siehe TP 08.298.21 – 25. 36 IaG 08.22. 37 Kant spricht bereits davon, Armen und Kranken, anstatt sie in zwar „prächtige[n] und dennoch die Freiheit [sic!] sehr beschränkende[n], mit einem kostbaren Personale versehene[n] Anstalten“ unterzubringen, „Beihülfe [sic!] in einer gewissen (dem Bedürfnisse der Zeit proportionirten) Geldsumme“ zukommen zu lassen. (Siehe RL 06.367). 38 „die Kirche selbst ist als ein bloß auf Glauben errichtetes Institut, und wenn die Täuschung aus dieser Meinung [durch die Kirche der Gnade teilhaftig zu werden] durch Volksaufklärung verschwunden ist, so fällt auch die darauf gegründete furchtbare Gewalt des Klerus weg, und der Staat bemächtigt sich mit vollem Rechte des angemaßten Eigenthums der Kirche: nämlich des durch Vermächtnisse an sie verschenkten Bodens; wiewohl die Lehnsträger des bis dahin bestandenen Instituts für ihre Lebenszeit schadenfrei gehalten zu werden aus ihrem Rechte fordern können.“ (RL 06.369). 39 „Wenn also der Staat seine Constitution abändert, so kann der [Adelige], welcher hiemit jenen Titel und Vorrang einbüßt, nicht sagen, es sei ihm das Seine genommen: weil er es nur unter der Bedingung der Fortdauer dieser Staatsform das Seine nennen konnte, der Staat aber diese abzuändern (z. B. in den Republikanism umzuformen) das Recht hat.“ (RL 06.370). 40 „der Staat hat auch hier ein Recht, ja sogar die Pflicht, bei den allmählig eintretenden Ursachen seiner eigenen Reform ein solches föderatives System seiner Unterthanen gleich als Unterkönige […], wenn es erloschen ist, nicht weiter aufkommen zu lassen.“ (RL 06.370).
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Idee des allgemeinen Willens zukommenden Aufgaben berechtigt und sogar verpflichtet ist, in die gesellschaftliche Einkommens- und Vermögensstruktur und also in die Verteilung von äußerem Mein und Dein einzugreifen. Weder soll Privateigentum durch sozialstaatliche „Umverteilung“ in Gemeineigentum überführt werden; noch dient diese der Stiftung sozialer Gleichheit oder der Zuteilung nach (objektiv kaum bestimmbarem) Verdienst und schon gar nicht der Beförderung der Glückseligkeit der Bürger, sondern ausschließlich der Sicherstellung ihrer äußeren Freiheit.42 Sie ist nicht aus ethischen, sondern aus rechtlichen Gründen gefordert; nicht, weil der Staat nach Kant ein Wohlfahrtsstaat, sondern weil er ein Rechtsstaat („Republik“) ist. Auch für die durch die „öffentliche Gerechtigkeit“ bestimmte Verteilung von äußerem Mein und Dein im Staat ist der „Probirstein der Rechtmäßigkeit“, dass „sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks [hat] entspringen können“. Ist die Verteilung nämlich „so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte […], so ist [sie] nicht gerecht“.43 Es geht somit um die allgemeingesetzliche Bestimmung der Bedingungen, unter denen überhaupt äußeres Mein und Dein (Einkommen, Vermögen etc.) der Qualität und Quantität nach rechtsgültig erworben werden kann bzw. im Falle bestehender Eigentumstitel wirklich erworben wurde. Nicht das Privateigentum, sondern nur die Möglichkeit, es zu erwerben und zu haben, ist ein Naturrecht.44 Über Menge und Art ist damit rechtlich noch nichts bestimmt. Die Konjunktion „Rechts- und Sozialstaat“ verbindet – ebenso wie die Konjunktion „Rechts- und Staatslehre“ – fälschlicherweise einen Gattungsbegriff mit einem dazu gehörigen Artbegriff. Der Sozialstaat kann nur integraler Bestandteil des Rechtsstaates sein; und zwar nicht nur in dem Sinne, dass er mit den Prinzipien des Rechts in Übereinstimmung sein muss, sondern dass seinen spezifischen „sozialen“ Kennzeichen aus Gründen des Rechts und nach Regeln des Rechts Notwendigkeit zukommt. Sie müssen vom Prinzip des Rechtsstaates selber gefordert sein. So sagt 41 Damit ist im Unterschied zur „formalen Gerechtigkeit“ nicht bloß eine durchgängig und vollständig gleiche Distribution an äußerer Freiheitssphäre gemeint, sondern eine Zuteilung mit Bezug auf das mit dem Gebrauch der Freiheit jeweils Bezweckte. In bloß-juridischer Hinsicht wäre „materiale Gerechtigkeit“ die Zuteilung der für die zum Recht erklärten Zwecke individuell erforderlichen Mittel. Eine solche Zuteilung scheitert aber daran, dass sich weder über solche Zwecke noch über das individuell Erforderliche eine allgemeinverbindliche Aussage machen lässt. 42 „das öffentliche Heil [salus publica], welches zuerst in Betrachtung zu ziehen steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit, mithin dem Rechte anderer Mitunterthanen Abbruch thut.“ (Kant, TP, 08.298) Siehe auch Julius Ebbinghaus, „Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechtes“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1: Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929 – 1954, Bonn: Verlag Bouvier, 1986, 231 – 264. 43 TP 08.297. 44 Gleiches gilt auch für die letztwillige Verfügung einer Person über ihr Eigentum.
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Kant einmal vom provisorischen Recht: „welches aber nicht weiter gehen kan als es eine mögliche iustitia distributiva verordnen kan (und zwar durch den vereinigten Willen aller […])“.45 Dass das Naturrecht im bürgerlichen Zustand ebenso gültig ist wie im Naturzustand, bedeutet nicht auch, dass die im Staat anzutreffenden Besitzverhältnisse sakrosankt sind. Vielmehr hängt deren Rechtmäßigkeit von ihrer Übereinstimmung mit den naturrechtlichen Grundsätzen sowohl des privaten als auch des öffentlichen Rechts ab. Die Dieselbigkeit im Naturzustand und im Staat besteht also für das Naturrecht, für die Gesetze über das Mein und Dein, für die (regelgemäße) Materie des Privatrechts; aber nicht für die im Naturzustand behaupteten konkreten Rechte einerseits und die im Staat gesetzlich bestimmten konkreten Rechte andererseits. Eben deswegen ist nach § 44 der Rechtslehre eine Erwerbung so lange provisorisch, als sie nicht öffentlich-rechtlich bestimmt und gesichert ist.46 Zwar sind der „öffentlichen Gerechtigkeit“ die Grundsätze der Bestimmung durchs Naturrecht vorgegeben; aber die Bestimmung selber erfolgt erst und nur durch sie. Dies bedeutet durchaus nicht ein Eingreifen des Staates in eine rechtmäßig bestehende Eigentumsordnung, sondern das (vernunftrechtliche) Setzen und Exekutieren von Regeln, denen gemäß man überhaupt Eigentum rechtmäßig erwerben bzw. behalten kann. Der Staat ist Sozialstaat ausschließlich im Rahmen seiner Aufgaben als Rechtssicherungsstaat. Als solcher soll er nicht die Menschen glücklich(er) machen; wohl aber soll er sie im Gebrauch ihrer gesetzlichen äußeren Freiheit vor Behinderungen schützen, die ihrerseits durch dieselbe öffentlich-rechtliche Ordnung, die da schützen soll, also durch ihn selber bedingt und überhaupt erst ermöglicht sind. In der Vorlesungsnachschrift Vigilantius von 1793 / 94 heißt es: „So behauptet Herr Kant: ein Armer habe im Staat die Befugniß erlangt, von Reichen Unterstützung zu verlangen, denn wäre er seiner Willkür [wie im Naturzustand] unbeschränkt überlassen, so würde ihm ungehindert freistehen, sich so viel zu verdienen, daß er auf die Tage der Noth rechnen könne: der Staat habe aber nun den Arbeitslohn und seinen möglichen Gewinn detaxirt, wodurch der Reiche mehrere Vortheile gewinne, als er im Zustande der Gleichheit gewinnen könne: er [der Arme] erwirbt also nur seine gegenwärtigen Bedürfnisse, und der Sparpfennig wird ihm entzogen.“ 47 Und in der Gemeinspruchschrift wirft Kant einmal – freilich nur beiläufig – mit Bezug auf die großen (oder kleinen) Gutseigentümer die Frage auf, „wie es doch mit Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte […]; und wie es zuging, daß viele Menschen, die sonst insgesammt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können?“48. Es ist 45 46 47 48
VARL 23.281. Siehe RL 06.312. V-MS / Vigil 27.540. TP 08.296 (m. H.); siehe auch TL 06.454.
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die historisch stets erneut sich stellende Frage nach einer Distribution von äußerem Mein und Dein als dem Effekt positiv-rechtlicher Eigentumsverteilung,49 der möglicherweise nicht als allgemein gewollt gedacht werden kann. Aus dem Recht der Menschheit, auf das in diesem Zusammenhang bisweilen verwiesen wird, folgt zwar, das man eine andere Person nicht nach Belieben töten oder verwunden und ihr auch keine durch willkürliche Freiheitseinschränkung bedingte Leiden zufügen darf; aber nicht, dass diese Person auch ein Recht auf Hilfe in der Not hat. Das bedeutet: im Naturzustand hat man zwar die Tugendpflicht der Nächstenliebe und damit auch und besonders der Hilfeleistung im Notfall. Aber eine Rechtspflicht dazu kann es, wenn überhaupt, nur im bürgerlichen Zustand geben; und sie bedürfte dann einer eigenen Begründung. Nicht also unmittelbar aus dem jedem Menschen bloß als Menschen zukommenden und aller öffentlich-rechtlichen Ordnung vorausliegenden und ihre rechtliche Basis bildenden Recht der Menschheit lässt sich auf ein auf das Eigentum bezogenes Eingriffsrecht des Staates schließen, sondern allein aus den jedem Menschen als Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft zukommenden drei Grundrechten der Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit,50 in die sich das Recht der Menschheit unter der Bedingung des durch es selber, also rechtlich notwendigen Staatsvertrages spezifiziert. Und es ist auch nicht das Eigentum als solches, woraus sich eine „Sozialpflichtigkeit“ ergibt. Aus dem bloßen Begriff des Eigentums folgt „zwar nicht, dass ich mich irgendeinem Dritten gegenüber in seinem Gebrauche einschränken müsse“. Aber eine solche Einschränkung auch für den öffentlich-rechtlichen Zustand auszuschließen, würde bedeuten, „daß durch das Eigentum die Bildung eines allgemeinen Willens in jedem besonderen Falle und folglich überhaupt unmöglich gemacht werden könne.51 Dies aber ist in der Tat ein Widerspruch; denn außer in Beziehung auf einen wenigstens möglichen allgemeinen Willen ist gar kein Eigentum denkbar, weil nämlich kein Erwerb der Sachen als ursprünglich durch einen einseitigen Willensakt entstanden, gedacht werden kann. […] die Einschränkbarkeit meiner Verfügungsfreiheit durch Gesetze des öffentlichen Rechtes ist in der rechtlichen Möglichkeit des Eigentums selber enthalten. […] Nicht das Eigentum verpflichtet, sondern – soweit es sich um die äußere Freiheit handelt52 – allein das Gesetz der Rechtsgemeinschaft“.53 Nur auf dem Weg, auf dem das Staatsrecht über49 „Jedes Gesetz besitzt in seinem konkreten Regelungsgehalt notwendig Auswirkungen auf die Art sozialer Machtverteilung und ist ja bereits in seinem Entstehen mitgeprägt durch eine vorgängige Verteilung sozialer Macht.“ Gerhard Luf, Freiheit und Gleichheit. Die Aktualität im politischen Denken Kants, Wien / New York: Verlag Springer, 1978, 72. 50 Siehe TP 08.290 ff.; RL 06.314 f. 51 Vgl. VARL 23.278: „[…] wie viel ich erwerben könne bleibt dadurch [dass „jeder Gegenstand der Willkühr außer mir erwerblich seyn müsse“] unbestimmt denn wenn ich alles zusammen erwerben könnte würde meine Freyheit anderer ihre nicht einschränken sondern aufheben.“ 52 Es geht allein um Recht, nicht um Tugend. 53 Julius Ebbinghaus, (Fn. 42), 242 f.
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haupt begründet wird, also über die Idee des Staatsvertrages und des darin zum Ausdruck kommenden a priori vereinigten Willens aller, kann auch der sogenannte Sozialstaat begründet werden. Jede mögliche Aufgabe, die dem Staat übertragen wird, muss der Bedingung genügen, von jedermann notwendig gewollt werden zu können,54 und also mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes konform sein. Im Prinzip kann man sagen, dass alle diejenigen, aber auch nur diejenigen gesetzlichen Freiheitseinschränkungen – und dazu gehören auch mögliche Eingriffe in das Privateigentum und dessen Verteilung – legitim sind, die für die Aufrechterhaltung der (republikanischen) öffentlich-rechtlichen Ordnung, und das heißt auch und vor allem: für die Sicherung der äußeren Freiheit von jedermann, erforderlich sind. „Alle wahre Sozialpolitik ist Befreiungspolitik.“55 Aus der im inneren und äußeren Privatrecht im Naturzustand gründenden Rechtspflicht, diesen Zustand zu verlassen und in einen Zustand des öffentlichen Rechts zu treten, folgt für das Volk (als die zur bürgerlichen Gesellschaft vereinigte Menge von Menschen) die weitere Rechtspflicht, diesen Zustand, wenn er einmal besteht, zu erhalten, weil nämlich nur in ihm „jedem das Seine peremtorisch zugetheilt werden kann“56. Daraus erwächst dem Staat „als Übernehmer der Pflicht des Volks“ indirekt das Recht, das Volk zum Zwecke seiner Erhaltung (als bürgerlicher Gesellschaft) mit Abgaben zu belasten. „Der allgemeine Volkswille“ hat sich nämlich zum Zwecke der Selbsterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft, zu der er sich vereinigt hat, „der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten.“ Für alle Bürger, also auch für die vermögenden, gilt, dass ihre Existenz im Staat „zugleich als Act der Unterwerfung unter den Schutz und die zu ihrem Dasein nöthige Vorsorge des gemeinen Wesens [anzusehen] ist“. Eben dies führt für die vermögenden Bürger zu einer auf die Allgemeinheit bezogenen rechtlichen Verpflichtung, auf die nun wiederum seinerseits der Staat „sein Recht gründet, zur Erhaltung ihrer Mitbürger das Ihrige beizutragen.“ 57 Kant spricht zwar in diesem Zusammenhang hinsichtlich der Mittel der Erhaltung nur von „den nothwendigsten Naturbedürfnissen“, die jedenfalls befriedigt werden müssen, um überhaupt von seiner äußeren Freiheit Gebrauch machen und irgendwelche Zwecke verfolgen, also Person sein zu können. Aber über die Existenzsicherung aller Bürger hinaus geht es um wirkliche Freiheitssicherung. Der Grund, eine bürgerliche Gesellschaft zu stiften und sich ihren Gesetzen zu unterwerfen, ist ja nicht bloß die pure physische Selbsterhaltung als Lebewesen, sondern die Selbster54 Ein Beispiel für eine zustimmungsfähige und eine nicht-zustimmungsfähige Steuerbelastung findet sich in TP 08.297 Anm. 55 Julius Ebbinghaus, (Fn. 42), 257. 56 RL 06.341. 57 RL 06.326. Was Kant unmittelbar anschließend anmerkt, ist von ungewöhnlicher Aktualität. Es handelt sich dabei nicht, wie man gemeint hat, um einen ethischen, sondern um einen juridischen Appendix zur Staatsrechtslehre. Es geht Kant in diesen Anmerkungen um das, was der „bürgerliche Verein“, also der Staat, seiner Natur nach rechtlich (!) bewirkt. Siehe RL 06.318.16 – 17.
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haltung als Person, also als äußerlich freies, der Verfolgung und Verwirklichung selbstgesetzter Zwecke fähiges Wesen, die Selbsterhaltung als sich selbst bestimmender Mensch und Bürger. Demgemäß hat der Staat, und zwar nicht etwa als karitativer Samariter, sondern als der Garant der äußeren Freiheit von Personen, das Recht und die Rechtspflicht, die Selbsterhaltung der bürgerlichen (republikanischen) Gesellschaft zu betreiben. Und für die darin implizierte Sicherung der staatsbürgerlichen Grundrechte wiederum kann auch ein Eingriff in die privatrechtliche Verfügungsfreiheit erforderlich sein, besonders dann, wenn eine Bedrohung oder Verletzung dieser Grundrechte durch den Staat selber verursacht wurde. Wenn etwa dessen Gesetzgebung (im weitesten Sinn) es mir – unmittelbar oder mittelbar durch ihre Wirkungen – „unmöglich macht, einen Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“58, dann werde ich durch sie lädiert. So sind beispielsweise Gesetze, deren Zweck die Beschränkung von Marktmacht (Monopole, Kartelle, Trusts) ist, rechtsgesetzlich und nicht etwa bloß durch den Wunsch nach mehr Wettbewerb begründet. Und wenn die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise nicht bloß Selbstständigkeiten zerstört, sondern das Bestehen rechtsstaatlicher Ordnungen gefährdet, dann sind strenge Rahmenbedingungen („Regulierung“) zur Stabilisierung und Kontrolle der Marktwirtschaft und die Reduzierung ökonomischer Machtballungen doppelt begründet: durch die Grundrechte der Bürger und durch die Pflicht des Staates zur Selbsterhaltung.
Das dem „Grundgesetz“59 des Staates und damit allen politischen Grundrechten voraus- und zugrunde-liegende Recht der Menschheit auf äußere Freiheit besteht in der allgemein-gesetzlichen Unabhängigkeit Aller hinsichtlich der Verfolgung ihrer möglichen Handlungsziele. Ohne die dafür notwendigen Mittel ist aber deren Erreichen unmöglich. Und da zu diesen Mitteln insbesondere die Verfügungsgewalt über (materielle und immaterielle) Güter gehört, muss sich die gesetzliche Garantie der Freiheit auch auf die Möglichkeit erstrecken, solche Verfügungsgewalt zu erlangen. Nun können die im Staat herrschenden Lebensbedingungen es einem Bürger unmöglich machen, sein Leben nach seinen je eigenen Zwecksetzungen zu gestalten.60 Der Zustand, in welchem sich dieser Mensch befindet, unterscheidet sich dann gar nicht vom Naturzustand: sein ursprüngliches Recht ist ohne Effekt.61 Und also er-
RL 06.256. TP 08.295. 60 Der Unterschied zwischen Armut und Reichtum ist dementsprechend nicht einfach der Unterschied hinsichtlich des zur Verfügung stehenden Güterbündels, sondern der Unterschied der Chancen, die eigenen Zwecke zu verwirklichen. Armut besteht deshalb nicht etwa nur in einem niedrigen (Real-)Einkommen und – nicht zu vergessen! – Vermögen, sondern auch in Analphabetismus, in schlechter Gesundheit, in Unterernährung, in geringer Lebenserwartung und ähnlichen Hindernissen der Selbstbestimmung. Auch Arbeitslosigkeit, selbst wenn Sozialhilfe erfolgt, zählt dazu, zumal sie auch den Willen und die Fähigkeit zur Selbsthilfe massiv beeinträchtigen kann. Siehe zur negativen Korrelation von Bruttosozialprodukt pro Kopf und Lebenserwartung Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002, 63; 110 ff. 61 Vgl. TP 08.301.29 – 30. 58 59
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füllt der Staat mit Bezug auf diesen Menschen nicht die ihm aus seinem „Grundgesetz“ hinsichtlich der Grundrechte zukommende Rechtspflicht. Durch das Grundrecht der (politischen) Freiheit als der „Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ 62, ist zugleich derjenige Typ von Staat rechtlich ausgeschlossen, der – etwa durch seine Steuergesetzgebung oder durch Interventionen in das freie Marktgeschehen – „paternalistisch“ für das Wohl und Glück seiner Bürger zu sorgen vorgibt.63 Das Grundrecht der (politischen) Gleichheit bedeutet Gleichheit aller Bürger hinsichtlich ihres Rechts auf den möglichen Erwerb von Rechten.64 Nun kann eine auf Grund der staatlichen Gesetzgebung ermöglichte Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse65 dazu führen, dass Bürger hinsichtlich der Qualität und Quantität des ihnen möglichen Erwerbs vom Belieben anderer Bürger abhängig sind und sich damit in einem mit der Idee des allgemeinen Willens unverträglichen Zustand der Ungleichheit ihres Rechts befinden. Zwar hat der Staat bei seiner Gesetzgebung die Grundsätze des natürlichen Privatrechts zu beachten; aber er hat dies im Lichte der Idee des Staatsvertrages zu tun, an dessen Bedingungen die rechtliche Verfügungsfreiheit über äußeres Mein und Dein mit dem Eintritt in den bürgerlichen Zustand gebunden ist. Das Grundrecht auf Selbstständigkeit (als die aus dem Grundrecht der gleichen Freiheit folgende Bedingung für Mitgesetzgeberschaft66) ist verletzt, wenn es im Staat einem Bürger unmöglich ist, unabhängig von der Willkür eines anderen „seine Existenz und Erhaltung […] seinen eigenen Rechten und Kräften verdanken“67 und so sein eigener Herr (über sich selbst) sein zu können, wenn er also sich nicht selbst besitzt, vielmehr „vom absoluten Willen eines Anderen neben oder über ihm abhängt.“68 III. Zwar gibt es Anzeichen69 dafür, dass inzwischen in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung die lang anhaltende Dominanz der einfachen Gleichstellung neoZeF 08.350. Der frühere sowjetische Außenminister Gromyko hat einmal das Prinzip einer „väterlichen Regierung“ (TP 08.290) bündig formuliert: „Our purpose […] is the well-being of the people, whether they like it or not.“ (zitiert nach: Richard McKeon [Hrsg.], Democracy in a World of Tensions, A Symposium Prepared by Unesco, Paris 1951, 489); und lange vor Gromyko Kant selber: „das Volk […] gleichsam wider seinen Willen glücklich […] machen“ (TP 08.298 f.; siehe auch SF 07.86 f.). 64 Vgl. ZeF 08.350.18 – 21. 65 Eigentum im oben (Fn. 6) angegebenen weitesten Sinn. 66 Vgl. TP 08.295.07 – 09. 67 Siehe RL 06.314. 68 RL 06.317. 62 63
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klassischer Modelle mit der Realität im Schwinden begriffen ist. Mehr und mehr wurden die Modelle als Herauspräparierung eines Grenzfalls angesehen und entweder modifiziert und ergänzt oder durch andere ersetzt.70 Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass neoklassische Denkmuster (freier Markt, vollständiger Wettbewerb, perfekte Information, perfekte Nutzen- (Gewinn-)Maximierung, Preismechanismus, Marktgleichgewicht) noch immer71 bzw. – reanimiert und sogar robust – wieder die praktische öffentliche Diskussion über Wirtschaftsfragen beherrschen, seien die Teilnehmer nun Politiker, praktizierende Wirtschaftsfachleute, wissenschaftliche Berater oder Wirtschaftsjournalisten. Fatal für die Gesellschaftspolitik ist nun zunächst die innerwissenschaftliche Problematik selber. Das praktizierte Modell-Denken geht an der wirtschaftlichen oder besser: gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei, weil es „in einem institutionellen, motivationalen und kognitiven Vakuum“ operiert.“72 Noch fataler jedoch ist die Tatsache, dass jene Denkmuster weitgehend als normative Vorgaben für die Wirtschafts- und Sozialpolitik fungieren.73 Dass die freie Marktwirtschaft auf der Basis von Privateigentum der „Zentralverwaltungswirtschaft“, häufig sagt man irreführend: der Kapitalismus dem Sozialismus, turmhoch überlegen ist, ist auch gegenwärtig noch oder wieder unbestritten. Die letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben es nur noch einmal drastisch vor Augen geführt. Ebenfalls drastisch gezeigt haben sich im jüngst vergangenen 69 Dazu schon: Daniel Bell / Irving Kristol (Hrsg.), The Crisis of Economic Theory, New York: Verlag Basic Books, 1981. 70 Man denke etwa, speziell für Deutschland und mehr in praktischer Hinsicht, an die „Freiburger Schule“ (Walter Eucken, Franz Böhm, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow etc.) und dann, mehr in theoretischer Hinsicht, an die Institutionen- und die Transaktionskostenökonomik (Ronald Coase, Douglass North, Elinor Ostrom, Oliver E. Williamson) und an die Neue Politische Ökonomie/ Public Choice (James M. Buchanan, George Stigler). 71 Dies ist auch gar nicht verwunderlich, denn viele wurden gleichsam unter der Herrschaft des neoklassischen Paradigmas sozialisiert. Keynes brachte es bereits 1936 auf den Punkt: „in the field of economic and political philosophy there are not many who are influenced by new theories after they are twenty-five or thirty years of age, so that the ideas which civil servants and politicians and even agitators apply to current events are not likely to be the newest.“ John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London: Verlag Macmillan, 1936, 384. 72 Siehe Hans Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen: Verlag Mohr (Paul Siebeck), 1978, 126; ferner: ders., „Individuelles Handeln und soziale Steuerung. Die ökonomische Tradition und ihr Erkenntnisprogramm“, in: Hans Lenk (Hrsg.), Handlungstheorien interdisziplinär IV, München: Verlag Wilhelm Fink, 1977, 177 – 225; ders., „Modell-Denken und historische Wirklichkeit. Zur Frage des logischen Charakters der theoretischen Ökonomie“, in: ders. (Hrsg.), Ökonomisches Denken und soziale Ordnung, Tübingen: Verlag Mohr (Paul Siebeck), 1984, 39 – 61. 73 Dazu bereits Gunnar Myrdal (Fn. 33); ferner zur „Hypostasierung der ökonomischen Perspektive“ Hans Albert, „Reine Theorie und politische Ökonomie: Die Problematik der ökonomischen Perspektive“, in: ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied am Rhein / Berlin: Verlag Luchterhand, 1967, 49 ff.
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Jahrzehnt aber auch die Auswüchse des angeblich freien Marktes, besser vielleicht: dessen Pervertierungen. Der am Interesse und nicht am Recht orientierte74 sogenannte „Manchester-Liberalismus“ wiederholte sich mit der Parole „De-Regulierung“ unter dem längst gängigen, nun aber von den Kritikern negativ verstandenen Namen „Neo-Liberalismus“ spätestens seit der Thatcher-Ära und beherrscht wichtige Bereiche des Wirtschaftslebens bis heute.75 Die damit verbundene besondere Bedrohung besteht darin, dass durch sie auch das System der Wettbewerbswirtschaft als solches diskreditiert und der Ruf nach staatlicher Intervention wieder laut wird. Die sogenannten „Marktradikalen“ haben ein zu großes Vertrauen in die „invisible hand“ und überschätzen die Selbstregulierungs- und Selbstheilungskräfte des Marktes erheblich, selbst wenn man in Betracht zieht, dass sie sich mit einem negativen76, überdies auf wirtschaftliches Handeln beschränkten Freiheitsbegriff begnügen, wobei sie überdies glauben, dass in der von ihnen wie etwas Unantastbares behandelten „freien Marktwirtschaft“ im Prinzip jeder diese Freiheit habe. Von einer „natürlichen“ Interessenharmonie77 kann bezüglich der wirtschaftlichen Realität überhaupt keine Rede sein. Als Adam Smith in seinem ökonomischen Hauptwerk die (noch immer gerne erwähnte78) „unsichtbare Hand“ ins Spiel brachte79 (übrigens nur einmal), da hatte er einen idealtypischen Markt mit wirklich „freie [m] und umfassende[m] Wettbewerb“80 im Sinn. Als wirklich atomistische Konkurrenz einschließlich vollständiger Markttransparenz jedoch war und ist Wettbewerb ohnehin nie gegeben.81 In der Realität zeigen sich sowohl gesamtwirtschaftlich als 74 Siehe Jürgen v. Kempski, Recht und Politik, Schriften 2, Frankfurt/ Main: Verlag Suhrkamp, 1992, 313. 75 Prototypisch der Initiator und Geschäftsführer der Hayek-Gesellschaft und Vorsitzende der Hayek-Stiftung, Gerd Habermann, Der Wohlfahrtsstaat. Ende einer Illusion, München: FinanzBuchVerlag, 2013; ferner Karl Homann, „Grundlagen einer Ethik für die Globalisierung“, in: Heinrich v. Pierer/ Karl Homann / Gertrude Lübbe-Wolff, Zwischen Profit und Moral – Für eine menschliche Wirtschaft, München / Wien: Verlag Hanser, 2003, 35 – 72; 105 – 138; ders., Das ethische Programm der Marktwirtschaft, Magdeburg: Verlag Norbertus, 2008; kritisch dazu Georg Geismann, Einmischung ist Bürgerpflicht. Eingriffe und Angriffe 1963 – 2013, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2014, 131 ff. 76 Abwesenheit von äußerem Zwang. Wenn Kant Freiheit als Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür bestimmt (RL 06.237), dann ist damit nicht bloß (negativ) Abwesenheit von äußerem Zwang gemeint, sondern zugleich (positiv) die Anwesenheit der Möglichkeit, nach je eigenen Zwecksetzungen sein Leben zu bestimmen. Eben den dafür notwendigen Handlungsspielraum haben viele Menschen nicht oder nur in sehr geringem Maße. 77 Zur Kritik daran siehe Gunnar Myrdal (Fn. 33). 78 „Der Markt wird’s richten.“ Zur Kritik am Preismechanismus und seiner angeblichen Automatik siehe Hans Albert, in: Kurt W. Rothschild (Hrsg.), (Fn. 2), 34. 79 „led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention“ (Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, vol I, book IV, ch. 2, London: Everyman’s Library, 1964, 400). 80 „free and universal competition“ (Adam Smith, Ebd., vol. I, book I, ch. 11, part 1, p.134).
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auch auf den verschiedenen Teilmärkten mehr oder weniger große Abweichungen vom Idealtypus.82 Auf öffentliche Güter, die übrigens, wenn es um die Finanzierung geht, den privaten Gütern notorisch untergeordnet werden, trifft die Logik des Marktmechanismus ohnehin nicht zu. Überdies ist der Wettbewerb, wie vollkommen er auch sein mag, durch gegen ihn gerichtete Kräfte permanent bedroht. Leicht kann an die Stelle des „Leistungswettbewerbs“ ein „Behinderungs- oder Schädigungswettbewerb“83 mit monopolistischer oder oligopolistischer Stoßrichtung treten. Daher ist der sogenannte Marktmechanismus alles andere als eine Garantie für die gesetzlich gesicherte Freiheit von jedermann. „Die unsichtbare Hand des Marktes kann nur wirksam werden, wenn die unsichtbare Hand der Rechtsordnung den Markt trägt.“84 Auch eine durch kontinuierliche Anpassung an Marktentwicklungen sich immer wieder neu bildende „spontane soziale Ordnung“, von der manche Wirtschaftstheoretiker sprechen, hebt die Notwendigkeit staatlicher und – inzwischen angesichts globalisierten Marktgeschehens und multinationaler Konzerne85 sehr viel dringlicher – internationaler Ordnungspolitik nicht auf.86 81 Nur dann aber bekommt die Rede vom Wettbewerb als einem „Entmachtungsinstrument“ (Böhm) Gewicht. 82 Zu den Problemen, die sich daraus sowohl für die ökonomische Theorie als auch für die Wirtschaftspolitik ergeben, siehe etwa Hans K. Schneider / Christian Watrin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz, 2 Bde., Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 1973. 83 Walter Eucken, Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 2 (1949) 25. 84 Jürgen von Kempski, (Fn. 74), 360. Die unsichtbare Hand „is not the hand of some god or some natural agency independent of human effort; it is the hand of the law-giver, the hand which withdraws from the sphere of the pursuit of self-interest those possibilities which do not harmonize with the public good.“ (Lionel Robbins, The Theory of Economic Policy in English Classical Political Economy, London: Macmillan, 1952, 56). 85 Dazu schon 1972: Dietrich Kebschull, „Die ökonomische und politische Macht multinationaler Unternehmen“; in: Hans K. Schneider/ Christian Watrin (Fn. 82), 763 – 808. Inzwischen hat sich die Lage dramatisch zugespitzt, aber die von Kebschull und in der anschließenden Diskusssion vorgebrachten grundsätzlichen Kritikpunkte haben nichts an Gewicht verloren. 86 „Die Vorstellung, dass die der marktwirtschaftlichen Ordnung innewohnende Gesetzlichkeit zugleich auch die Gesamtordnung der Politik und der Gesellschaft automatisch erzeugt, verkennt, dass das marktwirtschaftliche Ordnungsinstrumentarium auf die Produktionslenkung beschränkt ist, also im Rahmen der politisch-sozialen Gesamtpartitur der Gestaltungselemente nur technischen Charakter hat. Sie verkennt weiter die gewaltige Bedeutung dieser Gesamtpartitur für das Funktionieren, ja selbst für das bloß technische Funktionieren der marktwirtschaftlichen Ordnung. Andererseits verkennt die umgekehrte Vorstellung, die glaubt, dass man bei den Eingriffen in das marktwirtschaftliche System der Einkommensverteilung und bei den die politisch-soziale Gesamtpartitur betreffenden Entscheidungen keine sonderliche Rücksicht auf die Eigengesetzlichkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung zu nehmen brauche, die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Wirtschaftsordnung und Einkommensverteilung sowie zwischen dem spezifisch marktwirtschaftlich und dem spezifisch politischen Teil der Wirtschaftsordnung.“ Franz Böhm, „Marktwirtschaft – von links und von rechts“ (1953), in: Wolfgang Stützel et al. (Hrsg.), Grundtexte der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart/ New York: Verlag Gustav Fischer, 1981, 435. Der hier favorisierte soziale Rechtsstaat ist weder ein exzessiver
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Bevor jedoch überhaupt mögliche Aufgaben einer Ordnungspolitik87 des Staates zur Sprache kommen, ist dessen Hauptaufgabe zu kennzeichnen. Um zunächst kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht dabei, wie gesagt, keineswegs um eine auf Erden gar nicht zu verwirklichende materiale Gerechtigkeit. Welches Gewicht sollten auf deren Waagschale etwa die natürlichen Vorbzw. Nachteile von Begabung und Gesundheit oder die sozialen Vor- bzw. Nachteile von Herkunft, Umfeld, Glück bekommen? So gehört denn gerade zur Freiheit der Teilnahme am freien Wettbewerb auch das Risiko des Misserfolges, sei es ein Kapital- oder Unternehmens- oder Investitionsrisiko, sei es ein Einkommens- oder Beschäftigungsrisiko. Ebenso wenig wird hier für einen „Wohlfahrtsstaat“ im Sinne eines „Versorgungsstaates“ plädiert, dessen Aufgabe es ist, für die „Glückseligkeit“ seiner Bürger zu sorgen; denn für deren Erreichung fehlt schon dem einzelnen Bürger selber der Leitfaden. Irgendwelche Zwecke, wie Glück oder Wohlfahrt des Einzelnen oder der Allgemeinheit88, können niemals Prinzip oder Endzweck der (legitimen) Herrschaftsordnung sein. Werden sie dennoch, soweit bestimmbar, zum Gegenstand staatlicher Gesetzgebung und Politik, dann legitimerweise ausschließlich als notwendige Mittel zur Erreichung und Erhaltung eines Zustandes allgemeingesetzlicher Freiheit. Das in diesem Zusammenhang regelmäßig geltend gemachte „Gemeinwohl“ besteht nur noch in der „Erhaltung der bloßen gesetzlichen Form einer bürgerlichen Gesellschaft“89, in der jeder im Rahmen der allgemeingesetzlichen Freiheitseinschränkung sein Privatwohl nach seinem Belieben erstreben kann.90 Belastet man hingegen den Staat mit der Aufgabe, das glückliche oder tugendhafte Leben seiner Bürger zu befördern, so verliert er eben dadurch jene und sogar jede FunkWohlfahrtsstaat noch ein auf De-Regulierung setzender Laissez-faire-Staat. Vielmehr stellen beide für ihn eine Bedrohung dar, wobei mir die zweite seit Jahren die gefährlichere zu sein scheint. 87 Der Begriff „Wirtschaftsordnungspolitik“ kann leicht suggerieren, es gebe da einen klar abgrenzbaren Bereich, die Wirtschaft. Da aber wirtschaftliches Verhalten, welches auch immer, stets in ein natürliches, soziales und politisches Umfeld eingebunden und mit ihm in vielfacher Weise rückgekoppelt ist, muss dem auch die Ordnungspolitik Rechnung tragen. Man sollte insofern eher von Gesellschaftsordnungspolitik sprechen. Das von der „Freiburger Schule“ um Walter Eucken ins Leben gerufene ORDO-Jahrbuch nennt sich immerhin „Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“. 88 Zur Kritik an der in der Volkswirtschaftslehre üblichen „kommunistischen Fiktion“, in der die Gesellschaft als Kollektivsubjekt begriffen wird, dem es um das optimale Wohlergehen der Gemeinschaft geht, wie es im sogenannten Sozialprodukt und dessen Verteilung angeblich zum Ausdruck kommt, siehe Gunnar Myrdal (Fn. 33). 89 Kant, Brief an Heinrich Jung-Stilling (nach dem 1. März 1789), Br 11.10. „Bürgerliche Gesellschaft“ ist bei Kant ein anderer Ausdruck für Staat („societas civilis“, „civitas“). 90 „Salus civitatis (nicht civium) suprema lex esto […] bedeutet [nicht]: Das Sinnenwohl des gemeinen Wesens (die Glückseligkeit der Bürger) solle zum obersten Princip der Staatsverfassung dienen; denn dieses Wohlergehen, was ein jeder nach seiner Privatneigung, so oder anders, sich vormalt, taugt gar nicht zu irgend einem objectiven Princip, als welches Allgemeinheit fordert“. (Anth 07.331)
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tion. Wer immer im Verein mit irgendwelchen anderen Menschen den inneren Frieden (des Glücks oder der Tugend) suchen und finden will, der muss zuvor mit allen anderen eine – die Freiheit aller garantierende – Gemeinschaft des Rechts aller stiften. „Recht geht vor Eigennutz und vor Gemeinnutz“91; Person vor Individuum und vor Kollektiv; Freiheit vor Glück und vor Tugend.92 Deswegen ist für Kant die Einschränkung der äußeren Freiheit der Bürger um deren (angeblichen) Glückes willen der „größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Unterthanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)“93. Ins Positive gewendet bedeutet das staatsbürgerliche Grundrecht der Freiheit für jedermann im Staat das Recht zu jedem beliebigen Tun und Lassen, auch wenn es anderen schadet, und damit zur Verfolgung seiner Glückseligkeit, wie es ihm94 gut dünkt, sofern nur sein Handeln nicht zu der Möglichkeit eines allgemeingesetzlichen Freiheitsgebrauchs überhaupt in Widerspruch steht.95 Worum es hinsichtlich der Hauptaufgabe des Staates allerdings sehr wohl geht, sind einerseits das Recht jedes Staatsbürgers zur Partizipation am vom Staat als res publica zu leistenden „output“ und andererseits die Pflicht jedes Staatsbürgers zur Partizipation am für die Erfüllung jener Leistung erforderlichen „input“ der res publica. Der „input“ ist die Gesamtheit der Leistungen, Opfer, Kosten, die vom Staatsvolk erbracht werden müssen, um den „output“ zu ermöglichen. Dieser wiederum besteht in der Gesamtheit dessen, was der (eben dadurch legitimierte) Staat an für die Sicherung von jedermanns gesetzlich bestimmter Freiheit notwendigen Instrumenten bereitstellt. Zu einer gut funktionierenden Gesellschaft gehört notwendig eine gut funktionierende Wirtschaft, für die aber gerade deswegen ökonomische Effizienz, soweit sie denn gegeben ist,96 allein nicht ausreicht.97 Mit Bezug auf die sogenannte freie 91 Julius Ebbinghaus, „Der Nationalsozialismus und die Moral“, in: ders., Gesammelte Schriften, (Fn. 42), 123. 92 Vgl. VAZeF 23.162.21 – 22. 93 TP 08.291. 94 „Ein Zustand in welchem das Urtheil hierüber nicht ihm selbst sondern einem Andern überlassen ist, ist rechtlich unmöglich.“ (VARL 23.292 [m. H.]) 95 Vgl. TP 08.290.29 – 33; 08.298.17 – 20; TL 06.382.12 – 16; V-MS / Vigil 27.539 f. 96 Regelmäßig finden in deren Bestimmung negative externe Effekte schon wegen der Schwierigkeit, sie zu erfassen, kaum oder gar nicht Eingang, selbst wenn sie von größter gesellschaftlicher Relevanz sind. „Sowie man die traditionellen Abstraktionen der neoklassischen Preisanalyse hinter sich läßt und anfängt, die vernachlässigten Aspekte der unbezahlten Sozialkosten zu berücksichtigen, wird deutlich, daß die soziale Effizienz der privaten Investitionskriterien und damit das angeblich positive Ergebnis des Allokationsprozesses in einer freien Marktwirtschaft, weitgehend eine Illusion darstellt. Denn wenn Unternehmerausgaben nicht im Stande sind, die tatsächlichen totalen Produktionskosten zu decken, weil die Tendenz besteht, einen Teil auf die Schultern Dritter abzuwälzen, dann ist die traditionelle Kosten-Nutzen-Rechnung nicht nur schlicht irreführend, sondern sie dient als institutionalisierter Deckmantel für eine Ausplünderung im großen Maße, die alles hinter sich läßt, was die frühen utopischen Sozialisten und sogar ihre marxistischen Nachfolger im Sinne hatten, als sie die
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Marktwirtschaft bedeutet dies, dass diese nur dann zugleich soziale Marktwirtschaft (und umgekehrt) ist, wenn man, wie rechtlich notwendig, unter Freiheit nicht wilde, gesetzlose Freiheit in einer „pluralistischen Beutewirtschaft“98 versteht, sondern Freiheit von jedermann unter allgemeinen Gesetzen der Freiheit.99 Eine Marktwirtschaft und die darauf gerichtete Politik des Staates, die nicht allgemein-gesetzliche Freiheit zum Ordnungsprinzip haben, sind rechtswidrig.100 Eben deswegen ist nicht etwa nur der Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern wirtschaftliche Macht überhaupt,101 wenn sie eine grundrechtsverletzende Einschränkung der äußeren Freiheit derjenigen, über die sie ausgeübt wird (bzw. ausgeübt werden kann), zur Folge hat.102 Der Primat liegt bei der allgemein-gesetzlichen Freiheit von jedermann; an dieser findet insbesondere das gleiche Recht auf den beliebigen Erwerb von Eigentum seine Grenze, – nicht umgekehrt!103 Ausbeutung des Menschen durch den Menschen unter dem heraufkommenden System des freien Unternehmertums kritisierten.“ (K. William Kapp, Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Frankfurt/ Main: Verlag S. Fischer, 1979, 197 f.) Kapp behandelt in dieser Publikation als soziale Kosten Luftverunreinigung, Wasserverschmutzung, erneuerbare und erschöpfbare Ressourcen, Ressourcennutzung, den menschlichen Produktionsfaktor, technologischen Wandel, Arbeitslosigkeit, Doppelspurigkeiten und Überkapazitäten, ruinösen Wettbewerb, die geplante Verkürzung der Lebensdauer von Gütern, Verkaufsförderung (Werbung), falsche Standortwahl und Überkonzentration in Ballungsräumen. – Zur Problematik der Berücksichtigung externer Effekte siehe Ronald H. Coase, „The problem of social cost“, in: The Journal of Law and Economics, 3 (1960) 1 – 44. 97 Zur Problemlage siehe Kurt W. Rothschild, „Kritik marktwirtschaftlicher Ordnungen als Realtypus“, in: Erich Streißler/ Christian Watrin (Hrsg.), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, Tübingen: Verlag Mohr (Paul Siebeck), 1980, 13 – 37. 98 Alexander Rüstow, „Zwischen Kapitalismus und Kommunismus“, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 2 (1949) 103. 99 Wie Freiheit generell, so kann es auch wirtschaftliche Freiheit nur durch staatliche Ordnung geben. Freie Wirtschaft ist somit das Gegenteil einer staatsfreien Wirtschaft. 100 Es sollte deutlich sein, dass die hier vertretene Position quer liegt zur gängigen Dichotomie Individualismus – Etatismus oder marktfreundlich – staatsfreundlich. Sie ist unbedingt freiheitsfreundlich und überdies bedingt sowohl marktfreundlich als auch staatsfreundlich, sofern nämlich Markt und Staat der allgemeinen Freiheit dienen. Republikanismus wäre die passende Bezeichnung. 101 Allgemein zur Rolle von Macht im Wirtschaftsprozess: Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen: Verlag Mohr (Paul Siebeck), 1990, 169 ff.; Kurt W. Rothschild (Hrsg.), (Fn. 2). 102 Dazu auch: Kristian Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung. Zur Aktualität der Kantischen Rechts- und Eigentumslehre, Freiburg / München: Verlag Alber, 1984, 267 ff. 103 Zur Auswirkung der Vermögensverteilung und damit von Machtverteilung auf die Elastizität des Arbeitsangebots und damit auf die Einkommensverteilung siehe Erich Preiser, „Besitz und Macht in der Distributionstheorie“, in: ders., Bildung und Verteilung des Volkseinkommens, 3. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, 227 – 246. Der Schluss des Aufsatzes lautet: „Eine Politik. die dem Besitzlosen zu Besitz verhilft, gibt ihm nicht nur Anteil an der Rente, sondern sie erhöht auch die Elastizität des Arbeitsangebotes mit dem Ergebnis, daß die Quote des Arbeitseinkommens am Sozialprodukt steigt, die des Besitzeinkommens sinkt. Die Beschäftigung und damit das Sozialprodukt geht freilich zurück, aber dafür
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In einem Urteil aus dem Jahr 1962 befand das Bundesverfassungsgericht: „Die in der Größe der Betriebe und in der Höhe der eingesetzten Kapitalien verkörperte Zusammenballung wirtschaftlicher Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten hat zur Folge, daß das unternehmerische Verhalten der Konzernleitungen über das Schicksal des einzelnen Unternehmens hinaus auf die gesamte Volkswirtschaft und die Konjunktur einwirkt, selbst auf Arbeitsmarkt, Preis- und Währungspolitik. Dennoch hat sich der Gesetzgeber für die unternehmerische Freiheit auch des Konzerns entschieden. Dabei gilt aber die insbesondere in Art. 14 Abs. 2 GG, für die einzelne Aktiengesellschaft in § 70 Abs. 1 AktG, statuierte Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl erst recht für die Konzernleitung.“ 104 In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob überhaupt die Entscheidungsmacht allein bei der Kapitalseite bzw. bei dem durch sie bestellten Management liegen sollte105 oder auch, und zwar realiter, beim Produktionsfaktor Arbeit; also die Frage nach der Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer konkreten Gestaltung. Mit Bezug auf die durch das Mitbestimmungsgesetz erfolgende Veränderung der Eigentumsrechte der Kapitaleigner ist gemäß dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979 „die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhaltsbestimmung und Schrankenbestimmung um so weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht […]. Maßgebend hierfür ist der in Art. 14 Abs. 2 GG Ausdruck findende Gesichtspunkt, daß Nutzung und Verfügung in diesem Fall nicht lediglich innerhalb der Sphäre des Eigentümers bleiben, sondern Belange anderer Rechtsgenossen berühren, die auf die Nutzung des Eigentumsobjekts angewiesen sind. Unter dieser Voraussetzung umfaßt das grundgesetzliche Gebot einer am Gemeinwohl orientierten Nutzung das Gebot der Rücksichtnahme auf den Nichteigentümer, der seinerseits der Nutzung des Eigentumsobjekts zu seiner Freiheitssicherung und verantwortlichen Lebensgestaltung bedarf […].“106 Auch hier zeigt sich wieder die Notwendigkeit, das gerne beschworene Prinzip der Immunität des Eigentums aufzugeben.
Nun hatte es Anatole France schon vor einem Jahrhundert mit seiner sarkastischen Rede von der „majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“,107 auf den Punkt gebracht: die rechtlich zugestandene Freiheit, die auszunimmt die Freizeit zu. Im ganzen erhöht sich, bei verminderter Arbeitszeit, das Einkommen derjenigen, die arbeiten und besitzen, während das Einkommen derer, die nur besitzen, zurückgeht.“ (Ebd., 246). Somit sind die den Erwerb und den Besitz von Privateigentum betreffenden Gesetze alles andere als neutral gegenüber dem „Spiel“ auf dem „freien Markt“; vielmehr haben sie mehr oder weniger großen Einfluss auf den „Preismechanismus“ und über diesen auf die tatsächliche Verteilung sowohl der Vermögen als auch der Einkommen. Siehe dazu auch Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge, Mass. / London: Belknap Press, 2014. Zu meinem Bedauern konnte ich die Ergebnisse dieses exzellenten Buches nicht mehr in vollem Umfang berücksichtigen. 104 BVerfGE 14, 263 [282] (Feldmühle-Urteil). 105 De facto liegt sie eher beim Management, das weder riskiert noch haftet. 106 BVerfGE 50, 290 (340 f.) (m.H.). Siehe auch Gérard Gäfgen, „Zur volkswirtschaftlichen Beurteilung der Entscheidungsteilnahme in Unternehmungen: Die deutsche Mitbestimmungsregelung als Beispiel“, in: Horst Steinmann et al. (Hrsg.), Die Kosten der Mitbestimmung, Mannheim/ Wien / Zürich: Verlag Bibliographisches Institut, 1981, 9 – 37. 107 Anatole France, Die rote Lilie, Reinbek: Verlag Rowohlt, 1964, 71.
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üben einem Mensch realiter möglich ist, hängt unter anderem von seinen je individuellen wirtschaftlichen Voraussetzungen und damit auch davon ab, ob und inwieweit der Staat ihm auch diese sichert. „Die Freiheit ist erst eine wirkliche in dem, der die Bedingungen derselben, die materiellen und geistigen Güter als die Voraussetzung der Selbstbestimmung, besitzt.“108 Deswegen muss man mit Bezug auf Besitzende und Erbende von einem Freiheitsprivileg gegenüber den sozial Abhängigen sprechen. „Freiheit und Rechtsgleichheit beseitigen nicht die wirtschaftliche Ungleichheit der Menschen, sondern fördern sie, indem sie die Möglichkeit unterschiedlicher wirtschaftlicher Entfaltung bieten. Soziale Ungleichheit kann bei fehlender staatlicher Intervention in soziale Unfreiheit umschlagen, wenn gegenüber den Trägern gesellschaftlicher Macht die Ausübung der Freiheit faktisch nicht mehr möglich ist.“109 Über die rein rechtliche, als solche aber den Freiheitsgebrauch nur ermöglichende Sicherung bedarf es daher der Schaffung bestimmter sozialer Bedingungen, ohne welche der Freiheitsgebrauch nicht wirklich stattfinden kann. Mehr noch als die Startchancen sind die Chancen, die je eigenen Lebensziele zu verwirklichen, ungleich verteilt. Kurz: wirtschaftliche und jede andere Art von Eigentumsoder Positions-bedingter sozialer Macht ist so, wie es mit politischer Macht im freiheitlichen Rechtsstaat längst geschieht,110 zu kontrollieren und genau dort zu begrenzen oder auch zu beseitigen, wo sie den Gebrauch, den ein Anderer von seiner rechtlichen Freiheit machen will, behindert oder gar unmöglich macht.111 Die Notwendigkeit, soziale Ungleichheit zu minimieren, gründet nicht in einem Recht auf soziale Gleichheit, sondern in dem Recht auf gleiche Freiheit.112 Denn es ist diese, die trotz aller vielleicht gegebenen Gleichheit vor dem Gesetz durch Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse gefährdet ist, die aus sozialer Ungleichheit resultieren. 108 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, Darmstadt: Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959, 104. 109 Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Köln: Verlag Deubner, 1983, 133. 110 Zwar ist es notwendig, begrifflich zwischen wirtschaftlicher Macht als Marktmacht und politischer Macht als Macht der staatlichen Gewalten zu unterscheiden. Aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestehen zwischen beiden Wechselwirkungen der verschiedensten Art, oft von großer Tragweite, oft aber auch nur schwer durchschaubar. Hinzu kommen übrigens als weitere, für den Gesamtzustand einer Gesellschaft bedeutsame Machtfaktoren die auf vielfältige Weise sich äußernde öffentliche Meinung mit der darin zum Ausdruck kommenden „Ideenwelt“ sowie die in der Gesellschaft vorhandene, individuelle oder auch organisierte kriminelle Energie (etwa in Form von Steuerhinterziehung, Korruption, Erpressung, Geldwäsche etc.). „[G]enaugenommen läßt sich ein Bereich des Wirtschaftslebens mit Hilfe ökonomischer Kategorien überhaupt nicht abgrenzen, und zwar deshalb, weil diese Kategorien auf alle Handlungen überhaupt und damit auch auf alle sozialen Vorgänge anwendbar sind“ (Hans Albert, Traktat (Fn. 72), 113). 111 Dazu auch: Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht. Aufriß eines Problems“, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/ Main: Verlag Suhrkamp, 1976, 336 – 348. 112 Von einem Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit, wie er immer wieder behauptet wird, kann also gar keine Rede sein.
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Fazit: Im Rahmen seiner Aufgabe, auch und gerade im Bereich des Wirtschaftens die Freiheit von jedermann sicherzustellen, hat der Staat als staatsbürgerliche Gemeinschaft insbesondere das Recht und die Pflicht, im Falle von privaten oder auch öffentlichen (eigenen) wirtschaftlichen Machtpositionen zu verhindern, dass sie mit Verweis auf die Freiheit des Wirtschaftens zur Unterdrückung der realen Freiheit Anderer benutzt werden. Er hat des weiteren das Recht und die Pflicht, zur Erfüllung seiner Aufgabe von seinen Bürgern einen „Tribut“ zu verlangen, dessen Höhe nicht nur von der „Leistungsfähigkeit“ eines Bürgers abhängt, sondern von dessen Partizipation am staatlichen „output“, also von dem Nutzen, den er dem Staat in Vergangenheit und Gegenwart „verdankt“. Der Staat kann „Rechtsschutzstaat“ nur sein, indem er zugleich „Leistungsstaat“ ist.113 Der Staat, von dem hier die Rede ist, ist keineswegs der bloß für den Schutz von Leben und Eigentum zuständige Nachtwächter einer im übrigen von ihm ganz unabhängigen und unbehelligten Marktgesellschaft. Er ist im Gegenteil aktiver Garant auch und insbesondere eines mit der allgemeinen Freiheit kompatiblen Wirtschaftsgeschehens. Eben dafür muss er ein starker Staat sein.114 Eine Marktwirtschaft, besonders eine ohne Wettbewerbsverzerrungen, ist nur möglich, wenn und weil die Marktteilnehmer nicht im Naturzustand, sondern in einem Staat leben, von dessen Qualität die Funktionsfähigkeit des Marktes vollständig abhängt. Für die Vorteile, welche die Bürger der res publica von den durch diese bereitgestellten Gütern haben, müssen sie Abgaben entrichten, welche ihren jeweiligen Vorteilen entsprechen. Obwohl es in vielen Fällen ziemlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, die Entsprechung positiv zu bestimmen, so ist es ex negativo recht einfach. Man muss sich nur vorstellen, der ein millionenschweres Jahreseinkommen beziehende Vorstandsvorsitzende einer großen deutschen Autofabrik wäre in einem quasi staatlosen Zustand wie etwa Tchad oder Mali zur Welt gekommen und aufgewachsen und würde dort leben und arbeiten, um sofort zu wissen oder jedenfalls zu ahnen, was er auch nur der bloßen Existenz eines Staates als Rechtssicherungsordnung und umso mehr dem gegenwärtigen deutschen Staat für die Bereitstellung einer Vielfalt von Gütern, öffentlichen und auch privaten,115 verdankt. Um nur das Wichtigste zu nennen: eine funktionierende öf113 Zur Terminologie siehe James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit – Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen: Verlag Mohr (Paul Siebeck), 1984, 97 ff. 114 Aber auch in Bezug auf den mit dieser Aufgabe betrauten Staat ist größte Vorsicht geboten und daher ebenfalls institutionell sicherzustellen, dass er die ihm dafür übertragene Macht nicht missbraucht. Ein probates Mittel ist Subsidiarität der in öffentlicher Hand liegenden Aktivitäten, vor allem da, wo die von einer geplanten Maßnahme unmittelbar Betroffenen auch am ehesten sachgerecht entscheiden können. Daher sollte auch das Mittel der Volksbefragung und des Volksentscheides stärker genutzt werden. Siehe hierzu auch Walter Eucken (Fn. 101), 175 ff.; 327 – 334 („Staatstätigkeit und Staatsautorität“ und „Interdependenz der Wirtschaftsordnung und Staatsordnung“). „Die Ordnung des Staates ist ebenso eine Aufgabe wie die Ordnung der Wirtschaft. Die ganze Gefahr des totalitären Staates muß in gleicher Weise gesehen werden wie die Notwendigkeit eines stabilen Staatsapparates, der genug Macht besitzt, um bestimmte, genau umschriebene Ordnungsaufgaben zu erfüllen.“ (Ebd. 331)
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fentlich-rechtliche Ordnung überhaupt und insbesondere einen durch diese geschützten Privatrechtsraum mit ebenfalls nur im Staat möglichen Rahmenbedingungen verschiedenster Art (Infrastruktur, Märkte, Börsen, Umweltschutz, Landesverteidigung, Ausbildungsinstitutionen, Gesundheitssysteme, etc.). Für jenen Vorstandsvorsitzenden gilt dasselbe, was Kant vom Aristokraten sagt: „ein Edelmann kann […] als solcher nur im Staate, nicht im Stande der Natur gedacht werden“ 116. Die Lage, in der beide dagegen im staatlosen „Naturzustand“ gewesen wären, hat der englische Philosoph Thomas Hobbes schon vor mehr als 350 Jahren beschrieben: „Was immer die Folgeerscheinungen einer Zeit des Krieges sind, wo jeder jedem feind ist, sind daher gleichfalls Folgeerscheinungen einer Zeit, in der die Menschen ohne andere Sicherheit leben als die, mit der ihre eigene Kraft und ihre eigene Erfindungsgabe sie ausstatten. In solchem Zustand gibt es keinen Platz für Fleiß, denn seine Früchte sind ungewiss, und folglich keine Kultivierung des Bodens, keine Schifffahrt oder Nutzung der Waren, die auf dem Seeweg importiert werden mögen, kein zweckdienliches Bauen, keine Werkzeuge zur Bewegung von Dingen, deren Transport viel Kraft erfordert, keine Kenntnis über das Antlitz der Erde, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Bildung, keine Gesellschaft, und, was das allerschlimmste ist, es herrscht ständige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz.“ 117
Die Entfaltungschancen, die der Vorstandsvorsitzende oder wer auch immer in Deutschland hatte und hat, beruhen weitgehend nicht auf eigener Leistung, sondern sind eine Vorleistung der res publica. Es ist zwar richtig, das die Marktgesellschaft als solche keine Solidargemeinschaft ist. Wohl aber ist Bedingung ihrer Möglichkeit die res publica als übergreifende Solidargemeinschaft („Gemeinwesen“!). Als deren Mitglieder entrichten die Marktteilnehmer ihren Solidarbeitrag, – auch, aber nicht nur auf der Basis ihres Markterfolges.118 Mit Bezug auf Vanbergs im Anschluss an Hayek formulierte These,119 dass in einer marktwirtschaftlichen Ordnung „im spontanen Austauschnetzwerk des Marktes 115 Siehe dazu die sehr kritisch-konstruktiven Betrachtungen von Wolfram Engels, „Effiziente Produktion öffentlicher Güter“, in: Wirtschaftspolitische Blätter, 23 (1976) 74 – 80; und Holger Bonus, „Öffentliche Güter: Verführung und Gefangenendilemma“, in: List-Forum, 10 (1979 / 80) 69 – 102. 116 RL 06.370. 117 Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 13 („Of the natural condition of mankind as concerning their felicity and misery“), dt. Übers., Hamburg: Verlag Felix Meiner, 1996, 105; ähnlich RL 06.345. 118 Entsprechend heißt es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. […] Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ‚soziale Marktwirtschaft‘.“ (BVerfGE 4, 7 [15 ff.] vom 20. 7. 1954) Zum Verhältnis von – durch das Prinzip des Interesses bestimmter – (Markt-)Gesellschaft und – durch das Prinzip der Freiheit bestimmtem – Staat siehe Lorenz von Stein, (Fn. 108), Bd. 1, 29 – 46.
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[gar] kein Gemeinschaftsprodukt erwirtschaftet wird, das [dann] in einem eigenen Verteilungsakt unter den beteiligten Akteuren aufzuteilen wäre“, stellt sich die Frage, ob hier nicht der Marktmechanismus, um nicht zu sagen: Marktautomatismus überschätzt und die Bedeutung regulierender Institutionen unterschätzt wird.120 Einerseits ist die Ordnung im menschlichen Zusammenleben keineswegs nur „das unvorhergesehene Ergebnis der Handlungen der Individuen“.121 „[T]he content of the byelaws, the choice of the umpire, the determination of the powers and the regular application of the decisions of this umpire are incomparably more decisive than the spontaneities of equilibrium and the effects of automatisms.“122 Andererseits erhalten zwar die Marktteilnehmer ihren Ertrag aus separaten Tauschbeziehungen. Aber die Summe der Einzelerträge wird wesentlich durch einen kollektiven Faktor mitbestimmt: durch die res publica. Der Beitrag dieses Faktors zu dieser Summe würde sich ergeben, wenn man bestimmen könnte, wie hoch sie in einem status naturalis ausgefallen wäre. Der erste Philosoph, der aus der Idee der Polis positive Konsequenzen gezogen hat, war der platonische Sokrates, als er in einem fingierten Dialog,123 den die Gesetze und das politische Gemeinwesen („hoi nomoi kai to koinon tes poleôs“) mit ihm führten, seine Gründe nannte, warum er die Gelegenheit, zwecks Rettung seines Lebens aus dem Gefängnis zu fliehen, nicht nutzen wolle. Kürzlich hat der französische Schauspieler Depardieu die russische Staatsbürgerschaft erworben, weil er die in Frankreich geplante Einkommensteuer von 75% für Spitzenverdiener für konfiskatorisch hielt.124 Nun, Sokrates hätte die Abgabe freiwillig geleistet und wei119 Siehe Viktor J. Vanberg, „Einführung: Marktwirtschaft und ‚soziale Gerechtigkeit‘“, in: ders. (Hrsg.), Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, Tübingen: Verlag Mohr (Siebeck), 2012, 2. 120 Siehe besonders Friedrich A. v. Hayek, „Der Atavismus ‚sozialer Gerechtigkeit‘“, in: ders., Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik, Tübingen: Verlag Mohr Siebeck, 2004, 197 – 208. Hayek spricht dort beharrlich von „freiem Wettbewerb“, „freiem Markt“, „freien Marktpreisen“, während doch gerade die Voraussetzung einer „Freiheit“ von Wettbewerb, Markt und Marktpreisen in höchstem Maße problematisch ist. 121 Siehe Friedrich A. v. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, ErlenbachZürich: Verlag Eugen Rentsch, 1952, 17. 122 F. Perroux, „The domination effect and modern economic theory“, in: Kurt W. Rothschild (Hrsg.), (FN. 2), 73. 123 Siehe Platon, Kriton 49 – 53. 124 Dazu das Bundesverfassungsgericht: „Steuergesetze sind in ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung jedenfalls an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Dabei ist indes zu berücksichtigen, daß Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifen. Dies bedeutet, daß ein Steuergesetz keine ‚erdrosselnde Wirkung‘ haben darf: Das geschützte Freiheitsrecht darf nur so weit beschränkt werden, daß dem Grundrechtsträger (Steuerpflichtigen) ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützigkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen erhalten bleibt. Hieraus folgt, daß dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflich-
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terhin den Olymp dem Ural vorgezogen. Hätte er sich stattdessen in Syrakus vom Tyrannen aufnehmen lassen, so hätte dies sein Schüler Platon gewiss mit der Bemerkung quittiert, dass das große Athen einer solchen Kreatur nicht bedürfe. Eine ebenfalls positive Version des Hobbesschen Gedankengangs formulierte Präsident Obama in einer Rede am 13. Juli 2012: „If you were successful, somebody along the line gave you some help. There was a great teacher somewhere in your life. Somebody helped to create this unbelievable American system that we have that allowed you to thrive. Somebody invested in roads and bridges. If you’ve got a business – you didn’t build that. Somebody else made that happen. The Internet didn’t get invented on its own. Government research created the Internet so that all the companies could make money off the Internet. The point is, that when we succeed, we succeed because of our individual initiative, but also because we do things together.“125
Man darf mit Fug und Recht annehmen, dass jener Vorstandsvorsitzende unter Bedingungen des staatlosen Zustandes wohl kaum das 300fache dessen bekäme, was zur Zeit sein bauernschlauer Chauffeur und sein bärenstarker Hausmeister bekommen. Vielleicht wäre sein Einkommen sogar niedriger als deren. Kurzum, die Höhe des Einkommens reflektiert nicht einfach den jeweiligen Marktwert eines Einkommensbeziehers, sondern auch, und je größer desto mehr, den Vorteil, den dieser durch die res publica hat. Und die entsprechende Kurve ist gewiss stark progressiv. Der hier vorgetragene Gedankengang lässt sich auch auf andere Weise ausdrücken. Man stelle sich einen jungen Mann aus den Bahamas vor, der dort als Sänger sehr erfolgreich ist und nun die US-amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt. Die amerikanischen Behörden sind bereit, dem Antrag unter der Bedingung stattzugeben, dass der junge Mann sich mit einer Spitzensteuer auf Einkommen von 90 Prozent einverstanden erklärt. Er verdiene, so sagen sie ihm, auf den Bahamas jährlich 50.000 Dollar, zahle dafür 20% Steuern, so dass ihm 40.000 Dollar verblieben. In den USA mit ihrer um fast tausend Mal größeren Bevölkerung gebe es für ihn und sein Talent einen ganz anderen Markt. Sollte er dort ein Jahreseinkommen von 5.000.000 Dollar erzielen, so würden ihm nach Abzug von 90% Steuern 500.000 Dollar verbleiben. Ich bin ziemlich sicher, dass der Sänger die Bedingung der Behörden tigen nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen soviel verbleiben muß, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und – unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG – desjenigen seiner Familie bedarf (‚Existenzminimum‘).“ (BVerfGE 87, 153 [169] vom 25. 9. 1992; siehe auch BVerfGE 30, 250 [271 f.] vom 9. 3. 1971; BVerfGE 38, 61 [102] vom 17. 7. 1974) In einem späteren Urteil spricht das Gericht von „menschenwürdigem“ oder „soziokulturellem Existenzminimum“ und führt dazu aus: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ (BVerfGE 1 BvL 1 / 09 vom 9. 2. 2010) Von einer „erdrosselnden Wirkung“ wird man bei einer Steuer von 75% auf Spitzeneinkommen in Deutschland wohl kaum sprechen können. Siehe dazu auch weiter unten. 125 Quelle: „Remarks by the President at a Campaign Event in Roanoke, Virginia.“ July 13, 2012; http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2012/07/13/remarks-president-campaign-eventroanoke-virginia.
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gerne akzeptiert. Ganz gewiss würde er mit seinem „Netto vom Brutto“ seinen notwendigen Lebensunterhalt und den seiner Familie leicht bestreiten können. Auch lässt sich sagen, dass hier sowohl nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip als auch nach dem Äquivalenzprinzip besteuert würde.
Grundsätzlich stellt sich nach dem Gesagten nicht mehr die Frage, ob, sondern nur, in welcher Weise (quantitativ und qualitativ)126 der Staat zwecks Erfüllung seiner Aufgabe in die gesellschaftliche Einkommens- und Vermögensstruktur und also in die Verteilung von Eigentum (im weitesten Sinn) eingreifen darf 127 und soll,128 wobei eine „Umverteilung“ nicht, wie schon angedeutet, der Beförderung der Glückseligkeit oder des Wohlstandes der Bürger, sondern der faktischen Sicherstellung ihrer rechtlichen Freiheit zu dienen hätte.129 Der hier vertretene „Liberalismus“ ist daher auch nicht, wie so häufig, auf wettbewerbs-bedingte ökonomische oder Marktfreiheit beschränkt, sondern bezieht sich auf das gesamte politisch-sozialeBeziehungssystem einer Gesellschaft. Seine prinzipientheoretischeBegründung erhielt er durch Kant.130 Marktwirtschaft und freier Wettbewerb tragen ihre Rechtfertigung keineswegs in sich selbst. Vielmehr müssen sie dafür mit ihren Mitteln und mit ihren Ergebnissen 126 Keine der im Folgenden vorgeschlagenen Problemlösungen dürfte unbestritten sein; aber die Wichtigkeit der Probleme selber und die Notwendigkeit ihrer Lösung ist wohl kaum bestreitbar. 127 Was Baker für die USA gezeigt hat, trifft im Prinzip auch auf Deutschland zu: „both conservatives and liberals [in Deutschland: alle Parteien] want government intervention. The difference between them is the goal of government intervention, and the fact that conservatives are smart enough to conceal their dependence on the government.“ (Dean Baker, The Conservative Nanny State: How the Wealthy Use the Government to Stay Rich and Get Richer, Washington, DC: Center for Economic and Policy Research, 2006, 1). 128 Die deutsche Verfassung steht dem nicht im Wege. Das Grundgesetz bestimmt, allerdings sehr vage, in Artikel 14: „(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ 129 Die notorische Frage nach einem Recht des Staates, in „Freiheit und Eigentum“ einzugreifen, erweist sich somit als falsch gestellt. Die darin zum Ausdruck kommende Konfusion lässt sich bis zu John Locke und zur sich ihm mit Abweichungen anschließenden amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zurückverfolgen. Für Locke war Zweck und Aufgabe des Staates „to preserve the property“, und darunter verstand er „life, liberty, and estate“, als Rechte des Menschen gleichwertig und unveräußerlich. (John Locke, The Second Treatise of Government, § 87, Oxford: Basil Blackwell, 1966, 43) Doch als absolutes oder unbedingtes Recht kommt, wie gesagt, nur die (allgemein-gesetzliche) Freiheit in Betracht. Das Recht auf Leben und das auf Eigentum sind an die Bedingung der Konformität mit dieser gebunden. Hält man dagegen, wie vielfach im Liberalismus bis in unsere Tage, auch die freie Verfügungsgewalt über Privateigentum für sakrosankt, dann kommt man in ein sowohl rechtlich als auch wirtschafts- und sozialpolitisch unlösbares Dilemma. Jedes Gut, jedes Kapital hat nicht nur einen Wert; sein Besitz bedeutet auch immer Macht. Damit ist Privateigentum potenziell freiheitsgefährdend und insofern zu kontrollieren und gegebenenfalls zu beschränken. Siehe dazu auch R. A. Brady, „The Power Hierarchy of Big Business“, in: Kurt W. Rothschild (Hrsg.), (Fn. 2), 170. 130 Siehe dazu auch Jürgen v. Kempski (Fn. 9).
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in Übereinstimmung mit den Prinzipien eines republikanischen Gemeinwesens sein. Also auch und besonders die Freiheit des Wirtschaftens findet ihre rechtliche Grenze an der staatsbürgerlichen Freiheit von jedermann. Um eben dies sicherzustellen, bedarf es entsprechender, vom Staat gesetzter Spielregeln für den Ablauf des Wirtschaftsprozesses. Gerade in dieser Hinsicht wird man mit Blick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte füglich sowohl für die USA als auch für Europa von einem eklatanten Staatsversagen131 sprechen müssen. Wie wenig gesetzliche und somit für alle gleichermaßen geltende Bestimmungen den Wettbewerb behindern, zeigt etwa ein Spaziergang durch die Grachten von Amsterdam. Dass die Altstadt gleichsam wie aus einem Guss aussieht, verdankt sie den strengen Baugesetzen. Die immense Vielfalt und Schönheit verdankt sie dem unter diesen Gesetzen stehenden und dennoch freien Wettbewerb der Bauherren. Auch hier gilt Goethes Wort: „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,/ Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ Will man das Gegenteil der Amsterdamer Erfahrung machen, so genügt eine Fahrt auf einer Landstraße in Belgien, wo man offensichtlich durch kein Gesetz daran gehindert wurde, seiner Bauherren-Willkür freien Lauf zu lassen. Immense Vielfalt gibt es auch hier; aber Schönheit hatte keine Chance. Dafür muss man nach Brügge oder Antwerpen oder Gent reisen.
IV. Nunmehr ist es möglich, einige konkrete Überlegungen zur Ordnungspolitik des freiheitlichen Rechtsstaates anzustellen und mit entsprechenden Vorschlägen zu verbinden, wobei immer im Auge zu behalten ist, dass der Staat und seine Gesetze über die bloße physische Selbsterhaltung der Bürger hinaus auch und besonders deren Selbsterhaltung als Personen zu sichern haben. Es versteht sich von selbst, dass diese Vorschläge, insofern versuchsweise gemacht,132 unter dem Vorbehalt stehen, dass von ihrer Verwirklichung nicht kontraproduktive (Neben-)Wirkungen zu erwarten sind,133 die übrigens auch nicht-ökonomischer Natur sein können. Allerdings ist hinsichtlich einer solchen Erwartung auch stets zu beachten, dass interessierte Kreise, besonders die organisierte Lobby,134 regelmäßig massiven Einfluss auf die „richtige“ Einschätzung der Wirkungen ausüben.135 131 Dass der Staat auch selber als Marktteilnehmer, vor allem mit eigener Finanzmarkttätigkeit (Landesbanken, Kommunen), kläglich gescheitert ist, war erst die Folge seines Versagens als Regulator. 132 Sie könnten einerseits durch viele andere ergänzt werden, müssen aber andererseits auch nicht alle, nicht jeder unverzüglich und nicht jeder in dem vorgeschlagenen Umfang realisiert werden. 133 Etwa im Falle massiver Steuererhöhungen eine Reduzierung der Investitionsbereitschaft; nicht-kontrollierbare Steuervermeidung, -hinterziehung, -flucht sowie Abwanderung in die Schattenwirtschaft; oder im Falle hoher Sozialleistungen eine Schwächung der Arbeitsmotivation. 134 Dazu: Peter Bernholz, „Die Machtkonkurrenz der Verbände im Rahmen des politischen Entscheidungssystems“, in: Hans K. Schneider/ Christian Watrin (Fn. 82), 859 – 898.
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Die Sicherstellung der Freiheit aller Bürger erfordert keineswegs nur längst Selbstverständliches wie etwa Sozialhilfe136, medizinische Versorgung, Verbesserung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen etc., sondern zwecks Vermeidung von Dysfunktionalitäten im Marktmechanismus ein umfassendes gesetzliches und institutionelles Rahmenwerk für einen möglichst vollständigen wirtschaftlichen Wettbewerb. Die Devise dafür muss lauten: nicht intervenieren, sondern gesetzlich und langfristig regulieren! Oder in der Formulierung von Rüstow: keine „Hemmungsintervention quer zu den Marktgesetzen“, sondern „Anpassungsintervention in der Wirkungsrichtung der Marktgesetze, zur Sicherung ihres möglichst reibungslosen Ablaufs“.137 „Das generelle Leistungsvermögen des Marktes hängt zutiefst von den politischen und sozialen Rahmenbedingungen ab.“138 Schon Adam Smith sprach von solchen gesetzlich festgelegten Bedingungen und verglich sie treffend mit Brandmauern, die das Übergreifen von Feuer verhindern sollen. Zwar hielt er beide für eine Verletzung der „natural liberty“, die jedoch wegen der aus dem Freiheitsgebrauch resultierenden Gefährdung der „security of the whole society“ notwendig sei.139 Gemäß den hier vertretenen Prinzipien liegt freilich nicht einmal eine Verletzung vor, da es ein Recht auf eine solche Freiheit gar nicht gibt. Es geht nicht um einen Eingriff in das freie Spiel der Ressourcenallokation und Güterverteilung, sondern allein um die Setzung und Überwachung von Regeln, unter denen dieses Spiel stattzufinden hat. Nur das soll den gesetzgebenden Körperschaften und Aufsichtsbehörden übertragen werden. Die Gewalt über wirtschaftliche Entscheidungen dagegen soll weiterhin vollständig in der Hand der Marktteilnehmer liegen. Die hier geübte Kritik am Marktmechanismus ist Systemkritik, nicht Personenkritik. Es geht nicht um die „bösen“ Manager, denen dann „gute“ Staatsbeamte gegenübergestellt würden. Es geht um das systemisch bedingte, aber wegen seiner unerwünschten Folgen durch Systemregulierung zu neutralisierende Menschlich-Allzumenschliche. 135 Die Bemühungen um eine radikale Reform des europäischen Bankenwesens haben dies in ihrer Erfolglosigkeit besonders krass sichtbar gemacht. – Besonders wenn es um eine Erhöhung der Steuer auf hohe Einkommen oder Vermögen geht, wird notorisch und in KassandraManier, als gehe es um den Untergang des Abendlandes, vor dem Ende der freien Marktwirtschaft und damit von Wachstum und Wohlstand gewarnt. 136 Weede wirft rhetorisch die Frage auf, ob eine großzügige Unterstützung von Bedürftigen, die „notwendigerweise zulasten der Erfolgreichen [!] und Leistungsträger [!] gehen muss, […] nicht eine zunehmende Zahl von Drückebergern [!] erzeugen [müsse]“; und wenn das Gerechtigkeitsstreben [!] dazu führe, „Forderungen an Andere oder den Staat […] zu stellen, dann gefährde[.] dieses Streben die Funktionsfähigkeit jedenfalls einer freien Marktwirtschaft [und habe] eine gewisse Affinität zum Neid [!]“. Erich Weede, „Was kann die soziologische Gerechtigkeitsforschung zur Akzeptanz einer freien Marktwirtschaft sagen oder gar beitragen?“, in: Viktor J. Vanberg (Hrsg.), (Fn. 119), 299 f. 137 Alexander Rüstow (Fn. 98), 132; siehe auch ders., Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, Marburg: Verlag Metropolis, 2011, 146. 138 Amartya Sen (Fn. 60), 176. 139 Adam Smith (Fn. 79), vol. I, book II, ch. 2, 289.
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Zum Problem hat sich bereits Adam Smith geäußert, wie es kein Ordoliberaler besser könnte: „To widen the market and to narrow the competition, is always the interest of the dealers. To widen the market may frequently be agreeable enough to the interest of the public; but to narrow the competition must always be against it, and can serve only to enable the dealers, by raising their profits above what they naturally would be, to levy, for their own benefit, an absurd tax upon the rest of their fellow-citizens. The proposal of any new law or regulation of commerce which comes from this order, ought always to be listened to with great precaution, and ought never to be adopted till after having been long and carefully examined, not only with the most scrupulous, but with the most suspicious attention. It comes from an order of men, whose interest is never exactly the same with that of the public, who have generally an interest to deceive and even to oppress the public, and who accordingly have, upon many occasions, both deceived and oppressed it.“140
V. Zu den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen könnten, um einige wichtige zu nennen, gehören: – ein verschärftes und auch hochgradig strafbewehrtes Wettbewerbsrecht141 mit den entsprechenden Aufsichtsbehörden, die das Marktgeschehen als Ganzes überwachen, und eine strenge Wettbewerbskontrolle142 einschließlich der Zerschlagung von Monopolen,143 der Entflechtung verschachtelter Unternehmungen („Gruppen“) und des Verbots144 von Kartellen, um insbesondere die künstliche Verknappung von Gütern, machtbestimmte Einkommensvorteile und die Beseitigung offener Märkte145 ebenso zu verhindern wie die durch „rent-seeking“ und die oft dahinter stehende Lobbyarbeit drohenden Wettbewerbsverzerrungen – ein wegen seiner wettbewerbsverzerrenden Wirkungen (keine offenen Märkte) reformiertes Patentrecht: die Schutzfristen sollten gekürzt und die Möglichkeit Ebd., vol. I, book I, ch. 11, conclusion, p. 231 f. So sollten Behinderungskonkurrenz und Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht , etwa durch Kartellbildung, nicht nur mit Bußgeldern (für das Unternehmen), sondern auch als Straftaten der verantwortlichen Personen geahndet werden. 142 Siehe dazu Ernst-Joachim Mestmäcker, „Wettbewerbspolitik in der Industriegesellschaft“, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 129 (1973) 89 – 101. 143 Siehe dazu Franz Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, Neuauflage Baden-Baden: Verlag Nomos, 2010. 144 Bei einer bloßen Missbrauchsgesetzgebung läge die Beweislast bei der Kartellbehörde. 145 Zum gesamtwirtschaftlichen Einfluss von Entscheidungen seitens oligopolistischer Giganten, die für ihre Entscheidungen der Öffentlichkeit gegenüber nicht verantwortlich sind, siehe M. D. Reagan, „Business power and influence“, in: Kurt W. Rothschild (Hrsg.), (Fn. 2), 141 ff. 140 141
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von Zwangslizenzen sollte ausgebaut oder ein Kontrahierungszwang verbunden mit angemessenen Lizenzgebühren eingeführt werden, wobei dem Patentamt bei mangelndem Konsens die Festsetzung der Vertragsbedingungen obläge146 – Haftung derjenigen Personen, welche die wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen147 Das im Wettbewerb unvermeidliche Risiko ist zugleich der vielleicht wichtigste Kontrollfaktor im Wirtschaftsprozess. Haftungsbeschränkungen stellen gegenwärtig vermutlich neben Monopolen und Kartellen die größte Gefahr für eine freiheitliche Wettbewerbsordnung dar, weil durch sie besonders leicht aufgrund von Fehlentscheidungen gemachte Verluste auf Andere abgewälzt werden können, die für diese Entscheidungen gar nicht verantwortlich sind. Deshalb sind solche Gesellschaftsformen und Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu verbieten, die es ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen. Zu Recht muss daher ein besonderes Augenmerk den Aktiengesellschaften gelten.148 Dazu schrieb Eucken schon 1949: „Gegenüber der modernen Tendenz zur Haftungsbeschränkung ist es notwendig, dass Gesellschafter, die eine größere Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft besitzen, für die Schulden dieser Gesellschaft haften.“ Die persönliche Erfolgshaftung sei auch für den Vorstand einer Aktiengesellschaft geboten, sofern dieser „mit seinen Plänen und Entscheidungen für die Lenkung des Wirtschaftsprozesses verantwortlich ist.“149
– ein Unternehmensstrafrecht,wie es etwa zur Zeit in Deutschland diskutiert wird150
146 Siehe Walter Eucken (Fn. 101), 268 f.; Gernot Gather, „Reform der Patentgesetzgebung?“, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 2 (1949) 270 – 307; Friedrich A. v. Hayek, (Fn. 121),149 f.; Dean Baker, The Conservative Nanny State, (Fn. 127), 47 – 57 (mit Alternativen zum Patent- und Copyright-Schutz als Anreiz für Innovationen und Kreativität). Bei Baker findet sich in diesem Zusammenhang auch eine entsprechende Rechtfertigung der Körperschaftssteuer: „Nanny state conservatives like to describe the corporate income tax as a form of ‘double taxation’ since profit is taxed both at the corporate level and when it is paid out to individual shareholders. In reality, the corporate income tax is a voluntary tax that is a payment to the government in exchange for the privileges [„the most important of which is limited liability“] granted by corporate status. If shareholders did not feel that the value of these privileges exceeded the tax, then they would restructure corporations as partnerships, which are not subject to a separate income tax.“ (Ebd. 7). 147 Einzelheiten bei Walter Eucken (Fn. 101), 279 ff. 148 Röpke spricht von „Aktien- und Verschachtelungskapitalismus“ („Corporate Capitalism“) und „Unternehmensverfilzung“ („Holding Companies“) und plädiert für eine Beschränkung der Aktiengesellschaften auf diejenige Funktion, durch die ein so gefährliches „Geschöpf der Rechtsordnung“ allein gerechtfertigt werden könne: auf die Funktion der Kapitalsaufbringung in den Fällen, in denen die Großproduktion unvermeidlich ist“. (Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 5. Aufl., Erlenbach-Zürich: Verlag Eugen Rentsch, 1948, 369 ff.) 149 Walter Eucken (Fn. 101), 282 ff. 150 Siehe etwa den vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2013 erarbeiteten Gesetzesantrag für den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“. Der Entwurf weist darauf hin, dass Haftungsrisiken versicherbar und steuerlich abzugsfähig seien und daher das Unternehmen selbst in das Zentrum der Strafverfolgung rücken müsse. Treffend spricht der Entwurf mit
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– das Verbot bestimmter Arten von Personal-Union und eine radikale Beschränkung der Zahl individuell möglicher Aufsichtsratsposten, also Ausschaltung herrschaftsgarantierender Netzwerke von Machteliten Michael Hartmann kommt zu dem wichtigen Ergebnis, dass zwar die Reform des deutschen Erziehungswesens in den 1970er Jahren eine soziale Öffnung der höheren Schulen und Universitäten, einschließlich der Möglichkeit zu promovieren, gebracht hat, jedoch auf die Rekrutierung der Spitzenpositionen, außer in der Politik und in der Wissenschaft, bisher keine Auswirkungen hatte. Das Ergebnis lässt keinen Zweifel zu: der Prozentsatz von aus der oberen Mittelklasse und der Oberklasse stammenden Promovierten, die in Spitzenposition der Wirtschaft oder der Justiz gelangen, ist signifikant höher als der von aus der Unterklasse und unteren Mittelklasse stammenden Promovierten. Das bedeutet, dass familiäre Umwelt einen entscheidenden Faktor in Bezug auf einen solchen Aufstieg darstellt. Das gilt übrigens ebenso zweifelsfrei für Frankreich und Großbritannien. Chancengleichheit hinsichtlich der Promotion ist eines, Chancengleichheit in Bezug auf Spitzenpositionen ist ein anderes. Nach der Promotion und unabhängig von ihr unterliegt die weitere Karriere einer sozialen Selektion. Und da gilt: je höher die Position in der Wirtschaft oder der Justiz, desto höher das Gewicht des sozialen Hintergrunds,151 wobei ein Verdrängungswettbewerb von oben nach unten zu beobachten ist.152
– das Verbot, die Vertragsfreiheit zur Beseitigung von Konkurrenz oder zur vertraglichen Beschränkung der Vertragsfreiheit zu gebrauchen, und damit auch das Verbot von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die von den gesetzlichen Vorgaben zum Zwecke der Übervorteilung des Vertragspartners abweichen – strenge Anforderungen hinsichtlich der Eigenkapitaldeckung von Banken und anderen Finanzinstituten und überhaupt eine erheblich schärfere Bankenregulierung und Bankenaufsicht.153 Bezug auf bestimmte „komplexe organisatorische Unternehmensstrukturen“ von „organisierter Unverantwortlichkeit“. (S. 2) 151 Siehe dazu Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Les Éditions du Minuit, 1979 (dt.: Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/ Main: Verlag Suhrkamp, 1982). 152 Siehe Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/ Main / New York: Verlag Campus, 2002; ders., Eliten und Macht in Europa, Frankfurt/ Main / New York: Verlag Campus, 2007. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung einer Hartmann-Schülerin zeigt, allerdings beschränkt auf Nordrhein-Westfalen, eine erhebliche Verschärfung der sozialen Selektion auch im Bereich der Wissenschaft, nämlich „eine dominante [Professoren-]Rekrutierung aus gesellschaftlich geringverbreiteten hohen Gesellschaftsschichten und eine sehr geringe Rekrutierung aus breiten Bevölkerungsteilen wie die der Arbeiter“. Besonders stark ausgeprägt ist die Dominanz in der Rechtswissenschaft und der Medizin, in denen die zwischen 2001 und 2010 berufenen Professoren fast ausschließlich aus den höchsten sozialen Herkunftsgruppen stammen. Dasselbe gilt für die Juniorprofessur insgesamt. Und „Professorinnen haben tendenziell häufiger eine höhere soziale Herkunft als Professoren.“ Siehe Christina Möller, „Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger?“, in: Soziale Welt 64 (2013) 341 – 360. 153 Siehe hierzu Anat Admati / Martin Hellwig, Des Bankers neue Kleider – Was bei Banken wirklich schiefläuft und was sich ändern muss, München: FinanzBuch Verlag, 2013 (beson-
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Nicht nur die viel beschworene Leistung des Vorstandes einer Bank bestimmt deren Gewinn, sondern auch deren Verschuldung und die eingegangenen Risiken, also schlimmstenfalls das Glück des Zockers. Je höher die Verschuldung und je höher das Risiko sind – und für beides bedeuten staatliche Garantien und Subventionen sowie Vorteile aus der Unternehmensbesteuerung einen zusätzlichen und fatalen Anreiz –, desto größer ist im Erfolgsfall der Gewinn der Bank, desto größer aber im Misserfolgsfall der Verlust, wobei dieser im Falle einer Insolvenz häufig, wie sich besonders im letzten Jahrzehnt gezeigt hat, neben den Gläubigern auch die Steuerzahler trifft.154 Daher sind, bereits unabhängig von Gründen der Wettbewerbskontrolle, „too big to fail“-Unternehmen155 zu zerschlagen und zugleich ganz allgemein kleine und mittelständische Unternehmen zu unterstützen sowie deren Gründung und Entwicklung wirtschafts- und finanzpolitisch zu fördern.
VI. Eine weitere zentrale Aufgabe der staatlichen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik neben der Ordnungspolitik gilt der Verhinderung einer zu großen WohlstandsAsymmetrie.156 Diese Asymmetrie – das ist hier ausdrücklich festzustellen – muss durchaus nicht eine Folge von Marktversagen sein, sondern kann auch bei effizient funktionierenden Märkten auftreten, etwa infolge des Vorherrschens eines gleichsam hypostasierten Begriffs von Privateigentum, das angeblich der Freiheit niemals bedrohlich werden könne, weil es selber nichts als der Ausdruck von Freiheit sei. Auch die auf einem Markt mit guten Wettbewerbsbedingungen sich betätigende Freiheit führt nicht notwendig zur rechtsgesetzlichen Freiheit Aller. Diese Freiheit jedoch und sie allein ist die Richtschnur, an der alles Handeln mit seinen Folgen in ders 135 – 161). Die Autoren räumen nebenbei auch auf mit dem von interessierten Kreisen gerne geschürten Mythos, die Staatsverschuldung sei die Hauptursache für die jüngste Wirtschaftskrise und nicht etwa deren Folge, wie die Zahlen ab 2009 besonders für die Länder Irland, Großbritannien und Spanien zeigen. 154 Soweit die Insolvenz eines Unternehmens und, mehr noch, eine allgemeine Finanzkrise zugleich die gesamte Gesellschaft schädigt, bedeutet dies zugleich eine Einschränkung der allgemeinen Freiheit. Wer den so entstandenen Schaden durch sein Marktverhalten, etwa als risikofreudiger Wertpapierhändler, bewusst und gleichsam billigend in Kauf genommen hat, macht sich im Eintrittsfall der Freiheitsberaubung schuldig und sollte dafür entsprechend zur Verantwortung gezogen werden. 155 „Inzwischen sind die größten Finanzinstitute nicht nur zu groß, als dass man sie in die Insolvenz gehen lassen könnte – denn das könnte verheerende Folgen haben –, sondern möglicherweise auch zu groß, als dass der Staat sie ohne Weiteres retten könnte, denn das könnte die Steuerzahler überfordern. Große Banken und andere Finanzinstitutionen sind nach dem Wert der Aktiva bei Weitem die größten Unternehmen der Welt und wahrscheinlich auch die komplexesten.“ Anat Admati / Martin Hellwig (Fn. 153), 145. 156 Diese zeigt sich zum einen in der zunehmenden Größe der Unter- und der Oberschicht auf Kosten der Mittelschicht, zum andern in der zunehmend ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen, wie etwa die Entwicklung des Gini-Koeffizienten für das Einkommen und – nach Höhe und Steigerung erheblich mehr noch – für das Vermögen zeigt. Siehe dazu auch Thomas Piketty (Fn. 103).
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der res publica zu messen ist, also auch ein noch so „frei“ zustande gekommenes Marktergebnis. Es genügt deshalb auch nicht, darauf zu verweisen, dass Profitstreben nun einmal der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts und Privateigentum und Wettbewerb dafür notwendige Bedingungen seien. Entscheidend ist, ob die jeweiligen Wirkungen, beabsichtigt oder nicht, allgemein freiheitsdienlich oder freiheitsschädlich sind. Auch hier gilt der Primat der Politik vor der Wirtschaft. „Es darf nämlich in einem Staat, der verschont bleiben soll von der schwersten aller Krankheiten, dem Aufruhr, oder, wie es richtiger heißen dürfte, der Spaltung (Zwietracht), weder drückende Armut herrschen bei einem Teil der Bürger noch auch großer Reichtum, da beides jene Krankheiten erzeugt. Es muss also der Gesetzgeber nun für beides eine bestimmte Grenze festsetzen.“157 Soziale Verwerfungen kann eine Gesellschaft auf Dauer schwer verkraften. Eine Polarisierung der Einkommen und Vermögen führt leicht zu der ganz anderen Polarisierung zwischen einkommens- und vermögens-schwachen Bevölkerungsgruppen und anderen, von diesen eben dafür verantwortlich gemachten Bevölkerungsgruppen und letztlich zu einer Destabilisierung von Gesellschaft und Staat;158 gut als Tendenz zu erkennen an dem weiten positiven Echo auf das 2010 erschienene Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin.159 – Die Frustration mit Bezug auf das ganze politische System in Deutschland zeigte sich deutlich in den Bundestagswahlen. Zwischen 1990 und 2000 gingen etwa 80 Prozent zu den Urnen, mehr oder weniger gleich in allen Einkommensquintilen. Seitdem sank der Prozentsatz auf etwa 70. Doch interessanter ist die Tatsache, dass dieses Ergebnis durch die Abstinenz der unteren Klassen zustande kam, während sich die Wahlbeteiligung bei den höheren Klassen kaum veränderte. Je höher der soziale Status, desto höher ist die Wahlbeteiligung.
Immer wieder wird in unserer Gesellschaft die Frage aufgeworfen, ob jemand das Entgelt, das er bekommt (im Sinne von „to earn“), auch „verdient“ (im Sinne von „to merit“ oder „to deserve“). Die Antwort, das am Markt erzielte Einkommen (der Verdienst) sei eben die der Leistung (das Verdienst) angemessene Belohnung, wäre da sicherlich nicht adäquat.160 Denn der am Markt für ein Gut erzielte Preis spiegelt lediglich den Wert, den das Gut für die Nachfrager hat. Freilich ist es durchaus zweifelhaft, ob bei den horrenden Managerentgelten überhaupt ein wirklicher Marktmechanismus im Spiel ist. Eher wird man sagen dürfen, dass dieses Spiel Regeln folgt, die von den Akteuren selber, häufig im Rahmen von Überkreuzverflechtungen, gesetzt wurden.161 Was den wachsenden Reichtum der Oberklasse betrifft, so beruht er Platon, Nomoi, 5. Buch, 744 d; Übers. Otto Apelt. Siehe auch Steffen Mau, Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?, Frankfurt/ Main: Verlag Suhrkamp, 2012, 193. 159 Siehe auch Michael Hartmann, Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?, Frankfurt/ Main – New York: Verlag Campus, 2013. 160 Weder nach Verdienst, noch nach Bedürfnis ist eine „gerechte“ Verteilung möglich. Aber auch die über einen von Wettbewerbsstörungen freien Marktpreismechanismus erbrachte „Leistung“ führt nicht zu einem der republikanischen Idee angemessenen Verteilungsergebnis. Dazu bedürfte es einer Umverteilung, die sich allerdings nicht an Bedürfnissen, Verdiensten oder Marktleistungen zu orientieren hätte, sondern allein am Prinzip allgemeiner Freiheitssicherung (als regulativer Idee). 157 158
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ohnehin zu einem erheblichen Teil nicht auf wettbewerbskonformer Leistung, sondern auf leistungsunabhängigem Profit aus Finanzmarkttransaktionen und ebenso leistungsunabhängiger Erbschaft162, wobei in Deutschland die Einkommensteuer erheblich höher ist als die Erbschaftssteuer für Kinder und Enkel.163 Zunächst ist hinsichtlich der Rede von den „Leistungsträgern“ auf eine geläufige petitio principii hinzuweisen: die Leistung bzw. Produktivität wird gemessen an der Höhe des Einkommens und / oder der gezahlten Steuer, und diese Höhe wiederum wird begründet mit der Leistung.164 Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit der Höhe der Vergütung solcher „Leistungsträger“ regelmäßig außer Acht gelassen, dass in einer arbeitsteiligen Wirtschaft eine individuelle „Leistung“, etwa mit Bezug auf die Steigerung eines Unternehmensgewinns, darin dem sogenannten Werbeerfolg ähnlich, angesichts der zahllosen in Betracht kommenden Einflussfaktoren, vor allem in Gestalt der unentbehrlichen Mitarbeiter, kaum bestimmbar und daher auch nicht zurechenbar ist. Eine Steigerung des Gewinns oder des Börsenwertes eines Unternehmens lässt sich individuell gar nicht zuschreiben. Auch liegt dem Unternehmenserfolg oft gar nicht eine Leistung der Firma, sei es nun der Leitung oder der vielleicht exzellenten Facharbeiter, zugrunde, sondern ganz einfach Glück, nicht etwa das „Glück der Tüchtigen“, sondern Glück mit einer günstigen Marktlage. 161 Das übliche Argument zugunsten der Multi-Millionen-Euro-Entlohnungen für Top-Manager, es entspräche deren Produktivität, ihre Leistung sei diesen Preis wert, ist denkbar schwach. Erstens ist nicht zu erkennen, dass diese Manager um so viel produktiver sind als ihre Kollegen vor ein paar Jahrzehnten, die sich mit weit weniger begnügen mussten. Zweitens bekommen auch die Versager, wenn sie denn ausscheiden müssen, häufig millionen-schwere Abfindungen. Auch basiert der Erfolg, den man tatsächlich selber zu verzeichnen hat, oft genug keineswegs nur auf der eigenen Arbeitsleistung, sondern auf Glück, Rücksichtslosigkeit, Marktmacht etc. 162 „Wer eine gute Bildung und ein hohes Einkommen hat, erbt mit höherer Wahrscheinlichkeit und auch mehr.“ (Jens Beckert, Erben in der Leistungsgesellschaft, Frankfurt/ Main/ New York: Verlag Campus, 2013, 19). 163 So erreicht ein erbendes Kind den bei 14 % liegenden Eingangssteuersatz des Einkommensteuertarifs erst, wenn es über den Freibetrag von 400.000 Euro hinaus noch 600.000 Euro, insgesamt also 1.000.000 Euro erbt. Bei einem Jahreseinkommen von einer Million Euro kommt längst der Spitzensteuersatz von 45 % zur Anwendung. 164 „Die hier in Betracht kommende Marktleistung ist […] von einer Kombination von Faktoren abhängig, die weitgehend auf von den betreffenden Individuen nicht zu verantwortende Umstände zurückzuführen sind. Die Tatsache, daß bestimmte Leistungen knapp sind und daher einen hohen Preis erzielen, ist jeweils von der Gesamtlage abhängig. Und die Tatsache, daß bestimmte Individuen mit solchen Leistungen aufwarten können, ist von ihrer Ausstattung mit bestimmten Fähigkeiten und Hilfsmitteln abhängig, die wiederum nur zum Teil auf die eigenen früheren Aktivitäten zurückgeht. […] Alle Einkommen in einer Gesellschaft sind stets vom gesamten soziokulturellen Kontext abhängig“. Hans Albert, Traktat (Fn. 72), 149 f.; siehe auch Hans Albert, „Erwerbsprinzip und Sozialstruktur. Zur Kritik der neoklassischen Marktsoziologie“, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 19 (1968) 43 ff. Für Khurana ist die besondere Leistung von Spitzenmanagern, ihr „Charisma“, ein von diesen zielbewusst kultivierter Mythos. (Rakesh Khurana, Searching for a corporate savior: the irrational quest for charismatic CEOs, Princeton/ Oxford: Princeton University Press, 2002). Siehe hierzu auch Steffen Mau (Fn. 158), 54 ff.; 67 ff.
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Ebenso ist es ein notorischer Fehler zu meinen, Unterschiede im Einkommen und / oder Vermögen seien nur auf Differenzen in der natürlichen Begabung zurückzuführen, während doch insbesondere Vermögen häufig durch Erbschaft, Einheirat und Börsen- und Immobilienspekulation und nicht durch eigene Arbeit erworben wird. Demgegenüber gibt es auch viele Arten von wirklichen Leistungen (materielle ebenso wie immaterielle Wertschöpfungen), deren Wert für die Gesellschaft de facto nicht bestimmt bzw. berücksichtigt wird oder der sich „marktwirtschaftlich“ gar nicht oder nicht angemessen bestimmen lässt. Zwar geht die Hausarbeit einer bezahlten Haushaltshilfe, nicht aber die der Ehefrau als Beitrag zum Sozialprodukt in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein; ganz zu schweigen von deren Arbeit der Kindererziehung, also der Schaffung von unentbehrlichem Humanvermögen. Im 5. Familienbericht der Bundesregierung heißt es entsprechend: „Unterstellt man für 1990 realitätsnah ein Erwerbspersonenpotential in der früheren Bundesrepublik in Höhe von 38,7 Millionen […], dann ergibt sich unter der weiteren Annahme, daß diese Erwerbspersonen bis zu ihrem 19. Lebensjahr einen den Gegenwartsverhältnissen entsprechenden Versorgungs- und Betreuungsaufwand verursacht haben, ein Beitrag der Familien zur Humanvermögensbildung bzw. zur Bildung des volkswirtschaftlichen Arbeitsvermögens in Höhe von 15,286 Billionen DM. Demgegenüber belief sich der Wert des reproduzierbaren Sachvermögens im Jahr 1990 zu Wiederbeschaffungspreisen auf 6,9 Billionen DM.“ 165 In einem Urteil aus dem Jahr 2001 spricht das Bundesverfassungsgericht von einem Vorteil, der „Versicherten ohne Kinder im Versicherungsfall […] aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter [erwachse], die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten. Zwar werden Kinderlose mit ihren Beiträgen auch zur Finanzierung des Pflegerisikos der beitragsfrei mitversicherten Ehegatten und Kinder herangezogen. Das wiegt jedoch den Vorteil der kinderlosen Versicherten zu Lasten derjenigen nicht auf, die zur Abdeckung des Pflegerisikos aller im Alter für die zukünftigen Beitragszahler sorgen. […] Wenn aber ein soziales Leistungssystem ein Risiko abdecken soll, das vor allem die Altengeneration trifft, und seine Finanzierung so gestaltet ist, dass sie im Wesentlichen nur durch das Vorhandensein nachwachsender Generationen funktioniert, die jeweils im erwerbsfähigen Alter als Beitragszahler die mit den Versicherungsfällen der vorangegangenen Generationen entstehenden Kosten mittragen, dann ist für ein solches System nicht nur der Versicherungsbeitrag, sondern auch die Kindererziehungsleistung konstitutiv.“166 Für eine am Nutzen für die gesamte Gesellschaft gemessene Bezahlung etwa im Bereich von Betreuung und Pflege, von Erziehung und Bildung gibt es keinen „Marktmechanismus“, der zum erforderlichen Ergebnis führt.167 An Arbeitsbedarf mangelt es in Deutsch165 „Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens“, BT-Drucksache 12 / 7560, 145. Borchert zitiert in diesem Zusammenhang den bedeutenden Ökonomen des deutschen Frühliberalismus, Friedrich List, dass „derjenige, der Schweine erzieht, ein produktives Mitglied der Gesellschaft und der, der Kinder erzieht, ein unproduktives“ sei. (Jürgen Borchert, Sozialstaats-Dämmerung, München: Verlag Riemann, 2013, 45 ff.). 166 BVerfGE 103, 264 ff. 167 Siehe hierzu auch John Kenneth Galbraith, Gesellschaft im Überfluß, München / Zürich: Verlag Droemer-Knaur, 1970, 242 ff.
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land wahrlich nicht. Aber ohne staatlich finanzierte Fördermaßnahmen wird er nicht einmal akut, geschweige denn gedeckt. Dabei wird das besonders mit Bezug auf Managergehälter gerne, wenn auch nicht gerade überzeugend verwendete Argument, man müsse besondere Leistung auch besonders entgelten, beinahe trivial, wenn von einem Mediziner die Rede ist, der bereit ist, als „Landarzt“ in die Uckermark zu ziehen. Dasselbe gilt übrigens auch für Güter. Es gibt viele knappe Güter, die auf dem Markt, für den sich die Ökonomen vorrangig oder sogar ausschließlich interessieren, gar nicht gehandelt werden und daher auch keinen Preis erzielen, die aber für das Leben der Menschen und deren Gesellschaft von größter Bedeutung und daher auch von größter Verhaltensrelevanz sind – neben und oft auch vor dem in der Ökonomie allein relevanten Streben nach Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung: Freiheit, Freundschaft, geselliger Umgang, Macht, Einfluss, Ruhm, Prestige, Reputation, Anerkennung, Selbstachtung, Selbstbestätigung und vieles mehr.168
Hayek macht zu Recht geltend, dass in den auf einem freien Markt sich ergebenden Vergütungen nicht etwa ein (moralisches) Verdienst zum Ausdruck komme. Vielmehr entspreche die Markt-Entlohnung für irgendeine Leistung dem „Wert, den sie für die haben, die sie brauchen können“ oder dem „Vorteil, den wir aus der Leistung des anderen ziehen“.169 Indessen ist erstens zu fragen, wie frei denn der Markt, wie frei die jeweiligen Marktteilnehmer bei ihren Entscheidungen und wie fair die auf dem Markt herrschenden Regeln tatsächlich sind. Damit auf einem Markt ein wirklich freies „Spiel der Kräfte“ stattfindet, genügt es nicht, dass der Wettbewerb „fair“, d. h. regelkonform ist. Entscheidend ist vielmehr, dass die – selbstverständlich für jedermann gleichen – Regeln dieses Wettbewerbs selber „fair“ sind. Verfahrensgerechtigkeit liegt nicht schon vor, wenn das Marktgeschehen unter korrekter Einhaltung irgendwelcher (beliebiger) Regeln abläuft; sondern es kommen dafür nur ganz bestimmte Regeln in Betracht, nämlich solche, durch die Freiheit als Verwirklichungschance (Sen), als Möglichkeit, eigene legitime (mit der Freiheit aller anderen allgemeingesetzlich kompatible) Zwecke verwirklichen zu können, gesichert wird. Die zuweilen vorgeschlagene Unterscheidung zwischen persönlichem Zwang und Sachzwang hilft hier nicht weiter. Auch die Rede von „willigen“ Tauschpartnern (volenti non fit iniuria) ist es nicht; denn die Willigkeit, die in dem erfolgten Tausch angeblich zum Ausdruck kommt, kann überaus unfrei, gleichsam zähneknirschende Akzeptanz, sein, nichts als der Ausdruck von Markt-Ohnmacht gegenüber einer Markt-Macht, die gar keine Wahl lässt. Zwischen den Alternativen „Geld oder Leben“ und „Für-einen-Hungerlohn-Arbeiten oder Vegetieren“ ist kein wesentlicher Unterschied. Der gleiche gesicherte Rechtsstatus ist ein notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für wirkliche äußere Freiheit. Dazu gehört gleiche „Verhandlungsmacht, bestimmt nach einigermaßen gleichen Kosten der Nichtkooperation“.170 168 Siehe Hans Albert, Erwerbsprinzip (Fn. 164), 36. Albert zeigt dort überdies, dass mit der in der neoklassischen Theorie der Unternehmung zentralen Annahme der Gewinnmaximierung drei für das Unternehmerverhalten bestimmende Problemkreise unzulänglich behandelt werden: Motivation, Information, sozialer Kontext. (Ebd. 43 ff.) 169 Friedrich A. v .Hayek (Fn. 32), 118 f.
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Zur Vernachlässigung der Machtproblematik in der ökonomischen Theorie schreibt Rothschild: „Reference to and treatment of power problems are ingredients of economic studies, but this is almost completely restricted to a narrowly defined economically hyphenated power, in particular monopoly power and bargaining power in goods and labor markets. This means it is restricted to specific and immediately market- and price-relevant power phenomena which can be easily endogenized into a theory of competitive markets as deviations from perfect competition. But many power phenomena reaching beyond the immediate price formation processes are connected with the economic sphere. Power can be and is used in fighting for profitable positions in the market and for maintaining them, for influencing the framework which determines the working of market mechanisms, and power is also important as an aim of economic activity.”171 Die Wirtschaftswissenschaft hat sich zwar unter Verzicht auf normative Aussagen auf die Beschreibung und Erklärung der sozialen Wirklichkeit, wie sie ist, zu beschränken, in dieser Hinsicht allerdings ihren Begriff von sozialer Wirklichkeit über das angeblich rein Ökonomische zu erweitern,172 auch wirtschaftlich relevante Aktivitäten zu berücksichtigen, die außerhalb des Marktes stattfinden, und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Marktmacht der Akteure überaus ungleich verteilt ist.
Wichtiger noch ist zweitens der Hinweis darauf, dass auch eine freie und fair geregelte Marktwirtschaft für ihre Legitimität die Konformität mit der Idee des ursprünglichen Vertrages benötigt und also an die oben genannten Grundrechte gebunden ist. Wenn der Unternehmer A den X, Y, Z für die von ihm nachgefragte Arbeit einen Stundenlohn von 5,50 Euro offeriert, so werden diese bei mangelnder Angebotselastizität vermutlich in den Handel einwilligen,173 und zwar „frei“, denn A „zwingt“ sie zu nichts.174 Wohl aber sind sie in der unter dem Schutz einer staatlichen Rechtsordnung stehenden Marktwirtschaft gezwungen, das zu unterlassen, was sie im vertraglosen Naturzustand durchaus tun könnten und rechtlich (!) auch dürften: das zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts nötige Geld, wenn sie stark genug wären, dem A bzw. B gewaltsam zu nehmen. Das Marktverhältnis zwischen A und X, Y, Z mit dem daraus resultierenden Ergebnis wird durch den Staat sanktioniert, aber es widerspricht der Idee des ursprünglichen Vertrages.175 In dieser Idee ist auch die Begründung für einen gesetzlichen Mindestlohn zu suchen. 170 Reinhard Zintl, „Marktwirtschaft und Gerechtigkeit. Die Perspektive der Politikwissenschaft“, in: Viktor J. Vanberg (Hrsg.), (Fn. 119), 234. 171 Kurt W. Rothschild, „The absence of power“ (Fn. 2), 433. 172 „What is perhaps needed [… is …] a simple change of perspective, a deliberate revision of the fundamental economic approach. A change that radically does away with the distinctions between economic, political and sociological angles.“ Hans Albert „The neglect of sociology in economic science“, (Fn. 2), 30. 173 Dem Lohnwucher entspricht der Wucherzins für einen Bankkredit bei mangelnder Nachfrageelastizität. 174 Eine sehr gute Beschreibung und Analyse einer solchen Vertragssituation im Rahmen einer Kritik an Buchanans „Ökonomismus“ bei Wolfgang Kersting, Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt: Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994, 342 ff.
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Und schließlich ist drittens mit Blick auf den besonders von „Marktliberalen“ so gerne bemühten, freilich überaus fragwürdigen Begriff der „Leistungsgerechtigkeit“ daran zu erinnern, dass dafür keineswegs nicht nur das auf das bloße Marktgeschehen bezogene (inzwischen übrigens als äußerst problembeladen erkannte) Kriterium der sogenannten ökonomischen Effizienz, gemessen durch den Erfolg am Markt (Markteinkommen), in Betracht käme, sondern auch das auf das Gemeinwesen bezogene Kriterium der sozialen Funktion.176 Der Slogan „Leistung muss sich wieder lohnen“ ist leerlaufend. Denn Leistung, als die Kombination aus dem in das Arbeitsergebnis eingebrachten Arbeitseinsatz und dem wahren Wert (nicht: Marktwert!) dieses Ergebnisses, lässt sich schlechterdings nicht messen. Setzt man dagegen Leistung mit Erfolg als Ergebnis von Marktprozessen gleich, bekommt jemand also zu Recht sein Geld, weil er es bekommt, dann rechtfertigt sich das Einkommen durch sich selbst. Wir haben es hier mit einer Modifikation des Arguments vom „Recht des Stärkeren“ zu tun, das schon von Rousseau ad absurdum geführt wurde.177
Als Maßnahmen zur Verhinderung einer zu großen Wohlstands-Asymmetrie178 kommen in Betracht:179 175 Das entscheidende Merkmal des darin zum Ausdruck kommenden Willens ist, dass er den Willen von jedermann der Möglichkeit nach notwendig einschließt, dass also jeder dem Vertragsinhalt notwendig zustimmen kann. Zwar ist es möglich, dass X, Y, Z einem staatsgründenden Vertrag zustimmen, durch den es nicht ausgeschlossen wird, in ihrer Freiheit von A nach dessen Belieben beschränkt zu werden. Aber es ist nicht notwendig möglich; denn sie können auch nicht zustimmen, ohne mit ihrem eigenen Wollen in Widerspruch zu geraten. Einem Vertrag hingegen, der ihnen ihre Freiheit unter allen Umständen garantiert, können sie notwendig zustimmen; denn es ist ausgeschlossen, dass sie unmöglich zustimmen können, weil sie nämlich mit einer Zustimmung unmöglich mit dem eigenen Wollen in Widerspruch geraten können. 176 Die „republikanische“ Wichtigkeit des zweiten Kriteriums wird unmittelbar einsichtig, wenn man das mit keinerlei sozialer Funktion verbundene exorbitante Markteinkommen eines Hedge-Fonds-Zockers in Relation setzt zu dem Markteinkommen einer Krankenschwester oder eines Grundschullehrers. Der erste Artikel der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 statuierte : „Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.“ 177 Siehe J. J. Rousseau, Du contrat social, livre I, chap. 3. Ähnlich steht es mit Hayeks Rede von der „natürlichen Auslese der Tüchtigsten im freien Wettbewerb“ (Friedrich A. v. Hayek (Fn. 120), 208). Sie ist entweder tautologisch: die Tüchtigkeit zeigt sich in der Auslese. Oder sie ist empirisch ziemlich falsch bzw. verengt auf Markterfolg: viele Tüchtige haben wenig oder keinen Markterfolg und viele am Markt Erfolgreichen sind es nicht wegen besonderer Tüchtigkeit. Vielleicht wurde Hayeks berechtigte Sozialismuskritik ihm zur Obsession, die ihn an einer eben solchen Kritik der Defizite der real existierenden Marktwirtschaft hinderte. 178 Selbstverständlich stehen diese Maßnahmen unter dem Vorbehalt, dass sie nicht ihrerseits den freien Wettbewerb als Steuerungsinstrument beeinträchtigen oder kontraproduktive Wirkungen haben. So wurde in Deutschland aus Furcht vor der Abwanderung von Produktionsfaktoren bei gesteigerter Mobilität der Satz für die Körperschaftssteuer, der 1989 bei 56% und 2000 noch bei 40% gelegen hatte, zunächst auf 25% und 2008 auf 15% gesenkt. 179 Siehe zum Folgenden auch: Hagen Krämer, „Spitzeneinkommen zwischen ökonomischem und normativem Marktversagen. Marktorientierte und soziale Legitimation von Topma-
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– die Abschaffung des unbeschränkten Erbrechts180 Man kann sehr wohl das Erbrecht als Teil des Eigentumsrechts anerkennen und dennoch, wie bezüglich des Eigentums überhaupt, seine Ausgestaltung dem positiven Gesetzgeber überlassen, der sich seinerseits an Freiheitsprinzipien und an den dem Staat daraus erwachsenden Aufgaben zu orientieren hätte. Nicht um eine Stärkung staatlicher Macht durch Schwächung konkurrierender Privatmacht geht es dabei, sondern um die Förderung und Stärkung einer republikanischen Grundrechtsordnung. Die Vererbung von politischer Macht ist seit langem abgeschafft, die Vererbung von ökonomischer Macht hingegen nicht. Und doch stellt auch jede Art von ökonomischer Macht, selbst da, wo sie nicht bereits durch ihre pure Größe wettbewerbsverzerrend ist, eine Gefahr für die res publica dar.181 So führen etwa die durch Vermögensvererbung bewirkten und häufig generation-übergreifend reproduzierten Reichtumsunterschiede182 zu einer über die unabwendbare natürlich bedingte Ungleichheit hinausgehende und durchaus reduzierbare positiv-rechtlich bedingte Ungleichheit, so dass die Ärmeren de facto nicht die Möglichkeit haben, dorthin zu gelangen, wohin sie ihr Talent, Fleiß und Glück an sich führen könnten. Beide Arten von Ungleichheit „Zufälle der Geburt“ zu nennen, ist schlicht Irreführung. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die erste von allem menschlichen Wollen völlig unabhängig und unabänderlich ist und weder auf einem Recht beruht, noch ein solnager-Gehältern“, in: Hochschule Karlsruhe, Diskussionsbeiträge aus der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, 1 / 2013, 1 – 25. – Persson und Tabellini kommen zu dem Ergebnis, dass Einkommens-Ungleichheit wirtschaftliches Wachstum behindert. Dieses sei „largely determined by the accumulation of capital, human capital and knowledge usable in production. The incentives for such productive accumulation hinge on the ability of individuals to appropriate privately the fruits of their efforts, which in turn crucially hinges on what tax policies and regulatory policies are adopted. In a society where distributional conflict is more important, political decisions are likely to result in policies that allow less private appropriation and therefore less accumulation and less growth.” Torsten Persson / Guido Tabellini, „Is inequality harmful for growth?“, in: American Economic Review 3 / 1994, 600. 180 Siehe zum Thema insgesamt Jens Beckert, Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts, Frankfurt/ Main / New York: Verlag Campus, 2005. Radikale Vorschläge finden sich auch bei den Ordoliberalen Alexander Rüstow (Fn. 98), 146 ff.; Wilhelm Röpke (Fn. 148), 297 ff.; 306; 363. Interessanterweise und übrigens zu Recht verwies in der Bundestagsdebatte vom 14. Juni 1996 ausgerechnet Barbara Höll von der PDS für ihre Forderung nach Einführung einer Nachlasssteuer auf den Ordoliberalen Walter Eucken. Siehe ferner bereits die Erbrechtsdebatte in der französischen Nationalversammlung von 1791 und besonders die Beiträge von Mirabeau und Robespierre (dazu Jens Beckert, Ebd., 44 f.; 348 f.). – Hayeks Argumente zugunsten des Erbrechts sind erstaunlich schwach und wohl eher biographisch zu erklären: Die private Vererbung von Vermögen sei wesentlich für eine „weite Streuung des Kapitalbesitzes“ und als „Ansporn zur Kapitalbildung“; überdies sei für die Weitergabe von „Kulturgut“ auch „eine gewisse Kontinuität des Lebensstandards und der äußeren Lebensformen wesentlich“. (Friedrich A. Hayek (Fn. 32), 110 f.). 181 In der Verfassung Bayerns (von 1946) heißt es in Art. 123 Abs. 3: „Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.“ Diese Bestimmung wurde allerdings durch Grundgesetz Art. 105 Abs. 2 und die auf dieser Grundlage ergangenen Bundesgesetze weitgehend gegenstandslos. Zur vagen Formulierung des Grundgesetzes siehe oben Fn. 128. 182 Siehe dazu Jens Beckert, „Lachende Erben? Leistungsprinzip und Erfolgsorientierung am Beispiel der Eigentumsvererbung“, in: ders., (Fn. 162), 65 ff.
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ches verleiht, während die zweite vollständig vom Erwerbs- und Vererbungswillen des Erblassers (bzw. vom positiven Gesetzgeber) abhängt und sowohl auf einem (Eigentums-) Recht (des Erblassers) beruht, als auch ein (Eigentums-)Recht (des Erben) verleiht. Auch ist der biologische Vorteil als solcher nur eine erst noch durch eigene Bemühung zu realisierende Möglichkeit, während der mit einer Erbschaft gegebene Vorteil bereits die mühelos realisierte Möglichkeit darstellt. Zu Recht heißt es in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 nicht einfach, alle Menschen seien gleich geboren, sondern „gleich an Rechten“. Dem steht das Erbrecht und ganz besonders, wie etwa in Deutschland, das Pflichtteilsrecht entgegen. Um zumindest exorbitante Ungleichheiten zu beseitigen, könnten beispielsweise Erbschaften von Kindern auf einen Maximalbetrag von zwei Millionen Euro183 pro Person184 beschränkt werden. Außerdem könnte man einen Nachlass ab zehn Millionen Euro mit einer drakonischen Steuer belegen,185 wenn er nicht überhaupt an die res publica fällt, die ihrerseits mit dem Erlös186 die Kinder der unteren Schichten, soweit sie nichts zu erben haben, alimentieren und im übrigen entweder weitere ihrer Aufgaben finanzieren oder aber die Sätze für andere Steuern, besonders für die Umsatzsteuer und andere Verbrauchssteuern, senken könnte. Es wäre aber auch die – vermutlich nicht sehr populäre187 – Anregung zu erwägen, den Erbanfall pro Kind auf 250.000 Euro pro zu beschränken. Das würde zumindest der Mittelschicht, insbesondere im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht, ermöglichen, Kinder hinsichtlich deren nach wie vor selbst zu erbringenden Leistung zu unterstützen. Allerdings ist zu bedenken, dass es sich angesichts der steigenden Altersgrenzen in den meisten Erbfällen gar nicht um unterstützungsbedürftige Kinder, sondern um Erwachsene, eher sogar ältere, handelt. Sehr ernsthaft käme daher auch der Vorschlag in Betracht, zum Zwecke der – für ein gutes Funktionieren einer freien Marktwirtschaft wesentlichen – Herstellung möglichst großer Gleichheit der Startchancen jedem Staatsbürger bei Eintritt ins Erwachsenenalter eine bestimmte Summe (z. B. 100.000 Euro) in Form einer Treuhänderschaft zur freien Verfügung zu stellen, die am Lebensende mit Zinseszinsen aus der Erbschaft, soweit vorhanden, zurückzuzahlen wäre.188 183 Gelänge es der Person, 3% Rendite aus diesem geerbten Vermögen zu erzielen, so wären das jährlich 60.000 Euro arbeitsloses Einkommen. Lebte sie von der Substanz, so ständen ihr 40 Jahre lang 50.000 Euro jährlich zur Verfügung. 184 Für eine Beschränkung dieser Art schon der Liberale John Stuart Mill, Principles of Political Economy, book II, ch. 2, § 4. 185 Dabei wäre u. a. sicherzustellen, dass besonders die Weiterführung kleiner und mittlerer Unternehmen dadurch nicht gefährdet würde. 186 An eine Übernahme von Unternehmen durch staatliche Hand ist hier nicht gedacht. 187 Flach sprach von der Schwierigkeit, die „in gewissen Bewusstseinssperren bei den Massen [bestehe], die sich, wenn sie nur einen Schrebergarten besitzen, schon in Solidarität mit den Milliardären in Abwehr aller Anschläge gegen ‚Eigentum und Erbrecht‘ wähnen.“ (KarlHermann Flach, Noch eine Chance für die Liberalen Oder: Die Zukunft der Freiheit, Frankfurt/ Main: Verlag Fischer, 1971). Der Autor war damals Generalsekretär der FDP. Deren sogenannte „Freiburger Thesen“ tragen seine Handschrift. Mit seinem frühen Tod 1973 begann der von Flach vertretene radikale Liberalismus innerhalb der FDP langsam, aber unaufhaltsam hinzusiechen, bis zuletzt rein gar nichts mehr davon zu erkennen war. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Flachs Streitschrift längst vergriffen ist und die FDP eine Neuauflage offensichtlich nie betrieben hat.
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In seiner einflussreichen Rede zur Lage der Nation von 1906 erklärte der US-amerikanische Präsident Theodore Roosevelt mit Bezug auf die von ihm angestrebte progressive Erbschaftssteuer: „in my judgement the pro rata of the tax should increase very heavily with the increase of the amount left to any one individual after a certain point has been reached. It is most desirable to encourage thrift and ambition, and a potent source of thrift and ambition is the desire on the part of the breadwinner to leave his children well off. This object can be attained by making the tax very small on moderate amounts of property left; because the prime object should be to put a constantly increasing burden on the inheritance of those swollen fortunes which it is certainly of no benefit to this country to perpetuate”. 189 Ähnlich argumentierte 1935 Präsident Franklin D. Roosevelt in einer Rede an den Kongress: „The desire to provide security for one’s family is natural and wholesome, but it is adequately served by a reasonable inheritance. Great accumulations of wealth can not be justified on the basis of family and personal security. In the last analysis such accumulations amount to the perpetuation of great and undesirable concentration of control in relatively few individuals over the enjoyment and welfare of many, many others. Such inherited economic power is as inconsistent with the ideals of this generation as inherited political power was inconsistent with the ideals of the generation which established our Government.” 190 Es war dann Präsident George W. Bush, der die 1916 eingeführte Nachlasssteuer 2010 abschaffte.191
– Beschränkung des Höchstverdienstes in einem Unternehmen auf ein x-faches des niedrigsten Verdienstes192 Je geringer also die Entlohnung der niedrigst bezahlten Arbeitskräfte wäre, desto geringer wäre auch die Entlohung des Managements. Laut Krämer193 hatten die Carl-Zeiss-Werke in Jena in ihrem Statut von 1896 (!) festgelegt, dass das Einkommen der Führungskräfte das mittlere Arbeitereinkommen in der Firma nicht um mehr als das Zehnfache übersteigen dürfe.194
188 Siehe dazu die wohldurchdachte Vorlage von Bruce Ackerman / Anne Alstott, Die Stakeholder-Gesellschaft. Ein Modell für mehr Chancengleichheit, Frankfurt/ New York: Verlag Campus, 2001. 189 Zit. nach Jens Beckert (Fn. 180), 210. 190 Zit. nach Jens Beckert (Fn. 180), 224. 191 Sie betrug 2009 45% bei einem Freibetrag von 3,5 Millionen Dollar. Unter Franklin D. Roosevelt betrug sie 1933 60% bei Nachlässen über 10 Millionen Dollar. 1935 wurden zwei weitere Progressionsstufen bei 20 und bei 50 Millionen Dollar eingeführt; bei der zweiten betrug der Steuersatz 70 %. 1940 schließlich stieg der Satz auf 77% und war schon ab 10 Millionen Dollar Nachlasswert fällig. Siehe Jens Beckert (Fn. 180), 225 ff. 192 Sollte diese Maßnahme als nicht-marktkonform nicht in Betracht kommen, kann man auch die Managergehälter, obwohl ihrerseits kaum marktkonform zustande gekommen, bei ihrer Höhe belassen und dann die Steuer auf Einkommen ab fünf Millionen Euro progressiv, beginnend bei 75 Prozent, festsetzen. 193 Hagen Krämer (Fn. 179), 14. 194 Platon dachte an das Vierfache (siehe Platon, Nomoi, 5. Buch, 744 d). Dass im November 2013 bei einem Referendum in der Schweiz zwei Drittel der Teilnehmer die Begrenzung des Maximalgehalts von Spitzenmanagern auf das Zwölffache eines einfachen Arbeiterlohns abgelehnt haben, ist wohl nicht nur auf die Erklärung der Wirtschaftsverbände zurückzuführen, dass im Falle einer Annahme der Initiative sich große Konzerne aus der Schweiz zurück-
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Das Statut verbot notabene auch vom Unternehmensgewinn abhängige Vorstandsbezüge, also Boni. Gewinnsteigerung ist genau die Aufgabe, für die ein Manager sein – zumeist recht hohes – Salär bekommt. Für eine zusätzliche Belohnung durch einen sogenannten Bonus lässt sich kein guter Grund nennen. Es wäre so, als bekäme ein Chirurg einen Bonus, wenn er nicht nur operierte, sondern darüber hinaus auch noch erfolgreich. Der stets, wenn auch oft ohne Überzeugungskraft als Grund ins Feld geführte „Leistungsanreiz“ hat als Kehrseite der Medaille eine regelmäßig damit verbundene erhöhte Risikobereitschaft, vor allem dann, wenn der Betreffende für eine negative Erfolgsquote weder mit einem Malus bestraft wird noch gar persönlich haftet.195 Die letzten zwei Jahrzehnte haben dafür hinreichend Anschauungsmaterial geliefert. Auch von einfachen Versicherungsvertreternoder Bankberatern weiß man seit langem, dass sie, soweit ihr Einkommen an die Erfolgsquote gebunden ist, ihr Handeln nur noch an dieser und nicht mehr am Interesse der Kunden ausrichten. Übrigens beruht, wie Michael Hartmann gezeigt hat, die übliche Rechtfertigung von Topmanager-Gehältern mit dem Hinweis auf die Gefahr, dass diese sonst ins Ausland abwandern würden, auf einem Mythos. Nimmt man die acht Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, USA, Japan und China zusammen, dann beträgt der Anteil der Ausländer unter den Vorstandsvorsitzenden der jeweils 100 größten Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen nicht mehr als 5 Prozent. Lässt man diejenigen mit derselben Muttersprache und demselben oder sehr ähnlichem kulturellen Hintergrund (wie etwa Österreicher und Deutsch-Schweizer im Falle Deutschlands) außer Betracht, dann sinkt der Anteil auf 2 Prozent. Bei den einfachen Vorstandsmitgliedern ist das Maß an Transnationalität noch geringer. Hauptgrund dafür dürfte die „ungebrochene Dominanz der traditionellen nationalen Karrieremuster und -systeme mit all ihren oft bereits seit langen Jahrzehnten gültigen Regeln“ sein. Hartmann kommt zu dem Ergebnis, dass „die Begründung der hohen Managergehälter mit den Gesetzen des transnationalen Marktes für Spitzenmanager nach wie vor mit der Realität nicht viel zu tun hat. Sie dient ganz eindeutig vor allem dem Zweck, diese auf veränderten gesellschaftlichen Machtverhältnissen beruhenden, exorbitanten Einkommen öffentlich zu rechtfertigen.“196 Mehrfachmandatsträger in Vorständen und Aufsichtsräten sowie unter Mehrheitsaktionären und die vielfachen Überkreuzverflechtungen sind ein sichtbarer Ausdruck dieser Machtverhältnisse.
– durchgreifende Steuerprogression197 in Bezug auf Einkommen198 aus Arbeit, Kapital und Erbschaften und auf Vermögen199 bei gleichzeitiger Senkung der Sätze ziehen könnten, was zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten führen würde. Die Ablehnung lässt auch an die in Fußnote 187 angeführte Bemerkung von Flach denken. 195 Siehe dazu mit Bezug auf Finanzinstitute Anat Admati / Martin Hellwig (Fn. 153), 200 ff. 196 Siehe Michael Hartmann, „Die transnationale Klasse – Mythos oder Realität?“, in: Soziale Welt, 60 (2009) 285 – 303 (300). 197 Vehement dagegen Friedrich A. v. Hayek, „Die Ungerechtigkeit der Steuerprogression“, in: Schweizerische Monatshefte, 36 (1952) 508 – 517. 198 Eine abweichende Behandlung ist für Unternehmensgewinne denkbar, soweit diese reinvestiert werden. 199 Zum Recht und zur bedingten Pflicht des Staates, auch Vermögen zu besteuern, sehr lesenswert das bereits vor fast zwanzig Jahren abgegebene Sondervotum von Ernst Wolfgang Böckenförde zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1995 (BVerfG, 22. 06. 1995 – 2 BvL 37 / 91).
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für bestimmte indirekte Steuern, sowie anstelle eines beitragsfinanzierten ein steuerfinanziertes Sozialabgabensystem zugunsten der Bezieher unterer Einkommen und kinderreicher Familien bei progressiver Beteiligung aller Einkommensbezieher. Einer im Februar 2014 veröffentlichten Studie des Internationalen Währungsfonds200 zufolge schaden große Einkommensunterschiede sogar dem Wirtschaftswachstum. Eine maßvolle Politik der Umverteilung könne dagegen für die ökonomische Entwicklung förderlich sein. Von interessierter Seite, aber auch von den Medien wird nun freilich immer wieder die Behauptung verbreitet, die einkommensstärksten 10 Prozent der Steuerpflichtigen trügen ohnehin bereits die Hälfte des Steueraufkommens. Doch tragen sie nur gut die Hälfte des Einkommensteueraufkommens, das seinerseits 2012 nur ein gutes Drittel des gesamten Steueraufkommens betrug, während der Anteil der bekanntlich überproportional von den unteren Klassen gezahlten indirekten Steuern etwa die Hälfte ausmachte. Zugleich strichen 2009 allein jene oberen 10 Prozent etwa 35 % des Gesamteinkommens ein. Der Spitzensatz bei der Einkommensteuer, der von 1948 bis 1953 in der alten Bundesrepublik bei 95 % (ab 250.000 DM) lag, sank seitdem stetig bis 2005 auf 42% (ab 52.000 Euro). 2007 wurde dann zusätzlich die so genannte „Reichensteuer“ mit 45 % (ab 250.000 Euro) eingeführt. Diese Steuersätze spiegeln allerdings nicht die Realität wieder. So verzeichneten die Einkommensmillionäre (12.400 Steuerpflichtige) 2009 ein Bruttoeinkommen von insgesamt etwa 34 Milliarden, für die sie etwa 11 Milliarden Steuern zahlten. Das ist ein effektiver Steuersatz von 32 %. Bei einem Satz von 45% wären es über 4 Milliarden mehr an Steuern gewesen. Die notorische Behauptung, eine stärker progressive Besteuerung der „Super-Reichen“ bringe nur „peanuts“, stellt bestenfalls eine Schutzmaßnahme dar. Mit diesen „peanuts“ könnte z. B. der Bundeshaushalt für Bildung und Forschung, gegenwärtig etwa 14 Milliarden, erheblich erweitert werden. Auch gibt es keinen zwingenden Grund, den Satz auf 45 % zu begrenzen.201 Speziell mit Bezug auf die Einkünfte aus Kapitalvermögen ist zu sagen, dass der einheitliche Steuersatz von 25 % (Abgeltungssteuer) den effektiven Steuersatz besonders der Bezieher von Einkommen über 100.000 Euro stark senkt. „Zwischen 2008 und 2009 führte die Einführung der Abgeltungsteuer zu einer Reduzierung der in den Einkommensteuererklärungen nachgewiesenen Einkünfte aus Kapitalvermögen um über zwei Drittel.“202 Die Bezieher von Kapitaleinkünften zwischen 100.000 und 1.000.000 Euro versteuerten 2009 insgesamt nur 850 Millionen mit persönlichem Steuersatz, dagegen 5,2 Milliarden mit 25% Abgeltungssteuer; bei den Beziehern von Einkünften über 1 Million waren die entsprechenden Zahlen 550 Millionen bzw. 4,3 Milliarden.203 Ein vernünftiger Grund für die de facto höhere Besteuerung von Einkommen aus Arbeit im Vergleich zu arbeitslosem Einkommen lässt sich wohl schwerlich angeben.
200 International Monetary Fund, Research Department: „Redistribution, Inequality, and Growth“, Prepared by Jonathan D. Ostry, Andrew Berg, Charalambos G. Tsangarides, Authorized for distribution by Olivier Blanchard, February 2014. 201 Quellen: Statistisches Bundesamt, Jährliche Einkommensteuerstatistik (für 2009), Wiesbaden 2013, 7 ff. 202 Ebd., 17. 203 Ebd., 19.
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2008 besaßen die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung 1% des gesamten Nettovermögens, die obere Hälfte 99 %, davon die Haushalte im 6. bis 9. Dezil zusammen 46% und die (etwa 4 Millionen) Haushalte (mit etwa 8 Millionen Personen) im obersten Dezil 53 %. Der Anteil dieses Dezils war seit 1998 kontinuierlich gewachsen, und zwar auf Kosten aller anderen Dezile, und steigt seitdem weiter. 204 Der Stundenlohn, den eine Person bekommen müsste, um sich das (steuerfreie) Durchschnittsvermögen der zehn reichsten Deutschen (ca. 10 Milliarden Euro) zu verdienen, liegt, würde diese Person 40 Jahre lang an 230 Tagen pro Jahr jeweils 8 Stunden arbeiten, bei ungefähr 150.000 Euro; wohlgemerkt: Stundenlohn! Die deutsche Bundeskanzlerin hat etwa 200.000 Euro als Jahreseinkommen. Da drängt sich der Gedanke an die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer unvermeidlich auf.205 Das gesamte Realvermögen des privaten Haushaltssektors lag in Deutschland 2012 bei etwa 11 Billionen Euro.206 Würde nun das Vermögen des obersten Dezils, also etwa 6 Billionen, und zwar nur zur Hälfte, also 3 Billionen, mit 1% besteuert, dann wäre das Ergebnis ein Steuerertrag von 30 Milliarden Euro, ein Zehntel des Bundeshaushalts und erheblich mehr als darin der Etat für „Verkehr, Bau und Stadtentwicklung“. Etwa der gleiche Betrag ergäbe sich auch, wenn man nur das Vermögen der 100 reichsten Deutschen besteuerte, allerdings mit 10 %.207
Die Abschöpfung von exorbitanten Einkommens- bzw. Vermögenszuwächsen muss übrigens durchaus nicht zu einer unmittelbaren Umverteilung führen, indem das Abgeschöpfte etwa den unteren Sozialklassen gegeben wird. Vielmehr könnte es, ohne dafür das Mittel des „deficit spending“ einzusetzen, für die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben im Verein mit damit zugleich möglicher Senkung staatlicher Schulden verwendet werden, insbesondere für jene Aufgaben, die auf die Sicherstellung der Möglichkeit für jedermann zielen, sein Leben unabhängig von der nötigenden Willkür eines Anderen,208 also frei nach seinem Gutdünken zu gestalten.209 204 Quelle: Vierter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. XII; siehe hierzu auch Steffen Mau (Fn. 158), 77 ff.; ferner Erich Preiser (Fn. 103). 205 Siehe dazu Thomas Piketty (Fn. 103), besonders 515 ff. 206 Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bundesbank, Vermögensbilanzen 1991 – 2012. 207 „Note that there is no reason why the tax rate on fortunes above 5 million euros should be limited to 2 percent. Since the real returns on the largest fortunes in Europe and around the world are 6 to 7 percent or more, it would not be excessive to tax fortunes above 100 million or 1 billion euros at rates well above 2 percent. […] If a more ambitious goal is preferred – say, to reduce wealth inequality to more moderate levels than exist today (and which history shows are not necessary for growth) – one might envision rates of 10 percent or higher on billionaires.“ Thomas Piketty (Fn. 103), 529 f. Piketty weist freilich selber zu Recht darauf hin, dass es sich jedenfalls um eine Europa-weite Steuer unter entsprechend veränderten politischen Institutionen Europas handeln müsste, soll die Maßnahme nicht durch Steuerhinterziehung, vor allem in Form von Steuerflucht, um ihre Wirkung gebracht werden. 208 Siehe RL 06.237. Das Grundgesetz spricht in Art. 2 von freier Entfaltung der Persönlichkeit, nicht etwa des Kapitals. 209 Hauptaufgabe des Staates wäre es diesbezüglich, das notorisch nachrangig behandelte Wachstum des Humankapitals auf allen Entwicklungsebenen zu fördern, schon zwecks Ver-
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In Artikel 22 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ Es wäre ein notwendiger und entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem freiheitlichen und in diesem Sinne sozialen Rechtsstaat. Maßstab für Entwicklung und Fortschritt in einer res publica ist die Zunahme an (negativer und positiver) Freiheit für jedermann. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts, der Anstieg des Durchschnitts- und des Median-Einkommens, technischer Fortschritt und Industrialisierung: all dies kann, als Mittel zum Zweck, von großer Bedeutung für jene Zunahme sein. Aber stets geht es um diese.210 Dass allgemeine individuelle Freiheit für den etwa am Bruttosozialprodukt gemessenen Wohlstand förderlich ist, gibt ihr nur einen relativen Wert; ebenso haben das Bruttosozialprodukt und sein Wachstum, die man ohnehin nicht mit Wohlstand der Gesellschaft211 identifizieren sollte, nur einen relativen Wert, nämlich weil bzw. insoweit sie der allgemeinen individuellen Freiheit dienlich sind. Darüber hinaus aber hat diese Freiheit einen absoluten Wert; sie ist der Endzweck einer res publica und damit Richtschnur und Norm für alles, was in dieser geschieht.212 meidung eines neuen Pauperismus mit allen seinen schrecklichen und sozial gefährlichen Folgen. 210 Zum Zusammenhang von Freiheit als Zweck und als Mittel und zu seiner Bedeutung mit Bezug auf Wirtschafts- und Sozialpolitik siehe Amartya Sen (Fn. 60). 211 Deshalb muss man, wenn von Entwicklung und Fortschritt die Rede ist, an etwas mehr denken, als bloß an Bruttosozialprodukt oder Beschäftigungsgrad, etwa an Gesundheitswesen, Bildungswesen, Wissenschaften und Künste, Kriminalitätsbekämpfung, Umweltschutz, soziale Kosten, „Lebensqualität“ der Bürger und immateriellen Wohlstand. Mit bloßen Nutzenüberlegungen kommt man hier nicht weiter. Deswegen ist keine Spielart von Utilitarismus geeignet, die hier gestellten sozialpolitischen Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Siehe dazu Lionel Robbins, „Interpersonal comparisons of utility“, in: The Economic Journal, 48 (1938); Gunnar Myrdal (Fn. 33); Amartya Sen, „Utilitarianism and Welfarism“, in: The Journal of Philosophy, 76 (1979) 463 – 489. 212 Selbstverständlich darf und soll der ökonomische (sozialwissenschaftliche) Fachmann Einwände sozialtechnologischer Art gegen ordnungspolitische Vorhaben machen, indem er zeigt, dass diese nicht die gewünschten Wirkungen haben oder sogar das Gegenteil bewirken werden. Aber er kann nicht als ein solcher Fachmann die in der Ökonomie etwa gemachten Voraussetzungen (Gleichgewicht, Pareto-Optimum, Effizienz, Vollbeschäftigung, Wachstum usw.) als Werte in Konkurrenz zu jener Norm stellen. Zur generellen Kritik an der neoklassischen „reinen Ökonomie“ mit ihrem utilitaristischen Ansatz und damit an der „Idee der Maximierung des kollektiven Nutzens oder der Bedürfnisbefriedigung aller Mitglieder der Gesellschaft“, am Begriff des Sozialprodukts (als Ausdruck eines angeblichen Gemeinwohls oder Gesamtinteresses) und der damit verbundenen Vernachlässigung gesellschaftlicher Interessenkonflikte, an der Idee des pareto-optimalen Gleichgewichts, an der Voraussetzung einer gegebenen Einkommensverteilung und der Nicht-Berücksichtigung externer Effekte siehe das sowohl wissenschaftstheoretisch als auch sozialwissenschaftlich überzeugend argumentierende Kapitel: „Die Anatomie des Wohlstandes und die Wirtschaft“, in: Hans Albert, Traktat
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Summary 1. The first section concerns the relationship between economics as an empirical social science and social philosophy as a norm setting business; and the necessity for economic and social policy to take this relationship into account in order to decide what actually the issue at stake is. 2. Therefore, the first question that has to be settled is according to which principles a commonwealth and its economy should be ordered. This is done in the next section on the basis of Kant’s legal philosophy with the result that the state as the guarantor of everybody’s freedom, also has the right to intervene, for this purpose, into the income and wealth structure of the society. 3. The third section deals with the question of how the main task of the state, securing universal freedom, has to be comprehended with respect to a free-market economy. Here, factors, particularly the factor power, are discussed which constrict the use of economic freedom and of freedom altogether. 4. With that, the question arises how (by which means) the economy should be ordered by the state and how the state may, and should, intervene into the distribution of property (in the broadest sense). 5. The fifth section concerns basic conditions necessary for a free-market society (competition law; patent law; legal responsibility; penal law for corporations; prohibition of certain personal unions; prohibition of a misuse of freedom of contract and of terms of business; equity capital for banks). 6. The last section deals with means of prevention, serving everybody’s freedom, of too great an asymmetry of prosperity (abolition of an unlimited right of inheritance; limitations on top salaries; progressive taxes on income and wealth).
(Fn. 72), 112 – 137. Siehe auch: Ernst Friedrich Schumacher, Small is Beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik, veränd. Neu-Auflage Heidelberg: Verlag Stiftung Ökologie & Landbau, 2001.
Assistierte Freiheit Vorschlag einer moralphilosophischen Begründung sozialer Menschenrechte über verbindliche gemeinschaftliche Solidaritätspflichten Sigrid Graumann
I. Soziale Menschenrechte In der Menschenrechtspolitik wird zunehmend Wert darauf gelegt, Personen, die beispielsweise auf Grund einer Behinderung dauerhaft auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, effektiv in den Schutzbereich der Menschenrechte einzubeziehen. Damit erhalten soziale Menschenrechte völkerrechtlich eine immer größere Bedeutung.1 Dennoch ist ihr Geltungsanspruch notorisch umstritten. Von philosophischer Seite wurde eine ganze Reihe von Versuchen vorgestellt, die sozialen Menschenrechte gegen ihre Skeptiker zu verteidigen.2 Allerdings wird dabei meist auf eine moralphilosophische Begründung der Menschenrechte verzichtet und stattdessen versucht, die normativen Ansprüche, die die Menschenrechte stellen, aus dem Menschenrechtsethos zu entwickeln. Zum einen wird befürchtet, durch den Bezug auf eine ethische Theorie, die womöglich aus dem christlich-westlichen Kulturkreis stammt, dem Werte-Pluralismus in einer globalisierten Welt nicht Rechnung zu tragen.3 Zum anderen wird häufig genannt, auf problematische metaphysische Prämissen verzichten zu wollen, die insbesondere der Kantischen Ethik unterstellt werden.4 Ich meine allerdings, dass auf eine moralphilosophische Begründung der 1 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die umfangreichen sozialen Rechte in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, aber auch schon in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. 2 Besonders in Bezug auf die internationale Verpflichtung zur Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung und den Schutz der Rechte von Kindern, kranken und behinderten Menschen wird auf soziale Menschenrechte rekurriert. Vgl. hierzu beispielsweise Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities and Reform, Cambridge: Cambridge University Press 2002, sowie Martha Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership. Cambridge: Cambridge University Press 2006. 3 Henry Shue, „Menschenrechte und kulturelle Differenz“, in: Stephan Gosepath/ Georg Lohmann, Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 343 – 377. 4 Georg Lohmann, „Menschenrechte zwischen Moral und Recht“, in: Stephan Gosepath/ Georg Lohmann, Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 62 – 95.
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Menschenrechte nicht verzichtet werden sollte und dies ausgehend von den Grundgedanken der Kantischen Ethik auch überzeugend geleistet werden kann. Ich gehe darauf hier ausführlicher ein, weil eine überzeugende Menschenrechtsbegründung und die Einsicht in die Verpflichtung zur Achtung sozialer Menschenrechte eng zusammenhängen. Von einer Kantischen Menschenrechtsbegründung wird allerdings oft angenommen, nur sehr minimale staatliche Verpflichtungen und Berechtigungen zum Schutz negativer Freiheiten rechtfertigen zu können. Kant selbst hat keine Begründung von Menschenrechten, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, vorgelegt.5 Ich meine aber, dass die Kantische Ethik Ansätze für die Begründung von verbindlichen Solidaritätspflichten bietet, ohne die Freiheit als obersten Wert in Frage zu stellen. Diese Begründung von Solidaritätspflichten lässt sich schlüssig zu einem Konzept assistierter Freiheit weiterentwickeln. So lassen sich, wie ich meine, die sozialen Menschenrechte begründen, und gleichzeitig an der konsequenten Achtung des Rechts auf Selbstbestimmung derjenigen, die Unterstützung und Sorge für andere leisten, aber auch derjenigen, denen die Unterstützung und Sorge zugute kommt, festhalten. Dabei geht es mir im Folgenden weniger um die „richtige“ Kant-Exegese als um die Entwicklung einer in einem zeitgenössischen Kontext nachvollziehbaren ethischen Argumentation.
II. Das reflexive Begründungsargument Der Gültigkeitsanspruch der Menschenrechte wäre in einem starken begründungstheoretischen Sinn dann begründet, wenn diese als moralische Rechte auf ein oberstes Moralprinzip zurückgeführt bzw. aus diesem abgeleitet werden könnten, das selbst begründet ist. In internationalen Menschenrechtsverträgen – wie im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – wird auf die Menschenwürde Bezug genommen.6 Der Bezug auf die Menschenwürde soll dem moralischen Prinzip Ausdruck verleihen, dass jeder Mensch gleiche Achtung und gleichen Respekt verdient. Darin kommen die Grundsätze der Inklusivität und Universalität der Menschenrechte zum Ausdruck. Der deklaratorische Bezug auf die Menschenwürde legt nahe, dass der Menschenwürde die Rolle des gesuchten obersten Moralprinzips unterstellt wird. Aus moralphilosophischer Sicht ist der Kandidat, der für das gesuchte oberste Moralprinzip in erster Linie in Frage kommt, Kants Kategorischer Imperativ (KI), weil er das Moralprinzip einer universalen und inklusiven Ethik darstellt. Ernst Tugendhat zeigt in seinen „Vorlesungen über Ethik“, dass der KI deshalb das vergleichsweise 5 Vgl. hierzu Christoph Horn, Nichtideale Normativität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2014, S. 67 ff. 6 Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, S. 13 – 23.
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plausibelste unter allen bislang formulierten Moralprinzipien darstellt.7 Im Gegensatz zu anderen Moralprinzipien (Glücksmaximierung, Nutzenmaximierung, Goldene Regel etc.) wird der KI nämlich dem Verpflichtungscharakter von moralischen Normen wirklich gerecht. Tugendhat argumentiert, dass wir, wenn wir in einem moralischen Urteil ausdrücken, dass moralische Rechte geachtet und geschützt werden sollen oder müssen, „sollen“ und „müssen“ in einer grammatisch absoluten Weise verwenden. Damit unterstellen wir der moralischen Norm, auf die wir in einem moralischen Urteil Bezug nehmen, einen universellen und inklusiven Gültigkeitsanspruch. Genau das ist offensichtlich ein unverzichtbares Kriterium moralischer Kommunikation.8 Wenn der Ausgangspunkt für die Suche nach dem obersten Moralprinzip unser moralisches Selbstverständnis ist, bedeutet das, dass an ein gesuchtes oberstes Moralprinzip die Anforderung zu stellen ist, dessen universellen und inklusiven Gültigkeitsanspruch zu begründen. Diesen Ausgangspunkt teilt auch Kant selbst.9 Für Kant besteht die Aufgabe der Ethik vor allem darin, das moralische Wissen, welches wir als sinnlich-vernünftige Wesen bereits haben, aufzuklären.10 Diesen Versuch, das oberste Moralprinzip „aus einem zentralen Aspekt des gewöhnlichen Moralverständnisses vielleicht nicht abzuleiten, aber nahezulegen“, bezeichnet Tugendhat als genial.11 Kants Begründungsanspruch des KI als Moralprinzip hält er aber, wie viele zeitgenössische Kant-Interpreten, für verfehlt. Nun ist die Plausibilität des KI als oberstes Moralprinzip ein möglicher Bezugspunkt für den Versuch, zwar nicht dessen Gültigkeit im engeren Sinn zu begründen, doch aber seine faktische Überzeugungskraft aufzuzeigen. Allerdings würde das nur zu einer relativ schwachen Begründung der Menschenrechte führen. Eine solche schwache Begründung könnte möglicherweise über die Grenzen der unterschiedlichen moralphilosophischen Lehrmeinungen hinweg ein überzeugender Ansatz für die Verständigung über die Gültigkeit und den Gehalt der Menschenrechte darstellen; der politischen Bedeutung der Menschenrechte wäre dies aber nicht angemessen.
7 Ich beziehe mich hier nur auf Tugendhats Vorlesungen über Ethik (Fn. 8). In früheren und späteren Arbeiten zeigt Tugendhat eine stärkere Neigung zu kontrakualistischen Moralbegründungen. 8 Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1995, S. 42 – 48. 9 Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe (Berlin 1968) unter Angabe der Band- und Seitenzahlen zitiert. Dabei werden als Abkürzungen GMS für die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, MS für die Metaphysik der Sitten und „Gemeinspruch“ für Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis verwendet. 10 Bestandteil von Kants „Methode“ ist, wie er in der Vorrede zur Grundlegung darlegt, zunächst von dem „gemeinen Erkenntnisse“ ausgehend analytisch zur Bestimmung des „obersten Prinzips“ zu gelangen (GMS, IV, 392). An späterer Stelle schreibt er dazu, „dass die Kenntnis dessen, was zu tun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen Sache sein werde“. (GMS, IV, 404) 11 Tugendhat (Fn. 8), S. 131.
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Tugendhat selbst ist der Meinung, dass eine stärkere Begründung nicht möglich ist.12 Er unterstellt Kant eine deduktive Begründung, die sich entweder auf ein höheres normatives Prinzip beziehen müsste, womit das Begründungsproblem nur verschoben wäre, oder sich auf ein nicht-normatives Kriterium stützen müsste, was einem Sein-Sollens-Fehlschluss gleichkäme.13 Klaus Steigleder zeigt allerdings, dass Kant kein deduktives, sondern ein „reflexives Begründungsargument“ verwendet.14 Kant selbst sagt bekanntlich, dass das Moralprinzip a priori lediglich „in den Begriffen der reinen Vernunft“ zu suchen sei.15 A priori meint hier, dass das Prinzip von uns selbst hervorgebracht wird: „For Kant, morality is, in a sense, the product of practical reason, not merely some independent thing that reason discovers.“ 16 Deshalb kann es Kant nicht um die Aufklärung moralischer Erfahrung in dem Sinne gehen, dass wir uns als Beobachter unserer selbst sehen. Aus einer ‚äußeren‘ Beobachterperspektive können wir zwar retrospektiv empirisches Wissen über unsere moralischen Urteile und unser moralisches Handeln gewinnen. Dabei muss unser moralisches Urteilen und Handeln immer als determiniert erscheinen. Kant geht es aber um etwas anderes, nämlich um die reflexive Aufklärung unseres Selbsterlebens als moralische Akteure. Dabei nehmen wir keine Beobachter- sondern eine Innenperspektive ein. Dass wir die Freiheit unseres Handelns annehmen müssen,17 können wir nicht sinnvoll bestreiten, weil das Bestreiten selbst ein Akt der Freiheit wäre. Wenn wir die Beobachterperspektive auf unser moralisches Handeln einnehmen, können wir viele empirische Gründe beispielsweise für unser moralisches Fehlverhalten anführen, von traumatischen Erlebnissen in der Kindheit bis zu schlechten Einflüssen unserer Mitmenschen und sozialen Zwänge, unter denen wir stehen. Wenn wir aber eine reflexive Innenperspektive einnehmen, sind derartige Einflüsse auf unsere Urteile und Handlungen irrelevant. Wir reflektieren uns als freie und verantwortliche Autoren unserer eigenen moralischen Urteile und Handlungen. Nur deshalb können wir wegen unseres moralischen Fehlverhaltens ein schlechtes Gewissen haben. Das heißt, wir erfahren uns einerseits als beeinflusst von inneren Neigungen und äußeren Zwängen, erleben uns aber dennoch als frei in dem Sinn, dass wir in unserem praktischen moralischen Handeln notwendig unterstellen müssen, dass wir frei entscheiden, ob wir dem moralischen Gesetz, das wir uns selbst gegeben haben, folgen, oder den subjektiven Neigungen und äußeren Einflüssen, unter denen wir stehen, nachgeben. Wenn wir uns als Objekte unserer Erfahrung sehen, sind alle unsere Handlungen determiniert. Wenn wir uns aber als Tugendhat (Fn. 8), S. 135. Klaus Steigleder, Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart: Metzler, 2002, S. 70. 14 Steigleder (Fn. 13), S. 72. 15 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke IV, Akademische Textausgabe, Berlin, 1968, S. 389. 16 Thomas E. Hill, Human Welfare and Moral Worth. Kantian Perspectives, Oxford, Oxford University Press, 2002, S. 63. 17 Kant, GMS (Fn.15), S. 447. 12 13
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Handelnde praktisch erleben, sind wir „Autoren unserer Handlungen und Führer unseres Lebens“.18 In diesem Sinne erleben wir uns reflexiv selbst als die Quelle von Prinzipien a priori, die sich der empirischen Erfahrung entziehen. Schönecker und Wood wenden dagegen ein, dass der Nachweis, dass wir uns als freie Handelnde verstehen müssen, nicht die Folgerung zulässt, dass wir so handeln sollen, wie wir handeln können.19 Kant würde den freien Willen als Glied der Verstandeswelt, den „bösen Willen“ aber als Glied der Sinnenwelt begreifen20 und die Gültigkeit des KI lediglich mit der behaupteten „Superiorität des ontologischen Status der Verstandeswelt“ begründen.21 Gegen solche Einwände führen Korsgaard und Steigleder an, dass wir keineswegs davon ausgehen können, dass wir selbstverständlich dem Gesetz reiner praktischer Vernunft folgen. Im Gegenteil müssen wir als sinnlich-vernünftige Wesen davon ausgehen, dass wir uns auch von vernunftfremden Gründen leiten lassen und unter Umständen auch leiten lassen wollen.22 Und nur weil das so ist, kann das moralische Gesetz für uns zum Gebot werden.23 Das reflexive Begründungsargument zeigt lediglich, dass wir uns als ein mit Vernunft und einem Willen begabtes Wesen verstehen müssen. Dass wir auch wirklich so handeln sollen, wie wir handeln können, aber sagt uns das moralische Gesetz, dessen Geltung wir als vernünftige Wesen unterstellen müssen. III. Menschenwürde und soziale Menschenrechte Der Ausgangspunkt zur Bestimmung, was dieses moralische Gesetz ist, ist für Kant die Bestimmung eines moralisch guten Willens. Bekanntlich ist für Kant ein guter Wille das einzige überhaupt, was „ohne Einschränkung für gut gehalten werden könnte“.24 Kant unterscheidet zwischen Maximen als subjektiven Handlungsprinzipien und Imperativen als objektiven Handlungsprinzipien. Das subjektive Handlungsprinzip ist das Wollen, das objektive Handlungsprinzip bedeutet ein bedingtes oder unbedingtes Sollen, das dem Wollen als normative Orientierung mit dem Anspruch, beides zur Deckung zu bringen, gegenüber steht.25 Das moralische Gesetz muss daher ein objektives Handlungsprinzip, ein Imperativ, sein. Kant unterscheidet außerdem zwischen hypothetischen Imperativen und dem kategorischen Imperativ. Hypothetische Imperative bedeuten ein bedingtes Sollen, der Hill (Fn. 16), S. 63. Dieter Schönecker / Allan W. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, Paderborn: Schöningh, 2007, S. 175. 20 Schönecker / Wood (Fn. 19), S. 184. 21 Schönecker / Wood (Fn. 19), S. 201. 22 Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends. Cambridge: Cambridge University Press, 2000, S. 173. 23 Steigleder (Fn. 13), S. 94. 24 Kant, GMS (Fn. 15), S. 414 – 416. 25 Korsgaaard (Fn. 22), S. 63 – 64. 18 19
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KI dagegen ein unbedingtes Sollen. Hypothetische Imperative haben etwas bedingt Gutes zum Ziel. Auch einem Imperativ der Klugheit oder der Geschicklichkeit kommt eine objektive (aber nicht unbedingte) Geltung, oder Gesetzescharakter, zu, insofern es notwendig ist, ihm zu folgen, um ein bestimmtes Handlungsziel zu erreichen.26 Hypothetische Imperative sind gut in Relation zu einer anderen Absicht.27 Das gilt für Imperative der Geschicklichkeit, wie die Vorschriften eines Arztes zu heilen, ebenso wie für die Vorschriften eines Giftmischers zu töten. Sie können, müssen aber offensichtlich nicht moralisch gut sein. Wenn der moralische Wert von Handlungen über die Absichten, die damit verfolgt werden, bestimmbar wäre, ließe sich Moral auf Klugheit und damit auf ein bedingtes Sollen reduzieren. Ein unbedingtes Sollen könnte es dann nicht geben.28 Das aber würde dem absoluten Gültigkeitsanspruch, den wir mit unseren moralischen Urteilen Tugendhat zu folge erheben, widersprechen. Der formale Charakter des Moralprinzips besteht also in der unbedingt praktischen Notwendigkeit, der Pflicht, das moralische Gesetz zu achten. Auf diese Weise wird der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens mit dem moralischen Gesetz „verknüpft“.29 Der Imperativ ist kategorisch, weil er Handlungen jenseits subjektiver Interessen mit absoluter Notwendigkeit gebietet. Die Gesetzesformel des KI fordert uns dazu auf, uns bei der Prüfung einer Maxime für unser Handeln zu fragen, ob wir wollen können, dass auch allen anderen vernünftigen Wesen geboten sein soll, der fraglichen Maxime zu folgen.30 Bezogen auf die Menschenrechte entspricht die Gesetzesformel des KI31 der Forderung der universalen Achtung und damit auch dem Anspruch, dass den Menschenrechtsnormen im Fall von Interessenkonflikten höchste Priorität zugeschrieben werden muss.32 Wenn es nun tatsächlich einen Kategorischen Imperativ gibt, muss es einen objektiven Zweck oder einen absoluten Wert geben. Das muss ein Zweck sein, den sich der rational Handelnde selbst setzen muss und der jedem anderen rational Handelnden ebenfalls unterstellt werden muss. Diesen letzten Zweck entwickelt Kant mit der Selbstzweck-Formel.33 Kants Argument für die Selbstzweck-Formel hat zwei Teile. Im ersten Teil des Arguments wird die Notwendigkeit eines Zweckes an sich selbst herausgestellt. Der Steigleder (Fn. 13), S. 45. Kant, GMS (Fn. 15), S. 416. 28 Steigleder (Fn. 13), S. 59 – 61. 29 Schönecker, Wood (Fn. 19), S. 111. 30 Allan Wood, Kant’s Ethical Thought, Cambridge: Cambridge University Press, 1999, S. 80. 31 Kant, GMS (Fn.15), S. 421. 32 In diesem Sinne ist auch Dworkins Rede von „rights as trums“ zu verstehen. Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously. Cambridge: Havard University Press, 1977. 33 Kant, GMS (Fn. 15), S. 429. 26 27
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zweite Teil des Arguments beinhaltet, was dieser Zweck an sich selbst ist.34 Die Verpflichtung, solche Handlungsmaximen zu wählen, von denen wir wollen können, dass sie auch alle anderen vernünftigen Wesen als ihre Handlungsmaximen wählen, ist nur für vernünftige und autonome Wesen als notwendig zu denken. Weil wir solche Wesen sind, müssen wir uns als Autoren unserer moralischen Urteile und Handlungen verstehen. Das aber heißt, wir müssen uns als Zwecke an uns selbst verstehen. Wenn wir uns als Selbstzwecke verstehen, müssen wir auch alle anderen Autoren moralischer Urteile und Handlungen als Selbstzwecke verstehen. Deshalb ist es für Kant die Menschheit, die Zweck an sich selbst ist und damit dem Moralprinzip einen materialen Gehalt verleiht.35 Die Selbstzweck-Formel drückt aus, dass wir unserem Handeln Grenzen setzen müssen, indem wir andere Menschen als Zwecke in sich selbst achten. Darin ist der Begriff der Würde des Menschen, den Kant mit der Reich-der-Zwecke-Formel einführt, angelegt. Die Menschenwürde zu achten bedeutet demnach, dass wir andere Menschen nicht bloß als Mittel gebrauchen dürfen, das heißt, dass wir sie nicht instrumentalisieren dürfen. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen betont aber auch die Verpflichtung, sich die Zwecke anderer, ihr Interesse am eigenen Wohlergehen, zu Eigen zu machen. Daraus folgt die Verpflichtung zum Wohlergehen anderer beizutragen und dabei das eigene Streben nach Glückseligkeit einzuschränken.36 Das ist wesentlich für das Vorhaben, die sozialen Menschenrechte zu begründen: die Achtung der Menschenwürde beinhaltet sowohl das Instrumentalisierungsverbot als auch Wohltätigkeitspflichten gegenüber anderen! Kant legt den KI noch in einer weiteren Formulierung, in der Reich-der-ZweckeFormel, vor. Erst diese leiste „eine vollständige Bestimmung aller Maximen“.37 Der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen muss sich selbst auf Grund seiner Autonomie genauso als Selbstweck betrachten, wie er alle anderen sinnlich-vernünftigen Wesen als Selbstzwecke ansehen muss. Alle sinnlich-vernünftigen Wesen stehen auf diese Weise in einem systematischen Zusammenhang zueinander: Sie müssen sich, in Kants Begriffen ausgedrückt, als „gesetzgebende Glieder“ in einem „bloß möglichen Reich der Zwecke“ verstehen.38 Unter dem Reich der Zwecke versteht Kant „die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“. Auf diese Weise betont Kant den intersubjektiven Charakter des Moralprinzips. Mit der Reich-der-Zwecke-Formel wird besonders deutlich, dass der KI nicht das Moralprinzip einer reinen Individualethik darstellt, die sich auf Aussagen über die moralische Richtigkeit individueller Entscheidungen und Handlungen beschränkt, sondern auch das Moralprinzip einer Sozialethik ist, die Aussagen über gerechte gesellschaftliche Strukturen und Institutionen erlaubt. Dieser Les34 35 36 37 38
Korsgaard (Fn. 22), S. 107 – 109. Korsgaard (Fn. 22), S. 110 – 114. Korsgaard (Fn. 22), S. 124 – 128. Kant, GMS (Fn. 15), S. 436. Kant, GMS (Fn. 15), S. 439.
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art des KI zufolge stellt die Reich-der-Zwecke-Formel, wie Christine Korsgaard schreibt, einerseits ein moralisches Ideal dar, nach dem wir leben sollen, und andererseits eine Vision, nach der wir streben sollen.39 Damit möchte ich auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, ob das Prinzip der Achtung der Menschenwürde das gesuchte oberste Moralprinzip sein könnte, mit dem die Menschenrechte begründet werden können, wie es der deklaratorische Bezug auf die Menschenwürde in Menschenrechtsverträgen nahe legt: Das Reich der Zwecke umfasst alle Zwecke, die sich Menschen setzen, das heißt, bedingte und unbedingte Zwecke. Kant drückt das so aus, dass im Reich der Zwecke „alles entweder einen Preis oder eine Würde“ hat.40 Die Zwecke, die einen Preis haben, können durch Äquivalente ersetzt werden. Die Zwecke aber, die Zweck an sich selbst sein können, haben nicht bloß einen relativen Wert sondern einen inneren, absoluten Wert, den Kant Würde nennt. Würde aber kann nur der Menschheit zukommen, weil nur Menschen die Fähigkeit zu Moralität besitzen.41 Bedeutsam ist hier, dass Kant die Menschenwürde nicht aus der Selbstzweckhaftigkeit des einzelnen Menschen oder der individuellen Person ableitet. Stattdessen bezieht er den Begriff der Menschenwürde auf die Menschheit in der Person eines jeden Einzelnen. Mit Menschheit kann dabei nicht der biologische Gattungsbegriff des Menschen gemeint sein, wie oft unterstellt wird,42 sondern nur die soziale Gemeinschaft. Das heißt zum einen, dass der Schutzbereich der Menschenwürde inklusiv konzipiert werden sollte (d. h. alle bedürftigen und versorgungsabhängigen Menschen einschließt), und zum anderen, dass wir als Menschen dazu verpflichtet sind, eine gesellschaftliche Ordnung anzustreben, in der alle Menschen als Zwecke an sich selbst anerkannt werden. Festgehalten werden kann, dass das Menschenwürdeprinzip als vollständige Bestimmung des KI rekonstruiert werden kann. Mit dem Begriff „Menschenwürdeprinzip“ ist damit eine mögliche Formulierung des obersten Moralprinzips gemeint, mit der die verbindliche normative Orientierung von Politik und Staat, die damit verbunden ist, besonders hervorgehoben wird. Oft wird davon gesprochen, dass die Menschenrechte aus dem Menschenwürdeprinzip abgeleitet werden können,43 oder, dass sich die Menschenrechte und die Menschenwürde wechselseitig implizieren.44 Allerdings spricht gegen einen solchen unKorsgaard (Fn. 22), S. 154 – 155. Kant, GMS (Fn. 15), S. 434. 41 Kant, GMS (Fn. 15), S. 435. 42 Dieter Birnbacher, „Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar?“, in: Matthias Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, 249 – 271. 43 Christoph Menke / Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung, Hamburg, Junius, 2007, S. 151. 44 Thomas Göller, „Kants Menschenrechtsbegründung heute“, in: Volker Gerhard/ Rolf-Peter Horstmann/ Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Band 4, Berlin 2001, S. 126 – 133. 39 40
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mittelbaren Zusammenhang zwischen Würde und Rechten, dass Kants Ethik primär eine Pflichtenethik ist. Rechte sind für Kant primär juridische Rechte, die allerdings moralisch gerechtfertigt werden müssen. Damit verbunden ist ein impliziter Begriff moralischer Rechte, mit dem die theoretische Lücke zwischen dem Menschenwürdeprinzip und der Begründung der Menschenrechte geschlossen werden kann.
IV. Soziale Menschenrechte und Gerechtigkeit Menschenrechte sind als moralische Rechte anzusehen, deren primäre Adressaten Politik und Staat sind. Wenn sie ethisch begründet sind, können wir davon ausgehen, dass Politik und Staat die verbindliche Aufgabe zukommt, die Menschenrechte juridisch zu verankern und institutionell abzusichern. Das lässt vermuten, dass die Menschenrechte unter Bezug auf Kants Rechtslehre näher bestimmt werden können. Dabei sollte begrifflich das Recht im Singular unterschieden werden von den Rechten im Plural. Das Recht im Singular spricht Kant mit der Überschrift zur „Rechtslehre“ in der Metaphysik der Sitten an, die in der englischen Übersetzung als „doctrine of justice“, als Lehre der Gerechtigkeit, bezeichnet wird. Ich folge hier einem Verständnis, nach dem es der Rechtslehre Kants nicht primär um die faktisch verwirklichte Rechtsordnung geht, sondern um die Formulierung eines normativen Ordnungsprinzips.45 Das aber kommt mit dem Begriff „Gerechtigkeitsprinzip“ besser zum Ausdruck. Auch Rechte im Plural sind Gegenstand der Rechtslehre. Sie sind mit Kant als konkrete allgemeinverbindliche Ansprüche gegenüber anderen zu verstehen, die von den Pflichten her zu bestimmen sind. Es ist kennzeichnend für Rechtsnormen, dass sie sich auf äußere Handlungen beziehen und dass ihre Einhaltung erzwungen werden kann bzw. darf (durch Gesetze oder andere soziale Sanktionen). Der Schlüsselbegriff in Kants Gerechtigkeitskonzeption ist Freiheit. Dabei geht es Kant um äußere (und nicht um innere moralische) Freiheit.46 Das Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften führt aber zwangsläufig dazu, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Konflikt gerät, sodass eine geregelte wechselseitige Beschränkung äußerer Freiheit notwendig wird. Kants Rechtslehre beschäftigt sich nun damit, wie dies auf gerechte Weise geschehen kann.47 Das oberste Rechtsprinzip, das die verbindliche Orientierung dafür vorgibt, ist das „allgemeine Gesetz der Freiheit“: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“48 Steigleder (Fn. 13), S. 132 im Unterschied zu Horn (Fn. 5), S. 113. Allen Rosen, Kant’s Theory of Justice, New York: Cornell University Press 1996, S. 7. 47 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke VI, Akademische Textausgabe, Berlin 1968, S. 230. 48 Kant, MS (Fn. 47), S. 230. 45 46
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Dabei steht das Gerechtigkeitsprinzip nicht etwa unabhängig neben dem Moralprinzip, sondern entspricht einer externalisierten Fassung des Moralprinzips.49 Kant übersetzt das abstrakte Gerechtigkeitsprinzip in Über den Gemeinspruch in drei intuitiv klarere Prinzipien, die zeigen sollen, wie in der Praxis die äußeren Freiheiten aller konkret miteinander verträglich gemacht werden können. Das sind die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Selbstständigkeit. Diese zeigen aber auch die Grenzen auf, die einem direkten Bezug auf Kant zur Begründung von Wohlfahrtsrechten gesetzt sind: 1. Das Prinzip der Freiheit bestimmt Kant einerseits negativ über das Paternalismusverbot: „Niemand kann mich zwingen auf seine Art glücklich zu sein“50, und andererseits positiv als Bestimmung, dass jeder Weg der Suche nach der eigenen Glückseligkeit berechtigt ist, sofern nicht die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Dabei betont Kant, dass dieses Recht auf Selbstbestimmung jedem Menschen als Menschen zukommt.51 Einschränkungen individueller äußerer Freiheiten sind damit grundsätzlich legitimationspflichtig: Entscheidend ist, ob dazu alle potenziell Betroffenen ihre Zustimmung geben könnten.52 Damit können offensichtlich Freiheitseinschränkungen gerechtfertigt werden, die notwendig für Achtung und Schutz von Menschenrechtsnormen wie z. B. der Rechte auf Leben, Freiheit und Sicherheit sind. Weniger klar auf der Hand liegt jedoch die Rechtfertigung von Wohlfahrtsrechten etwa auf Nahrung, Kleidung und Gesundheitsversorgung. Dafür müsste das Recht auf Selbstbestimmung als Recht auf Realisierung von Freiheit aufgefasst werden, mit dem Ansprüche auf soziale Dienste und Leistungen begründet werden. Die Solidarbeiträge, die hierfür geleistet werde müssten, würden aber mit Freiheitseinschränkungen für diejenigen einhergehen, die zu diesen Beiträgen verpflichtet werden. Mit diesem Argument werden verbindliche Solidaritätspflichten oft zurückgewiesen. 2. Das Prinzip der Gleichheit bestimmt Kant einerseits negativ als Diskriminierungsverbot und andererseits positiv als Recht auf Chancengleichheit. Es beinhaltet für Kant, dass alle „als Untertanen“ den gleichen Gesetzen unterworfen sind. Dabei rechnet Kant mit großer Ungleichheit in der sozialen Herkunft, im Besitz, im individuellen Lebensglück, aber auch in körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die jedoch für die Gleichheit „dem Rechte nach“ irrelevant seien. Er betont dabei aber auch, dass jeder Untertan, die grundsätzliche Möglichkeit haben muss, jede soziale Stellung erreichen zu können, „wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen“ kann.53 Eine rein formale Gleichbehandlung vor dem Recht kann allerdings erhebliche soziale Ungleichheiten nicht verhindern. Kant selbst ging es mit Rosen (Fn. 46), S. 13. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch, in: Kants Werke VII, Akademische Textausgabe, Berlin 1968, S. 291. 51 Kant, Gemeinspruch (Fn. 50), S. 291. 52 Rosen (Fn. 46), S. 17. 53 Kant, Gemeinspruch (Fn. 50), S. 292. 49 50
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dem Ausweis formal gleicher Rechte aller primär um den Abbau von Standesprivilegien, nicht aber beispielsweise um das Zurückdrängen von ökonomischen Ungleichverteilungen. Deshalb wurde ihm von Seiten der marxistischen Kritik – nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, einen bürgerlichen Gleichheitsbegriff zu vertreten, der der ideologischen Legitimierung von Ausbeutungsverhältnissen diene.54 3. Das Prinzip der Selbstständigkeit beinhaltet Kant zufolge, dass nur solche Gesetze Legitimität beanspruchen können, die durch einen gemeinsamen Willen zustande gekommen sind. Negativ formuliert heißt das, dass nur der Zwang durch ein Gesetz, an dessen Zustandekommen diejenigen, die unter das Gesetz fallen, selbst beteiligt waren, kein Unrecht darstellt. Daraus leitet Kant politische Mitwirkungsrechte – vor allem das Wahlrecht – ab.55 Diese gesteht er allerdings nur aktiven Bürgern zu, die auf Grund von Besitz oder Beruf selbstversorgungsfähig sind. Versorgungsabhängige Personen sind Kant zufolge aber ebenfalls den allgemeinen Gesetzen unterworfen. Diese Position Kants dürfte aus heutiger Sicht kaum noch akzeptabel sein. Allen Rosen weist aber darauf hin, dass Kants Postulat der ökonomischen Unabhängigkeit als Voraussetzung für politische Rechte unbegründet bleibt.56 Es ist nicht rational nachvollziehbar, warum es nur für einen ökonomisch selbstständigen Mann gelten soll, dass ein Gesetz, an dessen Erlass er nicht über seine politischen Mitwirkungsrechte beteiligt war, ihm gegenüber als Unrecht gelten soll. Dennoch lässt sich möglicherweise ein weiterer wichtiger Gedanke des Unabhängigkeitsprinzips für den Menschenrechtschutz „retten“: Ökonomische Unabhängigkeit bedeutet, vom Willen anderer Personen unabhängig sein zu können, was wiederum die Voraussetzung für die Übernahme nicht nur von staatsbürgerlicher, sondern von Verantwortung überhaupt ist. Daraus könnte der Anspruch auf eine familienunabhängige Gewährleistung sozialer Rechte zumindest für erwachsene versorgungsabhängige Personen abgeleitet werden. Festhalten möchte ich an dieser Stelle, dass mit dem Gerechtigkeitsprinzip Kants und den drei Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Selbstständigkeit die theoretische Lücke zwischen dem Menschenwürdeprinzip und der Begründung der Menschenrechte geschlossen werden kann. Allerdings werden dabei auch einige Schwierigkeiten der Kantischen Moralphilosophie hinsichtlich der Begründung von sozialen Menschenrechten deutlich, die hier jedoch nicht im Detail entfaltet werden können. Für die weitere Klärung des Geltungsanspruchs sozialer Menschenrechte ist die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten entscheidend. Das entscheidende Kriterium hierfür ist die äußere Erzwingbarkeit. Während Rechtspflichten damit einhergehen, dass Handlungen und Unterlassungen von außen durch Gesetze oder durch andere Formen von sozialen Sanktionen erzwungen werden können, ist dies 54 55 56
Rosen (Fn. 46), S. 32 – 33. Kant, Gemeinspruch (Fn. 50), S. 294 – 295. Rosen (Fn. 46), S. 37.
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für Tugendpflichten nicht der Fall. Moralische Haltungen können bzw. dürfen nicht erzwungen werden. Wir sollen uns zwar alle Tugendpflichten (Liebes- und Achtungspflichten) durch Einsicht in das moralische Gesetz als Grundsätze unserer Handlungen zu Eigen machen, nur bei einem Teil dieser Pflichten aber dürfen wir von außen zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen gezwungen werden. Das sind die Rechtspflichten. Dass moralische Haltungen wie Hochachtung, Wohlwollen oder Dankbarkeit und diese ausdrückende Handlungen zwar moralisch gefordert sind, aber faktisch nicht erzwungen werden können, dürfte unmittelbar einleuchtend sein. Zwang würde höchstens zu geheuchelter Hochachtung, Wohlwollen oder Dankbarkeit führen, niemals aber zu der geforderten Authentizität. Kants Position geht aber darüber hinaus: Tugendpflichten dürfen, selbst wenn sie faktisch erzwungen werden können, aus moralischen Gründen nicht erzwungen werden. Jemanden zu Hochachtung, Wohlwollen oder Dankbarkeit zu zwingen, selbst wenn dies möglich wäre, würde eine Missachtung der Autonomie der oder des Gezwungenen mit sich bringen.57 Das bedeutet, Rechtspflichten können nur solche Pflichten sein, die im Namen der Herstellung von Gerechtigkeit faktisch von außen erzwungen werden können und moralisch erzwungen werden dürfen. Kant spricht hier auch von engen Verbindlichkeiten.58 Auch sie sind nicht als rein juridische, sondern implizit auch als moralische Rechte konzipiert, weil ihr Anspruch auf Gültigkeit unabhängig von ihrer faktischen gesetzlichen Verankerung ist. Rechtspflichten sind enge „vollkommene Pflichten“, die uns konkret sagen, was von wem in welcher Situation gefordert ist. Es handelt sich dabei um konkret identifizierbare Träger von Pflichten und ebenso konkret identifizierbare Inhaber der korrespondierenden Rechte.59 Viele Tugendpflichten dagegen – dazu gehören die Pflichten gegen uns selbst, aber auch Wohltätigkeitspflichten gegenüber anderen – sind weite „unvollkommene Pflichten“. Sie lassen einen Raum für Interpretationen offen, was sie in welcher Situation und in welchem Umfang von uns im Einzelnen fordern, oder, wie es Kant selbst ausdrückt, sie folgen einer „Kasuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß.“60 In Bezug auf das „Recht des Menschen“ spricht Kant aber davon, dass es eine vollkommene Pflicht gegen andere ist.61 Das aber könnte bedeuten, dass Wohltätigkeitspflichten keine Menschenrechtsnormen sein können. Allerdings bedeutet der Raum für Interpretation, den Wohltätigkeitspflichten lassen, nicht etwa, dass wir entscheiden könnten, anderen nur zu helfen, wenn es uns gerade danach zu Mute sei. Eine solche Maxime – „ich helfe anderen nur dann, wenn mir danach zu Mute Kant, MS (Fn. 47), S. 383. Kant, MS (Fn. 47), S. 389. 59 Onora O’Neill, Towards Justice and Virtue. A Constructive Account of Practical Reasoning, Cambridge: Cambridge University Press, 1996, S. 146. 60 Kant, MS (Fn. 47), S. 411. 61 Kant, MS (Fn. 47), S. 240. 57 58
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ist“ – ließe sich nicht verallgemeinern.62 Es geht hier nicht um das Maß an Verpflichtung, sondern nur um die individuelle äußere Erzwingbarkeit. An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass mit Kants explizitem Konzept juridischer Rechte auch ein implizites Konzept moralischer Rechte über die moralische Autorisierung, zu zwingen, verbunden ist.63 Wenn wir nun die Argumentation vom Menschenwürdeprinzip über das Gerechtigkeitsprinzip zu den moralischen Rechten rekapitulieren, können wir sagen, dass moralische Rechte ausweisen, was andere auf Grund ihrer Würde berechtigterweise von uns auf Grund unserer Würde erwarten und mit Hilfe von Gesetzesnormen erzwingen dürfen. Die Zulässigkeit einer zwangsweisen Durchsetzung von individuellen Wohltätigkeitspflichten steht damit aber tatsächlich in Frage.
V. Ansätze für eine sozialethische Weiterentwicklung des Gerechtigkeitsprinzips Gegen die traditionelle Menschenrechtsbegründung mit Bezug auf Kant wurde vorgebracht, diese würde eine gleiche Achtung der Rechte selbstversorgungsunfähiger Personen nicht garantieren64 und soziale Kontexte im Menschenrechtsschutz vernachlässigen.65 Beide Kritikpunkte halte ich insofern für unberechtigt, als Kant zumindest die Ansatzpunkte für eine kohärente sozialethische Weiterentwicklung des Gerechtigkeitsprinzips bietet. 1. Kant beschränkt sich in der Rechtslehre nicht grundsätzlich auf die Begründung negativer Rechte und Pflichten, wie oft unterstellt wird: Er formuliert strikte, enge Rechtspflichten zur Sorge für die eigenen Kinder im Abschnitt über das Elternrecht,66 aber auch gegenüber anderen abhängigen Haushaltsmitgliedern im Abschnitt über das Hausherrenrecht.67 Das bedeutet, dass für Kant Wohltätigkeitspflichten nicht grundsätzlich unvollkommene Pflichten sind, sondern in manchen Fällen auch vollkommene Pflichten, deren Übernahme – wie die elterlichen Sorgepflichten – der Staat erzwingen darf. 2. Kant formuliert eine staatliche Pflicht zur Versorgung von Armen, die nicht dazu in der Lage sind, sich selbst zu erhalten, und zur Versorgung von ausgesetzten Kindern. Dabei spricht er dem Staat die Berechtigung zu, die „Vermögenden zu nötigen“, die Mittel „herbeizuschaffen“, die für die Versorgung dieser Personen geHill (Fn. 16), S. 112. Mary Gregor, „Kant on Obligation, Rights and Virtue“, Jahrbuch für Ethik und Recht 1, 1993, S. 69 – 102. 64 Thomas Sukopp, Menschenrechte: Anspruch und Wirklichkeit. Menschenrechte, Naturrecht und die Natur des Menschen, Marburg: Tectum Verlag, 2003, S. 88. 65 Seyla Benhabib, Selbst im Kontext, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, S. 168 – 175. 66 Kant, MS (Fn. 47), S. 280 – 282. 67 Kant, MS (Fn. 47), S. 282 – 284. 62 63
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braucht werden. Das begründet er mit einer „Pflicht des Volks“, durch die dem „Oberbefehlshaber“ die Befugnis zukommt, diese stellvertretend auszuüben.68 Klaus Steigleder weist darauf hin, dass die „Pflicht des Volks“ offensichtlich einen fundamentalen Status besitzt, weil Kant sie als im „allgemeinen Volkswillen“ bzw. im ursprünglichen Gesellschaftsvertrag enthalten ansieht.69 Folglich kann mit Kant von einer engen, vollkommenen gemeinschaftlichen Pflicht ausgegangen werden, Hilfe, Unterstützung und Sorge für Gemeinschaftsmitglieder zu leisten, die nicht selbst dazu in der Lage sind, sich zu versorgen. Dabei geht es Kant selbst offenbar um nicht mehr als um die Erhaltung der Existenz versorgungsabhängiger Gemeinschaftsmitglieder. Darüber hinaus können diese gemeinschaftlichen Pflichten aber einen Ansatzpunkt für eine kohärente sozialethische Weiterentwicklung von Kants Gerechtigkeitskonzeption darstellen, mit der auch umfassendere Wohlfahrtsrechte und Solidaritätspflichten begründet werden können. Der Schlüssel für die sozialethische Weiterentwicklung einer Kantischen Konzeption moralischer Rechte ist eine differenziertere Betrachtung individueller Wohltätigkeitspflichten und die Einführung gemeinschaftlicher Solidaritätspflichten, ohne das Kriterium der individuellen Nicht-Erzwingbarkeit, das vor Paternalismus schützt, aufzugeben. Mit dem Kriterium der Nicht-Erzwingbarkeit geht Kant zunächst davon aus, dass es eine strikte Unterscheidung dahingehend gibt, dass Nichtinterventionspflichten immer allgemein erzwungen werden dürfen, also vollkommene Pflichten sind, Wohltätigkeitspflichten aber nicht, weil sie unvollkommene Pflichten sind. Kant reserviert den Begriff der Pflicht aber nicht auf das Feld der Rechte, sondern wendet ihn auch im Feld der Tugenden an.70 Onora O’Neill hat eine Klassifikation von Wohltätigkeitspflichten entworfen, die zeigt, dass sich deren Verpflichtungscharakter und Qualität deutlich komplexer darstellt, als das oft angenommen wird, wenn die jeweiligen Beziehungskontexte berücksichtigt werden. Hierfür sind zwei Unterscheidungen grundlegend: erstens die Unterscheidung zwischen allgemeinen und speziellen Pflichten und zweitens zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Das möchte ich im Folgenden am Beispiel von Wohltätigkeitspflichten gegenüber Kindern erläutern: Von vollkommenen Pflichten sprechen wir im Allgemeinen dann, wenn es sich um die Verpflichtung zur Achtung von negativen Freiheitsrechten handelt, die jeder hat und die allen geschuldet sind. Darauf aber können vollkommene Pflichten nicht beschränkt werden: Wenn beispielsweise ein kleines Kind in einen Gartenteich fällt, ich daneben stehe und das Kind mühelos retten kann, dürften wir im Allgemeinen davon ausgehen, dass ich streng dazu verpflichtet bin, das Kind zu retten, auch wenn es sich um eine positive Wohltätigkeitpflicht und nicht um eine negative Unterlassungspflicht handelt. Es ist eindeutig, was ich zu tun habe, und wenn mich 68 69 70
Kant, MS (Fn. 47), S. 325 – 326. Steigleder (Fn. 14), S. 218. Gregor (Fn. 63), S. 95.
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eine Gesetzesnorm – wie es die Strafandrohung für unterlassene Hilfeleistung tut – dazu zwingt, Nothilfe zu leisten, sofern sich die Beschränkung meiner eigenen Freiheit dadurch in Grenzen hält, wird dadurch ganz offensichtlich kein Recht von mir selbst missachtet. Das heißt, dass es sich bei der Nothilfe unter bestimmten Bedingungen um eine enge vollkommene Pflicht handelt, und, dass ein Gesetz, das unterlassene Hilfeleistung in einem solchen Fall unter Strafe stellt, nicht als ungerecht beurteilt werden kann. Das verunglückte Kind ist eindeutig als Träger des Rechts auf Nothilfe identifizierbar und dasselbe gilt für meine Hilfspflicht als Person, die in der fraglichen Situation Nothilfe leisten kann. Außerdem schränkt mich der gesetzliche Zwang nicht über Gebühr in meiner Freiheit ein. Es handelt sich hier damit um eine allgemeine vollkommene Pflicht, die jede und jeder in dieser Situation hätte, auch wenn es eine individuelle Wohltätigkeitspflicht ist. Die Situation würde sich anders darstellen, wenn ich dazu genötigt werden würde, die Sorge für ein Kind aus meiner Nachbarschaft zu übernehmen, das von seinen Eltern vernachlässigt wird. Wir würden wohl intuitiv davon ausgehen, dass das Kind ein Wohlfahrtsrecht hat, nicht vernachlässigt zu werden. Trotzdem darf ich ganz offensichtlich nicht dazu gezwungen werden, für dieses Kind zu sorgen. Onora O’Neill spricht in einer solchen Konstellation von einer allgemeinen unvollkommenen Pflicht. Ich bin zwar grundsätzlich zur Hilfe für andere Menschen moralisch verpflichtet; wann und wie ich diese Pflicht ausübe, lässt aber einen breiten Interpretationsspielraum offen. Der Grund, warum es sich hier nicht um eine vollkommene Pflicht handeln kann, liegt offenbar darin, dass ich nicht die einzige bin, die für dieses Kind sorgen könnte, und dass zwischen mir und dem Kind keine Beziehung besteht, die eine derartige spezifische Konstellation von Rechten und Pflichten begründen könnte. Was die Eltern des Kindes betrifft, gehen wir dagegen offenbar – wie Kant selbst – von strikten, engen, vollkommenen Hilfs- und Sorgepflichten aus, die staatlich erzwungen werden können und dürfen. In O’Neills Klassifikation handelt es sich hier um eine spezielle vollkommene Pflicht, die die Eltern auf Grund ihrer Beziehung zu ihrem Kind haben. Kant selbst spricht hier davon, dass Kinder „ein ursprünglich-angeborenes (nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern“ haben. Dieses Recht kommt ihnen nach Kant deshalb zu, weil sie von ihren Eltern, ohne gefragt zu werden, in die Welt gesetzt worden sind.71 Nach dem Freiheitsprinzip müsste aber den Eltern auch das Recht zugestanden werden, ihre Elternpflichten an andere geeignete erwachsene Personen (wie Pflege- oder Adoptiveltern) abzugeben, wenn sie sich selbst nicht dazu in der Lage sehen, ihr Kind zu versorgen und zu erziehen. Dabei ist auch auf einen Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit hinzuweisen: In unseren westlich-industrialisierten Gesellschaften tolerieren wir es, wenn Väter sich abgesehen von Unterhaltszahlungen ihren Elternpflichten entziehen, während Mütter dafür als „Rabenmütter“ moralisch verurteilt werden. Hier wäre eine gesellschaftliche Gleichbehandlung gefordert. 71
Kant, MS (Fn. 47), S. 280 – 281.
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Außerdem – und dafür gibt es in Kants Rechtslehre keinerlei Ansatzpunkt – brauchen Kinder mehr, um sich zu autonomen Erwachsenen entwickeln zu können, als das, was staatlicherseits erzwungen werden kann. Sie brauchen auch Aufmerksamkeit, Unterstützung, Anteilnahme und Zuneigung, was manche „hartherzige Eltern“, wie es Onora O’Neill formuliert, nicht leisten.72 Gegen Hartherzigkeit aber hilft kein gesetzlicher Zwang. Auch wenn es für das Kind eine erhebliche Beeinträchtigung darstellt, dass seine Eltern ihm die notwendige empathische Zuwendung nicht geben (können), kann ein gesetzlicher Zwang gegenüber den Eltern hier nicht viel bewirken. Das heißt, wir haben es mit einer speziellen unvollkommenen Pflicht zu tun. Nun ist die Grenze zwischen den vollkommenen und den unvollkommenen Wohltätigkeitspflichten sicher fließend. Dabei ist das Unterscheidungskriterium die Erzwingbarkeit, auch wenn dessen Anwendung im Einzelfall strittig sein mag. Allgemein bezogen auf die Verpflichtung zu Hilfe, Unterstützung und Sorge gegenüber Personen, die darauf angewiesen sind, kann die folgende Klassifikation von Wohltätigkeitspflichten festgehalten werden: 1. Allgemeine, vollkommene Wohltätigkeitspflichten sind enge, strikte Hilfspflichten, die in Notfallssituationen alle haben und die allen geschuldet sind. Sie dürfen erzwungen werden, sofern sich der Eingriff in die Freiheit des Gezwungenen in gewissen Grenzen hält. 2. Allgemeine, unvollkommene Wohltätigkeitspflichten sind weite Hilfs- und Unterstützungspflichten, die wir als Gemeinschaftsmitglieder alle haben, die aber nicht von uns erzwungen werden dürfen und die in ihrer konkreten Ausübung einen gewissen subjektiven Interpretationsspielraum lassen. Für die freiwillige Bereitschaft zur Übernahme solcher Pflichten kann es aber förderliche und weniger förderliche Bedingungen geben. 3. Spezielle, vollkommene Wohltätigkeitspflichten sind Hilfs-, Unterstützungsund Sorgepflichten die wir auf Grund spezifischer Beziehungen haben. Das Eingehen und in gewissem Maß auch das Aufrechterhalten solcher Beziehungen setzt Freiwilligkeit voraus. Wenn die Beziehung aber einmal besteht und solange sie besteht, geht sie mit engen, strikten Pflichten einher. Dazu gehören die Pflichten von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, Pflegerinnen und Pflegern, Ärztinnen und Ärzten, usw. 4. Spezielle, unvollkommene Wohltätigkeitspflichten sind ebenfalls beziehungsspezifische Pflichten, die aber über das erzwingbare Minimum hinaus den Ausdruck von Haltungen wie Achtung, Anteilnahme und emphatische Zuwendung beinhalten, die nicht erzwungen werden können, für die es aber förderliche und weniger förderliche Bedingungen geben kann. Nun spricht O’Neill aber davon, dass den unvollkommenen Wohltätigkeitspflichten keine Rechte gegenüberstehen würden. Tugendhat dagegen geht von Wohl72
O’Neill, (Fn. 59), S. 151.
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fahrtsrechten aus, denen keine Pflichten gegenüberstehen.73 Ich behaupte dagegen, dass moralische Rechte immer mit moralischen Pflichten korrespondieren: Wir sprechen in unserer alltäglichen Moral von Rechten versorgungsabhängiger Menschen auf Pflege, soziale Unterstützung und Gesundheitsversorgung, aber auch von Rechten auf Anteilnahme, Zuwendung und Trost. Besonders deutlich wird das, wenn es um Kinder geht. Mit universellen Wohlfahrtsrechten ist hier nicht gemeint, dass sie jeder per se hat, sondern dass sie jeder hätte, wenn er die gleiche Bedürfnisstruktur hätte und in der gleichen Lebenssituation wäre. Allerdings, und dieses Problem muss gelöst werden, können viele Wohltätigkeitspflichten nicht unbedingt in direkter unmittelbarer Weise mit individuellen Pflichten, die juridisch erzwungen werden können und dürfen, in Verbindung gebracht werden. Das heißt aber nicht, dass der Staat in diesen Fällen völlig untätig bleiben und Personen, die auf Hilfe, Unterstützung und Sorge angewiesen sind, „im Regen stehen lassen“ darf. Zum einen gibt es die Möglichkeit, die Leistung von Hilfe, Unterstützung und Sorge an professionelle Dienste zu delegieren, zum anderen können geeignete Bedingungen für die freiwillige Übernahme von Wohltätigkeitspflichten geschaffen werden.
VI. Wohlfahrtsrechte und Solidaritätspflichten Bisher habe ich argumentiert, dass wir einerseits Wohltätigkeitspflichten gegenüber anderen unabhängig davon haben, ob wir uns mit ihnen emotional verbunden fühlen oder nicht.74 Andererseits sind viele Wohltätigkeitspflichten unvollkommene Pflichten, weil sie einen Interpretationsspielraum lassen, wann wir als einzelne wem wieviel und in welcher Form Gutes tun. Das aber gilt zunächst einmal nur für individuelle Wohltätigkeitspflichten. Wir haben aber auch Solidaritätspflichten. Das sind gemeinschaftliche Rechtspflichten, die der Staat für uns stellvertretend übernehmen muss. Er muss gesellschaftliche Strukturen und Institutionen so gestalten, dass die Menschenrechte geachtet, geschützt und verwirklicht werden. Wenn dabei nur die negativen Freiheitsrechte berücksichtigt werden, sind diejenigen privilegiert, die alle erforderlichen Fähigkeiten und materiellen Mittel mitbringen, unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ihre Freiheit auch wahrnehmen zu können. Für diejenigen aber, die die dafür erforderlichen Fähigkeiten nicht mitbringen oder gesellschaftlich benachteiligt, ausgegrenzt oder unterdrückt sind, reicht das nicht aus. Damit sie ihre Freiheit gleichermaßen wahrnehmen können, sind sie auf soziale Rechte angewiesen. Wenn nicht nur die ökonomisch selbstständigen Haushaltsvorstände, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft berücksichtigt werden sollen, ist ein positiver Freiheitsbegriff notwendig, der die inneren und äußeren Ermöglichungsbedingungen 73 Ernst Tugendhat, „Die Kontroverse um die Menschenrechte“, in: Stephan Gosepath/ Georg Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 349. 74 Hill (Fn. 16), S. 113.
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von Freiheit umfasst. In diesem Sinne formuliert Tugendhat einen Menschenrechtsanspruch auf Realisierung von Freiheit, der auch Rechte auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit und einen angemessenen Lebensunterhalt beinhaltet.75 Entscheidend für die Begründung von Solidaritätspflichten ist, dass eine gesellschaftliche Ordnung, die die Vernachlässigung von Personen, die auf Hilfe, Unterstützung und Sorge angewiesen sind, zulässt, dem Universalisierungsprinzip folgend nicht allgemein zustimmungsfähig wäre. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir in menschlichen Gemeinschaften leben, zu denen Säuglinge, kleinere und größere Kinder, Personen mit unterschiedlichen Begabungen und Beeinträchtigungen sowie alte und kranke Personen gehören, und wenn wir uns als bedürftige und verletzliche Wesen unserer gegenseitigen Abhängigkeit von Hilfe, Unterstützung und Sorge und von gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir nicht ausgegrenzt, ausgebeutet oder unterdrückt werden, bewusst sind, werden wir gesellschaftliche Bedingungen fordern, die das Wohlergehen nicht nur selbstversorgungsfähiger Bürger sicherstellen. Wir müssen uns als gemeinschaftlich verpflichtet ansehen, die Hilfe, Unterstützung und Sorge für diejenigen, die darauf angewiesen sind, sowie nicht diskriminierende gesellschaftliche Bedingungen sicherzustellen. Die sozialen Menschenrechte versorgungsabhängiger Menschen dürfen wir nicht, wie etwa Wolfgang Kersting meint, der freiwilligen Solidarität der Bürger überlassen.76 Dafür nennt Kant ein weiteres Argument: Für Bedürftige ist es demütigend, von der Wohltätigkeit anderer abhängig zu sein. Deshalb haben wir die moralische Pflicht, „dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demütigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten.“77 Die Frage ist nun, welche Anforderungen die Solidaritätspflichten, die der Staat stellvertretend übernehmen muss, an die politische Gestaltung von gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen stellen. Hierfür kann die Klassifikation von Wohltätigkeitspflichten wieder aufgegriffen werden: 1. Dem Recht auf Hilfe in Not, das gegenüber einer konkreten anderen Person geltend gemacht werden kann, entspricht einer allgemeinen vollkommenen Pflicht, deren Übernahme erzwungen werden kann und darf. Die gemeinschaftliche Rechtspflicht besteht darin, die Nothilfepflicht über eine gesetzliche Strafandrohung für unterlassene Hilfeleistung abzusichern und gegebenenfalls auch mit Sanktionen durchzusetzen. 2. Soziale Menschenrechte wie beispielsweise auf Nahrung, Kleidung und Unterkunft entsprechen allgemeinen, unvollkommenen Tugendpflichten, deren Erfüllung Tugendhat (Fn. 73), S. 366. Wolfgang Kersting, Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung, in: Ders., Politische Philosophie des Sozialstaats. Weilerwist: Velbrück Wissenschaft, 2000, S. 202 – 256. 77 Kant, MS (Fn. 47), S. 448 – 449. 75 76
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nicht individuell erzwungen werden darf. Der Staat darf beispielsweise keine beliebige Person dazu zwingen, einen Not leidenden Obdachlosen bei sich zu Hause aufzunehmen und zu versorgen. Die Solidaritätspflichten muss der Staat auf andere Weise gewährleisten. Die Verfügbarkeit von Nahrung, Kleidung und Unterkunft ist grundlegende Voraussetzung dafür, dass Menschen ihre Freiheit überhaupt realisieren können. Es handelt sich hier um freiheitsnotwendige Güter. Dabei kann aus dem Unabhängigkeitsprinzip abgeleitet werden, dass soziale Dienste und Leistungen so gewährt werden sollen, dass sie (zumindest für alle Erwachsenen) ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von anderen Personen möglich machen. Die damit einher gehenden Solidaritätspflichten muss der Staat stellvertretend für uns übernehmen. 3. Etwas schwieriger stellt sich die Implementierung von Rechten auf Hilfe, Unterstützung oder Sorge in spezifischen familiären und professionellen Beziehungen dar. Bei den korrespondierenden Pflichten handelt es sich um spezielle vollkommene Pflichten. Die Erfüllung dieser individuellen Pflichten muss institutionell unterstützt und materiell abgesichert werden. Die gemeinschaftliche Rechtspflicht ist daher der Unterhalt von Institutionen wie beispielsweise der Familien-, Jugend-, Alten- und Behindertenhilfe sowie eines Gesundheitswesens und eines Bildungssystems. 4. Auch Ansprüche auf Anteilnahme, empathische Zuwendung und Trost, aber auch der Anspruch, nicht abwertend und geringschätzig behandelt zu werden, können wir insofern als moralische Rechte bezeichnen, als wir wissen, dass alle Menschen in entsprechenden Lebenssituationen auf diese Rechte angewiesen sind. Die Missachtung dieser Rechte kann zu schweren Schädigungen der psychischen Integrität von Menschen führen. Das bedeutet, dass wir Gleichgültigkeit nicht als Grundsatz persönlicher und professioneller Hilfs-, Unterstützungs- und Sorgebeziehungen wollen können. Die genannten Rechte entsprechen speziellen unvollkommenen Pflichten in persönlichen und professionellen Hilfs-, Unterstützungs- und Sorgebeziehungen. Das sind für Kant die Liebes- und die Achtungspflichten, zu denen wir zwar moralisch verpflichtet sind, die aber nicht von außen erzwungen werden können. Allerdings ist es nicht möglich, diese als gemeinschaftliche Pflichten an den Staat zu delegieren, der dann Anteilnahme, Zuwendung, Trost, Achtung und Wertschätzung für diejenigen, denen es daran mangelt, organisiert. Trotzdem können wir hier eine gemeinschaftliche Verpflichtung formulieren. Diese besteht darin, die gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, unter denen die Bereitschaft zur Übernahme der Liebes- und Achtungspflichten gefördert und nicht behindert wird. Aber auch wenn genügend Menschen dazu bereit sind, bedürftigen Menschen zu helfen, sie zu unterstützen und für sie zu sorgen, können diese von ihren Aufgaben überfordert sein oder gar daran scheitern. Wenn es verbindliche Wohlfahrtsrechte von Menschen gibt, die auf Hilfe, Unterstützung und Sorge angewiesen sind, bedeutet das auch, dass es Aufgabe des Staates ist, persönliche durch professionelle Hilfs- und Sorgebeziehungen zu unterstützen, zu ergänzen und gegebenenfalls auch zu substituieren.
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Bedeutend ist nun, dass auch Kant selbst Wohltätigkeitspflichten als strikt verbindliche kollektive Rechtspflichten formuliert, die der Staat stellvertretend für die Gemeinschaft übernehmen muss, und nicht als freiwillige bürgerliche Tugendpflichten, an gemeinnützige Stiftungen zu spenden oder freiwillige Arbeit zu leisten, wie es seiner Zeit angemessen gewesen wäre. Dagegen könnte eingewandt werden, dass die gemeinschaftlichen Solidaritätspflichten nur eine Hilfskonstruktion darstellt, die letztlich doch mit individuellem Zwang zu Wohltätigkeit durch Steuern und Abgaben verbunden ist. Es gibt allerdings gute Gründe, die es dem Staat erlauben, derartigen Zwang auszuüben. Das ist zunächst der von Kant selbst genannte Grund, dass es sich um eine Volkspflicht handelt, die bereits im ursprünglichen Gesellschaftsvertrag enthalten ist. Ein weiterer Grund ist, dass es sich analog zum Nothilfegebot nur um einen relativ geringfügigen Zwangseingriff in die negative Freiheit der einzelnen Bürger handelt und die notwendige Hilfe, Unterstützung und Sorge für bedürftige Bürger, nicht anders geleistet werden kann. Das alles bedeutet, dass der Grundsatz, der für die Garantie der sozialen Menschenrechte angewendet werden muss, nicht die freiwillige bürgerliche Solidarität ist, sondern das Gerechtigkeitsprinzip, welches die wechselseitige Einschränkung von Freiheit rechtfertigt, um maximale Freiheit für alle – einschließlich bedürftiger und versorgungsabhängiger Personen – zu sichern. Zwangsabgaben oder -steuern zur Finanzierung sozialer Dienste und Leistungen sind im Allgemeinen dann gerechtfertigt, wenn Mitglieder der Gemeinschaft auf soziale Dienste und Leistungen angewiesen sind, um ihre Freiheit realisieren zu können bzw. die Bedingungen hierfür zu bewahren, zu erlangen oder wiederzuerlangen, wenn dadurch die zu den Abgaben oder Steuern herangezogenen Personen nicht unverhältnismäßig in ihren eigenen Freiheiten eingeschränkt werden und die Verteilung der gemeinschaftlichen Solidaritätspflichten als solche gerecht ist. Mit dieser Verhältnisbestimmung zwischen Wohlfahrtsrechten zur Verwirklichung von Freiheitsspielräumen einerseits und der Rechtfertigung der verhältnismäßigen Einschränkung von Freiheitsspielräumen durch Zwangssteuern und -abgaben andererseits lassen sich konkrete Kriterien für soziale Gerechtigkeit gewinnen. Auf diese Weise ist es, wie ich meine, überzeugend möglich, soziale Menschenrechte in Abhängigkeit von individuellen Bedürfnissen und Lebenssituationen zu begründen, dabei aber an der konsequenten Achtung des Rechts auf Selbstbestimmung derjenigen, denen individuelle Wohltätigkeits- und gemeinschaftliche Solidaritätspflichten auferlegt werden, aber auch derjenigen, denen die sozialen Dienste und Leistungen zu Gute kommen, festzuhalten. Dieses menschenrechtliche Konzept möchte ich als Konzept assistierter Freiheit bezeichnen.
Summary Human rights politics attach increasing importance to the inclusion of persons relying on support and care by formulating comprehensive claims for social human
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rights. The justification of social human rights, however, is, from a philosophical point of view, highly controversial. This article argues for a moral-philosophical justification of social human rights referring to the Kantian principles of human dignity and justice. On the basis of a differentiated classification of individual, charitable duties and collective duties of solidarity, social human rights claims are shown to be binding for society and the state. This means that the following demands are justified: the guarantee of social services with regard to individual needs and living conditions on the one side, and the rigorous abandonment of all forms of paternalism on the other. This concept of human rights is called the concept of assisted freedom.
Hat das Leben keinen Preis? Absolute und relative Ansprüche im System der Gesundheitsversorgung Stefan Huster
I. Wie absolut oder relativ sind soziale Rechte? 1. Die Relativität sozialer Rechte Assoziiert man mit dem Begriff der Solidarität das Prinzip der „Brüderlichkeit“ im Sinne eines solidarischen Füreinandereinstehens,1 so sind in modernen Gemeinwesen die sozial- oder wohlfahrtsstaatlichen Pflichten der öffentlichen Gewalt und die ihnen korrespondierenden sozialen Rechte der Bürger vornehmster Ausdruck dieses Prinzips. Dabei müssen diese Pflichten und Rechte nicht notwendigerweise verfassungsrechtlichen Rang haben – gerade das deutsche Beispiel zeigt, dass verfassungsrechtliche Zurückhaltung und ein gut ausgebauter Sozialstaat Hand in Hand gehen können. Im Gegenteil: Vielleicht sind soziale Rechte auf der Verfassungsebene gar nicht gut aufgehoben. Zwar wird man das Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) nicht mehr in die juristische Schmuddelecke stellen wollen,2 aber soziale Rechte und Gehalte scheinen für Verfassungen und Rechtedeklarationen mit universellem Geltungsanspruch nur begrenzt geeignet zu sein und finden sich dort auch nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die liberalen Abwehrrechte. Erklärt werden kann dies mit einer doppelten Relativität der sozialen Rechte. Zum einen finden wir auch unter politischen Ordnungen, die sich zum Grundsatz der Menschenwürde und zu den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen, eine erstaunlich große Spannbreite von Positionen zur Frage, ob der Staat gegenüber seinen Bürgern soziale Verpflichtungen hat. Das kontinentaleuropäische Modell des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats hat sich nicht in gleicher Weise wie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie durchgesetzt. Offensichtlich folgen nicht aus allen Auffassungen von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit soziale Verpflichtungen des Staates und soziale Rechte der Bürger. Dies soll hier als 1 Zum Rechtsbegriff der Solidarität vgl. umfassend Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, Tübingen: Mohr, 1998. 2 Wie es noch Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff., getan hat.
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die Relativität der Geltung sozialer Rechte bezeichnet werden.3 Selbst wenn soziale Rechte und sozialstaatliche Verpflichtungen grundsätzlich anerkannt werden, ist zum anderen ihr Inhalt stark von den jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig. Dies wird auch in den einschlägigen Rechteerklärungen anerkannt, wenn es etwa in Art. 11 Abs. 1 S. 1 IPWSKR (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) heißt, dass jeder ein Recht auf einen „angemessenen Lebensstandard“ habe: Welcher Lebensstandard „angemessen“ ist, lässt sich sicherlich nicht einheitlich für die Schweiz und Äthiopien beantworten; der vage Begriff der Angemessenheit erlaubt hier differenzierende Lösungen vor dem Hintergrund der Verhältnisse in dem jeweiligen Gemeinwesen. Diese inhaltliche Relativität sozialer Rechte und Pflichten schlägt auch auf Rechtsordnungen durch, in denen die Geltung dieser Rechte und Pflichten nicht mehr umstritten ist. In juristisch-dogmatischer Hinsicht hat dies zur Folge, dass die kontrollierenden Gerichte sich schwer tun, den Leistungsinhalt selbst zu bestimmen, und in einem weiten Umfang den Ball an die Politik zurückspielen. So heißt es in der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums: „Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.“4
Diese Aussage ist schon deshalb interessant, weil sie einen Anspruch, der zuvor aus dem ganz und gar universalistischen Begriff der Menschenwürde abgeleitet wurde, nun durch den Bezug auf „gesellschaftliche Anschauungen“ und „Gegebenheiten“ relativiert. Bekanntlich hat sich das Gericht aus dem Dilemma, auf der einen Seite einen solchen Anspruch konstruieren zu wollen, ihn aber auf der anderen Seite nicht selbst inhaltlich füllen zu können, in der Weise befreit, dass es sich darauf beschränkt zu prüfen, ob „der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht“, bemessen hat.5
3 Eine entsprechende Relativität findet sich dann auch in der politischen Theorie: Über die Existenz liberaler Abwehrrechte bestand etwa zwischen Rawls, A Theory of Justice, Cambridge: Harvard UP, 1971, und Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York: Basic Books, 1974, weitgehende Übereinstimmung, hinsichtlich der sozialen Rechte sah dies bekanntlich anders aus. 4 BVerfGE 125, 175 Rn. 138. 5 BVerfGE 125, 175 Rn. 139. Zur Diskussion dieses Umschwenkens auf eine Verfahrensund Begründungskontrolle vgl. nur Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, S. 754 ff.
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2. Die Sicherung des physischen Existenzminimums als unbedingte und absolute Rechtspflicht? Allerdings gilt dieser gesetzgeberische „Gestaltungsspielraum“ nicht überall in der gleichen Weise: „Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht.“ Wo es um die Gewährleistung der Voraussetzungen der physischen Existenz geht, sollen die Maßstäbe wohl eindeutiger sein als in Bezug auf das soziale oder soziokulturelle Existenzminimum, also die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ und ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“.6 Diese Differenzierung leuchtet im Grundsatz ein: Gesellschaftliche Teilhabe ist in einem anderen Sinne konkretisierungsbedürftig als das nackte Überleben. Man wird allerdings zwei – miteinander zusammenhängende – Überinterpretationen dieser Einsicht vermeiden müssen: Zum einen legt sie das Missverständnis nahe, dass sich die „Sicherung des physischen Überlebens“7 in dem Sinne von selbst versteht, dass insoweit auf universelle anthropologische Befunde Bezug genommen werden kann und sie deshalb nicht an den jeweiligen gesellschaftlichen Üblichkeiten ausgerichtet werden muss. Tatsächlich scheint diese Unbedingtheit des Anspruchs und der entsprechenden Rechtspflicht nahe zu liegen: Was man zum Leben braucht, braucht man eben; und was das ist, wird eher ein Mediziner aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse als ein Gesellschaftswissenschaftler oder gar ein Politiker anhand „gesellschaftlicher Anschauungen“ und „Gegebenheiten“ definieren können. Zum anderen scheint hinter dieser Differenzierung die Überzeugung zu stehen, dass die Sicherung des physischen Überlebens eine äußerst strenge, tendenziell absolute Schutzpflicht des Staates mit sich bringt, die durch politische Prioritätensetzungen und Kostenerwägungen nicht relativiert werden kann. Die Sicherung des physischen Überlebens hat uneingeschränkten Vorrang, so dass alle anderen Rechtsgüter demgegenüber zurücktreten müssen; deshalb kann auch von einem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers insoweit nicht mehr die Rede sein: Da die reine Existenz keinen Preis hat, kann auch kein Preis zu hoch sein.
II. Nutzen und Kosten in der Gesundheitsversorgung 1. Gesundheit als fundamentales Rechtsgut Die Prämissen der Unbedingtheit und der Absolutheit der sozialstaatlichen Pflichten und Rechte, die auf die Sicherung der physischen Existenz bezogen sind, 6 7
BVerfGE 125, 175 Rn. 135. BVerfGE 125, 175 Rn. 166.
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sind schon auf den ersten Blick von besonderer Bedeutung, soweit es um das Rechtsgut der Gesundheit geht. Tatsächlich hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur Grundsicherung ausgeführt, der „unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ umfasse „die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit“.8 Nun mag man diese Formulierung mit Blick auf die Gesundheit für missverständlich halten: Ein „Recht auf Gesundheit“ kann es – anders als einen Anspruch auf Nahrung, Kleidung oder Hausrat – sinnvollerweise nicht geben, da Gesundheit von vielen Faktoren – etwa der genetischen Ausstattung und dem gesundheitsbezogenen Verhalten – abhängt, auf die der Staat keinen Einfluss hat oder die er nur unter Aufgabe seiner Freiheitlichkeit kontrollieren könnte. Gemeint kann daher lediglich sein, dass der Staat seinen Bürgern – und zwar insbesondere denjenigen, die dies nicht aus eigener Kraft sicherstellen können9 – die zur Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesundheit notwendigen, aber dafür gewiss nicht immer hinreichenden materiellen Voraussetzungen gewährleisten muss. In diesem Sinne hatte das BVerfG zuvor sehr viel plausibler die „Aufwendungen für die Kranken- und Pflegeversorgung, insbesondere entsprechende Versicherungsbeiträge“ als Bestandteil des Existenzminimums bezeichnet.10 In diesem Sinne gibt es dann aber tatsächlich überzeugende Gründe, den Sozialstaat auch und sogar vorrangig auf die Gesundheit seiner Bürger zu verpflichten. Gesundheitliche Beeinträchtigungen haben eine existenzielle Dimension, die andere soziale Defizite nicht in der gleichen Weise besitzen: So schlimm es sein mag, etwa keine Arbeit zu haben oder sein Leben mit sehr begrenztem Einkommen fristen zu müssen, so unvergleichbar intensiver ist die Erfahrung einer schweren, vielleicht sogar lebensbedrohenden Krankheit und der damit verbundenen Schmerzen, Beeinträchtigungen und psychischen Belastungen.11 Gesundheit ist darüber hinaus ein konditionales oder – im kantischen Sinne des Wortes – transzendentales Gut, das die Voraussetzung für viele andere Lebensvollzüge darstellt.12 Gegen eine Einschränkung der Lebensführung durch gesundheitliche Probleme angehen zu können, soweit dies medizinisch möglich ist, ist deshalb gerade in einer WettbewerbsBVerfGE 125, 175 Rn. 135; Hervorhebung hinzugefügt. BVerfGE 125, 175 Rn. 134. 10 BVerfGE 120, 125, 155 f. 11 Die im deutschen Verfassungsrecht ganz überwiegend vertretene freiheitsfunktionale Rekonstruktion des Sozialstaats (vgl. zuletzt Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, Tübingen: Mohr, 2008) stößt daher gerade mit Blick auf die Gesundheitsversorgung an ihre Grenzen, weil es hier ersichtlich nicht nur um Freiheitsbedingungen geht (dazu sogleich), sondern eben auch um die leibliche Befindlichkeit des Menschen, die einen eigenständigen Stellenwert besitzt und nur um den Preis anthropologischer und lebensweltlicher Unplausibilität auf eine Autonomievoraussetzung reduziert werden kann. 12 Vgl. Kersting, Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerwist: Velbrück Wissenschaft, 2000, S. 467, 477 ff. 8 9
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und Leistungsgesellschaft von zentraler Bedeutung, weil dadurch eine Chancengleichheit befördert wird, die die differenzierten Ergebnisse dieses Wettbewerbsprozesses erst legitimiert.13 2. Absolutheit und Unbedingtheit medizinischer Versorgungsansprüche? Mit Blick auf das offensichtlich existenzrelevante Gut der Gesundheit richtet sich die politische und juristische Aufmerksamkeit – vielleicht etwas vorschnell14 – ganz überwiegend auf das System der Gesundheitsversorgung und die Versorgungsansprüche der Bürger. Diese Ansprüche scheinen die ersten Kandidaten zu sein, wenn man nach absoluten und unbedingten sozialen Rechten sucht – insbesondere dann, wenn eine medizinische Leistung im Wortsinne lebensnotwendig ist. Denn aus welchen Gründen sollte ein Gemeinwesen eine solche Behandlung legitimerweise versagen können? Und in welcher Weise sollte die Bestimmung dieser Leistung nicht unbedingten medizinischen, sondern relativen politischen Kriterien folgen? Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Dinge komplizierter sind. Dies gilt sowohl für die Absolutheit als auch für die Unbedingtheit dieser Ansprüche. a) Absolutheit Absolute Leistungsansprüche auf eine bestimmte medizinische Maßnahme wären dann plausibel, wenn diese Maßnahme – wie etwa die Entfernung eines entzündeten Blinddarms oder die Gabe eines Antibiotikums bei einer Lungenentzündung – keine erheblichen Kosten verursacht und das Leben des Betroffenen rettet. Kein halbwegs leistungsfähiges und dem Gedanken der Solidarität verpflichtetes Gemeinwesen kann darauf verzichten, in dieser Situation den Leistungszugang für jedermann sicherzustellen. Leider ist dies aber nicht die Situation, die für die moderne Medizin typisch ist. Vielmehr haben wir es hier – insbesondere bei schweren Krankheiten und am Lebensende – oft mit Therapien zu tun, die sehr hohe Kosten verursachen, aber nur einen begrenzten Nutzen haben. Gerade in der Onkologie sind Behandlungen nicht selten, die Jahrestherapiekosten in sechsstelliger Höhe verursachen, aber bestenfalls zu einer durchschnittlichen Verlängerung des Überlebens von wenigen Monaten (bei häufig auch erheblichen Nebenwirkungen und geminderter Lebensqualität) führen. Hier ist es dann schon weniger überzeugend, mit dem Hinweis auf die „Überlebensnotwendigkeit“ der Behandlung, jede Diskussion darüber abzuschnei13 Vgl. dazu grundlegend Daniels, Just Health Care, Cambridge: Cambridge UP 1985, S. 36 ff. 14 Vgl. dazu sogleich bei II. 2. a).
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den, ob sie von dem jeweiligen Solidarsystem zu gewährleisten ist. Das liegt nicht nur an den hohen Kosten, sondern auch daran, dass die normative Wucht, die eine Maßnahme der Lebensrettung sonst zweifellos besitzt, wohl überstrapaziert wird, wenn sie nun auch auf Maßnahmen übertragen werden soll, die den Patienten nicht im Vollsinne „zurück ins Leben holen“, sondern lediglich noch eine gewisse Lebensverlängerung bewirken.15 Auch wenn die Grenzen hier fließend sein mögen, muss man schon ein sehr energischer Verfechter des in juristischen Zusammenhängen gerne bemühten Konzepts der Lebenswertindifferenz sein,16 um hier gar keinen Unterschied für die Solidarpflichten des Gemeinwesens zu erkennen: Die auf einer fundamentalen Ebene ganz richtige Einsicht, dass jedes Leben gleich viel wert ist, kann nicht so konkretistisch gelesen werden, dass es für die Leistungspflichten ganz unerheblich ist, welchen Nutzen eine medizinische Maßnahme hat. Das gilt übrigens auch für die Frage, wie gut der Nutzen einer Maßnahme nachgewiesen ist.17 Dass wir medizinische Maßnahmen mit einem sehr schlechten Verhältnis von Nutzen und Kosten auch dann nicht unbesehen in den Leistungskatalog eines solidarischen Gesundheitssystems aufnehmen sollten, wenn sie Einfluss auf die konkrete Lebenserwartung haben, ergibt sich nicht nur daraus, dass wir wissen, dass die begrenzten Ressourcen des Gemeinwesens auch noch für andere wichtige Aufgaben zur Verfügung stehen müssen. Selbst wenn man nur das Gut der Gesundheit selbst vor Augen hat, können die Opportunitätskosten18 des Versorgungssystems Bedenken auslösen. Empirische Untersuchungen zeigen nämlich, dass sowohl der Gesundheitszustand der Bevölkerung – traditionell formuliert: die Volksgesundheit – als auch die soziale Verteilung von Gesundheit nicht nur von der Qualität des Versorgungssystems und dessen Zugänglichkeit, sondern auch und sogar maßgeblich von anderen Faktoren (Lebensstil, Umweltbelastungen, Sozialstruktur) abhängen, die überhaupt erst dazu führen, dass Menschen krank werden. Da das Versorgungssystem mit anderen Staatsaufgaben (z. B. Bildung und Umweltschutz) um die knappen Ressourcen konkurriert und auf diesen Handlungsfeldern möglicherweise sehr viel mehr für die Gesundheit getan werden könnte, spricht wenig dafür, das Versorgungssystem und die Versorgungsansprüche kompromisslos zu priorisieren.19 Dies 15 Zu den Grenzen der insoweit einschlägigen „Rule of Rescue“ vgl. Schöne-Seifert / Friedrich, Priorisierung nach Dringlichkeit?, in: Schmitz-Luhn/ Bohmeier (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, Berlin/ Heidelberg: Springer, 2013, S. 109 ff. 16 Vgl. BVerfGE 39, 1, 59 f.; 115, 118 Rn. 85. 17 Zu diesem Aspekt vgl. unten bei II.3.b). 18 Zum Begriff und seiner Bedeutung für die Jurisprudenz vgl. Huster / Kliemt, Opportunitätskosten und Jurisprudenz, ARSP 2009, S. 241 ff. 19 Vgl. dazu auch bereits Huster, Posteriorisierung der Gesundheitspolitik? Opportunitätskosten in der Rechtsdogmatik des Sozialstaats, in: Butzer/ Kaltenborn/ Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 2008, S. 463 ff.; ders., Gesundheitsgerechtigkeit: Public Health im Sozialstaat, JZ 2008, S. 859 ff.; ders., Soziale Gesundheitsgerechtigkeit. Sparen, umverteilen, vorsorgen?, Berlin: Wagenbach, 2011.
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gilt selbst für die soziale Verteilung der Gesundheitschancen: Dass sich auch für Deutschland ein eindeutiger Zusammenhang von Sozialstatus und Gesundheitszustand nachweisen lässt, kann schon deshalb nur wenig mit dem Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu tun haben, weil sich dieser soziale Gesundheitsgradient durch die gesamte Bevölkerung zieht. Auch die soziale Gerechtigkeit gebietet daher schwerlich, alle Ressourcen in das Versorgungssystem zu leiten. Gewiss macht es einen Unterschied, ob man den von einer Krankheit konkret Betroffenen helfen kann, oder ob man statistische Opfer (etwa von Feinstaub oder anderen Umweltbelastungen) rettet.20 Aber irgendwann stellt sich auch hier die Frage, wie die Prioritäten bei der Ressourcenallokation zu setzen sind. b) Unbedingtheit Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, dass es absolute Leistungsrechte selbst dann, wenn es um Leben und Tod geht, nicht geben kann. Die normative Entscheidung, welche Kosten für einen bestimmten medizinischen (Zusatz-) Nutzen angemessen sind, kann nicht durch den Hinweis, dass das Leben keinen Preis haben dürfe, vermieden werden: In diesen Fällen hat es ersichtlich einen Preis. Das wird auch schon daran deutlich, dass die Zahlungsbereitschaft der Solidargemeinschaft für eine innovative medizinische Methode wohl doch davon abhängen darf und sollte, in welchem Ausmaß diese Methode das Leben verlängert. Dementsprechend sieht das deutsche Recht vor, dass in Verhandlungen bzw. im Wege einer Kosten-Nutzen-Bewertung der Preis von neuen Arzneimitteln auch anhand des Kriteriums bestimmt wird, welche „Verlängerung der Lebensdauer“ (§ 35b Abs. 1 S. 4 SGB V) erreicht wird. Höhere Lebensdauer, höherer Preis; von Lebenswertindifferenz ist hier – sinnvollerweise – keine Rede.21 Damit können die entsprechenden Versorgungsansprüche aber auch nicht unbedingt sein; auch sie hängen vielmehr von den „gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche“ ab und sind – juristisch gewendet – daher vom Gesetzgeber zu konkretisieren. Wenn es keine „Lebensrettung um jeden Preis“ gibt,22 muss das Gemeinwesen entscheiden, was es für wel20 Zur Unterscheidung von konkreten und statistischen Leben vgl. Schelling, The life you save may be your own, in: Chase, Jr. (Hrsg.), Problems in Public Expenditure Analysis, Washington: The Brookings Institution, 1968, S. 127 ff. 21 Zu diesen Verfahren vgl. näher Huster, Die Methodik der Kosten-Nutzen-Bewertung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, GesR 2008, S. 449 ff.; ders., Die Methodik der Kosten-Nutzen-Bewertung in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Analyse der rechtlichen Vorgaben, MedR 2010, S. 234 ff.; ders., Rechtsfragen der frühen Nutzenbewertung, GesR 2011, S. 76 ff. 22 Gerade in der rechtswissenschaftlichen Diskussion ist es allerdings nicht unüblich, für Maßnahmen zur „Verhinderung des vermeidbaren Todes, die Heilung und Linderung von Krankheiten sowie des damit verbundenen Schmerzes“ einen „Individualanspruch auf Gesundheit um jeden Preis“ zu postulieren; so etwa Paul Kirchhof, Gerechte Verteilung medizini-
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chen medizinischen Zusatznutzen – einschließlich einer Lebensverlängerung – auszugeben bereit ist; diese Entscheidung kann weder an die Medizin noch an eine andere Wissenschaft delegiert werden, sondern stellt ersichtlich eine Frage des politischen Wollens und – in einem näher zu bezeichnenden Sinne – des moralischen Sollens dar. 3. Der neue Rigorismus in der deutschen Verfassungsrechtsprechung Überraschenderweise hat sich die Rechtsprechung des BVerfG in den letzten Jahren in eine andere Richtung entwickelt und die verfassungsrechtlichen Ansprüche auf existenznotwendige medizinische Leistungen auf eine eigenartige Weise verfestigt. a) Der „Nikolaus-Beschluss“ Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) neue Untersuchungs- und insbesondere Behandlungsmethoden für die vertragsärztliche Versorgung zur Verfügung stellen muss, wird seit geraumer Zeit kontrovers erörtert. Angesichts der Vielzahl von Methoden, die ohne gesicherten Nutzennachweis in die Krankenversorgung drängen, ist dies eine Frage, die sowohl für die Sicherheit der Patienten als auch für die Finanzen der GKV von erheblicher Bedeutung ist. Mit einem Grundsatzurteil des BSG vom 16. 9. 1997 schien hier eine gewisse Klärung erreicht zu sein.23 Danach setzte ein Leistungsanspruch des Versicherten voraus, dass der zuständige Bundesausschuss – der zwischenzeitlich durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) abgelöst worden ist – in seinen Richtlinien gem. §§ 92 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. 135 Abs. 1 S. 1 SGB V eine Empfehlung zugunsten der begehrten Behandlungsmethode abgegeben hat. Ein Kostenerstattungsanspruch trotz fehlender Empfehlung kam nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Anerkennungsverfahren im Bundesausschuss willkürlich oder aus sachfremden Gründen blockiert oder verzögert wird (sog. Systemversagen) und die umstrittene Behandlungsmethode dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Letzteres setzte grundsätzlich voraus, dass die Wirksamkeit der Methode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen aufgrund wissenschaftlich einwandfrei geführter Statistiken belegt werden kann. Nun bereitet dieser Nachweis bei sehr seltenen und solchen Krankheiten, für die keine Heilungsmöglichkeit besteht, sondern lediglich die Symptome gelindert werden scher Leistungen im Rahmen des Finanzierbaren, Münchener Medizin. Wochenschr. 140 (1998), Nr. 14, S. 200 ff. 23 BSGE 81, 54 ff.; vgl. auch BSGE 81, 73 ff.; 86, 54 ff.; 88, 51 ff.
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können, besondere Schwierigkeiten. In diesen Fällen sollten die Sozialgerichte nicht selbst die medizinisch-wissenschaftliche Qualität der Methode prüfen, sondern fragen, ob sich die Methode in dem Sinne durchgesetzt hat, dass sie in der medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden hat und von einer erheblichen Anzahl von Ärzten angewandt wird. Allerdings ist diese Rechtsprechung nicht ohne Einwände geblieben. Die zentrale Bedeutung des § 135 SGB V in dieser Dogmatik beruht auf dem umstrittenen Rechtskonkretisierungskonzept des BSG, das in dem Leistungsanspruch des Versicherten lediglich ein Rahmenrecht erkennen will, das durch konkretisierende Regelungen des Leistungserbringerrechts verbindlich ausgestaltet werden muss.24 Dass dies maßgeblich durch die Richtlinien des Bundesausschusses geschehen soll, denen das BSG seit Inkrafttreten des SGB V Rechtswirkung auch gegenüber den Versicherten zuspricht und denen gegenüber es die gerichtliche Kontrolle weit zurückgenommen hat, ist mit Blick auf die brüchige demokratische Legitimation der „gemeinsamen Selbstverwaltung“ kritisiert worden.25 Trotz dieser kritischen Nachfragen schien der Rechtsprechung des BSG von Seiten des BVerfG aber zunächst keine Gefahr zu drohen. Bisher hatte das BVerfG nämlich sehr zurückhaltend entschieden, dass sich aus den Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereithaltung spezieller Gesundheitsleistungen ergibt; die objektivrechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen, sei unter Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit der zuständigen staatlichen Stellen lediglich darauf gerichtet, dass die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechts trifft, die nicht völlig ungeeignet oder unzulänglich sind.26 Auch in der Frage der Legitimation des Bundesausschusses deutete die Entscheidung zur Befugnis der Spitzenverbände der Krankenkassen, für Arzneimittel Festbeträge festzusetzen, eine gewisse Toleranz des Verfassungsgerichts gegenüber den eigentümlichen Norm- und Entscheidungsstrukturen des Krankenversicherungsrechts an.27 In der am 6. Dezember 2005 ergangenen und deshalb als „Nikolaus-Beschluss“ bekannt gewordenen Entscheidung, die auf die Verfassungsbeschwerde gegen das genannte BSG-Urteil erging, wurde der Akzent dann deutlich anders gesetzt. Das BVerfG befasste sich nicht mit der legitimationsrechtlichen Diskussion, sondern konstruierte einen unmittelbaren grundrechtlichen Leistungsanspruch: Danach besitzt ein gesetzlich Krankenversicherter aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem SozialVgl. BSGE 73, 271, 278 ff.; 78, 70, 85 ff. Aus der umfangreichen Diskussion vgl. etwa Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Tübingen: Mohr, 2000, S. 391 ff. und passim; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Berlin/ Heidelberg: Springer, 2001, S. 453 ff.; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen: Mohr, 2005, S. 184 ff. 26 BVerfG NJW 1997, S. 3085; NJW 1998, S. 1775, 1776. 27 BVerfGE 106, 275 ff. Grundsätzlich zur demokratischen Legitimation funktionaler Selbstverwaltung vgl. BVerfGE 107, 59 ff. 24 25
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staatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 GG einen Anspruch auf eine von ihm gewählte und ärztlich angewandte, aber weder medizinisch noch von den dazu aufgerufenen Organen der GKV anerkannte Behandlungsmethode, wenn für seine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch diese Behandlungsmethode besteht.28 b) Kritik Dass diese Entscheidung zielführend ist, mag man bezweifeln. Zum einen erheben sich Bedenken gegen die Unbedingtheit des hier angenommenen Anspruchs. Diese Rechtsprechung dürfte nämlich weithin Unmögliches verlangen. Einen – in den Worten des Gerichts – „individuellen Wirkungszusammenhang“ zu überprüfen, ist bei schwankenden Krankheitsverläufen und den bekannten Placebo-Effekten häufig ein aussichtsloses Unterfangen. Da der fragliche Anspruch verfassungsrechtlicher Natur ist, scheint es völlig unerheblich zu sein, was der Gesetzgeber oder die einschlägigen Gremien beschließen: Den Gerichten bleibt nichts anderes übrig, als diese Entscheidungen selbst zu überprüfen. Angesichts der Verzweiflung lebensbedrohlich Erkrankter, denen die Schulmedizin nichts mehr zu bieten hat und die daher nach jedem Strohhalm greifen, ist es nicht erstaunlich, dass das Verfassungsgericht eine Klagewelle mit sehr ungewissem Ausgang eingeleitet hat.29 Polemisch zugespitzt bedeutet sie nämlich: Wenn bei ernsteren Krankheiten und insbesondere Lebensgefahr die Schulmedizin nicht weiterhilft, kann man es auf Kosten der Solidargemeinschaft auch mit Quacksalberei – im konkreten Fall ging es um die Bioresonanztherapie und ähnlichen Unfug – versuchen. Mit der „Nikolaus-Entscheidung“, deren Grundsätze der Gesetzgeber mit Erlass des § 2 Abs. 1a in das SGB V aufgenommen hat,30 ist die Evidenzorientierung für Fälle der „lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder (…) einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung“ weithin aufgegeben worden. Dieser Rigorismus ist schon deshalb eigenartig, weil Maßnahmen, die ihren Nutzen nicht nachgewiesen haben, bei begrenzten Mitteln sehr ernsthafte Kandidaten für einen Ausschluss aus dem Versorgungskatalog sind. Nur ist das dann eine von politischen Prioritätensetzungen abhängige normative, keine unbedingte medizinische Entscheidung.31 BVerfGE 115, 25 ff. Zur Folgerechtsprechung vgl. die Darstellungen bei Nimis, Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für neue Behandlungsmethoden – 8 Jahre Nikolausentscheidung des BVerfG, KrV 2013, S. 229 ff.; Penner / Bohmeier, Die Umsetzung des Nikolaus-Beschlusses durch die Sozialgerichtsbarkeit, WzS 2009, S. 65 ff. Eine fortlaufend aktualisierte Übersicht zu den Folgeentscheidungen findet sich auf den Seiten des Instituts für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum (http://www.nikolaus-beschluss.de/ ). 30 Vgl. dazu Joussen, § 2 Abs. 1a SGB V – Die Umsetzung des Nikolausbeschlusses des BVerfG, SGb 2012, S. 625 ff. 28 29
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Zum anderen: Dass es Versicherte und Patienten in dieser Situation auch mit ungesicherten Behandlungsmethoden sollen versuchen können, mag man noch für nachvollziehbar halten – auch wenn man daran zweifeln kann, ob das tatsächlich ein Verfassungsgebot ist.32 Extrem irritierend ist aber, dass dieser Anspruch kostenindifferent sein soll. Weder in der Entscheidung des Verfassungsgerichts noch in § 2 Abs. 1a SGB V ist von den Kosten der begehrten Maßnahme die Rede. Dabei läge es doch mehr als nahe, die Kosten für derartige Leistungen mit zu berücksichtigen: Dass die schwerkranken Betroffenen sich nicht an den strengen Evidenzanforderungen sollen festhalten lassen müssen, kann ja nicht bedeuten, dass ungesicherte Methoden grenzenlos Ressourcen in Anspruch nehmen können. Das BVerfG hält es inzwischen immerhin für möglich, dass ein Versicherter eine nicht anerkannte Immuntherapie (Hyperthermie, onkolytische Viren und dendritische Zellen) bei einem Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren mit Kosten von 15.000 Euro pro Monat beanspruchen kann.33 Sollte die Solidargemeinschaft aber nicht irgendwann einmal sagen können, dass 180.000 Euro Jahrestherapiekosten für eine zweifelhafte Methode die Grenze des Zumutbaren überschreiten? Ein derartiger Absolutismus mit Blick auf den – in den Worten des Gerichts – „Höchstwert Leben“34 führt zu äußerst unplausiblen Konsequenzen. So könnten wir individuell und kollektiv der Ansicht sein, dass gerade auf medizinische Maßnahmen am Lebensende verzichtet werden sollte, die nur eine Lebensverlängerung von wenigen Wochen bei sehr begrenzter Lebensqualität, aber sehr hohen Kosten bieten. Es ist nicht zu sehen, warum diese Entscheidung unvernünftig oder unmoralisch wäre; das Verfassungsrecht sollte uns nicht zwingen, für marginale Lebensverlängerungen Unsummen auszugeben. In diesem ganz unverdächtigen Sinne sind die Gesundheit und selbst der „Höchstwert Leben“ einer Kosten-Nutzen-Abwägung nicht entzogen. In Deutschland tut man sich schwer mit dieser Einsicht. Die Überzeugung, Leben und Gesundheit dürften nicht monetär bewertet werden, ist hierzulande gerade in der juristischen Diskussion weit verbreitet. Diese Einstellung mag irgendwie mit der deutschen Geschichte zusammenhängen, sonderlich überzeugend ist sie dennoch nicht. Zum einen überträgt sie das Verbot, Leben und Gesundheit zur Verfolgung anderer Ziele zu schädigen, unbesehen auf die Solidaritätspflicht. Das eine folgt aber nicht aus dem anderen: Dass wir niemanden töten oder verletzen dürfen, um Kosten zu sparen, bedeutet noch nicht, dass wir unbegrenzte Ressourcen bereit31 Vgl. dazu Huster, Qualitätssicherung als staatliche Aufgabe – Zum Verhältnis von Qualität und Wirtschaftlichkeit im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 2013, S. 327, 337 ff. 32 Zur verfassungsrechtsdogmatischen Kritik vgl. Heinig, Der Hüter der Wohltaten?, NVwZ 2006, S. 771 ff.; Huster, Anmerkung, JZ 2006, S. 466 ff. 33 Vgl. BVerfG NJW 2013, S. 1664 f. 34 Zum Leben als „Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung“ vgl. BVerfGE 115, 25, 45.
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stellen müssen, um Leben und Gesundheit zu erhalten. Zum anderen überlegen wir auch außerhalb des Gesundheitswesens ständig, ob etwa Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit des Verkehrs oder zur Vermeidung von gesundheitsschädlichen Umweltbelastungen ihren Preis wert sind, obwohl es auch dabei um Leben und Gesundheit geht. Warum sollte das im Gesundheitswesen anders sein? Das Argument, derartige Abwägungen sollten jedenfalls nicht offengelegt werden, weil dies die normativen Voraussetzungen des Zusammenlebens gefährden könnte,35 befördert eine reine Symbolpolitik, die irrationalen Prioritätensetzungen Vorschub leistet.36 Es stellt demokratischen Gemeinwesen auch ein Armutszeugnis aus zu suggerieren, ihre Bürger seien nicht in der Lage, über Nutzen und Kosten medizinischer Maßnahmen zu reflektieren, ohne gleich in einen moralischen Abgrund zu stürzen. 4. Das Gegenbeispiel des Schweizerischen Bundesgerichts In anderen Ländern werden derartige Abwägungen vorgenommen. Wenn das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) mehr oder weniger strikte Kostenobergrenzen für Gewinne an Lebenszeit und -qualität festsetzt, könnte das noch als kruder angelsächsischer Utilitarismus abgetan werden. Aber auch in der Schweiz konnte man kürzlich in einem Urteil des Bundesgerichts lesen: „Die Kostenfrage kann nicht auf die Seite geschoben werden mit der bloßen Behauptung, es sei ethisch oder rechtlich unzulässig, Kostenüberlegungen anzustellen, wenn es um die menschliche Gesundheit gehe“.37 Verhandelt wurde die Leistungspflicht der Krankenversicherung für ein Medikament, das zur Behandlung einer Stoffwechselkrankheit (Morbus Pompe) eingesetzt werden sollte, die sich insbesondere auf die Muskulatur auswirkt. Die eineinhalbjährige Behandlung, zu der es keine Therapiealternative gibt, führt dazu, dass sich die 6-Minuten-Gehstrecke der Betroffenen von circa 330 Metern durchschnittlich um 28 Meter verbessert; sie kostet allerdings rund 500.000 Schweizer Franken pro Jahr. Das Gericht sieht glasklar das Problem: „Die finanziellen Mittel, die einer Gesellschaft zur Erfüllung gesellschaftlich erwünschter Aufgaben zur Verfügung stehen, sind nicht unendlich. Die Mittel, die für eine bestimmte Aufgabe verwendet werden, stehen nicht für andere ebenfalls erwünschte Aufgaben zur Verfügung. Deshalb kann kein Ziel ohne Rücksicht auf den finanziellen Aufwand angestrebt werden, sondern es ist das Kosten-/ Nutzen- oder das Kosten-/ Wirtschaftlichkeitsverhältnis zu bemessen. Das gilt auch 35 Vgl. dazu Calabresi / Bobbitt, Tragic Choices, New York: W.W. Norton & Company, 1978. 36 Zu diesen Irrationalitäten dürfte gerade auch die groteske Überbewertung von Maßnahmen gehören, die am Lebensende eine marginale Lebensverlängerung bewirken, aber extreme Nebenwirkungen und Kosten produzieren, während eine vernünftige Palliativversorgung posteriorisiert wird; vgl. dazu jetzt einleuchtend Schmacke, Palliativmedizin: ein Fall von Rationierung?, in: Diederich u. a. (Hrsg.), Priorisierte Medizin, Wiesbaden: Gabler, 2011, S. 59 ff. 37 Vgl. Schweizerisches Bundesgericht, Urteil v. 23. 11. 2010, 9C_334 / 2010 (Auslassungen sind im Folgenden nicht markiert), abgedruckt in MedR 2012, S. 324 ff.
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für die Gesundheitsversorgung.“ Erklärt wird auch, wohin es führt, wenn man diese Problematik tabuisiert: „Sodann ist allgemein- und gerichtsnotorisch, dass in der alltäglichen medizinischen Praxis die Kostenfrage eine erhebliche Rolle spielt und verbreitet eine Art implizite oder verdeckte Rationierung stattfindet. Diese Situation ist unbefriedigend, weil sie für alle Beteiligten große Rechtsunsicherheit und zugleich Rechtsungleichheit schafft, indem bestimmte Behandlungen je nach dem Entscheid einzelner Ärzte oder Krankenkassen vorgenommen bzw. vergütet werden oder nicht.“ Es gleicht dann die eingeklagten Behandlungskosten mit den Kosten ab, die sowohl für andere Therapien als auch in anderen Lebensbereichen für gesundheitsbezogene Verbesserungen in der Schweiz akzeptiert werden, und findet schließlich über den Gleichheitsgedanken eine beeindruckende Lösung des konkreten Falls: „Statistisch sind 2,8 % der schweizerischen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren in ihrem Gehvermögen auf weniger als 200 m beschränkt, was rund 180.000 Personen entspricht, die mit einer ähnlich eingeschränkten Lebensqualität wie die Beschwerdeführerin leben müssen. Mit einem Aufwand von rund Fr. 500.000 pro Jahr ließe sich möglicherweise bei den meisten dieser Menschen die Lebensqualität in vergleichbarem Ausmaß wie bei der Beschwerdeführerin verbessern. Würde bei der Beschwerdeführerin ein solcher Aufwand betrieben, wäre im Licht der Rechtsgleichheit kein Grund ersichtlich, allen anderen Patienten in vergleichbarer Lage einen gleichen Aufwand zu verweigern. Dadurch entstünden jährliche Kosten von rund 90 Mrd. Franken. Das ist rund das 1,6-Fache der gesamten Kosten des Gesundheitswesens oder etwas mehr als 17% des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Schweiz. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung ist offensichtlich nicht in der Lage, für die Linderung eines einzigen Beschwerdebildes einen derartigen Aufwand zu bezahlen. Ist der Aufwand nicht verallgemeinerungsfähig, so kann er aus Gründen der Rechtsgleichheit auch im Einzelfall nicht erbracht werden.“ Auch wenn man an dieser Argumentation das eine oder andere Detail kritisieren kann:38 Wenn das höchste Gericht eines Nachbarlandes, das nicht für dramatische Zuspitzungen bekannt ist, zu derartigen Überlegungen in der Lage ist, sollte dann nicht auch in Deutschland eine offene Abwägung von Nutzen und Kosten in der Gesundheitsversorgung möglich sein?39 III. Ansätze zu einer sinnvollen Konkretisierung Die vorstehenden Überlegungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass auch Ansprüche auf existenznotwendige Leistungen nicht unbedingt und absolut sind, son38 Vgl. dazu die Urteilsanmerkungen von Huster, Raspe und Schöne-Seifert, MedR 2012, S. 289 ff., 291 ff., 295 ff. 39 Die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland erlaubt derartige Abwägungen jedenfalls nicht, wie in einem Parallelfall und in Abgrenzung zu dem Schweizer Urteil jetzt LSG NRW, GesR 2013, S. 723 f., klargestellt hat. Dass insoweit allerdings kein Konsens besteht, ist kein gutes Zeichen für den Zustand des Krankenversicherungsrechts; vgl. Huster (Fn. 31), VSSR 2013, S. 333 ff.
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dern der gleichen „relativen“ Logik wie alle anderen Teilhabeansprüche unterfallen. Dies gilt zumindest dann, wenn Kosten in relevanter Höhe eine Rolle spielen. Dies heißt aber keinesfalls, dass Rechte auf existenznotwendige Leistungen einer Konkretisierung gar nicht zugänglich und daher verfassungsrechtlich völlig schutzlos wären. Sie sind nur nicht auf einen unbedingten und absoluten Bedarf zu beziehen, sondern auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einem Lebens- und Versorgungsstandard gemäß den gesellschaftlichen Üblichkeiten. 1. Die Konkretisierung relativer sozialer Rechte Verdeutlichen lässt sich dieser Gedanke anhand der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum alten Sozialhilferecht. Hier musste geklärt werden, ob und inwieweit sog. einmalige Leistungen, deren Art und Umfang – anders als bei den laufenden Leistungen – nicht in Regelsätzen festgelegt waren, zum notwendigen Lebensunterhalt gehören. Die Beantwortung der Fragen, ob auch etwa Waschmaschinen, Kühlschränke, Klassenfahrten, Kinderfahrradhelme, Schultüten und Fernsehgeräte zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 12 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gehören, erforderte einen grundsätzlichen Rückgriff auf die sozialhilferechtliche Sicherungsaufgabe der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens. Interessanterweise haben die Verwaltungsgerichte erst gar nicht versucht, allgemein die Frage zu klären, ob die Verfügung über diese Gegenstände notwendige Voraussetzung der Menschenwürde ist; die Frage, ob ein Leben in Würde nur mit einem Kühlschrank möglich ist, wirkt schon auf den ersten Blick eigenartig. Die Rechtsprechung hat vielmehr von vornherein rein „gesellschaftsimmanent“ angesetzt: Aufgabe der Sozialhilfe sei es, der „sozialen Ausgrenzung des Hilfebedürftigen zu begegnen und ihm zu ermöglichen, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben.“40 Angestrebt werde nicht die Möglichkeit der reinen biologischen, sondern einer gleichberechtigten sozialen Existenz in der Rechtsgemeinschaft, also ein „sozio-kulturelles Existenzminimum“ oder die – um es mit einem in den Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie gebräuchlichen Begriff zu benennen – soziale Inklusion des Hilfeempfängers. Wann jemand nun in eine soziale Gemeinschaft eingeschlossen ist oder aus ihr ausgegrenzt wird, lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern ist von den – so wiederum das Bundesverwaltungsgericht – „herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen“ in der jeweiligen Gemeinschaft abhängig. Dementsprechend orientierte sich die Rechtsprechung hinsichtlich einzelner Gebrauchsgegenstände maßgeblich an der sog. Ausstattungsdichte in Haushalten mit geringem Einkommen. Dass diese Haushalte durchweg über ein bestimmtes Gebrauchsgut verfügen – etwa einen Kühlschrank oder eine Waschmaschine –, war dann ein gewichtiges Indiz für seine Zugehörigkeit zum notwendigen Lebensbedarf. Tatsächlich hat die Rechtsprechung dies dann für alle der genannten Gebrauchsgegenstände angenommen.41 40
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Tritt man nun einen Schritt zurück, so sieht man, in welch radikaler Weise hier die auf die Menschenwürde bezogenen sozialen Rechte relativ sind. Während Folter immer und überall eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, lässt sich die Frage, ob ein Fernsehgerät zu einem menschenwürdigen Leben gehört, gar nicht ohne den Rückgriff auf die Verhältnisse vor Ort beantworten: Der Umstand, keinen Fernseher zu besitzen, ist als solcher für die Menschenwürde irrelevant; zu einer Verletzung der Menschenwürde kann er erst dann werden, wenn in der jeweiligen politischen Gemeinschaft ein Fernseher zum Standard der Lebensführung gehört. Der Menschenwürdebezug des sozialen Rechts ergibt sich hier also nicht aus einzelnen fundamentalen Bedürfnissen, sondern aus einem Recht auf Inklusion oder Nicht-Ausgrenzung: Menschenunwürdig ist es, so schlecht gestellt zu sein, dass man nicht mehr „dazu gehört“. 2. Die Übertragung auf existenznotwendige Leistungen Überträgt man diese plausible Herangehensweise, die auch der Rechtsprechung des BVerfG zum soziokulturellen Existenzminimum zugrunde liege dürfte, auf die Gesundheitsversorgungsansprüche, so können diese Ansprüche nur bezogen sein auf die diskriminierungsfreie Teilhabe an einem Versorgungssystem, das die jeweilige Rechtsgemeinschaft in freier politischer Entscheidung für sich beschlossen hat.42 Wenn ein Gemeinwesen sich nun dafür entscheidet, in seinem Versorgungssystem Leistungen, die zwar zu einer gewissen Lebensverlängerung führen und in diesem Sinne (über-)lebensnotwendig sind, gleichzeitig aber extrem hohe Kosten verursachen, nicht vorzuhalten, so liegt darin keine Verletzung der Menschenwürde und des gebotenen Existenzminimums, solange diese Leistungsbeschränkung allgemein gilt und keinen diskriminierenden Charakter hat.43 Die Relativität des Inhalts sozialer Rechte kann also nicht nur zu Ansprüchen führen, die über das Existenznotwendige hinausgehen („Kühlschränke für alle“), sondern auch anspruchsbegrenzende Wirkungen haben: Wenn letztlich gesellschaftliche Inklusion das Ziel ist, partizipiert man an der Versorgungskultur der jeweiligen Rechtsgemeinschaft – mit ihren Vor-, aber auch Nachteilen. Auch im Bereich der existenznotwendigen Leistungen kann niemand ein Versorgungsniveau für sich re41 Zu einer Darstellung dieser Rechtsprechung vgl. nur Oestreicher / Schelter / Kunz / Decker, Bundessozialhilfegesetz, Losebl., Stand: Juni 2002, München: Beck, § 12 Rn. 2 ff. 42 Zu diesem Modell vgl. bereits Huster, Grundversorgung und soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Rauprich/ Marckmann/ Vollmann (Hrsg.), Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, Paderborn: Mentis, 2005, S. 187 ff. Zur Diskussion dieses Ansatzes vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit als Kriterium zur Beurteilung von Grundversorgungsmodellen im Gesundheitswesen, ebd., S. 213 ff. 43 Dabei dürften nur diejenigen Leistungsbeschränkungen als diskriminierungsfrei gelten, die einer Ex-ante-Rechtfertigung zugänglich sind; vgl. dazu Huster, Vulnerable Patientengruppen und Leistungsbeschränkungen im öffentlichen Versorgungssystem, MedR 2012, S. 565, 568 ff.
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klamieren, das seine Mitbürger aus nachvollziehbaren Gründen – Stichwort „Opportunitätskosten“! – sich selbst nicht leisten wollen. 3. Bürgerstatus und soziale Rechte Um auf den eingangs erwähnten Gedanken der Relativität nicht nur des Inhalts, sondern auch der Geltung sozialer Anspruchsrechte zurückzukommen: Dass die sozialen Gehalte der Menschenwürde sich letztlich an einem Anspruch, „dazu zu gehören“, orientieren, erinnert in gewisser Weise an die berühmte These von T. H. Marshall, der volle Bürgerstatus verlange nicht mehr nur die Einräumung bürgerlicher und politischer, sondern auch sozialer Rechte.44 Und auf diese Weise scheinen die drei Elemente ineinander zu greifen: Die Menschenwürde vermittelt einen Anspruch auf einen vollen Bürgerstatus, der wiederum ohne soziale Rechte nicht zu realisieren ist. Ganz so einfach ist es allerdings leider nicht. Marshalls These beruht auf der Beobachtung, dass sich Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend sozial- und wohlfahrtsstaatliche Strukturen in vielen Staaten herausgebildet haben. Sie behauptet weder, dass das ausnahmslos der Fall war, noch versucht sie eine normative Rechtfertigung für diese Entwicklung zu geben (obwohl sie zweifellos Sympathie für sie erkennen lässt). Tatsächlich dürfte es sich eher so verhalten, dass die genauen Bedingungen der Zugehörigkeit zu einer politischen und Rechtsgemeinschaft von jeder Gemeinschaft nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis geklärt werden müssen. Ob und inwieweit soziale Rechte und soziale Gleichheit für eine Gemeinschaft konstitutiv sind, wird sich nicht generell bestimmen lassen. Zwar wird es irgendwann sehr unplausibel, selbst minimale und „kostengünstige“ soziale Rechte nicht anzuerkennen, gleichzeitig aber zu beteuern, der Betroffene sei „Gleicher unter Gleichen“. Jenseits derartiger Extremfälle ist aber viel politischer Spielraum. Auch insoweit sind die sozialen Rechte relativ: Wenn die Menschenwürde insoweit auf gleichberechtigte Zugehörigkeit ausgerichtet ist, deren Konkretisierung sich aber an dem jeweiligen Gesellschaftsverständnis orientiert, sind die sozialen Rechte nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in ihrer Geltung von diesem Verständnis abhängig.
Summary Unlike the liberal rights of defence, basic social rights are characterized by the relativity of their validity and their content. However, this relativity is supposed to be non-applicable to claim rights in the context of the necessary conditions of physical survival. But this is not plausible for social rights to health care services which 44 Marshall, Citizenship and Social Class, in: ders., Citizenship and Social Class and Other Essays. Cambridge: Cambridge University Press, 1950, S. 1 ff.
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cause high costs. Against this background, the recent jurisdiction of the German Federal Constitutional Court on absolute claims against the statutory health insurance has to be evaluated critically. These rights should also rather be understood as relative claims to participation in an existing health care system.
Solidaristische Sozialpolitik: Ein Spiel mit dem Feuer Matthias Möhring-Hesse Immerhin: Der Begriff ‚Solidarität‘ fand Eingang in die Wohlfahrtsstaatlichen Grundbegriffe.1 Um Entstehung und Entwicklung zumindest des bundesdeutschen Sozialstaats und um die auf ihn hin gerichteten sozialpolitischen Diskurse verstehen zu können, sollte man also wissen, was ‚Solidarität‘ bedeutet und auf welche Sachverhalte man mit diesem Begriff referiert. Gerade für den deutschen Sozialstaat liegt es nahe, ihn von einer von ihm vorausgesetzten, zugleich aber von ihm organisierten Solidarität her zu verstehen. Denn seine leistungsfähigsten Instrumente, die Sozialversicherungen, kopieren die Solidaritätsversicherungen der ArbeitnehmerInnen – und sind bis heute als Solidaritätsverhältnisse konzipiert, auch wenn sich darin seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der Staat eingemischt und diese verpflichtend gemacht hat. So werden sie auch bis heute von denen, die sie über ihre Beiträge finanzieren, und denen, die von ihren Leistungen profitieren, mehrheitlich als Solidaritätsveranstaltungen begriffen. Bevor in diesem Beitrag die Chancen, aber auch die Grenzen einer solidaristischen, also bei gesellschaftlichen Solidaritätsverhältnissen einsetzenden Begründung staatlicher Sicherungs-, Fürsorge- und Dienstleistungssysteme bedacht werden, soll zunächst das Missverständnis ausgeräumt werden, „Solidarität“ würde eine im Vergleich zu „Rechten“ weniger starke Begründung für sozialstaatliche Leistungen bieten. Tatsächlich werden aber unter dem Stichwort der Solidarität belastbare Rechte auf sozialstaatliche Leistungen begründet (1.), wobei diese Begründung insofern von Vorteil ist, als mit den Rechten zugleich korrespondierende Pflichten begründet werden, auf die sich der Sozialstaat bei der Finanzierung der Leistungen „berufen“ kann, mit denen er den Rechten zu entsprechen sucht (2.). Gegenüber den Stärken der solidaristischen Sozialstaatsbegründung sollen in diesem Beitrag vor allem drei Gefahren ausgewiesen werden – Gefahren, die sich erstens aus der im Solidaritätskonzept implizierten Reziprozität, zweitens aus der Exklusivität der Solidarität und drittens aus dem mit Solidarität verbundenen Paternalismus ergeben (3.). Diesen Gefahren einer solidaristischen Sozialstaatsbegründung lässt sich begegnen, indem man Solidarität grundsätzlich von egalitären Verhältnissen zwischen BürgerInnen einer demokratischen Gesellschaft her versteht und ent1 Prisching, Manfred, „Solidarität: Der vielschichtige Kitt gesellschaftlichen Zusammenlebens“, in: Lessenich, Stephan (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/ New York: Campus 2003, 157 – 190.
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sprechend den Sozialstaat auf deren Solidarität hin bestimmt (4.). Wenngleich man damit Gefahren der solidaristischen Sozialstaatsbegründung zu begegnen sucht, wird dadurch eine ihrer Gefahren, nämlich die ihrer Exklusivität, noch einmal verschärft. Das sollten Solidaristen wissen, wenn sie sich – aus guten Gründen – für einen solidaristisch begründeten Sozialstaat engagieren.
I. Sozialstaatliche Rechte Dass man den Staat mit Leistungen der Sicherung und der Fürsorge, des Ausgleichs und der Daseinsvorsorge beauftragt und ihn folglich auch als Sozialstaat „betreibt“, hatte zumindest in Deutschland eine historische Voraussetzung: Die einzelnen Menschen wurden mit Rechten auf entsprechende Leistungen ausgestattet – und zwar auch in all den Fällen, in denen sie diese Leistungen nicht durch eigenes Einkommen, nicht durch privatwirtschaftliche Absicherung und auch nicht durch private, in der Regel familiare Alimentation besorgen können. Weil einzelne gleichermaßen berechtigt wurden, ließen sich die ihren Rechten korrespondieren Pflichten nicht an die private Mildtätigkeit adressieren – und wurden stattdessen dem Staat auferlegt. Dass der Sozialstaat in diesem Sinne auf Rechte von einzelnen reagiert, kommt in der frühen Bundesrepublik vor allem bei der Einführung der Sozialhilfe zum Ausdruck: Mit dem am 30. 06. 1961 verabschiedeten Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nahm man neben der „Hilfe für besondere Lebenslagen“ auch die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ in die neu geschaffene Soziahilfe auf. Im ersten Paragraphen des neuen Gesetzes wurden beide Hilfen auf die Aufgabe verpflichtet, den Leistungsberechtigten die „Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“. Ausdrücklich wurde ein einklagbares Recht auf ein menschenwürdiges Leben und folglich auf Sozialhilfe konstatiert.2 Der Staat wurde verpflichtet, allen Hilfebedürftigen auf Antrag oder gar von Amts wegen eine ausreichende Sozialhilfe zu gewährleisten. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, können Hilfebedürftige ihm gegenüber ihr Recht einklagen.3 Die mit dem Instrument der Sozialhilfe anerkannten Rechte gleichen, zumindest ähneln sie den Rechten, die man gemeinhin mit dem Begriff ‚Menschenrecht‘ anspricht: Sie werden allen, die sich in der Bundesrepublik – zumindest in (ausländer-)rechtlich vorgesehener Weise – aufhalten, und sie werden allen gleichermaßen zugesprochen – und dies über die sie alle gleichermaßen auszeichnende Eigenschaft, vor jeder staatlichen Anerkennung eine Menschenwürde zu „besitzen“. 2 Vgl. Heinig, Hans-Michael, „Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip als normative Grundlage des Existenzminimums – eine theorieinteressierte Entwicklungsgeschichte“, in: Fahlbusch, Jonathan I. (Hrsg.) (2012), 50 Jahre Sozialhilfe. Eine Festschrift (Sozialhilfe und Sozialpolitik Bd. 10), Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., 13 – 42. 3 Vgl. Fahlbusch, Jonathan I., „Der Anspruch auf Sozialhilfe“, in: ders. (Hrsg.) (2012), 50 Jahre Sozialhilfe. Eine Festschrift (Sozialhilfe und Sozialpolitik Bd. 10), Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., 131 – 147.
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Bemisst man sie an diesem Recht auf ein der Menschenwürde einer jeden und eines jeden entsprechenden sozialstaatlichen Unterstützung, dann erscheinen die über Solidaritätsverhältnisse begründeten Ansprüche als weniger verbindlich. Derartigen Ansprüchen fehlen die hohen Gültigkeitsansprüche von allgemeinen Rechten und damit auch die Dringlichkeit, mit der man den Staat auf diese Rechte und zu entsprechenden Leistungen verpflichten kann. Dagegen bleiben, so mag es scheinen, die Inhalte der Solidarität und deren Verbindlichkeiten vage, weswegen es im Belieben des Sozialstaats liegt, ob er sich diesen Ansprüchen und in welcher Weise er sich ihnen annimmt. Gegenüber den „Rechten“ erscheint „Solidarität“ zumindest für die bundesdeutsche Sozialpolitik deshalb als ein rückständiges, als ein überholtes Konzept: Was mit „Rechten“ dem Sozialstaat auferlegt werden konnte, wird mit ‚Solidarität‘ vage gehalten und in das Belieben des Sozialstaates gestellt. Diesem Eindruck soll zunächst – im Vorgehen: zugleich mit und gegen die liberale Sozialstaatsbegründung des Philosophen Wolfgang Kersting – widersprochen und dabei der mit ‚Solidarität‘ gemeinte Sachverhalt – mit und zugleich gegen diese – aufgeklärt werden. Als ausgezeichneter Kenner liberaler Gerechtigkeitstheorien sucht Kersting den Sozialstaat vor aus diesen Theorien abgeleiteten Ansprüchen und auf diesem Wege die liberale Gesellschaft vor einem ausufernden, die Freiheit verzehrenden Sozialstaat zu schützen. Liberale Gerechtigkeitstheorien lassen sich nämlich nicht auf Subsistenzfragen reduzieren, weil sie in Folge ihres Egalitarismus – spätestens mit der Idee fairer Chancengleichheit – weit darüber hinaus gehende Ausgleichsforderungen stellen. Werden aus liberalen Gerechtigkeitserwägungen heraus Rechte formuliert und werden diese zudem an den Sozialstaat adressiert, mutiert dieser – so vermutet es zumindest Kersting – zu einem Ungeheuer der liberalen Gerechtigkeit. Damit beschäftigt, jedem einzelnen menschenwürdige Lebensverhältnisse zu gewährleisten und – mehr noch – ungerechtfertigte Nachteile auszugleichen, wird der Sozialstaat zu einer „heftig rotierenden Verteilungsmaschinerie“,4 die in die individuellen Lebenskarrieren eingreift und die Autonomie der einzelnen zerstört. Demgegenüber verteidigt Kersting die den liberalen Gerechtigkeitstheorien zugrundeliegenden liberalen Ideen – und verzichtet dazu darauf, aus liberalen Ideen Vorstellungen von einer gerechten Verteilung zu entwickeln, diese in Rechten aller einzelnen zu verdichten und sozialstaatlich zu verfolgen. „Der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit ist weder ein notwendiger Legitimationsbegriff noch ein sinnvoller Orientierungsbegriff politischen Handelns und gesellschaftlicher Gestaltung“, 5 zumindest gilt dies nach Kersting für den sozialpolitischen Bereich. Um die liberale Gerechtigkeitsidee mit ihren Rechten zur Begründung und Orientierung sozialstaatlicher Ak-
4 Kersting, Wolfgang, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2000, 2. 5 Ebd., 376 – im Org. hervorgeh.; vgl. auch Kersting, Wolfgang, Probleme der politischen Philosophie des Sozialstaats, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerwist: Velbrück Wissenschaft 2000, 17 – 92.
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tivitäten überflüssig zu machen, sucht Kersting „Solidarität“ als Alternative zu plausibilisieren. ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Solidarität‘ zeichnet Kersting sowohl hinsichtlich der Reichweite ihrer Gültigkeit als auch in materialer und in begründungstheoretischer Hinsicht als Alternativen aus. Normen der Gerechtigkeit sind für ihn „der objektive Ausdruck individueller Rechtspflichten, die ihren Grund in komplementären individuellen Rechten besitzen“.6 Sie verpflichten Individuen wechselseitig, wobei sie unüberbietbar inklusiv sind; sie gelten nämlich für jede und jeden – und dies bedingungslos. Ihre verpflichtende Wirkung „ist allein von der trivialen Voraussetzung des biologischen Menschseins abhängig.“7 Hingegen sind Normen der Solidarität Ausdruck politischer Entscheidung, mit der in einer Gemeinschaft die wechselseitigen Verpflichtungen zwischen den Mitgliedern bestimmt werden. Solidaritätsnormen gelten nur für die Mitglieder dieser Gemeinschaft; sie konstituieren daher „eine partikular-exklusive Verpflichtungsasymmetrie … Das, was man den Normen der Solidaritätsmoral gemäß als Gemeinschaftsmitglied den Mitgliedern seiner Gemeinschaft schuldet, schuldet man gerade nicht Fremden“.8 In materialer Hinsicht geht es in Gerechtigkeitsnormen um Rechte bzw. Pflichten von Individuen als Menschen, in Solidaritätsnormen dagegen um Rechte bzw. Pflichten von Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft. Entsprechend besitzen soziale Normen dieser beiden Klassen unterschiedliche Geltungsweite: Sind Gerechtigkeitsnormen an alle Menschen ohne jede Ausnahme adressiert und gelten insofern universal und unüberbietbar inklusiv, gelten Solidaritätsnormen nur im Rahmen einer bestimmten Gemeinschaft, sind mithin partikular und exklusiv. Hinsichtlich ihres Verpflichtungsgrades unterscheiden sich die Normen dieser beiden Klassen, so Kersting, allerdings nicht. Wenn auch unterschiedlich, nämlich bei Gerechtigkeitsforderungen als Menschen unter prinzipiell gleichen Menschen und bei Solidaritätsforderungen als Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft, werden einzelne durch diese Normen gleichermaßen berechtigt oder in die Pflicht genommen. Doch die unterschiedliche Geltungsweite macht, so behauptet Kersting, eine unterschiedliche Logik ihrer Begründung notwendig. Forderungen der Solidarität gründen „in der politischen Selbstbestimmung des Gemeinwesens“9 und haben „keine Verankerung in transpositiven, vorstaatlichen Gerechtigkeitsprinzipien oder menschenrechtlichen Grundsätzen“.10 Forderungen der Gerechtigkeit sind dagegen „von anderem begründungstheoretischen Kaliber“;11 sie haben „einen unvordenklichen normativen Grund im menschenrechtlich Apriorischen“,12 das jeder politiKersting, Wolfgang (Fn. 4), 381. Ebd. 8 Ebd., 383. 9 Ebd., 396. 10 Ebd. 11 Ebd., 397. 12 Ebd. 6 7
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schen Vergesellschaftung vorausliegt und als menschenrechtliche Metaverfassung verpflichtendes Ziel und Vorbild jeder politischen Gemeinschaft ist. Im ersten Fall ist also die politische Gemeinschaft Grund der normativen Forderungen, weswegen Theoretiker von Solidaritätsnormen die politische Gemeinschaft als Ausgang nehmen und das Ergebnis deren politischer Selbstbestimmung rekonstruktiv erheben müssen. Im zweiten Fall ist die politische Gemeinschaft dagegen „lediglich kontingenter Anwendungsrahmen … eines menschenrechtlichen Apriorismus“.13 Deswegen bedürfen Gerechtigkeitsforderungen der „Konstruktion einer egalitären Startlinie, einer kontingenzfreien Ausgangsposition, die den kontrafaktischen Maßstab für die gerechtigkeitsethische Vermessung der an Gleichheitsabweichungen so reichen Wirklichkeit liefert“.14 Kerstings Rekonstruktion von Gerechtigkeit vs. Solidarität passt zu dem eingangs angeführten Beispiel der Sozialhilfe: Vorstaatliche Rechte werden mit hoher Verbindlichkeit erdacht und dann dem Sozialstaat zur Erfüllung auferlegt. Genau vor solchen Gerechtigkeits-Rechten will aber Kersting die liberale Gesellschaft schützen – und plädiert dafür, den Sozialstaat mit Solidaritätsansprüchen zu beschäftigen. Diese liegen nicht immer schon als hoch verbindliche Vorgaben dem Sozialstaat voraus; sie müssen in einem politischen Gemeinwesen erst für den Sozialstaat ausgehandelt werden – und können deswegen auch auf das Niveau gebracht bzw. auf dem Niveau gehalten werden, die der gesellschaftlich gewollten Liberalität dieses Gemeinwesens angemessen ist, und können aus diesem Grund auf Fragen der Subsistenz konzentriert werden. Im Gegensatz zur liberalen Gerechtigkeit ist damit Solidarität, so behauptet Kersting, gegenüber sozialen Ungleichheiten toleranter, weswegen sie die Lebenskarrieren der einzelnen „hinnehmen“, auf sozialstaatlichen Ausgleich verzichten und so deren Autonomie respektieren kann. An Kerstings Rekonstruktion lässt sich lernen, dass sich Gerechtigkeit und Solidarität nicht bei der Begründung verbindlicher Rechte und den dazu korrespondierenden Verpflichtungen unterscheiden. Sowohl unter dem Stichwort der Gerechtigkeit als auch unter dem der Solidarität geht es darum, einzelnen als Menschen oder aber als Solidargenossen verbindliche Rechte zuzusprechen und im Gegenzug anderen und nicht zuletzt „ihrem“ Sozialstaat Pflichten aufzuerlegen. So aber begründen sich auch über Solidaritätsverhältnisse Rechte und korrespondierende Verpflichtungen mit hoher Verbindlichkeit. Bei einer solidaristischen Sozialstaatsbegründung geht es mithin nicht um eine im Vergleich mit liberalen Rechten höhere Beliebigkeit, geht es nicht um weniger Verbindlichkeit bei den Ansprüchen auf sozialstaatliche Leistungen und nicht um größere Freiräume für den Sozialstaat. Allerdings entstammt die für Gerechtigkeit und Solidarität gleichermaßen hohe Verbindlichkeit unterschiedlichen Eigenschaften der mit Rechten ausgestatteten einzelnen. Das einemal geht es um grundlegende Rechte von einzelnen als Menschen unter Menschen; das anderemal geht es um Mitglieder einer politischen Gemeinschaft. Zumin13 14
Ebd., 396. Ebd., 378.
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dest in der sozialkatholischen Tradition, stark von solidaristischen Vorstellungen geprägt, wird dabei die Solidarität nicht schon über die gemeinsame Zugehörigkeit, als vielmehr über die den Mitgliedern gemeinsamen Ziele begründet, so diese in Gemeinschaft und durch gemeinsame Anstrengungen besser, wenn nicht überhaupt nur so erreicht werden können. Der Altvater der Katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, brachte dies häufig mit „Alle sitzen in einem Boot“15 ins Bild, so die Insassen eines Boots wechselseitig auf einander angewiesen sind, nur durch gemeinsame Anstrengungen ihr Boot über Wasser halten können und in ihren Anstrengungen ein gemeinsames Interesse verfolgen. Konnten sozialstaatliche Solidaritätsansprüche bislang anhand der von Kersting vorgelegten Rekonstruktion vorgestellt werden, treten die nun folgenden Aufklärungen in Widerspruch zu dieser. Zunächst einmal kann Kerstings Vermutung, Solidaritätsansprüche seien gegenüber sozialen Ungleichheiten toleranter als Gerechtigkeits-Rechte, nicht überzeugen. Weil auf die Mitglieder einer Gemeinschaft beschränkt, mag die Vermutung a priori gegenüber den jeweils Außenstehenden gelten, die nicht als Solidargenossen in Betracht kommen und denen deshalb keine Rechte zugestanden werden. Bei menschenrechtsbasierten Rechten ist dies zunächst einmal anders, weil sie allen Menschen gleichermaßen zugestanden werden und sie deshalb kein „außen“ und kein „innen“ kennen. Spätestens aber dann, wenn der Sozialstaat zur Erfüllung dieser Rechte herangezogen wird, wird aber auch bei diesen Rechten die Unterscheidung von „innen“ und „außen“ – trotz der universalen Gültigkeit der Rechte – relevant. Denn dann wird der Sozialstaat für die Erfüllung solch universaler Rechte verantwortlich gemacht, allerdings nur gegenüber denen, die in irgendeiner Form dazugehören, während deren Erfüllung für alle anderen ausgeschlossen und den Staaten überlassen werden, denen diese zugehören. Der „Vorteil“ von universalen, allen Menschen gleichermaßen zugesprochenen GerechtigkeitsRechten geht also spätestens dann verloren, wenn sie zur Begründung sozialstaatlicher Aktivitäten herangezogen werden. Auch innerhalb von Solidaritätsverhältnissen verhält es sich anders, als es Kersting vorstellt: Um sich wechselseitig als Mitglieder einer Gemeinschaft ansprechen und sich darüber wechselseitig als Solidargenossen anerkennen zu können, müssen sich einzelne zuvor wechselseitig in zumindest einer und dabei zentralen Hinsicht als Gleiche anerkennen. In den alltagssprachlich mit ‚Solidarität‘ bezeichneten Verhältnissen tun sie dies in der Regel nicht nur darin, dass sie sich in der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als gleich anerkennen. Vielmehr verweisen sie auf gleiche oder ähnliche Lebensverhältnisse und Interessenlagen, deretwegen sie überhaupt gemeinsam einer Gemeinschaft angehören. Weil mehr als nur in der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gleich, verfolgen sie gemeinsame Ziele – und eben dies auch in Form ihrer Gemeinschaft. Als Folge ihrer Gleichheit erwachsen ihnen gleiche Rechte, zumindest das Recht, als Gleiche unter Gleichen von allen anderen anerkannt und zur Realisierung ihrer aller 15 Nell-Breuning, Oswald von, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg i. Br.: Herder 1990, 17.
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Gleichheit von allen anderen unterstützt zu werden. Zudem erwarten sie als Folge der Gleichheit einen Ausgleich innerhalb ihrer Solidargemeinschaft, insofern sie nicht nur gleich, sondern in anderen Hinsichten ungleich sind – und sie ihre Ungleichheiten zumindest in dem Maße ausgleichen müssen, als diese der Realisierung ihrer Gleichheit im Wege stehen.16 So gesehen sind, zumindest in der Begründung sozialstaatlicher Aktivitäten, Solidaritäts-Rechte nicht exklusiver als Gerechtigkeits-Rechte und sie sind gemessen an diesen nicht weniger egalitaristisch. So aber lässt sich Solidarität kaum auf basale Fragen menschenwürdiger Lebensverhältnisse eingrenzen. „Unter einer Solidaritätsgemeinschaft versteht man“, behauptet Kersting, „ein kompensatorisches System der wechselseitigen gesellschaftlichen Sorge, die insbesondere den Bedürftigen und Schwachen gilt, den Kranken und Gescheiterten, den Pechvögeln und den Opfern“.17 Zwar werden in vielen Solidaritätsverhältnissen denjenigen besondere Anstrengungen abverlangt, die jeweils aktuell über größere Handlungsressourcen verfügen, und dies zugunsten derjenigen, die aktuell jeweils mit geringeren Ressourcen ausgestattet sind. In dieser Hinsicht besteht in Solidaritätsverhältnissen – wie bereits angesprochen – ein gewisser Zwang zum Ausgleich von sozialen Ungleichheiten; deswegen verläuft die Leistungsbilanz in Solidaritätsverhältnissen in jedem Augenblick asymmetrisch. Gleichwohl nährt sich die Solidarität zwischen den einzelnen aus einer – wenngleich möglicherweise auch über lange Zeit bloß latenten – Reziprozität. Die Ansprüche untereinander resultieren aus gemeinsamen Zielen, zu denen auch die mit eigenen Leistungen beizutragen haben, die jeweils aktuell – aus welchen Gründen auch immer – die Unterstützung anderer beanspruchen (können). Solidarität funktioniert mithin weder nach dem Äquivalenz- noch nach dem Tauschprinzip: Solidaritätsansprüche erwachsen weder aus zuvor „eingezahlten“ Leistungen noch aus vertraglich geregelten Absprachen; sie begründen sich aus gemeinsamen Zielen und bestehen aus den spezifischen Ressourcen, die einzelne zu deren Realisierung beitragen können. Damit unterscheidet sich Solidarität auch von Fürsorge: Weder eignet der Solidarität die der Fürsorge typische Asymmetrie von Geben und Nehmen, sondern intendiert eine, wenn auch geduldige Reziprozität; noch zielt sie notwendig auf die Beseitigung oder Vermeidung von Not und Elend, sondern auf die gemeinsame Verwirklichung gemeinsamer Ziele. In ihren Solidaritäten können sich Solidargenossen folglich auch anspruchsvolle Ziele setzen – und zur Erreichung dieser Ziele untereinander auch komfortable Unterstützung leisten und einen Ausgleich jenseits von Fragen menschenwürdigen Lebens pflegen.18 16 Vgl. dazu Hondrich, Karl Otto / Koch-Arzberger, Claudia, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1994, 9 – 29. 17 Kersting, Wolfgang (Fn. 4), 23; vgl. auch ebd., 385 ff. 18 Dass die Koppelung von Solidarität und Suffizienz historisch nicht überzeugen kann, lässt sich gerade mit Bezug auf den in Deutschland entwickelten Sozialstaat zeigen: Mit langen Wurzeln entwickelt sich dieser in zwei unterschiedlichen Strängen, nämlich als Sicherungs- und als Fürsorgesysteme. Während aber die Fürsorgesysteme am ehesten der Logik der Suffizienz folgen und bis in die Präambel des Sozialgesetzbuches hinein als Schutz der Men-
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Schließlich sind Solidarität und Gerechtigkeit keine Alternativen, sind also nicht als Möglichkeiten einer Wahl vergleichbar und zugleich einander ausschließende Möglichkeiten.19 Vielmehr spielen „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ auf ganz unterschiedlichen „ontischen“ Ebenen – und sind daher nicht so vergleichbar, dass sie in Alternative zueinander gesetzt werden könnten: Während mit ‚Gerechtigkeit‘ ein Maßstab zur normativen Beurteilung von sozialen Sachverhalten, zumeist der grundlegenden Struktur einer Gesellschaft oder gesellschaftlicher Zusammenhänge, bezeichnet wird,20 bezeichnet man mit ‚Solidarität‘ eine bestimmte Form der sozialen Verbundenheit, nämlich eine mehr oder weniger dauerhafte Beziehung von Gleichen zur Erreichung gemeinsamer Ziele bei Ausgleich der Differenzen, die sie bei der Erreichung dieser Ziele behindern. Zurecht verweist Kersting auf einen relevanten Unterschied zwischen Geboten der Gerechtigkeit und denen der Solidarität: Während mit ‚Gerechtigkeit‘ Sachverhalte auf allgemeine und manchmal, aber nicht immer, auf universale Interessen hin geprüft werden, geht es im Fall von Solidaritätsansprüchen um Forderungen im gemeinsamen, aber eben parteilichen Interesse von Solidargenossen. Wenngleich sich damit Gerechtigkeit und Solidarität über den systematischen Unterschied von allgemeinen und bloß gemeinsamen Interessen unterscheiden lassen, schließen sich Forderungen der Gerechtigkeit und die der Solidarität gleichwohl nicht aus: Solidaritätsverhältnissekönnen mit ihrer exklusiven Definition von Gleichen und ihren gemeinsamen Interessen sowie mit ihren internen Solidaritätsverpflichtungen auf ihre Gerechtigkeit hin überprüft werden. Zumindest kann man ohne begriffliche Schwierigkeiten bestehende Solidaritäten auf deren Gerechtigkeit hin befragen und dazu daraufhin prüfen, ob sie mit allgemeinen Interessen unter der Maßgabe deren Allgemeinheit, Unparteilichkeit und Angemessenheit übereinstimmen. Im Ergebnis einer solchen Prüfung können Solidaritätsforderungen als ungerecht beurteilt werden – mit der Folge, dass es eine Forderung der Gerechtigkeit ist, den Solidaritätsansprüchen nicht zu entsprechen. Jedoch können Solidaritätsverhältnisse mitsamt ihren Verpflichtungen auch als gerecht qualifiziert werden, wenn sich darin nicht nur das gemeinsame Interesse einer exklusiven Gemeinschaft, sondern auch ein allgemeines Interesse ausdrückt. Spätestens dann werden die für Gerechtigkeitserwägungen notwendige Allgemeinheit und die darin implizierte Egalität auf die Solidaritätsverhältnisse übertragen. Als Folge einer solchen Überprüfung wird es zu einer Forderung der Gerechtigkeit, den Verpflichtungen der geprüften Solidaritätsverhältnisse zu entsprechen. Weil also Solidaritätsverpflichtungen auf ihre schenwürde und damit im Sinne Kerstings gerechtigkeitstheoretisch begründet werden, werden die komfortablen und zumeist statussichernden, jedoch kategorial auf die Arbeitnehmer und deren Familien beschränkten Versicherungssysteme als Ausdruck von deren Solidarität gesehen. Vgl. dazu Leibfried, Stephan / Tennstedt, Florian, Armenpolitik und Arbeiterpolitik, in: dies. (Hrsg.), Politik der Armut und die Spaltung des Sozialstaats, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, 64 – 93. 19 Vgl. dazu Möhring-Hesse, Matthias, Die demokratische Ordnung der Verteilung. Eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit, Frankfurt am Main [u. a.]: Campus-Verlag 2004, 98 – 105. 20 Vgl. Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, 23 – 27.
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Gerechtigkeit hin überprüft und bei positiver Überprüfung als Forderungen der Gerechtigkeit qualifiziert werden können, sind Gerechtigkeit und Solidarität keine Alternativen, zwischen denen man sich – etwa bei der Begründung sozialstaatlicher Aktivitäten – entscheiden müsste oder auch nur könnte.
II. Vorteile der Solidarität Selbst wenn man Kerstings liberalistische Kritik am Sozialstaat teilt und deswegen einen Ausweg aus einer durch liberale Gerechtigkeitstheorien angeheizten Umverteilung sucht, sollte man in der von ihm angeführten Solidarität weder eine Alternative zu der kritisierten Gerechtigkeit sehen, noch die darin vermuteten Vorteile suchen. Worin liegen aber dann die Vorteile der Solidarität, deretwegen sie als Grundlage für eine Begründung des Sozialstaats und zur Orientierung sozialstaatlicher Aktivitäten genommen wird? Für gewöhnlich verweisen Solidaristen erstens auf die sparsame Normativität der Solidarität. Sie rekurrieren auf bestehende Solidaritätsverhältnisse und suchen „lediglich“ deren normative Implikationen, die in diesen Solidaritätsverhältnissen eingespielten Rechte und die dazu korrespondieren Verpflichtungen freizulegen und sie zur Begründung sozialstaatlicher Aktivitäten zu nutzen. Bereits die französischen Theoretiker der Solidarität in der „Durkheim Schule“21 diagnostizierten Solidarität zunächst als eine Tatsache (solidarité-fait), dass sich nämlich einzelne immer schon in sozialen Netzen der Abhängigkeiten und Arbeitsteilung, aber zugleich der Gemeinsamkeiten und Gegenseitigkeiten vorfinden und erst in Prozessen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu handlungsmächtigen Individuen werden. Auf dieser Grundlage besteht Solidarität auch als eine Pflicht (solidarité-devoir), sowohl den jeweils vorgefunden Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Gegenseitigkeiten zu entsprechen, als auch diese gerecht zu gestalten. Zwischen Tatsache und Pflicht vermittelt für die französischen Solidaristen, allen voran für Léon Bourgeois (1851 – 1925), die „Schuld“ (dette social) der einzelnen an den von ihnen immer vorgefundenen Gemeinschaften und der ebenso vorgefundenen Gesellschaft: Sie haben über ihre Gemeinschaften und ihre Gesellschaft an den wirtschaftlichen, sozialen, geistigen und moralischen Vorleistungen ihrer Vorfahren und ihrer Mitmenschen Anteil und erzielen daraus Handlungsmöglichkeiten und Autonomie. Sie ziehen also Profit aus der Zugehörigkeit zu ihren Gemeinschaften und aus der Zugehörigkeit zur Gesellschaft – und stehen im Gegenzug in der „Schuld“, die bestehenden Solidaritätsverhältnisse abzusichern und gerecht zu gestalten. Mithin besteht eine „gesamtschuldnerische Haftung der Einzelnen“22 gegenüber seinen Gemeinschaften 21 Vgl. Gülich, Christian, Die Durkheim-Schule und der französische Solidarismus, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1991. 22 Fiegle, Thomas, Ist Solidarität eine soziale Schuld? Zur Kritik des französischen Solidarismus aus kantianischer Sicht, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 48, Münster: Aschendorff 2007, 61 – 80, 68.
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und gegenüber der Gesellschaft. Im Gegenzug besteht die „Schuld“ der Gemeinschaften und der Gesellschaft gegenüber den einzelnen, dass sie in ausreichendem und gerechtem Maße von den Vorleistungen der Vorfahren und Mitmenschen profitieren können. In einer nicht ganz ungetrübten Rezeption der französischen Solidaristen23 hat man im Kontext der Katholischen Soziallehre sowohl den Zusammenhang von solidarité-fait und solidarité-devoir als auch die doppelseitige Schuld aufgegriffen. In seinen „Baugesetzen der Gesellschaft“ spricht Oswald von Nell-Breuning (1890 – 1991) von der Gemeinhaftung, die sich aus der Gemeinverstrickung ergibt, und vom wechselseitigen Bezug zwischen Gesellschaft und einzelnen – und zwar sowohl bei der Gemeinverstrickung als auch bei der Gemeinhaftung: Die „Bindung der einzelnen an die Gemeinschaft und die Rückbindung der Gemeinschaft an die einzelnen, die ihre Glieder sind, ist unausweichlich (Gemeinverstrickung) und macht sie ebenso wechselseitig füreinander verantwortlich (Gemeinhaftung)“.24 Mit dem Rückgriff auf bestehende Solidaritätsverhältnisse erscheint Solidarität zwar nicht als ein „moralloses“, jedoch als ein normativ sparsames Unternehmen. Man muss die einzelnen von ihren Rechten gegenüber anderen und gegenüber ihren Gemeinschaften und der Gesellschaft, aber auch von ihren Verpflichtungen gegenüber den anderen wie auch gegenüber ihren Gemeinschaften und der Gesellschaft „nur“ in Übereinstimmung mit den von ihnen vorgefundenen Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Gegenseitigkeiten „überzeugen“. Diesen Rückhalt der Rechte und Verpflichtungen in faktischen Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Gegenseitigkeiten stellten sich die französischen Solidaristen als einen Quasi-Vertrag vor, so dass die einzelnen „aus freiem und gleichem Willen“ nachträglich und rückwirkend den Rechten und Verpflichtungen zustimmen würden, in denen sie sich faktisch immer schon vorfinden, würden sie denn gefragt.25 Unter den französischen Solidaristen machte sich insbesondere Bourgeois die faktische Solidarität zunutze, um einen Sozial(versicherungs)staat vorzuschlagen – mit Versicherungen auf Gegenseitigkeit, in denen sich die einzelnen gegenüber den Risiken der in der industriellen Gesellschaft zunehmenden Abhängigkeit und dabei insbesondere gegen die Risiken von Alter, Krankheit und Arbeitsunfall absichern und zugleich für die gemeinsame Absicherung dieser Risiken in Höhe ihrer Prämien einstehen. In Deutschland haben später vor allem die Sozialkatholiken die solidaristische Begründung sozialstaatlicher Aktivitäten betrieben – und nicht zuletzt in den 1950er Jahren die dynamisierte Alterssicherung über eine Gesetzliche Rentenversicherung als Ausdruck einer über den Sozialstaat organisierten Generationensolidarität vertreten. Gerade wegen ihrer normativen „Zurückhaltung“ sollten mit der soli23 Vgl. Große Kracht, Hermann-Josef, Zwischen Soziologie und Metaphysik. Zur Solidarismus-Konzeption von Heinrich Pesch SJ, in: Große-Kracht, Hermann-Josef/ Karcher SJ, Tobias / Spieß, Christian (Hrsg.), Das System des Solidarismus. Zur Auseinandersetzung mit dem Werk von Heinrich Pesch SJ (Studien zur christlichen Gesellschaftsethik Bd. 11), Münster: LIT-Verlag 2006, 59 – 90. 24 Nell-Breuning, Oswald von (Fn. 15), 21. 25 Vgl. dazu Fiegle, Thomas (Fn. 22), 100 – 194.
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daristischen Begründung sozialstaatliche Leistungen in Opposition zu liberalen Staatskonzeptionen plausibilisiert und zugleich die Adressaten einer solchen Begründung, allen voran diejenigen, die zur Finanzierung mit Steuern und Beiträgen beizutragen haben, gewonnen – und sie gerade deshalb normativ nicht überfordert werden. Der Sozialstaat nimmt, so die solidaristische Idee, nicht mehr an Normativität in Anspruch, als den einzelnen in den bestehenden Verhältnissen einer unter Bedingungen moderner, deshalb arbeitsteiliger Gesellschaften weiter wachsenden Abhängigkeit abverlangt wird. Als zweiter Vorteil einer solidaristischen Sozialstaatsbegründung lässt sich ausweisen, dass über die Solidarität nicht nur starke Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen, sondern zugleich die zur Finanzierung dieser Leistungen notwendigen Belastungen und beides „in einem Zug“ begründet werden. Die Ansprüche der einzelnen bestehen zunächst einmal gegenüber den Solidargenossen im jeweiligen Solidaritätsverhältnis – und der Sozialstaat mischt sich in deren Solidarität nur insoweit ein, als er die Vermittlung von Ansprüchen und Belastungen organisiert. Bei einer solidaristischen Begründung agiert der Sozialstaat nicht aus einer originären Verpflichtung des Staates. Er „bedient“ vielmehr die ihm vorgelagerten Solidaritätsverhältnisse – und zwar nach beiden Seiten, indem er sicherstellt, dass die darin bestehenden Solidaritätsansprüche gegenüber den Anspruchsberechtigten und dass zugleich die bestehenden Solidarverpflichtungen von den Unterstützungsverpflichteten erfüllt werden. Dabei verortet der solidaristisch begründete Sozialstaat die jeweils Begünstigten und die jeweils Belasteten in derselben „Wirklichkeit“ und spricht sie von daher auf gemeinsame Interessen an – und muss sie deswegen auch nicht scharf voneinander unterscheiden. Dadurch werden sich diejenigen, die er zumindest aktuell stärker als andere belastet, in die Perspektive der Begünstigten hineinversetzen können, zu deren Gunsten sie belastet werden, genauso wie sich die jeweils aktuell Begünstigten in die Perspektive der Belasteten hineinversetzen können, deren Leistungen sie ihre Unterstützung verdanken. Mehr noch: Begünstigte und Belastete können davon wissen, dass sich die jeweils anderen auf Grund gemeinsamer Lebens- und Interessenlagen in die Perspektive der jeweils anderen bringen (können), und können von daher erwarten, dass die Wahrnehmung ihrer Rechte wie auch die Erfüllung ihrer Verpflichtungen wechselseitig anerkannt werden. Zudem dürfen sie erwarten, dass die Leistungsbilanz zwischen Rechten und Pflichten – zumindest auf Dauer – nicht einseitig zu Gunsten der einen und zu Lasten der anderen verläuft. Im Gegenteil: Sie erwarten, dass alle zur Erreichung ihrer gemeinsamen Ziele beitragen und dass zugleich auch alle von der Erreichung dieser Ziele profitieren. Die erwartete Reziprozität zwischen den Solidargenossen besteht zwar nicht in jedem Augenblick und nicht in jedem Fall; aber sie besteht im Großen und Ganzen sowie über eine längere Zeitstrecke hinweg. Ist der Sozialstaat in der Organisation dieser Solidarität im Spiel, dann wird von ihm erwartet, diesen Ausgleich zumindest „on the long run“ sicherzustellen. Im Gegenzug darf er einmal mehr damit rechnen, dass die Asymmetrien zwischen Begünstigten und Belasteten in jedem Augenblick bei allen Beteiligten auf Zustimmung stoßen wird.
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Ein dritter Vorteil der solidaristischen Begründung des Sozialstaats kann darin gesehen werden, dass unterschiedliche Solidaritätsverhältnisse nebeneinander bestehen können und in diesem Nebeneinander zugleich zur Grundlage sozialstaatlicher Aktivitäten genommen werden können. Der solidaristisch begründete Sozialstaat referiert daher auf unterschiedliche Solidaritätsverhältnisse mit ihren jeweils eigenen Solidaritätsprogrammen – und kann folglich auch die daraufhin abgestellten sozialstaatlichen Leistungen und Belastungen an unterschiedliche Menschen adressieren, sie konzeptionell unterschiedlich gestalten und mit unterschiedlichen Bedingungen versehen. Trotz eines, nämlich solidaristischen Grundprogramms ist der Sozialstaat in der Bezugnahme auf unterschiedliche Solidaritätsverhältnisse in der Lage, kontextuell und zugleich den unterschiedlichen Kontexten angemessen zu „handeln“. In der Vielfalt seiner Aktivitäten hat er dennoch ein übergreifendes Programm, die ihm vorgelagerten Solidaritätsverhältnisse aufzugreifen und staatlich zu organisieren, – und findet in diesem übergreifenden Programm – erkennbar sowohl für die jeweils aktuell Begünstigten, als auch für die jeweils aktuell Belasteten – eine konzeptionelle Einheit. Dass ein solches Begründungsprogramm mit diesen Vorteilen keineswegs von „gestern“, sondern aktuell ist, lässt sich u. a. daran ersehen, dass die seit Ende der 1980er Jahre betriebene Neuprogrammierung des bundesdeutschen Sozialstaats als solidaristische Sozialpolitik rekonstruiert werden kann. Diese Behauptung muss überraschen, gilt diese (nicht nur) in Deutschland betriebene Reformpolitik geradezu als Antwort darauf, dass Solidaritätsansprüche nach ihrer „Verstaatlichung“ aus ihren vorstaatlichen Solidaritätsverhältnissen gelöst, dass dadurch eine Anspruchsmentalität auf sozialstaatliche Leistungen ohne entsprechende Gegenleistungen und ohne „Eigenverantwortung“ entstanden ist und dass im Ergebnis der Sozialstaat in seiner Leistungsfähigkeit überfordert und gleichzeitig die sozialstaatlich angezielte Inklusion der LeistungsempfängerInnen nicht erreicht wird.26 Statt ‚Solidarität‘ ist deshalb ‚Inklusion‘ das programmatische Leitmotiv der sozialpolitischen Reformen; statt auf Ausgleich („Verteilungsgerechtigkeit“) zielt der Sozialstaat auf Teilhabe („Beteiligungsgerechtigkeit“). Konzeptionell geht es darum, die „Eigenverantwortung“ vor allem der EmpfängerInnen sozialstaatlicher Leistungen zu stärken und sie zu „aktivieren“. Das neue Leistungsprogramm heißt: „Fordern und Fördern“. Zumindest in einer Beobachterperspektive lässt sich die so oder so ähnlich angesprochene Neuprogrammierung gleichwohl als Ausdruck solidaristischer Sozialpolitik verstehen. In der Begründung sozialstaatlicher Aktivitäten und in deren konzeptioneller Ausrichtung rekurriert man auf dem Sozialstaat vorgelagerte Zusammenhänge wechselseitiger Abhängigkeiten, Gemeinsamkeiten und Gegenseitigkeiten einer Arbeits- und Wissensgesellschaft, deren implizite Normativität und Reziprozität aufgegriffen und bestätigt werden – und über sozialstaatliche Leistungen durchge26 Vgl. dazu Fischer, Karsten, Moralkommunikation der Macht. Politische Konstruktion sozialer Kohäsion im Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, 22 ff.
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setzt werden sollen. Gegenüber den Netto-ZahlerInnen sozialstaatlicher Leistungen sucht man deren „Sinn“ und die diesen Leistungen zugrundeliegenden Rechte der einzelnen zu plausibilisieren – und sie dafür zu gewinnen, diese sozialstaatlichen Leistungen als Ausdruck eines gemeinsamen Interesses mit Zustimmung und Zahlungsbereitschaft zu unterstützen. Die Netto-NutzerInnen hingegen „erinnert“ man tatkräftig an diesen „Sinn“ sozialstaatlicher Leistungen sowie mit Hinweis auf die Zahlungsbereitschaft der Beitrags- und SteuerzahlerInnen an ihren Teil der Solidaritätsbeziehungen, sucht deren eigenen Ressourcen für die Erreichung der ausgegebenen Ziele zu mobilisieren und fordert Kompensationen für die jeweils bezogenen Leistungen ein. Wenn auch nur selten das Wort ‚Solidarität‘ fällt, ist dies gleichwohl ein solidaristisches Programm, allerdings mit – zugestanden – einer wesentlichen Neuerung: Wird in den solidaristischen Sozialstaatsbegründung die Zugehörigkeit zu den vorstaatlichen Solidaritätsverhältnissen vorausgesetzt und der Sozialstaat „lediglich“ damit beauftragt, deren Solidaritätsansprüche und -verpflichtungen zu organisieren, so setzt nun der Sozialstaat ausdrücklich diese Voraussetzung als sein primäres Ziel und sucht die Zugehörigkeit zu den vorstaatlichen Solidaritätsverhältnissen sicherzustellen. Dabei soll er vor allem die Ressourcen derjenigen mobilisieren bzw. erzeugen, deren Zugehörigkeit er als gefährdet sieht. Deswegen nimmt er die einzelnen, vor allem die Adressaten sozialstaatlicher Unterstützung, stärker unter staatliche Kontrolle, „fordert und fördert“ deren Fähigkeiten und Bereitschaften und lenkt sie in eine gewünschte Richtung, versieht sie mit Pflichten und sucht Ansprüche an ihre Lebensführung durchzusetzen. In diesem Sinne kann die Neuprogrammierung des bundesdeutschen Sozialstaats als Ausdruck solidaristischer Sozialpolitik gesehen werden – und deren Aktualität belegen. Dann kann aber zugleich an diesem programmatischen Umbau auch etwas über Solidarität als sozialpolitisches „Prinzip“ gelernt werden – und dabei insbesondere etwas über die Gefahren eines solidaristisch begründeten Sozialstaats.
III. Gefahren der Solidarität Zwar müssen Solidaritätsverhältnisse sowohl von Versicherungen als auch von Marktbeziehungen mit den für diese beiden typischen Reziprozitäten abgegrenzt werden. Gleichwohl ruhen auch sie auf Gegenseitigkeiten zwischen den Solidargenossen auf, die zumindest dauerhaft nicht verletzt werden dürfen, sollen deren Solidaritätsbereitschaften und darüber letztendlich auch die Solidaritätsverhältnisse keinen Schaden nehmen. Stärker noch als Solidaristen in früheren Zeiten rechnen ihre heutigen Nachfahren damit, dass gemeinsame Interessenlagen, aber auch die daraus erwachsenden Ansprüche und Lasten nicht einfach immer schon bestehen, sondern ausgehandelt und immer wieder neu ausgehandelt werden müssen; und sie rechnen zugleich damit, dass in entsprechenden Aushandlungsprozessen die Macht zwischen den Solidargenossen ungleich verteilt ist. Derartige Machtasymmetrien können unterschiedlichste Ursachen haben. Im Rückblick auf die Sozialpolitik der „Agenda 2010“ fällt vor allem das Ungleichgewicht zwischen denjenigen, die so-
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zialstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen und damit ihre Rechte gegenüber einer Solidargemeinschaft realisieren, und denjenigen, die zur Finanzierung dieser Leistungen beitragen und auf diesem Wege ihren Solidaritätsverpflichtungen nachkommen, auf. Ohne an dieser Stelle die dazu notwendige Empirie beibringen zu können, darf behauptet werden, dass die sozialpolitischen Debatten in Vorbereitung der Hartz-Gesetze unter der Vorherrschaft derer geführt wurden, die auf die darin geregelten Leistungen selbst nicht angewiesen sind, sich zumindest nicht angewiesen wähnen. Weil unter der Maßgabe der Solidarität nicht nur Leistungsansprüche, sondern auch die sie ermöglichenden Belastungen begründet werden, macht sich jede solidaristische Sozialpolitik gerade für die Erwartungen derjenigen sensibel, an die diese Belastungen adressiert werden. Rücken so aber deren Belange in den Vordergrund, wird die diskursive Macht der Netto-ZahlerInnen gegenüber denjenigen, die auf Solidaritätsleistungen angewiesen sind, noch einmal verstärkt. Unter Bedingungen einer solchen Machtasymmetrie ist es wahrscheinlich, dass die Reziprozität zwischen den Solidargenossen zulasten derjenigen ausgehandelt wird, die die ausgehandelten Unterstützungsleistungen beziehen (werden). Dies gilt zumal dann, wenn der Bezug von Unterstützungsleistungen – politisch erfolgreich – als die erste Schädigung der Solidarität interpretiert wird, weswegen die BezieherInnen dieser Leistungen in „Schuld“ gegenüber ihrer Solidargemeinschaft gesehen und zur „Wiedergutmachung“ verpflichtet werden. Der Bezug sozialstaatlicher Leistungen realisiert dann nicht mehr Ansprüche gegenüber der Solidaritätsgemeinschaft und bringt diese in das intendierte Gleichgewicht, sondern setzt die einen in die „Schuld“ der anderen und bringt ihre Solidarität in die Schieflage. Um diese auszugleichen, werden besondere Verpflichtungen einseitig an die BezieherInnen von Unterstützungsleistungen delegiert; oder es werden ihnen Rechte abgesprochen, die ihre Solidargenossen selbstverständlich in Anspruch nehmen. Beide Wege wurden mit den Hartz-Gesetzen gegenüber den Bezieherinnen von ALG II beschritten. Durch ein „Mehr“ an Verpflichtungen und ein „Weniger“ an Rechten soll die Solidarität wieder in das Gleichgewicht gebracht werden, das durch den Bezug von Unterstützungsleistungen aus dem Lot geraten ist. Tatsächlich wird so die Gleichheit der Solidargenossen hinsichtlich ihrer Rechte und Verpflichtungen ausgehebelt – und damit die Reziprozität ihrer Solidarität zu einer asymmetrischen Angelegenheit gemacht. Auf die Exklusivität von Solidaritätsverhältnissen hatte bereits Kersting hingewiesen. Gerade wenn solidaristisch begründete Systeme der Sozialen Sicherung, Fürsorge und Dienste auf der Basis gemeinsamer Lebens- und Interessenlagen starke Ansprüche und entsprechend hohe Belastungen vorsehen, sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit exklusive Veranstaltungen. Die Ansprüche beschränken sie auf den Kreis der Solidargenossen; zugleich halten sie diesen Kreis geschlossen, – können dies zumindest versuchen. Im Unterschied zu Leistungssystemen auf der Grundlage von universalistischen Rechtsansprüchen können sie sich für Ansprüche von Außenstehenden „von Hause aus“ ignorant halten. Stärker als frühere Solidaristen rechnen deren heutigen Nachfahren nicht damit, dass einzelne aufgrund ihrer
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„objektiven“ Lebens- und Interessenlage zu Solidaritätsverhältnissen dazugehören. Stattdessen nehmen sie an, dass die Zugehörigkeit zu Solidaritätsverhältnissen erst mit einem grundlegenden Akt der Anerkennung „beginnen“ und laufendend über derartige Anerkennung „bestehen“. „Objektive“ Lebens- und Interessenlagen werden dazu einzelnen zugeschrieben (oder eben nicht zugeschrieben) und mit Hinweis darauf einzelne als Solidargenossen anerkannt (oder eben nicht anerkannt). Im sozialpolitischen Bereich läuft diese „Aufnahme“ in der Regel über die rechtliche Auszeichnung von an Personen „hängenden“, aber allgemein definierten Eigenschaften. Durch entsprechende Auszeichnung solcher Eigenschaften oder durch Konditionierung deren Anerkennung lassen sich solidaristisch begründete Leistungssysteme exklusiv halten, lässt sich nicht nur die „Einwanderung“ in die Solidargemeinschaft „von außen“, sondern auch eine vollwertige Zugehörigkeit von „Einheimischen“ verhindern. Auf diesem Wege kann auch denjenigen der Zugang verwehrt, zumindest aber erschwert werden, denen – aus welchen Gründen auch immer – unterstellt wird, dass sie „lediglich“ Solidaritätsleistungen beanspruchen und dadurch die Solidargemeinschaft ausbeuten werden. Zumal unter Bedingungen von Einwanderung sowie unter den Bedingungen weniger eindeutiger und zunehmend pluraler werdender Lebenslagen besteht damit die Gefahr, dass zunehmend mehr Menschen aus den solidaristisch begründeten Sicherungs-, Fürsorge- und Dienstleistungssystemen herausgehalten werden und als Folge davon ohne sozialstaatliche Unterstützung bleiben – und zwar gerade diejenigen, die wegen ihrer besonderen Lebenslagen darauf besonders angewiesen sind. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat man bei den Reformen der „Agenda 2010“ dieser Gefahr zu begegnen versucht, ist ihr zumindest nicht erlegen – und hat das Sicherungssystem des ALG II für alle Erwerbspersonen ohne Beschäftigung und ohne ausreichendes Erwerbseinkommen geöffnet. Hingegen lässt sich für die Gegenwart beobachten, dass gerade dieses Sicherungsinstrument gegenüber MigrantInnen aus den Ländern der EU exklusiver gemacht werden soll. Zumal in den Reformen der „Agenda 2010“ wurden sozialstaatliche Unterstützungsleistungen konzeptionell als „Hilfen zur Selbsthilfe“ bestimmt – mit der ausdrücklichen Absicht, die BezieherInnen von Unterstützungsleistungen zur Annahme dieser „Hilfen“ („Fördern“) – etwa durch Reduzierung von Leistungen bis hin zu deren vollständigem Aussetzen – zu zwingen („Fordern“). Ein solch fördernder und fordernder Sozialstaat benötigt genaue Vorstellungen von der „Selbsthilfe“ und den Lebensverhältnissen, zu denen sein „Fördern“ und „Fordern“ führen soll. Weil auf deren Loyalität besonders angewiesen, werden diese Vorstellungen mit hoher Wahrscheinlichkeit den Vorstellungen derjenigen entsprechen, die mit ihren Steuern und Beiträgen diese Leistungen und die darüber laufenden „Hilfen zur Selbsthilfe“ finanzieren. Hingegen muss er an seinen Vorstellungen die davon Betroffenen nicht, zumindest nicht gleichermaßen beteiligen; er kann seine Vorstellungen sogar in Opposition zu diesen oder gegen deren ausdrücklichen Widerspruch setzen – und dies mit Hinweis darauf, dass er deren langfristige Interessen besser abzuschätzen ver-
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mag, als es die davon Betroffenen in ihrer prekären Lage können, wegen derer sie der sozialstaatlichen Unterstützung bedürfen. In dem Maße, wie Solidaritätsleistungen der „Hilfe zur Selbsthilfe“ entsprechen und diese von der Normalitätsannahmen derer bestimmt werden, die auf diese „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht angewiesen sind, wird der solidaristisch begründete Sozialstaat zu einem paternalistischen Unternehmen. Dann werden von der Normalität der einen her die Solidaritätsleistungen für die anderen bestimmt und dabei deren Autonomie beeinträchtigt – und diese Beeinträchtigung damit gerechtfertigt, dass dies im langfristigen Interesse der anderen liegt und zu ihrem Besten ist. Wiederum ohne die dazu notwendige Empirie beibringen zu können, lassen sich in den sozialpolitischen Diskursen der „Agenda 2010“, aber auch in der Leistungsund Sanktionspraxis des daraus entstandenen Sozialstaats die Vorstellungen von „normalen“ Lebensverhältnissen finden, wie sie diejenigen mehrheitlich als ihre Normalität unterstellen, die auf sozialstaatliche Unterstützung nicht angewiesen sind. Zudem lässt sich in den sozialpolitischen Debatten der paternalistische Grundduktus gegenüber denjenigen bestätigen, die im Gegensatz zu diesen auf diese Leistungen angewiesen sind. Bei einem solchen Paternalismus definiert der Sozialstaat die Lebenslagen und -formen, auf die hin er die KlientInnen seiner Unterstützung in deren eigenem Interesse zu befähigen sucht; entsprechend konditioniert er seine Unterstützungsleistungen und verweigert Leistungen – mehr oder weniger radikal – denen, die sich den intendierten Lebenslagen und -formen „verweigern“. Im Programm von „Fordern und Fördern“ wurde der bundesdeutsche Sozialstaat auf einen solidaristischen Paternalismus – und dies nicht nur im Bereich der Beschäftigungsförderung – umgestellt. Dabei konzentriert er seine paternalistischen Vorstellungen auf Erwerbsarbeit als Gewähr für gesellschaftliche Inklusion und für „Lebenssinn“ sowie – die Erwerbsarbeit vorbereitend – auf Bildung.
IV. Demokratische Solidarität Drei Gefahren solidaristischer Sozialpolitik sind damit genannt – und dabei als wahrscheinliche Sachverhalte von solidaristisch begründeten Systemen der Sozialen Sicherung, Fürsorge und Dienste und zugleich als Gefahren plausibilisiert, zumindest als Gefahren für diejenigen, die auf die Leistungen dieser Systeme angewiesen sind: Erstens die asymmetrische Definition der über den Sozialstaat organisierten Gegenseitigkeit, zweitens die Exklusivität der über den Sozialstaat organisierten Solidaritätsleistungen und drittens der Paternalismus eines solidaristisch konzipierten Sozialstaats, die die BezieherInnen sozialstaatlicher Leistungen gegen ihren Willen und zu ihrem Besten zwingt. Wem diese drei Gefahren plausibel und wem deswegen der sozialpolitische Solidarismus zum Problem wird, wer aber wegen der genannten Stärken der Solidarität dennoch vom solidaristischen Programm nicht lassen und wer wegen der genannten Gefahren nicht einfach auf ein liberales Programm universaler Gerechtigkeits-Rechte umsteigen will, die bzw. der wird Ausschau nach einer egalitären Form von Solidarität halten, auf die man den Sozial-
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staat grundlegend verpflichten, über die man aber zugleich die Gefahren solidaristischer Sozialpolitik abwehren kann. Finden lässt sich die gesuchte Solidarität in dem für eine demokratische Gesellschaft konstitutiven Solidaritätsverhältnis, dass sich BürgerInnen wechselseitig als Mitglieder derselben politischen Gesellschaft und genau so als BürgerInnen konstituieren und darin als gleich anerkennen – und sich darüber hinaus die gleichen Rechte auf gesellschaftliche Beteiligung zusprechen. Auch wenn jede und jeder BürgerIn eigene Interessen verfolgt – und dies auch ausdrücklich soll, können sie den „Zweck“ ihrer politischen Vergemeinschaftung nur gemeinsam erreichen und müssen gemeinsam nicht nur das wechselseitige Versprechen von gleichen Beteiligungsrechten realisieren, sondern auch gemeinsam gewährleisten, dass sie alle ihre gleichen Beteiligungsrechte in vergleichbarer Weise realisieren können. Dazu müssen sie bestehende Ungleichheiten insoweit ausgleichen, dass trotz der Ungleichheiten gleiche Beteiligungsrechte gewährleistet werden; und dazu schulden sie sich wechselseitig mindestens insoweit Unterstützung, dass Problemlagen den davon Betroffenen die Wahrnehmung gleicher Beteiligungsrechte nicht verunmöglichen. Dadurch, dass sie sich wechselseitig die gleichen Beteiligungsrechte zusprechen, gewinnen sie auch das gleiche Mitspracherecht darüber, was ihre gemeinsamen Interessen sind, welche reziproken Rechte und Verpflichtungen und insbesondere welche Solidaritätsleistungen aus ihren gleichen Beteiligungsrechten erwachsen, zu welchen Lebenslagen und -formen die von daher begründete Unterstützung befähigen soll und welche Rechte und Pflichten die Betroffenen bei Wahrnehmung dieser Unterstützung „haben“. Aber nicht nur die dafür notwendigen Aushandlungen, auch deren Ergebnisse sind normativ „vorgeprägt“: Die reziproken Rechte und Pflichten sowie die daraus erwachsenden Solidaritätsleistungen und die Rechte und Pflichten bei ihrer Wahrnehmung dienen dazu, im Ergebnis und im Vollzug die gleichberechtigte Beteiligung an der von ihnen gemeinsam „belebten“ demokratischen Gesellschaft zu gewährleisten und sich im Ergebnis, aber auch bereits im Vollzug als BürgerInnen und eben darin auch ihrer aller Gleichheit zu realisieren. Um den bundesdeutschen Sozialstaat von dieser egalitären Solidarität her zu begründen und konzeptionell daran auszurichten, muss man die Bundesrepublik grundlegend als eine demokratische Gesellschaft verstehen können und diese dann hinsichtlich ihres normativen Selbstverständnisses als ein Solidaritätsverhältnis in dem angeführten Sinn bestimmen können. Wiederum ohne die notwendige Empirie beizubringen, wird im Folgenden unterstellt, dass dies möglich ist: Unterstellt wird erstens, dass die Bundesrepublik trotz aller postdemokratischen Tendenzen und trotz der vielfach diagnostizierten demokratischen Erlahmung bei Wahlen und bei der Bürgerbeteiligung eine demokratische Gesellschaft „ist“. Es bestehen nicht nur die Institutionen, Verfahren und Strukturen einer demokratischen Gesellschaft; darüber hinaus wird die Bundesrepublik zumindest von einer hinreichend großen Mehrheit als eine demokratische Gesellschaft betrachtet, wobei sich die Mehrheit zugleich als deren BürgerInnen versteht – und wird dadurch zu einer eben solchen „gemacht“. Zweitens wird unterstellt, dass sich eine hinreichend große Mehrheit als BürgerInnen
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einer demokratischen Gesellschaft in wechselseitiger Abhängigkeit zu allen anderen BürgerInnen wissen, sich gegenseitig gleiche Beteiligungsrechte und -chancen zusprechen und ihre Verpflichtung anerkennen, für alle diese Rechte und Chancen gemeinsam zu gewährleisten. Zudem wird drittens unterstellt, dass sie ihren Staat nicht nur aus ihrer politischen Gemeinschaft heraus zu steuern suchen, sondern diesen für ihre demokratische Solidarität und dabei – als Rechts- und als Sozialstaat – auch für die Gewährleistung ihrer gleichen Beteiligungsrechte und -chancen in Anspruch nehmen. Sofern sich diese drei Unterstellungen plausibilisieren lassen, können nicht nur die Ansprüche demokratischer Solidarität an den bundesdeutschen Sozialstaat adressiert werden, sondern kann – in die entgegengesetzte Richtung – der bundesdeutsche Sozialstaat grundsätzlich auf eben diese Ansprüche hin ausgerichtet und dazu von einer ihm vorgelagerten gesellschaftlichen, dabei spezifizierten, nämlich demokratischen Solidarität her begründet werden.27 Dann wird er mit seinen vielfältigen Aktivitäten grundsätzlich auf die Gewährleistung gleicher Beteiligungsrechte und -chancen hin verpflichtet. Zugleich wird ihm gestattet, zur Finanzierung dieser Leistungen umfassend und allgemein auf die Solidarität seiner BürgerInnen zuzugreifen. Bei einer solchen Begründung des Sozialstaats bleibt für andere Solidaritätsverhältnisse genügend Raum, sofern diese der demokratischen Solidarität gleichberechtigter BürgerInnen nicht widersprechen; und so bleiben auch für den Sozialstaat ausreichend Möglichkeiten, in seinen Aktivitäten diesen anderen Solidaritätsverhältnissen mit speziellen Leistungen zu entsprechen – zumindest sofern er dabei nicht seine grundlegende Ausrichtung auf die demokratische Solidarität gleichberechtiger BürgerInnen verrät. Bei einer solch solidaristischen Begründung wird der Sozialstaat nicht nur funktional festgelegt, so er – zumindest grundlegend – zur Gewährleistung gleicher Beteiligungsrechte und -chancen in einer demokratischen Gesellschaft beitragen soll. Festgelegt wird er – in normativer Hinsicht – auch in den sozialpolitischen Prozessen, in denen seine Aktivitäten ausgehandelt und entschieden werden. Er muss gewährleisten, dass alle Solidargenossen darin ihre Interessen gleichermaßen vertreten können und zumindest darüber gleichermaßen berücksichtigt werden. Ausgeschlossen ist es hingegen, diejenigen in den Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen zu benachteiligen, die auf sozialstaatliche Aktivitäten zur Gewährleistung ihrer gleichen Beteiligungsrechte und -chancen angewiesen sind. Zudem wird der demokratisch-solidaristisch begründete Sozialstaat auch im Vollzug seiner Aktivitäten – wiederum in normativer Hinsicht – bestimmt: Die gleichen Beteiligungsrechte und -chancen, zu deren Gewährleistung er mit seinen Leistungen beitragen soll, müssen auch bei deren Vollzug gelten. Mithin ist es dem Sozialstaat ver27 Vgl. Möhring-Hesse, Matthias, Beteiligung – Befähigung – Verteilung. Der Sozialstaat als Instrument demokratischer Solidarität, in: Schramm, Michael (Hrsg.): Der fraglich gewordene Sozialstaat. Aktuelle Streitfelder – ethische Grundlagenprobleme, Paderborn: Schöningh 2006, 91 – 104.
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wehrt, diejenigen, die seine Leistungen zur Sicherstellung ihrer gleichen Beteiligungsrechte und -chancen wahrnehmen, mit besonderen Pflichten zu belasten oder ihnen Rechte vorzuenthalten, die die anderen BürgerInnen realisieren können – zumindest sofern dies für den Bezug der sozialstaatlichen Leistungen nicht unbedingt notwendig ist. Das Programm von „mehr“ Pflichten und „weniger“ Rechten für die BezieherInnen sozialstaatlicher Leistungen wird einem demokratisch-solidaristisch begründeten Sozialstaat jedenfalls versagt. Mit seinen Leistungen gewährleistet er die Gleichheit der BürgerInnen, auf deren Solidarität er verpflichtet wurde und die er deswegen auch in Anspruch nehmen kann. Der Bezug dieser Leistungen bringt die demokratische Solidarität gerade nicht in Schieflage, weswegen der Bezug auch nicht mit „mehr“ Pflichten und „weniger“ Rechten ausgeglichen werden muss – und nicht werden darf. Damit sind in der Begründung über die demokratische Solidarität gleichberechtigter BürgerInnen normative Vorkehrungen gegen einseitig ausgerichtete Reziprozitätsverhältnisse sowie gegen paternalistische Sozialpolitiken und damit gegen zwei der genannten Gefahren solidaristischer Sozialpolitik eingebaut. Demokratische Solidarität ist jedoch eine exklusive, vielleicht sogar eine besonders exklusive Veranstaltung. Das ihr zugrundeliegende Verhältnis zwischen gleichberechtigten BürgerInnen lässt sich nämlich räumlich nicht beliebig ausdehnen und nicht beliebig verallgemeinern; es dürfte mit seiner Ausweitung und Verallgemeinerung an Substanz verlieren. Zumal dann, wenn es über die wechselseitige Anerkennung als gleichberechtigte BürgerInnen hinaus mit anspruchsvollen Solidaritätsansprüchen belastet wird, wird sich demokratische Solidarität in eingespielten Sozialräumen abspielen und zum eigenen Schutz auf eben diese Sozialräume konzentrieren – und sich entsprechend nach außen wie nach innen exklusiv halten. Eine der für solidaristische Sozialpolitik genannten Gefahren, die der Exklusion, wird sich bei einem demokratischen Solidaritätsprogramm also eher verschärfen. Gegenüber dieser Gefahr werden eingefleischte Solidaristen wohl auf liberale GerechtigkeitsRechte zurückgreifen müssen: Als Gegengewicht zu ihrer Exklusivität benötigt eine von BürgerInnen her begründete Solidarität eine kosmopolitische Offenheit, anderen das Recht zuzugestehen, in die Verhältnisse gleichberechtigter BürgerInnen einwandern bzw. in diese Verhältnisse hineinwachsen zu können, sofern diese die Grundbedingungen ihrer demokratischen Bürgerschaft zu akzeptieren bereit sind. Diese Offenheit wird man nicht wiederum solidaristisch, also nicht über die gemeinsamen Belange der untereinander solidarischen BürgerInnen begründen können. Zu ihrer Begründung wird man deren Solidarität verlassen, wird – in Anlehnung an liberale Gerechtigkeitsentwürfe – auf menschenrechtlich Apriorisches Bezug nehmen müssen, so die exklusive Solidarität der BürgerInnen untereinander aufsprengen und sie auf die Belange von Menschen verpflichten können, die (noch) nicht zu ihnen gehören. In diesem Sinn behauptet Seyla Benhabib28 ein „Recht auf Zugehörig28 Vgl. Benhabib, Seyla, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger. Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag, 2008.
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keit“ als ein Menschenrecht – und fordert von diesem Menschenrecht her zwar keine offenen, aber durchlässige Grenzen und eine regulierte Einwanderung in jede zivilisierte Gesellschaft hinein. Dieses Recht eines jeden Menschen ist dann auch eine Grenze für die Exklusivität demokratischer Solidarität – und damit auch für den auf diese demokratische Solidarität hin verpflichteten Sozialstaat.
Summary With reference to the situation in Germany and to the debates in social policies at the times of the »agenda 2010« the article tries to show that the welfare state can be determined from conditions of solidarity. First, it explains the special logic of “solidarity” in comparison with “rights” in the tradition of liberal justice theories. Second, it shows the advantages of solidarity for the area of social policy: Solidarity is, in comparison with general rights, normatively unpretentious; with the rights it will be expelled the corresponding duties of solidarity at the same time. However and third, there are dangers of solidarity for the area of social policy which arises by the implied reciprocity, by the exclusiveness of solidarity and by the paternalism connected to solidarity. Fourth, to encounter these dangers the article refers to a special form of solidarity: the solidarity of citizens with equal rights, which is constitutive for democratic societies. Because this solidarity requires equality also in the execution of solidarity, a welfare state engaged on this will be allowed neither an asymmetrical reciprocity nor a paternalism. If the welfare state is determined of a democratic solidarity, the danger of the exclusiveness of welfare state, however, increases. Friends of solidarity should know this, if they commit themselves to a welfare state which is based on solidarity.
Deliberative Zwischenreiche und Umweltpolitik1 Konrad Ott
I. Einleitung Ein prominenter Kollege, Harald Welzer, kündigte vor einem Jahr in einem Interview (Spiegel 22 / 2013) an, nicht zur anstehenden Bundestagswahl zu gehen, weil er in der deutschen Parteienlandschaft weder substantielle Unterschiede noch wirkliche Alternativen zu entdecken vermochte. Die Einstellung von Welzer mag als symptomatisch für die um sich greifende Skepsis am demokratischen Verfassungsstaat angesichts diverser „großer“ Herausforderungen wie Klimawandel, Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, Migration, Generationengerechtigkeit, demographischer Wandel usw. gelten. Diese Herausforderungen und die sich aus ihnen speisende Skepsis betreffen die politische Philosophie im Allgemeinen und Umweltethik und -politik im Besonderen. Im Folgenden beschäftige ich mich nur mit den Herausforderungen für politisches Handeln, die durch die diversen Formen von Übernutzung und Degradierung natürlicher Systeme („Naturkrise“) ausgelöst wurden und werden, und die die bange Frage provozierten, ob parlamentarische Demokratien ihnen „gewachsen“ seien. Diese Frage ist nicht neu. Sie findet sich bei Hans Jonas, der überlegte, ob nicht die Prinzipien der Demokratie in bestimmten Situationen gegenüber Überlebensimperativen zurücktreten müssten (Jonas 1979). Sie findet sich mutatis mutandis in der Tradition des radikalen politischen Ökologismus, die sich in die 1970iger Jahre zurückverfolgen lässt.2 Sie wird derzeit in der Postwachstumsökonomie erneut aufgegriffen.3 Die Hauptpunkte dieser Kritik an der parlamentarischen Demokratie sind intellektuelles Gemeingut; es genügt daher, sie stichpunktartig aufzulisten: – Kurzzeitdenken professioneller Politik aufgrund des Wahlturnus, Verlagerung von Problemen in die Zukunft – Anthropozentrismus der Verfassungen liberaler Demokratien („Menschen“rechte, keine Rechte für Naturwesen) 1 Ich bedanke mich für hilfreiche Kommentare bei Robert Mill, Moritz Riemann, Erik Sachtleber und Lieske Voget-Kleschin. 2 Maßgebliche AutorInnen waren Arne Naess, Val Plumwood, Robin Eckersley, Rudolf Bahro u. a. 3 Hierzu Paech (2014), Muraca (2014), kritisch Ott (2012).
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– schwache Umweltinstitutionen – Dominanz partikularer, gut organisierter Interessen über Gemeinwohlbelange („Lobbyismus“) – Keine „angemessene“ umweltpolitische Regulierung von Marktprozessen, „Marktgläubigkeit“ von Politik („Neoliberalismus“) – Keine „Umwelt-Lobby“ in der Zivilgesellschaft – Generelles Wachstumsdenken der Politik; BIP-Wachstum als Maßstab erfolgreicher Politik – Inflationäres Anspruchsdenken in Wohlfahrtsstaaten („Sozialmacht“) – Performative Wirksamkeit ökonomischer und funktionalistischer Theorien demokratischer Herrschaft.
Diese Stichpunkte lassen sich zu wertgeladenen Situationsdeutungen verweben, die der parlamentarischen Demokratie und der auf sie gegründeten rechtsstaatlichen Ordnung (zusammen: „demokratischer Verfassungsstaat“) kein gutes Gesamtzeugnis ausstellen. Im Rahmen dieser Kritik wurden etliche Vorschläge für institutionelle Reformen unterbreitet.4 Diese Reformvorschläge reichen von plebiszitären Elementen über Ombudsmänner bis hin zu sog. „Zukunftsräten“, deren Mitglieder direkt vom Volk für einen längeren Zeitraum zu wählen wären (Gesang 2014). Es wäre abstraktes Denken, diese Art der Kritik und solche Vorschläge nur zu wiederholen und diesem oder jenem Reformvorschlag beizupflichten oder ihn abzulehnen. Meine These ist, dass diese alte Kritik mit neuen Wirklichkeiten und den in ihnen angelegten Aussichten nicht mehr übereinstimmt. Zugespitzt gesagt, ist die gegenwärtige demokratische Ordnung, wenn man sie denn recht begreift, insgesamt besser denn je geeignet, im Medium deliberativer Politik die multiplen Übergänge in eine nachhaltige Gesellschaft zu leisten, die während der Transformation aus sich selbst neue sittliche Strukturen (sensu Hegel5) zu erzeugen vermöchte.6 M. a. W.: Nicht die prosaischen Realitäten der Tagespolitik, sondern die unausgeschöpften Potentiale der demokratischen Grundordnung sind eine Art „konkrete Utopie“. Allerdings bietet die Staatsform der Demokratie keine Gewähr dafür, dass Potentiale auch verwirklicht werden; dies liegt letztlich an der Bürgerschaft selbst. Ich knüpfe in diesem Aufsatz an die Deutung von Tine Stein (1998) an, wonach der demokratische Verfassungsstaat strukturell und seinen eigenen normativen Ansprüchen nach eher gut auf ökologische Herausforderungen eingestellt ist, es ihm aber bislang aus erklärlichen und Reformen zugänglichen Ursachen nicht gelungen ist, seinen Ansprüchen politisch gerecht zu werden. Diese These möchte ich in drei Schritten einlösen. Neuerdings die Beiträge in Gesang (2014). Hegel: „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821), Werkausgabe Bd. 7. 6 Zu dem hierbei zugrunde gelegten Nachhaltigkeitsverständnis siehe Ott / Döring (2008), Ott (2014) m. w. L. 4 5
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1. Ich expliziere meine demokratietheoretischen Prämissen im Kontext des Konzeptes deliberativer Demokratie, wie es von Jürgen Habermas in Faktizität und Geltung entwickelt wurde. 2. Ich zeige mit Hilfe des sog Schleusen-Modells, das Habermas im achten Kapitel des Buches entwirft, einige umweltpolitisch relevante Entwicklungen in Zivilgesellschaft, intermediären Zonen und Staat auf, durch deren Verwirklichung der demokratische Verfassungsstaat seinen eigenen, in Art. 20a GG formulierten Ansprüchen im Bereich von Umwelt-, Tier- und Naturschutz besser genügen könnte. 3. Ich gleiche die eingangs skizzierte alte Kritik mit den neuen Wirklichkeiten ab und entfalte das im zweiten Schritt bereits implizit angelegte umweltpolitische Agenda-Setting. Mit diesem Beitrag möchte ich zur Fortentwicklung des Konzepts von „environmental deliberative democracy“ beitragen, wie es von John Dryzek und anderen entwickelt wurde.7 Diese Konzeption nimmt den demokratischen Verfassungsstaat nicht als vergleichsweise kleineres Übel,8 sondern zeigt die umweltpolitischen Potentiale auf, die dieser Staatsform innewohnen, sofern naturethisch aufgeklärte Staatsbürgerinnen sie engagiert zu nutzen verstehen.9 Daher ist zuletzt zu fragen, ob es neuer Institutionen wie etwa „Zukunftsräten“ wirklich bedarf.
II. Deliberative Demokratie Dieser Abschnitt orientiert sich wesentlich an Faktizität und Geltung (Habermas 1992). Diese Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates beruht auf diskursethischen Voraussetzungen. Das generelle Primat des kommunikativen vor dem strategisch-persuasiven Handeln (Habermas 1981) beansprucht seine Gültigkeit auch in der Sphäre des Politischen, die den demokratischen Verfassungsstaat, das Parteiwesen, die politische Berichterstattung in den Medien und die politische Zivilgesellschaft übergreift. Von dieser Präsumtion zehrt die Kritik am manipulativ-persuasiven Einsatz politischer Rede. Gibt man diese sprachtheoretisch begründete Voraussetzung auf, so bleibt letztlich nichts übrig, als eine agonale Theorie des Politischen zu vertreten, in der politisches Sprechhandeln eine propagandistische Waffe in den Kämpfen zwischen Freund und Feind (sensu Carl Schmitt) oder zwischen ökonomisch situierten Klassen ist.10 Das Primat des kommunikativen und seiner arDryzek (1997), Mason (1999), Arias-Maldonado (2007), Niemeyer (2014). Diese hier entwickelte These besagt daher etwas ganz anderes als das Bonmot Churchills, wonach die Demokratie die schlechteste Staatsform sei, allerdings mit Ausnahme aller übrigen. 9 Zur Naturethik siehe Ott (2010), Vogt et al. (2013). 10 Zu den wesentlichen Positionen der „linken“ Konzepte agonaler Politik mitsamt ihren Hintergründen vgl. die überaus instruktive Studie von Marchart (2010). Der Dissens zwischen 7 8
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gumentativen Fortsetzung, d. h. des diskursiven Handelns, geht in der Sphäre des Politischen allerdings einher mit einer Erweiterung des „Pools“ politisch zählbarer Gründe, der breiter angelegt ist als in den Diskursen von Wissenschaft, Recht und Moral. Daher unterscheiden sich moralischer Diskurs und politische Deliberation argumentationslogisch. Diese Erweiterung, die die Aussicht auf strikt definierte Konsense schmälert, ist für die diskursiven Grundlagen von Umweltpolitik allerdings von Vorteil, da bei der Rechtfertigung umweltpolitischer Ziele und Programme auch auf kulturelle naturschützerische Traditionen, Vorsorgegrundsätze, Staatsziele, Vorstellungen eines auch kollektiv guten Lebens usw. zurückgegriffen werden darf (hierzu mit Blick auf den Naturschutz SRU 2002b). Staatsbürger müssen diese Deliberationen also zwar in diskursiver Grundeinstellung, dürfen sie aber mit Gründen führen, die nicht beanspruchen müssen, strikt moralisch, d. h. universell gültig zu sein. Habermas argumentiert rechtsethisch für einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Demokratie.11 Seine konzeptionelle Rekonstruktion soll erbringen, dass Bürger sich bestimmte Typen von Rechten einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben in der (für Habermas evolutionär entstandenen) Form des positiven Rechts politisch autonom regeln wollen. Damit ist freilich kein vollständiges System der Menschenrechte bestimmt. Diese Bestimmung obliegt den Staatsbürgern selbst, die im Modus der Ausübung von politischen Freiheits- und Teilnahmerechten Geltungsansprüche hinsichtlich weiterer, noch nicht positivierter Rechte erheben und diese einzulösen suchen. Dieses Recht, neue Rechte fordern zu dürfen, ist durchaus verträglich mit einer gewissen Skepsis gegenüber einem permanenten „right claiming“, wie man sie bei liberalen Rechtstheoretikern findet.12 Wie auch immer; die noch abstrakte Typik der Rechte muss in jeder demokratischen Grundordnung durch die Staatsbürgerinnen selbst zu einem konkreten System der Rechte spezifiziert werden. Materielle Teilhaberechte sind bei Habermas von ihrem Typus her nur relativ begründet; sie erstrecken sich auf die Gewährung und auf die ökologische Sicherung der notwendigen Bedingungen der Ausübung der vier absolut begründeten Rechtstypen „unter gegebenen Verhältnissen“ (1992, S. 165 f.).13 Bezüglich der Möglichkeit, dem Umweltschutz Verfassungsrang zu verleihen, kann man mit Habermas’ Methode also nur ein relativ begründetes Teilhaberecht und deliberativer und agonaler Bestimmung des Politischen betrifft also nicht den Umstand, dass es in der Politik wesentlich um die Austragung von Konflikten aller Art geht, sondern ist grundbegrifflicher Art und bezieht sich letztlich auf das Verständnis des Politischen selbst. Diese Konkurrenz zwischen einem existentiell-agonalen und einem deliberativen Politikverständnis kann hier nicht entfaltet werden. 11 Hinsichtlich der Rekonstruktion des implikativ-dialektischen Arguments von Habermas orientiere ich mich an dem ausführlichen Kommentar von Ingeborg Maus (2002). 12 Siehe etwa Hillel Steiners bedeutenden „Essay on Rights“ (Steiner 1994). 13 Über entsprechende Bedingungsverhältnisse kann man trefflich politisch streiten; so etwa über die Frage, wieviel Sozialtransfers notwendig sind für die Ausübung der politischen Teilnahmerechte.
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kein anspruchsvolles Individualgrundrecht auf eine wie immer als „gut“ zu qualifizierende natürliche Umwelt voraussetzen.14 Relativ begründete Teilhaberechte lassen, um eine Analogie zu bemühen, ähnliche Spielräume wie die unvollkommenen Hilfspflichten in der Moral. Ihre Bestimmung ist nicht unabhängig von Vorstellungen über materielle Bedingungen eines guten Lebens und Maßstäbe distributiver Gerechtigkeit. Aufgrund dessen sind sie notorisch umstritten. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man ein Individualgrundrecht auf Umwelt einer bestimmten Qualität als Teil eines Grundrechts auf einen adäquaten Lebensstandard verstehen würde. Diese relative Begründetheit und Unterbestimmtheit machen Teilhaberechte allerdings nicht zu Rechten zweiter Klasse, denn wenn Bedingungen der Ausübung von Freiheits- und Teilnahmerechten nicht erfüllt sind, wird das Leben derart depraviert sein, dass es nicht mehr als „minimal gutes“ Leben gelten kann. Es ist auch wahrscheinlich, dass unter diesen Rechtstypus in verschiedenen Verfassungen ähnliche inhaltliche Rechte subsumiert werden (Recht auf Nahrung, Trinkwasser, Obdach, Zugang zu Bildung, Gesundheitsdiensten usw.). Methodisch lässt sich mit Habermas gleichwohl lediglich ein Niveau an Umweltqualität begründen, das hierzulande generell als erfüllt gelten kann. Daher lohnt eine Wiederaufnahme der verfassungsrechtlichen Kontroverse der 1980er Jahre um die Alternative „Menschenrecht auf Natur“ versus „Staatsziel Umweltschutz“15 nicht. Es erscheint vielmehr zulässig und auch umweltpolitisch ertragreicher, ein rechtsethisch nur relativ begründetes Teilhaberecht in der Rechtsform einer Staatszielbestimmung zu positivieren und diese rechtspolitisch mit Blick auf die einzelnen Umweltgesetze und ihre möglichen Verbesserungen zu interpretieren.16 Auf Art. 20a GG ist im Abschnitt III.4 zurückzukommen. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt bei Habermas die Bahnung eines „dritten Weges“ in Abgrenzung zu funktionalistischen und ökonomischen Konzeptionen von Demokratie einerseits, republikanistischen („rousseauistischen“) Konzepten andererseits. Während jene gleichsam normativ „unterkühlt“ sind, da sie bspw. Wahlen als Tauschangebote deuten (Stimme gegen Wahlversprechen) und damit den politischen Sinn von Wahlhandlungen auf die Interessenverfolgung von Privatbürgern reduzieren, erscheinen diese gleichsam als normativ „überhitzt“, sofern sie sich am suggestiven Bild des sich in der Volksversammlung politisch konstituierenden Staatsvolkes orientieren. Der „dritte Weg“, den Habermas anbietet, fügt Elemente beider Konzepte auf neue Weise zusammen. „In Übereinstimmung mit dem Republikanismus rückt sie (die Konzeption deliberativer Demokratie – KO) den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß in den Mittelpunkt, ohne jedoch die rechtsstaatliche Verfassung als etwas Sekundäres zu verstehen; vielmehr begreift sie (…) die Prinzipien des Rechtsstaates als konsequente Antwort auf die Fra14 An diesem Punkt teile ich die Skepsis vieler Juristen gegen ein Individualgrundrecht auf eine (irgendwie qualifizierte) Umwelt. 15 Siehe hierzu die Dokumentation in Arbeitskreis Umweltrecht (1988). 16 Dies wäre im Prinzip auch bei anderen Teilhaberechten möglich.
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ge, wie die anspruchsvollen Kommunikationsformen einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert werden können. Die Diskurstheorie macht das Gedeihen deliberativer Politik nicht von einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft abhängig, sondern von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen, sowie vom Zusammenspiel der institutionellen Beratungen in informell gebildeten öffentlichen Meinungen“ (Habermas 1992, S. 361 f.).
Etliche Vorwürfe gegen die sich auf dieser Bahn ergebende Konzeption deliberativer Demokratie beruhen auf „misplaced concreteness“. So darf man bspw. das in Faktizität und Geltung zugrunde gelegte Konzept der politischen Öffentlichkeit nicht mediensoziologisch verkürzen. Die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit übergreifen Zivilgesellschaft, Massenmedien, diverse semi-politische Foren und Gremien (s. Abschnitt 3.) sowie die staatlich verfasste Politik in Parlamenten und Ministerien. Einzelne politische Äußerungen und personelle Karrieren besagen wenig über den Zustand dieser Strukturen. Auch darf man den professionalisierten Kern des politischen Systems nicht mit der Sphäre des Politischen gleichsetzen. Man würde die Demokratietheorie verkürzen, wenn man sie auf die Differenz von Macht und Opposition bei der Regierungsbildung (sensu Luhmann) oder auf die Mehrheitsregel beziehen würde. Auch politische Zeithorizonte sollten nicht ungeschichtlich verkürzt werden. Die populäre Demokratiekritik übernimmt häufig die kurzfristigen Zeithorizonte, die sie der Regierungs- und Parteipolitik vorwirft, in ihren eigenen Analysen und macht sich dadurch blind für längerfristige Prozesse17 in der Sozial- und eben auch in der Umweltpolitik (etwa in der Energie-, Abfall-, Lärm- oder Chemikalienpolitik). Ein Charakteristikum moderner Umweltpolitik liegt nun gerade darin, dass ihre eigentlichen Leistungen abseits der medial inszenierten Tagespolitik erbracht werden. Dort werden Einzelereignisse umweltpolitisch skandalisiert, in ihrer Wirksamkeit ist Umweltpolitik längerfristige Fachpolitik in einem Mehrebenen-System, das sich von internationalen Regimen über Nationalstaaten bis in föderale und kommunale Administrationen erstreckt (SRU 2004, Kapitel zu Governance). Die mediengängige Skandalisierung einzelner Ereignisse (etwa die Überschreitung von Grenzwerten18) gehört zum politischen Tagesgeschäft, erweckt aber den falschen Eindruck, die Umweltsituation verschlechtere sich fortwährend. Die Beurteilung von Umweltpolitik sollte – ähnlich wie die Beurteilung volkswirtschaftlicher Entwicklungen – immer Jahrzehnte umfassen. Es wäre auch eine Verkürzung, würde man die „Lebendigkeit“ von Demokratie primär an Zahlenwerten von Wahlbeteiligungen festmachen. Der Rückgang von Wahlbeteiligungen, so bedauerlich er unter dem Gesichtspunkt der Inklusion des 17 Zu längerfristigen Prozessen politischer Integration siehe Rokkan (2000), insbesondere das Kapitel über die vier Schwellen der Demokratisierung, S. 296 – 315. 18 Auch wenn man sich selbst immer für strenge Grenzwerte bei Schadstoffen aller Art eingesetzt hat, ist die Einsicht nicht von der Hand zu weisen, dass Überschreitungen von Grenzwerten wahrscheinlicher werden, je schärfer sie formuliert sind.
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gesamten Wahlvolkes und der aus ihm entspringenden input-Legitimation ist, sagt an sich weder etwas darüber, wer warum nicht mehr zu welchen Wahlen geht,19 noch besagt er sonderlich viel über die Qualitäten politischer Deliberationen. Es zeigt sich hier vielmehr eine Differenz von Inklusion und Deliberation als den beiden konstitutiven Pfeilern des Konzepts deliberativer Demokratie. Die wechselseitige Steigerung von Inklusion und Deliberation ist und bleibt zwar ein Ideal, aus dem sich die Forderungen nach einer verbesserten politischen Bildung gerade für die sog. bildungsfernen Schichten speisen. In der Realität einer Massendemokratie werden, soweit absehbar, Differenzen und Asymmetrien von Aktivität und Engagement bestehen bleiben. Für die Ausübung ihrer politischen Teilnahmerechte ist jede Bürgerin letztlich selbst verantwortlich. Die Wahrnehmung dieser Rechte (Inklusion) durch einen jeden lässt sich mit den Mitteln des positiven Rechts nicht erzwingen. In diesem Sinne darf jede Einzelne unpolitisch sein, auch wenn dies sub specie der Idee deliberativer Demokratie immer ein bedauerlicher Verlust ist. Zwar finden sich häufig advokatorische Fürsprecherinnen, aber es bleibt ungewiss, ob die Gründe und Sichtweisen der Advokaten denen der Betroffenen entsprechen.20 Hohe Qualität von Deliberationen bei unvollständiger Inklusion der Bürgerinnen ist gleichwohl prinzipiell möglich, obwohl immer die offene Frage bleibt, ob wichtige Argumente nicht mehr adäquat in den „Pool der Gründe“ fließen, wenn bestimmte Gruppen ihre Teilnahmerechte nicht mehr ausüben. Das Ideal der vollständigen Inklusion zielt auf den Allquantor der Staatsbürgerinnen, die Wirklichkeit der Deliberation erfordert qualifiziertes streitbares Deliberationspersonal, an dem aber, wie im Folgenden zu zeigen ist, in der Sphäre des Politischen kein Mangel herrscht.
III. Lebenszeichen der Umwelt-Demokratie 1. Zum Schleusenmodell Im Folgenden verwende ich das Konzept deliberativer Demokratie und das ihm beigegebene Schleusenmodell (Habermas 1992, S. 429 – 435), um die vorhandene Akteurs- und Diskurslandschaft der Umweltpolitik i. w. S. näher zu betrachten. Die Grundunterscheidung im Schleusenmodell ist die zwischen zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit und den Kerninstitutionen staatlich organisierter Politik. Diese Unterscheidung ist keine Dichotomie zweier Bereiche,21 denn zwischen Zivilgesellschaft 19 Der Sachverhalt, dass die Schicht der Transferempfänger, die aufgrund ihrer materiellen Interessen allen Grund haben, sich an Wahlen zu beteiligen, bei Wahlen unterrepräsentiert ist, ist freilich erklärungsbedürftig. Der These von der Ausschließung dieser Schicht durch die Mittel- und Oberschicht, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht, lässt sich die These von einer Art selbstverschuldetem Rückzug aus der politischen Sphäre entgegensetzen. Über die Triftigkeit dieser konträren Thesen wäre zu streiten, wofür hier nicht der Ort ist. 20 In der Sozialpsychologie kennt man das Problem des sog. „Helfersyndroms“. 21 Ich sehe keinen Vorteil darin, diese Unterscheidungen durch einen allgemeinen Begriff von „governance“ zu ersetzen, der, wenn er denn analytisch und zeitdiagnostisch brauchbar
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und Staat vermitteln als ein „System von Schleusen“ (Habermas: „innere und äußere Peripherien“) intermediäre Organisationen, Institutionen und Gremien. Daher stehen sich Politiker und Wahlvolk nicht unvermittelt gegenüber. Vielmehr existiert bereits faktisch ein „Zwischenreich“ politischer Deliberation.22 Es ist bezeichnend, dass dieser Zwischenbereich Kritikern der repräsentativen Demokratie weitgehend anathema ist. Dieses (diskurstheoretisch noch unzureichend erforschte) Zwischenreich als Organon der Vermittlung zwischen Zivilgesellschaft und Verfassungsstaat ist für die Qualität von Deliberationen in der gesamten Sphäre des Politischen von besonderer Bedeutung. In diesem Zwischenreich können die negativen Momente sowohl der öffentlichen Meinung als auch der Berufspolitik korrigiert werden, wie sie Hegel in seiner Rechtsphilosophie23 und Max Weber in Politik als Beruf deutlich sahen, nämlich bloße Meinung(smache) und parteipolitische Propaganda. Günstig hierfür ist auch der Umstand, dass die Massenmedien dieses Zwischenreich nur wenig mit ihrer Aufmerksamkeit behelligen. Diese Zwischenbereiche sind nur bei Strafe der Verkürzung dessen, was dort geschieht, mit „klassischem“ Lobbyismus gleichzusetzen, der politische Öffentlichkeit scheut und sie unter der Zielvorgabe eines nicht deliberativ gefilterten Zugriffs auf politische Entscheidungsmacht zu umgehen sucht. In diesem Zwischenreich wird auf Basis uneinheitlicher „stakeholder“-Interessen über politische Handlungs- und Regulierungsoptionen debattiert, wobei staatliche Akteuren häufig die Rolle von Moderatoren einnehmen, die mit ihrer Regulierungskompetenz nur drohen.24 Dieses Zwischenreich kann aus der Perspektive der Zivilgesellschaft als eine Art „Transmissionsriemen“ zur Politik gesehen werden, während es aus der Perspektive der Politik der Entscheidungsvorbereitung und ggf. auch der Korrektur politischer Prozesse dient. Das Schleusenmodell mitsamt diesem Zwischenreich kann zwanglos auf die deutsche Umweltpolitik i. w. S. bezogen werden. Hierzu rechne ich neben den „klassischen“ Feldern des medialen Umweltschutzes (Wasser, Luft, Boden, Abfall) den Tierschutz, den Naturschutz und nicht zuletzt Agrar-, Forst- und Fischereipolitik. Die Vorschläge aus dem Zwischenreich haben in den Phasen politischer Regulierung Aussichten auf Gehör, in denen Regierungen noch offen für Alternativen sind. sein soll, doch wieder vieler Binnendifferenzierungen bedürfte. Ich befürchte eher, dass der Modebegriff „governance“ zu einem Verlust an analytischer Schärfe in der Politikwissenschaft geführt hat. 22 Siehe aber Hey (2009) und Weingart, Lentsch (2008) zur Wirksamkeit von Politikberatung. 23 Siehe §§ 316 – 318, die Hegel zu dem Ergebnis führt, dass die öffentliche Meinung sowohl geachtet wie verachtet zu werden verdient. 24 Daher trifft man in diesem Zwischenreich immer auch Momente der Einbindung von Akteursgruppen, die sich als „(neo)korporatistisch“ bezeichnen lassen. Diese Momente müssen im Konzept deliberativer Demokratie durch Momente direkter Partizipation (etwa „Bürgerforen“) korrigiert werden.
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2. Über die Bedeutung der Zivilgesellschaft Die deutsche Zivilgesellschaft erscheint im Umweltbereich als überaus lebendig. Von einer Entpolitisierung der Zivilgesellschaft und von einer generellen Politikverdrossenheit kann keine Rede sein – es sei denn, sub specie von Idealen. Als Belege für diese Einschätzung wähle ich erstens etablierte Naturschutz- und Umweltverbände (BUND, NABU, WWF, Greenpeace u. a.), zweitens das Agenda-Setting von politischen Parteibasen wie etwa der Partei von Bündnis 90 / Die Grünen und drittens neue antikapitalistische Bewegungen (wie etwa Attac, Occupy, Degrowth). Die Einflussmacht der Natur- und Umweltverbände ist keineswegs gering, da sie hohe Mitgliederzahlen aufweisen, in der breiten Bevölkerung moralisches Vertrauen genießen und sich intern für eher konfrontative oder eher kooperative Strategien gegenüber Unternehmen und deren Verbänden (Bauernverband, Forstwirtschaftsrat, Stromkonzerne) entscheiden können.25 Durch die Verbandsklage wurde die Position der Umweltverbände auch rechtlich aufgewertet. Die Zentralen der Naturverbände sind professionalisiert; viele Wissenschaftler sind in ihren Kuratorien tätig. Die Naturverbände geben zwar keine direkten Wahlempfehlungen, analysieren aber Unterschiede in Parteiprogrammen in ihren Newslettern. Ihre, wie gesagt, zahlreichen Mitglieder sind eo ipso umweltpolitisch interessiert. Dies zwingt alle Parteien dazu, ihre Umweltprogramme nicht auszudünnen. Was Parteibasen anbetrifft, so hat die Partei von Bündnis 90 / Die Grünen vor der letzten Bundestagswahl auf basisdemokratische Weise die Schwerpunkte für eine mögliche Regierungspolitik festgelegt.26 Daran zeigt sich, dass Parteibasen direkt zum Agenda-Setting beitragen können und nicht bloß die Erfüllungsgehilfen von Parteizentralen in Wahlkämpfen sind. Das bei dieser freilich nur parteiinternen Schwerpunktsetzung als wichtig erachtete Thema der industriellen Tiermast bewegt zunehmend breitere Kreise der Zivilgesellschaft27, wird in der Tierethik reflektiert und dringt allmählich in die Politik vor.28 Fragen der Nutztierhaltung schieben sich allmählich auf der politischen Agenda nach vorne.29
25 Die Frage, ob diese Verbände „Umweltlobbies“ neben anderen Lobbies sind, oder ob man sie begrifflich von Lobbies unterscheiden sollte, lässt sich nicht dadurch beantworten, indem man den Umweltverbänden eine Orientierung am Gemeinwohl attestiert, sondern nur, indem man die jeweiligen Kommunikationsformen analysiert. 26 Im Ergebnis: Energiewende, strukturelle Veränderungen in der Massentierhaltung, Einschränkung von Rüstungsexporten und ein neues Wachstumskonzept. 27 Auf der kulturellen Ebene ist eine Verbreiterung vegetarischer und veganer Lebensstile unverkennbar, was zu bestimmten positiven „feed backs“ führt: Bei gemeinsamen Feiern wird mindestens vegetarisch gekocht, da sonst viele Gäste nicht mitessen können und dadurch das Ziel des gemeinsamen Mahles verfehlt würde. 28 So hat das Land Schleswig-Holstein unlängst eine „Tierwohlinitiative“ ins Leben gerufen. 29 Hierzu vgl. Voget-Kleschin, Lieske, Bossert, Leonie, Ott, Konrad (2014), zur Tierethik insbesondere den Beitrag von Bossert in diesem Band.
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Die neuen antikapitalistischen Bewegungen sind die politischen „Krisengewinnler“ der letzten Jahre, da ihnen die diversen ökonomischen Krisen europaweit einen Zulauf unter jungen Intellektuellen verschaffen, den man nur zwei Jahrzehnte nach dem Kollaps des Staatssozialismus nicht für möglich gehalten hätte. Es ist (auch in studentischen Milieus) wieder schick, System- und Machtfragen zu stellen und das „öko-sozialistische“ Schrifttum der 1970er Jahre findet ein neues Lesepublikum. Diese politischen Bewegungen haben dazu beigetragen, dass die Thematik von ökonomischen Ungleichheiten (Einkommen, Vermögen, Bildungschancen) und distributiver Gerechtigkeit in mehreren parteipolitischen Programen nach vorne gerückt ist.30 Insofern zeigt sich, dass auch von radikalen Milieus innerhalb einer für Ungleichheiten zunehmend moralisch empfindlichen Zivilgesellschaft ein „AgendaSetting“ ausgeht, das im Innern des politischen Kernbereichs Wirkungen hervorruft. Daher ist es auch völlig legitim, ökonomische Ungleichheiten auf ihre Umwelteffekte hin zu befragen.31 3. Agenda Setting im Zwischenbereich Im Innern des Zwischenbereiches begegnen sich auf umweltpolitischen Handlungsfeldern Vertreter organisierter Interessen (Verband der Waldeigentümer, Bauernverband, VCI, ACEA usw.), staatliche Akteure (Parlamentarier, Staatssekretäre), Behördenvertreter und Vertreter von Umweltverbänden (s. o.) in unterschiedlichen Gremien, Initiativen und Foren. Hierzu zählen auch Forschungseinrichtungen (wie das UFZ in Leipzig) und Stiftungen (wie die DBU). Durch umweltpolitische Reformen im Energiebereich und durch die Verbreitung von „grünen“ Konsumstilen im Ernährungsbereich haben sich in jüngster Vergangenheit auch Verbände gegründet, die die ökonomischen Interessen von Umwelt- und „Öko“-Branchen vertreten (Windkraft, Solarenergie, „Bioland“, „Demeter“), was zu neuen Koalitionen und auch zu internen Konflikten führt.32 Diese Zwischenzonen sind nicht zuletzt Orte des umweltpolitischen Agenda-Setting.33 Hierzu tragen neben staatlichen Oberbehörden (BfN, UBA34) auch Gremien 30 Selbst wenn man glaubt, dass ein ökologisch nachhaltiges, mehrheitlich als fair empfundenes und funktional stabiles, d. h. dauerhaft hohe Aufkommen garantierendes Steuersystem nicht einfach aus der Umsetzung der diversen „tax-the-rich“-Forderungen bestehen kann, wird die Frage nach einem zukunftsfähigen Steuersystem wieder grundsätzlicher thematisiert. 31 Dabei finden sich freilich Diskrepanzen zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverbrauch. So geht aus der neuen Studie zum Umweltbewusstsein (BMUB, BfN 2014) deutlich hervor, dass das Umweltbewusstsein in den Milieus der „Prekären“ und „Traditionellen“ vergleichsweise gering ausgeprägt ist, während es in den Milieus der „Liberal-Intellektuellen“ und „Konservativ-Etablierten“ und neuen urbanen Schichten stärker ausgeprägt ist, deren Umweltverbrauch aber höher liegt (etwa durch häufigere Flugreisen). 32 So nimmt man es in lokalen Kontexten den ortsansässigen Betreibern übel, wenn sie mit Windenergie- und Biogasanlagen „Geld verdienen wollen“. 33 Gemäß dem Politikzyklusmodell bei Jänicke, Kunig, Stitzel (1999), Teil II.
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der wissenschaftlichen Politikberatung bei, die Habermas in seiner (eher flüchtigen) Beschreibung der „Peripherien“ nicht erwähnt. Diese seit den 1970er Jahren etablierte Art von Politikberatung verbindet gemäß den in Einrichtungserlassen niedergelegten Mandaten wissenschaftliche Expertise, Unabhängigkeit von materiellen Interessen mit einer (im Mandat selbst festgelegten) Grundparteilichkeit zugunsten „erfolgreicher“ Umweltpolitik. Bei den intermediären Gremien der wissenschaftlichen Politikberatung hat bspw. der WBGU 2011 ein Gutachten unter dem Titel Große Transformation vorgelegt, auf dessen Wirkung kurz einzugehen ist. In diesem Gutachten, das im Titel auf das Buch des Marxisten Polanyi (1978) anspielt, das den geschichtlichen Übergang hin zu einer Marktgesellschaft rekonstruiert, stehen nunmehr Fragen der globalen Klima- und Energiepolitik im Mittelpunkt. Mit Blick auf Deutschland geht es um die politische Ausgestaltung einer Vorreiterrolle („Energiewende“) und international um die Weiterentwicklung der FCCC zu einem Klimaregime, das das sog. „2° Ziel“ vielleicht doch noch zu erreichen vermag (oder es zumindest nur knapp verfehlt). Der WBGU geht davon aus, dass es Transformationspfade aus dem Zeitalter der fossilen Energieträger gibt, die allerdings global hohe upfront-Investitionen verlangen. Skizziert werden auch Transformationen in den Bereichen Urbanisierung, Landnutzung usw. Das Wort von der „Transformationsforschung“ ist seither in aller Munde. Der SRU hat 2012 ein Gutachten unter dem Titel Verantwortung in einer endlichen Welt vorgelegt. Der SRU kombiniert auf der normativen Ebene die Konzepte der „global boundaries“ (Rockström et al. 2009), bei denen es sich natürlich nicht um wissenschaftlich objektive Grenzen, sondern um normative Festlegungen handelt, und der genuin normativen Konzeption „starker Nachhaltigkeit“ (Ott, Döring 2008). Solche Gutachten lösen im Zwischenreich Fachkontroversen aus. So wurde das Kapitel zur Waldpolitik (SRU 2012, Kap. 6) in der Fachöffentlichkeit überaus kritisch diskutiert.35 Würden solche Fachdebatten stärker in die Zivilgesellschaft zurückwirken, so könnten unterschätzte Politikfelder wie die Forst- und Waldpolitik politisch aufgewertet werden: Welche Wälder wollen wir für die Zukunft unserer Enkelkinder jetzt pflanzen und sich auf dem Wege natürlicher Sezession entwickeln lassen?36 Sollen wir Wälder eher als Kohlenstoffspeicher oder vermehrt zur Holzverfeuerung nutzen? Wie verbinden wir Segregation und Integration der Waldfunktionen? Es erscheint im Lichte solcher Fachkontroversen, wie immer sie ausgehen 34 Diese Bundesoberbehörden stimulieren – ähnlich wie die Deutsche Bundesstiftung Umwelt – Forschungen und Innovationen und entwickeln in Verbindung mit Bundes- und Länderministerien Strategien zur Implementation etwa von „offenen“ EU-Richtlinien. Ein wichtiges Themenfeld ist die Anpassung an klimatische Veränderungen, die von der deutschen Anpassungsstrategie am UBA bearbeitet wird. 35 Hierzu siehe die Beiträge in AFZ / Der Wald 68 Jahrgang, Nr. 17, wo die Beiträge eines Symposiums zum SRU-Gutachten publiziert sind, das SRU und DVFFA gemeinsam veranstalteten. 36 Hierzu siehe auch Ott, Egan-Krieger (2012).
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mögen, dann auch für die Zivilgesellschaft und die staatliche Politik als eine Fehlsteuerung politischer Aufmerksamkeit, wenn Politikfelder, die 80% der Territorialfläche prägen (wie Land- und Forstwirtschaft), randständig bleiben. In diesem Sinne kann das deliberative Zwischenreich auch zur Auf- und Abwertung von Politikfeldern beitragen und in diesem Sinne eine zivilgesellschaftliche „Umwertung der Werte“ bewirken. Den Gutachten von WBGU und SRU ist gemeinsam, dass sie das Wachstumsdenken kritisch hinterfragen und eine absolute Entkopplung von Ressourcenverbrauch und ökonomischer Wertschöpfung fordern. Dadurch verknüpfen sie sich mit der Thematik der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, deren Schlussbericht seit 2013 vorliegt (Enquete 2013). Enquete-Kommissionen zählen – wie auch das Büro für Technikfolgenabschätzung am Bundestag – zu den parlamentsnahen Knotenpunkten des Zwischenreiches; ihre Berichte haben häufig wichtige Rollen in der politischen Deliberation gespielt.37 Der Enquete-Bericht relativiert das herkömmliche Wachstumsdenken, behält aber das BIP als eine Messgröße für volkswirtschaftlichen Wohlstand bei. Hohe Wachstumsraten des BIP werden durch den Enquete-Bericht als Erfolgsmaßstab für Politik entwertet. Nähme man den Bericht in seinen Konsenszonen ernst, so verschöbe sich das Koordinatensystem der Politik weg von der BIP-Fixierung hin zu der Frage, wie vorhandene soziale Sicherungs- und Transfersysteme auch ohne hohe Wachstumsraten des BIP dauerhaft funktionstauglich bleiben.38 Betont man Gemeinsamkeiten von WBGU, SRU und Enquete-Bericht, so ließe sich auf den Konsenszonen eine mittelfristige umweltpolitische Agenda aufbauen. Hierzu drei Beispiele: So enthält der Bericht der Enquete-Kommission erstens die Forderung nach einer umweltpolitischen Vorreiterrolle – und zwar im parteiübergreifenden Konsens.39 Derartige Konsense wirken zwar auf den ersten Blick trivial und es fällt jedem gewitzten Redakteur leicht, sie als Lippenbekenntnisse zu entlarven. Die Bedeutung solcher Konsense erschließt sich jedoch erst, wenn man sie als „Bohrwerkzeuge“ interpretiert, mit denen sich – gemäß der berühmten Metapher Max Webers – dicke politische Bretter bohren lassen. Vorreiterrollen bedeuten, dass einzelne Volkswirtschaften auf dem Wege politischer Regulierung „starke“ Umweltinnovationen auf den Weg bringen (SRU 2008, Kap. 2), die dann auf dem Wege technischer und rechtlicher Diffusion zu Standards werden. Die Gebotenheit von Vorreiterrollen lässt sich aus Effizienzkalkülen nicht zwingend ableiten (Ungewiss37 So etwa in der Nachhaltigkeitsdebatte durch die Erfindung des Drei-Säulen-Modells, wie im Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ (1998). 38 Der Bericht macht allerdings in den vom Haupttext abweichenden Sondervoten auf große parteipolitische Unterschiede aufmerksam. Wer Haupttext und Sondervoten miteinander vergleicht, der kann substantielle Unterschiede zwischen den politischen Lagern nicht übersehen. 39 Diese Forderung findet sich im SRU Gutachten von 2002, das den Titel trägt: „Für eine neue Voreiterrolle“.
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heit von Diffusion, Diskontierung zukünftigen Nutzens), sondern aufgrund der unannehmbar hohen Umweltverbräuche der industriellen Schlüsselsektoren. Zweitens wird der Grundgedanke des liberalen Paternalismus (Thaler, Sunstein 2011), nämlich das sog. „nudging“, mit Blick auf einen nachhaltigeren Konsum als grundsätzlich zulässig erachtet.40 „Nudging“ bedeutet, Konsumentinnen durch eher sanfte Regulierungen Anreize zu „naturverträglichem“ Konsum zu geben, ohne dabei die grundsätzliche Wahlfreiheit zu beschränken.41 Dieser Konsens impliziert, dass – trotz aller Aufgeregtheiten um die sog. „Veggie-Days“ in öffentlichen Kantinen – das Thema einer nachhaltigkeitsorientierten Konsumpolitik schon auf der parteiübergreifenden Agenda steht, wenngleich die einzelnen Parteien vor ihm noch zurückscheuen, weil sie die erwartbare Medienschelte fürchten.42 (Aber vielleicht gibt es ja für mutige Parteien auch „first mover gains“.) Ein drittes Beispiel betrifft die sog. Rebound-Effekte, die in allen drei Gutachten breit diskutiert werden. Hier besteht mittlerweile Konsens, dass Rebound-Effekte durch politische Regulierung zu verringern bzw. zu unterbinden sind, damit die im technischen Fortschritt angelegten Effizienzgewinne Natur und Umwelt wirklich zugute kommen. Dieser Konsens ist genuin normativ, da man Rebound-Effekte auch als wünschenswerte Zugewinne von Komfort, Mobilität etc. deuten kann. Hier vertrete ich (gegen Nico Paech 2014) die These, dass die Bekämpfung von Rebound-Effekten nicht gescheitert ist, sondern noch gar nicht ernsthaft begonnen wurde. Auch hier liegt ein konsentiertes Agenda-Setting vor, das seine Wege in Politik (Regulierung) und Zivilgesellschaft (Konsumverhalten) finden könnte. Welche Instrumentenverbünde wären geeignet, bestimmten „Rebound“-Formen wirksam entgegenzuwirken? 4. Die Bedeutung des Art. 20a GG Wendet man sich dem Kern des demokratischen Verfassungsstaates zu, so wurde nach der staatlichen Vereinigung die Staatszielbestimmung Umweltschutz (Art. 20a GG) in das Grundgesetz aufgenommen.43 Diese Staatszielbestimmung fordert Legislative, Exekutive und Vollzugsorgane der Administration zu einer Umweltpolitik auf hohem Anspruchsniveau auf. Interpretativ lassen sich aus Art. 20a ein Verschlechterungsverbot und ein gestaltungsoffener Verbesserungsauftrag herleiten.44 40 Siehe hierzu z. B. Heidbrink (2014), am Lehrstuhl von Ludger Heidbrink (Kiel) wird hierzu intensiv geforscht. 41 Die Regulierung des Tabakkonsums durch Rauchverbote, Tabaksteuer und Kampagnen gegen das Rauchen könnte als Musterbespiel für staatliches „nudging“ gelten, da die prinzipielle Freiheit des Nikotinkonsums gewahrt bleibt. 42 Zur Leitlinie der Suffizienz und zu Konsumpolitik siehe Ott, Voget-Kleschin (2013), Voget-Kleschin (2014). 43 „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung (…)“.
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Einzelne Juristen sehen die Konzeption „starker“ Nachhaltigkeit, die der SRU 2002 vorgeschlagen hat, als eine plausible Interpretationsfolie des Art. 20a GG an (Winter 2007). Ich halte dafür, dass die Staatszielbestimmung ihren bereits in den 1980er Jahren ausführlich diskutierten Alternativen (Rechte für Naturwesen, Individualgrundrecht auf „gesunde“ Umwelt) im Rahmen einer „Juristenverfassung“ (Isensee) verfassungsrechtlich und auch umweltpolitisch überlegen ist. Art. 20a GG enthält seit 2003 auch einen Passus „und die Tiere“, die dem Tierschutz nunmehr Verfassungsrang verleiht. Dies ist tierethisch begrüßenswert, wenngleich der Tierschutz nicht, wie der Wortlaut von Art. 20a suggeriert, mit der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen begründet werden kann. Durch diese verfassungsmäßige Zielvorgabe könnten wir einen neuen Anlauf in der Diskussion nehmen, welche Gründe wir als „gute Gründe“ im Sinne des Tierschutzgesetzes anerkennen sollen, einem Tier Schmerzen und Leid zuzufügen.45 Dieser Überhang ließe sich für eine Tierschutzpolitik nutzen, die sogar wildlebende Tiere und ihre natürlichen Lebensräume umfassen könnte. Wenngleich sich in der Tierethik die beiden Lager des Tierschutzes bzw. Tierwohles auf der einen Seite, der Tierrechte und der Tierbefreiung auf der anderen Seite heftige Kontroversen liefern, die bis hin zur Frage führen, ob die Nutztierhaltung langfristig abzuschaffen sei (Bossert in Fn. 29), so besteht immerhin politischer Konsens, dass eine substantielle Verbesserung des Tierwohls geboten ist. Es wäre auch im Sinne von Art. 20a, die Auswirkungen der industriellen Tiermast auf Natur und Landschaft politisch zu thematisieren, da sich beide Schutzziele des Art. 20a hier begegnen.46 Der Art. 20a ist gewiss kein Ersatz für gute Umweltpolitik auf der einzelgesetzlichen (und wohl auch der untergesetzlichen) Ebene; er fordert eine solche Politik vielmehr und richtet sich daher gegen symbolische Umweltpolitiken.47 Während man Unternehmen nicht an PR-gängigen symbolischen Umweltprojekten hindern kann und soll, ist „Umweltkosmetik“ staatlichem Handeln nicht erlaubt. 5. Erfolge der Umweltbewegung Das Umweltrecht ist zu einem Kerngebiet des öffentlichen Rechtes geworden. Natürlich kann hier keine Gesamtbilanz erfolgen; es können aber schlaglichtartig einige Erfolgsgeschichten und neuere Entwicklungen beleuchtet werden, die für die These sprechen, dass der demokratische Verfassungsstaat im Medium deliberativer Politik seinen eigenen Ansprüchen allmählich besser gerecht wird. Dabei darf nicht 44 Hierzu siehe Geddert-Steinacher (1995), Murswiek (1996), Czybulka (2001), Winter (2007). 45 Zur Bedeutung des Art. 20a GG für den Tierschutz siehe Caspar, Schröter (2003). 46 Hierzu Fn. 29. 47 Hierzu Hansjürgens, Lübbe-Wolff (2000), insbesondere die beiden Beiträge von LübbeWolff, die auf verfassungsrechtliche Grenzen symbolischer Umweltpolitik hinweist.
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vergessen werden, dass jede dieser Erfolgsgeschichten gegen Widerstände durchgesetzt wurde. 48 Nach der legislativen Offensive in den 1970er Jahre entstand zunächst ein Vollzugsdefizit, das durch den Ausbau von Umweltverwaltungen allmählich abgebaut wurde, die aktiven Vollzug auf der – demokratietheoretisch ambivalenten – untergesetzlichen Ebene von Richtlinien, Erlassen und Verordnungen betreiben. Diese Institutionen sind trotz aller Klagen über „Reformdruck“ im Kern fest etabliert. Ihre Reformen könnte man gemäß dem Grundsatz organisieren, wonach die Verwaltung den Aufgaben folgt, die der Staat politisch festlegt. Manche bestehenden administrativen Komplexe (etwa die Verwaltung der Binnenschifffahrt oder die Flurbereinigung) könnten „entschlackt“ und den vielfältigen neuen Vollzugsaufgaben im Umweltbereich zugeordnet werden (hierzu siehe SRU 2007). Das System der Naturschutzgebiete erreicht mittlerweile fast die von Autoren wie Berndt Heydemann, Michael Succow, Ulrich Hampicke, Wolfgang Haber u. a. seit den 1980er Jahren in vielen Publikationen geforderten 10% der terrestrischen Landesfläche. Die lokalen „Akzeptanzkrater“ sind, wie man gerade am Beispiel der Ausweisung neuer Nationalparke sieht (wie etwa im Hochschwarzwald), zwar nicht verschwunden, aber die Mehrheit der Bevölkerung wird dieses Schutzgebietssystem nicht wieder aufgeben wollen. Das System der Schutzgebiete kann in diesem Sinn als etabliert gelten; es kann und sollte „arrondiert“ werden. Aus naturschutzfachlicher Sicht wäre in einem nächsten Schritt der „Verinselung“ der Schutzgebiete entgegenzuwirken, indem der gesetzlich geforderte Biotopverbund verwirklicht wird. Etliche umweltpolitische Erfolge entstanden durch Umsetzungen von EU-Richtlinien, wobei die Umsetzung der FFH-Richtlinie ein Jahrzehnt benötigte und die Umsetzung der WRRL länger als bis zum Jahre 2020 andauern wird. Während die FFH-Richtlinie ein abwägungsfestes System von Schutzgebieten erbrachte, wird die WRRL die biochemische und auch die ökologische Gewässerqualität verbessern. Nach wie vor in der Umsetzung begriffen ist die nationale Biodiversitätsstrategie (hierzu Ott 2011). Nicht vergessen werden sollten auch die Sanierung kontaminierter Industriebrachen auf dem Gebiet der DDR und die Renaturierung von ostdeutschen Bergbaufolgelandschaften.49 Seit der Havarie von Fukushima sind der Ausstieg aus der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ und die sog. „Energiewende“, d. h. der Umstieg auf Stromgewinnung aus regenerativen Energien beschlossene Sachen. Die „Energiewende“50 ist 48 Problem ist, dass die vielen Erfolgsgeschichten der Umweltpolitik zu Selbstverständlichkeiten geworden sind, denen man die vergangenen Kämpfe und Konflikte nicht mehr ansieht. Wer weiß noch, wie die Verteidiger von Asbest und verbleitem Benzin hießen? 49 Diese Erfolge kann vielleicht nur ermessen, wer nach 1990 einige dieser Gebiete in Augenschein nehmen durfte. Da die Spuren verwischen, nehmen die sanierten Landschaften etwa bei Merseburg den Schein der Selbstverständlichkeit an. 50 Hierzu die Sondergutachten des SRU zur Energiewende (2011, 2013).
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ein Musterbeispiel für einen Pfadwechsel bzw. eine Vorreiterpolitik in der Energiepolitik, der weltweit Beachtung findet. Von ihr könnten sowohl technologische als auch institutionelle Diffusionen ausgehen. Bei der Umsetzung der Energiewende sind Eingriffe in Natur und Landschaft allerdings unvermeidbar. Gerade die Debatten im Zwischenreich über das Verhältnis von „Energiewende“ einerseits, Naturschutz und Landespflege andererseits zeugen von hohem Problembewusstsein hinsichtlich der Gestaltungsverantwortung für die Kulturlandschaft. Die naturverträgliche Umsetzung der Energiewende bedarf einer Koalition im Zwischenreich, die aus Energietechnikern, Landschaftsplanern und Naturschützern bestehen müsste (hierzu Deutscher Rat für Landespflege 2013). Der zweite Suchlauf zu einer dauerhaften Einlagerung hochradioaktiver Reststoffe, der den Kardinalfehler des ersten Suchlaufes vermeidet, nämlich die politische Festlegung auf ein wartungsfreies Tiefenlager im Wirtsgestein „Salz“ an der Peripherie der damaligen BRD, könnte im Erfolgsfalle zu einem Musterbeispiel deliberativer Politik werden. Auch hierzu bieten die Zwischenbereiche gute Aussichten. Die im StandAG vorgenommene, institutionell ungewöhnliche Einrichtung einer Kommission, die dem Parlament zuarbeiten soll (Smeddinck, Roßegger 2013), in Verbindung mit der Einrichtung der Forschungsplattform ENTRIA, in deren Agenda auch partizipative Verfahren (sog. „Bürgerforen“) vorgesehen sind, könnte ein neues Niveau deliberativer Politik gerade am Fall einer allseits unerwünschten „Altlast“ einüben, bei dem es keine ideale Lösung wird geben können (hierzu Ott 2014b, Röhlig et al. 2014). Die stofflichen Altlasten der nuklearen Energiepolitik, von der sich mittlerweile, wenngleich aus durchsichtigen finanziellen Interessen, selbst die Energiekonzerne distanzieren, könnten idealiter auf eine zumindest prozedural faire Weise deponiert werden. Das „Atomzeitalter“ wäre mit Bau und Betrieb eines Endlagers beendet und die Angst vor einem autoritären „Atomstaat“ (R. Jungk) wäre damit gegenstandslos geworden.51
IV. Fazit und Ausblick auf neue Agenden Angesichts der im vorigen Abschnitt dargestellten vielfach miteinander vermittelten neuen Wirklichkeiten wirkt die naturpolitisch motivierte Demokratiekritik der 1970er Jahre bei all ihrer verbalen Radikalität teilweise widerlegt. Das angebliche Kurzzeitdenken der Politik ist eine populäre Halbwahrheit, die nur die Oberfläche von Tagespolitik sieht (gleichsam nur die Spitze des Eisbergs) und die tieferen Kontinuitäten der Umweltpolitik seit den 1970er Jahren unterschätzt.52 Wirft man einen 51 Man darf bei dieser Gelegenheit erwähnen, dass die neben der Nuklearenergie zweite als „Risikotechnologie“ eingeschätzte Technologie, nämlich die Gentechnik im Pflanzenbau, in Deutschland aufgrund von massiven Widerständen nicht Fuß fassen konnte. Gerade die Auslegung des Prinzips der Koexistenz in Verbindung mit Haftungsregime und Abstandsregulierung hatte den Effekt, dass Landwirte vom Einsatz dieser Technik absahen. Siehe hierzu SRU (2004, 2008) in den jeweiligen Kapiteln zur „grünen“ Gentechnik.
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zweiten Blick auf die eingangs genannten Kritikpunkte, so ergibt sich ein differenzierteres Bild: – Kurzzeitdenken aufgrund des Wahlturnus versus parteiübergreifende Kontinuitäten in der Umweltfachpolitik. – Anthropozentrismus der Verfassungen liberaler Demokratien versus Art. 20a GG. – schwache Umweltinstitutionen versus Ausbau des Umweltrechts, der Umweltministerien und -verwaltungen. – „Einflussmacht“ von ökonomischen Lobbys versus zivilgesellschaftliche Umweltverbände mit kommunikativer und Kampagnenmacht. – Generelles Wachstumsdenken versus neue Relativierungen des BIP. – „alter“ Konsumismus versus „mainstreaming“ und beginnende kulturelle Hegemonie von umwelt-, tier- und naturschützerischen Denkmustern.
Diese Diagnose enthält vielfältige Spannungsverhältnisse zwischen den überkommenen Realitäten des auf Wachstum programmierten Industriekapitalismus und den neuen und zukunftsoffenen Wirklichkeiten. Das „versus“ soll zum Ausdruck bringen, dass derzeit im Sinne einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) immer beide Momente zugleich im Spiel sind. Daher liegt kein Grund zu einer Selbstzufriedenheit vor, die sich in Rückblicken auf Erreichtes erschöpft. Unbestreitbar existieren sog. persistente Umweltprobleme etwa im Bereich der Klimapolitik, der Agrarpolitik, der Massentierhaltung, der Flächenumwandlung und des Verkehrs. Ressourcenverbrauch und die THG-Emissionen Deutschlands sind weiterhin zu hoch. Aber keiner vertritt ja die Auffassung, dass nicht mehr viel zu tun bliebe. Sicherlich waren viele umwelttechnisch lösbare Probleme sog. „low hanging fruits“, die nun abgepflückt worden sind. Es wäre angesichts der persistenten Probleme ein grobes Missverständnis dieser Darlegungen, wenn man aus ihnen die Botschaft heraushören wollte, alles sei auf gutem Wege. Der entscheidende Punkt ist, dass die im vorigen Abschnitt skizzierten Entwicklungen keine starken Gründe für eine radikale Skepsis an den Möglichkeiten demokratischer Verfassungsstaaten hergeben, die Niveaus von Umwelt-, Tier- und Naturpolitik weiter zu erhöhen, wenn sich hierfür politische Mehrheiten organisieren lassen. Es könnte sein, dass die neuen Agenden Bürgerinnen im Durchschnitt etwas höhere Opportunitätskosten abverlangen als die früheren umweltpolitischen Reformen. Man sollte aber nicht vergessen, dass durchschnittliche Bürgerinnen des Jahres 2014 auch wohlhabender sind als Bürger der 1970er Jahren, sodass man umweltpolitische Zumutungen etwa hinsichtlich von „Bezahlbarkeit“ immer auf das gegenwärtige Wohlstandsniveau beziehen muss. Wie gut die strukturellen Bedingungen für anspruchsvolle Umweltpolitik im demokratischen Verfassungsstaat bei 52 Freilich mutet es ironisch an, dass unter „Rot-Grün“ die Harz-IV-Reformen und unter „Schwarz-Gelb“ der Atomausstieg und die Energiewende verabschiedet wurden, aber vielleicht zeigt sich gerade hieran die „List der demokratischen Vernunft“.
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hohen Wohlstandniveaus auch immer sein mögen; die entscheidende hinreichende Bedingung bleibt die Bürgerschaft selbst. Im Konzept deliberativer Demokratie sind Bürgerinnen zugleich Autorinnen und Adressatinnen der Rechtsordnung. In der nicht delegierbaren Rolle des Souveräns wählen sie ihre Repräsentantinnen in politische Ämter, damit diese im Rahmen der Verfassung die Programme umsetzen, die eine gegenwärtige Mehrheit befürwortet.53 Die Inhalte dieser Programme regulieren die Bürger als Privatpersonen freilich ungleichmäßig: Die Erhöhung der Tabaksteuer betrifft die Nichtraucher nicht und wer kein Auto hat, dem sind Tempolimits gleichgültig. Daher ist die Entwicklung einer Rechtsordnung niemals indifferent gegen unterschiedliche kulturelle Lebensstile. Die Neutralität des Staates gegenüber Religionen und Weltanschauungen impliziert keine Neutralität der Rechtsordnung gegenüber Lebensstilen. Es kommt vielmehr darauf an, die Wahrung von bürgerlichen Freiheitsrechten mit einer umweltpolitischen Regulierungspraxis auszubalancieren, was aber nicht bedeutet, ressourcenintensive Lebensstile politisch für sakrosankt zu erklären. Die Kampfvokabel „Öko-Diktatur“ hat in Bezug auf demokratische und rechtsstaatliche Regulierung allenfalls den Sinn eines Hinweises darauf, dass aus der Sicht einiger Mitbürger diese Balance nicht gewahrt wurde. Im Konzept deliberativer Demokratie hat kein Ort in der Sphäre des Politischen ein Monopol auf politisches Agenda-Setting und sollte auch kein solches beanspruchen. Initiative zum Agenda-Setting kann und darf von überall ausgehen. Wir haben Momente einer Agenda zukünftiger Umweltpolitik identifizieren können. Auf der Agenda stehen nun die konsequente Umsetzung und naturverträgliche Gestaltung der Energiewende, die absolute Entkopplung von Ressourceneinsatz und BIP-Entwicklung, die Einleitung einer Konsumpolitik, die die Bekämpfung von ReboundEffekten avisiert, die Findung eines möglichst risikoarmen Endlagers für hochradioaktive nukleare Reststoffe im Rahmen eines prozedural fairen Suchverfahrens, ein ökologischer Waldumbau, die „Abrundung“ und Konsolidierung des Systems der Schutzgebiete, Einrichtung eines Biotopverbundes und Umsetzung der Biodiversitätsstrategie im Naturschutzbereich, Integration von Tierwohlaspekten in der Nutztierhaltung, eine Umschichtung der Agrarsubventionen und nicht zuletzt eine Vorreiterrolle besonders auf dem Gebiet der Klimapolitik, was mittlerweile Anpassungsstrategien einschließt.54 Diese Agenda bietet allerdings keine Gewähr, dass Bürger ihre Wahlentscheidungen primär nach dieser Agenda ausrichten. Deliberative Demokratie bedeutet nur, dass sich auch der Stellenwert von ganzen Politikfel53 Das Konzept deliberativer Demokratie könnte ein neues Verständnis der normativen Rolle einer Volksvertreterin implizieren. 54 Das Politikfeld „Klimawandel“ ist vielfach herangezogen worden, um die Unfähigkeit demokratischer Staaten aufzuzeigen, auf globale ökologische Herausforderungen angemessen reagieren zu können. Richtig daran ist, dass globale Probleme dieses Kalibers die Lösungskapazitäten von Nationalstaaten überfordern. Es sind allerdings vorwiegend autoritäre Staaten und Staaten, deren demokratische Kultur stark beschädigt ist (hierzu Wolin 2010 für die USA), die den überfälligen Durchbruch in der globalen Klimapolitik verhindern.
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dern erhöhen und verringern kann. Es gehört zur politischen Autonomie der Staatsbürger, den Stellenwert von Politikfeldern selbst zu bestimmen. Zentrale umweltpolitische Themen wie Waldumbau, Klima, Gentechnik, Biodiversität, Meeres- und Küstenschutz usw. sind, wie gesagt, regulierungsbedürftige Materien auf der einzel- und untergesetzlichen Ebene, nicht auf der Ebene des Verfassungsrechts. Das Verfassungsrecht kann nur weite und entsprechend unpräzise Leitbegriffe enthalten. Entscheidend für die Qualitäten von Natur und Landschaft sowie für das Tierwohl ist die Auslegung und Spezifikation (De Sadeleer 2002). Ob neue Institutionen wie etwa „Zukunftsräte“ der Komplexität dieser und anderer Umweltthemen gewachsen sein können, ist fraglich, da zu jedem Handlungsfeld eine „epistemic community“ existiert, die sich in Zukunftsräten nur bei hoher Mitgliederzahl adäquat abbilden ließen. Ein spirituelles „House of the Lords“, wie es Rudolf Bahro vorschwebte, ist mit dem demokratischen Verfassungsstaat jedenfalls unvereinbar (Stein 2014). Gesang (2014, S. 28) schlägt vor, einen (womöglich mit Wahlpflicht) direkt vom Volk gewählten Zukunftsrat aus „Wissenschaftlern, Künstlern, Literaten, Journalisten“ mit einem inhaltlichen Veto bezüglich aller Gesetze auszustatten, die „die Nachhaltigkeit betreffen“. Dieser Zukunftsrat wäre eine mit echten legislativen Kompetenzen ausgestattete dritte parlamentarische Kammer neben Bundestag und Bundesrat, kein Beratungsgremium wie WBGU und SRU.55 Stein (1998) hat die Problematik solcher Zukunftsräte ausführlich erörtert und dafür plädiert, solche Organe nur mit schwachen Kompetenzen auszustatten. Stein (1998, 2014) versteht einen möglichen Zukunftsrat daher nur als „Konsultativorgan mit verbindlicher Einmischungsfähigkeit“ im Kernbereich des Regierungssystems (1998, S. 260, ähnlich 2014, S. 60 f.). Während Gesang forsch für ein kompetenzstarkes Nebenparlament plädiert, befürwortet Stein abwägend im Grunde nur eine Zwitterinstitution, deren Aufgaben teilweise von den Gremien der Politikberatung übernommen werden. Im Grunde laufen beide Vorschläge darauf hinaus, Aufgaben, die im deliberativen Zwischenreich oder durch verbesserte Umweltpolitikintegration (Jänicke 2007) erfüllt werden könnten, in den Kernbereich der Politik zu institutionalisieren. Für die Konzeption deliberativer Demokratie ist die Einrichtung solcher Institutionen nicht zwingend. Die Erhöhung von Legitimationsdruck auf die Legislative (Stein 2014, S. 61) kann auch von Zivilgesellschaft und Gremien des Zwischenreiches ausgehen. Die vielen internen Konflikte einer nachhaltigen Entwicklung etwa im Bereich der Landnutzung (Ausbau Biomasse, Offshore-Windparke, Wälder als C-Speicher oder Holzressourcen, Prozess- versus Artenschutz, Endlager-Typen usw.) und des Klimawandels („mitigation“, „adaptation“, „climate engineering“ usw.) würden wohl auch unter den Mitgliedern einer parlamentsähnlichen Kammer kontrovers bleiben. Am Modus des Aushandelns, wie er für den Kern des politischen Systems typisch ist, würde sich nichts Wesentliches ändern 55 Zukunftsräte auf der Ebene von NGOs, wie sie Gesang als zweitbeste Lösung vorschlägt, wären ähnlich sinnvoll wie der vor einigen Jahren geschaffene „Weltzukunftsrat“, der umweltpolitisch nichts bewirkt und bewegt hat.
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lassen. Welche Gestalt die Wahlkampagnen einer direktdemokratischen Personenwahl auf längere Zeiträume, wie von Gesang vorgeschlagen, annehmen würden, ist unsicher; es gibt jedenfalls keine Gewähr dafür, dass sie von Partei-, Medien- und Finanzmacht befreit wären. Das Aufwand-Risiko-Ertrag-Verhältnis einer solchen Institutionalisierung erscheint mir ungünstig. Historische Studien zeigen, dass Umweltpolitik energisch betrieben werden kann, wenn reformwillige Funktionseliten, engagierte intellektuelle Szenen und eine fordernde Zivilgesellschaft sich kritisch, aber nicht unversöhnlich gegenüberstehen (Engels 2006). Auf eine solche genuin politische Konstellation hinzuarbeiten, könnte ertragreicher sein, als neue Institutionen zu fordern, die doch wieder nur Momente in der polyarchischen Struktur des Kernsystems sein könnten. In diesem antizipativem Sinne bedarf Nachhaltigkeitspolitik auch der politischen Klugheit, die auf günstige Gelegenheiten nicht passiv wartet, sondern auf sie hinarbeitet (Klauer et al. 2013). Vielleicht kann die Konzeption deliberativer Demokratie zuletzt sogar ein geschichtsphilosophisches Moment einholen, das sich bei Walter Benjamin im Passagenwerk findet. Es handelt sich um das Motiv, versöhnt von Vergangenheiten Abschied nehmen zu können, die sich im Lichte von normativen Maßstäben nicht fortsetzen lassen. „Die Menschheit soll versöhnt von ihrer Vergangenheit scheiden – und eine Form des Versöhntseins ist Heiterkeit“ (Benjamin 1983, Bd. I, S. 583). In diesem Sinn sollten demokratische Gesellschaften versöhnt von Wirtschaftsweisen und Lebensstilen scheiden können, die sich als nicht nachhaltig bzw. nicht naturverträglich erwiesen haben. Und wohl nur auf solch versöhnte Art könnten Gesellschaften in ihrer politischen Praxis selbst („ipso facto“) unter Beweis stellen, dass die Anerkennungswürdigkeit demokratischer Verfassungsstaaten nicht von geschichtlich kontingenten Vorstellungen unaufhörlich steigenden materiellen Wohlstandes abhängig ist. Summary In the face of global environmental challenges, skepticism on the problem-solving qualities of the democratic constitutional state is growing and the old question arises: can democracies adequately cope with these problems? According to the concept of „environmental deliberative democracy“, which was developed by John Dryzek, the thesis will be compiled, whereas the democratic constitutional state is already well structured and – according to its own normative requirements – welladjusted to face these challenges. The Habermasian model of political deliberation with its intermediate zone as organs between civic society and constitutional state can be applied to the German environmental policy in order to assess general problem-solving potentials of deliberative democracy. Prospects for improved environmental policies can be improved under conditions in which reform-willing functional elites, a committed intellectual scene and a demanding civil society are linked.
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Solidarität und Gesellschaft – Solidarity and Society
Aus Solidarität arm – oder reich? Papst Franziskus über Solidarität, Armut und die Kirche Thomas Laubach Das erste Jahr des Pontifikats von Papst Franziskus ist in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem durch die Diskussion um Armut gekennzeichnet.1 Die Wahl des Papstnamens Franziskus, die biographische und soziale Herkunft des Argentiniers, sein Auftreten und sein Lebenswandel, sein zeichenhafter Besuch bei Flüchtlingen in Lampedusa im Sommer 2013 oder die Fußwaschung von behinderten Menschen in einem Therapiezentrum am Standrand von Rom am Gründonnerstag 2014 werden in ihrer Summe so interpretiert, dass der Papst nicht nur über Armut und ‚die‘ Armen redet, sondern ganz bewusst die Nähe der Schwächsten und Bedürftigsten der Gesellschaft sucht und für sie eintritt. Fast gleichrangig stellt sich dieser Schwerpunktsetzung der Diskurs über die institutionelle Gestalt der Katholischen Kirche zur Seite. Der Papst spricht dabei sowohl von einer Kirche für die Armen wie auch einer armen Kirche. Armut, vor allem die materielle Not, fordert, so der Papst, die Kirche als Ganze zum Handeln heraus. „Angesichts dieser Not bietet die Kirche ihren Dienst, ihre diakonia an, um den Bedürfnissen entgegenzukommen und diese Wunden, die das Antlitz der Menschheit entstellen, zu heilen. […] Ziel unserer Bemühungen ist es auch zu bewirken, dass die Verletzungen der Menschenwürde, die Diskriminierungen und Übergriffe, die vielfach die Ursachen der Not sind, weltweit ein Ende finden.“2 Die Frage, die diese Position des Papstes immer wieder aufgeworfen hat, ist, wie der Weg zu den Armen, mit den Armen und zu einer institutionell armen Kirche erfolgen könne. Denn dass die katholische Kirche faktisch über großen Besitz verfügt und sich, wie etwa auch in jüngerer Zeit in Lateinamerika, durchaus auch gegen die Armen und an die Seite der 1 Vgl. dazu Gumbrecht, Hans Ulrich, Was verheißt „Franziskus“?, in: FAZ (01. 04. 2013); Drobinski, Matthias/ Ott, Klaus, Vom Wasser und vom Wein, in: SZ (16. 10. 2013); Bingener, Reinhard, Eine bürgerliche Religion. Die Kirche und das Geld, in: FAZ (21. 10. 2013); Herzinger, Richard, Die neue Armut des Papstes ist nur Simulation, in: Die Welt (24. 10. 2013); Schäfer, Christoph, Was der Papst verschweigt. Franziskus und die Globalisierung, in: FAZ (29. 11. 2013); Marx, Reinhard, Über den Kapitalismus hinaus denken, in: FAS (15. 12. 2013); Hermann, Ulrike, Der Papst und das Kapital, in: taz (25. 12. 2013). 2 Franziskus [Papst], Botschaft zur Fastenzeit 2014 (26. 12. 2013). Alle im Folgenden zitierten Texte von Papst Franziskus sind den offiziellen Seiten des Vatikans (http://w2.vatican. va/content/vatican/de.html) entnommen.
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Machthaber gestellt hat, ist unbestritten. Die Antwort des Papstes: Solidarität ist der Weg der Kirche und der Christen hin zu einer armen Kirche für und mit den Armen. Der Verweis auf die Solidarität ist dabei nicht zufällig. Eine systematische Auswertung der Reden, Ansprachen und Texte von Papst Franziskus im ersten Jahr seines Pontifikats zeigt, dass Solidarität neben dem Begriff der Armut zu den zentralen Topoi seines Pontifikats gehört. Im Folgenden soll deshalb das Verständnis des Papstes von Solidarität als Teil des Konzepts einer armen Kirche entschlüsselt und in seiner Tragweite und seinen Grenzen bestimmt werden. Es lässt sich zeigen, dass Papst Franziskus Solidarität als zentralen Begriff des Armutsdiskurses versteht (I.) und ihn zugleich theologisch fundiert (II.). Von da aus versteht der Papst Solidarität sowohl individual- wie sozialethisch (III.) sowie als grundsätzliche Anfrage an die institutionelle Gestalt der Katholischen Kirche (IV.). Hinsichtlich konkreter Konsequenzen aus dieser Zentralstellung des Begriffs Solidarität leistet Papst Franziskus allerdings keinen wegweisenden Beitrag. Seine Rede von der Solidarität verbleibt vor allem auf der Ebene des Appells (V.).
I. Das „totgeschwiegene“ Wort Solidarität Ganz im Gegensatz zur Diagnose des Philosophen Otfried Höffe, der Solidarität als einen gegenwärtig „inflationär verwendete[n] Ausdruck“3 bestimmt, betont Papst Franziskus den prekären und gefährdeten Status des Begriffs der Solidarität. Solidarität, so der Papst, ist ein „oft vergessenes und totgeschwiegenes, weil unbequemes Wort“4 geworden. Sie werde „oft beiseitegelassen“5, weil sie „störend ist“6. Solidarität scheint „ein böses Wort“7 zu sein, ein „Wort, das sich in dieser Kultur im Verborgenen hält, als sei es ein schlechtes Wort“8. In einer Videobotschaft fasst Papst Franziskus resümierend zusammen: „Heute aber laufen wir Gefahr, es [das Wort Solidarität d. V.] aus unserem Wortschatz zu verbannen, weil es ein unbequemes Wort ist, ja – erlauben Sie mir diese Anmerkung – fast schon eine Art ‚Schimpfwort‘.“9 Höffe, Otfried, Ethik. Eine Einführung, München: Beck, 2013, 94. Franziskus [Papst], Ansprache beim Besuch des Armenviertel Varghina (Manguinhos) in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (25. 07. 2013). 5 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 6 Ders., Radiobotschaft beim Besuch des Radiosenders der Erzdiözese Rio de Janeiro, Studio von „Radio Cattedrale“ – Rio de Janeiro, anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 7 Ders., Ansprache beim Besuch des Armenviertel Varghina (Manguinhos) in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (25. 07. 2013). 8 Ders., Predigt bei der Heiligen Messe mit den Bischöfen des WJT, den Priestern, Ordensleuten und Seminaristen in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 3 4
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Auch wenn der Papst keine systematische Begründung für seine These von einer Marginalisierung bzw. Pejorisierung des Begriffs der Solidarität liefert, so finden sich doch in seinen Texten immer wieder Reflexionen auf den problematischen Status dieses sozialethischen Zentralbegriffs. Solidarität, so Franziskus, sei ein unbequemes Wort vor allem für „die Wirtschaft und den Markt“10. Denn Solidarität wird in einer auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Welt, in der sich eine „Kultur des Ausschlusses durchgesetzt, eine ‚Wegwerfmentalität‘“11 durchsetzt, an den Rand gedrängt. Statt von Solidarität geleitet zu sein, ist die gegenwärtige Kultur eine, in der „die menschlichen Beziehungen durch zwei moderne ‚Dogmen‘ geregelt [sind d. V.]: Wirksamkeit und Pragmatismus.“12 Es ist eine Kultur, in der der „Fetischismus des Geldes herrscht,“13 eine allein „leistungsorientierte Kultur“14. Der Papst bemängelt, dass angesichts des ökonomisch-politischen Mainstreams die „Kultur der Solidarität“15 immer stärker zurückgedrängt werde. Ungleichheit, Armut und Ungerechtigkeit belegen, so Papst Franziskus, diese Diagnose. Die Folgen dieser Marginalisierung von Solidarität zeichnet Papst Franziskus nach: „Die neuen Ideologien, die durch verbreiteten Individualismus, Egozentrismus und materialistischen Konsumismus gekennzeichnet sind, schwächen die sozialen Bindungen, indem sie jene Mentalität der ‚Aussonderung‘ fördern, die dazu verleitet, die Ärmsten, diejenigen, die als ‚nutzlos‘ betrachtet werden, zu verachten und zu verlassen. So wird das menschliche Zusammenleben einem bloßen pragmatischen und egoistischen ‚Do ut des‘ immer ähnlicher.“16
9 Ders., Video-Botschaft zum dritten Festival der Soziallehre der Kirche in Verona vom 21. – 24. 11. 2013 (21. 09. 2013). 10 Ebd. 11 Franziskus [Papst], Predigt bei der Heiligen Messe mit den Bischöfen des WJT, den Priestern, Ordensleuten und Seminaristen in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). Zur „Wegwerfkultur“ siehe auch ders., Ansprache bei der Pfingstvigil mit den kirchlichen Bewegungen (18. 05. 2013); ders., Radiobotschaft beim Besuch des Radiosenders der Erzdiözese Rio de Janeiro, Studio von „Radio Cattedrale“ – Rio de Janeiro, anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013); ders., Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings (2014). „Migranten und Flüchtlinge: unterwegs zu einer besseren Welt“ (05. 08. 2013); ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 12 Ders., Predigt bei der Heiligen Messe mit den Bischöfen des WJT, den Priestern, Ordensleuten und Seminaristen in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 13 Ders., Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung des päpstlichen Rats der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs (24. 05. 2013). 14 Ders., Predigt bei der Heiligen Messe mit den Bischöfen des WJT, den Priestern, Ordensleuten und Seminaristen in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 15 Ders., Botschaft zur Feier des XLVII. Weltfriedenstages am 01. 01. 2014 (08. 12. 2013). 16 Ebd.
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Doch der Papst bleibt nicht bei dieser Analyse stehen. Er fordert Christen auf, „gegen den Strom dieser Kultur anzuschwimmen. […] gegen den Strom dieser leistungsorientierten Kultur, dieser Wegwerfmentalität zu schwimmen!“ Christen, so der Papst, sollen Begegnung und Aufnahmebereitschaft diesem Ausschluss entgegensetzen.17 Die Formulierung „für alle“ zeigt die Stoßrichtung der kulturkritischen Bemerkungen des Papstes an. Während die „Wegwerfmentalität“ Menschen aussondert, die „nicht nützlich sind, die nichts produzieren“18, zeichnet es die Solidarität aus, alle einzuschließen. Solidarität wird damit als inkludierende Macht dem Markt, dem Geld, dem Pragmatismus als Mächten der Exklusion gegenübergestellt. Dass es der Papst nicht bei einer allgemeinen, kulturkritisch orientierten Deskription gesellschaftlicher Verhältnisse belässt, zeigt neben seinen Appellen an die Christen ebenso deutlich sein Hinweis auf das normative Gerüst der katholischen Soziallehre. So betont er: „Die Soziallehre kann nicht akzeptieren, dass die Produktionsgewinne nur dem gehören sollen, der produziert, die soziale Frage aber dem Staat, den wohltätigen Werken und den Ehrenamtlichen überlassen bleibt.“19 Solidarität versteht Papst Franziskus vor diesem Hintergrund als sozialethisches Prinzip, das es ermöglicht, „Formen der Armut zu beseitigen.“20 Dabei darf sich Solidarität nicht allein auf die Caritas, auf verschiedenste Formen der Hilfsleistungen beschränken, „sondern muss darum bemüht sein sicherzustellen, dass immer mehr Menschen wirtschaftlich unabhängig sein können.“21
II. Theologisierung von Armut und Solidarität Die enge Korrelation zwischen Solidarität und Armut weist auf das zentrale Thema des ersten Jahres des Pontifikats von Papst Franziskus hin, das ganz im Zeichen der Diskussion um Armut und eine arme Kirche stand.22 Diese Schwerpunktsetzung ist einer grundlegenden theologischen Interpretation der christlichen Botschaft geschuldet, wie Papst Franziskus in seinem ersten apostolischen Schreiben 17 Vgl. ders., Predigt bei der Heiligen Messe mit den Bischöfen des WJT, den Priestern, Ordensleuten und Seminaristen in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 18 Ders., Radiobotschaft beim Besuch des Radiosenders der Erzdiözese Rio de Janeiro, Studio von „Radio Cattedrale“ – Rio de Janeiro, anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 19 Ders., Video-Botschaft zum dritten Festival der Soziallehre der Kirche in Verona vom 21. – 24. 11. 2013 (21. 09. 2013). 20 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 21 Ebd. 22 Vgl. dazu die Zusammenstellung wesentlicher Texte des Papstes sowie die Beiträge in Laubach, Thomas / Wahl, Stefanie A. (Hrsg.): Arme Kirche? Die Botschaft des Papstes in der Diskussion, Freiburg: Herder, 2014. Siehe auch etwa das Themenheft der ThQ 193 (2013), 185 – 290 oder Arntz, Norbert, Pastorale Umkehr. Das Programm des Franziskus-Pontifikats. Hrsg. von der KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche, München 2014.
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Evangelii Gaudium verdeutlicht: „Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage. Gott gewährt ihnen „seine erste Barmherzigkeit“ (Johannes Paul II.).“23 Gottes Zuwendung zu den Armen führt, so der Papst, unmittelbar dazu, dass sich Christen und damit auch die Kirche in besonderer Weise den Armen zuwenden müssen. Die Fokussierung auf die Armut und die Armen ist nicht nur haltungsethisch zu verstehen, sondern muss in generalisierter Weise als sittliche Herausforderung für die Kirche verstanden werden. Die Rede von den Armen entfaltet dadurch eine universalistische Geltung für die institutionelle Gestalt der Kirche. Kirche hat ekklesiologisch gesprochen, Kirche für die Armen, Kirche der Armen und arme Kirche zu sein. Denn im Armen und der Armut lässt sich Gott selbst entdecken, weil er in seiner Menschwerdung selbst arm wurde: „Jesus ist Gott, der seine Herrlichkeit ablegt. Bei Paulus lesen wir: Christus Jesus, der Gott gleich war, „entkleidete“ sich, er entäußerte sich und wurde uns Menschen gleich, und er erniedrigte sich bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,6 – 8). Jesus ist Gott, aber er wurde nackt geboren, in eine Krippe gelegt, und er starb nackt am Kreuz.“ 24 Die Armut Gottes in Jesus ist in dieser theologischen Interpretation der Armut allerdings kein Selbstzweck. Sie verdeutlicht, dass Gott allen Armen in besonderer Weise nahe steht. Dass daraus keine Ideologisierung oder Spiritualisierung der Armut folgt25, betont der Papst in seinen Reden immer wieder: „Der Zweck des Armwerdens Jesu besteht nicht in der Armut an sich“26, Armut ist ein „Skandal“27, sie darf nicht sein. Die Konsequenz: „Wir alle, auch unsere Gesellschaft, die erste Zeichen der Ermüdung zeigt, müssen, wenn wir nicht Schiffbruch erleiden wollen, den Weg der Armut gehen, die nicht Not und Elend ist – diese müssen bekämpft werden –, sondern die Fähigkeit, zu teilen, mit jenen solidarisch zu sein, die unsere Hilfe am meisten brauchen; die Fähigkeit, mehr auf Gott zu vertrauen als auf unsere menschlichen Kräfte.“28 Vor allem durch einen immer wiederkehrenden Rekurs auf die Solidarität macht Papst Franziskus diese theologisch-ethische Rede von der Armut Gottes und dem Armwerden Jesu zum Ausgangspunkt praktisch-sittlicher Reflexion. Denn Armut zielt in doppelter Weise auf das Sozialprinzip der Solidarität. Der Papst knüpft zum Franziskus [Papst], Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium (24. 11. 2013). Ders., Ansprache beim Pastoralbesuch in Assisi bei der Begegnung mit den von der Caritas betreuten Armen (04. 10. 2013). Vgl. dazu auch ders., Botschaft zur Fastenzeit 2014 (26. 12. 2013), ders., Botschaft zum XXIX. Weltjugendtag 2014 (21. 02. 1014). 25 Herzinger, Richard, Die neue Armut des Papstes ist nur Simulation, in: Die Welt (24. 10. 2013). 26 Franziskus [Papst], Botschaft zur Fastenzeit 2014 (26. 12. 2013). 27 Ders., Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings (2014) (05. 08. 2013). 28 Ders., Ansprache beim Pastoralbesuch in Assisi bei der Begegnung mit den von der Caritas betreuten Armen (04. 10. 2013). 23 24
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einen an die erste und historisch bedeutsamste Konzeptionalisierung von Solidarität als „das Eintreten für die Schwachen“29 an. Zum anderen entspricht seine Schwerpunktsetzung den herrschenden Grundüberlegungen der evangelischen wie katholischen Soziallehre, die zwar vor dem Problem stehen, dass sich Solidarität weder in den biblischen Texten noch den Schriften der frühen Kirche finden lässt, anderseits aber davon ausgehen, dass die „biblische Option für die Armen […] die besondere ethische Relevanz der ersten Verwendungsweise von Solidarität“30 nahelegt. Diese enge systematische Verbindung von Armut und Solidarität zeigt sich auch darin, dass der Papst beide Topoi ‚theologisiert‘. Die ‚erste‘ Solidarität erfährt der Mensch, so Papst Franziskus, in der Solidarisierung Gottes mit den Menschen, „eine Solidarität, die nie versiegt, eine Solidarität, die uns immer wieder staunen lässt: Gott wird uns nahe, im Kreuzesopfer erniedrigt er sich und tritt in das Dunkel des Todes ein, um uns sein Leben zu schenken, welches das Böse, den Egoismus und den Tod besiegt.“31 Paradigmatisch zeigt sich diese Konzeptionalisierung der Solidarität als Theologumenon in der Ansprache des Papstes in Rio de Janeiro bei der Begegnung mit lateinamerikanischen Bischöfen: „Darum sage ich gerne, dass die Position des Jüngers und Missionars nicht eine Zentrums-Position ist, sondern eine der Peripherien: Er lebt in der Spannung auf die Randzonen hin … einschließlich derer der Ewigkeit in der Begegnung mit Jesus Christus. In der Verkündigung des Evangeliums von ‚existentiellen Peripherien‘ zu sprechen dezentralisiert, rückt aus dem Zentrum heraus, und gewöhnlich haben wir Angst, das Zentrum zu verlassen. Der missionarische Jünger ist ein ‚Dezentralisierter‘: das Zentrum ist Jesus Christus, der einberuft und aussendet. Der Jünger ist an die Randgebiete der Existenz gesandt.“32 Als „Dezentralisierter“ ist wiederum jeder Christ dazu „aufgerufen, denen eine Hand zu reichen, die in den existentiellen Peripherien unserer Gesellschaften leben, und den verletzlichsten unserer Brüder und Schwestern eine besondere Solidarität zu erweisen: den Armen, den Behinderten, dem ungeborenen Leben und den Kranken, den Migranten und Flüchtlingen, den alten Menschen und den arbeitslosen Jugendlichen.“33 Der Papst versteht so den Christ im Angesicht Christi als einen An-den-Rand-Gestellten. Christsein heißt, sein Dasein als Peripheres zu 29 Bedford-Strohm, Heinrich, Art. Solidarität, Solidaritätsprinzip, in: Honecker, Martin u. a. (Hrsg.): Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kohlhammer, 2001, 1418 – 1421, hier: 1419. 30 Ebd., 1420. Vgl. dazu auch Nothelle-Wildfeuer, Ursula, Die Option für die Armen als Option für Beteiligung(sgerechtigkeit), in: Eurich, Johannes u. a. (Hrsg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart: Kohlhammer, 2011, 135 – 157, hier: 143 ff. 31 Franziskus [Papst], Predigt Heilige Messe am Hochfest des Leibes und Blutes Christi (30. 05. 2013). 32 Ders., Ansprache bei der Begegnung mit den Bischöfen des Koordinationskomitees des CELAM anlässlich ihrer Generalversammlung, Studienzentrum von Sumaré, Rio de Janeiro, anlässlich der apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (28. 07. 2013). 33 Ders., Botschaft an Kurt Koch zur 10. Generalversammlung des ökumenischen Rats der Kirchen in Busan, Korea, 30.10. – 08. 11. 2013 (04. 10. 2013).
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begreifen. Von da aus ergibt sich für den Papst die logische Konsequenz einer Solidarität mit allen, die am Rand stehen. Dieser christologischen Denkfigur stellt der Papst eine zweite Argumentationsfigur zur Seite, die an die biblischen Schöpfungserzählungen anknüpft und die Solidarität vom Gottesbild her begründet: „Die christliche Solidarität setzt voraus, dass der Nächste geliebt wird nicht nur als ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern [als] das lebendige Abbild Gottes, des Vaters […].“34 Mehr noch, Gott selbst ermöglicht es, so Papst Franziskus, dass der Mensch solidarisch werden kann: „In einem Herzen, das von den Reichtümern besessen ist, gibt es nicht mehr viel Platz für den Glauben […]. Wenn man hingegen Gott den Platz einräumt, der ihm gebührt, das heißt den ersten, dann führt seine Liebe dazu, auch die Reichtümer zu teilen, sie in den Dienst von Projekten der Solidarität und der Entwicklung zu stellen“35. Die christologische und die theozentrische Perspektive explizieren Solidarität als Grundbestanteil christlicher Botschaft. Die Solidarität ist aber nicht nur ein zentraler Wert, der „vom Christentum inspiriert“36 ist und als einheitsstiftender Impuls gesellschaftlichen Lebens verstanden werden muss. Sie ist Kern christlichen Glaubensvollzuges im Sinne des austeilenden Handelns. So wie Jesus Brot austeilt, zur Gabe wird, wie in der Eucharistiefeier das Teilen, die Gabe im Mittelpunkt steht, so sind Christen gehalten, „das, was wir haben, zur Verfügung zu stellen […]: unsere bescheidenen Fähigkeiten, denn nur im Teilen, in der Gabe wird unser Leben fruchtbar sein, Frucht bringen.“37 Dass diese Rede von der Solidarität stets gefährdet ist, ideologisch zu sein, nimmt der Papst gleichwohl in den Blick. Er hält fest, dass die Bereitschaft zur Solidarität, die Bereitschaft, mit den Schwächsten und Ärmsten zu teilen, „kein rhetorisches Stilmittel, keine Redensart, sondern […] ein wesentlicher Bestandteil der Gemeinschaft unter den Christen“38 ist.
III. Die individual- und sozialethische Entfaltung der Solidarität Papst Franziskus entfaltet sein Verständnis der Solidarität keinesfalls systematisch. Dennoch zeigen seine Texte, dass konsequent unter normativer Perspektive Solidarität als Signalbegriff eines sozialen Zustandes, der nicht sein darf, begriffen wird. Die Rede von der Solidarität schließt in den Ausführungen des Papstes immer den Blick auf die ein, die der Solidarität bedürfen, die Armen, die sozial SchwaDers., Botschaft zur Feier des XLVII. Weltfriedenstages am 01. 01. 2014 (08. 12. 2013). Ders., Angelus (02. 03. 2014). 36 Ders., Botschaft zum 48. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel am 01. 06. 2014 (24. 01. 2014). 37 Ders., Predigt Heilige Messe am Hochfest des Leibes und Blutes Christ (30. 05. 2013). 38 Ders., Generalaudienz (06. 11. 2013). 34 35
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chen, die Marginalisierten. Solidarität kann damit auch als Vermittlungsbegriff begriffen werden, der deutlich macht, dass der Mensch nicht nur Subjekt der Selbstbestimmung ist, sondern vielmehr auch der Bedingungen bedarf, sein Subjekt-Sein leben und ausleben zu können. Solidarität verweist so auf die Grundrechte des Menschen39, die erfüllt sein müssen, um das Überleben, Leben und die Entfaltung dieses Lebens zu garantieren: „Eine Gesellschaft aufzubauen, die wirklich menschlich ist, bedeutet, stets die Person und ihre Würde in den Mittelpunkt zu stellen und sie nie an die Logik des Profits zu verschleudern.“40 Solidarität tritt hier als Chiffre für den Einsatz für die Würde der Person in den Mittelpunkt der Überlegungen des Papstes, der genau in diesem Sinne auch einen seiner Vorgänger, Papst Johannes Paul II., zitiert: „Die christliche Solidarität setzt voraus, dass der Nächste geliebt wird […] als ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, […] als ein anderer Bruder.“41 Das Sozialprinzip der Personalität fundiert diese Rede von der Solidarität und orientiert sie zugleich – in sozialethischer wie individualethischer Hinsicht.42 Dies zeigt eine Querschnittsanalyse der Texte des Papstes. In seiner Botschaft zum Welternährungstag 2013 wird diese zweifache Verortung des Topos der Solidarität paradigmatisch zum Ausdruck gebracht. Ausgangspunkt dieser Botschaft ist der „Skandal, dass es immer noch Hunger und Unterernährung in der Welt gibt“43, der niemals gleichgültig lassen darf. Was aber, so fragt Papst Franziskus, kann dagegen unternommen werden? Seine Antwort: „Ich glaube, es ist heute notwendiger denn je, uns zur Solidarität zu erziehen, […] und dafür zu sorgen, dass Solidarität in den Entscheidungen auf politischer, wirtschaftlicher und finanzieller Ebene, in den Beziehungen zwischen den Personen, zwischen den Völkern und zwischen den Nationen zur Grundhaltung wird.“44 In individualethischer Hinsicht redet der Papst allerdings nicht nur einer Moralpädagogik das Wort, die auf ein Leben in Solidarität abzielt. Er nimmt vielmehr den Lebensstil des Menschen an sich in den Blick. Der Papst prangert „Konsumdenken, Verschwendung und Vergeudung von Lebensmitteln“45 an und widerspricht einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit, die uns langsam an das Leiden der anderen gewöhnt.“46 Ganz konkret muss der angesichts der Situation vieler Armer geforderte 39 Vgl. dazu Baumgartner, Alois / Korff, Wilhelm, Sozialprinzipien, in: Korff, Wilhelm u. a. (Hrsg.), Lexikon der Bioethik 3, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, 405 – 411, hier: 410. 40 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 41 Ders., Botschaft zur Feier des XLVII. Weltfriedenstages am 01. 01. 2014 (08. 12. 2013). 42 Vgl. dazu Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik, Paderborn: Schöningh 1997, 197 ff. 43 Franziskus [Papst], Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. Vgl. auch ders., Botschaft zum XXIX. Weltjugendtag 2014 (21. 01. 2014).
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Lebensstil, so Papst Franziskus, darauf zielen, sich um die Armen zu kümmern, „ihre geistigen und materiellen Bedürfnisse einfühlsam wahrzunehmen“ 47 und individuelle Reichtümer „in den Dienst an den anderen“48 zu stellen. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Solidarität „ins Zentrum der menschlichen Kultur“49 gesetzt wird, wenn Menschen „wachsam und informiert“50 sind. Menschen können, so der Papst, Erbauer „einer gerechteren, solidarischeren und brüderlicheren Nation und Welt“51 werden, wenn sie sich an drei Verhaltensweisen orientieren: „die Hoffnung bewahren, sich von Gott überraschen lassen und in der Freude leben.“52 Die haltungsethischen Überlegungen werden durch eine sozialethische Perspektive ergänzt. Hier ist Solidarität das Element, das die „Kultur wirklich menschlich“53 macht, weil sie alle einschließt und niemanden aussondert54. Von daher erhebt der Papst die Forderung, „den Sinn für die Gabe, die Unentgeltlichkeit, die Solidarität wieder[zu]gewinnen. Ein zügelloser Kapitalismus hat die Logik des Profits um jeden Preis gelehrt, des Gebens, um eine Gegenleistung zu erhalten, der Ausbeutung ohne Rücksicht auf die Menschen … und die Konsequenzen sehen wir in der Krise, die wir erleben!“55 Kurz, es gilt einer „Kultur der Begegnung und der Solidarität gemäß zu handeln.“56 Dass mit dieser Forderung strukturethische Überlegungen verknüpft sind, zeigt sich bei Papst Franziskus dort, wo er konkret Menschengruppen in den Blick nimmt, die der Solidarität bedürfen. So hält er anlässlich des Welttags des Migranten und Flüchtlings fest: „Die Wirklichkeit der Migrationen verlangt in den Dimensionen, die sie in unserer Zeit der Globalisierung annimmt, eine neue angemessene und wirksame Art der Handhabung, die vor allem eine internationale Zusammenarbeit und einen Geist tiefer Solidarität und ehrlichen Mitgefühls erfordert. Wichtig Ders., Botschaft zum XXIX. Weltjugendtag 2014 (21. 01. 2014). Ders., Angelus (02. 03. 2014). 49 Ders., Botschaft zum XXIX. Weltjugendtag 2014 (21. 01. 2014). 50 Ebd. 51 Ders., Predigt bei der Eucharistiefeier im Nationalheiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (24. 07. 2013). 52 Ebd. 53 Ders., Predigt bei der Heiligen Messe mit den Bischöfen des WJT, den Priestern, Ordensleuten und Seminaristen in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). Siehe auch ders., Ansprache beim Besuch des Armenviertel Varghina (Manguinhos) in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (25. 07. 2013). 54 Vgl. ders., Radiobotschaft beim Besuch des Radiosenders der Erzdiözese Rio de Janeiro, Studio von „Radio Cattedrale“ – Rio de Janeiro, anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 55 Ders., Ansprache Besuch im Armenhaus „Dono di Maria“: Begegnung mit den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Armen und den freiwilligen Helfern (21. 05. 2013). 56 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 47 48
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ist die Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen, unter gemeinsamer Anwendung der normativen Mittel, welche den Menschen schützen und fördern.“57 Doch nicht nur eine solcherart ausgezeichnete Pro-Solidarität findet sich im Denken des Papstes. Solidarität wird auch als Chiffre einer Hilfe zur Selbsthilfe verstanden: Solidarität muss „bemüht sein sicherzustellen, dass immer mehr Menschen wirtschaftlich unabhängig sein können. In verschiedenen Ländern wurden viele Schritte unternommen, aber wir sind immer noch weit entfernt von einer Welt, in der alle mit Würde leben können.“58 Solidarität heißt dann, „die Logik der unkontrollierten Ausbeutung der Schöpfung überwinden und unsere Pflicht, die Umwelt und ihre Ressourcen zu pflegen und zu bewahren, besser ausrichten […].“59 Deutlich zeigt sich diese überindividuelle Perspektive des Papstes, wenn er in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium festhält, dass Solidarität mehr erfordere als einige gelegentliche großherzige Taten, nämlich eine neue Mentalität, „die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt.“60 Solidarität wird hier als Reaktion derer bestimmt, die die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter – die älter seien als der Privatbesitz – als Wirklichkeiten anerkennen. Weil sich privater Besitz nur dadurch rechtfertige, dass es dem Gemeinwohl besser dient, „deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht“61. Im Kontext des Schreibens ist diese Konzeption nicht als bloße Haltung Besitzender zu verstehen, sondern als strukturethisches Prinzip. Solidarität soll nämlich „in den Entscheidungen auf politischer, wirtschaftlicher und finanzieller Ebene, in den Beziehungen zwischen den Personen, zwischen den Völkern und zwischen den Nationen zur Grundhaltung“62 werden. Das heißt auch, dass die „Aufgabe der Solidarität […] verlangt, dass die reichen Nationen den weniger fortgeschrittenen helfen“63.
IV. Die Institution Kirche als Trägerin von Solidarität Die struktur- bzw. institutionenethische Rede von der Solidarität richtet sich bei Papst Franziskus auch auf die Institution der Katholischen Kirche selbst. Der Papst formuliert: „Der Wert der Kirche ist grundsätzlich, das Evangelium zu leben und Zeugnis für unseren Glauben zu geben. […] dem Zeugnis der Bruderliebe, der Soli57 Ders., Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings (2014). „Migranten und Flüchtlinge: unterwegs zu einer besseren Welt“ (05. 08. 2013). 58 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 59 Ebd. 60 Ders., Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium (24. 11. 2013), Nr. 188. 61 Ebd., Nr. 189. 62 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 63 Ders., Botschaft zur Feier des XLVII. Weltfriedenstages am 01. 01. 2014 (08. 12. 2013).
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darität, des Teilens. […] Die Kirche muss aus sich herausgehen. Wohin? An die Peripherien des Seins, welche auch immer es sein mögen, aber hinausgehen. Jesus sagt uns: ‚Geht in alle Welt! Geht! Predigt! Gebt Zeugnis für das Evangelium!‘ (vgl. Mt 16,15). Doch was geschieht, wenn einer aus sich herausgeht? Da kann geschehen, was allen passieren kann, die das Haus verlassen und auf die Straße gehen: ein Unfall. Aber ich sage euch: Mir ist eine verunfallte Kirche, eine Kirche, die in einen Unfall geraten ist, tausendmal lieber als eine Kirche, die wegen ihrer Verschlossenheit krank ist!“64 Solidarität entspringt, so führt der Papst seine theologische Fundierung von Solidarität strukturethisch fort, dem ureigensten Auftrag der Kirche, sich zu den Menschen zu begeben, die wie Jesus arm sind, die wie Gott an den Randgebieten der Existenz leben. Insofern lautet die zentrale Frage an die Kirche selbst immer wieder: „Gibt sie Zeugnis von der Solidarität mit den Menschen […]?“65 Systematisch wird Kirche damit als Anwältin der Gerechtigkeit und der Solidarität, als Anklägerin von sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit begriffen, die „ihre Mitarbeit jeder Initiative anbieten möchte, die eine wahre Entwicklung jedes Menschen und des ganzen Menschen bedeuten kann.“66 Aber Papst Franziskus sieht auch die Notwendigkeit, dieses Selbstverständnis immer wieder einzuschärfen und ins Gedächtnis zu rufen. In Anlehnung an Papst Paul VI., der zum Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils predigt, dass für die Katholische Kirche niemand fremd, niemand ausgeschlossen, niemand fern ist, betont Franziskus, dass auch die Kirche sich daran erinnern muss, das alle Menschen „eine einzige Menschheitsfamilie [bilden], die in der Vielfalt ihrer Unterschiede auf die Einheit zugeht, indem sie die Solidarität und den Dialog zwischen den Völkern fördert.“67 Darüber hinaus aber begrenzt Papst Franziskus in einer Replik auf eine Anfrage des Journalisten Eugenio Scalfari in der italienischen Tagezeitung La Repubblica die Reichweite der Solidarität im Blick auf das kirchliche Leben und Handeln. Solidarität ist zentral, aber nicht um ihrer selbst willen Prinzip christlichen Handelns. Solidarität muss, so der Papst, eingebunden sein in eine ganzheitliche Sicht auf Welt und Geschichte des Menschen: „Die Kirche ist in der Tat berufen, den Sauerteig und das Salz des Evangeliums zu säen, d. h. die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes, die jeden Menschen erreichen. Dabei zeigt sie auf das überirdische, endgültige Ziel unseres Schicksals hin, während der zivilen und politischen Gesellschaft die schwierige Aufgabe zukommt, in der Gerechtigkeit und in der Solidarität, im Recht und im Frieden ein immer menschlicheres Leben zu artikulieren und zu verDers., Ansprache bei der Pfingstvigil mit den kirchlichen Bewegungen (18. 05. 2013). Ders., Ansprache an die Teilnehmer der Pilgerfahrt der Diözese Brescia (22. 06. 2013). 66 Ders., Ansprache beim Besuch des Armenviertel Varghina (Manguinhos) in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (25. 07. 2013). 67 Ders., Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung des päpstlichen Rats der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs (24. 05. 2013). 64 65
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körpern. Für den, der den christlichen Glauben lebt, bedeutet das nicht Weltflucht oder Suche nach irgendeiner Hegemonie, sondern Dienst am Menschen, am ganzen Menschen und an allen Menschen, ausgehend von der Peripherie der Geschichte. Dabei hält er die Hoffnung wach, die ihn dazu bringt, trotz allem das Gute zu tun, und blickt stets jenseits.“68
V. Solidarität als Appellbegriff Eine Analyse des Verständnissen von Solidarität in den Texten und Reden von Papst Franziskus im Jahr eins seines Pontifikats gibt zu erkennen, dass dieses Sozialprinzip sowohl Brücken zur Rede von der Armut schlägt, wie es auch als Handlungsprinzip und Grundstruktur christlich-kirchlichen Handelns verstanden wird. Solidarität wird unter der normativen Forderung nach einer „Erziehung zur Solidarität“69, nach einem Handeln „der Solidarität gemäß“70 von Papst Franziskus als „transformativer Akt verstanden, der Bestehendes zu verändern sucht auf ein mehr an Gerechtigkeit“71 hin. Über dieses grundsätzliches Bekenntnis zur Solidarität und die selbstverständliche Verwendung dieses Sozialprinzips unterbleiben allerdings sowohl eine begriffliche Differenzierung in Pro- oder Con-Solidarität (Dietmar Mieth) oder in Solidarität bei gleichen oder anderen Interessen (Hans-Werner Bierhoff / Beate Küpper)72 wie auch eine nähere Beschreibung der Solidarität als Sozialprinzip, das auf Gerechtigkeit fokussiert ist, oder als Kategorie des guten Lebens innerhalb tugendethischer Überlegungen. Auch eine Anknüpfung an die traditionelle Sozialethik, mit der Solidarität als Rechtspflicht gefasst werden könnte, die auf der Ebene der Gerechtigkeit dem einzelnen geschuldet ist, lässt sich nicht erkennen.73 Solidarität wird vielmehr 68 Ders., Antwort an den Journalisten Eugenio Scalfari in der italienischen Tagezeitung „La Repubblica“ (04. 09. 2013). 69 Siehe ders., Ansprache beim Besuch des Armenviertel Varghina (Manguinhos) in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (25. 07. 2013), ders., Botschaft an die Teilnehmer der 47. Sozialwoche der italienischen Katholiken in Turin vom 12. – 15. 09. 2013 (11. 09. 2013), ders., Botschaft an Kurt Koch zur 10. Generalversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan, Korea, 30. 10. – 08. 11. 2013 (04. 10. 2013), ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 70 Ders., Botschaft zum Welternährungstag 2013 (16. 10. 2013). 71 Becka, Michelle, Von der Anerkennung zur Solidarität, in: Mieth, Dietmar (Hrsg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2009, 90 – 105, hier: 103. 72 Vgl. dazu Frühbauer, Johann, Sozialprinzip mit Achillesferse? Ethische Erkundungen zum Begriff der Solidarität, in: Mieth, Dietmar (Hrsg.), Solidarität und Gerechtigkeit. Die Gesellschaft von morgen gestalten, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2009, 106 – 119, hier: 109 ff. 73 Siehe hierzu Emunds, Bernhard, Solidarität – kein überflüssiger Begriff, in: Große Kracht, Hermann-Josef u. a. (Hrsg.), Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zur So-
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grundsätzlich als Akt und institutionelle Verpflichtung verstanden, die sich in der konkreten Hilfe für den Nächsten und Fernsten, genauer: für den Armen, äußert. Problematisch bleibt dabei, dass Papst Franziskus zwar einerseits die Solidarität als Ausdrucksform der Achtung der Personalität des Menschen hervorhebt, andererseits aber keine Hinweise bietet, wie dies praktisch umzusetzen sei. Solidarität wird so allgemein als Orientierungs- und Handlungsprinzip verstanden, das den Marginalisierten gebührt und das deshalb sein soll. Diese Normativität der Solidarität wird bei Papst Franziskus nicht begründet, sie wird vielmehr immer wieder appellativ eingefordert. Den Jugendlichen in Rio de Janeiro sagt der Papst: „Werdet nicht müde, für eine gerechtere und solidarischere Welt zu arbeiten! […] Jeder sollte seinen Möglichkeiten und seiner Verantwortung entsprechend persönlich dazu beitragen, den vielen sozialen Ungerechtigkeiten ein Ende zu setzen.“74 Den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Armen und den freiwilligen Helfern ruft er bei seinem Besuch im Armenhaus „Dono di Maria“ zu: „Wir alle müssen den Sinn für die Gabe, die Unentgeltlichkeit, die Solidarität wiedergewinnen.“75 Beim Weltjugendtag hält er fest: „Baut eine bessere Welt auf, eine Welt von Brüdern und Schwestern, eine Welt der Gerechtigkeit, der Liebe, des Friedens, der Brüderlichkeit, der Solidarität!“76 Und angesichts der 10. Generalversammlung des ökumenischen Rats der Kirchen erinnert er daran, dass Christen dazu aufgerufen sind, „denen eine Hand zu reichen, die in den existentiellen Peripherien unserer Gesellschaften leben, und den verletzlichsten unserer Brüder und Schwestern eine besondere Solidarität zu erweisen: den Armen, den Behinderten, dem ungeborenen Leben und den Kranken, den Migranten und Flüchtlingen, den alten Menschen und den arbeitslosen Jugendlichen.“77 Dieser appellative Charakter der Rede von der Solidarität zeigt sich auch darin, dass in keinem der Texte und Ansprachen von Papst Franziskus gerade im Blick auf die Institution Kirche konkrete Forderungen erhoben oder auch Handlungsweisen in Aussicht gestellt werden, die deutlich machen, wie Solidarität im Raum der Kirche handlungspraktisch und strukturell verwirklicht werden könnte. Die anhaltende Diskussion um eine arme Kirche bzw. eine Kirche für die Armen und die sich daraus ergebenden institutionellen Konsequenzen78 finden damit in den Äußerungen zialethik und Religionssoziologie, Paderborn u. a.: Schöningh, 2008, 465 – 484, hier: 474 ff. Vgl. auch Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn: Schöningh, 1997, 196 ff. 74 Franziskus [Papst], Ansprache beim Besuch des Armenviertel Varghina (Manguinhos) in Rio de Janeiro anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (25. 07. 2013). 75 Ders., Ansprache Besuch im Armenhaus „Dono di Maria“: Begegnung mit den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Armen und den freiwilligen Helfern (21. 05. 2013). 76 Ders., Ansprache bei der Vigilfeier mit den Jugendlichen in Rio de Janeiro – Copacabana anlässlich der Apostolischen Reise nach Rio de Janeiro aus Anlass des XXVIII. Weltjugendtages (27. 07. 2013). 77 Ders., Botschaft an Kurt Koch zur 10. Generalversammlung des ökumenischen Rats der Kirchen in Busan, Korea, 30.10. – 08. 11. 2013 (04. 10. 2013).
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des Papstes über Solidarität keine Einlösung. Das ist umso bemerkenswerter, als der Papst gerade in seinem Lebensstil, seinem Auftreten und den Begegnungen mit Marginalisierten eine Ahnung davon vermittelt, dass es tatsächlich praktisch gelingen kann, „Randexistenzen“ in die Mitte der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken.
Summary The public perception Pope Francis’ pontificate has been shaped especially by the discussion about poverty. A systematic evaluation of the speeches and texts of the Argentine Pope in the first year of his pontificate, however, shows that in addition to poverty solidarity is one of his central themes. From a systematic point of view, the Pope’s understanding of solidarity can deciphered as part of his approach of a poor church. It can be shown that Pope Francis understands solidarity as theologumenon, but as well as in an individual- and a social-ethical way of interpretation. However, practically and ethically the Pope’s talk about solidarity remains at the level of appeal.
78 Vgl. etwa Hünermann, Peter: „Kirche der Armen“. Ein theologisches Programm, in: ThQ 193 (2013) 230 – 241.
Wettbewerb der Solidarsysteme Julian Müller und Christoph Lütge Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion besteht in weiten Teilen der Gesellschaft und der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass eine moderne Gesellschaft nicht ohne Marktwirtschaft auskommt. Die politische und akademische Diskussion dreht sich heute vor allem um die Frage, wie die zur Marktwirtschaft passenden Solidarsysteme am besten ausgestaltet werden können. Die Frage nach der Ausgestaltung hat dabei sowohl normative als auch instrumentelle Bestandteile. In diesem Essay möchten wir der Frage nachgehen, wie wir gesellschaftlich am besten Fortschritt in beiden Dimensionen erreichen können. Die Standard-Antwort – sowohl politisch als auch akademisch – ist, dass wir unser Sozialsystem am besten durch piecemeal-engineering verbessern können. Die Verbesserungen des Sozialstaates sollten dabei demokratisch legitimiert und weitestgehend zentralistisch gesteuert werden. Wir möchten hier diesem Konsens entgegentreten und fragen, ob nicht ein Wettbewerb der Sozialsysteme eventuell zu besseren Ergebnissen führen könnte. Wir gehen dabei wie folgt vor. Im ersten Teil werden wir unseren methodischen Ansatz vorstellen und gegen die deliberative Methode abgrenzen. Im zweiten Teil werden wir zunächst der Frage nachgehen, warum wir gesellschaftlich überhaupt auf Wettbewerbsprozesse setzen. Um ein besseres Verständnis für die epistemischen Vorzüge von gut justierten Wettbewerbssystemen zu bekommen, möchten wir im ersten Teilstück des zweiten Kapitels auf einige epistemische und motivationale Schwächen von zentralistischer Planung durch Experten-Gremien aufmerksam machen. Im zweiten Teilstück werden wir zeigen, wie ein gut justiertes Wettbewerbssystem diese epistemischen und motivationalen Probleme lösen oder zumindest lindern kann. Wir hoffen dabei, auch einen genuin neuen Beitrag zum epistemischen Verständnis von Wettbewerbssystemen zu leisten. Im dritten Abschnitt soll es darum gehen, einen der zentralen Einwände gegen System-Wettbewerb zu diskutieren. Die zentrale Befürchtung, auf die es hier einzugehen gilt, ist, dass ein Wettbewerb der Solidarsysteme zu einem Race to the bottom und somit zur „Erosion des Wohlfahrtsstaates“ führen könnte. Im Ganzen möchten wir hier noch kein fertiges Argument für den Wettbewerb von Solidarsystemen präsentieren, sondern vielmehr die Tür zu einer breiteren Diskussion öffnen.
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I. Problemaufriss aus ordnungsethischer Perspektive Einen zentralen Unterschied zwischen der Ordnungsethik und traditioneller Ethik (was hier die Politische Philosophie einschließen soll) kann man sehr gut im unterschiedlichen Umgang mit dem Begriff „Solidarität“ veranschaulichen. Die traditionelle Ethik fragt danach, was „Solidarität“ ist, was Solidarität vom Einzelnen und von der Gesellschaft verlangt. Sie bemüht sich ferner um die Begriffsbestimmung und -abgrenzung. David Heyd untersucht in dieser Weise etwa die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Solidarität,1 und Francis J. Schweigert setzt sich mit dem Verhältnis von Subsidiarität und Solidarität auseinander.2 Andere Philosophen fragen nach der Reichweite solidarischer Verpflichtungen.3 Jürgen Habermas wiederum setzt auf Solidarität, um den europäischen Einigungsprozess voranzutreiben und zu vertiefen.4 Entwürfe in der traditionellen Ethik, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, sind – im Schema von Gutmann und Thompson – meist Theorien erster Ordnung. Theorien erster Ordnung, so Gutmann, „seek to resolve moral disagreement by demonstrating that alternative theories and principles should be rejected. The aim of each is to be the lone theory capable of resolving moral disagreement. […] Each theory claims to resolve moral conflict, but does so in ways that require rejecting the principles of its rivals.“
Die Ordnungsethik dagegen basiert auf der Prämisse, dass die meisten Diskussionen zwischen Theorien erster Ordnung letztlich nicht auflösbar bzw. entscheidbar sind. Die Pluralität von moralischen Konzeptionen und die Diversität von moralischen Werthaltungen stellen für die Ordnungsethik ein unhintergehbares Datum dar, ein Faktum der Moderne. Die zentrale Fragestellung der Ordnungsethik ist, wie konkrete Probleme der modernen Gesellschaft, gegeben einen unhintergehbaren Wertepluralismus, so weit wie möglich zur Zufriedenstellung aller gelöst werden können. Das zentrale normative Kriterium der Ordnungsethik ist dabei Konsens durch Besserstellung aller. Die Ordnungsethik ist damit eine ethische Theorie zweiter Ordnung. „Second-order theories“, so Gutmann and Thompson „are about other theories in the sense that they provide ways of dealing with the claims of conflicting first-order theories.“5 1 David Heyd, „Justice and Solidarity: The Contractarian Case against Global Justice“, Journal of Social Philosophy, Vol. 38 No. 1, 2007, 112 – 130. 2 Francis J. Schweigert, „Solidarity and Subsidiarity: Complementary Principles of Community Development“, Journal of Social Philosophy, Vol. 33 No. 1, Spring 2002, 33 – 44. 3 Hauke Brunkhorst, „Globalizing Solidarity: The Destiny of Democratic Solidarity in the Times of Global Capitalism, Global Religion, and the Global Public“, Journal of Social Philosophy, Vol. 38 No. 1, Spring 2007, 93 – 111. 4 Jürgen Habermas, „Im Sog der Technokratie. Ein Plädoyer für europäische Solidarität“, in: Im Sog der Technokratie – Kleine Politische Schriften XII, Berlin, Suhrkamp, 2013, 82 – 114. 5 A. Gutmann / D. Thompson, Why deliberative democracy?, Princeton, NJ: Princeton Univ. Press, 2004, 13.
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Das Problem, mit dem wir uns in diesem Essay auseinandersetzen, betrifft nationalstaatliche Solidarsysteme – also institutionalisierte Solidarität. Eine der zentralen Fragen der Gegenwart ist, wie Solidarität vor dem Hintergrund von Pluralismus, verstärkter Migration und globaler Konkurrenz gedacht und ausgestaltet werden soll. Das Problem, mit dem wir bei der Ausgestaltung von Solidarsystemen konfrontiert sind, ist dabei ein Dreifaches: 1) Die akademische Suche nach einem adäquaten Solidarsystem führt zu keinem eindeutigen Ergebnis, sondern vielmehr zu ideologischen Stand-offs. 2) Der akademische Stand-off spiegelt sich in der Politik als Reformstau wider. 3) In der Konsequenz führt dies oft zu wachsenden Schuldenbergen und Politikverdrossenheit. Einige Erläuterungen sind hier angebracht. Das Problem von philosophisch-akademischen Stand-offs ist nicht nur ein Problem der normativen Ethik. Dieses Problem findet sich ebenso wieder in den Sozialwissenschaften. So gibt es etwa ganz unterschiedliche Vorschläge zur Ausgestaltung unserer Renten- und Schulsysteme, unserer Krankenversicherung oder der Arbeitsmarktpolitik. Auch wenn manche dieser Diskussionen auf unterschiedliche Zielfunktionen zurückzuführen sind, so sind es viele dieser Streitigkeiten nicht. Sowohl die Tiefe als auch die Breite der Divergenzen in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung sollte dabei nicht unterschätzt werden. Es ist etwa in keiner Weise klar, um ein Beispiel aus der Politischen Philosophie zu bemühen, was für ein Institutionenset Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit am besten umsetzt. Bekanntermaßen war Rawls selbst der Ansicht, dass eine „property-owning democracy“6 oder eine bestimmte Spielart von „democratic socialism“7 wohl am geeignetsten wäre, um seine Gerechtigkeitsforderungen umzusetzen. Wie Kofman jedoch bemerkt, könnte es auch durchaus sein, dass ein Minimalstaat im Sinne von Milton Friedman die Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls am besten erfüllt.8 Nach dieser Exkursion in die unterliegenden Schwierigkeiten von sozialwissenschaftlicher und normativer Theoriebildung wollen wir uns wieder der Problemstellung widmen. Unser Bestreben in diesem Essay ist nicht, einen weiteren Vorschlag zur Ausgestaltung unserer Solidarsysteme zu machen – obwohl diese Themen sehr wichtig sind, gleichzeitig aber ordnungsethische Beiträge zu vielen Subsystemen des deutschen Sozial- und Solidarsystems bereits bestehen.9 Die Fragestellung, der wir uns in diesem Beitrag widmen, ist abstrakter und betrifft die Su6 J. Rawls / E. Kelly, Justice as fairness. A restatement, London, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 2001, p. 138. 7 Ebd. 8 Kofman, D., „How insensitive: principles, fact and normative grounds in Cohen’s critique of Rawls.“, in: Socialist Studies/ Études socialistes, 8, 1, 2012, 249. 9 K. Homann / F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, 54 ff.
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che nach effizienteren und normativ wünschenswerteren Solidarsystemen oder zumindest Teilstücken solcher Systeme. Bevor wir allerdings unseren eigenen Ansatz vorstellen, wollen wir kurz einen Überblick über den vorherrschenden Ansatz zum Umgang mit verschiedenen ethischen Theorien erster Ordnung geben. Der vorherrschende Ansatz, zumindest in Deutschland, ist sicherlich die Deliberative Demokratie. Im Duktus der Ordnungsethik kann der Ansatz der Deliberativen Demokratie als Zähmungsphilosophie verstanden werden. In der deliberativen Theoriebildung werden verschiedene Theorien erster Ordnung als Rivalen wahrgenommen, deren Konflikt potentiell gefährlich ist.10 Während ältere Versionen von Deliberativer Demokratie zumindest noch auf die Erzielung von Konsens durch Deliberation gehofft haben, stellen moderne Versionen von Deliberativer Demokratie auf Kompromiss-Findung ab. Auch die gerade im angelsächsischen Bereich verbreiteten Vertragstheorien sehen divergierende sozio-ökonomische und normative Perspektiven in erster Linie als Problem. Dieses Problem lösen Vertragstheorien durch eine normalisierende Modellierung der Agenten. In seinen Lectures on the History of Political Philosophy macht Rawls diesen Punkt deutlich: „a normalization of interests attributed to the parties“ is „common to social contract doctrines“11. Die Ordnungsethik indes begreift menschliche Tatkraft und Kreativität, sei es im ökonomischen oder politischen Bereich, erst einmal als potentielle Ressource für gesellschaftlichen Fortschritt. Die Ordnungsethik hat immer schon – in Anlehnung u. a. an Adam Smith und James Buchanan – geltend gemacht, dass es eine Frage der Regeln ist, ob Gier oder Eigeninteresse der Gesellschaft schadet oder nutzt. Die Zähmung, so betont die Ordnungsethik seit Jahrzehnten, hat in modernen Gesellschaften kontraproduktive Folgen. Anstatt die Triebkraft des Einzelnen zu zähmen, gilt es, sie unter einer geeigneten Wettbewerbsordnung zu entfesseln.12 Der gleiche Gedanke liegt zugrunde, wenn wir nun in Bezug auf die Gestaltung von Solidarsystemen formulieren: Ob divergierende normative und sozio-ökonomische Perspektiven, kurz: politische Kreativität, dem Allgemeinwohl dienlich oder abträglich sind, hängt von den Spielregeln ab. Diese Analogie soll uns vor allem als Suchheuristik dienen. In diesem Text wollen wir vor allen Dingen die Frage aufwerfen, ob ein Wettbewerbssystem vorstellbar ist, in dem politische Kreativität – in ähnlicher Weise wie Eigeninteresse im Markt – zum Wohle aller eingespannt werden kann. Oder anders: Kann ein Wettbewerb der Solidarsysteme divergierende politische Ideale ähnlich fruchtbar machen wie der Wettbewerb das Eigeninteresse? Obwohl die Idee von einer Wettbewerbsordnung für Solidarsysteme für viele erste einmal ungewöhnlich klingen mag, so muss doch darauf hingewiesen werden, Rawls spricht hier von einem „generalized prisoner’s dilemma“. John Rawls, Lectures on the History of Political Philosophy, Samuel Freeman (Hrsg.), Cambridge, MA: Harvard University Press, 2007, 226. 12 Christoph Lütge, Wirtschaftsethik ohne Illusionen: Ordnungstheoretische Reflexionen, Tübingen: Mohr Siebeck, Tübingen, 2012, 108. 10 11
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dass viele der großen Denker der Philosophiegeschichte politischen Systemwettbewerb durchaus positiv bewertet haben. So urteilt Hume in Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences: „Nothing is more favorable to the rise of politeness and learning than a number of neighbouring and independent states connected together by commerce and policy.“ 13
Auch Kant äußert sich sehr optimistisch zur Wirkung von zwischenstaatlicher Konkurrenz, so schreibt er 1784 in seiner „Idee zu einer Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“: „Jetzt sind die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegen einander, daß keiner in der inneren Cultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren; also ist, wo nicht der Fortschritt, dennoch die Erhaltung dieses Zwecks der Natur selbst durch die ehrsüchtigen Absichten derselben ziemlich gesichert. Ferner: bürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne den Nachtheil davon in allen Gewerben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Abnahme der Kräfte des Staats im äußeren Verhältnisse zu fühlen. […]. Obgleich z. B. unsere Weltregierer zu öffentlichen Erziehungsanstalten und überhaupt zu allem, was das Weltbeste betrifft, für jetzt kein Geld übrig haben, weil alles auf den künftigen Krieg schon zum Voraus verrechnet ist: so werden sie doch ihren eigenen Vortheil darin finden, die obzwar schwachen und langsamen eigenen Bemühungen ihres Volkes in diesem Stücke wenigstens nicht zu hindern.“14
Es ist bemerkenswert, dass gerade Kant im Politischen nicht auf die moralische Besserung der Herrscher setzt, sondern auf Wettbewerb. Nicht die Liebe zum Volk wird die Herrscher dazu bringen, vernünftige Politik zu betreiben, sondern der Wettbewerb um das Wohlwollen der Bevölkerung. Kant ist mit dieser Position keineswegs alleine, auch Ferguson, Rousseau, Lord Acton und viele weitere Philosophen betonen die Wichtigkeit von politischem Wettbewerb, um den Souverän in Schach zu halten.15 Gleichzeitig sind sich die Philosophen der Aufklärung bewusst, dass die Philosophie selbst ihre Wurzeln in der griechischen Antike – also im Wettstreit der Poleis – geschlagen hat. Diese kurze Exkursion in die Geschichte der Politischen Philosophie bestätigt, dass es zumindest aus philosophischer Sicht Anhaltspunkte gibt, sich über politischen Systemwettbewerb tiefere Gedanken zu machen.
13 David Hume, „Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences“, in: Eugene F. Miller (Hrsg.), David Hume: Essays, Moral, Political and Literary, Indianapolis: Liberty Fund, S. 119. 14 Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Abciht“, in: G. Hartenstein, Immanuel Kant’s Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge, Leipzig: Leopold Voss, 1867: 153 – 154. 15 Vgl. Christoph Lütge, Ethik des Wettbewerbs: Über Konkurrenz und Moral, München: Beck, 2014. Eine gute Übersicht bietet auch: Roland Vaubel, „A history of thought on institutional competition“, in: A. Bergh, R. Höijer, (Hrsg.), Institutional competition, New thinking in political economy, Cheltenham, UK, Northamption, MA: Edward Elgar, 2008.
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II. Wettbewerb der Solidarsysteme Die moderne Gesellschaft ist eine Wettbewerbsgesellschaft. Wie selbst der Erzliberale Friedrich August von Hayek eingesteht, verlangen die Regeln der modernen Gesellschaft vieles von uns, „was für uns unangenehm ist, so z. B. dass andere mit uns Wettbewerb treiben.“16 Auch widerspricht es unserem intuitiven Verständnis von Gerechtigkeit, dass immer wieder größere und kleinere Firmen Bankrott anmelden müssen und so – zumindest für eine gewisse Zeit – die Angestellten der Firma in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Mill fasst die Position der Wettbewerbsgegner präzise zusammen, wenn er schreibt: „Morally considered [the evils of individual competition] are obvious. It is the parent of envy, hatred, and all uncharitableness; it makes everyone the natural enemy of all others who cross his path, and every one’s path is liable to be crossed.“17
Warum, so stellt sich die Frage, setzt die moderne Gesellschaft trotzdem auf eine wettbewerbliche Ordnung in Wirtschaft und Wissenschaft? Diese Frage lässt sich am besten durch einen Vergleich illuminieren: Um einen Eindruck von der epistemischen Leistungsfähigkeit von Wettbewerbsordnungen zu vermitteln, bietet sich der Kontrast zur Wissensaggregation und Entscheidungsfindung durch expertokratische Zentralplanung an. In II.1. – II.3. wollen wir einige der epistemischen, motivationalen und ethischen Probleme von expertokratischer Zentralsteuerung betrachten. In II.4. – II.5. werden wir darstellen, wie ein gut justiertes Wettbewerbssystem genau die Schwächen, die expertokratische Beratung und Planung mit sich bringen, überwindet oder zumindest lindert. 1. Das Argument für Experten-Deliberation In einer Welt, in der die Menschen mit vollständiger Rationalität und vollständigem Wissen ausgestattet wären, benötigte man keine Beratungsprozesse. In der realen Welt dagegen besitzen Individuen ganz unterschiedliche Wissensvorräte. Darüber hinaus haben Menschen oft falsche Vorstellungen und begehen einfache logische Fehler im Denken. In einer solchen Welt macht es Sinn, über schwierige Probleme gemeinsam nachzudenken, Wissen miteinander zu teilen und die eigenen Hypothesen kritisch durch andere prüfen zu lassen. Die Vorteile von Beratungsprozessen für die Beschlussfindung wurden bereits sehr früh in der Geschichte der Philosophie herausgestellt, so z. B. von Aristoteles: „Denn die Menge, von der der einzelne kein tüchtiger Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein zu können als jene Besten; nicht jeder Einzelne für sich, sondern die 16 Friedrich A. v Hayek, Die drei Quellen der menschlichen Werte, Tübingen: Vorträge und Aufsätze/ Walter Eucken Institut, Vol. 70, J.C.B. Mohr, 1979, 36. 17 John S. Mill, Chapters on Socialism, in: S. Collini (Hrsg.), On Liberty and Other Writings, Cambridge: Cambridge University Press, 1989, 233.
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Gesamtheit, so wie die Speisungen, zu denen viele beigetragen haben, besser sein können als jene, die ein Einzelner veranstaltet. Denn es sind viele, und jeder hat einen Teil an Tugend und Einsicht.“18
Aristoteles’ These – in der Philosophie auch als Summierungsthese bekannt – hat intuitiv eine große Anziehungskraft. Auch deckt sich diese Intuition mit unserer alltäglichen Praxis. Bevor wir wichtige Entscheidungen treffen, beraten wir mit sachkundigen Freunden. Gleichsam scheint zu folgen: wenn Gruppen sehr gut darin sind, Wissen zu aggregieren, so sollte die Deliberation von Experten zu den besten denkbaren Entscheidungen führen. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, warum wir weder in der Wissenschaft noch in der Wirtschaft auf expertokratische Zentralplanung setzen, sondern gut justierten Wettbewerbsordnungen vertrauen. 2. Die Probleme von Experten-Deliberation Obwohl die Summierungsthese eine intuitive Anziehungskraft hat, so fallen uns doch schnell auch Gegenbeispiele ein. Die drei KreativitätsforscherLicuanan, Dailey und Mumford haben ein paar besonders prägnante Gegenbeispiele zusammengestellt: „When J. K. Rowling wrote her first book in the Harry Potter series, it was rejected by a long list of publishers who saw little appeal, and little originality, in the idea of a school for wizards. When executives at International Business Machines (IBM) were presented with the first personal computers, they viewed personal computers as toys having no real implications for IBM’s key product at the time – mainframe computers. When the United States military was first presented with the Wright Brothers flying machine, they failed to anticipate the marked impact airplanes would have on our world.“19
Diese Beispiele rufen einen unbestreitbaren Tatbestand ins Gedächtnis: Experten irren sich ständig; sie schätzen Innovation falsch ein, sagen wichtige Ereignisse falsch voraus, scheitern daran, wirksame Solidarsysteme zu implementieren, und tun sich schwer damit, verschiedene soziale Phänomene zu erklären. In den nächsten Abschnitten werden wir der Frage nachgehen, warum auch Expertengruppen anfällig für Fehlentscheidungen sind. a) Wenn das Individuum die Gruppe schlägt Aristoteles’ Summierungsthese lässt sich auf verschiedene Arten interpretieren. Eine Interpretation dieser These ist, dass eine Gruppe von Menschen in der Lage 18 Aristoteles: Politik. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. 10. Auflage, München, 2006, 119. 19 B. F. Licunan / L. R. Dailey / M. D. Mumford, „Idea evaluation: Error in evaluating highly original ideas“, The Journal of Creative Behavior, Vol. 41, Nr. 1, 2007, 1.
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sein sollte, ein Problem zu lösen, wenn ein Mitglied das Problem lösen kann. Diese These – die so genannte „truth wins“-These – wurde in der experimentellen Psychologie in den letzten 30 Jahren ausgiebig geprüft. Eine große Anzahl von Laboruntersuchungen musste jedoch feststellen, dass Aristoteles’ These der Realität nicht standhält.20 Stasson fasst die Ergebnisse von über 20 Jahren folgendermaßen zusammen: „Instead of finding an assembly bonus effect, many studies actually found an assembly decrement. The majority of these studies compared group performance on a single problem to members’ pretest performance on the same problem and found that there were instances in which groups did not select the correct alternative even though one or more members bad been correct on the pretest.“21
Zehn Jahre später kommt auch Cass Sunstein zu dem Schluss, dass die Gruppe in Experimenten zwar so gut oder etwas besser als das durchschnittliche Mitglied der Gruppe ist, aber in der Regel nicht so gut wie das beste Mitglied.22 Diese Laborergebnisse, die unsere Alltagsevidenzen (Rowling, Wright Brothers, IBM) untermauern, eröffnen eine interessante epistemische Frage: Wie kommt es, dass Gruppen oft so schlecht darin sind, das bereits in der Gruppe bestehende Wissen zu nutzen? Wir möchten hier zwei Erklärungen anbieten: Eine epistemische und eine motivationale Erklärung. (1) Die epistemische Erklärung Es wird oft angenommen, dass eine Gruppe von Menschen, die mit einer Reihe von Argumenten, Daten und Fakten konfrontiert wird, zum gleichen Schluss kommen sollte, solange kein Gruppenmitglied einen falschen Schluss zieht. Diese Hypothese ist allerdings nicht tragfähig. Tatsächlich gibt es viele Gründe, warum eine Gruppe von Individuen zu unterschiedlichen Schlüssen kommen kann, ohne dass irgendein Mitglied einen logischen Fehlschluss begangen hätte. In so einem Fall spricht man von gerechtfertigter Meinungsverschiedenheit. Eine Liste von Gründen, die zu einer gerechtfertigten Meinungsverschiedenheit führen können, findet sich bei John Rawls (ob. Fn. 6, S. 35). Hier wollen wir jedoch nur die zwei wichtigsten anführen: „a. The evidence – empirical and scientific – bearing on a case may be conflicting and complex, and thus hard to assess and evaluate. b. Even where we agree fully about the kinds of considerations that are relevant, we may disagree about their weight, and so arrive at different judgments.“ 20 Für einen Überblick vgl.: P. R. Laughlin, „Social combination processes of cooperative problem-solving groups on verbal intellective tasks“, in: M. Fishbein (Hrsg.), Progress in social psychology, Vol. I. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1980. 21 M. F. Stasson / S. D. Bradshaw, „Explanations of Individual-Group Performance Differences: What Sort of ‚Bonus‘ Can Be Gained Through Group Interaction?“, Small Group Research, Vol. 26, Nr. 2, 1995, 297. 22 C. R. Sunstein, „Deliberating Groups versus Prediction Markets (or Hayek’s Challenge to Habermas)“, Episteme, Vol. 3, Nr. 3, 2006: 194.
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Diese (gekürzte) Liste verdient mehrere Kommentare, wir wollen es aber bei einem belassen. Die Wissenschaftsphilosophie hat seit Thomas Kuhn und anderen herausgestellt, dass Wissenschaft kein wertfreies Unternehmen ist. Eine Wissenschaftlerin muss sich zwischen widerstreitenden Ansätzen oder Theorien entscheiden. In ihrer Theorie-Wahl muss sie verschiedene Werte wie Einfachheit, Konsistenz, Vorhersagekraft und Plausibilität gewichten und gegeneinander abwägen. Dies führt dazu, dass Wissenschaftler aufgrund divergierender Gewichtung verschiedene Theorieoptionen wählen. Was sind nun aber die Implikationen dieser Überlegung für unser Argument? Die Implikation ist einfach. Expertengruppen werden oft am Ende ihrer Deliberation nicht zu einem Ergebnis kommen – selbst wenn keiner der Experten einen Denkfehler begangen hat. Trotzdem müssen Expertengruppen natürlich entscheiden. In solchen Situationen, in denen es den einzelnen Mitgliedern nicht möglich ist zu erkennen, welches der Mitglieder tatsächlich die beste Problemlösung besitzt, konvergieren Gruppen meistens zu dem Problemlösungsvorschlag, der am Anfang der Diskussion von den meisten Mitgliedern unterstützt wurde. Die GruppenMitglieder konvergieren also zu den „kognitiv-zentralen“ Ideen der Gruppe selbst. Kognitiv-zentrale Ideen oder Problemlösungsvorschläge sind aber nicht notwendig richtig oder besonders gut. Übertragen auf demokratisch-expertokratische Deliberationsprozesse bedeutet dies, dass kognitiv-periphere Ideen zur Reformierung der Solidarsysteme aller Wahrscheinlichkeit nicht ernsthaft im Bundestag oder an ähnlichen Stellen besprochen werden. Beispiele für kognitiv periphere Vorschläge wären etwa der Umbau unseres Sozialsystems in Richtung einer rawlsianischen oder hayekianischen Konzeption. (2) Die motivationale Erklärung Der zweite Mechanismus, der dazu führt, dass Gruppen oft nicht ihr volles Potential erreichen, ist motivationaler Natur. Studien fundieren unsere Alltagsbeobachtung, dass Individuen sehr ungerne die Rolle „des Advocatus Diaboli“ einnehmen. Hans Christian Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ bringt unsere menschliche motivationale Eigenheit hier auf den Punkt: Niemand möchte dem Kaiser sagen, dass er eigentlich nackt dasteht, weil jeder seinem eigenen Urteil misstraut. Gleichzeitig herrschen gerade in Experten-Gruppen, sei es in Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik, klare Hierarchien vor. Den Ideen des Chefs in der Firma oder den der Partei in der Politik vehement zu widersprechen, ist nicht selten mit erheblichen Gefahren für die eigene Laufbahn verbunden. Die Netto-Anreize spielen oft eine Rolle dafür, welches Wissen und welche Argumente in einer Gruppe zur Sprache kommen und welche eher ausgeblendet werden. Bezogen auf Reformen des Solidarsystems bedeutet das wiederum, dass Politiker kognitiv periphere Reformen – selbst wenn diese zu besseren Ergebnissen führen könnten – gar nicht erst ansprechen werden, weil sie (oft berechtigterweise) befürchten müssen, dass ihre Kollegen sie danach als „Idealisten“ abstempeln könnten. In Deutschland mag man sich an dieser Stelle an Kirchhofs radikale Steuerreform-Ideen erinnern, eine der wenigen
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radikalen Ideen des politischen Deutschlands der letzten 25 Jahre – und man sieht, wie lange diese Idee auf dem politischen Parkett überlebt hat. Fassen wir unsere Ergebnisse aus II.2.a)(1) und II.2.a)(2) zusammen: Deliberative Gruppen konvergieren selten auf die richtige/ beste Problemlösung, wenn die richtige Problemlösung am Anfang der Diskussion von wenigen vertreten wird. Dies sollte als ein großes Problem gesehen werden, gerade weil die höchsten Opportunitätskosten oft in der Entdeckung oder Ergreifung von Alternativen schlummern.23 b) Accountability Wenn Experten im Namen der Gesellschaft Entscheidungen treffen oder dieser auch nur beratend zur Seite stehen, erwächst den Experten eine besondere Verantwortung und Rechenschaftspflicht. Die zentrale Planung und Durchsetzung von Plänen – und dies ist in besonderer Weise relevant für Sozialsysteme – schafft notwendig Macht- und Informationsasymmetrien. Diese Macht- und Informationsasymmetrien bergen Gefahren. Auf zwei möchten wir hier eingehen: (1) Moral Das Problem der Machtasymmetrie zwischen Regierenden und Regierten ist eines der klassischen Probleme der Politischen Philosophie. Die MachtasymmetrieLinie kann dabei zwischen Regierung und Bevölkerung oder zwischen Mehrheit und Minderheit gelegt werden. Auch wenn einer der zentralen Gründe für die Einführung und Erhaltung von Solidarsystemen die Entschärfung von gesellschaftlicher Machtasymmetrie ist, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass solche Systeme bestehende Machtasymmetrien auch zementieren können. Schlecht justierte Solidarsysteme (in einem weiten Verständnis) können den Schwächsten in der Gesellschaft ebenso schaden wie nutzen. Zu hohe Mindestlöhne können so etwa zur Langzeitarbeitslosigkeit führen und damit effektiv gerade die verwundbarsten Gruppen der Gesellschaft treffen. Regulationen im Feld der Erwerbsarbeit versperren in ungünstigen Fällen gesellschaftlich benachteiligten Gruppen Aufstiegsmöglichkeiten. Viele Regularien der Sozialsysteme haben insofern repressive Wirkung und schaden oft den Gesellschaftsmitgliedern, die am verwundbarsten und am schlechtesten organisiert sind. Diese Regularien, verstanden als Teilsysteme unseres umfassenden Solidarsystems, sind – historisch gesehen – nicht selten bewusst von LobbyGruppen etabliert worden, um sich möglicher Konkurrenz zu entledigen. (2) Episteme Es gibt aber noch ein zweites Accountability-Problem. Das erste hier besprochene Accountability-Problem zeichnet sich dadurch aus, dass die jeweils unter23
Karl Homann, Rationalität und Demokratie, Tübingen: Mohr, 1988: 59.
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drückten Minderheiten bestimmte Teilsysteme des Sozialsystems als repressiv erkennen und auch als solche benennen können. Das normative Problem besteht dann vor allem darin, dass sich diese Minderheiten oft nicht wehren können. Das epistemische Accountability-Problem ist jedoch anders gelagert. Hier weiß die Bevölkerung – auf Grund fehlender Vergleichsmöglichkeiten – nicht, wie sie Leistung der Experten oder der Politik im Allgemeinen bewerten soll. Fehlende oder schwere Vergleichbarkeit macht es den Gestaltern des Sozialsystems zumindest ceteris paribus einfacher, soziale Missstände unter der Prämisse zu verteidigen, dass das bestehende System bereits im Großen und Ganzen das Bestmögliche sei. 3. Zusammenfassung Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Aristoteles’ Hoffnung in Experten-Deliberation – zumindest in unserer modernen Welt – oft enttäuscht wird und werden muss. Wie wir argumentiert haben, sind Experten-Gruppen oft nicht in der Lage, das Wissen innerhalb einer Gruppe optimal zu nutzen. Ein zentrales epistemisches Problem von Experten-Deliberation ist, dass innovative Problemlösungen, die am Anfang der Gruppenberatung wenig Unterstützung finden, in der Regel weder ernsthaft diskutiert werden noch eine gute Chance haben, sich durchzusetzen. Dies führt dazu, dass Gruppen auf kognitiv zentrale – d. h. bewährte Problemlösungen – zurückgreifen. Man kann insofern davon sprechen, dass Gruppen-Deliberation einen Conservative Bias hat.24 Hinzu kommt, dass Deliberation aus Transaktionskostengründen immer auf einige wenige Individuen beschränkt sein muss. Da Experten-Deliberation – in den Fällen, die für uns relevant sind – Probleme Dritter lösen soll, sind Prinzipal-Agent-Probleme nicht zu vermeiden. 4. Wettbewerb als Lösungsmechanismus In den letzten Abschnitten haben wir einige der zentralen Probleme von Gruppen- und Experten-Deliberationen besprochen. In den kommenden Abschnitten möchten wir exemplarisch zeigen, wie ein gut justiertes Wettbewerbssystem diese Probleme lösen oder zumindest lindern kann. a) Sequentielle Überzeugung Rekapitulieren wir noch einmal. Die Wahl der richtigen Problemlösung ist oft nicht einfach. Noch wichtiger: aufgrund der Offenheit der Zukunft und der inhärenten Komplexität vieler Probleme können Experten zu unterschiedlichen Schlüssen 24 Es soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass es innerhalb von Gruppen-Diskussionen natürlich auch möglich ist – etwa durch Moderation – diesem Bias entgegenzuwirken.
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kommen. Gruppen-Deliberation scheitert insofern oft an dem einfachen Umstand, dass die Schneide des menschlichen Verstands nicht scharf genug ist, um zu erkennen, welche Argumente vorzugswürdig oder welche Zukunftsszenarien wahrscheinlich sind. Mit Hayek kann man formulieren, unser epistemisches Problem liegt darin begründet, „that nobody can know who knows best and that the only way by which we can find out is through a social process in which everybody is allowed to try and see what he can do.“25 In den kommenden Abschnitten wollen wir argumentieren, dass ein gut justiertes Wettbewerbssystem ein wesentlicher Mechanismus ist, um die Schwächen unseres Verstandes – und unserer Moral – auszugleichen, auch wenn, wie erwähnt, die Verwendung von Wettbewerbsprozessen eigene Kosten mit sich bringt. Im Folgenden werden wir skizzieren, wie gut justierte Wettbewerbssysteme die oben ausgeführten Probleme von Expertenberatung überwinden. (1) Das epistemische Problem Ein Beratungsprozess verstanden als Auswahl-Mechanismus hat das entscheidende Problem, dass eine Idee oder eine Problemlösung die ganze Gruppe auf einmal überzeugen muss. Dies ist besonders problematisch für Ideen, die innovativ und somit in der Regel schwierig zu kommunizieren sind. Dies führt zu dem weiteren Problem, dass – wie wir ausführlich besprochen haben – kognitiv periphere Lösungsvorschläge in Gruppendiskussionen oft nicht gewürdigt werden. Märkte aber sind ein raffinierter Mechanismus, um genau jenem Problem entgegen zu wirken. Im Folgenden wollen wir argumentieren, dass Wettbewerbssysteme wie die Marktwirtschaft durch einen Prozess, den wir sequentielle Überzeugung nennen, das Problem des Conservative Bias überwinden können. Auf dem Markt hat eine Firma die Möglichkeit, verschiedene Kundentypen nacheinander zu überzeugen. Dieses ‚Nacheinander-Überzeugen‘ nennen wir sequentielle Überzeugung. Mit einem einfachen Modell kann die Idee von sequentieller Überzeugung am besten verdeutlicht werden. In dem Modell vergleichen wir eine Entscheidungssituation für einen Entrepreneur. Im ersten Fall stellt er seine innovative Idee einem Expertengremium vor, und im zweiten Fall testet er seine Idee unter Wettbewerbsbedingungen. Beide Foren bestehen jeweils aus drei Personen: Alf, Benni und Clemens. Alf ist interessiert an allen Produkten, die innovativ sind (r1). Benni ist an allen Produkten interessiert, die innovativ sind (r1) und einen zeitlich ausgedehnten Unterhaltungswert haben (r2). Clemens wiederum ist nur an Produkten interessiert, die r1, r2 und noch eine weitere Bedingung – Nutzen im beruflichen Alltag – r3 erfüllen. Wenn Benni und Clemens nun relativ risikoavers sind und wenig Imaginationskraft besitzen, können wir uns gut vorstellen, dass unser Entrepreneur in der Expertengruppe nur Alf überzeugen kann. Der Überzeugungsprozess im 25 Friedrich A. v. Hayek, „Individualism True or False“, in: Individualism and Economic Order, Hayek. Auburn, Ludwig von Mises Institute, 2009: 15.
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Markt sähe jedoch gänzlich anders aus. Angenommen, der Entrepreneur produziert in t1 die Innovation I und verkauft sie an Alf. Alf benutzt I vorwiegend zu Unterhaltungszwecken. Da Alf in t2 immer noch Spaß an I hat, besitzt nun auch Benni genügend Gründe (r1, r2) sich I anzuschaffen. Benni benutzt I jedoch nicht nur privat, sondern auch professionell. Clemens hat zwar bereits von I in t1 und t2 gehört, aber I bisher vor allen Dingen als Spielzeug für Geeks wahrgenommen. Die Verwendung von I im Büroalltag führt Clemens nun praktisch vor, dass I durchaus auch den Arbeitsalltag einfacher macht. Zwei Punkte sind hier wichtig: Der Markt ist in diesem Fall klüger als die Expertengruppe, weil der Markt durch die Möglichkeit sequentieller Überzeugung die schwache Imaginationskraft von Benni und Clemens ausgleicht. Ohne die Möglichkeit von sequentieller Überzeugung wäre I niemals produziert worden. Bevor wir uns damit beschäftigen wollen, diese Einsicht auf Solidarsysteme anzuwenden, wollen wir noch kurz auf die Fundierung von sequentieller Überzeugung eingehen. Das Problem, dass verschiedene Personengruppen unterschiedliche Risikoprofile aufweisen, ist keine rein philosophische Intuition, sondern Ausgangspunkt der Innovationsforschung. Die Innovationsforschung beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie die Gesellschaft auf innovative Produkte reagiert. Nach Everett Rogers, dem Vater der Innovationsforschung, werden innovative Produkte typischerweise mit zeitlicher Verschiebung von verschieden Gesellschaftsgruppen aufgenommen. In der ersten Phase interessieren sich typischerweise nur Innovatoren für ein neuartiges Produkt. Innovatoren sind, so Rogers, risikofreudig und haben meist ein überdurchschnittliches Budget. Sind die Innovatoren von einem Produkt überzeugt, wenden sich die Early Adopters zunehmend dem Produkt zu. Early Adopters sind ebenfalls eher risikofreudig und zudem besonders gut vernetzt und nehmen gesellschaftlich oft die Rolle von opinion leaders ein. Die Early Adopters sind diejenigen, die ein Produkt erst wirklich bekannt machen. Der Diffusionsprozess setzt sich von dort an fort und erreicht die Early and Late Majority und am Ende die sogenannten Laggards and Leap-Frogs.26 Wie in unserem Beispiel, geht man dabei davon aus, dass mit jedem weiteren Sprung, z. B. von den Early Adopters zur Early Majority, die Sphäre von evaluativer Unsicherheit für alle weiter reduziert wird. Die Reduktion von Unsicherheit selbst funktioniert dabei durch diverse Mechanismen, die wichtigsten sind: Vertrauen in Meinungsführer und Freunde, Trialability, Beobachtbarkeit und Zeit. Firmen wie Apple sind sich dessen bewusst, dass die ex-ante Evaluation ihrer zukünftigen Kunden, z. B. in Fokusgruppen, nicht unbedingt aussagekräftig ist. Jonathan Ive, der Senior VP des Apple Design-Teams, bringt Apples Skepsis wie folgt auf den Punkt: „We don’t do focus groups. They just ensure that you don’t offend anyone, and produce bland inoffensive products.“27
26 Everett M. Rogers, „Diffusion of innovations“ (5. Aufl.), New York, NY: Free Press: 282 ff.
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Fassen wir kurz das Ergebnis dieses Abschnitts zusammen. Sequentielle Überzeugung ist ein effektiver Mechanismus, um den Conservative Bias zu überwinden. Wie lässt sich diese Idee aber nun politisch interpretieren? Viele innovative Ideen zur Reformierung des Solidarsystems, die ex-post viel Zustimmung finden würden, werden heutzutage nicht diskutiert und umgesetzt, weil sie kognitiv-peripher sind. Ein Wettbewerb der Solidarsysteme dagegen könnte den Conservative Bias in der Politik durch den Mechanismus sequentieller Überzeugung abschwächen. Um ein Beispiel zu nennen: Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist sicher eine kognitiv periphere Idee in der Politik. Vermutlich wird sich diese Idee – selbst wenn sie ex-post überwältigende Zustimmung finden würde – im zentralistisch-demokratischen Prozess nicht durchsetzen. In einem Wettbewerb der Solidarsysteme wäre es jedoch durchaus möglich, dass sich etwa eine Stadt mit besonders progressiven Einwohnern (einer hohen Population an Innovatoren) zur Einführung des Grundeinkommens entschließt. Sollte sich diese Stadt nun wider Erwarten sehr positiv entwickeln, würde das sicher andere Städte (early adopters) dazu bewegen, diesem Beispiel zu folgen. Sollte sich das Konzept ex-post als Erfolg erweisen, kann man erwarten, dass auch Städte mit eher konservativer Bevölkerung eine Reform ernsthaft in Erwägung ziehen. So könnte sich eine politische Idee, die bei Wahlen vermutlich nur wenige Prozente erhielte, durch sequentielle Überzeugung durchsetzen. (2) Das motivationale Problem Wie wir im vorigen Kapitel erläutert haben, verhindern die Anreize innerhalb eines Diskurses oftmals, dass alle Teilnehmer ihr Wissen teilen. Der Markt lindert dieses Problem, indem er Anreize für Individuen mit peripheren Ideen schafft, sich zu beweisen. Wenn Anton der Meinung ist, dass der Personal-Computer Zukunft hat, selbst wenn Experten dies für eine törichte Idee halten, kann er sich am Markt versuchen. Dabei scheint prima facie zu gelten: Je ungewöhnlicher die Idee ist, desto weniger Konkurrenz ist zu erwarten. Das heißt auch, je ungewöhnlicher die Idee, desto höher die Gewinne im Fall des Erfolgs. b) Accountability Wie wir bereits besprochen haben, ist die Machtbeschränkung der Regierung durch institutionellen Wettbewerb ein klassisches Thema der Politischen Philosophie. Aus Platzgründen wollen wir uns hier auf die Besprechung zweier Argumente beschränken. (1) Moral Sozialsysteme können genauso wie alle anderen Systeme missbraucht und von Interessengruppen gekapert werden. Sozialsysteme können daher durchaus repres27 Simon Jary, „Apple’s Ive reveals design secrets“, online unter: http://www.macworld. com/article/1141509/jonathan_ive_london.html, 2009.
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sive Wirkung entfalten. Ein Wettbewerb der Sozialsysteme lindert dieses Problem prima facie durch zwei Mechanismen: In einem zentralistischen Sozialsystem gibt es für unterdrückte oder besonders verletzbare Minderheiten nur die Möglichkeit, sich über Wahlen oder generell über den politischen Diskurs Gehör zu verschaffen. Das Problem ist allerdings oft, dass gerade Randgruppen wie etwa Migranten oder Langzeitarbeitslose es besonders schwer haben, effektiv zu kommunizieren, weil sie nicht über effektive Kommunikationsorgane verfügen. Ein Wettbewerb der Sozialsysteme gibt unterdrückten Gruppen eine weitere Option, sich repressiven oder auch schlichtweg ineffektiven Sozialstrukturen zu widersetzen, nämlich durch den Austritt aus dem System. „Exit reduces vulnerability by increasing choice, and the possibility of exit helps to certify that relationships of mutual dependency – which are constitutive of social life as such – are not those of domination or neglect.“28
Gleichzeitig kann bereits die bloße Option auf Exit den regierenden Mehrheiten einen zusätzlichen Anreiz geben, die Minderheiten besser in den Politikprozess zu inkludieren und das Sozialsystem besser auf die Bedürfnisse dieser Gruppen abzustimmen. (2) Episteme Wie wir gesehen haben, ist es relativ schwierig für die Bevölkerung einzuschätzen, wie gut ihr Sozialsystem ist. Ohne Vergleichbarkeit bleibt dem Wähler nur wenig mehr, als Unwillen bei Wahlen kundzutun. In einem Wettbewerb der Sozialsysteme würde es indes mehrere Sozialsysteme parallel geben, was dem Wähler erlaubte, die Effektivität des eigenen Systems besser einzuschätzen. Die erhöhte Vergleichbarkeit, die durch Konkurrenzsysteme geschaffen wird, läuft in der Ökonomik unter dem Begriff Yardstick Competition. Yardstick Competition wird in der Ökonomik gemeinhin als besonders adäquates Mittel zum Abbau von Informationsasymmetrien zwischen Prinzipal und Agent betrachtet. Yardstick Competition im Wettbewerb der Sozialsysteme würde somit idealiter dafür sorgen, dass die Bürger ihre Informationsasymmetrie gegenüber Regierungen abbauen können. Veranschaulichen wir den Gedanken an einem Beispiel. Viele Bürger sind heutzutage sehr unzufrieden mit dem Schulsystem. Gleichzeitig versprechen die Parteien seit dreißig Jahren in jedem Wahlkampf erneut, das Schulsystem zu verbessern. Eines der zugrunde liegenden Probleme ist hier sicher, dass der Wähler zwar ein besseres Schulsystem möchte, aber keine klare Vorstellung davon besitzt, wie so ein besseres Schulsystem aussehen sollte. Fehlt aber ein klarer Maßstab für Erfolg, ist es praktisch unmöglich, die Regierungsarbeit objektiv zu bewerten. Wenn dem28 Mark E. Warren, „Voting with Your Feet: Exit-based Empowerment in Democratic Theory“, American Political Science Review, Vol. 105 (2011), No. 04: 696.
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gegenüber eine Partei verspricht, die Steuern zu senken, und es nicht tut, ist der Bruch des Wahlversprechens salient für die Wähler. Schauen wir uns den Fall „Schulreform“ im Wettbewerbssystem an: Wenn in einem der Subsysteme S ein innovatives Schulsystem erfolgreich getestet wurde, können Wähler in anderen Subsystemen ihre Präferenzen deutlicher kommunizieren. Und sicher ebenso wichtig ist, dass sie einen klaren Maßstab haben, an dem sie die Leistung der gewählten Volksvertreters festmachen können, nämlich: Ist das Schulsystem nach vier Jahren so gestaltet wie in S oder nicht? Yardstick Competition ist insofern ein Mittel zur Disziplinierung des Prinzipals. Wir möchten hier noch auf einen epistemisch tieferliegenden Punkt aufmerksam machen: Ohne Wettbewerb wüssten wir oft nicht einmal, was uns entgeht. Und das gilt sowohl für den Staatsplaner als auch für den Bürger. Der Ordnungsökonom Gerhard Wegner macht einen interessanten Punkt, der in dieselbe Richtung geht: „Wäre die ganze Welt bis heute nach dem Wirtschaftsprinzip der Sowjetunion oder der DDR organisiert, würde man gar nicht wissen, worauf diese Welt ökonomisch verzichtet, da die Möglichkeiten des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts mangels Freiheit im Dunkeln wären.“29
Gleiches gilt auch – in eingeschränkter Form – für den Sozialstaat. Durch das Fehlen von Experimenten mit Solidarsystemen wissen wir gesellschaftlich nicht einmal, was uns entgeht. Ein dritter Punkt, den der Verfassungsrechtler Ilja Somin in letzter Zeit verstärkt in die Diskussion gebracht hat, ist folgender: Die Möglichkeit, ein Sozialsystem zu verlassen, gibt dem Individuum einen zusätzlichen Anreiz, sich mit dem System auseinanderzusetzen. Fehlt die Möglichkeit, das System kostengünstig zu verlassen, gibt es zumindest aus Rational Choice-Sicht für das Individuum wenig Grund, sich intensiv mit dem System zu beschäftigen.30 Das Sozialsystem – auf diesen Punkt hat auch Buchanan verschiedenfach hingewiesen – wirkt für das Individuum wie das Wetter: Es ist etwas Naturgegebenes, etwas Äußeres, an dem man nichts ändern kann (zumindest dann nicht, wenn man der Systemänderung nicht sein Leben widmen möchte). Wenn das Individuum jedoch ohne allzu hohe Kosten zwischen verschiedenen Solidarsystemen wählen kann, dann ist es sinnvoll, sich mit den unterschiedlichen Vor- und Nachteilen der einzelnen Subsysteme auseinanderzusetzen. 5. Zusammenfassung Die Resultate unserer Überlegungen kann man folgendermaßen zusammenfassen: Ein Wettbewerb der Sozialsysteme innerhalb eines demokratischen Staates 29 Gerhard Wegner, „Hayek und die Konstruktivismusfalle“, online unter: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=14656,veröffentlicht 2014. 30 Ilya Somin, „Democracy and political ignorance: Why smaller government is smarter“, Stanford, CA: Stanford University Press, 2013.
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könnte dazu genutzt werden, innovative und potentiell leistungsfähigere Solidarsysteme zu entdecken. Wesentlich ist hier zu betonen, dass durch einen Wettbewerb der Solidarsysteme kognitiv periphere bessere Lösungen nicht nur eher „gefunden“ werden, sondern der Mechanismus der sequentiellen Überzeugung – der bei Zentralsteuerung nicht gegeben ist – wesentlich für die Realisierung der neuen Idee ist. Um diesen Punkt noch einmal anders darzustellen: Angenommen, in der Konkurrenz der Solidarsysteme würde ein Solidarsystem S3 gefunden, das unser heutiges System pareto-dominiert. So ein System würde sicher von vielen Wettbewerbern kopiert werden und sich mit der Zeit vielleicht im gesamten Land durchsetzen. Der wesentliche Punkt, den es hier gilt zu betonen, ist folgender: Vielleicht hat ein Wissenschaftler heute S3 bereits auf dem Papier ausgearbeitet. Da S3 aber kognitiv peripher ist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese Idee jemals ernsthaft politisch überdacht wird oder Zustimmung in der Bevölkerung findet. Die Möglichkeit zur sequentiellen Überzeugung ist in vielen Fällen also eine notwendige Bedingung dafür, dass sich S3 unter normalen Umständen durchsetzen kann. Hier haben wir einen Punkt erreicht, den Karl Homann bereits vorgedacht hat.31 Zugespitzt formuliert Homann: „Wer die Produktivität von Menschenrechten (noch) nicht erfahren [hat], den kann man von ihrer normativen Verbindlichkeit kaum überzeugen.“32 Das gleiche scheint für innovative Solidarsystemen und iPads zu gelten. Wer den Nutzen eines iPads oder eines bestimmten Solidarsystems nicht erfahren hat, wird schwerlich von einem neuen Solidarsystem – oder von technischen Gadgets – überzeugt werden können. Natürlich stellt sich die Frage, wer gesellschaftlich denn überhaupt bereit wäre, innovative Solidarsysteme auszuprobieren. Diese Frage bringt uns zurück auf unsere Diskussion aus dem ersten Teil. Dort haben wir gefragt, ob ein Wettbewerb der Solidarsysteme divergierende politische Ideale ähnlich fruchtbar machen könnte wie der marktwirtschaftliche Wettbewerb das Eigeninteresse. Die Diskussion in diesem Kapitel gibt uns nun einen klaren Anhaltspunkt, wie wir divergierende politische Ideale gesellschaftlich nutzbar machen können. Die normative Diversität ist im hier skizzierten Wettbewerbssystem Motor zur Besserstellung aller – und eine notwendige Bedingung für das Funktionieren von institutionellem Wettbewerb schlechthin. Wenn es keine normative Diversität gäbe, würde einem institutionellen Wettbewerb – metaphorisch gesprochen – schlichtweg der Treibstoff fehlen. Ein gut justierter Wettbewerb der Solidarsysteme könnte insofern die politische Kreativität der Menschen nutzen, anstatt sie, wie heute üblich, im Politikprozess zu zähmen.
31 Karl Homann, „Anreize und Moral: Gesellschaftstheorie – Ethik – Anwendungen“, Kapitel 4, Hrsg. v. Christoph Lütge, Münster: LIT 2003. 32 Karl Homann, Christoph Lütge, „Einführung in die Wirtschaftsethik“, 3., überarbeitete Auflage, Münster: LIT 2013, Kursiv wie im Original.
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III. Wettbewerb der Solidarsysteme: A Race to the Bottom? Im letzten Teil unseres Essays setzen wir uns mit einem zentralen Einwand gegen einen Wettbewerb der Solidarsysteme auseinander. Gerade in den letzten Jahren hört man immer wieder die Befürchtung, dass ein Wettbewerb von Sozial- oder Wohlfahrtssystemen unweigerlich zu einem race to the bottom führen würde. Einer der prominentesten Vertreter dieser These ist Hans-Werner Sinn. Sinn hat sich über die letzten zwanzig Jahre mit vielfältigen Beiträgen zu diesem Thema auch international zu Wort gemeldet.33 Er diskutiert dabei verschiedene Spielarten von SystemWettbewerb, z. B. den Wettbewerb von Sozialstandards, den Wettbewerb von Steuersystemen und den Wettbewerb von Wohlfahrtsstaaten. In diesem Abschnitt möchten wir uns exemplarisch mit Sinns These auseinandersetzen, nach der System-Wettbewerb, wie etwa in der EU, zur Erosion des Wohlfahrtstaats führt. Hans-Werner Sinn beginnt sein Buch New Systems Competition mit einer Unterscheidung zwischen alter und neuer Systemkonkurrenz.34 Die alte Systemkonkurrenz, so Sinn, war eine Konkurrenz zwischen Staaten mit geschlossenen Grenzen. Dieser Wettbewerb, so gesteht Sinn ein, habe unter anderem die Sowjetunion zu Fall gebracht. Der neue Systemwettbewerb, dem sich nun gerade die Staaten Europas stellen müssen, unterscheide sich von dem alten Systemwettbewerb vor allem durch offene Grenzen. Sinns Warnung vor einem möglichen race to the bottom basiert dabei auf verschiedenen ökonomischen Modellen. Um die Warnung von Sinn beurteilen zu können, müssen wir uns deswegen zuerst einmal die zentralen Annahmen anschauen, die seinen Modellen zu Grunde liegen. Ein der zentralen Annahmen in Sinns Modell ist das „Selection Principle“. Das Selection Principle stipuliert, dass der Staat nur Aufgaben übernimmt, die der Markt nicht übernehmen kann. Die Zielfunktion des Staates in den Modellen Sinns ist ferner die Maximierung des nationalen Wohlstands.35 Dieses Prinzip definiert aber einige Probleme weg: – Das Prinzipal-Agent Problem zwischen Staat und Bevölkerung – Das Problem der Unterdrückung von Minderheiten in der Demokratie – Alle epistemische Probleme bei der Wahl, Implementation und Ausgestaltung von Solidarsystemen
All die gesellschaftspolitischen Probleme, die der Wettbewerb bei Rousseau, Kant, Hume, Hayek, Buchanan, etc. lösen soll, existieren in den Modellen von Sinn nicht. Sinn definiert also genau die Probleme weg, die unsere Studie motiviert haben. Dass diese Probleme nicht in den entsprechenden Modellen existieren, ist trotzdem zunächst einmal unproblematisch, solange es Sinn vor allem darum geht, be33 Hans-Werner Sinn, „The new systems competition, Yrjö Jahnsson lectures“, Malden, MA: Blackwell Pub, 2003. 34 A. a. O., S. 1. 35 A. a. O., S. 9.
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stimmte kausale Beziehungen, die dem System-Wettbewerb unterliegen, zu isolieren. Wichtig ist nur, dass auf Grundlage von Modellen, die wichtige Variablen außer Acht lassen, auf keinen Fall abschließende politische Empfehlungen getroffen werden dürfen. Wie genau funktioniert aber nur das Erosions-Argument? Sinn betrachtet den Wohlfahrtsstaat als eine Art Versicherung. Diese Versicherung ist dabei nicht nur auf die Sozialversicherung beschränkt, sondern umfasst das ganze System moderner staatlicher Umverteilung.36 Jede funktionierende Versicherung besteht aus NettoEinzahlern und Netto-Profiteuren. Der Grund, aus dem Netto-Einzahler in eine Versicherung einzahlen, sei ökonomisch einzig und allein, dass die Netto-Einzahler exante nicht wüssten, dass sie Netto-Einzahler seien. Wenn Benni wüsste, dass er niemals einen Unfall bauen wird, würde er sich (gegeben, es gäbe keine Pflicht dazu) keine Kfz-Haftpflichtversicherung kaufen. Nach Sinn kann der Bürger – sobald er das arbeitsfähige Alter erreicht hat – bereits gut abschätzen, ob er Netto-Zahler oder Netto-Profiteur der staatlich organisierten Umverteilung sein wird. Wäre die Sozialversicherung privat, würden somit alle Netto-Zahler mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter die Versicherung verlassen. Solange der Staat mit Zwangsmitteln dafür sorgt, dass die Netto-Zahler auch tatsächlich ihre Steuern bezahlen, bleibt der Wohlfahrtsstaat stabil. Das Problem für den Wohlfahrtsstaat, so Sinn, beginnt mit der Öffnung von Grenzen. Mit der Öffnung der Grenzen wird jeder Staat – da er im Modell das Einkommen der Nation maximieren möchte – beginnen, um die NettoZahler anderer Staaten zu werben. Der Steuer-Wettbewerb treibt dabei die Steuerquote der Netto-Einzahler nach unten. Gleichzeitig haben die Netto-Profiteure einen Anreiz, in das Land zu gehen, in dem sie am besten versorgt werden. Im Endeffekt führen beide Prozesse dazu, dass dem Wohlfahrtsstaat immer weniger Mittel zur Verfügung stehen. Das Argument basiert damit noch auf zwei weiteren wesentlichen Axiomen. Zum einen sind die Modell-Akteure sehr mobil und zum anderen maximieren sie ihr Einkommen. Beide Annahmen – so zeigt uns die Erfahrung mit der EU – sind sehr stark. Wenn Individuen beispielsweise nicht Einkommen maximieren, sondern offene Nutzenfunktionen optimieren, werden sie nicht notwendig auf monetäre Anreize im Ausland – die es nötig machen, den Wohnsitz zu ändern – reagieren. Lebensqualität hat viele Faktoren. Trotzdem darf natürlich nicht übersehen werden, dass es in der Realität tatsächlich auch Gruppen gibt, denen es in erster Linie darauf ankommt, ihr Einkommen zu maximieren. Wie sollen wir nach Sinn dieser Gefahr begegnen? Interessanterweise ist Sinns Antwort auf das Problem der drohenden Erosion von Wohlfahrtsstaaten nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, den Systemwettbewerb zu unterbinden. Anstatt dessen begegnet er dem Problem überraschend pragmatisch mit dem „Prinzip der verzögerten Integration“. Sinn erklärt: 36
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„According to the principle of delayed integration, immigrants would immediately be included in the tax and contribution system of the host country and they would have free access to all public facilities and contribution financed social benefits. However, certain taxfinanced benefits such as social aid and subsidized government housing would be available only after a transition period of, say, seven years so as to secure a rough fiscal balance during this period of time.“37
Die Lösung des Ifo-Ökonomen ist dabei ganz im Sinne der Ordnungsethik und steht somit gar nicht in Widerspruch zu den hier vorgetragenen Überlegungen. Die Ordnungsethik ist nicht für Wettbewerb an und für sich, sondern für Wettbewerb unter einer gut justierten Wettbewerbsordnung.38 Das „Prinzip der verzögerten Integration“ könnte dabei ohne Weiteres ein tragendes Prinzip einer Wettbewerbsordnung der Solidarsysteme darstellen. Eine geeignete Wettbewerbsordnung für den Wettbewerb der Solidarsysteme kann dabei weder von der Ordnungsethik alleine zufriedenstellend ausgearbeitet werden noch von irgendeiner anderen Einzeldisziplin. Wie die Wettbewerbsordnungen in Wirtschaft und Wissenschaft kann eine Wettbewerbsordnung für Solidarsysteme nur das Produkt von interdisziplinärer Zusammenarbeit sein.
Summary Since the collapse of the Soviet Union, there is a wide consensus in society and science that a modern society cannot do without a market economy. The current political and academic debate revolves primarily around the question of what kind of social system a modern society needs. This question includes important normative as well as instrumental aspects. In this essay, we want to pursue the question of how modern societies can best achieve progress in both dimensions. The standard response – both politically and academically – is that we can improve our social system best through piecemeal engineering. According to the standard view, the improvements of our social system should be both democratically legitimized and put into effect nationwide. In this essay, we want to oppose this consensus and raise the question whether a competition between decentralized social systems would not be a more apt means to reach our shared goals. The motivating idea behind this essay is not to present a fully-fledged theory, but to question some of the standard presumptions for piecemeal engineering that is often directed against institutional competition in the realm of social systems.
A.a.O, S. 81. So auch in Christoph Lütge, Ethik des Wettbewerbs: Über Konkurrenz und Moral, München: Beck 2014. 37 38
Wohlfahrtsverbände und gesellschaftliche Solidarität – Problemdiagnosen zum Verhältnis von partikularen Hilfekulturen und Gerechtigkeitsansprüchen Wolfgang Maaser
I. Barmherzigkeit versus Gerechtigkeit? Der Freiburger Rechtsphilosoph Erik Wolf schrieb (im Anschluss an P. Gillet) vor mehr als vierzig Jahren: „La justice d’aujourd’hui est la charité d’hier; la charité d’aujourd’hui est la justice de demain.“1 – die Gerechtigkeit von heute ist die Barmherzigkeit von gestern; die Barmherzigkeit von heute ist die Gerechtigkeit von morgen. Im Gegensatz zu den häufigen Kontrastierungen von Gerechtigkeit versus Barmherzigkeit/ Liebe/ Wohltätigkeit nimmt er ihren Zusammenhang in den Blick. Demnach verdankt sich die Gestalt sowie das gegenwärtige Verständnis der Gerechtigkeit vergangenen Impulsen der Barmherzigkeit, während die gegenwärtige Barmherzigkeit Impulse für eine zukünftige Gestalt der Gerechtigkeit in sich trägt. Zwischen dem, was freiwillig an Hilfeleistungen erbracht wird, und dem, was rechtlich erzwungen wird oder auf welches rechtliche Ansprüche existieren, gibt es zwar eine Grenzlinie, allerdings ist diese nicht ein für alle Mal in ihren materialen Inhalten und vermutlich auch nicht in ihren Formen festgesetzt. Obwohl Übergangsprozesse und Transformationen in beide Richtungen denkbar sind, geht Erik Wolf davon aus, dass sich ursprüngliche Barmherzigkeitsimpulse in historischen Prozessen Stück für Stück in Gerechtigkeitsansprüche verwandeln und damit auch in Rechtsansprüchen sedimentieren. Was heute als selbstverständlicher Rechtsanspruch im Gerechtigkeitsbewusstsein der Bürger gilt, war vor 200 Jahren eine freiwillige, dem Mitleid geschuldete Hilfeleistung, auf die die Armen der Gesellschaft allenfalls hoffen durften. Aber auch die Gegenwart dokumentiert im internationalen Vergleich unterschiedliche kontextuelle Konfigurationen der Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, deren sichtbarste Konsequenz die unterschiedlichen Leistungsbreiten und Leistungstiefen des Sozialstaats sind, sofern wir ihn überhaupt voraussetzen können.
1 Wolf, Erik, Zur rechtstheologischen Dialektik von Recht und Liebe, in: ders., Rechtstheologische Studien, Frankfurt/ M.: Klostermann, 1972, 115 – 137, hier 136.
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Obwohl Barmherzigkeit und Gerechtigkeit differieren, stehen sie in einem Spannungsverhältnis, das eine dichotomische Gegenüberstellung nur unzureichend erfasst, denn die analytische Kontrastierung erkennt nicht die Wechselwirkungen und Rückkopplungsprozesse in den konfliktuösen und öffentlichen Diskursen. Die Spannung von vorpositiven, mit Subjekten verbundenen Moralvorstellungen einerseits und rechtlichen Normen andererseits, auf die Erik Wolf hinweist, erscheint zum einen als der Motor von rechtlichen Erweiterungen, zum anderen setzt sie einen untilgbaren Überschuss der Barmherzigkeit gegenüber der Gerechtigkeit voraus, der stets neue moralische Handlungsherausforderungen findet und erfindet. Zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entsteht ein Vermittlungsbereich, für den zumeist der Begriff der Solidarität geltend gemacht wird und dessen systematische Zuordnung und normative Reichweite unterschiedliche Beurteilungen erfährt.2 Liberale Theorien ordnen Solidarität im Regelfall systematisch der Seite der Barmherzigkeit/ Wohltätigkeit und Freiwilligkeit zu, verstehen sie im Prinzip als supererogatorisch, während andere Ansätze sie als Teil der Gerechtigkeitstheorie3 deuten. Die Zuordnungen des Solidaritätsbegriffs erfolgen unter Rückgriff auf die üblichen Gegenüberstellungen wie Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Partikularismus vs. Universalismus, positive Handlungspflichten vs. negative Unterlassungspflichten, Freiwilligkeit vs. Zwang usw. Die folgenden Überlegungen erkunden und vermessen das Spannungsfeld zwischen barmherzigkeitsmotivierten,der Gemeinschaftssolidaritätentspringenden Hilfeleistungen und geschuldeten, gerechtigkeitstheoretisch begründeten Ansprüchen. Sie nehmen vor allem Non-Profit-Einrichtungen, die einer in Umrissen erkennbaren partikularen Hilfekultur und -tradition verbunden sind, in den Blick. Ihre Organisationen mit mehr als 1,4 Millionen Beschäftigten haben sich in den heute bekannten Wohlfahrtsverbänden organisiert und werden von ihnen vertreten.
II. Wohlfahrtsverbände und partikulare Hilfekulturen Wohlfahrtsverbände und ihre Einrichtungen gehören zu den partikularen Gemeinschaften, die sich auf der Basis einer spezifischen Hilfekultur sowie eines entsprechenden Selbstverständnisses mit einer Vielfalt unterschiedlicher Hilfeleistungen in der Gesellschaft engagieren. Ihre Partikularität besteht – dies zeigen die kirchlich basierten Einrichtungen besonders deutlich – in ihrer aus einer Gemeinschaft und deren Praktiken beflügelten (ggf. religiösen) Helfermotivation und in ihren grundlegenden, identitätsstiftenden Narrativen, wie sich aus den jeweiligen Leitbildern entnehmen lässt. Im Bereich kirchlicher Wohlfahrtsverbände tritt die Besonderheit noch klarer hervor, da die Einrichtungen über die Mitgliedschaft im 2 Vgl. Bayertz, Kurt, Begriff und Problem, in: ders. (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1998, 11 – 53. 3 Vgl. Steinvorth, Ulrich, Kann Solidarität erzwingbar sein? in: Bayertz (Hrsg.), ebd., 54 – 85.
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Verband der verfassten Kirche zugeordnet sind.4 Die Einrichtungen agieren bis dato als Non-profit-Organisationen im Dritten Sektor5 und sind zumeist als gemeinnützige Vereine oder zunehmend auch als gemeinnützige GmbHs in Dachverbänden organisiert. Die Gemeinnützigkeit – sie ist bisher ein zentrales Kriterium der Zuordnung einer Einrichtung zum Verband – weist allerdings bereits auf eine Schnittstelle hin, in der sich die Partikularität bzw. die partikular begründete Hilfeleistung mit einem darüber hinausgehenden Gesichtspunkt berührt. Denn Gemeinnützigkeitskriterien haben einen Teilausschnitt gesellschaftlicher Akteure im Blick, bei denen ein spezifischer Überschreitungsanspruch Eingang in die Organisationsziele gefunden hat: Es wird angenommen oder unterstellt, dass diese Organisationen gemeinnützige Ziele verfolgen. Die Verfolgung gemeinnütziger Zwecke gilt als gegeben, wenn die Tätigkeit darauf ausgerichtet ist, „die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“6; der Personenkreis, dem die Förderung zugute kommt, darf daher nicht „fest abgeschlossen“ sein; zudem werden in den Bestimmungen eine ganze Reihe von „Förderungsgebieten“ genannt. Die Gemeinnützigkeitsbestimmung hat also bestimmte gesellschaftliche Akteure vor Augen, die sich durch die Verfolgung spezifischer Ziele auszeichnen und die deshalb gewisse Privilegien besitzen. Es sind Akteure, die neben anderen einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Die in diesem Zusammenhang verwendete wertorientierte Formulierung „selbstlos zu fördern“ klingt fast so, als ließe sich Opferbereitschaft qua Vereinssatzung empirisch feststellen und zertifizieren. Sie verdankt sich der traditionellen Gegenüberstellung von Altruismus vs. Egoismus und signalisiert heute eine schwer nachvollziehbare Koinzidenz von freiwilliger, partikularer, sich selbst aufopfernder Motivation und einer interessenlosen Orientierung am Anderen. Auch kirchliche Verbände verzichten angesichts der reflexiven Bearbeitung der eigenen Organisationsziele heute auf derart gesteigerte Selbstbeschreibungen und tragen den Altruismus7 rhetorisch wohl dosiert in ihr organisatorisches Selbstverständnis ein.
4 Vgl. Broll, Berthold, Steuerung kirchlicher Wohlfahrtspflege durch die verfassten Kirchen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999; ebenso Falterbaum, Johannes, Caritas und Diakonie. Struktur- und Rechtsfragen, Neuwied: Luchterhand, 2000. 5 Neben den Kennzeichnen der Institutionalisierung, des Nicht-Gewinn-orientiert-Seins und der Selbstverwaltung gehört auch die Freiwilligkeit zu den Signaturen von Nonprofit-Organisationen; vgl. Anheier, Helmut/ Salomon, Lester M., Zur Definition und Klassifikation des „Dritten Sektors“ intermediärer Organisationen, in: Bauer, Rudolph (Hrsg.), Intermediäre Non-Profit-Organisationen in einem neuen Europa, Rheinfelden/ Berlin: Schäuble 1993, 1 – 16. 6 Abgabenordnung § 52; download (1. 05. 2014): http://www.gesetze-im-internet.de/ao_1977/ index.html. 7 Vgl. Dahlstrohm, Daniel, Die altruistische Einstellung, in: Byrd, Sharon / Hruschka, Joachim / Joerden, Jan (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), Berlin: Duncker & Humblot, 1999, 73 – 92.
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1. Prozeduralisierung des Gemeinwohls unter pluralistischen Bedingungen Partikulare Hilfekulturen und ihre Organisationsformen erbringen ihre Hilfeleistungen als Teil einer pluralistischen Gesellschaft. Ihre Hilfeeinrichtungen vollziehen dies heute in einer modernen Gesellschaft, in der sowohl der Staat als auch die Kirchen ihr Definitionsmonopol auf das Gemeinwohl verloren haben.8 Infolgedessen modifizierte sich der Gemeinwohlbegriff heute zu einem unbestimmten Rechtsbegriff,9 dessen Konkretisierung erst in praktischen Aushandlungs- und Praxisprozessen Gestalt annimmt. Die materiale Anreicherung des Gemeinwohlbegriffs hängt von den jeweils herrschenden, für gut befundenen und geltend gemachten Ordnungsidealen ab.10 Konfessionalismus, Aufklärung und Säkularisierung haben im Ergebnis zu einer Prozeduralisierung und Entsubstantialisierung des Gemeinwohlbegriffs11 geführt; formale Verfahren und eine möglichst breite Beteiligung an der Aushandlung der Inhalte und den Entscheidungen lösen monopolähnliche Definitionsrollen und -ansprüche einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Akteure ab: Die Bestimmung des Gemeinwohls demokratisiert sich. Unter pluralistischen Bedingungen bleibt nur ein fortlaufender Aushandlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Infolgedessen entwickelt sich der Gemeinwohlbegriff zu einer zentralen Projektionsfolie, deren Gehalt einer kontextuellen Konkretisierung bedarf.12 Sie ist allenfalls eine Idée directrice, deren Materialität sich erst im Prozess bestimmt. In den in einer Demokratie notwendigen Aushandlungsprozessen bricht nun jene Diffusität auf, die sich durch die Gegenüberstellung von Wohltätigkeit versus Gerechtigkeit nur unzureichend erfassen läßt. Der Beteiligungsprozess unterschiedlicher partikularer Hilfekulturen in der Gemeinwohlbestimmung erscheint dann als eine der gesellschaftlichen Transformationsstellen, an denen die Wechselbeziehung von Barmherzigkeit/ Wohltätigkeit und Gerechtigkeit im Medium spannungsreicher und konfliktuöser Debatten prozeduralisiert wird. Hierin berühren sich eine freiwillig praktizierte, über sich selbst hinauswirkende und gemeinschaftsorientierte Solidarität mit gesamtgesellschaftlich relevanten Gerechtigkeitsvorstellungen. Was sind die Ausgangsbedingungen dieses Prozesses? Zu welchen Rückkopplungen und Wechselbeziehungen kommt es in diesen Vorgängen? Was geschieht in die8 Vgl. Münkler, Herfried/ Fischer, Karsten, Gemeinwohl-Konkretisierungen und Gemeinsinn-Erwartungen im Recht, in: Münkler, Herfried/ Fischer, Karsten (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, Berlin: Akademie Verlag, 2002, 9 – 23. 9 Vgl. Hofmann, Hasso, Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls, in: Münkler/ Fischer (Hrsg.), ebd., 25 – 41. 10 Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Gemeinwohlvorstellungen bei Klassikern der Rechts- und Staatsphilosophie, in: Münkler/ Fischer, ebd., 43 – 66. 11 Vgl. Hofmann (Fn. 9), 33. 12 Vgl. Hofmann, ebd. 25 f., spricht vorsichtiger vom ‚öffentlichen Interesse‘.
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sen Verknüpfungen? Warum sind sie für gesellschaftliche Problemlösungen überhaupt von zentralem Charakter? Offensichtlich lassen sich aus einer bloßen Gerechtigkeitstheorie nur wenige Prinzipien entwickeln, aus denen sich Regeln deduzieren lassen, die für alle gelten sollen. Sie ist notwendigerweise minimalistisch, da sie unter der geltend gemachten Unparteilichkeitsperspektive die Geltung von kontextuellen Gesichtspunkten programmatisch beiseite lassen muss. Umgekehrt gilt für die unterschiedlichen Partikularkulturen: Sie sind zu voraussetzungsvoll, so dass aus der Beobachterperspektive ebenso wenig einleuchtet, dass die jeweilige Auffassung vom guten Leben von allen geteilt werden und für alle gelten sollte. Insofern sind sie in gewisser Weise zu ‚maximalistisch‘, denn die zu Grunde liegende Vorstellung des guten Lebens umfasst in ihrem Selbstverständnis unterschiedliche Elemente, die über minimalistische Grundbestimmungen hinausgehen. 2. Vorstellungen vom guten Leben – Solidarität als Dimension des guten Lebens Hilfekulturen lassen sich als Teil einer jeweils partikularen Vorstellung vom guten Leben verstehen. Die zugrunde liegende Partikulargemeinschaft ist – idealtypisch rekonstruiert – eine moralische Welt im Kleinen, unter modernen Bedingungen aber nur eine von mehreren. Ihre explizite Theorie des gelingenden Lebens umfasst unterschiedliche Dimensionen: Derartige Gemeinschaften verfügen über Zielvorstellungen und Güterkonfigurationen, die sie für erstrebenswert halten. Ihre Mitglieder gewinnen hieraus „relevante Teile ihrer Handlungsorientierung und Handlungsmotivation“13. Sie pflegen entsprechende Einstellungen und Tugenden, um die sozialen Praktiken zu verstetigen und verfolgen eine begrenzt pluralistische Bandbreite von Lebensformen. Dies betrifft in der Konsequenz sowohl positive Handlungspflichten – Formen der helfenden Zuwendung, die in der Regeln über den gesellschaftlichen Standard hinausgehen –, aber auch negative Handlungspflichten – Handlungen, die unbedingt zu unterlassen sind –, da sie aus dem Selbstverständnis der Gemeinschaft heraus als etwas erscheinen, das das Gelingen selbst sowie die Rahmenbedingungen fundamental gefährdet.14 Insgesamt ergänzen sich güter-, tugend- und pflichtenethische Dimensionen15 in der Explikation derartiger Lebenskonzepte und bilden eine materiale Vorstellung vom Guten aus. Zudem sind die beteiligten Personen mehr oder minder ‚innerlich‘ verwickelt, identifizieren sich selbst als Teil der Gemeinschaft und bestärken sich durch interBayertz (Fn. 2), 13. So sind beispielsweise im Falle kirchlicher Gemeinschaften die Zehn Gebote Unterlassungspflichten; das Gebot der Nächstenliebe gilt hingegen als stetiges Stimulans positiver Handlungspflichten. 15 Zum Grundproblem dieser grundlegenden Mehrdimensionalität von Ethik vgl. Crämer, Hans, Integrative Ethik, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1992, 75 – 127. 13 14
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personale Kommunikation gegenseitig; interne Solidarität ist ein fester Bestandteil der Zugehörigkeit. Ein Zugehörigkeitsbewusstsein erfordert zumindest den Umriss eines expliziten Selbstverständnisses. Metaphorisch sprechen Gemeinschaften in Bezug auf die ihr Selbstverständnis handlungsleitenden Dimensionen zumeist von ihrem „Menschenbild“ als Kürzel für ihre handlungspragmatische Wertorientierung; letzteres ist somit ein sinnstiftender Teil ihrer Lebensvorstellung und insofern mit persönlichen Gewissheiten verknüpft. Die gemeinschaftsorientierte Solidarität und die positiven Handlungspflichten beziehen sich naturgemäß auf die eigenen Mitglieder, mit denen die Person im Großen und Ganzen ähnliche Interessen verfolgt,16 weisen aber in den meisten Fällen über den engen Horizont der Gemeinschaft hinaus. Besonders deutlich tritt dies im christlichen Hilfeverständnis heraus, das seit dem 19. Jahrhundert neue Organisationsformen wie den gemeinnützigen Verein17 aufgriff, um durch Hilfeleistungen in die Gesellschaft insgesamt hineinzuwirken und einen Beitrag zur gesellschaftlichen Solidarität zu erbringen. Trotz prinzipieller Freiwillig- und Ehrenamtlichkeit entstanden hierdurch wegweisende, auf diesen Solidaritätsbereich bezogene Verberuflichungsprozesse. Das seit der Weimarer Republik entstandene Duale System18 mit seiner Unterscheidung von freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege schrieb vor dem Hintergrund der sozialkatholischen Subsidiaritätsidee den aus den partikularen Hilfekulturen entstandenen Vereinen durch ihre verbandlichen Dachorganisationen, d. h. durch die Wohlfahrtsverbände, eine Sonderrolle zu. Diese Vermittlungsrolle zwischen partikularer Hilfekultur, zugestandener Gemeinnützigkeit und dem Wirken im Sinne des öffentlichen Interesses sollte bereits in den zwanziger Jahren den gesellschaftlichen Weltanschauungspluralismus abbilden und umfasste daher sowohl religiöse als auch humanistisch-philanthropische sowie sozialpolitisch motivierte Partikularkulturen.19 Ab den 1960er Jahren erfuhr dieser Bereich eine fast dreißigjährige gigantische Expansion,20 in der neben den klassischen Hilfekulturen weitere Partikulargemeinschaften mit entsprechenden Organisationen entstanden21, die ebenso geltend machten, im öffentlichen Interesse zu wirken.
16 Zur Ambivalenz einer gemeinschaftsorientierten bzw. gemeinschaftstypischen Solidarität vgl. Denninger, Erhard, Verfassungsrecht und Solidarität, in: Bayertz (Fn. 2), 325 – 327. 17 Vgl. Hardtwig, Wolfgang, Art. „Verein“, in: Brunner, Otto / Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe 6, Stuttgart: Klett Verlag 1990, 789 – 829. 18 Vgl. Sachße, Christoph, Verein, Verband und Wohlfahrtsstaat. Entstehung und Entwicklung der „dualen“ Wohlfahrtspflege, in: Sachße, Christoph / Olk, Thomas (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch, 2. Aufl., Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1996, 123 – 149. 19 Vgl. Boeßenecker, Karl-Heinz/ Vilain, Michael, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, 2. überarb. Aufl., Weinheim: Juventa, 2013. 20 Vgl. Anheier, Helmut K. / Seibel, Wolfgang, The nonprofit sector in Germany: between state, economy and society, Manchester: Mancherster Univ. Press, 2001. 21 Vgl. Zimmer, Annette, Vereine – Zivilgesellschaft konkret, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag 2007.
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III. Zivilgesellschaftlicher Rollenwechsel und gesellschaftliche Solidarität: Transformationen des Supererogatorischen Partikulare Hilfekulturen gewinnen durch ihre Organisationsformen und ihr Wirken eine öffentliche Funktion. Sie treten damit nolens volens in eine veränderte gesellschaftliche Rolle ein; so werden sie im Prinzip normale Arbeitgeber, obwohl der Tendenzschutz gewisse Einschränkungen erlaubt.22 Sie müssen professionelle, standardisierte und fachlich verantwortbare Hilfeleistungen erbringen und sind häufig durch Refinanzierungen in die staatliche Daseinfürsorge eingebunden. Infolgedessen sind auch sie selbst gut beraten, den Wechsel in die zivilgesellschaftliche Rolle zu reflektieren. Denn hier können sie die jeweils leitenden Gewissheiten einer quasi homogenen Vorstellung vom guten Leben nicht mehr voraussetzen; es gibt zum einen andere Organisationen und Hilfekulturen im Non-Profit-Sektor, deren Vorstellungen und Motivationen von den eigenen differieren, und zum anderen herrscht prinzipiell die Auffassung vor, Fragen des gelingenden Lebens als rein privatistisch und als keiner rationalen Dikussion zugänglich anzusehen.23 Jegliche partikulare Hilfekultur muss also im Rollenwechsel davon ausgehen, dass ihre reichhaltigen Vorstellungen vom guten Leben mitsamt ihrer auch der gesamten Gesellschaft zugute kommenden positiven Handlungspflichten allenfalls als begrüßenswert erscheinen, grundsätzlich aber als rechtfertigungsbedürftig gelten, wenn eine Gemeinschaft damit übergreifendere Geltungsansprüche ins Spiel bringt. Freiwillige, als nicht erzwingbar angesehene Handlungen unterliegen aus zivilgesellschaftlicher und aus der Beobachterperspektive einem grundsätzlichen Rechtfertigungsdruck, wenn sie als mehr als supererogatorisch begriffen werden. Aus der Teilnehmerperspektive heraus besitzen sie hingegen einen grundsätzlichen, auf das menschliche Leben im allgemeinen bezogenen Geltungsimpuls, dem ein grundsätzlicher Geltungsanspruch inhäriert. Demnach müssen sich unterschiedliche Partikularkulturen in der zivilgesellschaftlichen Rolle auf Dissense und konfliktuöse Diskurse einstellen. Denn auch ein gesamtgesellschaftliches, gemeinschaftsübergreifendes und rechtlich kodifiziertes Menschenbild lässt sich nur sehr begrenzt ausmachen. Versteht man unter ‚Men22 Vgl. Jähnichen, Traugott, Vom „Gotteslohn“ zum „Dritten Weg“ – Zur Vorgeschichte und Verabschiedung der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze,in: Henkelmann, Andreas / Jähnichen, Traugott / Kaminsky, Uwe / Kunter, Katharina, Abschied von der konfessionellen Identität? Diakonie und Caritas im Prozess der Modernisierung des deutschen Sozialstaats seit den 1960er Jahren, Stuttgart: Kohlhammer, 2013, 297 – 314; Klute, Jürgen / Segbers, Franz, Gute Arbeit verlangt ihren gerechten Lohn. Tarifverträge für die Kirchen, Hamburg: VSA Verlag 2006. Joussen, Jacob / Steuernagel, Marc-Oliver, Das Arbeits- und Tarifrecht der evangelischen Kirche, München: Beck 2012; Richardi, Reinhard, Arbeitsrecht in der Kirche. Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht, 6. neu bearb. Aufl., München: Beck 2012. 23 Einen Entwurf, der ohne substantialisierte Voraussetzungen die Frage der Lebensformen im Gegenüber zum liberalen, privatistischen Verständnis rehabilitieren will, hat Jaeggi, Rahel, Kritik der Lebensformen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2013, vorgelegt.
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schenbild‘ wie üblich eine mit substantiellen Gesichtspunkten angereicherte Konzeption des Menschen, so steht dies im Kontrast zu den sparsamen Umrissen, die die Verfassung vorgibt.24 Im Grundgesetz dominiert einerseits ein ‚negatives‘ Menschenbild, das bewusst auf essentielle Aussagen verzichtet, andererseits lassen sich jedoch in den unterschiedlichen rechtlichen Antworten auf spezifisch normativ aufgeladene Probleme und gesellschaftliche Regelungen (klassisch: Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik usw.) unvermeidliche substantielle Dimensionen ausmachen,25 die in die vorläufigen Problemlösungen eingeflossen sind. Es gibt daher sowohl im gesamtgesellschaftlichen Umgang mit normativen Herausforderungen als auch im grundsätzlichen Gesellschaftsverständnis Übergänge und Transformationen, die auf partikulare Überzeugungen von Gemeinschaften zurückverweisen. Zwar lässt sich einerseits unter pluralistischen Bedingungen die Idee einer Gemeinschaft mit ihren spezifischen Prägungen nicht auf die Gesellschaft übertragen;26 andererseits aber legt die Transformation der Gemeinschaftsidee in diesem Zusammenhang ein kooperatives Verständnis der Gesellschaft nahe, da moderne Gesellschaften durch ein vielfältiges Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten und Arbeitsteilungen auf Kooperationen angewiesen sind. Das Selbstverständnis einer Partikularkultur präformiert jedoch nicht nur die Umrisse ihres Gesellschaftsverständnisses, sondern ebenso die Wahrnehmung gesellschaftlicher Handlungsherausforderungen. Denn Partikularkulturen beobachten sich selbst und die Gesellschaft durch die Brille ihres eigenen normativen Selbst- und Solidaritätsverständnisses. So begriffen die Hilfekulturen des 19. Jahrhunderts die mit der Sozialen Frage auftretenden Problemlagen der Benachteiligten zunächst als Herausforderung zur eigenen praktischen Hilfeleistung und fanden dafür nützliche Organisationsformen.27 Dabei stimulierte das eigene normative Selbstverständnis ein problemidentifizierendes Wissen, mit dessen Hilfe sich die Konturen des Armutsproblems allmählich als gesamtgesellschaftlich relevantes Problem herausbildeten und am Ende als gesellschaftliche Herausforderung begriffen wurde. Probleme des öffentlichen Interesses oder des Gemeinwohls liegen heute wie damals nicht vor wie nackte Fakten; Hilfebedarfe und Hilfebegründungen entstehen nicht aus einem zufälligen Zusammentreffen einer diffusen Hilfemotivation und eviden24 Vgl. Stolleis, Michael, Das Menschenbild der Verfassung, in: Duncker, Hans-Reiner (Hrsg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, Stuttgart: Steiner, 2006, 369 – 378. 25 Ebd. 371 f.; vgl. auch Klinnert, Lars, Wozu Menschenbilder? Das ethische Selbstverständnis sozialer Organisationen zwischen Universalität und Partikularität, in: TuP 73, 2014, 12 S. 26 Zur Rezeption des Gemeinschaftsbegriffs des nationalsozialistischen Arbeitsrechts und des Begriffs der ‚Dienstgemeinschaft‘ im ev. Wohlfahrtsverband und Teilen der ev. Kirchen vgl. zahlreiche Belege bei Maaser, Wolfgang, Das Konzept und die Idee der Dienstgemeinschaft zwischen 1934 – 1952, in: Eurich, Johannes / Maaser, Wolfgang, Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik, Leipzig: Leipziger Verlagsanstalt, 2013, 308 – 370. 27 Vgl. Hardtwig (Fn. 17), 822 – 829.
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ten Situationen. Sie werden vielmehr ‚entdeckt‘, d. h. allererst als normative Herausforderung identifiziert und profiliert; erst infolgedessen werden unterschiedliche Problemlösungen diskutiert. Zug um Zug entwickeln sie sich zu einem öffentlichkeits- und politikrelevanten Problem. Besonders in komplexen Gesellschaften dürfen die problemidentifizierenden Dimensionen partikularer Hilfekulturen für die Entwicklung eines gesellschaftlichen Solidaritätsverständnisses nicht unterschätzt werden, da gesellschaftliches Elend in den komplexen Strukturen häufig unerkannt bleibt, verschwindet und damit gleichsam gar nicht existiert, weil keiner darüber öffentlich kommuniziert. Daher gehört zum zivilgesellschaftlichen Rollenwechsel neben der praktischen Akteursebene auch ein öffentlichkeitsrelevanter Beitrag zur gesellschaftlichen Kommunikation. Diese Dimension erhält allerdings nicht automatisch durch ihren öffentlichen Charakter i. w. S. den Charakter eines zivilgesellschaftlichen Beitrags. Wo nämlich die öffentliche Einlassung nur zur Kommentierung des eigenen supererogatorischen praktischen Wirkens gerät, um die Attraktivität der Partikulargemeinschaft umso attraktiver erscheinen zu lassen, da ist der zivilgesellschaftliche Rollenwechsel nur unzureichend erfolgt. In diesem Fall erscheint Solidarität als gesellschaftlich nützliche und moralische Außenseite der Gemeinschaft. Sie bleibt jedoch gemeinschaftsorientierte, interne Solidarität, da die Partikularkultur das eigene moralische Selbstverständnis noch nicht selbstkritisch im Medium anderer, fremder Auffassungen beobachtet – mit entsprechenden Ambivalenzen in der Außenwahrnehmung, wenn sie sich zum demonstrativen Altruismus steigert. Der zivilgesellschaftliche Rollenwechsel wird erst dann vollständig vollzogen, wenn sich der implizite Geltungsimpuls zum expliziten Geltungsanspruch ausweitet und alle Bürger von einer materialen Dimension interner Solidarität durch vernünftige Gründe überzeugt werden sollen. Erst hierdurch geraten die in das Spannungsgefüge von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit eingezeichneten Grenzlinien in Bewegung. Partikulargemeinschaften tragen in derartigen Beteiligungsvorgängen Aspekte interner Solidarität, die vorab und nicht a priori allgemeine Geltung beanspruchen können, gewissermaßen ‚versuchsweise‘ in den sozialpolitischen Diskurs ein und setzen sie damit auf die Agenda der gesellschaftlich auszuhandelnden Solidarität. In diesem Implementationsexperiment entsteht ein eigentümliches Zusammenspiel von diskursiver Prüfung, empirischer Kontextanalyse und tiefsitzenden Gerechtigkeitsintuitionen, in dem eine Erweiterung des gegenwärtigen Gerechtigkeitsverständnisses erprobt und sich ein zuvor der internen Solidarität zugeordneter Aspekt ggf. als transpartikularisierbar28 und als overlapping consensus29 unterschiedlicher Begründungen erweist. In der Konsequenz wird er dadurch für ‚politik28 Zum Begriff vgl. Dabrock, Peter, Befähigungsgerechtigkeit: ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischerPerspektive, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, 67 – 72. 29 Zu Rawls’ Begriff des overlapping consensus vgl. Kilan, Banu / Leuven, K.U., John Rawls’ idea of an ‚overlapping consensus‘ and the complexity of ‚comprehensive doctrines‘, in: Ethical perspectives 16, 2009, 21 – 60.
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fähig‘ erachtet, und entsprechende Mehrheitsverhältnisse bringen eine sozialpolitische Kontextualisierung auf den Weg, die dann ggf. veränderte Reichweiten, Grenzen, Leistungsbreiten und -tiefen der gesellschaftlichen Solidarität festgelegt.30 In diesem Vorgang kommt es zu einem Perspektivenwechsel, in dem nun die Frage, ob das Fehlen des zuvor als supererogatorisch Erachteten zur Verletzung eines freiheitsrelevanten Rechts führt und insofern Teil der Gerechtigkeitsfrage ist,31 eine leitende Funktion übernimmt. Die in freiwilligen Hilfeleistungen implizierte Problemanzeige wird in dieser Transformation von ihren partikularen Motivationen und gemeinschaftsbezogenen Begründungen losgelöst und einer gerechtigkeitstheoretischen Prüfung unterzogen. Einige Gerechtigkeitstheorien setzen heute begründungstheoretisch am normativen Gedanken individueller Freiheit an.32 Sie erkunden den Spielraum der gegeneinander abgegrenzten Freiheitssphären, akzentuieren negative Handlungspflichten und damit auch die Grenzen einer gesellschaftlich erzwingbaren, letztlich auch verrechtlichten Solidarität. Aber gleichzeitig implizieren sie in ihrem universalen, für alle geltend gemachten Freiheitsanspruch einen praktisch ausgerichteten Demokratisierungsanspruch, der auch die empirischen Realisierungsbedingungen der Freiheit von gleichberechtigten Rechtsträgern und der hierfür notwendigen Grundgüter betrifft.33 Unter diesem Blickwinkel umfasst die Kontextanalyse daher die Frage nach der fairen Verteilung von freiheitsrelevanten Lasten und Pflichten, nach sozialer Ungleichheit und ihren Auswirkungen auf substantielle Freiheitschancen, d. h. nach effektiver Chancengleichheit.34 Das Wissen um die Ursachen von Ungleichheit35 sowie die Ungleichheits- und Armutsforschung geben diesbezüglich facettenreiche Auskunft. 30 Konkrete Operationalisierungen internationaler Solidarität erweisen sich, wenn sie den eigenen Kontext berühren, als besonders strittig, da bereits gerechtigkeitstheoretische Begründungen zu Kontroversen führen. Zu Begründungsansätzen vgl. Rorty, Richard, Solidarität oder Objektivität?: drei philosophische Essays, Stuttgart: Reclam 1988; ferner Brunkhorst, Hauke, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2002. 31 Vgl. Steinvorth (Fn. 3), 66. 32 Z.B. Honneth, Axel, Das Recht der Freiheit. Grundriss der demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp, 2011, 33 – 126. 33 Vor diesem Hintergrund lässt sich das klassische, von einzelnen Non-Profit-Einrichtungen verfolgte Motiv der Sozialanwaltschaft bzw. die ‚vorrangige Option für die Armen‘ – jenseits von supererogatorischen Barmherzigkeitsmotivationen – als Anschub für die praktische Universalisierung des Zugangs zu relevante Grundgüter betreffenden Freiheitsmöglichkeiten verstehen. 34 Vgl. Dworkin, Ronald, What is Equality? Part 2: Equality of Resources, in: Philosophy and Public Affairs 10 (1981), 185 – 243. 35 Die analytische, sozialwissenschaftliche Durchdringung des Sozialen begreift ab dem 19. Jahrhundert soziale Kontingenzen und Gefahren zunehmend als „soziale Risiken“ und „gesellschafts- und lebenstypische Unsicherheiten“, „die alle betreffen, ohne ihnen individuell zugerechnet zu werden“ (Bonß, Wolfgang, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der
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Die soziale Kontextualisierung der Freiheit gehört aus freiheitsfunktionalen Gründen zur Gerechtigkeit. In den Anfängen moderner Sozialstaatsbegründung schrieb Hugo Sinzheimer: „Die Sozialbestimmung verdrängt nicht die Selbstbestimmung. Sie macht vielmehr die Selbstbestimmung durch die positiven Lebensmöglichkeiten erst wirksam, die sie eröffnet“36. Der im ‚für-alle‘ induzierte Demokratisierungsanspruch impliziert einen gesellschaftlichen Solidaritätsimpuls, da er – jenseits von Fürsorge und letzter Hilfe – die ungleichen Realisierungsbedingungen der Freiheit thematisch in den Gerechtigkeitsdiskurs einträgt.37 Er generiert damit je nach Ergebnis materiale Ansprüche auf gesellschaftliche Solidarität sowie umgekehrt positive Handlungspflichten der Gesellschaft, die, durch den Sozialstaat gesichert, zu einer vorläufigen „Institutionalisierung von Zwangssolidarität“38 führen. Die fortwährende und konfliktuöse Konfigurierung gesellschaftlicher Solidarität – zwischen barmherzigkeitsmotivierter, gemeinschaftsorientierter Solidarität und Gerechtigkeit – lässt sich als unabgeschlossener und stetiger Kontextualisierungsvorgang von Gerechtigkeitsprinzipien verstehen, an dem sich die partikularen Hilfekulturen beteiligen.
IV. Unterwegs zum Gemeinwohl Im Ergebnis vermag sich auf diesem Weg ein anfänglicher Barmherzigkeitsimpuls als Teil einer internen Solidarität aufgrund des gruppentranszendierenden, normativen Selbstverständnisses zunächst auf weitere Adressatenkreise ausweiten. Der hierin angezeigte Handlungsbedarf kann dann durch den Wechsel in eine zivilgesellschaftliche Rolle facettenreiche öffentliche Debatten und Analysen auslösen, die sich schließlich in eine kontextuelle Gerechtigkeitsdebatte verwandeln. Durch Sozialpolitik entwickeln sich hieraus ggf. verrechtlichte Ansprüche auf gesellschaftliche Solidarität wie umgekehrt positive Handlungspflichten des Sozialstaats. Was als gruppenorientierte Solidarität und supererogatorische Hilfeleistung begann, vermag so – von seinem anfänglichen Begründungs- und MotivationskonModerne, Hamburg: Hamburger Ed. 1995, 209). Zuvor unausrechenbare Gefahren werden in kalkulierbare Risiken verwandelt. Das Eintreten dieser elementaren Risiken der Industriegesellschaft ließ sich zunehmend kalkulatorisch erfassen und die Verteilung sozialpolitisch bewerten. 36 Sinzheimer, Hugo, Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. erw. u. umgearb. Aufl., Jena: G. Fischer 1927, 60. 37 So schon Ofner, Julius, Studien sozialer Jurisprudenz, Wien: Hölder 1894, 76: „Die Demokratie verlangt grundsätzlich den Sozialstaat, einen Organismus, der dem Rechtsstaat ähnelt, sich aber nicht wie dieser darauf beschränkt, das Mein und Dein zu erhalten, während er dessen Bildung dem Spiel der Gewalt und des Zufalls überlässt, sondern die gerechte, auf Gleichheit aller fußende Verteilung von Vorteilen und Lasten in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand seiner Fürsorge nimmt.“ (Hervorhebung im Original). 38 Preuß, Ulrich K., Verfassungstheoretische Überlegungen zur normativen Begründung des Wohlfahrtsstaates, in: Sachße, Christoph / Engelhardt, H. Tristam (Hrsg.), Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1990, 118.
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text losgelöst – in einem anwendungsorientierten Gerechtigkeitsdiskurs zu einem rechtlichen, freiheitsfunktionalen Sozialrecht eines gleichberechtigten Rechtsträgers transformiert werden.39 In diesen mehrstufigen Transformationsprozessen gewinnt eine gesellschaftliche Solidarität zwischen Barmherzigkeit/ Wohltätigkeit und Gerechtigkeit Gestalt, die sich weder allein aus ihren partikularen Anfangsimpulsen (bottom-up) noch allein aus ab-strakten Gerechtigkeitstheorien (top-down) deduzieren lässt. Institutionelle Erscheinungsformen gesellschaftlicher Solidarität wirken durch die normative Kraft ihres faktischen Vorhandenseins auch auf das Gerechtigkeitsbewusstsein. Sie beeinflussen die Gerechtigkeitsintuitionen und die Erwartungshaltungen der Bürger und erweitern sie im Regelfall. Daher greifen neben begründungstheoretischen Explikationen und empirischen Kontextanalysen auch Plausibilitätsdimensionen in den generierenden Transformationsvorgang ein, die sich auf das vorhandene Ethos und tiefsitzende moralische Intuitionen der Menschen beziehen. Was Normal Daniels für die ethische Urteilsbildung als Überlegungsgleichgewicht (wide reflective equilibrium) begreift,40 gilt auch für gesamtgesellschaftliche politische Deliberations- und Orientierungsprozesse, die zwischen partikularer Barmherzigkeitseinstellung und allgemeiner Gerechtigkeitstheorie die jeweilige Gestalt gesellschaftlicher Solidarität konfigurieren. Vorgängige Überzeugungen, tiefsitzende moralische Intuitionen und damit verwobene Hintergrundsüberzeugungen werden im Lichte von Gerechtigkeitsdebatten durch möglichst gleichberechtigte diskursive Debatten in ein vorläufiges Gleichgewicht gebracht. Das, was vorläufig als gesellschaftliche Solidarität festgelegt ist, ist das Ergebnis eines konfliktuösen Aushandlungsprozesses um die Kontextualisierung von Gerechtigkeit und in gewisser Weise das Ergebnis eines vorläufigen gesellschaftlich hergestellten, bestenfalls demokratischen Überlegungsgleichgewichtes. Dass neben der Gegenüberstellung von barmherzigkeitsorientierter, interner Solidarität und Gerechtigkeit die Verknüpfungen und Wechselbeziehungen im Vermittlungsbereich der gesellschaftlichen Solidarität stärkere theoretische Aufmerksamkeit verdienen, lässt sich m. E. auch umrisshaft aus den gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozessen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert rekonstruieren, die in die Entstehung und Weiterentwicklung einer dezidierten Sozialpolitik41 ein39 Im Grunde genommen führen die großen Solidaritätskonzeptionen des Sozialkatholizismus, der Arbeiterbewegung und des Sozialprotestantismus der Sozialpolitik ab dem 19. Jahrhundert fortwährend derartige Impulse zu, die dann sozialpolitisch auf unterschiedliche Weise, je nach gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, verarbeitet werden; vgl. Grebing, Helga / Euchner, Walter (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – katholische Soziallehre – protestantische Sozialethik: ein Handbuch, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag 2005; vgl. ebenso Hentschel, Volker, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880 – 1980: Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1983. 40 Vgl. Daniels, Norman, Reflective Equilibrium and Theory Acceptance in Ethics, in: ders., Justice and Justification. Reflective Equilibrium in Theory and Practice, Cambridge/ UK: Cambridge University Press, 1996, 21 – 46.
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mündeten: Auf der einen Seite überforderte die Entstehung der Sozialen Frage funktional die zumeist barmherzigkeitsmotivierten kirchlichen Hilfekulturen der Armenfürsorge; die Bewältigung der Ausmaße und die Folgen der Armut42 erforderten übergeordnetere Verantwortlichkeiten. Auf der anderen Seite schufen rechtsstaatliche Staatszweckbestimmungen allenfalls Rahmenbedingungen, die zur Bewältigung der Sozialen Frage nichts beitrugen. Die zunehmende Erosion gesellschaftlicher Kohäsion im Modernisierungsprozess löste Debatten um einen sozialen Staatszweck aus und setzte entsprechende Themen auf die öffentliche Agenda. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Deutungstraditionen: Die Abwehr eines absolutistisch-paternalistischenWohlfahrtsverständnisses43 lag vor allem auf der Linie des rechtsstaatlichen Liberalismus. Konservativ-soziale Traditionen nahmen den in der Französischen Revolution im Brüderlichkeitspostulat angestoßenen, gesellschaftlichen Solidaritätsgedanken44 auf, grenzten sich aber gleichzeitig gegen ihn ab und transformierten ihn wiederum in eine konservative Idee paternalistischer Wohlfahrt einschließlich ihrer Effekte der Sozialdisziplinierung; sie verliehen der gesellschaftlichen Solidarität deutlich ordnungspolitische Zielsetzungen.45 Die bürgerliche Sozialreform um Gustav Schmoller und Adolph Wagner strebte eine Position zwischen Liberalismus und Sozialismus an, um eine gesellschaftliche Polarisierung der Gesellschaft zu vermeiden.46 Immer breitere Bevölkerungsgeschichten, vor allem die Arbeiterbewegung, machten elementare Schutzbedürfnisse als notwendige gesellschaftliche Solidarität geltend, da sie sich zunehmend als politische Subjekte und Bürger begriffen.47 Vgl. Hentschel (Fn. 39). Vgl. Sachße, Christoph/ Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland II: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 – 1929, Stuttgart: Kohlhammer, 1988. 43 In exponierter Weise durch Kant: Kant nahm den kritischen Impuls bürgerlicher Emanzipation auf und lehnte die „väterliche Regierung“ und ihre ambivalente Fürsorgeaufgabe mit ihrem volkserzieherischen Charakter ab (vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis, in: Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Bd. XI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1977, 144). Er sah hierin eine Einmischung in die individuelle Lebensführung und begrenzte sein Staatsverständnis auf den formalen Rechtsstaat, während Wohlfahrt prinzipiell kein verallgemeinerbares Prinzip sei, „weil es dabei auf das Material des Willens ankommt, welches empirisch und … einer Regel unfähig“ ist (Kant, Immanuel, Der Streit der Fakultäten, in: Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Bd. XI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1977, 360). 44 Vgl. hierzu Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München: Oldenbourg, 1989, 43 f.; zu den Wurzeln der Solidarität im Gedanken der Brüderlichkeit vgl. Denninger (Fn. 16), 336 f.; ebenso Schieder, Wolfgang, Art. „Brüderlichkeit“, in: Brunner / Conze / Koselleck (Fn. 17), Bd.1, 552 – 581: hier 565 – 569. 45 Vgl. Woolf, Stuart, The Poor in Western Europe in the eighteenth and nineteenth centuries, London: Methuen, 1986, 20 – 31. 46 Vgl. Maaser, Wolfgang, Gesellschaftlicher Ordo zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. In: Zfwu15, 2014, 143 – 147. 41 42
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Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, sich teilweise berührenden oder überschneidenden Traditionslinien lässt sich die Sozialstaatsentstehung – unabhängig von dem bekannten politischen Kalkül Bismarcks und schließlich eingebettet in die demokratiepolitische Mandatierung von Bürgern – als zentral für die Transformation von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in gesellschaftliche Solidarität verstehen. Unter den Bedingungen moderner gesellschaftlicher Differenzierung schließt sie die Lücke zwischen lokalen internen Solidaritätspraktiken und abstrakten gerechtigkeitsbegründeten Rahmenbedingungen. Nach dem Wegfall konsensueller, übergeordneter substantieller Gemeinwohlvorstellungen und unter demokratischen Bedingungen erweist sich die Beteiligung von partikularen Hilfekulturen als gesellschaftliche Akteure als umso notwendiger; sie verleiht dem Gerechtigkeitsdiskurs zentrale Impulse durch reale, als normativ identifizierte Handlungsanforderungen und führt ihm materiale Dimensionen zu. Die praktischen Beiträge und Deutungen der Wohlfahrtsverbände und ihrer Einrichtungen stellen in diesem Kontext fruchtbare Unruhemomente dar, sofern sie sich an der Profilierung der gesellschaftlichen Solidarität beteiligen und, wie oben skizziert, in einem qualifizierten Sinne in die zivilgesellschaftliche Rolle eintreten. Ob die Vorstellungen vom guten Leben einschließlich des in sie eingelagerten Gemeinsinnimpulses ausschließlich den partikular motivierten ‚Treibstoff‘ für die Prozeduralisierung bilden,48 wäre vor diesem Hintergrund m. E. in einem weiteren Schritt zu überdenken. Vielleicht lassen sich Geltungsgründe und Motivation, Prozeduralisierung und Substantialisierung, Theorien des Rechten und Theorien des Guten doch nicht in der Schärfe trennen und unterscheiden, wie es häufig geschieht.
47 Vgl. Euchner, Walter, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil 1, in: Grebing / Euchner (Fn. 39), 15 – 598. 48 So vermag die Demokratisierung des Gemeinwohlbegriffs und die Annäherung an den Begriff des öffentlichen Interesses „zwar das Problem der Gemeinwohlbestimmung in geltungstheoretischer Hinsicht durch Prozeduralisierung“ zu lösen; „in motivationaler Hinsicht bleibt indessen das Problem bestehen, dass es einer je individuellen, aber subjektiv für allgemeingültig gehaltenen Vorstellung davon bedarf, was das Allgemeinwohl von Privatinteressen unterscheidet, damit die Bereitschaft zur prozeduralistischen Bestimmung pluraler Gemeinwohlbelange überhaupt hinreichend stark entwickelt wird und stabil bleibt.“ (Münkler, Herfried, Art. „Gemeinwohl“, in: Gosepath, Stefan / Hinsch, Wilfried/ Rössler, Beate [Hrsg.], Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 1, Berlin: de Gruyter, 2008, 389 f.).
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Summary The article analyses the relationship and interdependencies between charity and justice. This is an ongoing process which results in the generation of societal solidarity. The interrelationship takes the form of a continuous political discourse about social challenges which leads to the emergence of legal claims. Non-profit organisations make an important contribution to this process.
Die Armen zur aktiven Teilhabe befähigen – theologische und sozialethische Überlegungen zu einem partizipatorischen Solidaritätsbegriff Sonja Sailer-Pfister Solidaritätsforderungen tauchen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten immer wieder auf. Gefordert wird Solidarität mit sozial Schwachen oder seit dem Kriegsausbruch in Syrien mit Kriegsflüchtlingen. Papst Franziskus hat durch seinen Besuch in Lampedusa auf das Flüchtlingsproblem aufmerksam gemacht. Die Solidarität Europas ist gefragt. Solidarität wird auch im Kontext einer multikulturellen Gesellschaft gefordert. So feierte die Stadt Köln anlässlich des 10. Jahrestages des Nagelbombenanschlages der NSU in der Keupstraße am 9. / 10. Juni 2014 ein Kulturfestival mit dem Titel „Birlikte“ – zusammenstehen1. Das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Bürgerinnen und Bürger soll gestärkt werden. Bundespräsident Joachim Gauck betonte in seiner Rede die Solidarität der Vielen: „Ich danke allen Menschen, die für andere einstehen, wo extremistische Aggression sich zeigt. Im Alltag kann und muss jeder von uns etwas tun, damit Vorurteile und Hass das Miteinander der Vielen und der Verschiedenen nicht vergiften: nicht mitlachen über einen rassistischen Witz, nicht mitmachen bei übler Nachrede über die vermeintlich ,Fremden‘, nicht mitschweigen, wenn alle dröhnend schweigen. Sondern: Aufstehen und Zähne auseinander! Dieses Fest schafft etwas Großartiges: Es beantwortet den Hass der Wenigen mit dem Mitgefühl und der Solidarität der Vielen!“2
Soweit die programmatischen Worte des Bundespräsidenten. Handlungsfelder praktischer Solidarität gibt es in unserer Gesellschaft unzählige, aber auch eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Solidarität beschäftigt die beiden großen Kirchen immer wieder. Am 28. Februar 2014, 17 Jahre nach der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, starteten die beiden großen Kirchen erneut eine Sozialinitiative. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung eines Impulstextes schalteten sie eine Homepage: www.sozialinitiative-kirchen.de, auf der der Text diskutiert und kommentiert werden soll. Im Grundsatzkapitel „Orientierung aus christlicher Verantwortung“ des Impulstextes heißt es: 1 2
Vgl. http://birlikte.info (Zugriff am 14. 06. 2014). http://www.bild.de/regional/koeln/gauck-joachim(Zugriff am 14. 06. 2014).
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„Es gehört zur ältesten Tradition der Menschheitsgeschichte wie auch zum jüdisch-christlichen Erbe, sich Rechenschaft zu geben in Form ethischer Reflexion: Rechenschaft über ein gutes und gerechtes Zusammenleben, Rechenschaft über Wege und Institutionen, die Solidarität und die Orientierung am Gemeinwohl fördern … .“3 „Unsere Thesen sind getragen von der Überzeugung, dass ein von Solidarität und Gerechtigkeit getragenes Gemeinwesen im Sinne aller Glieder der Gesellschaft ist, ob arm oder wohlhabend. Die von guten Vernunftgründen gestützte Option für die Armen, die wir hier, wie im Gemeinsamen Wort 1997 unterstreichen, ist eine Option für die ganze Gesellschaft.“4
Solidarität gehört in beiden Dokumenten zu den zentralen ethischen Leitbegriffen der kirchlichen Sozialverkündigung. Das Solidaritätsprinzip wurde v. a. im Kontext der Arbeiterbewegung und der daraus resultierenden Sozialstaatsdebatten wesentlich durch die Katholische Soziallehre geprägt. Im Folgenden wird das klassische Sozialprinzip der Solidarität historisch und systematisch reflektiert. Sodann soll versucht werden, vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Herausforderungen, ausgehend von der theologischen Kategorie der „Option für die Armen“, einige Überlegungen zu einer Weiterentwicklung bzw. Reformulierung des Solidaritätsprinzips beizutragen. Ausgehend von der Begriffsgeschichte und der Grundlegung des Solidaritätsprinzips in der Sozialverkündigung der katholischen Kirche, soll Solidarität nicht paternalistisch gedacht werden als Sorge für die Bedürftigen, die als Objekte unseres solidarischen Handelns fungieren, sondern deren Subjekthaftigkeit in den Vordergrund gestellt werden. Die Bedürftigen, Notleidenden und Marginalisierten als Subjekte wahrzunehmen, bedeutet sie als aktive und gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft annehmen, Teilhabe zu gewähren, d. h. sie zur Partizipation befähigen, sie als Partnerinnen und Partner mit eigenen Vorstellungen, Bedürfnissen und Ansprüchen zu akzeptieren. Dann heißt Solidarität, sich von denen, die angeblich unserer Solidarität bedürfen, in Frage stellen zu lassen. Solidarität ist ein wechselseitiger Prozess der Teilhabe am Lebensgeschick des Anderen. Diese Vorstellung stellt gesellschaftliches Handeln vor neue Fragen und Herausforderungen, beinhaltet sie doch einen Perspektivenwechsel. Es wird nicht mehr für andere oder im Interesse der Anderen gehandelt, wie es im Allgemeinen mit „sich solidarisieren“ in Verbindung gebracht wird, sondern gemeinsam und in Auseinandersetzung mit ihnen. Betroffene haben möglicherweise andere Vorstellungen von dem, was für sie gut ist, als die, die sich für sie einsetzen, „sich solidarisieren“ wollen. „Sich solidarisieren“ würde dann heißen, eigene Vorstellungen, Überzeugungen und Privilegien zu hinterfragen, mit den „Armen“ Perspektiven zu entwickeln und gemeinsam zu handeln. Im Hintergrund dieses Unterfangens steht ein Verständnis der christlichen Sozialethik, die aufgrund ihres theologischen Fundamentes und ihrer Verwurzlung in der 3 Deutsche Bischofskonferenz / Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.): Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, Hannover/ Bonn 2014, S. 12. 4 Ebd., S. 13.
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christlichen Tradition einen Beitrag zu einer Theorie des Guten, die aus meiner Perspektive auch eine gesellschaftliche Vergewisserung im Hinblick von Solidaritätsvorstellungen beinhaltet, in einer pluralen Gesellschaft leisten kann. „Die Sozialethik kann den Sinnhintergrund einer christlichen Theorie des Guten und deren ethische Begriffe einwickeln, sie ,diskursfähig‘ formulieren und sie in einen pluralen gesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskurs einbringen, so dass sie dann von den Betroffenen her ihre Gültigkeit durch eine gerechte, konsensorientierte Normfindung erhalten.“ 5
Doch zunächst ein Blick auf die Entwicklung des Solidaritätsprinzips in der katholischen Tradition. Die katholische Tradition hat Solidarität nicht nur als Tugend, sondern als Sozialprinzip entwickelt, das genuin auf wechselseitige gesellschaftliche Abhängigkeiten verweist, die gestaltet werden müssen – also als ein reziprokes Prinzip verstanden.
I. Solidarität als reziprokes Prinzip – zur Entwicklung des Solidaritätsprinzips im Kontext der katholischen Sozialverkündigung und der christlichen Sozialethik Der Begriff der Solidarität war in der politisch-sozialen Sprache lange Zeit unbekannt. Er tauchte in Anlehnung an die römische Rechtssprache nur im Zusammenhang einer vertraglich geregelten Bürgschaft auf (obligatio in solidum). Erst im 19. Jahrhundert sollte der Begriff in Frankreich Karriere machen und zum politischmoralischen Leitbegriff avancieren.6 Pierre Leroux forderte als Erster die von der Kirche geforderte Mildtätigkeit zugunsten einer gegenseitigen Solidarität zu überwinden. Er kritisierte das paternalistisch-hierarchischeVerständnis von Wohltätigkeit und vertrat eine demokratisch-egalitär angelegte Idee von Solidarität, „die die unentrinnbare Verbundenheit der Menschen untereinander als Freie und Gleiche zur Sprache bringt.“7 V. a. die Arbeiterbewegung entwickelte daraufhin einen interessengeleiteten und handlungsorientierten Solidaritätsbegriff.8 Die gesellschaftliche Grunderfahrung, die zur Entwicklung eines Solidaritätskonzeptes führte, ist die Tatsache, 5 Mack, Elke, Globale Solidarität mit den Armen, in: Gabriel, Karl (Hrsg.): Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Bd. 48: Solidarität, Münster: Aschendorff Verlag 2007, S. 305. 6 Große Kracht, Hermann-J., „ … weil wir für alle verantwortlich sind“ (Johannes Paul II). Zur Begriffsgeschichte der Solidarität und ihrer Rezeption in der katholischen Sozialverkündigung, in: Krüggeler, Michael/ Klein, Stephanie/ Gabriel, Karl (Hrsg.), Solidarität – ein christlicher Grundbegriff? Soziologische und theologische Perspektiven, Zürich: Theologischer Verlag, 2005, S. 112 f. 7 Ebd., S. 113. 8 Kurt Bayertz bezeichnet diese als „Kampfsolidarität“. Vgl. ders., Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag, 1988, S. 40 – 48.
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dass durch die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft, durch den Prozess der Arbeitsteilung, durch Individualisierung und Pluralisierung komplexe soziale Gebilde entstehen, die die Menschen miteinander in Beziehung setzen und neue Abhängigkeiten schaffen.9 „Solidarität ist dann das Bewusstsein hochgradiger Komplexität und Abhängigkeit in der industriellen Gesellschaft, das sich allerdings nicht von selbst gegen den mit der Arbeitsteilung zunehmenden Individualismus durchzusetzen vermag. Hier beginnt die große Aufgabe des Staates, der gegen die mit dem Individualismus einhergehende Desintegration der Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt sichern muss, eben die Solidarität als moralische Dimension der durch die Industrialisierung bewirkten umfassenden Abhängigkeit des Einzelnen.“10
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund formierte sich zunächst die Bewegung des sog. Solidarismus und die Diskussionen über sozialstaatliche Strukturen entwickelten sich. Der Solidarismus vertrat als sozialphilosophisches Konzept den Anspruch, „eine Alternative zu liberalen und revolutionären Gesellschaftskonzeptionen in den Blick zu nehmen, um auf diese Weise Individualismus und Sozialismus, Besitzbürgertum und Arbeiterschaft miteinander zu versöhnen. Auf dieser Grundlage avancierte Solidarité … zu einem programmatischen sozialreformerischen Leitbild“11, das dem Wohlfahrtstaat in Frankreich zum Durchbruch verhalf. Beeinflusst von der solidaristischen Sozialphilosophie entwickelten im 20. Jahrhundert Heinrich Pesch und Oswald von Nell-Breuning das Konzept eines katholischen Solidarismus. Die Theorie sollte eine überzeugende Alternative zu den Extrempositionen liberal-individualistischerund sozialistisch-kollektivistischerGesellschaftsentwürfen darstellen. Ein drittes System, wie es Heinrich Pesch12 nennt. Auch wenn sich der katholische Solidarismus nicht durchsetzen konnte, war es sein Verdienst, wegweisende Impulse für die katholisch-soziale Denktradition beigesteuert zu haben. Er stellte eine wichtige Etappe auf dem Weg zum heutigen Sozialstaat dar. Nell-Breuning geht von einer „Gemeinverstrickung“13 des Menschen aus: „Die Gemeinschaft und ihre Glieder sind in das gleiche Geschick verstrickt (,wir alle sitzen in einem Boot‘). … Was die einzelnen tun, wirkt – gleichviel, ob gewollt oder nicht – auf die Gemeinschaft. Und was die Gemeinschaft tut oder lässt, das wirkt – wiederum gleichviel, ob bezweckt oder nicht – auf die einzelnen, die Glieder der Gesellschaft sind.“14 9 Vgl. Große-Kracht, Hermann-J. (Fn. 6): S. 115 f. Auguste Compte und Emile Durkheim haben diese gesellschaftliche Beobachtungen gemacht und einen soziologischen Solidaritätsbegriff entwickelt. Vgl. dazu: Metz, Karl H., Solidarität und Geschichte. Institution und sozialer Begriff der Solidarität in Westeuropa im 19. Jahrhundert, in: Bayertz, Kurt (Fn. 8), S. 176 – 180. 10 Metz, Karl H. (Fn. 9), S. 177. 11 Große-Kracht, Hermann-J. (Fn. 6), S. 117 f. 12 Vgl. ebd., S. 123. 13 Nell-Breuning, Oswald von, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg: Herder-Verlag, 1990, S. 17 – 29. 14 Ebd., S. 17.
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Solidarität verweist also auf die gegenseitige Abhängigkeit zunächst der Mitglieder einer Gesellschaft. Im Vergleich zu den französischen Soziologen legen die katholischen Solidaristen eine aristotelisch-thomistische, durch ein teleologisches Naturrecht geprägte Begründung der Solidarität zugrunde. „Der Mensch, wie Gott ihn erschaffen hat, ist schlechterdings kein selbstgenügsames Einzelwesen … Ganz im Gegenteil: der Mensch ist seiner Natur nach auf das Leben in der Gemeinschaft angelegt.“15
Vor diesem Hintergrund ist es evident, dass das Solidaritätsprinzip Eingang in die kirchliche Sozialverkündigung gefunden hat, explizit aber erst sehr spät. Lange Zeit hatte es keine eindeutige Bezugsstelle. Obwohl die Enzyklika Quadragesimo anno (1931) den katholischen Solidarismus gemäß der Vorstellung von Nell-Breuning rezipiert, findet sich in ihr keine Grundlegung des Solidaritätsprinzips. Eine dezidierte definitorische Festschreibung enthält erst die Enzyklika Centesimus annus (1991), in der „das Prinzip, das wir heute Solidaritätsprinzip nennen, … als eines der grundlegenden Prinzipien der christlichen Auffassung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung“16 bezeichnet wird. Thematisiert wird die Solidaritätsproblematik erstmals ausführlicher in der Entwicklungsenzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) im Kontext der Feststellung weltweiter Verflechtung und Abhängigkeiten. Ausganspunkt ist die Feststellung einer „tiefen wechselseitigen Anhängigkeit … Mehr als in der Vergangenheit werden sich die Menschen heute dessen bewusst, durch ein gemeinsames Schicksal verbunden zu sein, das man vereint gestalten muss, wenn die Katastrophe für alle vermieden werden soll.“ 17
Aus diesem Bewusstsein heraus folgen unmittelbar politisch-soziale Konsequenzen. „Wenn die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne anerkannt wird, ist die ihr entsprechende Antwort als moralische und soziale Haltung, als ,Tugend‘ die Solidarität. Diese ist nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah und fern. Im Gegenteil sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir für alle verantwortlich sind.“18
Diese Bestimmung betont v. a. den Charakter der Solidarität als Tugend und damit zunächst die personalethische Dimension der Solidarität. Die Christliche Sozialethik entwickelt Solidarität durch ihren Fokus auf gesellschaftliche Strukturen zu einem Sozialprinzip, denn als Ebd., S. 22. Johannes Paul II., Centesimus annus (1991) Nr. 10, in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB (Hrsg.): Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, Bornheim/ Kevelaer: Ketteler-Verlag/ Verlag Butzon & Bercker. 17 Johannes Paul II., Sollicitudo rei socialis (1987, zitiert als SRS), Nr. 38, 6, in: (Fn. 16). 18 SRS 38, 6 in: (Fn. 16). 15 16
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„sozialethisches Prinzip bezieht sich das Solidaritätsprinzip auf das Soziale … also auf den Bereich des Institutionellen … Dabei geht es einerseits um die rechtlich formellen Regelsysteme und Rahmenordnungen, in denen sich der Gesellschaftsprozess abspielt. Das Prinzip fordert, daß Solidarität in diese Regelsysteme und Rahmenordnungen eingelassen ist und sie prägt. Dazu kommen andererseits vielfältige informelle Institutionen, die sich auf freiwilliger Basis für Solidarität in der Gesellschaft einsetzen (z. B. karitativ-diakonische Institutionen, Netzwerke, soziale Bewegungen, nichtstaatliche Organisationen verschiedenster Art).“ 19
Für Arno Anzenbacher ist Solidarität nicht nur ein individual-ethisches, sondern wesentlich auch ein sozialethisches Prinzip. Somit spielt es auch auf der Ebene der Gerechtigkeit im Sinne von Rechtspflichten eine Rolle. „Sofern es im Solidaritätsprinzip um die Pflichten geht, die sich aus dem menschenrechtlichen Status der Person und Anspruch der Person für die Glieder der Rechtgemeinschaft und deren soziale Kooperation ergeben, ist Solidarität strikt Rechtspflicht, also auf der Ebene der Gerechtigkeit geschuldet.“20
Der Sozialethiker Isidor Baumgartner definiert das Solidaritätsprinzip folgendermaßen: „Solidarität bezeichnet in bestehenden Solidargemeinschaften eine wechselseitige Verpflichtung, des Einzelnen gegenüber der Gruppe und der Gruppe gegenüber ihren Mitgliedern. Solidarität wird daher oft auch in der Formel ,Einer für alle, alle für einen‘ gebraucht. In diesem Sinn kann man zu Recht von einem reziproken Prinzip sprechen.“21
Solidarität kann auch die Grenzen der eigenen Gemeinschaft überschreiten. In diesem Fall wird eine neue Zusammengehörigkeit konstituiert. Grundsätzlich kann durch Solidarität jeder zum Nächsten werden. Solidarität vollzieht sich keineswegs nur innerhalb bestehender Gemeinschaften, sondern kann und muss über sie hinausgreifen und muss sich auf den Anderen, auf den Fremden einlassen. Sich solidarisieren heißt dann: sich bewusst in die Lage anderer zu versetzen, sich für einen Fremden einsetzen, sich für ihn zuständig wissen, d. h. den eigenen Gruppenzusammenhang verlassen und eine neue moralische Gemeinschaft herstellen. Diese gruppenüberschreitende, sich öffnende Solidarität lässt Fremde an meinem Leben teilhaben, sie lässt sich auf ferne Not ein; sie kennt keine Grenzen. In ihr wird der Fremde zum Nächsten. Diese Art von Solidarität setzt Selbstüberwindung und Selbstüberschreitung voraus.22 Das Solidaritätsprinzip formuliert die wechselseitige Verpflichtung der Gesellschaftsmitglieder, ohne die der aus dem Personsein resultierende Anspruch jedes einzelnen auf Anerkennung nicht eingelöst werden kann. Diese Verpflichtung kann 19 Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn: Schöningh-Verlag, 1998, S. 198. 20 Ebd., S. 197. 21 Baumgartner, Isidor, Solidarität, in: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.), Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch. Bd. I, Regensburg, Pustet-Verlag 2004, S. 284. 22 Vgl. ebd., S. 284.
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nicht alleine durch eine tugendhafte Einstellung und caritatives Engagement der Einzelnen gewährleistet werden, sondern verlangt darüber hinaus die Einrichtung gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen, die der Ausrichtung und Angewiesenheit der Einzelnen auf soziale Kooperation und wechselseitige Unterstützung entsprechen. Die sittliche Grundidee gegenseitiger Verantwortung hat daher eine gesellschaftsethische und institutionenethische Dimension. Theologisch begründet wird diese Verpflichtung durch die Gottebenbildlichkeit, d. h. säkular gesprochen durch die Menschenwürde, die niemandem aberkannt werden kann und jedem Menschen als Person zuerkannt wird. „Solidarität erhält also erst durch ihre Hinordnung auf den Menschen als Person ihre tiefste moralische Rechtfertigung. Erst durch diese Hinordnung auf die Person wird Solidarität zu einem Prinzip der Gesellschaftsgestaltung.“23 Aus dieser Perspektive kann die Option für die Armen als Forderung der Solidarität postuliert werden.
II. Die „vorrangige Option für die Armen“ als theologische Begründung der Solidarität Die vorrangige Option für die Armen ist durch die Theologie der Befreiung als ethische Kategorie in den europäischen Diskurs eingebracht worden und wurde von der christlichen Sozialethik rezipiert. Jesus selbst hat sich mit den Armen und Leidenden solidarisiert. Er hat sich dezidiert auf die Seite der Armen und Notleidenden gestellt. So heißt es im Matthäusevangelium: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu Essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben, ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen … Amen, ich sage Euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 35 – 40)
Jesus identifiziert sich selbst mit den Armen und Marginalisierten. Diese Identifikation ist damit ein genuiner Ort der Gottesbegegnung. „Nachfolge Jesu bedeutet nicht nur seine Worte, seine Botschaft und seine Lebensart nachzuahmen, sondern das Skandalon ungerechtfertigter Verfolgung, ungerechtfertigten Leides und einer fundamentalen Armut ohne Auswege als kritisierbar zu erkennen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen.“24
Seit dem Pontifikat von Papst Franziskus tritt die Option für die Armen sowohl in seinem Handeln als auch in seinen Verlautbarungen programmatisch in den Vordergrund. In seiner ersten Enzyklika „Evangelii gaudium“25 wird das mehr als deutEbd., S. 289. Vgl. Mack, Elke (Fn. 5), S. 309. 25 Franziskus, Evangelii gaudium (2013). Apostolisches Schreiben des Heiligen Vaters an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, zitiert als EG. 23 24
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lich. Franziskus weist den „Armen“ in seiner theologischen Reflexion einen bevorzugten Platz zu. „Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen, dass er ,selbst arm‘ wurde (2 Kor 8,9). Der ganze Weg unserer Erlösung ist von den Armen geprägt.“26 Papst Franziskus verweist deutlich darauf, dass die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie darstellt, und dann erst eine kulturelle, politische und soziologische Kategorie ist. Gott gewährt den Armen seine Barmherzigkeit. Diese „göttliche Vorliebe“27 hat Konsequenzen für das ganze Glaubensleben aller Christinnen und Christen, die dazu berufen sind, dem Vorbild Jesu, der selbst arm war, zu folgen. Dabei stellt sich Franziskus dezidiert, bei aller anfänglichen Infragestellung und Umstrittenheit dieser befreiungstheologischen Kategorie seitens des Lehramtes, auf die Seite der Tradition der Kirche, die sich zur Anerkennung der Option für die Armen bekennt. So verweist er auf die Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ Papst Johannes Pauls II, in der es heißt: „Ich möchte hier auf eines davon besonders hinweisen; auf die Option und vorrangige Liebe für die Armen. Dies ist eine Option oder eine bevorzugte Art und Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt. Sie bezieht sich auf das Leben eines jeden Christen, insofern er dem Leben Christi nachfolgt: sie gilt aber gleichermaßen für unsere sozialen Verpflichtungen und daher auch für unseren Lebensstil sowie für die entsprechende Entscheidungen hinsichtlich des Eigentums und des Gebrauchs der Güter.“28
Auch Papst Benedikt XVI. betont, dass diese Option „im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten (ist S.-Pf.), der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen.“29 Daraus folgt für Franziskus der Wunsch nach einer „armen Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen.“30 Papst Franziskus gibt den Armen Subjektstatus, sie haben Teil, nicht nur an der Glaubensgemeinschaft, sondern sind Subjekt der Evangelisierung. Wir können und müssen von ihnen lernen. Option für die Armen heißt Teilhabe, Partizipation der Armen. Option für die Armen steht also für einen gegenseitigen Lernprozess jenseits eines jeglichen Paternalismus. Franziskus fordert daher nicht ausschließlich Taten und Förderungs- und Hilfsprograme, sondern „eine aufmerksame Zuwendung zum anderen … Diese liebevolle Zuwendung ist der Anfang einer wahren Sorge um seine Person, und von dieser Basis aus bemühe ich mich dann EG Nr. 197. EG Nr. 198. 28 Johannes Paul II. (1987): SRS Nr. 42, in: (Fn. 16). 29 Benedikt XVI. (2007): Ansprache zur Eröffnung der Arbeiten der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik, Nr. 3, AAS 99, zitiert nach: EG Nr. 198. 30 EG Nr. 198. 26 27
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wirklich um sein Wohl. Das schließt ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben … Der Arme wird, wenn er geliebt wird, ,hochgeschätzt‘, und das unterschiedet die authentische Option für die Armen von jeder Ideologie, von jeglicher Absicht, die Armen zugunsten persönlicher oder politischer Interessen zu gebrauchen.“31
So sind die Armen gleichberechtigte Partner, nicht bedürftige Objekte. Dann würde die ihnen zugesagte Teilhabe am Reich Gottes sich konkretisieren durch eine Teilhabe an den christlichen Gemeinden sowie an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und Machtstrukturen. Es würde ansichtig werden, dass das Reich Gottes nicht nur eine eschatologische Kategorie darstellt, sondern durch das Leben und das Vorbild Jesu schon angebrochen ist. Auf lokaler Ebene wurde die „Option für die Armen“ im sog. Wirtschaftshirtenbrief der US-amerikanischen Bischöfe (1986) formuliert. Dort heißt es: „Jede wirtschaftliche Entscheidung und Institution muss danach beurteilt werden, ob sie die Würde des Menschen schützt oder verletzt … Wir beurteilen jedes Wirtschaftssystem danach, was es für die Menschen leistet und an ihnen bewirkt und wie es die Teilnahme aller an ihm ermöglicht. Die Wirtschaft muss den Menschen dienen und nicht umgekehrt.“ 32
Ebenso formuliert das gemeinsame Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“: „In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.“33
Wäre das nicht ein Ansatzpunkt für ein stärker partizipatorisches Solidaritätsverständnis? Welche Konsequenzen könnte eine christliche Sozialethik daraus ziehen? EG Nr. 199. Nationale Konferenz der katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika. Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle: Die Katholische Soziallehre und die amerikanische Wirtschaft, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Bonn 1986, Nr. 13 (zukünftig zitiert als: US-Wirtschaftshirtenbrief). 33 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, eingeleitet und kommentiert von Heimbach-Steins, Marianne/ Lienkamp, Andreas, München: Bernward bei Don Bosco Verlag, 1997, Nr. 107. 31 32
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III. Solidarität und Teilhabe – Beteiligungsgerechtigkeit als Voraussetzung eines partizipatorischen Solidaritätskonzeptes 1. Beteiligung und Teilhabe in Dokumenten der Deutschen Bischofskonferenz Im Memorandum mit dem Titel „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit“ steht erstmals im deutschen Sprachraum in der Sozialverkündigung diese Kategorie im Mittelpunkt sozialethischer Reflexion. Das Dokument fordert nicht Solidarität im herkömmlichen Sinne, sondern prangert fehlende Teilnahmechancen an. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt käme es darauf an „allen – je nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten – Chancen auf Teilhabe und Lebensperspektive zu geben, statt sich damit zu begnügen, Menschen ohne echte Teilhabe lediglich finanziell abzusichern. Deshalb muss die Verwirklichung von Beteiligungsgerechtigkeit, die sich von der Würde des Menschen herleitet, oberste Priorität in dem politischen Reformprozess haben.“34
Der Begriff wurde allerdings durch die US-amerikanischen Bischöfe deutlich früher profiliert. Sie entwickelten in ihrem Wirtschaftshirtenbrief 1986 folgenden Zusammenhang: „Das Prinzip der Solidarität fordert, daß eine Abhilfe der Armut grundsätzliche Änderungen der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen voraussetzt, welche die enormen Ungleichheiten begünstigen und Millionen von Bürgern von echter Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen Prozess des Landes ausschließen. Dieser Umwandlungsprozess muß so geartet sein, daß er alle Bürger unseres Landes zu einer Gemeinschaft verbindet, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Status.“35
Des Weitern führen die Bischöfe aus, dass Armut nicht nur ein Mangel an Finanzmitteln ist, sondern auch „Ausschluß von vollständiger Teilnahme am wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben der Gesellschaft sowie die Unfähigkeit, Entscheidungen, die das eigenen Leben betreffen, zu beeinflussen.“36 Solidarität bedeutet hier ausdrücklich Teilnahme zu ermöglichen, die Menschen an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu lassen und sie zu befähigen, für sich selbst Entscheidungen zu treffen. Ähnliche Gedanken äußern wesentlich später die deutschen Bischöfe. „Ein Gemeinwesen … ist notwendig der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Es ist daran zu messen, ob es ihm gelingt, die gesellschaftlichen Strukturen so zu gestalten, dass allen Mit34 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Beschäftigung erweitern, Arbeitslose integrieren, Zukunft sichern. Neun Gebote für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Memorandum einer Expertengruppe berufen durch die Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen, Bonn 1998, S. 5. 35 US-Wirtschaftshirtenbrief (Fn. 32), Nr. 187. 36 Ebd., Nr. 188.
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gliedern die Chance zur Entfaltung ihrer individuellen Freiheit und damit ihrer Fähigkeiten gegeben wird. Deshalb muss es zur Teilhabe befähigen.“37
Die Forderung nach Teilhabe steht hier allerdings in einem anderen Kontext. Teilhabe wird nicht als Forderung der Solidarität entwickelt, sondern als Medium zur Realisierung der Freiheit. Deshalb auch die folgende Warnung: „Die Forderung, allen Teilhabe zu ermöglichen, bedeutet keineswegs Gleichmacherei. … Ziel ist … nicht Gleichheit, es muss vielmehr um Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit gehen.“38 Diese Aussagen haben eine andere Stoßrichtung. Bei aller Hochschätzung der Freiheit und der Angst vor Gleichmacherei, ist Teilhabe in einen Solidaritätskontext zu setzen und fordert strukturelles Umdenken. Die Kategorie Teilhabe soll nicht mit dem Argument der Freiheit aller, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen, zur Rechtfertigung von Ungleichheiten benutzt bzw. degradiert werden. Ermöglichung und Befähigung zur Teilhabe erfordert solidarisches Denken. 2. „Gerechte Teilhabe“ – Impulse aus der Denkschrift des Rates der EKD Theologisch-fundiert hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland mit der Problematik auseinander gesetzt. Sie stellt den Zusammenhang zwischen Teilhabe und Solidarität schon im Titel der Denkschrift her und äußert folgende Kritik: „Je nachdem welche Konkretion ihm (dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit S.-Pf.) gegeben wird, entscheidet sich, welche gesellschaftliche Option verfolgt wird. Wer die Ergebnisse des Marktes als ,Tauschgerechtigkeit‘ in Verbindung mit der Befähigungsgerechtigkeit ins Zentrum stellt, vertritt häufig ein Gesellschaftskonzept, das vorrangig an der Leistung des Einzelnen und der Verteilung der gesellschaftlichen Güter und wirtschaftlichen Möglichkeiten je nach Leistung orientiert ist. Wer auf der anderen Seite vor allem von Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit spricht, stellt die Frage, wie gesellschaftlicher Reichtum entstehen kann, ganz zurück und nimmt vor allem den gewünschten Endzustand in den Blick.“39
Natürlich sind beide Aspekte für eine sozial-ethische Reflexion wichtig. Aber die Gefahr, das Konzept der Teilhabe- bzw. Beteiligungsgerechtigkeit im Kontext einer Leistungsorientierung zu instrumentalisieren, ist gegeben. Das Konzept der Teilhabe- bzw. Beteiligungsgerechtigkeit zielt auf eine möglichst umfassende Integration aller Gesellschaftsmitglieder. „Niemand darf von den grundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenstän37 Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen: Chancengerechte Gesellschaft. Leitbild für eine freiheitliche Ordnung, Bonn 2011, S. 22. 38 Ebd., S. 22 f. 39 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hrsg.), Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Gütersloher Verlagshaus 2006, Nr. 59.
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digen Lebensführung, ausgeschlossen werden.“40 Als Beispiel wird der Arbeitsmarkt angeführt, denn die Integration in den Arbeitsmarkt bedeutet in einer erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaft Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Armut wird in diesem Dokument als „fehlende Teilhabe“41 definiert. Sie bezieht sich nicht nur auf materielle Güter, sondern auf Teilhabechancen in einer Gesellschaft. Durch das Konzept der Beteiligungsgerechtigkeit wird systematisch begründet, dass sich Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit sozialethisch nicht auseinanderdividieren lassen und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. „Der in dem Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit steckende Impuls zum sozialen Ausgleich ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Gestaltung der gesellschaftlichen Startbedingungen, die auch die Schwächeren zur Nutzung ihrer Chancen befähigt.“ 42 Durch Engführungen des Gerechtigkeitsverständnisses wird man einem sozialethisch fundierten Verständnis von Beteiligung und Teilhabe nicht gerecht. Reduziert man Gerechtigkeit auf Verteilungsgerechtigkeit, so entsteht Wohlfahrtspaternalismus. Eigenverantwortliches Handeln wird verhindert. Abhängigkeiten werden durch Geldzuweisungen lediglich verstärkt. Reduziert man Gerechtigkeit auf Befähigungsgerechtigkeit, so ignoriert man unterschiedliche durch soziale Gegensätze geprägte Ausgangspositionen und Startchancen.43 Teilhabe bzw. Beteiligung verbindet beide Aspekte, den Verteilungs- und den Befähigungsaspekt. Theologisch begründet wird Beteiligungsgerechtigkeit durch den Kerngedanken der vorrangigen Option für die Armen44, eine Kategorie, die auch ökumenisch konsensfähig ist.45 Zwei wichtige Präzisierungen der Option für die Armen sind für den Teilhabegedanken weiterführend: „Die Option für die Armen ist keine paternalistische Option. Sie hat vielmehr zum Ziel, die Armen so weit wie möglich zu befähigen, dass Marginalisierungstendenzen überwunden werden. Die Option für die Armen bezieht sich nicht nur auf materielle Armut. Sie bezieht sich auf alle Phänomene fehlender Teilhabe.“46
Daraus folgt für die konkrete Umsetzung der Option für die Armen, dass Ungleichheiten an Einkommen oder sozialer und politischer Macht nur dann zu rechtEbd., Nr. 60. Ebd., Nr. 61. Vgl. dazu auch: Sen, Amartya, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München / Wien, Hanser-Verlag 1999, S. 110 – 138. Sen definiert Armut als Mangel an Verwirklichungschancen, S. 110. 42 Ebd., Nr. 61. 43 Vgl. ebd., Nr. 61. 44 Vgl. ebd., Nr. 65 – 68. 45 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 107. Vgl. Fn. 33. 46 Gerechte Teilhabe Nr. 67. 40 41
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fertigen sind, „als diese den am meisten benachteiligten Menschen und Völkern bzw. den absolut Armen konkrete Chancen und Möglichkeiten der Partizipation an Globalisierung, der Teilhabe an öffentlichen Gütern und der Versorgung an Grundgütern des Lebens öffnen.“47 Gewährung von globaler Beteiligung der Armen ist notwendig. Elke Mack formuliert diese Forderungen im Rahmen eines globalen Kontextes, systematisch wichtig ist aber festzustellen, dass der Begriff „Teilhabe“ bzw. „Beteiligung“ konstitutiv ist. Solidarität, begründet durch die „Option für die Armen“, erfordert eine Konkretisierung durch Beteiligungsgerechtigkeit, durch gerechte Teilhabe. 3. Beteiligung oder Teilhabe – theologische Überlegungen zur Begrifflichkeit Teilhabe bzw. Teilhabegerechtigkeit legt einen neuen Fokus auf Ausschlussphänomene und Exklusion. Sich solidarisch verhalten heißt dann, Exklusion zu beseitigen durch Ermöglichung von Teilhabe. Die Forderung einer Teilhabegerechtigkeit impliziert eine Sensibilisierung für Ungleichheiten, nicht nur materieller, sondern v. a. sozialer Art. Der Ausschluss von Menschen aus gesellschaftlichen Prozessen z. B. durch Langzeitarbeitslosigkeit, durch Migration oder auch durch materielle Einschränkungen wird unter dem Aspekt der gerechten Teilhabe ethisch diskutiert. Teilhabe wird oft mit Beteiligung gleichgesetzt. Beide Termini werden nicht – so auch nicht in den bisher behandelten Dokumenten – begrifflich getrennt, sondern, da es doch viele Bedeutungsüberschneidungen gibt, nahezu synonym gesetzt. Doch wenn ich hier Solidarität als Befähigung zur Teilhabe umschreibe, geschieht das bewusst. Diese Problematik soll hier kurz aufgegriffen werden. Teilhabe ist mehr als Beteiligung. Der Begriff umschreibt eine umfassendere Dimension der Partizipation. Das normative Profil des Teilhabebegriffs ist nicht eindeutig, sondern sehr diffus. Hier soll Teilhabe in erster Linie im Zusammenhang gesellschaftlicher Integration verwendet werden, und nicht, wie es häufig geschieht, als im Kontext einer „abgemagerten Befähigungsgerechtigkeit“, so dass es jenseits einer basalen Teilhabe keine grundlegenden Gerechtigkeits- und Solidaritätsprobleme mehr gibt, da die Eigenverantwortung in den Vordergrund tritt.48 Dieses Verständnis zielt auf die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen und an der Bestimmung ihrer Regeln. In der christlichen Sozialethik wird dafür der Begriff Beteiligung49 verwendet, weniger Mack, Elke (Fn. 5), S. 310. Vgl. Reuter, Hans-Richard, Eigenverantwortung und Solidarität – Befähigung und Teilhabe. Zur neuen Gerechtigkeitssemantik in der evangelischen Sozialethik, in: Große-Kracht, Hermann/ Spieß, Christian (Hrsg.), Christentum und Solidarität. Bestandaufnahme zu Sozialethik und Religionssoziologie, Paderborn, Schöningh-Verlag, 2008, S. 516. 49 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 137. 47 48
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Teilhabe. Die Armutsdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands verwendet in ihrer sozialethischen Grundlegung den Begriff „Teilhabe“. „Der Begriff der ,gerechten Teilhabe‘ meint … umfassende Beteiligung aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft. Eine Verengung auf eine oder wenige Zieldimensionen der Teilhabe verbietet sich aus der Sache heraus.“50
Doch auch in diesem Dokument bleibt letztlich die begriffliche Differenz von Beteiligung und Teilhabe unbestimmt. Im Begriff der Teilhabe schwingt eine starke, theologisch gefasste Konzeption des Guten mit. „Teilhabe erinnert an die platonisch-christliche Metaphysik, da das höchste Wesen die geringerwertig und untergeordnet Seienden an der Fülle des Guten teilhaben lässt. Oder sie entstammt der Bildwelt des mystischen Leibes, an dessen Lebensprinzip die einzelnen Organe teilhaben. Aber weder feudale Hierarchien, noch bio-kybernetische Systeme passen auf demokratische Gesellschaften.51“
Dennoch halte ich es für bedenkenswert, Teilhabe in den Solidaritätsdiskurs einzubringen, und nicht nur Beteiligung. Die Armutsdenkschrift der EKD geht theologisch von einer geistgewirkten aktiven Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes aus. Biblisch wird dies ausgefaltet durch das Bild des Leibes und seiner vielen Glieder (1 Kor 12). „Gott gewährt den Menschen in der Kraft des Heiligen Geistes Anteil an der Fülle: Unterschiedliche Begabungen (die jedem einzelnen vom Geist verliehenen ,Charismen‘) befähigen Menschen, die ihnen in ihrer Lebenssituation gestellten Aufgaben zu erfüllen.“ 52
Diese theologische Grundlegung ist bedenkenswert, da angesichts vieler Ausgrenzungserfahrungen, Teilhabe begründet werden kann, die über Beteiligung hinausgeht. Denn Teilhabe heißt, als wichtiger und gleichwertiger Teil wahr- und ernst genommen werden, als unersetzlicher Teil des Ganzen. Dabei ist es elementar, die Fähigkeiten53 der Menschen zu entdecken und sie zur Teilhabe zu befähigen.
EKD (Hrsg.): Gerechte Teilhabe, Nr. 12. Diese Kritik stammt von dem katholischen Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, hier zitiert nach: Reuter, Hans-Richard, Eigenverantwortung und Solidarität, S. 518. 52 EKD (Hrsg.): Gerechte Teilhabe, Nr. 11. 53 Im Hintergrund dieser Diskussion steht auch der Befähigungsansatz von Martha Nußbaum. Ziel des Befähigungsansatzes ist, Bedingungen zu garantieren, die es dem Einzelnen ermöglichen, am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben aktiv zu partizipieren. Dies setzt voraus, dass die Menschen dazu auch die Fähigkeiten besitzen und in die Lage versetzt werden, eigene Lebensziele zu verfolgen. Vgl. dazu: Nussbaum, Martha, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a. M., Suhrkamp-Verlag, 72012. Solidarität setzt m. E. Fähigkeiten voraus, die es auszubilden gilt, bevor Teilhabe aller möglich wird. 50 51
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IV. Zusammenfassung: Solidarität als Teilhabe der Armen durch gesellschaftliche Integration und Anerkennung Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die gesellschaftliche Tatsache der Verwobenheit und Abhängigkeit der Einzelnen voneinander. Dies hat schon der Nestor der Katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning thematisiert. Solidarität stellt in der christlichen Sozialethik ein reziprokes Sozialprinzip dar, begründet durch die Gottebenbildlichkeit bzw. die unantastbare Würde des Menschen. Des Weiteren wurde Solidarität theologisch durch die „Option für die Armen“ begründet. Dabei ist besonders zu betonen, dass die Armen als Subjekte wahrgenommen werden und daher befähigt werden müssen, als Subjekte zu handeln. Um ein auf Reziprozität basierendes Solidaritätsverständnis realisieren zu können, müssen daher die Armen zur Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und Machtstrukturen in der Lage sein. Aufgrund dieser Überlegungen wurde in meinen Ausführungen Solidarität als die Armen, d. h. die Ausgeschlossenen und Marginalisierten, zur Teilhabe zu befähigen, konzipiert. Daraus ergibt sich als eine wichtige Forderung der Solidarität, gesellschaftliche Integrationsprozesse zu fördern und voranzubringen. Gelungene gesellschaftliche Integration findet dann statt, wenn die Anderen/ die Armen als gleichberechtigt und -wertig als Subjekte anerkannt werden. Anerkennung und Integration sind daher wichtige Bezugsgrößen dieses Solidaritätskonzeptes. Unsere multikulturelle und mit Flüchtlingsproblematiken konfrontierte Gesellschaft ist auf derartige Solidaritätspotentiale ihrer Mitglieder angewiesen. Ähnliche Gedankengänge und Konzepte werden auch im soziologischen Diskurs erörtert. Soziologisch gesehen steht Solidarität im engen Zusammenhang mit der Integration sozialer Systeme. Integration bringt immer die einzelnen Personen und eine normative Dimension zur Sprache. „ … es geht um Teilhabe- und Zugangsrechte, um die Frage, wieweit die verschiedenen Mitglieder einer Gruppe (Gesellschaft), deren materielle und kulturelle Ressourcen für sich nutzen können und in welchem Maße sie Zugang zu den in ihr institutionalisierten Rollen haben. Formen solidarischen Handelns sind häufig als Strategien zu verstehen, für einzelne Personen oder Teilgruppen den vollen Mitgliedschaftsstatus innerhalb der umfassenden Gruppe (Gesellschaft) zu erhalten oder zu erkämpfen.“54
In vielen gesellschaftlichen Diskursen erscheint Solidarität als Synonym für gesellschaftliche Integration.55 Ein solches Solidaritätsverständnis enthält m. E. eine wichtige Dimension angesichts einer pluralen, multikulturellen und -religiösen Gesellschaft. Solidarität ist eine gesellschaftliche Ressource. Sie tritt v. a. dann hervor, wenn die funktionale 54 Thome, Helmut, Soziologie und Solidarität: Theoretische Perspektiven für die empirische Forschung, in: Bayertz, Kurt (Fn. 8), S. 221. 55 Vgl. ebd., S. 223.
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Integration versagt oder zusammenbricht. Beispiele dafür sind freiwillige Helfer in sozialen Diensten oder Lohnverzicht, um den Bankrott eines Unternehmens abzuwenden. Der Zusammenhang von Solidarität und gesellschaftlicher Integration bildet eine interessante und weiter zu verfolgende Spur für ein Solidaritätsverständnis, das Partizipation und Teilhabe als konstitutiven Bestandteil postuliert. Diese sollte sowohl von soziologischer Seite als auch von theologischer Seite weiterverfolgt werden. Solidarität entspringt dem menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Streben nach möglichst uneingeschränkter Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zu einer Gesellschaft. So können Erfahrungen von Anomie und Marginalisierung pathologische Solidaritätsformen begünstigen56, denn „Zugehörigkeiten (sind S.-Pf.) eine wichtige Komponente in den Prozessen der Identitätsbildung und der sozialen Integration. Die reziproke Vergewisserung und Anerkennung persönlicher Identitäten setzen eine gewisse Dauer interaktiver Beziehungen voraus …“57 Damit einher geht eine andere Dimension des Solidaritätsgedankens, nämlich die der Anerkennung. Nicht nur das Bedürfnis der Zugehörigkeit, sondern auch das der sozialen Wertschätzung, d. h. der Anerkennung, ist für eine gelebte Solidarität wichtig. Selbstachtung hängt immer mit sozialer Anerkennung zusammen, die es Individuen ermöglicht, ihre Fähigkeiten und Besonderheiten positiv zu deuten, d. h. als ihre Identität. „Diese Anerkennungsform ist gebunden an die Existenz eines intersubjektiv geteilten Werthorizonts, denn ,geschätzt‘ wird eine Person nur wegen ihrer ,wertvollen‘ Beiträge zum Gemeinschaftsleben.“58 Axel Honneth schlägt daher drei Grundformen der Anerkennung vor (Liebe und Freundschaft, Zuerkennung von Rechten und soziale Wertschätzung), die er unter dem Oberbegriff Solidarität zusammenfasst. „Solidarität ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften … an die Voraussetzung von sozialen Verhältnissen der symmetrischen Wertschätzung zwischen individualisierten (und autonomen) Subjekten gebunden; sich in diesem Sinne symmetrisch wertzuschätzen heißt, sich reziprok im Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. Beziehungen solcher Art sind ,solidarisch‘ zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken: denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, daß sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“ 59
Solidarisch sein heißt in diesem Zusammenhang dann, den Anderen Anerkennung entgegen zu bringen, Anteil an ihrem Schicksal nehmen, und zwar aktiv, keine passive Toleranz. D. h. ich selber muss mich auf solidarische Prozesse einlassen, Ebd., S. 242. Ebd., S. 243. 58 Ebd., S. 234. 59 Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag, 72012, S. 209 f. 56 57
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die möglicherweise mein Denken und Handeln verändern. Gerade diese Art von Anerkennung der Anderen fordert die „Option für die Armen“, denn arm sind die, denen Zugehörigkeit und Anerkennung verweigert wird, denen die Möglichkeit entzogen wird, ihre Identität auszubilden. Bleibt ihnen Teilhabe verweigert, ist gesellschaftliche Desintegration die Folge, die massive negative Auswirkungen auf das Wohlergehen und die Entfaltung aller Gesellschaftsmitglieder hat. Eine christliche Sozialethik kann durch die „Option für die Armen“, die hier als Forderung der Teilhabe der Marginalisierten ausbuchstabiert wird, einen Beitrag zum Solidaritätsdiskurs in der Gesellschaft leisten. Durch die Reflexion soziologischer Überlegungen zum Thema Anerkennung und Integration kann eine gegenseitige Inspiration einer theologischen Sozialethik und soziologischen bzw. gesellschaftstheoretischer Überlegungen erfolgen, da Paralleldiskurse vorhanden sind. Solidarität als Teilhabe ist zunächst eine zivilgesellschaftliche Herausforderung. Teilhabe muss dann aber auch durch eine partizipative Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und in der Ausgestaltung unseres Rechtssystems sichtbar werden. Es geht nicht nur um eine Vorstellung des Guten, sondern auch um Teilhabegerechtigkeit. Dazu ist eine wirkliche Anerkennung der „Armen“ nötig, eine Anerkennung und Wertschätzung, die unsere eigenen Lebensweisen und Überzeugungen in Frage stellen und Verhaltensänderungen auf beiden Seiten erfordern. Solidarisches Verhalten ist damit ein wechselseitiger Entwicklungsprozess. Auch wir müssen bereit sein, von den Marginalisierten zu lernen und ihre Sichtweisen und Bedürfnisse ernst zu nehmen, etwas von uns herzugeben. Teilhabe und „Teilgabe“ im Sinne von „Teilhabe gewähren“ gehören daher zusammen!
Summary Many people call for solidarity in our society. Catholic social teaching focused on solidarity as key social principle. This principle is defined as a reciprocal one. Starting from the tradition of the catholic social teaching and from the latest Encyclical of Pope Francis “Evangelii gaudium”, solidarity is theologically justified with respect to the “option for the poor”. Participation is one important new issue regarding solidarity. Poverty, for example, is defined as lack of participation. Therefore, participatory justice is an important requirement for a reciprocal definition of solidarity. But not only participation in common sense, but to have part in a deeper most specific sense. It is constitutive for this understanding to be subject of acting and to have the capability to realize your own ideas of life. But something else is constitutive, too, namely to have the possibility to enforce your own interests. In this regard, solidarity means to enable and to empower the poor to be active and self-determined members of society. Solidarity then means to play an active role, and to have the chance to make own decisions.
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The aim of solidarity is social integration. One key demand of this concept is the recognition of others as subjects. Therefore, solidarity in action means sharing experiences, learning from each other and acting together. This idea of solidarity includes a change of perspective. To learn from the poor and the marginalized means to practice solidarity as “option for the poor”.
„The Social Nature of Existence“ Eine evolutionäre Metaphysik der Solidarität1 Michael Schramm Die „Solidarität“ ist ein Wort, das mit Begriffen wie der „Zeit“, der „Wahrheit“ oder der „Gerechtigkeit“ etwas gemeinsam hat: Man weiß, was sie meinen – aber nur irgendwie. Soll man klar und einfach beschreiben, was sie präzise bedeuten, gerät man rasch in sumpfiges Gelände. So notierte bereits Augustinus seinerzeit über den Begriff der „Zeit„: „Was ist also ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“2 Zum Begriff der „Wahrheit“ erklärte Karl R. Popper: „Was Wahrheit ist, weiß jeder.“3 Wenn nun aber definiert werden soll, was die „Wahrheit“ genauer ist, türmen sich Berge von Problemen auf und eine Legion unterschiedlicher und widerstreitender Wahrheitstheorien entsteht.4 Was Gerechtigkeit oder was „unfair“ ist, weiß schon jedes Kind – irgendwie. Gleichwohl hatte schon Aristoteles festgestellt: „‚Gerechtigkeit‘ und ‚Ungerechtigkeit‘ sind […] mehrdeutige Begriffe.“5 Und John Rawls muss lapidar einräumen: „[W]as gerecht und ungerecht sei, ist gewöhnlich umstritten.“ 6
Der Begriff der „Solidarität“ hat m. E. das Zeug, in diese Reihe ehrwürdiger und chronisch umstrittener Grundbegriffe aufgenommen zu werden. Aus diesem Grunde werde ich im Folgenden ganz grundsätzlich ansetzen und versuchen, einen plausiblen Vorschlag zu einer „Metaphysik der Solidarität“ zu entwickeln. 1 Hervorhebungen in Zitaten, die ich selber vorgenommen habe, werden mit einem Asteriskus (*) angezeigt. 2 Aurelius Augustinus (1980), S. 629. 3 Popper (1996), S. 116, nämlich die „Übereinstimmung des ausgesagten Sachverhalts mit dem tatsächlichen Sachverhalt“ (ebd., S. 116). 4 Um nur eine kleine Auswahl zu nennen: Adäquationstheorie, Korrespondenztheorie, Erfolgstheorie, „pragmatizistische“ Wahrheitstheorie, Evidenztheorie, semantische Wahrheitstheorie, empiristische Wahrheitstheorie, analytische Wahrheitstheorie, Redundanztheorie, Kohärenztheorie, Konsenstheorie und so weiter und so fort. 5 Aristoteles (1991), S. 96. 6 Rawls (1971 / 1979), S. 21.
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Ich werde hier die These vertreten, dass die Frage der „Solidarität“ am Ende des Tages ein metaphysisches Problem ist, um das man in Ethik und Recht nicht herumkommt, da dieses metaphysische Problem der – für Ethik und Recht gleichermaßen zentralen – Frage der „Gerechtigkeit“ logisch vorgeordnet ist; und zwar deswegen, weil vor der Frage, was innerhalb einer Gemeinschaft von Individuen eine für alle Beteiligten „gerechte“ Lösung sein könnte, zunächst einmal die Frage zu beantworten ist, wer überhaupt zu dieser Gemeinschaft zugelassen ist, wer also zur „Solidargemeinschaft“ dazu gehört – und wer womöglich nicht. Oder um die Formulierung des Themenschwerpunkts dieses Bandes („Grund und Grenzen der Solidarität in Recht und Ethik“) aufzugreifen: Um den „Grund“ der Solidarität in Recht und Ethik zu erörtern, bedarf es eines metaphysischen Begründungsdiskurses, um hingegen die „Grenzen“ der Solidarität in Recht und Ethik auszuloten, kommen wir nicht um dornige Anwendungs- & Implementationsdiskurse herum. Ich verfolge vor allem zwei Ziele: Zum einen soll gezeigt werden, dass die Solidarität ohne eine metaphysische (oder sogar: theologische) Be-gründ-ung („Grund“) in der Luft hängt. Und zum anderen geht es um die realistische Erkenntnis, dass hier und jetzt – jenseits von Eden – das „eigentliche“ Ideal universaler Solidarität nicht umsetzbar ist, sondern nur in „gebrochenen“ Formen wirklich werden kann, weswegen in Recht und Ethik die angesprochenen und leider Gottes auch ziemlich komplexen Anwendungs- und Implementationsdiskurse geführt werden müssen („Grenzen“). Ich beginne sozialwissenschaftlich (Abschnitt I.), wende mich dann den metaphysischen Grundlagen zu (Abschnitte II. und III.) und kehre schließlich zu den Sozialwissenschaften zurück (Abschnitt IV.). I. „NonZero“ und „Moral Truth“. Zu Genese und Geltung des Solidaritätsgedankens Dieser Abschnitt widmet sich nicht der semantischen Begriffsevolution von „Solidarität“ in der Moderne (vor allem seit den 1840er Jahren in Frankreich)7, sondern der systematischen Frage nach der empirischen „Genese“ und der moraltheoretischen „Geltung“ des Inhalts der Vorstellung einer Solidarität aller Menschen im Verlaufe der Menschheitsgeschichte.8 1. „NonZero“ Nicht nur in der Spieltheorie ist die Unterscheidung zwischen Nullsummenspielen („zero sum games“) einerseits und Positivsummenspielen („non-zero sum games“ oder „win-win games“) geläufig.9 Die üblich gewordenen Begriffsverwendungen Zur Begriffsevolution von „Solidarität“ vgl. etwa Wildt (1998); Wildt (1996). Konzeptionell greife ich hierzu vor allem auf die m. E. sehr instruktiven Ausführungen von Robert Wright (2000) & (2009) zurück. Zum thematischen Zusammenhang vgl. auch Dölken (2007). 7 8
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sind zwar streng genommen etwas problematisch, denn „Nullsummenspiele“ sind eigentlich keine „Nullsummenspiele“, sondern „fixed-sum games“10, und bei den „Positivsummenspielen“ müsste man eigentlich noch einmal zwischen „reinen Koordinationsspielen“ (bei perfekter Interessenharmonie) und „mixed-motive“-Spielen (mit gleichzeitig gemeinsamen und widerstreitenden Interessen der Spieler) unterscheiden.11 Gleichwohl bleibe ich hier einmal bei der einfache(re)n Unterscheidung zwischen Nullsummenspielen („zero sum“) und Positivsummenspielen („non-zero sum“) – hauptsächlich deswegen, weil sich diese Begrifflichkeit faktisch eingebürgert hat. Es dürfte ziemlich klar sein, dass es theoriestrategisch zweckmäßig ist, „Gesellschaft“ nicht im Nullsummenparadigma („zero sum“), sondern im Positivsummenparadigma („non-zero sum“) zu konzipieren, „Gesellschaft“ also als – zumindest potenzielles – Positivsummenspiel anzusehen. Und so ist es kein Wunder, dass genau dies bei – ansonsten ganz unterschiedlichen – Ökonomen, Juristen, Philosophen und Theologen geschieht. Ich nenne nur zwei – komplett unterschiedliche – Beispiele: Der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls konzipiert „Gesellschaft“ (society) als „a cooperative venture for mutual advantage“12. Theoriestrategisch durchaus ähnlich, obgleich mit Blick auf einen völlig anderen Gegenstandsbereich hat der (Prozess)Philosoph Alfred North Whitehead den Be9 Der Klassiker zu dieser Begrifflichkeit ist natürlich von Neumann / Morgenstern (1944 / 2004), wo in Chapter III bis VII die „zero-sum games“ und in Chapter XI die „non-zero-sum games“ grundlegend analysiert werden. 10 Völlig richtig notiert Ingo Pies (2009, S. 4, Anm. 3) zum Ausdruck „Nullsummenspiel“: „Streng genommen ist der Begriff ‚Nullsummenspiel‘ nicht ganz korrekt. Eigentlich müsste es ‚Konstantsummenspiel‘ heißen, um den hier interessierenden Sachverhalt auszudrücken, dass die Payoffs der Spieler in einem reinen Substitutionsverhältnis stehen, so dass der eine verliert, was der andere gewinnt. Summiert man die Payoffs, bleibt in der Spielsituation folglich die Summe konstant, und zwar unabhängig davon, ob diese Summe den Wert null oder ob sie einen beliebigen positiven oder negativen Wert annimmt.“ Zur Terminologie vgl. auch Wright (2000), p. 360. 11 Einschlägig hierzu vor allem der Ökonom und Nobelpreisträger Thomas Schelling (1960 / 1980), pp. 83 ff. Schelling unterscheidet nicht nur zwei, sondern eben drei Arten von Spielen: (a) „zero-sum games“ (p. 83*), in denen ein „pure conflict“ (p. 84) von Interessen zwischen den Spielern herrscht, dann (b) das „‚pure-collaboration‘ game“ (p. 84*) mit perfekter Interessenharmonie und schlielich (c) „nonzero-sum games“ (p. 83), die sich durch gemeinsame und widerstreitende Interessen bei wechselseitiger Abhängigkeit der Spieler voneinander (p. 83: „mutual-dependence games“) auszeichnen und die von Schelling später dann „bargaining games“ oder „mixed-motive games“ (p. 88) genannt werden. 12 Rawls (1971), p. 4. Ich stimme dieser noch deutungsoffenen Definition durchaus zu, nicht aber Rawls’ Präzisierung in Bezug auf die zur „original position“ überhaupt zugelassenen Parteien. Denn bei Rawls steht der Urzustand von vornherein nur für einen „Bereich des Normalen“ / „the normal range“ (Rawls 1993 / 2005, p. 25; dt.: Rawls 1993 / 1998, S. 93) offen, d. h. für „full and active participants in society“ (Rawls 1993 / 2005, p. 272, f. 10; dt.: Rawls 1993 / 1998, S. 384, A. 10). Geistig Behinderte hingegen „müssen draußen bleiben“: „Thus the problem of special health care and how to treat the mentally defective are aside“ (ibid.).
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griff der „society“ gefasst: Unter Rückgriff auf die Quantenphysik geht Whitehead zunächst von der Existenz kleinster Elementarprozesse (Elementar-„Teilchen“) aus, die er „actual entities“ oder „actual occasions“ nennt.13 Was wir nun aber in unserer normalen Alltagserfahrung erleben, sind ja nicht diese elementaren Mikroprozesse, sondern weitaus größere Gebilde wie etwa Steine, Bäume, Menschen oder Planeten. Diese komplexeren und auch beständigeren Dinge dieser Welt auf der makrokosmischen Ebene nennt Whitehead „societies“14. Der in unserem Zusammenhang nun springende Punkt besteht in der Tatsache, dass Whiteheads Kosmologie all diese „Gesellschaften“ als (potenzielle) „Positivsummenspiele“ ansieht. Den Grund, warum sich die Elementarprozesse überhaupt zu „societies“ zusammenschließen, sieht Whitehead gewissermaßen in „potential gains“: Die Vergesellschaftung stellt als Kooperationsgewinn eine höhere „Intensität“ des Existierens in Aussicht. „This intensity arises by reason of the ordered complexity of contrasts.“15 Bleiben wir aber im Moment noch bei der sozialwissenschaftlichen, also auf menschliche „Gesellschaften“ bezogenen Begriffsverwendung. Wie viele Ökonomen oder Ethiker hat auch der US-amerikanische Sachbuchautor Robert Wright in zwei wirklich lesenswerten Büchern das Konzept des „NonZero“ zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur kulturellen Evolution gemacht.16 In beiden Büchern sowie in diversen online-Talks verficht Wright – obgleich mit jeweils unterschiedlichen Akzenten – die folgende These: „[T]here is a moral dimension to history; there is a moral arrow. […] Capitalism has been a constructive force, […] it’s a non-zero-sumness that has been a constructive force in expanding people’s realm of moral awareness. […] [I]t has driven us to the verge of a moral truth.“ 17
Wright argumentiert, dass die „NonZero“-Logik, also die Win-Win-Logik menschlicher (Markt)Kooperationen auf der einen Seite und der moralische Fortschritt in Richtung einer „moral truth“ auf der anderen Seite zwei Dinge sind, die in ihrer empirischen „Genese“ zusammenhängen, in Bezug auf ihre Inhalte aber, insbesondere in Bezug auf die moraltheoretische „Geltung“ dieser „moral truth“ zu unterscheiden sind. Ich wende mich zunächst der „NonZero“-Logik zu. Wright zielt darauf ab zu zeigen, dass es diese „NonZero“-Logik war, die zunächst die biologische Evolution18, 13 „This epoch is characterized by electronic and protonic actual entities, and by yet more ultimate actual entities which can be dimly discerned in the quanta of energy.“ (Whitehead 1929 / 1978, p. 91; dt. Whitehead 1929 / 1984, S. 180) 14 „The real actual things that endure are all societies. They are not actual occasions.“ (Whitehead 1933 / 1967, p. 204) 15 Whitehead (1929 / 1978), p. 100*; dt. Whitehead (1929 / 1984), S. 195 f. 16 Ich beziehe mich hier auf Wright (2000) und Wright (2009). 17 Wright (2006). 18 Der evolutive Mechanismus im Bereich der biologischen Evolution wäre hierbei der, dass sich NonZero-Kooperationen für die Lebewesen (Genträger) auszahlen und damit mit ei-
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dann vor allem aber auch die kulturelle und hier wiederum vor allem die ökonomische Evolution vorangetrieben hat: „My hope is to illuminate a kind of force – the non-zero-sum dynarnic – that has crucially shaped the unfolding of life on earth so far.“19
Natürlich handelt(e) es sich hierbei nicht um eine lineare Entwicklung der perfekten Ausschöpfung von jeweils real möglichen Kooperationsrenten.20 Denn: „Human history, after all, is notoriously messy. […] Still, on balance, over the long run, non-zero-sum situations produce more positive sums than negative sums, and more mutual benefit than parasitism. As a result, people become embedded in larger and richer webs of interdependence.“21
Die Menschheitsgeschichte lässt sich darstellen als ein (nicht-linearer, aber schlussendlich im Sinne der NonZero-Logik doch gerichteter) Prozess der Ausweitung wirtschaftlicher(und politischer) Kooperationen bis hin zur heutigen Globalisierung. Zunächst kooperierten beispielsweise vor 2.500 Jahren nur die Mitglieder eines griechischen Stadtstaates miteinander. Dann entdeckten sie, dass in der ökonomischen Zusammenarbeit mit Mitgliedern anderer griechischer Stadtstaaten Win-WinPotenziale steckten. Aus diesem Grunde anerkannte man dann alle Griechen als respektable Partner in wirtschaftlichen Kooperationen. Griechen wurden nicht mehr als Feinde betrachtet – Feinde waren nurmehr beispielsweise die Perser. Es ist interessant, dass diese „NonZero“-Logik auch bereits von Charles Darwin erkannt wurde: „As man advances in civilization, and small tribes are united into larger communities, the simplest reason would tell each individual that he ought to extend his social instincts […] to all members of the same nation, though personally unknown to him.“ 22
Die „einfachste Vernunft“ („the simplest reason“), von der Darwin hier spricht, ist die ökonomische Vernunft, die in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aufgrund der „NonZero“-Logik Kooperationsrenten wahrnimmt und realisiert: The „non-zero-sum opportunities […] are exploited for the sake of self-interest […]. That‘s the magical thing about non-zero-sumness; it translates rational selfishness into the welfare of others.“23
Unschwer lässt sich in dieser Formulierung Wrights die „invisible hand“ von Adam Smiths Beschreibung der Marktlogik wiedererkennen. Aufgrund der „Nonnem Selektionsvorteil verbunden sind, wodurch wiederum die Gene dieser kooperierenden Lebewesen besser überleben konnten als andere. 19 Wright (2000), p. 5. 20 „Non-zero-sumness is a kind of potential – a potential for overall gain, or for overall loss, depending on how the game is played.“ (Wright 2000, p. 7) 21 Wright (2000), p. 5 f. 22 Darwin (1871), p. 100 (Chapter III). Ich komme auf diese Textstelle nachher noch einmal zurück, da Darwin im Anschluss noch sehr interessante ethische Überlegungen anstellt. 23 Wright (2009), p. 428.
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Zero“-Logik führte „the simplest reason“ die Menschheit bis zur heutigen Globalisierung: This is „the way of the world in the age of globalization: more and more people getting intertwined in non-zero-sum relations.“24
2. „Moral Truth“ Bei der Logik von „Nonzero“ handelt es sich um eine Logik der „ökonomischen“ Klugheit.25 Es geht schlicht um die Intelligenzfrage, die „mutual gains ‚from trade‘ “26 auch tatsächlich auszuschöpfen. Nun erklärt aber Robert Wright, dass in der kulturellen Evolution im Sinne einer expandierenden Verwirklichung dieser „NonZero“-Logik, dieser Win-Win-Logik menschlicher (Markt)Kooperationen noch eine zweite und ontologisch differente Dimension aufscheine: die Dimension einer „moral truth“ nämlich. Doch an dieser Stelle gehen die Meinungen auseinander. Denn während Wright im kulturellen Prozess eine schrittweise „Entdeckung“ einer objektiven „moralischen Wahrheit“ diagnostiziert, gehen viele Philosophen und Naturwissenschaftler davon aus, dass es keine objektiv „da draußen“ existierenden ethischen Werte gebe. So schreibt etwa der Philosoph John Leslie Mackie kurz und bündig: „There are no objective values.“27
Insofern spricht auch der Untertitel von Mackies Buch vom „Inventing Right and Wrong“. Ebenso kurz und bündig unterrichtet uns auch der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls: „[T]here are no moral facts.“28
Etwas ausführlicher möchte ich auf die entsprechende Einlassung des Physiker und Nobelpreisträger (1979) Steven Weinberg eingehen. Im Epilog seines Buches „The First Three Minutes“ schreibt Weinberg: „It is very hard to realize that this all is just a tiny part of an overwhelmingly hostile universe. It is even harder to realize that this present universe has evolved from an unspeakably 24 Wright (2009), p. 413. „Globalization, for all its dislocations, entails lots of non-zerosumness. You buy a new car, and you’re playing one of the most complex non-zero-sum games in the history of humanity: you pay a tiny fraction of the wages of thousands of workers on various continents, and they, in turn, make you a car. A popular term for this is interdependence – they depend on you for money, you depend on them for a car – and interdependence is just another name for non-zero-sumness. Because the fortunes of two players in a non-zerosum game are correlated, the welfare of each of them depends partly on the situation of the other.“ (Wright 2009, p. 411) 25 Ich verwende hier einen weiten Begriff von „ökonomisch“, der nicht nur monetäre („wirtschaftliche“) Eigennutzinteressen, sondern alle Eigennutzinteressen beeinhaltet. 26 Buchanan (1959), p. 129. 27 Mackie (1977), p. 15. 28 Rawls (1980), p. 519.
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unfamiliar early condition, and faces a future extinction of endless cold or intolerable heat. The more the universe seems comprehensible, the more it also seems pointless.“29
Robert Wright hingegen behauptet: „The more closely we examine […] the drift of human history, the more there seems to be a point to it all.“30
Um den genauen Unterschied der Sichtweisen von Weinberg und Wright zu verdeutlichen, greife ich auf eine weitere Äußerung von Weinberg zurück, in der sehr deutlich wird, dass seine Botschaft eine doppelte ist: „There is a moral order. It is wrong to torture children. And the reason it is wrong to torture children is because I say so. And I don’t mean much more than that. I mean that not only I say so, John says so, probably most of us say so. But it’s not a moral order out there. It is something we impose.“31
Die beiden Botschaften Weinbergs lauten also: (1) Das Universum „out there“ ist objektiv ohne Sinn oder moralischen Zweck („pointless“). (2) Die einzigen, die eine „moral order“ in die Welt bringen können, sind wir selbst („because I say so“; „most of us say so“; the „moral order […] is something we impose“).32 Ich möchte hier nun – mit Robert Wright und dann noch metaphysisch über Wright hinaus – die These verteidigen, dass diese Position Weinbergs nur die halbe Wahrheit ist. Doch zunächst zurück zur Argumentation Robert Wrights. Ich habe oben den Prozess der Ausdehnung wirtschaftlicher Kooperationen angesprochen: Wo vordem etwa nur die Mitglieder eines griechischen Stadtstaates untereinander zusammenarbeiteten, so weitete sich der Bereich der ökonomischen Kooperation dann auch auf die Mitglieder anderer griechischer Stadtstaaten aus. Und Wright erklärt nun, dass sich im Verlauf dieser sich ausdehnenden wirtschaftlichen Kooperationen auch eine genuin moralische Einsicht langsam durchsetzte: „2,500 years ago, members of one Greek city-state considered members of another Greek city-state subhuman and treated them that way. And then this moral revolution arrived, and Weinberg (1977 / 1993), p. 154*. Wright (2000), p. 3. 31 Weinberg (1999). 32 Bereits in seinem Buch „The First Three Minutes“ schreibt Weinberg im Anschluss an die zitierte „pointless“-Bemerkung: „But if there is no solace in the fruits of our research, there is at least some consolation in the research itself. Men and women are not content to comfort themselves with tales of gods and giants, or to confine their thoughts to the daily affairs of life; they also build telescopes and satellites and accelerators, and sit at their desks for endless hours working out the meaning of the data they gather. The effort to understand the universe is one of the very few things that lifts human life a little above the level of farce, and gives it some of the grace of tragedy.“ (Weinberg 1977 / 1993, p. 154 f.) 29 30
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they decided that actually: No, Greeks are human beings. It’s just the Persians who aren’t fully human and don’t deserve to be treated very nicely. But this was progress, you know, give them credit. And now today, we’ve seen more progress. I think, I hope, most people here would say that all people everywhere are human beings, deserve to be treated decently.“ 33
Wright diagnostiziert also ein „cultural evolution’s movement toward this moral threshold“34. Und an diesem Punkt beginnt das ethische Nachdenken über die moralischen Fragen, auf die uns die sich ausdehnende ökonomische Kooperation gestoßen hat: Verdienen vielleicht alle Menschen nicht nur aus pragmatischen Kooperationsgründen Respekt, sondern auch aus genuin moralischen Gründen? Die Frage, um die es jetzt geht, lautet: „recognizing the moral worth of human beings everywhere“35 – Ja oder Nein? We are now talking about „an apprehension not just of the pragmatic truth about human interaction, but of a kind of moral truth.“36
3. Der Unterschied zwischen „Genese“ und „Geltung“ Die treibende Kraft, die hier zunächst am Werke war, war ökonomischer Art. Es ging zunächst nur um die Realisierung ökonomischer Eigennutzinteressen. Und die Ausschöpfung der „potential gains from trade“ machten es erforderlich, den Kooperationspartner einigermaßen anständig zu behandeln – denn sonst wäre das Geschäft schnell geplatzt. Diese Tolerierung des Anderen ist noch nicht genuin moralischer Art, sondern rein pragmatisch bzw. ökonomisch motiviert, doch immerhin – sie ist da, sie wird dann praktiziert: „One of the main pulling forces, of course, has been economic. Granted, commerce can be a cool affair, and often fails to expand the web of affection, but it does expand the web of tolerance. You don’t have to love your grocer, but you shouldn’t assault him. You don’t have to love the people who built your Toyota, but it’s unwise to bomb them – just as it’s unwise to bomb the people overseas who are buying the things you made.“37
Doch in diesem Prozess der Ausweitung wirtschaftlicher Abschöpfung von Kooperationsrenten wuchs auch die Erkenntnis im Bereich einer ontologisch anders gearteten Dimension: der Dimension des (genuin) Moralischen. „This is the way moral evolution happens“38.
Wrights Argument lautet also, dass es sich bei der „NonZero“-Logik ökonomischer (Markt)Kooperationen auf der einen Seite und dem moralischen Fortschritt 33 34 35 36 37 38
Wright (2006). Vgl. Wright (2000), p. 326. Wright (2000), p. 327. Wright (2000), p. 331*. Wright (2009), p. 411*. Wright (2000), p. 326* (die erste Hervorhebung von mir). Wright (2009), p. 413.
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in Richtung einer „moral truth“ auf der anderen Seite um zwei Größen handelt, die in ihrer empirischen „Genese“ (Entstehung) faktisch zusammenhängen, jedoch in Bezug auf ihre Inhalte „ontologisch“, also hinsichtlich ihrer „Natur“ zu unterscheiden sind: die moraltheoretische „Geltung“ (oder Gültigkeit) der „moral truth“ fällt logisch nicht mit der „pragmatic truth“ der ökonomischen „NonZero“-Logik in eins. Dass diese wichtige Differenz zwischen der empirischen „Genese“ und der moraltheoretischen „Geltung“ des Inhalts der Vorstellung einer Solidarität aller Menschen in diversen Konzeptionen unterbelichtet bleibt, möchte ich an zwei Beispielen kurz demonstrieren: (1) Wrights Argument unterscheidet sich zunächst einmal von der rein ökonomischen Argumentation bei James Buchanan oder Karl Homann. Buchanan und Homann rekonstruieren die Solidarität auch mittels NonZero, argumentieren aber vollständig in der ökonomischen Logik, die mit Kooperationsrenten arbeitet. So etwa bei Buchanan: „[T]he political economist’s task is completed when he has shown the parties concerned that there exist mutual gains ‚from trade‘.“39
Ebenso verfolgt der ordnungsökonomische Ansatz des Wirtschaftsethikers Karl Homann eine „Ethik-Konzeption, in der diese moralischen Regeln […] zur Investition mit der Erwartung von Rendite [werden]; […] zu einer Investition in Erhalt und Ausbau der Kooperationsbeziehung“40.
Ich frage mich allerdings, wo hier ein moral point of view liegen soll. Ich bin zwar auch der Meinung, dass eine moralisierende Polemik gegen die Eigennutzinteressen auch aus ethischem Gesichtspunkt nicht angebracht ist. Insofern ist gegen „mutual gains from trade“ (NonZero; Win-Win) selbstverständlich überhaupt nichts zu sagen – im Gegenteil. Trotzdem trifft das Argument von Kooperationsrenditen einfach nicht den springenden Punkt des moral point of view. Kooperationsrenditen und „mutual gains from trade“ sind nichts anderes als produktiver Tausch, also „Geschäft“, ökonomisch zweckmäßige Angelegenheiten. Es handelt sich um Intelligenzfragen. Dem „moral point of view“ aber geht es um die Integrität oder Fairness der Interaktionen, und zwar unabhängig davon, ob dann eine Kooperationsrendite herausspringt (was natürlich am besten ist) oder ob man auch mal einen Nachteil in Kauf nehmen muss. Sicher ist es zweckmäßig, die Dinge möglichst so auszugestalten, dass „moral point of view“ und „economic point of view“ konvergieren oder sogar zusammenfallen; aber genau dieses soziale Ziel, dass die beiden Perspektiven – die ethische und die ökonomische – möglichst konvergieren sollen, zeigt ja, dass die beiden Blickwinkel „ontologisch“ differieren. 39 40
Buchanan (1959), p. 129. Homann (2004), S. 8 f.
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Näherhin geht es dem „moral point of view“ nicht nur um die Kooperationserträge („potential gains from trade“), sondern um eine integre Identität des Zusammenlebens, oder um mit Wright zu sprechen: um „moral truth“. Es gibt – wie dargelegt – einen „genetischen“ Zusammenhang von NonZero und „moral truth“, aber aber keine Idenität in Bezug auf die „Geltung“. (2) Die Differenz von „Genese“ und „Geltung“ bleibt sodann auch in der ansonsten durchaus instruktiven darwinistischen „Erklärung“ des Altruismus bei dem Biologen Richard Dawkins unterbelichtet. Vorab muss man wissen, dass Dawkins einen gen-zentrierten Darwinismus vertritt: Die fundamentale Einheit des survival of the fittest in der natural selection ist das Gen.41 Für das survival dieser Genmuster (Geninformationen) kann es nun in zweierlei Fällen nützlich sein, wenn die „Überlebensmaschinen“ (Lebewesen) so programmiert sind, dass sie kooperieren (obwohl sich normalerweise „egoistische“ Gene durchsetzen): (1) „Ein Gen, das den einzelnen Organismus darauf programmiert, seinen eigenen Verwandten einen Gefallen zu tun, nützt mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit seinen eigenen Kopien. […] Die Versorgung der eigenen Kinder ist das offenkundigste Beispiel.“42 (2) „Der zweite Haupttyp, für den wir eine gut ausgearbeitete darwinistische Erklärung haben, ist der wechselseitige Altruismus ( ‚Eine Hand wäscht die andere‘). […] Die Biene braucht Nektar, und die Blüte muss bestäubt werden. Blüten können nicht fliegen, also bezahlen sie die Bienen in Nektarwährung, damit diese ihre Flügel zur Verfügung stellen.“43 In beiden Fällen geht es um Beziehungen, in denen Begegnungen immer wieder stattfinden, um Lebewesen also, die sich immer wieder sehen, so dass sich Investitionen (vermutlich) auszahlen werden.44 Insofern muss man aber auch sagen: Genau genommen ist dieser „wechselseitige Altruismus“ gar kein Altruismus, sondern ein „Geschäft“ (oder ein „als-ob-Altruismus“). Jedenfalls führt im Rahmen der biologischen Evolution der Drang, anderen zu helfen, über den Mechanismus der „natural selection“ zu evolutionärem Erfolg, weil er sich in face-to-face-Gesellschaften, in denen man sich immer wieder sieht (sei es in Familien oder im Dorf), auszahlt. Die41 „[S]ie sind unübertroffene Meister in der Kunst des Überlebens. […] Sie sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und Geist, und ihr Fortbestehen ist der letzte Grund unserer Existenz. […] Heute tragen sie den Namen Gene, und wir sind ihre Überlebensmaschinen.“ (Dawkins 1976 / 2007, S. 63) Es ist hier auch wichtig zu sehen, dass dies nicht durch irgendeine bewusste Steuerung durch die Gene geschieht (Gene können nichts bewusst steuern), sondern schlicht und ergreifend dadurch, dass nützliche Gene im Prozess der natural selection überleben. „DNS-Moleküle […] sind nicht dauerhaft wie Felsen. Aber die Muster in ihren Sequenzen sind so dauerhaft wie der härteste Fels. Sie haben, was man braucht, um Millionen von Jahren zu existieren, und deshalb sind sie heute noch hier.“ (Dawkins 1986 / 2008, S. 152) 42 Dawkins (2006 / 2008), S. 299. 43 Dawkins (2006 / 2008), S. 299. 44 Vgl. hierzu auch Wright (2000), p. 324.
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ses „moral equipment“45 überlebt, weil diejenigen, die es haben, länger leben und sich fortpflanzen.46 Nun aber die eigentliche Frage: „Woher stammt der Barmherzige Samariter in uns?“47 Wie erklärt man (darwinistisch), dass manche Leute anderen Menschen helfen, die ihnen völlig fremd sind (wobei ihnen dieses Helfen keinen Vorteil einbringt und sicher nicht das Überleben der eigenen Gene befördert)? Hierzu bringt Dawkins nun seine „Idee, es könne sich um einen ‚Fehler‘ oder ein ‚Nebenprodukt‘ handeln“48, ein „misfiring“. Inwiefern? Nun, er erklärt zunächst: „Die natürliche Selektion begünstigt Faustregeln, die in der Praxis den Genen nützen, von denen sie erzeugt wurden. Aber es gehört zum Wesen von Faustregeln, dass sie manchmal nach hinten losgehen.“49
Dawkins benennt folgende Beispiele: Kuckuck im Nest: „Im Gehirn eines Vogels sorgt die Regel ‚Kümmere dich um die kleinen quiekenden Dinger in deinem Nest […]‘ normalerweise für die Erhaltung der Gene, die diese Regel hervorgebracht haben […]. Die Regel wirkt sich aber schädlich aus, wenn ein anderer Jungvogel auf irgendeinem Weg in das Nest gelangt – ein Phänomen, das die Kuckucke zu ihren Gunsten ausnutzen.“50 Also: Eigentlich soll die „Liebe“ (Fürsorge) der Bachstelze nur dem evolutionären Überleben der eigenen („egoistischen“) Gene dienen. Diesen angeborenen Drang zur Fürsorge nutzt der Kuckuck nun aber aus – was rein darwinistisch gesehen dann laut Dawkins eine „Fehlfunktion“ („misfiring“) ist. Sexualtrieb: Der Sexualtrieb hat ebenfalls eigentlich eine evolutionäre Funktion, nämlich Nachkommen zu produzieren und so das Überleben der eigenen („egoistischen“) Gene zu gewährleisten. Nun nimmt die Frau beispielsweise die Pille und „[b]eide wissen, dass die Frau kein Kind bekommen kann, weil sie die Pille [oder er ein Kondom] nimmt. Dennoch stellen sie fest, dass ihr Sexualtrieb sich durch dieses Wissen keineswegs vermindert.“ 51 Rein darwinistisch gesehen ist auch dieser Drang dann eine „Fehlfunktion“: Er erfüllt seinen eigentlichen evolutionären Zweck nicht (mehr). Wright (2009), p. 455. Zwei theologische Bemerkungen: (1) Genau dies ist auch die Logik, die hinter dem vierten Gebot des Dekalogs steht: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst … “ (Ex 20,12). Die dahinter stehende ökonomische Logik ist die folgende: Kinder waren in der Antike (und auch im Mittelalter) die einzige Altersversorgung. Wenn man nun seine alten Eltern nicht „ehrt“ (versorgt), dann nehmen sich die eigenen Kinder ein Beispiel daran und werden einen selbst auch nicht versorgen, wenn man selber alt und gebrechlich geworden ist. Und dann wird man eben nicht mehr „lange leben“. (2) Genau so funktioniert auch die traditionelle Logik vom „Lohn im Himmel, der groß sein wird“ (Mt 5,12). Obwohl der Lohn hier in der Bergpredigt nicht für moralisches Wohlverhalten vergeben wird, so wurde die ökonomische Logik in der Kirchengeschichte doch so ausgelegt, dass religiöses und moralisches Wohlverhalten als ökonomische Investition in eine himmlische Rendite aufgefasst wurde. 47 Dawkins (2006 / 2008), S. 296. 48 Dawkins (2006 / 2008), S. 306. 49 Dawkins (2006 / 2008), S. 306. 50 Dawkins (2006 / 2008), S. 306. 51 Dawkins (2006 / 2008), S. 307. 45 46
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Dawkins’ Idee besteht nun in der Vermutung, dass es sich bei unserem „Drang zur Nächstenliebe“ um genau einen solchen „‚Fehler‘ oder ein ‚Nebenprodukt‘“ handelt: „Could it be that our Good Samaritan urges are misfirings […]?“52
Richard Dawkins liefert hiermit also eine darwinistische Erklärung, wie unsere heutige Moral (= unser Drang zum Helfen) evolutionär entstanden sein könnte: Ursprünglich benutzten die „egoistischen“ Gene einen Drang nur dazu, um ihr Überleben zu sichern (Junge im Nest füttern; Sexualtrieb). Rein darwinistisch gesehen ist also unser heutiger Drang zu altruistischem Helfen (also auch völlig Fremden zu helfen) eine „Fehlfunktion“: Er erfüllt seinen eigentlichen evolutionären Zweck – das Überleben der eigenen („egoistischen“) Gene zu sichern (indem man 1. seinen eigenen Verwandten einen Gefallen tut, und 2. indem man wechselseitigen Altruismus [‚Eine Hand wäscht die andere‘] praktiziert) – nicht (mehr). Aber: Der Drang ist biologisch trotzdem noch da! Bis hierhin ist das auch meines Erachtens noch alles durchaus plausibel. Nun mein Einwand: Man muss – wie schon mehrfach erklärt – zwischen der Erklärung der evolutionären Genese (Entstehung) eines Drangs oder Gefühls einerseits und der Überzeugung in dessen ethische Geltung (Richtigkeit oder „moralische Wahrheit“) andererseits unterscheiden! Es mag ja so sein, dass die Evolution einen Drang zum Helfen hat entstehen lassen; aber sie hat auch zum Beispiel den Drang, einen störenden Fremden totzuschlagen, hervorgebracht. Schlussfolgerung: Wir kommen an der Frage nicht vorbei, welcher Drang denn nun ethisch gültig (richtig oder falsch) ist. Und das kann nur unsere ethische Vernunft entscheiden (Vernunfttest)! Ergebnis: Erst an dieser Stelle kommt das ethische Konzept von Richtig oder Falsch („the moral order“ oder „the moral truth“) überhaupt ins Spiel. Dawkins’ Erklärung hat diesbezüglich gar nichts gebracht – und wir stehen wiederum vor der ethischen Frage: Was ist „moral truth“? Denn im Rahmen der kulturellen Evolution der Moral stehen wir vor der Frage, welche unserer Dränge (Sex, Gewalt, Helfen, Essen, Trinken usw.) gut sind (moralisch akzeptabel) und welche nicht – und warum und inwieweit genau. Und hier beginnt das Geschäft der „Gründe“, die wir im Hinblick auf die Geltung abwägen müssen.
52 Dawkins (2006 / 2007), p. 252. „In alter Zeit hatten wir die Gelegenheit zum Altruismus nur gegenüber unseren Verwandten und denen, die es uns potenziell vergelten konnten. Heute existiert diese Einschränkung nicht mehr, aber die Faustregel [der Drang] ist immer noch da. Warum sollte es sie nicht mehr geben? Es ist genau wie beim Sexualtrieb. Wenn wir einen unglücklichen Menschen weinen sehen, müssen wir einfach Mitleid empfinden (auch wenn dieser Mensch nicht mit uns verwandt ist und uns unsere Hilfe nicht vergelten kann), ganz ähnlich wie wir uns sexuell zu einem Angehörigen des anderen Geschlechts hingezogen fühlen (auch wenn diese Person vielleicht unfruchtbar oder aus anderen Gründen nicht zur Fortpflanzung in der Lage ist). Beides sind Fehlfunktionen, darwinistische Fehler – [aber aus kultureller Sicht] segensreiche, kostbare Fehler.“ (Dawkins 2006 / 2008, S. 307)
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II. The „Solidarity of the Universe / World“. Metaphysische Grundlagen der Solidarität Ich habe oben den Physiker Steven Weinberg zitiert: „It is wrong to torture children. And the reason it is wrong to torture children is because I say so.“53 Dieses „I say so“ oder „We say so“ hebt er scharf ab von der Vorstellung, dass die Struktur des Universums als solche schon so etwas wie eine „moral order“ enthalte. „Out there“ gebe es objektiv keine Moral, sondern ausschließlich „kalte“ Fakten. Die „moralische Ordnung“ sei etwas, das wir mental einführen: „It is not a moral order out there. It is something we impose.“54 Meine These hierzu lautet: Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn natürlich sind wir es, die Gründe pro und contra abwägen müssen, und wir sind es auch, die dann moralische Sätze formulieren müssen und sich auf moralische Spielregeln einigen müssen. Aber es gibt meines Erachtens in der Struktur des Universums empirische Hinweise darauf, in welche Richtung dieser ethische Prozess des Abwägens von Gründen verlaufen sollte. Und diese Hinweise ergeben sich – wie gleich darzulegen ist – aus der „social nature of existence“ (Charles Hartshorne). In dieser Hinsicht scheint mir auch in den ansonsten sehr instruktiven Überlegungen von Robert Wright der letzte, nämlich metaphysische Schritt zu fehlen. Es wird in ihnen nämlich nicht so recht klar, warum er von einer „moral truth“ spricht. Deutlich ist, dass er die empirische „Genese“ einerseits und die moraltheoretische „Geltung“ des Inhalts der Vorstellung einer Solidarität aller Menschen im Verlaufe der Menschheitsgeschichte andererseits unterscheidet – insofern ist das „moral“ in der Formulierung „moral truth“ klar bestimmt: Wright meint eine genuine Moral (die der Anerkennung aller Menschen nämlich) – im („ontologischen“) Unterschied zur Kooperationsrente, die sich aus der Zusammenarbeit in „Spielen“ vom Typ „NonZero“ ergibt. Aber warum das eine „moralische Wahrheit“ sein soll und nicht „nur“ eine moralische Setzung durch uns Menschen (wie bei Weinberg), bleibt offen. Und diesbezüglich hilft meines Erachtens die Metaphysik der „Solidarität“ weiter, wie sie von den Prozessphilosophen Alfred North Whitehead und Charles Hartshorne entwickelt worden ist. Zunächst möchte ich kurz definieren, was ich unter „Metaphysik“ verstehe. Als Kurzformel zur Definition des Begriffs der „Metaphysik“ möchte ich folgende Formulierung verwenden: Die „Metaphysik“ dreht sich um das ganz grundsätzliche Problem, „how the world works (in general)“.55 Im Hintergrund steht hier auch die Weinberg (1999). Weinberg (1999). 55 Ich entnehme diese m. E. treffende Formulierung einem völlig sachfremden Zusammenhang, nämlich einem Statement, in dem Alan Greenspan am 23. Oktober 2008 den Begriff „Ideologie“ – ohne pejorative Abwertung im Sinne von „Weltbild“ – beschrieben hat: „Well, remember that what an ideology is. It’s a conceptual framework with the way people deal with reality. Everyone has one. You have to exist, you need an ideology. The question is whether it is accurate or not.“ „Greenspan’s Confession“ ist beispielsweise in der online-Ausgabe der 53 54
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Charakterisierung des Begriffs bei Karl R. Popper. Seine Wissenschaftsphilosophie unterscheidet drei unterschiedliche Theorietypen: „Wir können für unsere Zwecke drei Arten von Theorien unterscheiden: erstens logischmathematische Theorien, zweitens empirisch-wissenschaftliche Theorien, drittens philosophische oder metaphysische Theorien.“56
Diese drei Theoriearten unterscheiden sich nach der Art ihrer Widerlegbarkeit: Logische (abstrakte, z. B. mathematische) Theorien sind logisch widerlegbar, empirische (naturwissenschaftliche) Theorien sind empirisch widerlegbar und metaphysische Theorien sind (noch) nicht widerlegbar. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass metaphysische Theorien beliebig und daher sinnlos oder nutzlos seien – ganz im Gegenteil: „Doch metaphysische Hypothesen sind zumindest auf zweierlei Art für die Wissenschaft wichtig. Erstens brauchen wir metaphysische Hypothesen für ein allgemeines Weltbild. Zweitens werden wir beim praktischen Vorbereiten unseres Forschens von dem geleitet, was ich ‚metaphysische Forschungsprogramme‘ genannt habe.“57
Nun zu den Inhalten einer Metaphysik der „Solidarität“, wie sie von den Prozessphilosophen Alfred North Whitehead und Charles Hartshorne entwickelt worden ist. Der empirische Haftpunkt, der Whitehead und Hartshorne zu ihrer Metaphysik der „Solidarität“ geführt hat, waren die umwälzenden Erkenntnisse der Physik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. So wurden etwa mit der „Relativitätstheorie“ Albert Einsteins der absolute Raum und die absolute Zeit Newtons relativ. „Wir leben in einer relativistischen Wirklichkeit.“58 Und die Quantenrevolution räumte gründlich mit den gewohnten Vorstellungen von „normaler“ Materie auf, indem sie die „materiellen“ Basiswirklichkeiten unseres Universums als genetisch zusammenhängende Prozess-Tröpfchen erschloss. „Die Elementarteilchen sind nicht, wie man früher etwa angenommen hätte, unveränderliche, unteilbare Grundbausteine der Materie.“59 Nicht statisches „Material“, sondern aktive Energie ist der Stoff, aus dem die Welt physisch gemacht ist: „Man kann […] die Energie als […] den Grundstoff der Welt betrachten.“60 Diese elementaren Energietröpfchen hängen genetisch zusammen: „Sie können […] ineinander umgewandelt werden.“61 Sie haben zutiefst relationalen Charakter: „Die bekannte Formel: ‚jedes Elementarteilchen besteht aus allen anderen Elementarteilchen‘ scheint eine gute Beschreibung der paradoxen Situation zu geben, mit der wir in den Experimenten konfrontiert wer„Washington Post“ dokumentiert http://www.washingtontimes.com/weblogs/potus-notes/2008/ Oct/24/he-found-flaw/ 56 Popper (1963 / 2000), S. 287. 57 Popper in: Popper / Eccles (1977 / 1987), S. 524. 58 Greene (2004 / 2007), S. 24 f. 59 Heisenberg (1963), S. 3. 60 Heisenberg (1958 / 1978), S. 55. 61 Heisenberg (1963), S. 3.
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den.“62 Kurz: Die moderne Physik des 20. Jahrhunderts offenbart uns eine Wirklichkeit, die nicht mehr aus „A-tomen“ im Sinn unveränderlicher „Billardkugeln“ (Wirklichkeitsklötzchen) besteht, sondern eine Wirklichkeit, die durch und durch prozessualer und relationaler Art ist. Diese prozessuale Relationalität der Basiswirklichkeit unseres evolutiven Universums war der empirische Ausgangspunkt, von dem aus Whitehead und Hartshorne eine allgemeine Metaphysik entwickelten, die die Prozesse, „how the world works (in general)“ so beschrieb, dass sie unter anderem63 mit den neuen Erkenntnissen der Evolutions-, der Relativitäts- und der Quantentheorie übereinstimmte. Um vorab den spezifischen Punkt zum Begriff der „Solidarität“ in Whiteheads Metaphysik stark vereinfacht auf den Punkt zu bringen – der (kosmologische) Begriff der „Solidarität“ bei Whitehead meint: Alles im Universum hängt mit allem zusammen! So wie die Quantenphysik davon ausgeht, dass (wie zitiert) jedes Elementarteilchen aus allen anderen Elementarteilchen besteht, so konzipiert Whitehead die metaphysische Grundstruktur des Wirklichen überhaupt: „[T]he process […] of any one actual entity64 involves the other actual entities among its components. In this way the obvious solidarity of the world receives its explanation.“65 Der Begriff der „Solidarität“ wird hier also (zunächst) als deskriptiver Begriff, der die faktische Relativität aller Dinge beschreibt, eingeführt und (noch) nicht als ethischer oder normativer Begriff verwendet. „[I]f the solidarity of the physical world is to be relevant to the description of its individual actualities, it can only be by reason of the fundamental internality of the relationships in question.“66 Whitehead intendiert (zunächst) eine metaphysische „description of the universe as a solidarity of many actual entities“67. Die Wirklichkeiten des Universums existieren in einer prozessualen „Solidarität“ im Sinne einer universalen Vernetzung: „[A]ll actual entities are in the solidarity of one world.“68 Heisenberg (1967), S. 2. Das ist jedoch in gar keiner Weise der einzige Bezugspunkt, den Whiteheads Metaphysik berücksichtigt hat. Denn Whitehead definiert seinen Begriff einer metaphysischen Kosmologie folgendermaßen: „[I]t must be one of the motives of a complete cosmology to construct a system of ideas which brings the aesthetic, moral, and religious [and we should – for example – add: economic] interests into relation with those concepts of the world which have their origin in natural science.“ (Whitehead 1929 / 1978, p. xii). Dieses Vorgehen, das auch die vielfältigen menschlichen Interessen als Teil des evolutiven Kosmos mit integriert, unterscheidet bei Whitehead „Metaphysik“ von „Naturphilosophie“ (so David Ray Griffin). 64 Mit den Begriffen „actual entity“ oder „event“ oder „actual occasion“ bezeichnet Whitehead die kleinsten Elementarprozesse, aus denen die Welt aufgebaut ist und die von der Quantenphysik untersucht werden: „This epoch is characterized by electronic and protonic actual entities, and by yet more ultimate actual entities which can be dimly discerned in the quanta of energy.“ (Whitehead 1929 / 1978, p. 91) 65 Whitehead (1929 / 1978), p. 7. 66 Whitehead (1929 / 1978), p. 309. 67 Whitehead (1929 / 1978), p. 40. 68 Whitehead (1929 / 1978), p. 67. 62 63
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Diese (hier nur angedeutete) metaphysische „Vorlage“ Whiteheads hat Charles Hartshorne dann zu seiner systematischen Theorie der „social structure of existence“ ausgebaut.69 Auch Hartshorne spricht an mehreren Stellen im Sinne Whiteheads von der „solidarity of life“70, doch steht bei ihm zumeist anstelle des Begriffes der „Solidarität“ der Begriff des „Sozialen“ im Vordergrund. Bisweilen verbindet er beide Begriffe auch und spricht von einer „social solidarity“71. Es ist jedenfalls deutlich, dass Hartshorne von der Sache her genau in die gleiche Richtung denkt. Bevor ich zu Hartshornes metaphysischer Konzeption komme, möchte ich eine lebensweltliche Illustration voranstellen. „Alles hängt mit allem zusammen!“ Dieser stets etwas allerweltsweisheitlich oder esoterisch klingende Satz ist m. E. nichtsdestotrotz wahr. Und dabei hängen die Dinge nicht nur auf der Ebene der Quantenwirklichkeiten zusammen – vielmehr erfahren wir diese universale Interdependenz in jeder Minute unseres Lebens. Da sind zunächst die Zusammenhänge zwischenmenschlicher oder gesellschaftlicher Art:72 Wir kommen nicht als autonomes Individuum auf die Welt, sondern in Abhängigkeiten und Relationen. Wir entstehen im Mutterleib. Wir wachsen auf in Beziehungen mit unseren Eltern und Freunden. Wenn wir wirtschaftlichen Erfolg haben, dann ist das niemals exklusiv unsere eigene Leistung, sondern geschieht in den arbeitsteiligen Kooperationsnetzwerken der Gesellschaft. Doch diese Art von Vernetzungen sind nicht einmal annähernd die halbe Geschichte. Die Zusammenhänge sind nicht nur gesellschaftlicher Art, sondern umfassen die Gesamtheit aller irdischen Beziehungen: Ich atme Luft, deren Sauerstoff von grünen Pflanzen produziert wird (Photosynthese). Sonnenwärme und Wasser sind Voraussetzungen für alles Leben auf der Erde. Die gesamte Erde bildet ein unglaublich komplexes Beziehungs- und Interdependenzsystem, das nahezu wie ein lebender Organismus betrachtet werden kann.73 Doch auch damit ist es noch nicht getan: Schlussendlich besteht die gesamte Wirklichkeit des Kosmos aus Zusammenhängen, kosmologischen Zusammenhängen: So hängt auch der Raum mit der Zeit zusammen, da Raum und Zeit relative Größen sind (Einsteins „Relativitätstheorie“). 69 „In Hartshorne’s mature philosophy these insights are generalized into the claim that all of reality, including God, has an essentially social structure.“ (Viney 2004). Zum theologischen Theoriekonzept Hartshornes vgl. das sehr instruktive Buch von Julia Enxing (2013). 70 Hartshorne (1948 / 1964), p. 56. 71 Hartshorne (1953 / 1971), p. 108. 72 Vgl. Emunds (2014), S. 4 f. „In der katholischen Sozialtradition heißt es deshalb, wir bzw. unsere Schicksale seien miteinander ‚verstrickt‘.“ (ebd., S. 5) 73 Einschlägig ist in diesem Zusammenhang auch die sogenannte „Gaia-Hypothese“ der Biologin Lynn Margulis und des Chemikers James Lovelock, vgl. etwa Lovelock (2009); Margulis (1999); Lovelock / Margulis (1974). Lovelock und Margulis haben sich dabei allerdings stets von esoterischen Spiritualisierungen distanziert, welche die Erde als einen von einer Erdgöttin beseelten Organismus darstellen. Aber das wäre nochmals ein eigenes Thema.
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„Alles hängt mit allem zusammen!“ Das Universum – und alles, was sich in ihm entwickelt und wieder vergeht – ist insgesamt nicht nur ein evolvierender Prozess, sondern: „reality is social process“.74 Die empirische Tatsache, dass die Wirklichkeiten des Universums faktisch in einer prozessualen „Solidarität“ im Sinne einer universalen Vernetzung existieren (kommen und gehen), bildet den Ausgangspunkt der Theorie der „social structure of existence“ von Charles Hartshorne. Dabei muss man aber sorgfältig zwischen zwei systematischen Schritten in dieser metaphysischen Konzeption des Universums unterscheiden (was unbedingt notwendig ist, um einen „naturalistischen Fehlschluss“ zu vermeiden): (1) Der erste Schritt besteht in der deskriptiven Beschreibung des faktischen Universums (des „Natürlichen“) als „social“ oder „surrelative“, (2) während der zweite Schritt in einer metaphysisch-ethischen Bewertung der evolutiven Prozesse des Universums und einer damit einhergehenden Unterscheidung von gelingenden und misslingenden Prozessen oder Geschehnissen besteht. Zunächst zum ersten Schritt: (1) Hartshorne präsentiert eine „social conception of the universe“75, die er mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet, so etwa „societism“76 oder „surrelativism“77. „The logical core of surrelativism […] is a theory of ‚external‘ and ‚internal‘ relatedness“.78
Externe und interne Bezogenheit prägt dabei nicht nur die menschliche Natur, sondern faktisch die Natur allen Lebens im Universum: „Human nature is the supreme instance of nature in general, as known to us […]. Human nature is social through and through. All our thought is some sort of conversation or dialogue or social transaction […]. Now, further, not simply man, but all life whatsoever, has social structure. […] All organisms on the multicellular level are associations of cells. There is scarcely a line between societies and individuals formed by societies which reach a suffieient grade of integration. Cells themselves are associations of similar molecules and atoms. It becomes a question of how broadly one wishes to use terms where one says that the social begins, if indeed it ever begins, in the ascending scale of emergence. And the higher one goes in the scale the more obviously do the social aspects assume a primary role.“ 79
In der metaphysischen Analyse erschließt sich die Wirklichkeit als solche ihrer tiefsten Natur nach als empirisch „sozial“ strukturiert: „[T]he social structure of existence is no mere appearance of something more ultimate, but an aspect of reality itself or as such.“80 74 75 76 77 78 79 80
Hartshorne (1953 / 1971), p. 17*. Hartshorne (1953 / 1971), p. 29*. Hartshorne (1948 / 1964), p. 24. Hartshorne (1948 / 1964), p. ix. 21; Hartshorne (1953 / 1971), p. 25. Hartshorne (1948 / 1964), p. xii. Hartshorne (1948 / 1964), p. 27. Hartshorne (1967), p. 105. Vgl. auch Hartshorne (1984), p. 45.
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In Bezug auf die Wirklichkeit des Universums erschließt die metaphysische Beschreibung also eine „solidarity of life“81 oder eine „social solidarity“82. (2) In einem zweiten Schritt nehmen die Prozessphilosophen Whitehead und Hartshorne nun eine metaphysisch-ethische Bewertung der faktisch „sozial“ oder „solidarisch“ strukturierten Prozesse des evolvierenden Universums vor. Weit entfernt von einer „Heiligsprechung“ aller faktisch (empirisch) ablaufenden Evolutionsereignisse unterscheidet etwa Whitehead zwischen misslingenden Prozessen, wobei er zwei Formen des „Übels“ unterscheidet (nämlich „Dissonanz“ und „Trivialität“), und gelingenden Prozessen, wobei er als Kriterium des Gelingens das Erlangen einer höheren „Intensität“ angibt. In beiden Fällen spielt die Art der Relationen innerhalb eines empirisch „solidarischen“ oder „sozialen“ Universums die entscheidende Rolle: Die prozessmetaphysische Ethik unterscheidet zwei grundlegende Formen des Übels:
a) Das Übel der „Dissonanz“ („discord“; „disharmony“; „destruction“) entsteht, „when things are at cross purposes“83, wenn „the characters of things are mutually obstructive“84. Unvereinbarkeiten prallen hart desruktiv aufeinander. Dissonanz zeigt sich konkret etwa als „physical pain or mental evil, such as sorrow, horror, dislike“85. b) Hingegen besteht das Übel der „Trivialität“ („triviality“) in vermeidbaren Verlusten von Intensität. Dieses „evil of the final degradation lies in the comparison of what is with what might have been“86. Mögliche Intensität geht in Prozessen der Banalisierung unter. Als „gut“ bewertet die Prozessethik das Erreichen höherer „Intensität“ („intensity“). Intensität ergibt sich dann, wenn es gelingt, kontrastive Beziehungen in eine Harmonie zu bringen. Bloße Harmonie, der es an Kontrasten mangelt, bringt lediglich Trivialität hervor. „[I]ntensity arises by reason of the ordered complexity of contrasts“87. In einer Metaphysik, die von der „social structure of existence“ ausgeht, kommt ein Null an Beziehungen einem Null an Wirklichkeit oder Wirklichkeitstiefe gleich: „null value only in the case of ‚nonentity‘“88. Dagegen bedeutet ein höherer Grad an Intensität auch einen höheren Grad an Wirklichkeitstiefe, was von der Prozessethik als „gut“ oder „besser“ eingestuft wird.
81 82 83 84 85 86 87 88
Hartshorne (1948 / 1964), p. 56. Hartshorne (1953 / 1971), p. 108. Whitehead (1926 / 2007), p. 97. Whitehead (1929 / 1978), p. 340 Whitehead (1933 / 1967), p. 2560. Whitehead (1926 / 2007), p. 97. Whitehead (1929 / 1978), p. 100. Hartshorne (1948 / 1964), p. 28.
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Die Metaphysik der „Solidarität“, wie sie von den Prozessphilosophen Alfred North Whitehead und Charles Hartshorne vorgeschlagen wurde, geht also von einer der „social structure of existence“ aus, von einer „social nature“ des gesamten Universums. Dabei wird die „solidarity“ sowohl als empirisches „Seinsprinzip“ als auch – wohlgemerkt ohne einem „naturalistischen Fehlschluss“ zu verfallen – als ethisches „Sollensprinzip“ konzipiert.89 Ein letzter Punkt in diesem Abschnitt: Es ist deutlich geworden, dass in der Prozessmetaphysik die Begriffe der „solidarity“ und der „social nature“ nicht nur in Bezug auf Menschen und die menschliche Gesellschaft, sondern auch in Bezug auf andere Wesen, insbesondere natürlich andere Lebewesen, also Tiere, Anwendung finden. Diese Entgrenzung der „social structure of existence“ auf alle (Lebe)Wesen drängt sich logisch geradezu auf, wenn man nicht mehr von einer separaten Schöpfung des Menschen durch Gott ausgeht (wie die klassische theologische Tradition des Christentums), sondern von einer durchgängigen Evolution des Universums und allen Lebens. In diesem Zusammenhang ist es auch sehr interessant, was Charles Darwin zum Thema schreibt. Ich habe weiter oben Darwin bereits einmal zitiert, wie er die Ausdehnung der ökonomischen „NonZero“-Logik von „small tribes“ zu „all members of the same nation“ beschreibt. Dann aber wendet er sich – ähnlich wie viel später Robert Wright – dem Umschlag dieser ökonomischen „NonZero“-Logik (er spricht hier von „the simplest reason“ im Sinne eines Klugheitsarguments) in eine Frage der Ethik (bei Wright: „moral truth“) zu: „This point being once reached, there is only an artificial barrier to prevent his sympathies extending to the men of all nations and races. If, indeed, such men are separated from him by great differences in appearance or habits, experience unfortunately shews us how long it is before we look at them as our fellow-creatures. Sympathy beyond the confines of man, that is humanity to the lower animals, seems to be one of the latest moral acquisitions. […] The very idea of humanity […], [t]his virtue, one of the noblest with which man is en-
89 In letzterem Punkt ergeben sich Parallelen zwischen dem prozessmetaphyischen Begriff von „Solidarität“ und dem „Solidaritäts“-Begriff in der traditionellen Katholischen Soziallehre, der ja nicht nur im „Solidaritätsprinzip“, sondern auch an der einflussreichen Richtung des „Solidarismus“ vorkommt. Vergleicht man die Konzeption der „Solidarität“ in der katholischen Sozialtradition mit Hartshornes Metaphysik der Solidarität bzw. der „social structure of the universe“, fallen drei konzeptionelle Punkte auf: (1) Die alltagsweltliche oder gesellschaftliche Plausibilität des Solidaritätsgedankens in der Katholischen Soziallehre (auch als „Gemeinverstrickung“ bezeichnet) kann die Prozessmetaphysik problemlos unterschreiben. (2) Allerdings arbeitet(e) die traditionelle Katholischen Soziallehre mit der klassischen Metaphysik der „Substanz“, in der zwischen der „Substanz“ (gr. ὑποκείμενον) als dem unveränderlichen „Wesen“ (gr. ούσία; „Natur“) einerseits und den nur äußerlich dazukommenden „Akzidentien“ (lat. adcadere) unterschieden wurde. Die „soziale Natur“ des Menschen lässt sich mit dieser Substanzmetaphysik nicht adäquat einholen, da sie nur ein „akzidentelle[s] Sein zwischenmenschlicher Beziehung“ (Klüber 1971, S. 53; ebenso Höffner 1968 / 1997, S. 44) hergibt. Substanz- und Prozessmetaphysik sind inkompatibel. (3) Und schließlich besteht ein weiteres Defizit der konzeptionellen Grundlagen der traditionellen Katholischen Soziallehre in ihrer anthropozentrischen Engführung, die man in einem evolutiven Universum nicht mehr wirklich plausibel machen kann.
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dowed, seems to arise incidentally from our sympathies becoming more tender and more widely diffused, until they are extended to all sentient beings. As soon as this virtue is honoured and practised by some few men, it spreads through instruction and example to the young, and eventually through public opinion.“90
III. Gottessimulationen. Theologische Implikationen der Solidaritätsethik Die Solidaritätsethik, wie ich sie im Anschluss an die Metaphysik der Prozessphilosophie entwickelt habe, besitzt auch theologische Implikationen, die ich wenigstens kurz ansprechen will. Ich beginne mit einem Zitat von Charles Hartshorne: „The question, Is there a God? is the social question taken at its maximum“91.
Inwiefern? In einem „social universe“ oder „solidary universe“ besteht das „surrelative maximum“ in der Idee eines Wesens, das zu allem, was es gibt, eine innere Beziehung hat. Es ist nicht weit hergeholt, wenn man hierin die Idee Gottes identifiziert. Gott ist derjenige, der allem „ins Herz schauen kann“, der „alles sieht“ – nicht im Sinne eines obersten Polizisten, sondern eines wohlwollenden, mitfühlenden Begleiters aller Dinge. „Gott“ ist daher eine Kurzformel für den in der ethischen Theorie einschlägigen „impartial sympathetic spectator“ oder „ideal observer“. „The main idea [of this ‚impartial sympathetic spectator theory‘ or ‚ideal observer theory‘] is that ethical terms should be defined after the pattern of the following example: ‚x is better than y‘ means ‚If anyone were, in respect of x and y, fully informed and vividly imaginative, impartial, in a calm frame of mind and otherwise normal, he would prefer x to y‘.“ 92
Diese „Theorie des idealen, unparteilichen und mitfühlenden Beobachters“ wurde seinerzeit von Adam Smith und David Hume vertreten und wird noch immer (bisweilen stillschweigend) von allen wichtigen ethischen Konzeptionen der Gegenwart vorausgesetzt. Beispielsweise fungiert der „Urzustand“ mit seinem „Schleier des Nichtwissens“ (in John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit oder in John C. Harsanyis Utilitarismus) faktisch als ein Äquivalent dieses „idealen Beobachters“93. Obgleich nun die ethische Validität dieser Theorie nicht von der wirklichen Existenz eines realen idealen Beobachters (oder eines „ideal feeler“94) abhängt, vertreten theisti90 Darwin (1871), p. 100 f. (Chapter III). Darwin zeigt sich hier nicht nur als ein Vorläufer einer Tierethik (unwillkürlich denkt man hier an Peter Singer, der eine ähnliche Position vertritt), sondern nimmt auch der Sache nach das von Richard Dawkins vorgeschlagene Konzept der „memes“ vorweg. 91 Hartshorne (1953 / 1971), p. 184*. 92 Brandt (1959), p. 173. 93 Im Unterschied zu meiner eigenen Sicht der Dinge war Rawls selber der Auffassung, dass ein rationaler and unparteilicher Beobachter notwendigerweise zum Utilitarismus führt. Vgl. Rawls (1971 / 1979), S. 211 ff.
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sche Ethiken ontologisch eine „notion of God, which is simply the ideal observer regarded as actual“95. In einem theistischen Universum ist Gott als die Liebe zu allem, was es gibt, die wirkliche Repräsentation aller moralischen Ideale („moralischer Realismus“): „This is the social structure of existence. The primacy of love·means that there is no possible value that any being could have simply in and by itself, or simply by its own decision.“96 And this is „the philosophic-theological vision of cosmic mind as cosmic love“ 97.
Wenn nun aber die Struktur der Existenz tatsächlich sozialer Art (Beziehung) ist, dann kann der christliche Gott der Liebe nicht völlig unveränderlich sein. Im Gegenteil muss Gott dann verstanden werden als die „Seele des Universums“ und das Universum als Gottes „Körper“98. Geht man von dieser metaphysischen Beschreibung aus, dann ist die Güte oder Liebe Gottes logischerweise nicht kontingenter Natur. Denn dann ist der Gott der Liebe nicht bloß ein „idealer Beobachter“; vielmehr ist er ein „idealer mitfühlender Begleiter“99. Trotz dieses Standpunkts eines „moralischen Realismus“ in einer theistischen Ethik gibt es in epistemischer Hinsicht keinen Unterschied zu irgendeinem anderen ethischen Approach. Religionen stellen in keiner Weise irgendeinen privilegierten Zugang zur Wahrheit bereit. Menschliches Wissen ist immer und irreduzibel hypothetischer Natur, also Vermutungswissen ohne Gewissheitsgarantie. In keiner Weise macht daher die Theorie eines „moralischen Realismus“ die Notwendigkeit vernünftiger Argumentation und Deliberation über ethische Angelegenheiten überflüssig. Noch eine letzte Anmerkung hierzu: Diesen Gott bzw. genauer: diese Idee Gottes als „cosmic mind as cosmic love“100 muss jedwede Ethik – ob religiös oder säkular – in ihren Bemühungen um den „moral point of view“, also um einen Standpunkt der Unparteilichkeit, simulieren. Der Versuch, einen „moral point of view“, also einen unparteilichen und mitfühlenden Standpunkt deliberativ einzunehmen, läuft auf den Versuch hinaus, den Standpunkt eines unparteilichen und mitfühlenden Beobachters oder Begleiters zu rekonstruieren. Dem „moral point of view“ muss es darum gehen, die Welt aus den Augen der Dinge und Lebewesen in der Welt zu sehen und zu verstehen; und dieses „understanding of what their world looks like from the inside“ ist von der Sache her „the perspective of God“101. Das heißt: Ohne „GottessimulaGriffin (2001), p. 316. Griffin (2001), p. 314 f. 96 Hartshorne (1984), p. 45. 97 Hartshorne (1984), p. 86. 98 Hartshorne (1984), p. 59: „God, the World Soul“. 99 Vgl. Griffin (2001), p. 316: „ideal feeler“. Whitehead hat dies so formuliert: „In this sense, God is the great companion – the fellow-sufferer who understands“ (Whitehead 1929 / 1978, p. 351). 100 Hartshorne (1984), p. 86. 101 Wright (2009), p. 421. 94 95
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tion“ geht in der Ethik gar nichts! Weder „moralische Anti-Realisten“ noch „moralische Realisten“ kommen in Bezug auf ethische Probleme um vernünftige Überlegungen („cause I say so“) und Diskurse („cause WE say so“), mithin um „Gottessimulationen“ herum. (Eine andere, nämlich theologische Frage wäre dann, ob dieser so simulierte Gott nun wirklich existiert oder ob man Gott als bloße Idee einstufen sollte.)
IV. Jenseits von Eden. Zur sozialethisch und juristisch relevanten Differenz von Begründungs-, Anwendungs- und Implementationsebene Die metaphysische Analyse hat zu einer „description of the universe as a solidarity of many actual entities“ (Alfred North Whitehead)102 bzw. einer „social solidarity“ (Charles Hartshorne)103 aller Dinge geführt. Wenn man diese „Metaphysik der Solidarität“, also die Deskription der umfassenden Relativität des Universums („Alles hängt mit allem zusammen!“), ins Normative wendet, so ergibt sich als „Ethik der Solidarität“ ein faktisch völlig unerreichbares Ideal: Von einem idealen „moral point of view“ aus könnte man – wie eben dargestellt – die Welt aus den Augen aller Geschöpfe in der Welt sehen und verstehen, wobei dieses „understanding of what their world looks like from the inside“ von der Sache her nichts anderes als „the perspective of God“104 wäre. Nun befindet sich unser faktisch vorfindliches Universum erkennbar nicht in einem Zustand kosmischen Friedens. Von einem kosmischen Frieden „träumt“ nur der Mythos des Paradieses, des Garten Edens (vgl. Gen 2). Wir alle aber leben mittlerweile „East of Eden“. Und da beginnen die Widerstreite. In ungewöhnlicher Direktheit erklärt Alfred North Whitehead zur faktischen Lage: Es „kommt […] zum Kampf ums Dasein. Es ist eine Dummheit, das Universum durch die rosarote Brille zu betrachten. Wir müssen den Kampf zulassen. Die Frage lautet, wer ausgeschaltet werden soll.“105
Schon allein aufgrund der unvermeidlichen Tatsache, dass jedes Lebewesen Nahrung braucht, ist es unvermeidlich, dass ein Lebewesen auch auf Kosten anderer Lebewesen existiert (Pflanzen, Tiere). Eine angemessene Ethik der Solidarität hat also sowohl dem Ideal der Solidarität (kosmischer Frieden unter allen Geschöpfen) als auch den ausweglosen Widerstreiten der Realität Rechnung zu tragen. Auch dies bringt Whitehead, wie ich finde, sehr klar auf den Punkt: Whitehead (1929 / 1978), p. 40. Hartshorne (1953 / 1971), p. 108. 104 Wright (2009), p. 421. 105 Whitehead (1925 / 1984), S. 238. Im Original: „[T]here is a struggle for existence. It is folly to look at the universe through rose-tinted spectacles. We must admit the struggle. The question is, who is to be eliminated.“ (Whitehead 1925 / 1967, p. 205) 102 103
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„Leben ist Räuberei. Genau an diesem Punkt wird […] das Problem der Moral akut. Der Räuber muß sich rechtfertigen.“106
Mein grundsätzlicher Vorschlag zu einer „Ethik (auch der Solidarität)“, die sowohl den ethischen Idealen als auch der unausweichlichen Wirklichkeit Rechnung trägt, besteht darin, mindestens drei unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden. Zunächst im Überblicksschaubild: Table: Three Levels of Ethics Justification
Ethical Principles (Dignity, Solidarity, Justice … )
ideal
Application
Flexible Justice
real
Implementation
Efficiency, Power, Justice, …
actual
(1) Den ersten Baustein für die Generierung des obigen Schemas haben Klaus Günther und – im Anschluss daran – Jürgen Habermas geliefert, indem sie zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen der moralischen Argumentation unterschieden haben107: „Begründungsebene“: Auf der ersten Ebene der Ethik geht es um den grundsätzlichen theoretischen „Begründungsdiskurs“. Auf dieser Begründungsebene werden allgemeine ethische Prinzipien (wie etwa Würde, Solidarität, Gerechtigkeit, Humanität, Wahrhaftigkeit) festgehalten und abgespeichert. Normativ gewendet ergeben sich dann ethische Grundsätze wie etwa: „Du sollst nicht töten!“ oder „Du sollst nicht lügen!“ „Anwendungsebene“: Auf einer zweiten Ebene stellen wir nun aber fest, dass in bestimmten lokalen Situationen ein Widerstreit zwischen verschiedenen moralischen Zielen (Werten) entstehen kann. In solchen Situationen wird ein eigenes Abwägen von Gründen unvermeidlich, welche der vor Ort konfligierenden moralischen Normen in einer bestimmten lokalen Situation angemessen(er) ist. Einen klassischen Beleg für die Notwendigkeit eines solchen Anwendungsdiskurses liefern die diesbezüglich defizitären Einlassungen Immanuel Kants: „Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst […] ist […] die Lüge“108. Selbst wenn mit einer Lüge der gute Zweck verfolgt würde, dass man „einen eben itzt mit Mordsucht Umhergehenden durch eine Lüge [über den Aufenthaltsort eines von jenem ‚Mordsüchtigen‘ verfolgten Freundes] an der Tat verhindert“109, so 106 Whitehead (1929 / 1984), S. 204 f. Im Original: „[L]ife is robbery. It is at this point that with life morals become acute. The robber requires justification.“ (Whitehead 1929 / 1978, p. 105). 107 Vgl. etwa Günther (1988) und Habermas (1991), S. 137 – 142. 108 Kant (1991a), S. 562. 109 Kant (1991b), S. 639.
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bleibt „die Pflicht der Wahrhaftigkeit […] unbedingte Pflicht […], die in allen Verhältnissen gilt“110. Es ist unschwer zu erkennen, dass Kant hier einfach die Begründungsebene eins zu eins auf die Anwendungsebene herunterbricht, ohne sich um die Anwendungsprobleme dieser spezifischen Situation zu kümmern.111 Man muss sich in dieser lokalen Situation aber ethisch fragen: Ist es moralisch angemessener, einem Killer wahrheitsgemäß zu sagen, wo sich sein Opfer befindet, oder ist es angemessener, ihn möglichst gut anzulügen und in die falsche Richtung zu schicken, um dem Ziel, das Leben des Opfers zu schützen, Rechnung zu tragen? Anwendungsdiskurse bestehen also in der Erörterung der Frage, welche der konfligierenden Normen in der lokalen Situation appliziert werden sollte und welche nicht. Auf beiden Ebenen, also sowohl auf der Begründungs- als auch der Anwendungsebene, handelt es sich um genuin ethische Diskurse. So spricht etwa auch Habermas von den „Ergebnissen moralischer Begründungs- und Anwendungsdiskurse“112. Anwendungsdiskurse drehen sich lediglich um die diskursive Klärung, welche von den konfligierenden Moralnormen in der jeweiligen lokalen Situation angemessen(er) ist. (2) Diese zweistufige Unterscheidung der Ebenen reicht aber m. E. nicht aus, um die tatsächliche Situation adäquat zu beschreiben. Es bedarf einer dritten Ebene: „Implementationsebene“: Auf dieser dritten Ebene finden wir neben den moralischen auch alle anderen (= außermoralischen) orientierungsrelevanten Gesichtspunkte wieder: ökonomische Kostenaspekte ebenso wie politische Machtrestriktionen usw. Faktisch büßt hier die Moral ihren kategorischen Charakter ein. In Implementationsdiskursen kann weder die Ethik noch irgendeine andere Disziplin (auch nicht die Ökonomik) die Regie im Alleingang übernehmen. In Eigenregie kann die Ethik eben doch nur die ethischen Begründungs- und Applikationsdiskurse führen, die als solche dann aber nicht nur ein irrelevantes Wolkenkuckucksheim, sondern eine kohärente ethische Heuristik liefern (können), auf Kant (1991b), S. 641. Im Hintergrund steht die Architektonik von Kants Moralbegründung: Kant versteht negative Pflichten („Du sollst nicht lügen!“) als vollkommene Pflichten, positive Pflichten aber („Du sollst unschuldig Verfolgte vor Übel bewahren!“) nur als unvollkommene Pflichten, und schreibt daher den negativen Pflichten einen Vorrang zu. Im Ergebnis argumentiert Kant so, als ob überhaupt keine lokale Anwendungssituation denkbar sei, in der das Lügenverbot gegenüber einer anderen moralischen Norm zurücktreten könne. Der Begründungsdiskurs, also die Argumentation hinsichtlich der ethischen Gültigkeit des Lügenverbots, schlägt vollständig auf den Anwendungsdiskurs, also die Argumentation über die Frage, welche Norm in der jeweiligen Situation „angemessen“ (vgl. Günther 1988) ist, durch. Wenn man nun aber (wie Kant) nicht zwischen Begründungs- und Anwendungsebene unterscheidet, dann kommt unweigerlich jener moralistische Rigorismus heraus, an dem Kant „mit geradezu schrecklicher Konsequenz“ (Apel 1988, S. 280) festhält. 112 Habermas (1991), S. 141*. Auch Karl-Otto Apels „Teil B“ der Diskursethik, sein „verantwortungsethisches Ergänzungsprinzip E“, ist konzeptionell ein „Begründungsteil B, der die Diskursethik als Verantwortungsethik ausweist“ (Apel 1997, S. 168*). 110 111
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die man in Implementationsdiskursen zurückgreifen kann. Der Ethik als Ethik muss es auf dieser Ebene, in der sich entscheidet, was in der wirklichen Welt nun tatsächlich implementiert wird, was also tatsächlich geschieht, um die Frage gehen, wie man es konkret erreichen kann, dass das ethische Ergebnis der Anwendungsebene, also die in dieser lokalen Situation vergleichsweise beste weil angemessenste Spielregel, tatsächlich umgesetzt wird (wenigstens annähernd). Wenn man sich auf der Implementierungsebene beispielsweise mit einem Konflikt des ethischen Ziels mit ökonomischen Zielen konfrontiert sieht, dann erhöht man beispielsweise die Implementierungschancen des ethischen Zieles dadurch, dass man sicherstellt, dass sich die Umsetzung eines ethischen Ziels auch (betriebs)wirtschaftlich lohnt.113 Denn wie erklärte Shirley Chisholm seinerzeit sehr treffend: „When morality comes up against profit, it is seldom profit that loses.“ (3) Ein letzter Baustein des obigen Schemas betrifft den „ontologischen“ Status moralischer Prinzipien und Normen in der Welt, in der wir leben. Hierzu hat Alfred N. Whitehead seinerzeit eine hilfreiche terminologische Differenzierung zwischen drei Formen des „Existierens“ vorgenommen, welche sich nun auch in meinem Schema wiederfinden: Die erste Existenzform nennt er „actuality“ („Wirklichkeit“) und bezeichnet damit die gegebenen Fakten, also das, was aktual und konkret tatsächlich ist. Eine zweite Weise des Existierens bezeichnet Whitehead mit dem Begriff der „reality“ („Realität“ oder besser: „reale Möglichkeit“): Hier geht es um eine potenzielle Existenz, aber eine solche, die hier und heute verwirklicht werden könnte: „The future has […] reality in the present, but no […] actuality.“114 Realität ist etwas, was wirklich („actual“) werden kann115: „The present is the […] process whereby reality becomes actual.“116 Zum dritten gibt es bei Whitehead noch einen weiteren Typus potenzialer Existenz: die „reinen“ oder „idealen“ Potenziale. Whitehead unterscheidet also zwischen einer „idealen“ (generellen, reinen) Potenzialität auf der einen Seite und der „realen“ Potenzialität auf der anderen Seite. Die idealen Potenziale heißen in der Prozessphilosophie „eternal objects“117. Während die reinen (idealen) PotenEin typisches Beispiel hierfür wäre der Emissionshandel. Whitehead (1929 / 1978), p. 215. 115 „It is the reality of what is potential“ (Whitehead 1929 / 1978, p. 66). 116 Whitehead (1929 / 1978), p. 214. Ein wirklicher Prozess setzt Möglichkeiten voraus, die aktualisiert werden können: „The process […] is the transformation of the potential into the actual.“ (Whitehead 1936 / 1968, p. 151) Daher gilt: „The process is the achievement of actuality.“ (Whitehead 1926 / 2007, p. 114). Sein Hauptwerk trägt den Titel „Process and Reality“ (Whitehead 1929 / 1978). Der Begriff „reality“ beschreibt die greifbaren Potentiale für den aktualen „Prozess“ der gegenwärtigen Welt. 117 „The eternal objects are the pure potentials of the universe.“ (Whitehead 1929 / 1978, p. 149) 113 114
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ziale für den wirklichen Prozess des Universums hier und jetzt nur abstrakte Möglichkeiten darstellen, könn(t)en die realen Potenziale hier und jetzt tatsächlich verwirklicht werden. Beispielsweise ist die Möglichkeit, dass sich der Mensch aus eigenen Kräften (also ohne Hilfsmittel) in die Lüfte erhebt und fliegt, hier und heute eine nur reine oder ideale Möglichkeit; es mag aber sein, dass die Evolution eines schönen Tages menschliche Lebewesen entwickelt, für die die Möglichkeit zu fliegen eine bereits reale, also tatsächlich ergreifbare Möglichkeit darstellt. Angewandt auf moralische Normen bedeutet dies: Moralische Normen mögen ethisch begründet sein, doch diese valide ethische Begründung fundiert lediglich ein moralisches Ideal, eine reine moralische Existenzweise, noch lange nicht aber eine wirkliche (aktuale) Existenz in der „physischen“ Welt, in der wir leben. Auf der einen Seite ist die moralische Idealität dieser Normen (mehr oder weniger) unabhängig vom aktualen Status Quo, und die (weit weniger ideale) Wirklichkeit kann diese moralischen Ideale nicht ihrer (idealen) Existenz berauben. Auf der anderen Seite stellt die moralische Idealität begründeter (Gerechtigkeits)Prinzipien allein in keiner Weise ihre Applikation oder Implementation in der wirklichen (aktualen) Welt sicher. Und der Grund hierfür ist die Polydimensionalität der wirklichen Welt, in der wir leben. Auch die auf der Applikationsebene in Anwendungsdiskursen gefundenen situationsangemessenen moralischen Normen können zwar auf der Implementationsebene eingebracht werden, finden sich dort aber mit einer Vielzahl konkurrierender Ansprüche wieder: Neben den moralischen Gerechtigkeitsaspekten spielen hier ökonomische Kostenaspekte ebenso eine Rolle wie politische Machtaspekte, juristische Gesichtspunkte oder technische Normen. Die Welt in der wir leben (= die Aktualität, die wirklichen Prozesse, die Ebene der Implementation) ist polydimensionaler Natur. Nicht nur der moral point of view kann eine Rolle spielen, sondern auch der economic point of view oder technische Aspekte oder politische Restriktionen. Alle diesen Dimensionen sind Realitäten, die auf der Implementationsebene der wirklichen (aktualen) Welt wichtig werden können. (3) Wenn man das eben dargelegte Drei-Ebenen-Schema nun abschließend auf unser Thema der „Solidarität“ anwendet, so ist klar, dass die vorgelegte „Metaphysik der Solidarität“ zunächst einmal der idealen Begründungsebene zuzuordnen ist. Denn wendet man diese „social solidarity“ aller Geschöpfe des Universums ins Normative, dann wird uns ein unerreichbares Ideal vor Augen gestellt: „Eigentlich“ oder idealiter sollten wir mit allen Geschöpfen solidarisch sein. „Eigentlich“ sollten wir die Welt von diesem idealen „moral point of view“ aus sehen – und das heißt nichts anderes als all diese Geschöpfe zu lieben. Doch zu dieser Perspektive, die die Perspektive Gottes ist – unabhängig davon, ob er existiert oder nicht – sind wir schlicht nicht in der Lage. Rein pragmatisch orientierte Zeitgenossen werden daher der Auffassung zuneigen, dass wir diese ideale metaphysische Ebene gleich ganz vergessen können. Wir können sie ja sowieso nicht wirklich anwenden. Dem würde ich entgegenhalten: Doch, auch wenn wir diese ideale Ebene nicht eins zu eins anwenden können,
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so ist sie dennoch unverzichtbar: als „Leitstern“, als „Leuchtturm“, der für uns als „regulative Idee“ fungiert, in welche Richtung wir uns möglichst bewegen sollten (so weit das irgendwie geht). Ich bin der Auffassung, dass all diese Ideale der Menschheit eine kulturelle Errungenschaft darstellen, die wir auf keinen Fall leichtfertig aufgeben sollten. Im Grunde ist es auch diese ideale Ebene der „Metaphysik der Solidarität“, welche uns im Bewusstsein hält, dass – wie Whitehead es formuliert hat – das Leben „Räuberei“ ist. Und wenn wir auf der Anwendungsebene entscheiden, dass diese oder jene spezifische „Räuberei“ ethisch gerechtfertigt und rechtlich zulässig ist, so doch immer in dem Bewusstsein, dass die Dinge „eigentlich“, also idealiter anders sein sollten.
V. Schlussfolgerungen Die Erde ist nicht der Himmel. Und man darf sich auch nicht einbilden, dass man aus eigener Kraft den Himmel auf Erden herstellen könnte (denn alle, die sich das eingebildet haben, haben eher die Hölle auf Erde produziert). Aber es gehört meines Erachtens zu den kulturellen Errungenschaften der Menschheit, die Idee des Himmels ge- oder erfunden zu haben – ge- oder erfunden, je nachdem, ob es so etwas wie den Himmel wirklich gibt oder nicht. Mir ist klar, dass die ethischen und juristischen Diskussionen an dieser Stelle erst wirklich anfangen (Stichwort etwa: „Menschenrechte für Tiere?“118). Trotzdem ist es meines Erachtens unerlässlich, sich ganz grundsätzlich vor Augen zu halten, was Solidarität „eigentlich“ bedeutet. Und diese Heuristik erschließt sich noch nicht in einer Gesellschaftstheorie der Solidarität, sondern erst in einer kosmologischen „Metaphysik der Solidarität“. Summary The paper defends the hypothesis that at the bottom of the question of „solidarity“ we are faced with a metaphysical problem. The argument contains four steps. Step 01: It can be shown that human history is on balance a non zero sum game. Right up to today’s globalization, people have increasingly been playing economic non zero sum games and thereby became embedded in larger webs of interdependence. But during that process, a moral evolution took place: step by step the ethical insight grew, that the economic cooperation with other people was not just a proper means to capture mutual gains from trade, but that these people should be respected as humans and that finally all people belong to the solidary group of men. This was a discovery of a „moral truth“. Step 02: A metaphysical analysis of the universe reveals some evidence for the conjecture that this ethical insight really was the detection of a „moral truth“ (and not just the invention of a moral order that we impose). 118
Aus prozessphilosophischer Sicht hierzu etwa Hartshorne (1978); Hartshorne (1979).
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This evidence is provided by the „social structure of existence“ (Charles Hartshorne), a empirical „solidarity of one world“, which implies an ethical ideal of universal solidarity. Step 03: If we take the social question at its maximum, then we will end up with the idea of a „surrelative“ being, an „impartial sympathetic spectator“ or „ideal observer“, which is equivalent to the idea of God (or „love“ to all creatures). The theological idea of a divine perspective implies an ideal „moral point of view“, which is: an understanding of what the world of every creature looks like from the inside. Therefore ethics – which is the search for the viewpoint of impartiality (the „impartial sympathetic spectator“) – is always a kind of „God simulation“. Step 04: East of Eden, in our concrete, finite and contingent universe, it is simply not possible to comply with this ideal „moral point of view“, with this ideal solidarity. As Alfred North Whitehead said: „[L]ife is robbery. It is at this point that with life morals become acute. The robber requires justification.“ As a consequence, it is necessary to distinguish three different levels of ethical reasoning: the „Justification Level“, the „Application Level“ and the „Implementation Level“. Nevertheless, the „Metaphysics of Solidarity“ still serves as a heuristics for any „Ethics of Solidarity“.
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Der Mensch und seine Gesellschaft – Solidarität in der modernen Ordnungsdebatte Perspektiven christlicher Sozialethik Günter Wilhelms
I. „Appellitis“ oder der Ruf nach Solidarität Der Ruf nach Solidarität tönt aus allen Richtungen: Von der Solidarität mit den Armen, Papst Franziskus steht aktuell dafür, über den Solidaritätszuschlag für den Aufbau Ost, bis hin zur Solidarität mit Griechenland, Zypern u. a. im Zuge der sogenannten Schuldenkrise – der Begriff findet eine breite Verwendung. Dieses Schicksal teilt er übrigens mit anderen Begriffen wie Verantwortung oder Pflichtbewusstsein. In der sozialwissenschaftlichen und ethischen Debatte bezeichnet man dieses Phänomen gerne als „Appellitis“ oder Moralismus, also als etwas, das unangemessen ist, vor dem es zu warnen gilt. Der Ruf nach Moral, so argumentieren die Skeptiker, sei zumindest sinnlos, weil er keinen Beitrag zur Lösung der anstehenden Probleme zu leisten vermöge. Das sei so, weil Moral vereinfache, eine Unmittelbarkeit suche, die gerade angesichts von hochkomplexen, hochdifferenzierten und vernetzten gesellschaftlichen Bedingungen als unsachgemäß erscheinen müsse. Ist es nicht tatsächlich eine unglaubliche Naivität, mit der immer wieder an die Moral der Akteure appelliert wird, ans Pflicht-, Verantwortungs-, Solidaritätsbewusstsein der Manager und Investmentbanker, an den „ehrbaren Kaufmann“ in ihnen, die solche Skepsis nährt? Nicht zu vergessen der Häuslebauer und Bankkunde, der sich vom billigen Geld nur allzu gerne verlocken lässt. Ein solches Szenario kann auch die Ethik nicht kalt lassen. Auch sie muss der „Moralskepsis“ Rechnung tragen, wenn sie überhaupt noch mitdiskutieren will. Und sie reagiert auch, vor allem dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit verlagert: Die Gründe für die Vergeblichkeit der Moralrufe werden nicht mehr bei den beteiligten Akteuren, den sittlichen Subjekten gesucht, sondern auf gesellschaftlicher Ebene, auf der Ebene der Strukturen und Institutionen. Entsprechend wird umgestellt – von der Individual- auf die Sozialethik.1 „Gegenstand und Aufgabe der S. (Sozialethik, G.W.) ist die Bestimmung der sittlichen Form all jener Ordnungen, 1 Diese „Umstellung“ ist nicht neu. Schon Rousseau hat die Gesellschaft in diesem Sinne in den Blick zu nehmen versucht; vgl. Ernst Cassirer, Über Rousseau. Hrsg. und mit einem Nachwort von Guido Kreis, Frankfurt: Suhrkamp, 2012, 39 ff.
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die menschliches Handeln in Gesellschaft normieren und sich darin der Verfügung durch den einzelnen, seinem unmittelbaren sittlichen Gestaltungswillen, entziehen.“2 Allerdings neigt dieser Perspektivenwechsel dazu, die Gesellschaft und ihre Institutionalisierungen zu „entmoralisieren“: sittliches Subjekt und gesellschaftliche Ordnungen bzw. Institutionalisierungen werden getrennt. Ein solches Denken ist weit verbreitet und findet sich etwa in ökonomischen Kontexten. Typisch ist die zentrale Option der sogenannten „ökonomischen Ethik“. Sie lautet: „Der systematische Ort der Moral in der Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung.“3 Hinter dieser Option steht die Annahme von der Unangemessenheit individualethischer Kategorien in modernen, hochkomplexen Gesellschaften. Ein solches Denken findet sich aber auch in kirchenamtlichen Verlautbarungen, etwa in der Enzyklika von Papst Benedikt XVI. von 2009 „Caritas in veritate“. „Die Wirtschaft und das Finanzwesen können, insofern sie Mittel sind, tatsächlich schlecht gebraucht werden, wenn der Verantwortliche sich nur von egoistischen Interessen leiten lässt. So können an sich gute Mittel in schadenbringende Mittel verwandelt werden. (…) Daher muss sich der Appell nicht an die Mittel, sondern an den Menschen richten, an sein moralisches Gewissen und an seine persönliche und soziale Verantwortung.“4 Die häufig und zu recht kritisierte tugend- oder individualethische Verkürzung des päpstlichen Blicks auf die Wirtschaft ist das eine. Zugleich kann man in beiden Beispielen so etwas wie die Vorstellung von einem „neutralen Instrument“ finden. Soziale Konstruktionen, hier der Markt, werden so verstanden, dass sie von ihrem konkreten Gebrauch durch die Menschen unterschieden werden müssen. Eine solche Strategie mag auch ein Ausdruck für die Vorstellung sein, dass der Mensch durch Distanzierung mehr Spielraum im Umgang mit der Welt zu gewinnen sucht. Aber diese Trennung von „Mitteln“ und „Menschen“ könnte eben auch der Idee einer Entmoralisierung der Gesellschaft Vorschub leisten und schließlich zum Zwangsmittel degenerieren – dann nämlich, wenn das sittliche Subjekt mit seiner Moral den abstrakten Mitteln nicht mehr viel entgegenzusetzen hätte. Aber ist es nicht sehr plausibel, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in dieser Weise zu bestimmen, wenn man wieder an die Komplexität der modernen Gesellschaft denkt? Wie sollte sonst der Zusammenhalt der Gesellschaft organisiert werden, wenn nicht über die Ordnungsebene? Lässt sich dieses typisch moderne Dilemma überhaupt auflösen? 2 Wilhelm Korff, Art. Sozialethik, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Freiburg: Herder, 7. Aufl. 1988, Sp. 1281 – 1290, 1281. 3 Karl Homann, Art. Wirtschaftsethik, in: Georges Enderle u. a. (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg: Herder, 1993, Sp. 1286 – 1296, 1290. 4 Papst Benedikt XVI., Caritas in veritate (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 186), Bonn, 2009, Nr. 36. Gegenteilig lautende Textpassagen lassen sich allerdings auch finden. Das zeigt nur die große Unsicherheit im Umgang mit der Ethik gesellschaftlicher Ordnungen.
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Die nun folgenden Überlegungen verstehen sich als ein Plädoyer für die Konzentration der ethischen Aufmerksamkeit auf die „Wechselwirkung“ von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und ihren Institutionalisierungen auf der einen Seite und den individuellen Subjekten auf der anderen. Zwar muss auch die Ethik vor den Moralisierern warnen. Aber es darf nicht darum gehen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Der „Ruf nach Solidarität“5 kann in diesem Sinne auf die besondere Bedeutung von Institutionalisierungen und gesellschaftlichen Ordnungen für die Selbstentfaltung des Menschen aufmerksam machen. Das setzte allerdings voraus, dass beide Pole nicht völlig getrennt, sondern in ein spezifisches Verhältnis zueinander gesetzt würden. Es ginge um Vermittlungen der Selbstentfaltung des Menschen. Und insofern Institutionalisierungen eine solche zu leisten vermögen, gestalten sie Solidarität, und zwar im Sinne eines „Sozialprinzips“. Solidarität soll, so die These, in diesem Sinne als eine Suchbewegung nach solchen Leistungen oder Funktionen verstanden werden. Diese Suchbewegung findet sich schließlich in der aktuelle Ordnungsdebatte wieder. Sie ist geprägt von der Frage, ob Staat und Markt noch in der Lage sind, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu organisieren oder ob sie sich nicht schon so weit von den Menschen entfernt haben, „entmoralisiert“ oder „ent-subjektiviert“ sind, dass sie nicht mehr als integrative Mechanismen funktionieren können. Am Beispiel dieser Debatte, die traditionell mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips geführt wird, lässt sich noch einmal die Bedeutung der Verhältnisbestimmung von sittlichem Subjekt und Gesellschaft plausibel machen. Dem aufmerksamen Leser wird sofort aufgefallen sein, dass auf jede begriffsund philosophiegeschichtliche Einordnung des Themas verzichtet wird. Diese Beschränkung ist dem vordringlichen und progammatischen Interesse geschuldet, die traditionelle Auseinandersetzung über Solidarität, die die katholische Soziallehre unter dem Titel „Sozialprinzipien“ geführt hat, mit Blick auf die moderne Ordnungsdebatte kritisch weiterzuführen.
II. Baugesetz der Gesellschaft: Solidarität als „Sozialprinzip“ Wenn man sich aus der Perspektive christlicher Sozialethik, zumal mit der Tradition der katholischen Soziallehre im Gepäck, dem Begriff der Solidarität nähert, dann liegt als erste Reaktion nahe, von einem „Heimspiel“ zu sprechen. Schließlich gehört die Solidarität zu den sogenannten „Sozialprinzipien“, die so etwas wie den normativen Kern dessen ausmachen, was diese Lehre zur Ordnung der Gesellschaft zu sagen hat. Zusammen mit der „Subsidiarität“6 bilden sie die Gesamtheit der 5 Zugegeben, hier finden die Begriffe „Solidarität“ und „Moral“ eine bedeutungsähnliche Verwendung. Solidarität konzentriert sich allerdings auf die Bedeutung der institutionellen Seite für die Entwicklung des moralischen Bewusstseins. Dabei geht es weniger um Inhalte als um Funktionen. 6 Manche rechnen das „Gemeinwohl“ dazu und mittlerweile wird auch die „Nachhaltigkeit“ von vielen zu den Sozialprinzipien gerechnet. Alle Sozialprinzipien sind im Kern auf die
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„Baugesetze der Gesellschaft“, so hat sich Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Soziallehre, einmal ausgedrückt.7 Die Sozialprinzipien wollen die innere Struktur der menschlichen Gemeinschaft bestimmen, also das, was sie „im Innersten trägt und zusammenhält“.8 Sie meinen etwas Ursprüngliches, wovon etwas seinen Ausgang nimmt; sie meinen einheitsstiftende Grundsätze und Regeln. Diese ihre Regelhaftigkeit und Gesetzlichkeit schöpfen die Prinzipien letztlich aus den „tiefsten Schichten menschlichen Seins“9. D. h. die Tatsache, dass der Mensch in Gemeinschaft lebt, ist ihm zugleich wesentlich, sie gründet in seiner Natur, in seiner „Leibnatur“ und in seiner „Geistnatur“, so Nell-Breuning weiter.10 Sie macht sein Menschsein aus. Diese stark metaphysisch geprägte Ausdrucksweise ist dem klassischen Begründungskontext der katholischen Soziallehre geschuldet, steht aber einer, wie noch zu zeigen sein wird, eher funktionalen, prozesshaften und geschichtlichen Sicht des Menschen dann nicht grundsätzlich im Wege, wenn sie auf die ihn auszeichnende soziale Vermitteltheit alles Geistigen hinweisen will. Die Sozialprinzipien haben für sich nicht den Anspruch, eine solche Begründung selbst leisten zu können. Sie stehen gleichsam zwischen theoretischer Begründung und konkreter Anwendung, durchaus vergleichbar der Funktion der Anthropologie für die Ethik: Die Anthropologie sorgt dafür, dass die Ethik nicht „natural unwahrscheinlich“ wird.11 D. h., die Prinzipien sind nicht nur vom Begründungsdiskurs abhängig, sondern müssen ihre Gültigkeit im Anwendungsdiskurs immer wieder neu erweisen. Dass die Personalität das zentrale Prinzip darstellt, ist unstrittig; genauer gesagt: Das Personprinzip ist der Kern der Sozialprinzipien. Der Personbegriff ist der letzte Maßstab für die Gestaltung der Gesellschaft, weil der Mensch ein mit persönlicher Würde und Freiheit ausgestattetes Geschöpf ist. Zugleich ist er verflochten in seine konkrete, geschichtliche Wirklichkeit. Er ist auf die Gesellschaft angewiesen. Und er ist sich selbst aufgegeben, er kann und soll seine Persönlichkeit entfalten. Der Mensch ist niemals nur Objekt, das, was Andere aus ihm machen. Deshalb ist das Verhältnis von Gesellschaft und Person als Dienstverhältnis zu bestimmen: Die Gesellschaft ist der Menschen wegen da und nicht der Mensch der Gesellschaft wegen. Mit den Worten von Papst Johannes XXIII.: „Die Soziallehre, die die katholische Kirche überliefert und verkündet, bleibt ohne Zweifel für alle Zeiten in Geltung. Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre muß der Mensch der Träger, Schöpfer Person gerichtet, manche bezeichnen die Personalität als eigenes Sozialprinzip, weil sie die Gesellschaft so bauen wollen, dass sie der Selbstentfaltung des Menschen dienlich ist. 7 Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, Freiburg: Herder, 1990. 8 Ebd., 15. 9 Ebd. 10 Ebd., 22. 11 Jean-Pierre Wils, Art. Anthropologie, in: Marcus Düwell/ Christoph Hübenthal/ Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart: J.B. Metzler, 2002, 301– 305, 302.
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und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt und zugleich zu einer höheren Ordnung berufen ist, die die Natur übersteigt und diese zugleich überwindet. Dieses oberste Prinzip trägt und schützt die unantastbare Würde der menschlichen Person.“ 12 Und weil der Mensch aus Sicht des christlichen Glaubens fehlbar ist, Sünder, ist immer darauf zu achten, dass die Möglichkeiten des Menschen begrenzt sind – die je persönlichen, aber auch die gesellschaftlichen. Geht es um die gesellschaftliche Ordnung, dürfen seine moralischen Möglichkeiten nicht überfordert werden, alle sozialen Gestaltungen müssen vielmehr seinen (Un)Möglichkeiten entgegenkommen. Aber auch die Erwartungen an die Ordnung und ihre integrative Kraft dürfen deshalb nicht illusorischen Charakter annehmen.13 Die Sozialprinzipien versuchen also eine Antwort auf die Frage zu geben, was es denn sei, was unsere Gesellschaft zusammenhält und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Sie sollen dabei helfen, die tatsächlich vorherrschenden Bedingungen und Überzeugungen mit einer bestimmten Idee von humaner Gesellschaft zu konfrontieren – mit dem Ziel, einen Beitrag nicht nur zur Aufklärung unseres gesellschaftlichen Bewusstseins zu leisten, sondern auch eine humanere Gesellschaft auf den Weg zu bringen.
III. Zwischen Ich und Du: Solidarität als Strukturprinzip Solidarität ist, wie gesagt, eines der beiden „Baugesetze der Gesellschaft“. NellBreuning bringt den Sinn des Solidaritätsprinzips wie folgt auf den Punkt: „Der Volksmund spricht es so aus: ‚Wir sitzen alle in einem Boot‘. Damit ist gemeint: das gesellschaftliche Ganze und seine Glieder sind aufs engste schicksalhaft miteinander verbunden. Soll es dem Ganzen wohl ergehen, dann muß es allen seinen Gliedern wohl ergehen; soll es den Gliedern wohl ergehen, dann muß das Ganze in gutem Befund sein.“14 Als sozialethisches Prinzip bezieht sich die Solidarität auf die sozialen Strukturen und Institutionen der Gesellschaft und formuliert den Anspruch, wechselseitigen Beistand institutionell abzusichern. Das Prinzip hat vermittelnden Charakter – zwischen Individuum und Gesellschaft. „Weil die Solidarität als Auslegung des Personalitätsprinzips verstanden werden muss – wir alle tragen Menschenantlitz aufgrund unserer gemeinsamen personalen Würde –, öffnete sie den Blick auch für die Strukturen, in denen sich wechselseitige Rücksichtnahme, 12 Johannes XXIII., Mater et magistra (1961), in: Bundesverband der Kath. ArbeitnehmerBewegung Deutschlands, KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer: Ketteler-Verlag, 8. Aufl. 1992, 171 – 240, 228 f. 13 Vgl. Das Zweite Vatikanische Konzil, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“, in: Karl Rahner/ Herbert Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg: Herder, 1966, 460 f. (Nr. 13). 14 Oswald von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien: Europa Verlag, 1980, 46.
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Identifizierung, Fürsorge, Versöhnung unmittelbar einspielen und erfahren werden können.“15 Wenn man die ethische Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Ebene richten will, auf die objektiven, sozialen Bedingungen, unter denen das individuelle sittliche Subjekt leben und entscheiden muss, erscheint es naheliegend, eine anthropologische Perspektive zu wählen, die diese Ebene konstitutiv mit einbezieht. Der „klassische“ Begründungsweg der katholischen Soziallehre rekurriert auf die „Natur“ des Menschen, eine Natur, die ihn zur Gemeinschaft drängt. Was weniger in den Blick gerät ist die Wechselwirkung, die Dynamik, die Synthesis zwischen subjektiver und objektiver Ebene. Zwar wird in der traditionellen Begründung davon ausgegangen, dass der Mensch zu seiner Selbstentfaltung der Gemeinschaft, der Welt bedarf. Aber die gesellschaftlichen Produktionen in ihrer konkreten Vielgestaltigkeit bleiben doch mit Blick auf ihre vermittelnde Funktion dem Prozess der Selbstentfaltung eigentümlich äußerlich. Die Rede von „Baugesetzen“ bestätigt diesen Eindruck. Sie ist ein Hinweis darauf, dass eher an Substantialitäten als an Funktionalitäten zu denken ist. Der Rückgriff auf „die Natur“ hat sicher den Vorteil, den Menschen gegen gesellschaftliche Übergriffe zu schützen, tendiert aber dazu, bestimmte Inhalte der Geschichte und damit jeglicher Kritik zu entziehen. Um diese einseitige Sichtweise zu ergänzen, können mit Hilfe einer kulturanthropologischen Perspektive zwei Merkmale des Menschen besonders hervorgehoben werden: 1. Der Mensch kommt erst zu sich selbst, erkennt sich, verwirklicht sich selbst, indem er aus sich herausgeht, handelt, sich seine Welt schafft. Er ist nicht etwas Statisches, keine in sich geschlossene Substanz, sondern Prozess. Er ist, so könnte man auch sagen, ein durch und durch kulturelles Wesen. Alle gesellschaftlichen Formen, im Sinne von kulturellen Formen, haben vermittelnde Funktion; sie vermitteln den Selbstvollzug des Menschen. Sie vermitteln deshalb, weil sie Distanz und dadurch Reflexion und Selbsterkenntnis ermöglichen. Genauer gesagt, sie sind immer beides: Produkt und Vermittlung, Schöpfung und Schöpferin. Wobei anzumerken ist, dass die Rede von „Kultur“ kein Versehen, sondern eine Akzentsetzung des Begriffs „Gesellschaft“ bedeuten soll: Der Begriff der Kultur hat gegenüber dem der Gesellschaft den Vorteil, die Synthese von subjektiver und objektiver Ebene abzubilden, weil er als Inbegriff der vom Menschen produzierten Lebenswelt verstanden werden kann.16 2. Der Mensch ist wesentlich auf den Anderen, das Du verwiesen. D. h. die kulturellen Formen, die sich, einmal geschaffen, von seinem Produzenten entfernen und objektiv werden, sind doch nur ein Günter Wilhelms, Christliche Sozialethik, Paderborn: UTB-Schöningh, 2010, 109. „Gesellschaft“ wird häufig als unpersönliche, rein sachliche Größe verstanden, „Kultur“ dagegen als Inbegriff der vom Menschen produzierten Lebenswelt, also als Synthese zwischen subjektiver und objektiver Ebene. Gesellschaft soll also hier im Sinne der Kultur als Produktion, besser: als Vermittlung verstanden werden. Vgl. zur kulturanthropologischen Perspektive, die sich eng an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen anlehnt: Günter Wilhelms, (K)eine Wirtschaftsethik? Versuch einer Kritik aus symbolethischer Perspektive, in: Theologie und Glaube 104 (2014) 243 – 259. 15 16
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Übergang, ein Durchgangspunkt – vom Ich zum Du. Am Werk entzündet sich die Tätigkeit des je Anderen; auch der Rezipient ist insofern aktiv, das Werk regt zur eigenständigen Auseinandersetzung an. Das Werk, das der Mensch in seinem Kulturschaffen hervorbringt, ist kein Endpunkt, kein „Absolutes“, sondern Vermittlung – vom Ich zum Du. Diese Form der Verbindung zwischen Ich und Du, nennen wir sie „Solidarität“, ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie Spielräume schafft für individuelle Entscheidungen. D. h., der Mensch schafft nicht einfach nur seine Kultur, die ihm dann in ihrer Objektivität, gleichsam erstarrt, gegenübertritt. In seinem Kulturschaffen eröffnet er vielmehr zugleich ein Medium für die Selbstentfaltung von Ich und Du. Eine solche Sicht des Menschen ist eher in der Lage, die tiefe gesellschaftliche Verflochtenheit der Person, ihre institutionelle Einbindung, angemessen auf den Begriff zu bringen. Vom Einzelnen und seinen Möglichkeiten auszugehen und die gesellschaftliche Seite lediglich als Rahmenbedingung mit einfließen zu lassen, kann als individualistische Verkürzung (miss)verstanden werden. Für die einzelnen Personen sind die Institutionen nicht einfach nur Spielräume für ihr Handeln; Personen bilden sich innerhalb ihrer institutionellen Einbindungen – ohne in ihnen völlig aufzugehen. Zugleich ist es gerade diese gesellschaftliche Vermittlung des Einzelnen, die die mit der Entmoralisierung einhergehende „Eigensinnigkeit“ der gesellschaftlichen Institutionalisierungen so problematisch macht. Aus dieser Perspektive wird die fundamentale ethische Imprägnierung der menschlichen Lebenswelt unmittelbar einsichtig. Verantwortung meint die bewusst gemachte Solidarität, Solidarität die kulturelle Vermittlung von Ich und Du. Deshalb hat der Mensch Verantwortung für die Vermittlung – mit Blick auf sich selbst und den Anderen. Diese Verantwortlichkeit ist gemeint, wenn von Solidarität die Rede ist, die Verantwortlichkeit, die in der Bedeutung der jeweiligen Produktionen für die Selbstentfaltung der anderen immer schon mitgesetzt ist. Nell-Breuning spricht deshalb auch zu recht von der Solidarität als „gegenseitiger Verantwortung“.17 Diese Verantwortlichkeit wird noch einmal konkret und greifbar, insofern die kulturellen Formen, die Vermittlungen historische, materielle Gestalt annehmen – sie sind „manipulierbar“. Deshalb kann der menschliche Selbstvollzug auch zum Objekt unseres Verhaltens werden. Wir können Freiheit und Selbstentfaltung „pflegen oder zerstören“18. Noch einmal anders gesagt: Diese Zusammenhänge sind es schließlich, die die Rede oder Vorstellung von einer „moralfreien“ Gesellschaft, ob in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft oder Politik, als fragwürdig erscheinen lassen. Immer dann, wenn der Mensch handelt, ist er verantwortlich, mag er wollen oder nicht. Die Herausforderung besteht darin, diese Verantwortlichkeit bewusst zu machen und entsprechend zu gestalten. Die Rede von Moral- oder Ethikfreiheit ist in diesem Sinne irreführend und wird sogar selbstwidersprüchlich, insofern sie sich ja gerade aus Vgl. Nell-Breuning (Fn. 3), 13. Oswald Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin: Akademie Verlag, 1997, 36. 17 18
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dem Willen zur Selbstgestaltung speist – einem Willen, den sie zugleich verleugnet, indem sie Subjekt und Objekt trennt.19 Wenn die christliche Sozialethik den Zusammenhalt der Gesellschaft zu bestimmen versucht, dann ist klar, dass er nicht allein durch bestimmte, moralfrei gedachte Instrumente oder Mechanismen zu gewinnen ist. M. a. W., es geht um eine Gesellschaft, die nicht nach mechanischen Regeln funktioniert, sondern sittlich integriert ist. Die Gesellschaft „mechanisch“ integriert zu denken hieße nämlich, bestimmten Mechanismen gerade deshalb zu vertrauen, weil sie weitgehend unabhängig vom „Faktor Mensch“ funktionierten. Ein solches „Zwei-Welten-Schema“ ließe sich mit der Idee der Solidarität als Sozialprinzip nicht mehr sinnvoll in Verbindung bringen.
IV. Staat oder Markt oder … Die Ordnungsdebatte Sehen wir uns noch einmal die moderne Gesellschaft an und fragen nach möglichen Konsequenzen aus der (kulturanthropologisch inspirierten) sozialethischen Reflexion für die Ordnungsdebatte. Es sind vor allem zwei zentrale Mechanismen, über die die moderne Gesellschaft ihren Zusammenhalt organisiert: der Staat und der Markt. Weil die moderne Gesellschaft nicht mehr über „Face-to-face-Beziehungen“, über Kleingruppenmoral integriert werden kann, haben sich Ordnungsmechanismen ausgebildet, die mit anonymen, komplexen, ausdifferenzierten Bedingungen, wie sie für die moderne Gesellschaft typisch sind, umzugehen verstehen. Nach dem weitgehenden Zusammenbruch der traditionellen Bindungskräfte wie Tradition und Religion und dem Ende der hierarchischen Ordnung – unsere Gesellschaft erscheint eher als eine ohne Zentrum und Spitze – sind es Staat und Markt, die individuelles Verhalten koordinieren und integrieren.20 Wenn man nun wieder an das Phänomen des „Moralappells“ zurückdenkt, an den „Ruf nach Solidarität“, dann darf man darin wenigstens so etwas wie ein Unbehagen der Menschen gespiegelt sehen, ein Unbehagen, das gerade in der weitgehenden Anonymität der modernen Gesellschaft gründet. Dabei sind es auf der einen Seite der Staat mit seiner Bürokratie, dem Rechtssystem und einer eigeninteressierten Politik, auf der anderen Seite der Markt mit seinen auf ökonomische Rationalität, auf Kosten-Nutzen-Kalkulation reduzierten Austauschbeziehungen, die dieses Unbehagen nähren.21 Die Zeitdiagnostiker sind sich weitgehend einig, wenn sie 19 Nun könnte man noch einmal, wie es in den entsprechenden Lehrbüchern üblich ist, unterscheiden: Solidarität als Aussage über das gesellschaftliche „Sein“, der Mensch ist abhängig von der Gesellschaft, und Solidarität als „Sollen“, nämlich der Forderung, sich entsprechend dieser Abhängigkeit zu verhalten. Aber man muss nicht bestimmten Konstanten der Humanität, bestimmten Wesenseigenschaften des Menschen normative Kraft zusprechen, um die Verbindung von Anthropologie und Ethik deutlich zu machen. (Vgl. Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn: Schöningh, 1998, 197) 20 Wobei sich der „Staat“ aus soziologischer Perspektive noch einmal aus drei Elementen zusammensetzt: die Bürokratie, das Recht und die Politik.
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eine „Austrocknung“ der Lebenswelt feststellen, wenn sie die Menschen als Opfer, als Getriebene dieser gesellschaftlichen Entwicklung ansehen.22 Verrechtlichung, Bürokratisierung und Leistungsdenken, Kosten-Nutzen-Kalkulation – alles das sind Strukturen, so kann man etwa mit dem Soziologen James Coleman feststellen, die zwar Wahlfreiheit ermöglichen, aber zugleich die Personen überflüssig, weil austauschbar, machen. Sie kultivieren Unpersönlichkeit.23 Was für Coleman ein Problem ist, scheint für andere der Weg zur Lösung. Sie machen schlicht aus der Not eine Tugend: So versucht der Wirtschaftsethiker Karl Homann die Solidarität konsequent „modernitätskompatibel“ zu rekonstruieren: „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.“24 Moralische Intentionen, als solche interpretiert er die Solidarität, müssen in Institutionen, hier den Wettbewerb, transformiert werden. Das muss so sein, so argumentiert er, weil die Erwartung solidarischen Handelns die Interdependenz der Handlungen und die daraus oft resultierenden Sachzwänge, typisch für die modere Gesellschaft, ignoriert und individuelle Moral als naiv und ausbeutbar erscheinen lässt. Wenn der Wettbewerb zum funktionalen Äquivalent für Solidarität erklärt wird oder, weniger scharf formuliert, wenn die Solidarität durch den Wettbewerb vermittelt werden soll, besteht der Clou des Gedankens darin, gerade ein Mittel einzusetzen, das auf die moralische Beteiligung verzichten kann bzw. mit der Minimalmoral des Eigeninteresses auskommt. Von einer Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt, wie oben beschrieben, kann dann keine Rede mehr sein; die Wechselwirkung wird vielmehr unterbrochen oder blockiert. Die dann dem Menschen „fremd“ gewordene Welt lässt ihn aber nicht in Ruhe, sondern entwickelt ein Eigenleben, das keine Wahl mehr lässt. Sachgesetzlichkeit wandelt sich zum Sachzwang. Und die ökonomische Ethik hat nichts Besseres zu tun, als diese Entwicklung zur Norm 21 Auch die Kapitalmarktkrise von 2007 / 2008 hat die Grenzen dieser beiden „Integratoren“ noch einmal sehr deutlich werden lassen. Auch wenn sich die Politik zunächst als entscheidungsstark zu inszenieren vermocht hatte, so zeigt sich mittlerweile (wieder) ihre Schwäche; die Finanzmärkte „funktionieren“ wie vordem und die Staatsschulden haben die Spielräume der Politik deutlich eingeschränkt. Und der Markt hatte einmal mehr seine Unberechenbarkeit demonstriert; waren es doch gerade seine Selbstkontrollinstrumente, die schließlich alle Dämme brechen ließen. Wie auch immer: das Vertrauen in diese beiden Mechanismen ist sichtlich begrenzt. D. h. weder Staat noch Markt scheinen in der Lage zu sein, diese Aufgabe der gesellschaftlichen Integration zu erfüllen – zu sehr sind sie mit sich selbst beschäftigt, mit Machtgewinn oder -verlust, mit Kosten-Nutzen-Kalkulation. Die Rede von der „Postdemokratie“ (vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt: Suhrkamp, 2008) bestätigt noch einmal diese Beobachtungen. 22 Vgl. Uwe Schimank, Individuelle Akteure: Opfer und Gestalter gesellschaftlicher Dynamiken, in: Ute Volkmann/ Uwe Schimank (Hrsg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen, Opladen: Leske u. Budrich, 2002, 367 – 389. 23 Vgl. James Coleman, Die asymmetrische Gesellschaft. Vom Aufwachsen in unpersönlichen Systemen, Weinheim: Beltz, 1986. 24 Karl Homann, Gerechtigkeit und Wirtschaftsordnung, in: Wilhelm Ernst (Hrsg.), Gerechtigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, Freiburg: Herder, 1992, 115 – 133, 131.
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zu erklären: Die objektiven Bedingungen sollen so organisiert werden, dass sie (nur) eigeninteressiertes Handeln belohnen. Würde die Gesellschaft nach diesem Muster geordnet, wäre sie, über kurz oder lang, keine sittlich integrierte, sondern eine, die mechanisch funktioniert. Die „Herzen und Köpfe“ der Menschen wären nicht mehr beteiligt. Führt die Vertrauenskrise von Staat und Markt eher dazu, den Moralismusvorwurf zu verstärken? Ist der „Ruf nach Solidarität“ mit dem „Pfeifen im dunklen Wald“ zu vergleichen, bei dem man umso lauter pfeift, je weniger man sieht?25 Oder aber muss man die Krise als deutliches Anzeichen dafür werten, dass man eine gute Gesellschaft ohne Moral nicht bauen kann? Offenbart die Krise ein falsches gesellschaftliches Bewusstsein, ein Bewusstsein, das sich aus Kontroll- und Machbarkeitsillusionen speist, weil man den gesellschaftlichen Mechanismen gerade deshalb traut, weil sie, von moralischen Ansprüchen unbehelligt, funktionieren? Ist die richtige Antwort auf die Krise der „Ruf nach Solidarität“, weil er, indem er auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft abhebt, zugleich auf das verweist, was für den Zusammenhalt der Gesellschaft unverzichtbar ist? Zehren nicht Staat und Markt von Voraussetzungen, die sie nicht nur nicht selbst herstellen können, sondern auch „aufbrauchen“, indem sie sie systematisch entmutigen?26 In diesem Sinne ist der Ruf nach Solidarität als Ruf nach einer umfassenden „Ethisierung“ der Gesellschaft zu interpretieren. Es geht dabei gerade nicht um eine naive und unangemessene Moralisierung, sondern um Aufklärung, um die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Der Ruf nach Solidarität gewinnt seine ethische Kraft gerade dadurch, dass er die gesellschaftlichen Institutionen daraufhin prüfen will, inwiefern sie ihren Mitgliedern die für ihre Freiheit nötige Beteiligung ermöglichen.
V. Subsidiarität – Institutionalisierungen der Solidarität Wir hatten eingangs festgestellt, dass, aus der Perspektive katholischer Soziallehre betrachtet, Solidarität und Subsidiarität die beiden „Baugesetze der Gesellschaft“ sind. Warum noch ein weiteres Prinzip, neben dem der Solidarität? Mit der Subsidiarität hat diese Lehre den Aspekt der Institutionalisierung der Solidarität eigens hervorheben wollen. Die Subsidiarität soll auf die Frage antworten, wie denn die gesellschaftliche Gestalt von Solidarität als Pflicht zum wechselseitigen Beistand aussehen soll. Sie meint im Kern, um es auf eine Formel zu bringen, „Hilfe 25 Vgl. Karl Homann, „Mut zur Zukunft“ – in Kleinmut verstrickt. Vom Pfeifen im dunklen Wald, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 39 (1995) 116 – 120. 26 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie, München: Irisiana, 2011: Mit Verweis auf Ernst-Wolfgang Böckenförde betont er zu recht, dass sowohl die Ökonomie als auch die Demokratie nicht nur von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können, sondern die Ökonomie „gefährdet diese Voraussetzungen“ (S. 95) sogar. „Ökonomische Rationalität ist mit Kooperation unvereinbar.“ (S. 94)
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zur Selbsthilfe“ oder präziser ausgedrückt, die „ständische Mediatisierung“ des Subjekts. „Ständisch“ deshalb, weil die mittelalterliche Ständeordnung der Soziallehre zu Beginn des letzten Jahrhunderts zur Orientierung diente und all die gesellschaftlichen Sozialformen meinte, die zwischen Person und Staat, als größter Einheit, liegen. Weil es im Kern um die „Mediatisierung“, die soziale Vermittlung des Subjekts geht, lässt sich die Subsidiarität, anders als noch Nell-Breuning meinte, auf alle möglichen Gestaltungen oder Institutionalisierungen beziehen, ganz gleich ob sie „größer“ oder „kleiner“ sind, also in einer hierarchischen Stufenfolge zueinander stehen.27 Die traditionelle Deutung des Subsidiaritätsprinzips engt die rechte, humane Form der Institutionalisierung von Solidarität auf die hierarchische Zuordnung aller sozialen Gestaltungen zwischen Person und Staat ein. Das ist allerdings weder zwingend vom Grundgedanken des Prinzips selbst her, noch theoriestrategisch klug – zum Ersten, weil die Vermittlung der Person im Mittelpunkt steht, also eine Funktion, zum Zweiten, weil es viele (Vermittlungs-)Möglichkeiten von vorn herein ausschließt. So wie wir den Begriff Solidarität angelegt haben, kann die Subsidiarität als ihr notwendiger Bestandteil angesehen werden: Sie richtet die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise der Gestaltung der Freiheit vermittelnden Wechselwirkung von Person und Welt bzw. von Ich und Du, auf die historisch-materielle Dimension dieses Prozesses. Entscheidend ist die Idee von der strukturellen Vermittlung der Selbstentfaltung des Menschen als Person. Nicht nur vor dem Hintergrund von Staats- und Marktversagen, sondern noch grundsätzlicher drängt sich die Frage auf, ob Staat und Markt überhaupt in der Lage sind, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu organisieren. Leben sie nicht von Voraussetzungen, die sie nicht selbst garantieren können, um noch einmal auf das bekannte Böckenförde-Diktum anzuspielen.28 Wenn man an die Bedeutung von Vertrauen oder Pflichtbewusstsein für Staat und Markt denkt, wird diese Überlegung unmittelbar einsichtig. Mehr noch: Diese notwendigen Voraussetzungen werden durch den systemischen Charakter von Staat und Markt gleichsam ausgetrocknet, aufgezehrt, entmutigt. Vor dem Hintergrund solcher Einschätzungen ist es kein Wunder, wenn nach alternativen integrierenden Kräften Ausschau gehalten wird. Nicht wenige verweisen auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“ und richten ihre Hoffnung auf deren Potentiale, auch die Kirchen. Selbsthilfegruppen, Nichtregierungsorganisationen, überhaupt die vielfältigen Initiativen, überwiegend ehrenamtlich organisiert, die sich angesichts verschiedendster Herausforderungen auf allen möglichen Ebenen bilden, sind nicht sie es, die das für den Zusammenhalt der Gesellschaft nötige Engagement vermitteln? Sind nicht sie es, die den notwendigen Ausgleich, richtiger: die unverzichtbare Grundlage gegenüber den liberalen, die 27 Vgl. Günter Wilhelms, Subsidiarität, in: AKSB (Hrsg.), Position beziehen im 21. Jahrhundert. AKSB-Jahrbuch 2011 / 2012, Schwalbach/ Ts.: Wochenschau Verlag, 2011, 56 – 73, bes. 67 ff. 28 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt: Suhrkamp, 2006, 112.
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Menschen entzweienden Marktkräften schaffen und dem Bürger Möglichkeiten aktiver Mitwirkung in der Gesellschaft eröffnen? Sind nicht sie es, die die Räume zur Verfügung stellen, in denen sich die Bindekräfte ausbilden können, die für die moderne Gesellschaft unverzichtbar sind? Wie auch immer: Die in der soziologischen und sozialphilosophischen Debatte beschriebene Solidarität als moderne Bindekraft entspricht den Formen zivilgesellschaftlichen Engagements. Solidarität, so heißt es, bilde sich in den Nischen aus, die Markttausch, bürokratisch-rechtliche Regelungen und Politik übriggelassen habe. Solidarität stehe für einen Regelungsbedarf, der durch politische Gesetzgebungsmechanismen und marktliche Instrumente nicht erledigt werden könne. Typisch modern sei diese Kraft, weil sie Menschen nicht auf Gedeih und Verderb aneinander und an ein bestimmtes Problem binde. Sie verausgabe sich nicht an eine Sache. Sie entziehe sich amtlichen und anderen Versuchen, die Menschen ganz und gar für sich in Anspruch zu nehmen.29 Solidarität, Subsidiarität und Zivilgesellschaft markieren also ein zentrales Problem moderner Gesellschaft, ihre moralische Integration und verweisen auf Strukturen und Institutionen, die sie zu vermitteln erlauben. Heißt das nun für eine solidarische Gesellschaft, alle Karten auf das zivilgesellschaftliche Engagement setzen zu sollen? Wohl kaum. Eine solche Option übersieht nämlich die Vielfalt an Möglichkeiten, Selbstentfaltung und Freiheit institutionell zu vermitteln. Entscheidend aus ethischer Sicht ist es, wie mehrfach betont, die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt zu beachten. Dieser Prozess darf nicht unterbrochen oder blockiert werden. Der Moralismus zielt nur aufs individuelle Subjekt, auf dessen Motivlagen und Einstellungen. Das Spezialistentum zielt nur auf die Sachgesetzlichkeiten, auf die rein sachliche Lösung von Problemen oder Produktion von Werken. Zivilgesellschaftliche Engagementformen, so könnte man vielleicht schlussfolgern, bilden ein notwendiges Gegengewicht gegenüber den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Lebens-, besser: Sachgesetzlichkeiten, weil sie noch recht unmittelbar das Bewusstsein vermitteln, dass der Mensch (noch) aktiv mitwirken kann am Aufbau der Gesellschaft. Andererseits soll aber kein unterkomplexes Bild von unserer Gesellschaft gezeichnet und sollen die Sachgesetzlichkeiten nicht unterschätzt werden. Gerade in ihrer Distanz zum individuellen Subjekt eröffnen sie enorme Gestaltungsmöglichkeiten. Aber hier nehmen die Institutionalisierungen eine Form an, die Subjekt und Objekt, Ich und Du vollständig zu trennen drohen. Dann muss schließlich jede ethi29 Vgl. etwa Karl Otto Hondrich / Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt: Fischer, 1992; Kurt Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt: Suhrkamp,1998; Francesco Fistetti, Art. Solidarität, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg: F. Meiner, 2010, 2484 – 2489. Resümierend stellt Fistetti fest, dass viele Sozialphilosophen davon überzeugt sind, „dass S. (Solidarität, G. W.) die wesentliche produktive Kraft sozialer Integration und eine für die Bürger notwendige moralische Kompetenz ist, ohne die die moderne Demokratie nicht überleben und sich nicht entwickeln kann.“ (Ebd., 2489).
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sche Forderung an ihnen abprallen. Deshalb darf etwa die Wirtschaft nicht von allen ethischen Ansprüchen entlastet werden. Auch hier gilt es, und hier ganz besonders, die Illusion von einem quasi neutralen Mechanismus (des Marktes) zu entlarven. Wenn es keine Handlungsspielräume mehr gibt, wenn der Sachzwang herrscht, dann muss die Ethik Einspruch erheben. „Die ethische Welt ist nie gegeben; sie befindet sich stets ‚im Bau‘.“30 Alle Institutionalisierungen müssen daraufhin geprüft werden, ob sie den Übergang vom Ich zum Du vermitteln. Der Mensch braucht das gesellschaftliche, kulturelle Leben, um zu sich selbst zu finden. Er unterwirft sich den (selbstgeschaffenen) Regeln und lässt sich von ihnen affizieren, zu eigenem Tun anregen. Diese Spannung ist es, die Spielraum für individuelle Entscheidungen oder individuelles Talent lässt. Weil dieser Spielraum nur erhalten werden kann, wenn der Prozess nicht im Produkt endet, sondern aufs Du übergreift, deshalb ist Freiheit ohne Solidarität nicht zu haben. Denn Solidarität bezeichnet die Bedingungen, die den Weg vom Ich zum Du vermitteln. Solidarität ist die Bedingung für Freiheit, genauer: Solidarität übend werden wir frei. Und das ist eben nicht nur eine Frage subjektiver Einstellung, sondern auch eine Frage der Institutionalisierung. „Will man also die Möglichkeit einer moralischen Existenz sichern oder retten, dann muß man das Vertrauen in die Kraft der Vernunft stärken – und dies dadurch, daß man die Möglichkeiten einer schöpferischen Gestaltung und damit die Möglichkeiten der verantwortlichen Individuation zu einer ‚freien Persönlichkeit‘ aufzeigt und nutzt.“31 Zugegeben, das klingt alles so grundlegend wie optimistisch, ja naiv. Aber gibt es eine Alternative zu solchen Bemühungen, die (nicht nur) in der gesellschaftstheoretischen Debatte immer wieder nach dem Menschen fragen, die die Idee von einer humanen Gesellschaft nicht aufgeben wollen?
Summary The “call for solidarity” can be heard from all directions and draws attention to a fundamental problem of modern society: the meaning of social, cultural production for man’s freedom and self-realisation. So freedom isn’t given to man automatically, he has to create it. Solidarity then means social or cultural imparting of “me” and “you” which opens up to freedom. This process of imparting is encapsulated with the help of a dialogue between a social theory or an order theory on the one hand and anthropology on the other hand, as has been the typical tradition of Catholic social teaching. From this perspective, approaches may be criticized which either try to interpret solidarity in the sense of economic ethics, i.e., as an incentive system 30 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg: F. Meiner, 1996, 99. 31 Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin: Akademie Verlag, 1997, 171.
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“free from morality”, or which want to reduce solidarity, in the sense of virtue ethics to the individual subject, to its motifs and attitudes. Finally, this criticism can help to denote frontiers between the two central mechanisms of order, namely the state und the market, and to look for complementary forces.
Diskussionsforum – Discussion Forum
Countering Hate on the Internet1 Raphael Cohen-Almagor
All that is necessary for the triumpth of evil is that good men do nothing. Edmund Burke (1729 – 1797)
I. Introduction The Internet provides cheap, instantaneous and anonymous distribution that can be easily downloaded and posted in multiple places. The transnational nature of the World-Wide-Web, its vast content, the fact that it has no central management or coordination, and that the routing computers do not retain copies of the packets they handle provide ample opportunities for people to exploit the Net’s massive potential to enhance partisan interests, some of which are harmful and anti-social, thus undermining people’s sense of trust in the Net. The problem is presented by the relatively small number of people who abuse the Net to harm others. Hate speech is defined as a bias-motivated, hostile, malicious speech aimed at a person or a group of people because of some of their actual or perceived innate characteristics. It expresses discriminatory, intimidating, disapproving, antagonistic and / or prejudicial attitudes toward those characteristics which include sex, race, religion, ethnicity, colour, national origin, disability, or sexual orientation. Hate speech is intended to injure, dehumanize, harass, debase, degrade, and / or victimise the targeted groups, and to foment insensitivity and brutality towards them. A hate site is defined as a site that carries any form of hate: textual, visual, or audio-based rhetoric. 1 I thank Richard Collin for many constructive comments – Raphael Cohen-Almagor (DPhil., St. Catherine’s College, Oxford) is an educator, researcher, human rights activist, Chair in Politics and Director of the Middle East Study Group, University of Hull, the UK, http://www2.hull.ac.uk/fass/me-study-group.aspx. He was Visiting Professor at UCLA and Johns Hopkins, and Fellow at the Woodrow Wilson Center for Scholars, Washington DC. In 2003 – 2007, he was the Founding Director of the Center for Democratic Studies, University of Haifa, Israel. He published extensively in the fields of politics, philosophy, law and ethics. Among his more recent books are The Right to Die with Dignity (2001), Speech, Media and Ethics (2001, 2005), Euthanasia in the Netherlands (2004), and The Scope of Tolerance (2006, 2007). Twitter: @almagor35; Web: http://www.hull.ac.uk/rca. Blog: http://almagor.blogspot. com
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This essay is the second in a trilogy of essays on Nethate. The first essay analysed the ways Nethate can be countered from the perspective of ethics, or rather applied ethics. It discussed the problem in the context of moral and social responsibility, a neglected perspective in the New Media literature.2 This essay addresses the ethical problems rooted in technology in response to potential risks on the Internet. The Internet is not the problem. The problem arises where it is utilised to undermine our well-being as autonomous beings living in free societies. While using the first essay as a point of departure, this essay explains who are the targets of hate on the Internet and offers practical proposals to counter Nethate.
II. Hate on the Net Hate on the World Wide Web began on January 11, 1995 when Don Black established his Stormfront site.3 Stormfront claims to have more than 250,000 members who read its vast resources, interact on its various forums and tune in to its radio program.4 Racist leaders such as David Duke and Don Black have vainly tried to burnish the reputation of the Klan; to replace the stereotyped image of “ignorant yokels in sheets” with one of scrubbed, educated, articulate, earnest young white men.5 Black said: “The Internet is that opportunity we’ve been looking for … We never were able to reach the audience that we can now so easily and inexpensively”.6 For many American bigots, the most hated group is the conspirators, i.e., the Jews. The Jews are united by a secret pact to set in motion a global conspiracy to rule the world. The Jews lie in order to achieve this aim and are successful in brainwashing the minds of Christian-Americans. They control the academia, the media, the banks, MTV, the feminists. The Jews control America and the world (ZOG=Zionist Occupied Government).7 Who Rules America? by the Research Staff of National Vanguard Magazine concludes: The Jew-controlled entertainment media have taken the lead in persuading a whole generation that homosexuality is a normal and acceptable way of life; that there is nothing at all wrong with White women dating or marrying Black men, or with White men marrying 2 R. Cohen-Almagor, “Fighting Hate and Bigotry on the Internet”, Policy and Internet, Vol. 3: Iss. 3, Article 6 (2011), http://www.psocommons.org/policyandinternet/vol3/iss3/art6. 3 http://www.stormfront.org 4 Abraham H. Foxman / Christopher Wolf, Viral Hate (NY: Palgrave-Macmillan, 2013): 12. 5 David S. Hoffman, The Web of Hate: Extremists Exploit the Internet (New York: Anti-Defamation League, 1996), p. 9. 6 Diane Werts, “How the Web Spawns Hate and Violence”, Newsday (October 23, 2000): B27. 7 http://www.jewwatch.com/; http://jewishfaces.org/; http://www.faem.com/; 1001 Quotes By and About Jews, rhttp://www.stormfront.org/posterity/index.html; The Jewish Tribal Review, http://jewishtribalreview.org/; http://www.kriegsberichter.com/
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Asian women; that all races are inherently equal in ability and character – except that the character of the White race is suspect because of a history of oppressing other races; and that any effort by Whites at racial self-preservation is reprehensible. We must oppose the further spreading of this poison among our people, and we must break the power of those who are spreading it … Once we have absorbed and understood the fact of Jewish media control, it is our inescapable responsibility to do whatever is necessary to break that control. We must shrink from nothing in combating this evil power that has fastened its deadly grip on our people and is injecting its lethal poison into their minds and souls. If we fail to destroy it, it certainly will destroy our race (emphasis in original text).8
African Americans also constitute an enemy. African Americans are seen as brutal, primitive and biologically inferior whose presence represents a corrosive element for the whole of American society. They are portrayed as African cannibals bringing a jungle culture to America. They are referred to as “niggers”, “mud people”, source of social pollution and cultural decadence which clashes with the ethnic, civil and economic superiority of the whites.9 Another hated group is the homosexual community. They are portrayed as seeking to sexually ensnare young white males. This behaviour is contra nature, perverted, sinful, morally abominable, threatens to undermine the religious values of the white community. Homosexuals do not reproduce and thus threaten the survival of their own race. Furthermore, they spread contagious and deadly diseases and are no less than angels of death. They should be hunted down in the same way witches were once hunted in Europe.10 Here is one illustration: My church (Westboro Baptist Church of Topeka, Kansas) engages in daily, peaceful sidewalk demonstrations opposing the homosexual lifestyle of soul-damning, nation-destroying filth. We display large colorful signs containing Bible words and sentiments, including: GOD HATES FAGS, FAGS HATE GOD, AIDS CURES FAGS, THANK GOD FOR AIDS, FAGS BURN IN HELL, NO TEARS FOR QUEERS, SIN &; SHAME NOT PRIDE, FAG=ANAL SEX=DEATH, FAG=AIDS=DEATH, GOD IS NOT MOCKED, FAGS ARE NATURE FREAKS, GOD GAVE FAGS UP, NO SPECIAL LAWS FOR FAGS, etc.11
The elaborate hate sites hate African-Americans and non-white immigrants, Muslims, Jews and gays. They are quite eclectic, offering wide array of racial publications.12 Some of them publish in a number of languages. Stormfront contains dis8 Research Staff of National Vanguard Magazine, Who Rules America?, http://www.stormfront.org/jewish/whorules.html 9 Myrna Estep, “Nazi’s in America”, http://www.theforbiddenknowledge.com/hardtruth/na zis_in_america.htm 10 http://www.anti-gay.com; see also Antonio Roversi, Hate on the Net (Aldershot: Ashgate, 2008), p. 94. 11 Evelyn Kallen, “Hate on the Net: A Question of Rights / A Question of Power”, Electronic J. of Sociology (1998). 12 See, for instance, The Racial Nationalist Library, http://www.racerealist.com/1b.htm
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cussions in many European languages.13 Extensive websites contain documents, journals, newspapers, videos, radio, TV shows, books, games, survival information, homeschooling information, cartoons, artwork, jokes, quotes, poems, free stickers and merchandise. In addition, there are also anti-religious sites,14 anti-abortion,15 anti-liberal, anti-Communist and anti-feminist sites.16
III. Countering Hate The expansive, harmful and pervasive nature of the Internet calls for some responsible regulation. Fighting speech with more speech might not be a sufficient answer.17 In the following discussion I wish to outline all that can be done to encounter Nethate. The challenge is formidable. The Internet did not create a new phenomenon. Instead, the Internet amplifies the hate phenomenon and became a useful asset for hate mongers. Once we acknowledge the problem we need to promote standards of moral and social responsibility to counter it. One measure is not enough. Instead, http://www.stormfront.org/forum/ For sites attacking all religions, see Exposing Satanism, http://exposingsatanism.org/in dex1.htm; Truth and Grace, http://truthandgrace.com/; Peace of Mind, http://peace-of-mind. net/; Odinist (pagan site promoting “Faith, Folk and Family”), http://www.odinist.com/ For anti-Christianity sites, see ALTAR OF UNHOLY BLASPHEMY, http://www.anus.com/ al tar/index.html; Set Free, http://www.jcnot4me.com/ For anti-Islam sites, see http://www.glistrup.nu/forum/forum.cfm; Truth and Grace, http:// truthandgrace.com/ISLAM.htm For anti-Hinduism sites, see Jesus-is-Lord JESUS-IS-LORD.COM; Most Holy Family Monastery, http://www.mostholyfamilymonastery.com/H.O.W._of_JP2_and_V2sect_regarding_pa gans_and_infidels.html; Peace of Mind, http://peace-of-mind.net/; Truth and Grace, http://trut hand grace.com/Hindu.htm; Hindu American Foundation, Hyperlink to Hinduphobia (2007), at http://www.hafsite.org/ 15 The Creator’s Rights Party, http://www.tcrp.us/; The Army of God, http://www.armyof god.com/; Final Conflict, http://dspace.dial.pipex.com/finalconflict/a14-6.html. Until it was shut down, the Nuremberg Files website instigated violence against abortionists. See Planned Parenthood of the Columbia/Willamette Inc. et al v. American Coalition of Life Activists, U.S Court of Appeals for the Nine Circuit (May 21, 2002); Planned Parenthood of the Columbia / Willamette Inc. et al v. American Coalition of Life Activists, No. 95-1671-JO, 41 F.Supp.2d 1130 (March 16, 1999); Planned Parenthood of the Columbia / Willamette Inc. et al v. American Coalition of Life Activists, U.S Court of Appeals for the Nine Circuit (March 28, 2001). However, the same information can be found at present at another site, ALLEGED ABORTIONISTS AND THEIR ACCOMPLICES, http://www.christiangallery.com/atrocity/aborts. html 16 See Richard Delgado / Jean Stefancic, Understanding Words That Wound (Boulder, CO: Westview, 2004), p. 125. 17 See United States v. Machado 195 F.3d 454 (9th Cir. 1999) involving the conviction of an expelled college student who on September 20, 1996 sent threatening e-mail message to 60 Asian students: “I personally will make it may life career to find and kill everyone one [sic] of you personally”. Machado was sentenced to a one-year term of imprisonment, to be followed by a one-year period of supervised release. 13 14
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we need to resort to a combined action that would provide ample answer to the challenges we face. Speech v. Speech – This is the favourite American response, espoused by many Internet experts and human rights activists who argue that the way to tackle hate on the Net is by more communication, by openness and by exposing the problem.18 We need to show that all human beings deserve respect and concern, all have dignity, and that a racially based society negates liberal-democratic values that we all hold dear: pluralism, diversity, individuality, liberty, equality, tolerance, justice.19 Counter-speech includes expressive support for the targets of hate, highlighting the values of tolerance, pluralism, individualism and respect for others. However, what are we to do, for instance, if we try to persuade a hate monger, who calls on his website that homosexuals are immoral, social deviant, dangerous to little children, to show homosexuals more respect by offering eloquent reasoning but receive no reaction from the hate monger? He continues to name his target of hate, providing details about gay bars and publishing information and “advice” as to how to deal with gay people who “spread malicious disease”. Should we opt for more words, and only to words? Realizing that the reasoning falls on deaf ears, should we simply surrender and raise our hands in despair while allowing the hateful messages to continue their vile circulation? Those who restrain themselves to speech as a comprehensive solution effectively desert a weak party in society who deserves protection. Their restraint might cost life. Gay hatred has led to murder. In the United States during 2011 alone there were 30 cases of fatally violent hate crimes against lesbian, gay, bisexual or transgender victims.20 This price is much too high and unaffordable. In such circumstances, when the threat is real and viable, the balance should sway in the direction of preserving human life, at the expense of free expression. Education – activity at primary and high schools alerting about hate on the Internet; its forms and attractions (music, video games, activities for kids); why racism is logically incoherent, empirically unattainable, anti-democratic and inhumane; why it is harmful; who is targeted; history of hate and the connection between hate and some of the most horrific human catastrophes men inflicted upon other men. In the USA, Partners Against Hate, an innovative collaboration of the Anti-Defamation League, the Leadership Conference on Civil Rights Education Fund, and the Center for the Prevention of Hate Violence, offers promising education and counteraction strategies for young people and the wide range of community-based profesInterviews with dozens of activists, Washington DC (September 2007 – July 2008). See Jeremy Waldron, “Dignity and Defamation: The Visibility of Hate”, Harvard L. Rev., Vol. 123 (2010): 1596. 20 Lila Shapiro, “Highest Number Of Anti-Gay Murders Ever Reported In 2011: The National Coalition of Anti-Violence Programs,” Huffington Post (June 2, 2012), http://www.huf fingtonpost.com/2012/06/02/anti-gay-hate-crimes-murders-national-coalition-of-anti-violenceprograms_n_1564885.html 18 19
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sionals who work and interact with youth, including parents, law enforcement officials, educators, and community/ business leaders.21 In turn, Family Online Safety Institute focuses on making the online safer for kids through the promotion of best practices, tools and education.22 Another organization is Enough is Enough which developed a multimedia learning series to help teach parents and other caregivers about Internet dangers and how to protect their children. AOL was a National launch partner for this initiative.23 AOL was a party to another initiative called Take 25, initiated by the National Center for Missing & Exploited Children. The goal of Take 25 is to heighten awareness about children’s safety issues. With a focus on prevention, the campaign encourages parents, guardians, and other trusted-adult role models to spend time talking to kids and teaching them ways to be safer.24 Adopting and enforcing school, university and workplace policies – institutions and organizations should adopt policies that exclude hate and bigotry off and online. They should ascertain that their computers are not used for purposes that are incompatible with these policies. Students and workers should not abuse their time at the education system and at the workplace and exploit the technology that is made available to them to preach hatred against others, or to engage in expressions that contravene and undermine civility and respect for others. Hate is destructive. There is no reason to provide scope for hate speech in schools and the workplace. Netcitizenship – the term “Netcitizenship” means good citizenship on the Internet. It is about developing responsible modes of conduct when surfing the Internet which include positive contributions to debates and discussions, and raising caution and alarm against dangerous Net expressions. Netcitizenship encourages counterspeech against hate speech, working together to provide a safe and comfortable virtual community, free of intimidation and bigotry. One example is Wipeout Homophobia (WHOF) which was originated as a response to gay hatred on the Internet. Wipeout Homophobia provides communal support and promotes a vision of a more tolerant and just world.25 In 2012, this Facebook page had more than 300,000 members and 6 million visitors.26 Kevin “Kel” O’Neil, WHOF’s creator, explained:
21 http://www.partnersagainsthate.org/about_pah/index.html; Partners Against Hate et al., Investigating Hate Crimes on the Internet (Washington DC., September 2003); interview with Mr. Brian Marcus, former ADL Director of Internet Monitoring, Washington DC (April 16, 2008). 22 http://www.fosi.org/cms 23 See http://www.internetsafety101.org/dangers.htm 24 http://www.take25.org/page.asp?page=47 25 Wipeout Homophobia, https://www.facebook.com/WOH247 26 “Wipeout Homophobia On Facebook Surpasses 6 Million Visitors!”, Addicting Info (February 7, 2012), http://www.addictinginfo.org/2012/02/07/wipeout-homophobia-on-facebooksurpasses-6-million-visitors/
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WHOF, all started on the 9th May 2010. During a search for a gay group I found two hate pages. They only had a few members, but all I could think was what if one of my family found this page and read the hate speech. I decided to “report” both pages. Hate speech is illegal in most of the free world and is also against Facebook’s own terms of use. I sent links to the pages to some friends so they too could report them, they replied with links to others I thought that rather than 30 of us sending each other messages, I would collate the links on one Facebook page. An hour later there were hundreds of members and by the end of the day a thousand had joined, today there are over 310,000 members.27
ISPs’ responsibility – ISPs and web-hosting companies should develop standards for responsible and acceptable practices for Net users. They should adopt clear and transparent hate speech policies and include them in their terms of service. ISPs should also devise friendly and easy-to-use mechanisms for Netusers to report violations of their terms of service. With continued development of technical solutions and innovation and with increased awareness of and adherence to basic Corporate Social Responsibility (CSR) we will assure a certain security level on the Internet, like in any other industry.28 What is required is more structure. CSR should be part of the web company’s strategy, in the frame of mind of the day-to-day operations. Indeed, CSR is a continuous living process. In this context, CSR scholar Keith Davis asserts that it is a firm’s obligation to consider the effects of its decisions on society in a manner that will accomplish social benefits as well as traditional economic benefits. This means that “social responsibility begins where the law ends. A firm is not being socially responsible if it merely complies with the minimum requirements of the law, because this is what any good citizen would do”.29 The main principles of Corporate Social Responsibility dictate integrated, sustainable decision-making which takes into consideration the positive and negative potential consequences of decisions; obligations on the part of corporations not only to consider different stakeholders and interests but also to incorporate them into the decision-making processes; transparency that is vital for ensuring accountability to stakeholders; liability for decisions and enactment of remedial measures to redress harm inflicted as a result of conduct.30 Thus social responsibility should in27 “Wipeout Homophobia On Facebook Surpasses 6 Million Visitors!”, Addicting Info (February 7, 2012), http://www.addictinginfo.org/2012/02/07/wipeout-homophobia-on-facebooksurpasses-6-million-visitors/ 28 See R. Cohen-Almagor, “Freedom of Expression, Internet Responsibility and Business Ethics: The Yahoo! Saga and Its Aftermath”, Journal of Business Ethics, Vol. 106, issue 3 (2012): 353 – 365. 29 Keith Davis, “The Case For and Against Business Assumption of Social Responsibilities”, Academy of Management Journal, Vol. 16 (1973), p. 313. See also Philip Kotler / Nancy Lee, Corporate Social Responsibility: Doing the Most Good for Your Company and Your Cause (Hoboken, NJ.: John Wiley and Sons, 2005). 30 Kenneth E. Goodpaster, “Corporate Responsibility and Its Constituents”, in: George G. Brenkert/ Tom L. Beauchamp (eds.), The Oxford Handbook of Business Ethics (NY: Oxford University Press, 2010): 126 – 157; Michael Kerr / Richard Janda / Chip Pitts, Corporate Social Responsibility – A Legal Analysis (Markham, Ontario: LexisNexis, 2009). See also David
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fluence ISPs and web-hosting companies to scrutinize their servers, verifying that they do not become hubs for hate and bigotry. ISPs’ terms of service usually grant ISPs with the unilateral right and ability to block service to those who violate the terms. ISPs are reluctant to do this as they wish to maintain business. They are for profit. However, there were instances in which ISPs denied service, commonly due to violation of copyrights. For instance, if someone complains about copyright violation, the ISP will take the material off the server. ISPs are inclined to abide by such requests.31 In May 2012, WordPress took down the Greek neo-Nazi Golden Dawn Party, which won nearly seven percent of the vote in the May elections due to violation of WordPress Terms of Service.32 The hosting service bars sites that include “hate content” or “contain threats or incite violence towards individuals or entities”. 33 Affecting search engines results – If you Google the words “Martin Luther King”, one of the first results you will receive is http://www.martinlutherking.org/, a hate site masquerading as an objective historical source about the American human rights leader. High school students who are asked to conduct research on the life and leadership of Mr King are likely to come across this site. Some of them might think this is a legitimate site, with credible eye-opener information. The Google algorithm used to determine search ranking does not evaluate the accuracy of information thus the site’s high ranking can potentially mislead many users, especially young users who conduct their very first research. Google was under pressure to manipulate its search engine so as to boost or reduce websites’ page ranking. The controversy revolved around http://www.jew watch.com/, which sometimes was ranked first if you searched the word “Jew”. Thousand of netusers petitioned Google to remove the site.34 Stormfront happily announced “Jewwatch number 1 ranked google site for search ‘jew’” and called upon its readers: “EVERYBODY GOOGLE JEWWATCH. Thanks!”35 In October 2011, I met Yoram Elkaim, Head of Google Legal – Southern Eastern Europe, Middle East and Africa. He explained that Google does not think that it should be the judge of free speech online. Google believes in free speech and tolerWeissbrodt’s review of this book in Human Rights Quarterly, Vol. 32 (2010): 207 – 215, and William B. Werther / David B. Chandler, Strategic Corporate Social Responsibility: Stakeholders in a Global Environment (Los Angeles, CA: Sage, 2010). 31 Interview with Dr. Herb Lin, National Academy of Sciences, Washington DC (May 15, 2008). 32 “This blog has been archived or suspended for a violation of our Terms of Service. For questions or concerns, contact WordPress.com Support”. See http://xryshaygh.wordpress.com/ 33 Terms of Service, WordPress.com, http://en.wordpress.com/tos/ 34 David Becker, “Google caught in anti-Semitism flap”, CNET News (April 7, 2004), http://news.cnet.com/2100-1038_3-5186012.html; ADL, “Google Search Ranking of Hate Sites Not Intentional” (April 22, 2004), http://www.adl.org/rumors/google_search_rumors.asp 35 http://www.stormfront.org/forum/showthread.php?t=580655
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ance. It is mobilized to fight against ignorance by informing the people, providing them with information and digitise world-leading libraries. Google brought the Harvard library to Africa. Google also supported the digitization of the Yad Vashem archives, dedicated to educating people about the Holocaust. Google also sponsors events against violence and extremism. The company certainly strives to exclude illegal content from the Net. Elkaim emphasized that Google’s job is to provide relevant information. Google is to inform the people, not to misinform. Google aims to provide correct information and does it best not to play into the hands of people who try to game the system by excessively affecting the Google ranking algorithm. I asked Elkaim how it happened that Google ranks Jewwatch in the third place if it aims to provide relevant information. Does he think that the Jewwatch information is relevant to those who seek information about Jews, true or correct in one way or another? To my surprise, Elkaim was not familiar with the Jewwatch controversy.36 The controversy prompted Google to issue a statement about Offensive Search Results in which Google explains its policy, saying that this policy does not aim to offend or disturb or to endorse racist views: A site’s ranking in Google’s search results relies heavily on computer algorithms using thousands of factors to calculate a page’s relevance to a given query. Sometimes subtleties of language cause anomalies to appear that cannot be predicted. A search for “Jew” brings up one such unexpected result. If you use Google to search for “Judaism”, “Jewish” or “Jewish people”, the results are informative and relevant. So why is a search for “Jew” different? One reason is that the word “Jew” is often used in an anti-Semitic context. Jewish organizations are more likely to use the word “Jewish” when talking about members of their faith.37
Google explains that someone who is searching for information on Jewish people would be more likely to enter terms like “Judaism”, “Jewish people”, or “Jews” than the single word “Jew”. As Google views the comprehensiveness of the search results as an extremely important priority, it does not remove a page from search results simply because its content is unpopular or because the company receives complaints concerning it. Google, however, removes pages from search results if it is believed that the page or its site violates the Webmaster Guidelines, if required to do so by law, or at the request of the webmaster who is responsible for the page.38 Labelling, naming and shaming – Web-hosting companies like First Amendment,39 Go Daddy40 and Xanga (blog hosting)41 that are friendly to racial propa36 37
html 38 39 40 41
Discussion with Yoram Elkaim, Paris (October 10, 2011). Google, An explanation of our search results, at http://www.google.com/explanation. Ibid. http://www.1stamendment-hosting.com/ http://www.godaddy.com/hosting/web-hosting.aspx?isc=gfnnuk21&ci=8971 http://www.xanga.com/
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ganda with clear-eyed akrasia should be named and shamed. The present host of Stormfront is a Texan company called The Planet that has very lose Terms of Service that would allow anything that is legal.42 The First Amendment and profit conveniently go hand in hand. Social responsibility and respect for people are secondary. It is interesting to see how Nazi sites explain and propagate their business on the Internet by advising interested parties to open their business in the USA, as there they will not be prosecuted. For instance, http://www.zensurfrei.com/: Secure Websites in the USA! 175MB web-site + 8GB data transfer per month + ten genuine POP3 email addresses. Domain Name registration is FREE for first year! – No setup charge! No registration charge! Only 20,00 € / month (US$20.00 / month), ie 60,00 € / quarter (US$60.00/ quarter)! ANONYMOUS WEB-SITES ARE POSSIBLE! The domain name is registered in the name of a U.S. firm. Even our firm does not need to know your identity. (Payment can be sent with an anonymous letter with reference to your web-site.) Political repression is increasing in Europe! European webmasters can reduce their risk by moving their web-sites to the USA! ZENSURFREI establishes your web-site with one of the largest and most reliable servers in the USA. Pay by the quarter or by the year. We accept Euro banknotes or US Dollar banknotes, no coins.43
International cooperation – In Europe, a continent that suffered a great deal from the horror of hate and bigotry, much less tolerance is afforded to such phenomenon compared to the United States. In 1996, a governmental organization in Germany, Jugendschutz.net, and a non-governmental organization in the Netherlands, Stichting Magenta, Meldpunt Discriminatie Internet, were the first organizations in the world to start a dedicated team to address the problems of racism, anti-Semitism, hate against Muslims, gays, and other discrimination or incitement to hatred, each in their own country. In 2002, they founded the International Network Against Cyber Hate (INACH). The vision of INACH is “the international co-operation between complaints bureaus against discrimination, which allows the sharing of knowledge, the exchange of best practices and coordinated measures against hate speech, promoting respect, citizenship and responsibility, enabling Internet users to exercise their right of freedom of speech with respect for the rights and reputations of others, and to freely use the Internet without experiencing cyber hate.44 The mission of INACH is to unite and empower organizations fighting cyber hate, to create aware42 http://content.theplanet.com/Documents/legal/Planet-TOS.pdf. Senior ADL directors spoke with the owner of The Planet. To no avail. They said it was a waste of time. Discussion with senior ADL directors, New York (March 22, 2010). 43 This is followed by an endorsement: “A customer writes: You should mention at zensurfrei.com that your web-hosting packages include many features (Frontpage-Extensions, PHPSupport, CGI-Support, accessibility via Web-File-Manager, FTP & Frontpage, exact UrchinReport-statistics etc.) all of that is not self-evident!!!”. See zensurfrei.com 44 http://www.inach.net/inach-conf-2009-program-public.pdf
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ness and promote attitude change about on-line discrimination and to reinforce the rights of all Internet users.45 INACH monitors the Internet and publishes overviews and reports about the situation in different countries. Today, the network consists of eighteen organizations in Europe and North America. INACH acts as an umbrella organization for hotlines specializing in racist and hateful content. Other notable organizations fighting against hate are LICRA and the Centre Information and Documentation on Israel (CIDI). LICRA is the French International League against Racism and Anti-Semitism (Ligue Internationale Contre le Racisme et l’Antisémitisme).46 It was created in May 1926 in Paris. LICRA fights discrimination, racism and xenophobia especially as they are manifested on the electronic and print media. CIDI is the Netherlands’ prime source of information about Israel and the Jewish people. CIDI has published instructions explaining how to get antiSemitic material removed from the Internet. CIDI believes that individual surfers have a responsibility to take action against hate.47 Publishing overviews and reports on a regular basis – publishing names of hate sites, highlights of their content, their locations, their ISPs, both successful and unsuccessful attempts to curtail their activities. One example comes from a report on anti-Semitism on the Internet by Deborah Stone of the Australian B’nai B’rith Anti Defamation Commission. This report examines the sources of the problem and considers the possibilities for controlling Internet hate. It explores the regulatory context in Australia and the models available in other jurisdictions. Stone argues for a multi-pronged approach to fighting antiSemitism and racism on the Internet including developing positive web-based resources, utilising search engines, working with Internet Service Providers (ISPs) and developers to improve tools available, engaging in web-based dialogue and developing resources to support critical thinking, values education and defensive behaviours. The report further argues for the extension of Australian Internet regulation to include hate, and warns regulation alone is unable to stop the tide of hate now being disseminated.48 Law and adherence to international conventions – On global issues such as hate there is a need for international cooperation to respond to global concerns. As the Internet is an international medium, countries realize the urgency for transnational coordination. The Ministerial Council Decision 9/09 of the Organization for Security and Cooperation in Europe (OSCE) of December 2, 2009, on Combating Hate Crimes calls http://www.inach.net/mission.html http://www.licra.org/ 47 www.cidi.nl 48 Deborah Stone, To hate, click here: antisemitism on the internet, Special Report, No. 38 (August 2008),http://www.antidef.org.au/www/309/1001127/displayarticle/adc-news-december2009-1011568.html or http://www.antidef.org.au/secure/downloadfile.asp?fileid=1010474 45 46
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on the participating States “to seek opportunities to co-operate and thereby address the increasing use of the Internet to advocate views constituting an incitement to bias-motivated violence including hate crimes and, in so doing, to reduce the harm caused by the dissemination of such material, while ensuring that any relevant measures taken are in line with OSCE commitments, in particular with regard to freedom of expression”.49
IV. Conclusion The Internet is a vast ocean of knowledge, data, ideologies and propaganda. It is omnipresent, interactive, fast and decentralized. The ease of access to the Internet, its low cost and speed, its chaotic structure (or lack of structure), the anonymity which individuals and groups may enjoy, and the international character of the world-wide-web furnish all kinds of individuals and organizations an easy and effective arena for their partisan interests. The Internet contains some of the best written products of humanity, and some of the worst ones. The Internet, of course, does not exist within a vacuum. Education on all levels about the values that underpin liberal society – respect for others and not harming others – are of vital importance, and so is the discussion about the evil of racism and bigotry. This issue, however, merits a different, comprehensive discussion. The focus of this paper is on the Internet, where Netusers are able to upload information themselves quickly without any editorial filter or criticism; thus the medium is saturated with content that would unlikely be entertained by conventional media. The Internet serves the positive and negative elements in society. Finding the right balance between free speech and responsible speech requires societal efforts that involve multiple stakeholders in communication technologies at the society at large including the education system and the workplace. Aristotle’s Rule of the Golden Mean is a good guide for liberal democracies: For every polarity there is a mean which when practiced are good benchmarks for a life of moderation. The more we see the Golden Mean in each polarity, the better we find the true benchmarks of a life of wellness.50 People have the freedom to express themselves, within reason. Some ISPs exhibit irresponsible akrasia in the face of Nethate. To address the challenge of hate on the Net there is a need to exchange information in order to enhance the effectiveness of human rights-ISPs-State cooperation; lobby for international awareness about the harms and abuse of technology; helping support groups and institutions that want to set up tip-lines alerting about 49 Ministerial Council Decision 9/09 on Combating Hate Crimes, Organization for Security and Co-operation in Europe (Athens, December 2, 2009), http://www.osce.org/cio/40695 50 Aristotle, Works (MobileReference, 2008), at http://www.mobilereference.com/BS_Phi losophy/index.htm#ari; see also A.W.H. Adkins, “The Connection between Aristotle’s Ethics and Politics”, Political Theory, Vol. 12 (1984): 29 – 49; Richard Kraut, Aristotle Political Philosophy (NY: Oxford University Press, 2002).
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hate; advance our knowledge of emerging social networking and the psychology of people who use the Internet for various purposes. Clearly, there is a lot to learn about Net human behaviour and what can be done to increase moral and social responsibility of all parties concerned. Hate poses a serious challenge calling for serious consideration and redeeming answers. Responsible ISPs and web-hosting companies should weigh one against the other freedom of expression and social responsibility, investing in more efforts to eradicate Nethate from their services. Acting responsibly requires updating and adapting our theoretical frameworks and vocabularies to new circumstances and innovation as well as devising countermeasures to challenges and anti-social behavior. Doing so supplies us with conceptual and practical instruments with which we are better fitted to approach contemporary social problems.51 Luciano Floridi envisages a steady increase in agents’ responsibilities.52 I hope he is correct in his observation. We can reasonably expect people to know the difference between good and evil, and then to act accordingly. Technical solutions can be engineered if all involved parties recognize the challenges and cooperate to overcome them.
Zusammenfassung Hate speech zielt darauf ab, bestimmte Gruppen öffentlich zu bedrohen und dient offline-Organisationen zur Propaganda. Gruppen, die hate speech verwenden, nutzen Websites um ihre Ideologie zu teilen und zu verbreiten, sich mit ähnlichen Websites zu verlinken und neue Mitglieder zu rekrutieren, zu Gewalt aufzurufen und andere zu bedrohen. Der vorliegende Beitrag analysiert die Art und Weise, in der Hassprediger das Internet einsetzen, und fragt danach, was man gegen deren Aktivitäten unternehmen kann. Der Beitrag diskutiert die Ziele des Hasses im Internet und macht praktische Vorschläge, um das zunehmende Problem zu erfassen und es zu bekämpfen.
51 Anton H. Vedder, “Accountability of Internet Access and Service Providers: Strict Liability Entering Ethics”, Ethics and Information Technology, Vol. 3(1) (2001): 73. 52 Luciano Floridi, “A Look into the Future Impact of ICT on Our Lives”, The Information Society, Vol. 23(1) (2007): 59 – 64, Vol. 23(1) (2007): 59 – 64.
The Foundation of the Human Being Regarded as a Legal Entity in the ‘School of Salamanca’ Dominium and Ius in the Thought of Vitoria and Molina Christoph Haar and Danaë Simmermacher I. Ius (right) and Dominium1 – a ‘chicken-egg’-dilemma? Although Luis de Molina (1535 – 1600) declared it a metaphysical matter without relevance for moral issues,2 the question whether dominium is a right and therefore right is the genus with regard to dominium, or whether indeed dominium precedes right, would be discussed in theories of law and politics even long after the contributions of the 16th and 17th century School of Salamanca. The School was founded by Francisco de Vitoria (1483 – 1546), who replaced Lombard’s Sentences as the main textbook at the University of Salamanca with St. Thomas Aquinas’ Summa Theologiae.3 Among other issues, the thinkers of the School of Salamanca4 (also known as the late scholastic or spanish scholastic epoch) were faced with topics of concern that resulted from the discovery of the New World.5 This meant thematic 1 It is extremely difficult to find a reasonable translation for the versatile Latin term dominium. In this article we seek to determine dominium in Vitoria and Molina and for technical reasons this term will remain untranslated. 2 Molina, De Iustitia et Iure, 1593, Tomus I, Tractatus II, Disputatio 3, Column 53 (henceforth DIEI II 3, 53): “Et quamvis metaphysica haec non multum ad rem moralem conferat, communiterque dici consueverit, ius esse verum genus dominii; contrarium mihi videtur verius.” All translations are the authors’ unless stated otherwise. 3 For biographical information, see Jacob Schmutz’s useful website scholasticon.fr. For the role of the late scholastic in political thought, see Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, 1978, vol. II, pp. 135 – 173. See also Brett, Liberty, Right and Nature, 1997, p. 102 f. and p. 125 (for the point that the Dominicans had been using the Summa before Vitoria). For Molina see Stegmüller, Geschichte des Molinismus, 1935, vol. 1, pp. 1 – 80 and the introduction to Aichele / Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. XIII – XXXVIII. 4 Not all members of the School of Salamanca taught at the university of Salamanca. For example, Luis de Molina and, in the late stage of his life, Francisco Suárez (1548 – 1617) worked at the university of Coimbra in Portugal. 5 For an introduction to Spanish scholastic thought see for instance Tierney, The idea of natural rights, 1997, pp. 255 – 315 and Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2nd edition 2006, pp. 339 – 398.
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challenges in philosophy of law, political theory and political philosophy, moral philosophy, economics and – especially in the course of missionary work – also in theology.6 They made their most influential contributions regarding the foundations of international law and the recognition of the rights of humans qua human beings: For example, Vitoria is mentioned as the “founder of classical international law”7 or even the originator of “one of the first theorisations on human rights”,8 while Molina is considered an advocate of human self-determination and, as a “mastermind of an economic liberalism”,9 “one of the most influential economic thinkers of the 16th century”.10 The label School of Salamanca is established in legal history based on its revival of Thomism.11 It is not a uniform school of thought. The late-scholastic authors de6 As members of the Dominican, Franciscan or the Jesuit order, the thinkers of the School of Salamanca often acted as confessors for European monarchs. 7 There is a controversy in the scholarly literature as to whether Vitoria or Hugo Grotius (1583 – 1645) should be called the founder of classical international law. See Kadelbach, Mission und Eroberung bei Vitoria: Über die Entstehung des Völkerrechts aus der Theologie, in: Bunge / Spindler/ Wagner (eds.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, 2011, pp. 289 – 321; Thumfart, Die Begründung der globalpolitischen Philosophie, 2012, p. 15 ff., at p. 16. Thumfart’s appreciation for descriptions of Vitoria, especially in the Spanish scholarship, as one of the intellectual fathers of the United Nations (UN) contrasts to Anthony Anghie’s thesis that the “ius gentium naturalizes and legitimates a system of commerce of Spanish penetration.” (Anghie, Imperialism, sovereignty, and the making of international law, 2004, p. 15). Martti Koskenniemi identifies the theory of commutative justice under ius gentium as “the real Spanish contribution” and as the “ideological ancestry” of the World Trade Organisation. Koskenniemi, The Political Theology of Trade law, in: Fastenroth/ Geiger et al. (eds.), From Bilateralism to Community Interest, 2001, pp. 297 – 313 and Koskenniemi, Empire and International Law: the Real Spanish contribution, University of Toronto Law Journal (2011), pp. 1 – 36. 8 Belda Plans argues that we can see the beginnings of a theory of human rights in Vitoria: “con toda justeza se ve en Vitoria al creador […] de una de las primeras teorizaciones de los derechos humanos fundamentales.” Belda Plans, La Escuela de Salamanca, 2000, p. 393: “Vitoria is regarded with all pertinence as the creator […] of one of the first theorisations on human rights.” 9 Molina developed a concept of human self-determination consistent with God’s providence in his best-known work Concordia, first published from 1588 – 1589 (Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione concordia. Edition Johannes Rabeneck S.J., 1953). Schumpeter says “our chief guide will be Molina” (n. 19, p. 96) to show that the economic thought of the late scholastics “absorbed all the phenomena of nascent capitalism” (p. 94), and that they “come nearer than does any other group to having been the ‘founders’ of scientific economics.” (p. 97), Schumpeter, History of Economic Analysis, 1954. Weber designates Molina as a mastermind of an economic liberalism, Wirtschaftsethik am Vorabend des Liberalismus. Höhepunkt und Abschluss der scholastischen Wirtschaftsbetrachtung durch Ludwig Molina SJ (1535 – 1600), 1959. For a critical discussion of Molina’s purported economic liberalism, see Schüssler, The economic thought of Luis de Molina, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 257 – 288, here pp. 283 – 285. 10 Ibid., p. 257. 11 Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, vol. 2: The Age of Reformation, 2002, pp. 135 – 43.
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fended (very) different positions on various matters.12 In the scholarship, the main tension has been identified in the fact that the Thomist rationalist account of natural law13 was challenged by the voluntarist legal philosophy14 (often thought to coincide with epistemological nominalism) of, most influentially, the Franciscans John Duns Scotus (1266 – 1308) and William of Ockham (c. 1287 – 1347).15 Thus, the Dominicans Francisco de Vitoria, Bartolomé de Las Casas (1484 / 85 – 1566) and Domingo de Soto (1494 – 1560) are seen to argue on specific points within the Thomist tradition, whereas the writings of the Jesuits Luis de Molina, Francisco Suárez and Gabriel Vázquez (1549 – 1604) reveal a strong Scotist influence on the Thomist framework.16 The most recent scholarship has shown the difficulty of assigning broad labels to the followers of any particular scholastic tradition of thought, on account of the diversity of arguments concerning several central topics of discussion.17 Especially the concept of dominium is a very interesting term debated amongst late-scholastic authors, and in particular with regard to the term ius it is the subject of controversial discussions. For instance, the concept of dominium is essential to the question 12 Perhaps the most significant example is the theory of natural law in the School of Salamanca. In his forthcoming book ‘Die Theorie des natürlichen Gesetzes bei Francisco de Vitoria: Warum Autonomie der einzig mögliche Grund einer universellen Moral ist’, Anselm Spindler emphasises that, for Vitoria, natural law relies on a concept of autonomous practical reason, while Domingo de Soto identifies it as the legislation of nature and Francisco Suárez as the legislation of God. 13 In Aquinas’ rationalist account, moral virtue originates in the primary principle of practical reason. Aquinas, ST 1a2ae, q. 94, a. 2, corp: “bonum faciendum malum vitandum”. 14 In general terms, for the followers of Duns Scotus and Ockham, law derives its obliging force from the legislator’s will, rather than from its inherent rational content. 15 Cf. Brett, ‘Introduction’ in William of Ockham, On the Power of Emperors and Pope, ed. and transl. by Brett, 1998, pp. 7 – 51. Kilcullen, The Political Writings, in: Spade (ed.), The Cambridge Companion to Ockham, 1999, pp. 302 – 325. 16 Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, at p. 128: “As for most theologians in the 16th-century Spain and Portugal, Thomas Aquinas is the unavoidable point of departure, although it might be noted that he [Molina] explicitly sought to distance himself from Aquinas in a more radical fashion than his Salmantine colleagues – Domingo de Soto, whom he often criticizes, being the most prominent of these.” For a detailed explanation of the influences of Thomas Aquinas and John Duns Scotus in Molina, see Cessario, Molina and Aquinas, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 291 – 323 and Anfray, Molina and John Duns Scotus, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 325 – 364. 17 There has been a noticeable increase in the number of publications on this subject in recent years, particularly in the form of conference volumes that highlight the different views that authors of the School of Salamanca held on particular issues. See, for instance, Bunge / Schweighöfer / Spindler / Wagner (eds.), Kontroversen um das Recht. Contending for Law, 2012; Fidora / Lutz-Bachmann / Wagner (eds.), Lex und Ius. Lex and Ius, 2010; Kaufmann / Schnepf (eds.), Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Scholastik, 2007; Grunert / Seelmann (eds.), Die Ordnung der Praxis: neue Studien zur spanischen Spätscholastik, 2001.
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whether the indigenous populations have property and therefore must be considered as domini (masters) and may not be enslaved;18 we can see this in Vitoria’s most famous relectio (or special lecture), De Indis recenter inventis. The legal, political and moral legitimation of property and jurisdiction was conceived on the foundation of dominium and ius. On this basis, the present piece examines the concept of dominium with regard to ius in two representatives of the School of Salamanca, in the hope of illustrating clearly how different consequences emerge from different interpretations of the relationship between dominium and ius. The objective of this article is to work out a more detailed understanding of the terms dominium and ius and their relationship by comparing the concepts of Vitoria and Molina. In effect, this is an enquiry into the foundation of understanding the human being as a legal entity. Vitoria’s position on natural law has been described by Deckers as the failed attempt to reconcile God’s sovereign power (theological positivism) with an Aristotelian normative nature (rationalism).19 Similarly, Schnepf has distinguished the opposing positions of Scotist nominalism and Thomism.20 Here, the dilemma pointed out by Deckers is overcome by Vitoria’s introduction of a necessitas naturalis to denote that there are necessary consequences that follow from God’s sovereign decisions in creating things.21 However, this natural necessity could not provide the adequate foundation of legitimate authority because Vitoria also identified free will in the sense that “not every natural inclination obliges.”, i.e. not every natural inclination (inclinatio naturalis) necessitates the will to action.22 Thus, the more such free will there is, the more some form of contract is required to produce the legitimacy 18 For the disagreement on this question among the authors of the School of Salamanca, see Kaufmann, Slavery between law, morality and economy, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 183 – 225. 19 Deckers, Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria (1483 – 1546), 1991, pp. 92 ff. According to Deckers, one cannot bring together the theological claim of omnipotentia Dei and the naturalistic claim that “God cannot change natural things”. Consequently, in the final analysis, Vitoria favours the latter claim to defend the immutable nature of moral obligation, even if that means “Theologie Theologie sein zu lassen”, p. 94. With reference to the work of Molina, we illustrate the attempt to solve the problem highlighted by Deckers. 20 Schnepf, Zwischen Gnadenlehre und Willensfreiheit. Skizze zur Problemlage zu Beginn der Schule von Salamanca (Francisco de Vitoria), in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 23 – 42, at p. 35 f. 21 Deckers, Gerechtigkeit und Recht, 1991, p. 96, n. 95. As Schnepf notes, God could not create black snow, and he did not have to create snow at all; but if he decided to create snow, it had to be white. Thus, the Scotist and Thomist positions are assumed to reveal a mere fight over words. See Schnepf, Gnadenlehre und Willensfreiheit, p. 36. Hence, if God creates man with a will – the appetitus intellectus directed towards happiness (beatitudo) – then man is obliged towards this end. Thus, the theological claim (omnipotentia Dei) and the naturalistic claim (immutable moral order) are reconciled through God’s own self-determination. 22 Cited in Schnepf, Gnadenlehre und Willensfreiheit, p. 39: “non quaecumque naturalis inclinatio necessitat.”
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of authority that natural necessity cannot provide. Concerning Molina, the Oxford Philosopher Anthony Kenny has claimed that, by conceiving of middle knowledge (scientia media), Molina found “a highly ingenious solution” for the problem of how to reconcile God’s omnipotence and grace with human free will, a problem already vividly discussed in the high scholastic.23 In a different context – that of the legitimate exercise of political power –, Schnepf has illustrated that Vitoria’s thought remains incomplete in the sense that Vitoria’s understanding of natural law as underlying the legitimacy of civil power depends upon a comprehensive theory of the will for which, in turn, Molina might represent a useful resource.24 Our choice of scholastic authors for the present piece is based on the fact that the two thinkers meditated on this problematic. As we shall see, the relevance of this theoretical connection, evident but not resolved in Vitoria, is developed further in Molina’s metaphysics and his philosophy of law. Molina attempts to fill this gap with his conception of scientia media, that is, the threefold division of divine knowledge and the resulting notion of natura rei. Molina subjects God’s omniscience to this division in his work entitled Concordia, the full title of which is Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione concordia (Of the free will in concord with the gifts of grace, divine foreknowledge, providence, predestination and the reprobation of the soul).25 Initially, he describes God’s natural knowledge (scientia naturalis) of the nature of God’s created creatures. This kind of divine omniscience precedes every divine decision on the creation – not temporally, but logically or rather ontologically: God knows his own nature through natural knowledge already prior to creation, and therefore all possible potentialities that are embedded in his nature and according to which he could create different worlds and, correspondingly, different creatures. This means that not even God can change the substantial nature of a creature, because this is fixed already prior to creation and is independent of God’s will. This position is maintained in the so-called natura-rei doctrine, which is also highly relevant, as we shall see, to Molina’s jurisprudence. By scientia media, the second kind of divine omniscience, God knows by his providence how the human beings created by him would decide freely in any given circumstance, and God creates these circumstances. However, God does not have any control in this process over human decisions and actions.26 The third type of divine omniscience is God’s free knowledge (scientia libera) by which God knows what is actually going to result from his free decision to create particular creatures and a particular world, and from exposing these beings to a certain set of circumstances. This tripartite structure of divine om23 Kenny, A New History of Western Philosophy, Volume 3: The Rise of Modern Philosophy, 2008, S. 303: “A novel and highly ingenious solution to the problem was proposed at the end of the sixteenth century by the Jesuit Luis de Molina.” 24 Schnepf, Gnadenlehre und Willensfreiheit, p. 39 f. 25 Luis de Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione concordia, 1953, Pars IV: De praescientia Dei, Disputatio 52. 26 Freddoso, Luis de Molina: On Divine Foreknowledge, 2004, Introduction, p. 47.
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niscience can be summarised thus: God knows what can be through scientia naturalis, he knows what would be through scientia media, and he knows what will be through scientia libera.27 Hence, through scientia media, the human being is accorded the capacity to decide to do good acts without the immediate divine prompt. In consequence, Molina’s notion accords the human being autonomy, without challenging divine providence and omniscience.28 In this piece, we argue that Vitoria’s original contribution was the amalgamation of the subjective and objective senses of right in his discussions of dominium in a way that establishes freedom and autonomy as existing in a specific sphere:29 on the one hand, his definition of dominium relies on a concept of free will that also subjects governed by rulers or masters enjoy to some extent.30 On the other hand, Vitoria is unwilling to detach any notion of natural (pre-political) rights from his naturalistic system of lex-ius-dominium. Essentially, in his treatment of ius and dominium, Vitoria may be regarded as having made conceivable the theoretical framework for some idea of human rights; yet, dominium and free will always serve a purpose.31 Based on our analysis, Vitoria is best understood as conceptually opening up the late medieval discourse on right(s) to accommodate space that some later thinkers would fill with 27 Pegis, Molina and Human Liberty, in: Smith (ed.), Jesuit Thinkers of the Renaissance, 1939, p. 121. 28 Still, Molina was accused of the heresy of pelagianism. Pelagius’ teachings that human nature could not be corrupted by original sin was interpreted in the way that the human being could distinguish on his or her own between good and evil and that God’s grace merely was added secondarily, in support. Even though Molina certainly did not sever or superordinate human free will above God’s grace and providence, his teaching, the so-called Molinism, led to fierce conflicts between Dominicans and Jesuits, as well as conflicts within the Jesuit order itself. For Molinists – then as today –, God’s omniscience as the creator of free beings is restored through scientia media, because God could have decided not to create such free creatures, or God could have constructed the circumstances differently, so that human actions would have occurred according to God’s wishes. (McCann, The Free Will Defense, in: Perszyk (ed.), Molinism. The Contemporary Debate, 2011, p. 253 f.) Prompted by the publication of the Concordia in 1588, this dispute became known as „de auxiliis” controversy, termed “Gnadenstreit” in German. It only terminated in 1607, when pope Paul V. forbade the participants to express any further accusations. 29 The argument is that the Salamancan theologians did not abolish the ius-dominium distinction, as Tosi claims in his view that “potestas or facultas over oneself, his actions and possessions occupied the semantic place of the whole concept of right. This was the originality of their contribution.” Tosi, The Theological Roots of Subjective Rights: Dominium, Ius and Potestas in the Debate on the Indian Question (Sec. XVI), in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp 125 – 154, at p. 152. 30 This supports Seelmann’s point that practical issues (the discovery of the New World) motivated the Salamancan thought. See Seelmann, Selbstherrschaft, Herrschaft über die Dinge und individuelle Rechte in der spanischen Spätscholastik, in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 43 – 57, at p. 55. See also Seelmann, Theologische Wurzeln des Säkularen Rechts, in: Willoweit (ed.), Die Begründung des Rechts als Historisches Problem, 2000, pp. 216 – 227. 31 One thus needs to be careful when linking Vitoria to human rights, as Belda Plans does.
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the idea that the individual holds pre-political, natural rights.32 We establish this by complementing the practical orientation of the lecture De Indis with Vitoria’s developments in the Thomist commentary tradition and the theoretical orientation in his later lecture De Eo Ad Quod Tenetur Homo cum Primam Venit ad Usum Rationis (On what man is obliged to do when he first comes to the use of reason). We are therefore not engaging directly with arguments that have sought to bear out Vitoria’s political thought as presented in the lecture De Potestate Civili. There have been claims in favour of a split between that relectio and the commentary on the 2a2ae, of structuring his political thought in relation to the ius gentium, or indeed of abstracting from Vitoria’s different aims of his different works altogether.33 We draw on this very useful scholarship, but our model stresses Vitoria’s thought as it impacted Molina, the perhaps central figure in this narrative: Vitoria’s novelty was the creation of a conceptual space for dominium that is not tied to a specific exercise. The fact that he himself makes no use of this conceptual space defines him as a firm Thomist; nevertheless he at the same time represents a predecessor to Molina (and other later thinkers) who considers this conceptual space in greater depth. Ultimately, therefore, we do not present the unitary late-scholastic concept of dominium and ius, but we hope to reveal what the relation between dominium and ius means for the foundation of right(s) and legal capacity in as detailed a picture as possible and to demonstrate that this issue is not merely a circular thesis, such as the prototypical chicken-egg-dilemma. In the big picture, these questions are of strong relevance. We analyse, for example, the relation of children and the insane (amentes) to the question of any possible moral connotation to dominium and the moral significance of the relation between dominium and ius. Still today, there is much debate about the legal status of disabled persons in theories of law and justice. For example, Martha Nussbaum holds that especially rationalistic theories of law (particularly contract theories like the one of John Rawls) ignore and exclude disabled persons from debates about justice in our society.34 Since the 1980s, she has focused together with Amartya Sen on ‘capabilities’ as the origin for rights in their famous Capability Approach. Vitoria and Molina certainly regard ius as a capability (facultas) and it constitutes the conditions for holding rights; however, of course, ratio looms large for the scholastics. In fact, the relation between ius and dominium exerted practical relevance in a much earlier period: The Franciscan dispute on poverty in the 13th century had al32 As we shall see, this is firstly realised through the repeated emphasis on free will as determinant for dominium, which Vitoria himself subsequently limits through the emphasis on usus rationis. Secondly, it is conceived through the fact that dominium and free will require free exercise of dominium. Schäfer emphasises the Berlinian terminology of negative freedom in ‘Freedom’ oder ‘Liberty’? Der freie Mensch in der (Spät)Scholastischen Deutung von De Anima, in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 85 – 106. Berlin’s negative freedom as established in the famous Two Concepts of Liberty does not take the individual into account, but only the possibilities open to it. 33 At the end of this first section we will explain this in greater detail. 34 Nussbaum, Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, 2007.
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ready focused on a moral aspect of the relationship between dominium and ius. The friars insisted on their right to use things, but they adamantly claimed they did not have dominium over those things, as this would be incompatibe with St. Francis of Assisi’s doctrine of real poverty.35 This generated the discussion whether ius and dominium could be separated and the discussion about the relationship between the user and the owner (dominus) of a thing. An important issue that indicates the link between ius and dominium is the fundamental jurisprudential perspective: Is dominium understood as based on natural law or as created by positive, human law? Although we will focus on Vitoria’s and Molina’s positions on dominium in general, rather than on its subdivision into dominium proprietatis (ownership) and dominium iurisdictionis (jurisdiction),36 there is one relevant question on dominium as ownership that was the object of many political theories, movements and conflicts: does ownership exist by nature, or is property always the result of human agreement (positive right)? Without giving away too much at this stage, it can be said that, for Vitoria and Molina property is based on human regulation (positive right) to guarantee the provision of peace and tranquility (all goods are common by natural law).37 Modern arguments illustrate the continuing volatility of this question: One prominent example for the opposite view is Qu’est-ce que la propriété? Recherche sur le principe du droit et du gouvernement38 published in 1840 by the French libertarian socialist Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865). According to Proudhon’s famous slogan, every kind of “property is theft”.39 Because many people are excluded from 35 Cf. Brett, Liberty, Right and Nature, 1997, Chapter 1, especially pp. 11 – 20 for the critical assessment of the arguments of Paolo Grossi and Richard Tuck who regard the scope of this equivalence as total and thus as the origin of modern subjective rights. 36 For an analysis of dominium proprietatis and dominium iurisdictionis in Molina, see Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, here pp. 139 – 153; and for dominium iurisdictionis also Brett, Luis de Molina on law and power, in: ibid., pp. 155 – 181, here pp.161 – 181; and for dominium proprietatis also Schüssler, The economic thought of Luis de Molina, ibid., pp. 257 – 288, here 265 – 269. 37 Thomas Aquinas, Summa Theologiae II-II, q. 66, a. 2: “secundum ius naturale omnia sunt communia.” and ibid. ad. 1: “quia secundum ius naturale non est distinctio possessionum.” Molina, DIEI II 20, 151: “Quo fit, ut iure naturali non sit illis prohibita rerum divisio, sed permissa.” Vitoria at first confirms in Comentarios a la Secunda Secundae de Santo Tomas, vol. III, ed. V. Heredia, 1934 (henceforth Comm ST 2a2ae), q. 62, a. 1, n. 10, p. 69 that “omne jus et dominium quod invenitur in creaturis est datum a Deo.” On this basis, he accounts for the divisio rerum by exclusion in n. 20, p. 75: “Divisio et appropriatio rerum facta fuit jure humano. Patet, quia facta est ut videmus; et non jure naturali nec divino, ut dictum est, nec angeli fecerunt eam: ergo jure humano facta est.” That this in fact relates the effects of original sin and thus to the ius gentium (understood as positive law) is Vitoria’s point in Comm ST 2a2ae, q. 57, a. 3, n. 4, p. 16: “Cum magna namque difficultate jus naturale servaretur, si non esse jus gentium. Posset quidem orbis subsistere si possessiones essent in communi, ut est in religionibus; tamen esset cum magna difficultate ne homines in discordias et bella prorrumperent.” 38 “What is Property? Or, an Inquiry into the Principle of Right and Government”. 39 Proudhon, Qu’est-ce que la propriété? Recherche sur le principe du droit et du gouvernement, 1926, Chapter 1.
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property, it is the negation of equality. Therefore, according to Proudhon, the result of property is not freedom but social unrest. In turn, precisely contrary to Proudhon’s considerations, property (dominium proprietatis) arises in most modern constitutions as a fundamental right (although there are differences in regard to the specification of its contents). The background for these contradictory positions on the legitimation of property throughout the entire history of ownership theories lies to a large extent in the question of the relationship between ius and dominium, particularly whether dominium (in the above-mentioned context in the meaning of dominium proprietatis) depends on a right (ius) of a person (see section II.1 of this article), whether ius arises from dominium (II.2) or whether dominium and ius are equivalent (II.3). Depending on how this question is interpreted, dominium (proprietatis) may signify the status of basic individual rights or a privilege of a particular group within a community. The scholarly literature on those early-modern thinkers commonly designated as forming the School of Salamanca has treated extensively of the concept of individual, subjective rights as potential precursor of some kind to the thesis of fundamental rights or even human rights.40 In this piece, we intend to contribute to this discus40 Brett, Liberty, Right and Nature, 1997, p. 136 f., and Deckers, Gerechtigkeit und Recht, 1992 see two accounts in Vitoria and relate them to the notion of subjective rights. For Brett, subjective rights are a sign of Vitoria’s medieval Augustinianism, while for Deckers they resemble subjective rights which can be seen as precursors of basic rights. Brett argues for a more restrained view in her separation of two different senses of subjective right in Vitoria: “The first sense of subjective right which involves the notion of obligation and law: natural right in this sense, the natural right of the Relectio De potestate civili, is associated with a politics of nature and necessity. The second sense, wherein right is coincident with dominium and bears the sense of liberty and freedom from obligation, is at the base of politics of free consent and of independent personal authority within the civitas which characterises the commentary on the 2a2ae.” According to Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2006, Vitoria creates the foundation for the later spread of subjective rights as a mode of thought (p. 353). According to Spindler, Vernunft, Gesetz und Recht bei Francisco de Vitoria, in: Bunge / Spindler/ Wagner (eds.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, 2011, pp. 41 – 70, the theoretical ancestry of human rights is not to be found in Vitoria as “Francisco de Vitoria’s doctrine of subjective rights cannot be said to invoke a precivic morality, but rather unfolds within a structure of legally regulated conditions.” (p. 47, “Daher lässt sich auch zu Francisco de Vitorias Lehre von subjektiven Rechtstiteln sagen, dass sie nicht eine vorrechtliche Moral bemüht, sondern von der Eigenlogik rechtlich geregelter Verhältnisse her entwickelt wird.”) Wagner stresses the role of ius gentium in Vitoria: “Vitoria vertritt hingegen wohl eher eine Theorie, die bestimmt, welche politischen Entitäten als rechtliche und damit als Subjekte zwischengemeinschaftlicher Rechtspraxis überhaupt zählen.” Wagner, Zum Verhältnis von Völkerrecht und Rechtsgbegriff bei Francisco de Vitoria, in: Bunge / Spindler/ Wagner (eds.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, 2011, pp. 255 – 286, at p. 283. In the case of Molina, there is no doubt that his definition of ius as a faculty (which we examine below) entails an understanding of the existence of subjective rights in a sense describable as precursors of basic rights, as Kaufmann argues in his essays on Molina, most recently in: Slavery between law, morality and economy, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 183 – 225, p. 183; and also in: Das Verhältnis von Recht und Gesetz bei Luis de Molina, in: Fidora/ Lutz-Bachmann/ Wagner (eds.), Lex und Ius, 2010,
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sion with a comparative examination of ius and dominium in Vitoria and Molina. We seek to illustrate that the relation between ius and dominium was in fact relevant for the moral sphere, despite Molina’s claim that this “matter is a metaphysical question without significant relevance for moral issues”. We shall proceed as follows: First, we consider the three interpretations mentioned above that seek to explain the relation between ius and dominium (section 2); subsequently, we pursue the issue of the natural dominium of every human and we ask whether mastership is a specifically human feature (section 3). Finally, we examine the sensitive issue of dominium and slavery and we ask what happens with dominium if someone becomes the property of another human being as a slave (section 4). We summarise our results in the conclusion.
II. Three models of Ius and Dominium (1) In the course of discussing the cardinal virtues (ST 2a2ae, qq. 47 – 170), in the article ‘Of Right’ (q. 57), Aquinas claims that lex is a rule or measure of ius.41 It illustrates what is right, ius. Thus, Aquinas understands ius as depending on lex. Substantively, equality (aequum) represents the content of right: it is directed at others (ad alterum) and it is the object of justice (obiectum iustitiae).42 Dominium, in turn, results from ius, and thus dominium is attached to some form of direct obligation. Concerning right defined as ius, Vitoria follows Aquinas in his commentary on the Quaestio pp. 369 – 391; and also in: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei, in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 205 – 226; see also Eisenberg, Cultural Encounters, Theoretical Adventures: The Jesuit Missions to the New World and the Justification of Voluntary Slavery, in: ibid., pp. 357 – 383; and Tuck, Natural Rights Theories. Their origin and development, 1979, p. 51 ff. Brett calls Molina’s definition of ius as faculty a “‘negative’ definition of right”, in: Changes of State, 2011, p. 93. 41 Aquinas, ST 2a2ae, 57, 1, ad. 2: “Et ideo lex non est ipsum ius, proprie loquendo, sed aliqualis ratio iuris.” Two misleading translations are Dyson, Aquinas: Political Writings, 2002, p. 160: “law is not the same as right, properly speaking, but an expression of the idea of right”, and the Fathers of the English Dominican Province, The Summa Theologica, 1948 [http:// dhspriory.org/thomas/summa/]: “law is not the same as right, but an expression of right”. For the accurate meaning, see Brett, Luis de Molina on Law and Power, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 155 – 181, p. 159: “He [Aquinas] did not mean, as some interpreters have suggested, that law is the expression of right. He meant that law gives the rationale or the ‘basis’ of right, that is, it is with the law in view that we can sort out what is right and what is not.” See also Tierney, Natural Law and Natural Rights. Old Problems and Recent Approaches, The Review of Politics 64.3 (2002), pp. 389 – 406, at p. 393: “when Aquinas wrote that law is the basis of right (lex… est… ratio iuris) he was referring explicitly to his immediately preceding objective definition of ius as ‘the just’.” 42 Aquinas, ST 2a2ae, 57, 1, corp: “Respondeo dicendum quod iustitiae proprium est inter alias virtutes ut ordinet hominem in his quae sunt ad alterum. Importat enim aequalitatem quandam, ut ipsum nomen demonstrat, dicuntur enim vulgariter ea quae adaequantur iustari. Aequalitas autem ad alterum est. […] Sic igitur iustum dicitur aliquid, quasi habens rectitudinem iustitiae, ad quod terminatur actio iustitiae, etiam non considerato qualiter ab agente fiat. […] Et hoc quidem est ius. Unde manifestum est quod ius est obiectum iustitiae.“
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‘Of Right’. As was popular in the scholastic treatises, Vitoria seeks etymological support for his position: in the Latin language, the correlation between iustum and aequum is not obvious, “which however seems obvious in the Spanish language. Hence we say ‘ya está justo, ya viene justo, igual viene’, which is the same.”43 Vitoria wants to say that ius refers to the object of justice, as it derives from iustum. Along these lines, it is possible to distinguish justice from the other virtues, because “with regard to this we say that justice does not properly mean an ordering to the agent, but rather to the other.”44 Consequently, “in terms of justice, it is not relevant to consider whether I am rich or poor, healthy or ill, but only what I owe or do not owe the other.”45 Here, ius is concerned with what is between persons, not with the individual itself. Vitoria’s account reproduces the notion of rectificatory justice we encounter in Aristotle’s Nicomachean Ethics, Book V, and which Aquinas employs for his discussion of ius as well. For Aristotle, rectificatory justice is that kind of justice that consists in rendering each his due.46 Justice focuses on the other (ad alterum). With this foundation in place, Vitoria seems to assert that, while ius corresponds to this form of justice, dominium does not. Dominium rather refers to individual ownership or sovereignty. Still, at the outset of Vitoria’s discussion of restitution with respect to commutative justice (Comm ST 2a2ae, q. 62, a. 1), we learn that we must understand dominium only in the context of ius: “but first it needs to be determined what ius is, because dominium depends on ius.”47 The reason for this dependence lies in the fact that “ius […] is nothing other than what is permitted, or what lex permits, that is, ius is what is permitted by the laws.”48 Despite his claim that he is simply reiterating the thought of Aquinas, Vitoria actually changes the meaning of ius here. As we saw, for Aquinas, lex positively determines ius; by contrast, in Vitoria’s commentary, ius is what lex negatively permits. The negative understanding of ius as what is permitted informs Vitoria’s definition of dominium in the sense of jurisdiction (iurisdictio) and property (proprietas): such dominium treats of instances where the individual is under no direct obligation through ius.49 43 Vitoria, Com ST 2a2ae, q. 57, a. 1, 3, p. 2: “tamen in hispana lingua manifeste apparet. Dicimus enim”; “it is already just, it becomes just, it becomes the same.” 44 Ibid., q. 57, a. 1, 10, p. 6: “Et quantum ad hoc [what distinguishes justice from the other virtues] dicimus quod iustitia non dicit ordinem ad agentem, sed bene ad alterum.” 45 Ibid., q. 57, a. 1, 10, p. 6: “ad iustitiam non oportet considerare an ego sim dives vel pauper, sanus vel infirmus, sed solum quod alteri debeam vel non.” 46 Nicomachean Ethics V, 3 and 4, 1131a–1132a, pp. 85 – 7, the edition used is: Aristotle, Nicomachean Ethics, translated and edited by Roger Crisp, 2006. 47 Vitoria, Com ST 2a2ae, q. 62, a. 1, n. 5, p. 63: “Sed prius praemittendum est quid sit ius, nam dominium dependet a iure.” 48 Ibid., q. 62, a. 1, n. 5, p. 64: “ius […] nihil aliud est nisi illud quod licet, vel quod lege licet, id est ius est quod est licitum per leges.” 49 Ibid., q. 62, a.1, n. 6: “Dominium is the superioritas and eminentia over subjects (e.g. that of a prince), while ius is what a wife has in her husband or a son in the father, but neither
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Thus, by tracking ius, we see that Vitoria regarded ius as what the law (lex) permits and dominium as individual ownership or sovereignty. But if justice focuses on the other, what part does the other play in individual ownership or sovereignty? With this question in mind, we consider the definitions of ius and dominium in Molina. At first glance, Molina seems to use the same method as Vitoria. In the opening of his treatise De Iustitia et Iure, he also follows Aristotle and Aquinas in the way how he defines ius: “If one summarises right in the signification of the just, it can be understood in two ways: on the one hand in a broader sense, as the same as the legitimate or what is in accordance with reason and law, and on the other hand in a narrower sense, as the same as the equal, which is opposed to the unequal, including injustice; it is in the middle, determined by the nature of the thing (ex natura rei) and in comparison to a neighbour between a more and a less or between gain and loss, […].”50
Vitoria focuses on law (lex) when defining right (ius) as what lex negatively permits. By contrast, Molina seems to regard right from a different angle: For him ius as the equal is “determined by the nature of the thing (ex natura rei)”, in respect of other persons. Right is not just set by law, it accords with the nature of the thing. Thus, Molina’s point of departure contrasts to that of Vitoria.51 According to the doctrine of natura rei, everything has its own unchangeable nature (or essence). Hence, something is evil not because it is forbidden, but because it is bad by its very nature52 or something is good, not because it is required (for instance by law), have dominium over him. Therefore, this sense is not applicable to restitution which is founded in dominium.” and n. 7: “dominium is legal property, whereas ius is the legal right of usus or ususfructus or possessio”, p. 65 f. 50 Molina, DIEI I 2, 9: “Cum ius in ea significatione, qua est idem, quod iustum, duobus modis usurpetur: uno late, ut est idem, quod legitimum, consonumite rationi ac legi: altero presse, ut est idem; quod aequum, iniquo, quod iniuriam involvit, oppositum, consistitque in medio ex natura rei comparatione proximi inter plus et minus, seu inter lucrum et damnum, […].” 51 Note that Molina here deals with ius in general, not yet explicitly with ius in the meaning of natural law. However, he distinguishes natural law from positive law as follows, DIEI I 4, 14f.: “This is the general rule to distinguish whether something belongs to natural law or to positive law. If the obligation is incurred by the nature of the thing (natura rei), which is offered or prohibited, because it is necessary to do in itself such as to help somebody who suffers an extreme lack or because it is in itself illicit and evil such as stealing, commiting adultery or to lie, in that cases the requirement or the prohibition belongs to natural law. But if the obligation is not incurred by the nature of the thing, which is offered or prohibited, but by the requirement and the will of the prohibiting person […] then the requirement or the prohibition belongs to positive law.” (“Regula ergo generalis ad dignoscendum, num aliquid ad ius naturale, an ad positivum pertineat, haec est. Si obligatio oritur a natura rei quae praecipitur aut prohibetur, quia videlicet in se est necessaria ut fiat, ut est subvenire extreme indigent, vel quia in se est illicita et mala, ut furari, adulterari, mentiri, tunc praeceptio aut prohibitio pertinent ad ius naturale: si vero obligatio non oritur a natura rei quae praecipitur aut prohibetur, sed a praecepto et voluntate prohibentis, […], pertinent ad ius positivum.”)
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but because it is unchangeably good by its very nature. The natures of things cannot be changed even by God. Vitoria also emphasises in his Relectio de homicidio that not even God can change the nature of things, because according to the ontology of natura rei things precede God. He cannot annul the effect of the formal cause (causa formalis), once it is actualised, as Vitoria demonstrates with the example of the laughing man (who we meet again later): “Therefore, if man by his form and essence has the ability to laugh, God cannot make him unable to laugh by his nature.”53 Vitoria thus posits the ex natura rei ontology in a similar way to Molina. Crucially, however, only Molina uses it in the context of relating ius to dominium. The natura rei not only features in Molina’s doctrine of ius, but also dominium, as we shall see below. First, we must add another important definition of ius given by Molina. (2) A little later Molina defines ius at the beginnig of Tractatus II, entitled “On commutative justice in consideration of external goods”, as follows: “It is the faculty to do or to receive something or to remain on something or also to behave in another way, so that the holder experiences an injustice if someone counteracts against her or him without any legitimate reason. It follows that right according to this view is a measure of injustice (iniuria) in some way: Hence, insofar as there is a counteraction without any legitimate reason and a hindrance, to that extent there is injustice.” 54
This definition of right examines the position of the individual within the characteristic feature of justice (the regard for the other). For this reason, it may be designated as a definition of subjective right,55 although this term is not used in legal theories before the 18th century.56 According to Molina, subjective right may not be un52 For example, Thomas Aquinas holds that something is bad if it is contradictory to rational nature or not complete with regard to its nature. Thomas Aquinas, Summa Theologiae I-II, q. 18 – 20. 53 Vitoria, De homicidio, 1529 / 1530, in: Horst/ Justenhoven/ Stüben (eds.), Francisco de Vitoria – Vorlesungen I (Relectiones), 1995, p. 460: “[…] quia Deus non potest tollere effectum causae formalis manente causa formali. Si ergo homo est formaliter risibilis per suam essentiam, non potuit Deus facere, quod sua natura non esset risibilis.” To see how the doctrine of natura rei worked differently in Francisco de Vitoria, Gabriel Vázquez (1549 – 1604) and Francisco Suárez (1548 – 1617), cf. Mandrella, Das Isaak-Opfer. Historisch-systematische Untersuchung zu Rationalität und Wandelbarkeit des Naturrechts in der mittelalterlichen Lehre vom natürlichen Gesetz, 2002, p.199 – 254 and for Luis de Molina Rapp, Die Bedeutung der Lehre Molinas (1535 – 1600) von der natura rei für die Theorie des Naturrechts, 1963. 54 Molina, DIEI II 1, 40: “Est facultas aliquid faciendi, sive obtinendi, aut in eo insistendi, vel aliquo alio modo se habendi, cui si, sine legitima causa, contraveniatur, iniuria fit eam habenti. Quo fit, ut ius in hac acceptione sit quasi mensura iniuriae: quantum enim ei, sine legitima causa, contravenitur et praeiudicatur, tantum fit iniuriae.” 55 See section I of this paper. 56 Gottfried Achenwall uses the term “subjective right” in his Ius Naturae: “Ea facultas moralis, quae posita obligatione alterius perfecta ponitur, hoc est ius naturale extorquendi aliquid alteri, seu vi exigendi ab altero, vocatur ius naturale strictum (ius perfectum) subjective sumtum.” Achenwall, Ius Naturae, 1781, pars prior, § 36. See p. XXXI in the introduction to Aichele / Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014 and Kaufmann, Das Verhältnis
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derstood as independent from, or even contrary to, objective right (in that sense of ius): Subjective right is the specific legal faculty of an individual as a legal entity derived from objective right. In accordance with this faculty, the individual is allowed to demand the exercise or omission of an act from another person, to protect her or his own rights. Therefore ius in the meaning of subjective right can be understood as a measure of injustice. Bearing in mind this definition of ius, we shall see clearly that Molina’s concept of dominium represents a second interpretation of the relationship between ius and dominium which relates directly to Vitoria’s opinion on the dependence of dominium on ius. With reference to Bartolus de Saxoferrato (1313 – 1357), Molina determines dominium as “the right to have a physical object completely at one’s disposal, as long as this is not prohibited by law.”57 First, Molina seems to agree with a dependence of dominium on ius when he observes that in Bartolus’ definition “ius is set as a genus which embraces dominium and most of the other rights.”58 Thus, Molina prefers Bartolus’ definition of dominium over the one he cites from Domingo de Soto (1494 – 1560): “[Dominium] is the specific faculty of everyone [to do something] and a right over a thing (ius in rem) which someone has, and someone can make use of it in any way permitted by law for his own benefit.”59 At this point, it is surprising that Molina favours Bartolus’ definition of dominium over Soto’s which resembles more closely Molina’s conception of ius as subjective right (and which Molina explains as the most appropriate way to define ius!).60 But Molina prefers Bartolus’ definition because it is “more brief and also maybe more cautious”, although “the meaning of both definitions may be the same”. It seems that Molina wants to handle dominium as openly as possible.61 According to Bartolus, dominium is a spevon Recht und Gesetz bei Luis de Molina, in: Fidora/ Lutz-Bachmann/ Wagner (eds.), Lex und Ius, 2010, pp. 369 – 391, at p. 374. 57 Molina, DIEI II 3, 50: “Est ius perfecte disponendi de re corporali, nisi lege prohibeatur.” Tellkamp points out “an undeniable voluntaristic feel to this definition.” because Bartolus “endows [dominium] with an active meaning, that is, to manage something completely or to have it at his or her disposition.”, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, at p. 128. 58 Molina, DIEI II 1, 51: “Caeterum in ea pro genere ponitur ius, quod dominium et pleraque alia iura complectitur.” 59 Ibid., 50: “Haec autem Bartoli definitio multo magis probatur, quam illa aliam, quam tradit Sotus 4. de iustitia q.1. art. 1. nempe, est propria cuiusque facultas, et ius in rem quam habet, quam in suum ipsius commodum usurpare potest quocunque usu lege permisso.” 60 Ibid., 40: “Nec video posse ius in ea acceptione aliter commodius definiri, quam si dicamus. Est facultas aliquid faciendi, sive obtinendi, aut in eo insistendi, vel aliquo alio modo se habendi, cui si, sine legitima causa, contraveniatur, iniuria fit eam habenti.” 61 According to Tellkamp, Molina misses the legal limitation of dominium in Soto’s definition: “What Molina apparently admonishes is that Soto does not explicitly include the legal limitation of dominium, who instead emphasizes that dominium is based on the will of the person who exercises it.” Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, at p. 139. Indeed, in the following paragraph we will see that for Molina the law (lex) has an important meaning in regard to dominium.
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cies of the genus ius like most of the other rights. Shortly, we consider in more detail Molina’s view on dominium and ius. However, at this point we have already received a (cautious) answer to our question that arose from Vitoria’s framework – whether there is a collision between ius and dominium regarding the meaning of justice as the virtue that focuses on the other: Molina selects two definitions of dominium that depend on the permission by law. This means that dominium as a specific faculty of an individual must be always in accordance with the bonum commune. Personal benefit may not be pursued if it contradicts the common good, because for Molina the task of law is “to obtain the natural moral happiness of every human”, and, as an animal sociale, every human being is always part of a political community.62 The right to a complete disposal over a thing, which is necessary for dominium, may not be exercised against the general welfare.63 Therefore, someone can be prevented from exercising her or his rights “by law or by royal decree for a just reason”.64 But she or he remains the “legitimate and undiminished dominus of the thing” and may only be prevented from the exercise of her or his right “for a just reason”. On the other hand, Tellkamp stresses the restriction of law in terms of dominium: the owner benefits in her or his perfect disposition to the law, because the property (which is a thing under her or his dominium) is protected by law against robbery.65 In this context, we must note that the exercise of dominium is always bound to law in Molina’s view. The individual may exercise its dominium, but there is always 62 Molina, De Iustitia et Iure, 1659, Tomus VI, Tractatus V, Disputatio 46, Column 1671: “Porro leges ferre ad finem ultimum naturalem, hoc est, ad naturalem cuiusque hominis felicitatem moralem, quae simul conducant ad naturalem contemplativam ulteriorem felicitatem, et ut homo, dissoluta humana natura per peccatum, quatenus est sociale animal, bonus fit civis, beneque sese habeat ad rempublicam, cuius est pars, totiusque eius reipublicae commune bonum coalescat ac conservetur, partim ad Deum optimum maximum tanquam ad naturae autorem, et partim ad supremos rei publicae cuiusque moderatores spectat.” (Tractatus V was first published in Antwerpen 1609. We have used the 1659 Mainz edition.) 63 Note that, regarding dominium as a purely legal relationship between a legal entity and a legal object (of property or of jurisdiction), “the perspective of the common good is absent”, as Brett rightly stresses in Luis de Molina on law and power, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 155 – 181, at p. 165. But as it is bound to law, dominium is introduced into a moral realm. Brett would certainly agree with us because she also notes that for Molina “good citizenship demands moral virtue” (p. 177) and “the original ‘division of dominium’ […] is an essential part of the broader telelogical narrative in which the commonwealth itself is situated.” (p. 180). 64 Molina, DIEI II 3, 52: “sic vi alicuius legis, aut mandato principis, iusta de causa impediri ne in actum proderat, et, si prodierit, ne factum vim habeat, non tollit quominus ille legitimus integerque sit illius rei dominus.” 65 Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, at p. 141: “Someone’s perfect disposition either over a material or an immaterial thing is insufficient to justify whether that person can claim that thing, otherwise a stolen object would eo ipso not only be used by the robber, but he could call himself its owner.”
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an obligation to the bonum commune, which may not be damaged by the (partial) exercise of a (subjective) right, such as the exercise of dominium. In the wider perspective of legal history, we may acknowledge that the concept of a law-bounded dominium reveals an interesting parallel to Immanuel Kant’s (1724 – 1804) a priori principle of “the freedom of every member of society as a human being” in “the civil state, regarded purely as a lawful state”: “Man’s freedom as a human being, as a principle for the constitution of a commonwealth, can be expressed in the following formula. No-one can compel me to be happy in accordance with his conception of the welfare of others, for each may seek his happiness in whatever way he sees fit, so long as he does not infringe upon the freedom of others to pursue a similar end which can be reconciled with the freedom of everyone else within a workable general law – i.e. he must accord to others the same right as he enjoys himself.” 66
The arguments we have traced in Molina find their definitive expression in Kant’s view that the bonum commune includes the “moral happiness of every human”, and that nobody may restrict the individual’s freedom. In order to ensure this, Kant binds freedom to law and thereby morality to law (ius), because acting according to the categorical imperative means to consult the particular freedom with a general law. With this outlook to Kant we can strengthen our thesis that for Molina there is no collision between the dominium of an individual and ius or the Aristotelian justice, which focuses on the other. In contrast to our analysis of Vitoria, our examination of Molina revealed that dominium corresponds to this form of justice. At this point, we have to take a closer look at Molina’s interpretation of the relation between ius and dominium: when defining the terms dominus (master) and servus (slave), he examines Bartolus’ opinion that “ius is set as a genus which embraces dominium”.67 Only two columns after presenting the Bartolist definition, Molina defends the contrary view of dominium: “The faculty or the right of complete disposal is an effect of dominium […].”68 By way of justification, Molina consults Petrus and the laughing man: “Although this metaphysics cannot do much for a moral issue, and in general it is said that right is the true genus of dominium, the contrary seems to me more true. First, as we say correctly: Because Petrus is the master of a thing he has the faculty of complete disposal over it. But by contrast we say incorrectly: Because he has the faculty of complete disposal over this thing, he is its master. Also we say incorrectly: Because someone has the faculty to laugh, he is a human being. Thus, the faculty or the right of complete disposal is an effect of dominium, like the faculty to laugh is an effect of the human being.”69 66 Kant, On the Common Saying: “This may be true in theory, but it does not apply in practice”, in Reiss (ed.) and Nisbet (transl.), Kant: Political Writings, 1970, pp. 61 – 92. Part II: On the Relationship of Theory to Practice in Political Right [Staatsrecht] (against Hobbes), p. 74. 67 Molina, DIEI II 3, 51: “Caeterum in ea pro genere ponitur ius, quod dominium et pleraque alia iura complectitur.” 68 Ibid., 53: “ergo facultas, seu ius perfecte disponendi, est effectus dominii […].” 69 Ibid.: “Et quamvis metaphysica haec non multum ad rem moralem conferat, communiterque dici consueverit, ius esse verum genus dominii; contrarium mihi videtur verius. Primo,
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The example of the laughing man is very useful to understand Molina’s interpretation: As a human being someone is able to laugh, i.e. the cause for laughing is being human; as a master someone has dominium, which is the cause for the right of complete disposal over a thing. For this reason Molina deduces ius from dominium and takes a position contrary to Vitoria’s thesis, that dominium depends on ius. Being a master means to own something absolutely; if that happens to be another human being, this thing is a slave who is so-called “in relation to the master of the slave.”70 Hence dominium is essential for a master and any master’s right over his thing arises from this essential dominium. On the example of master and slave Molina demonstrates that being the owner of oneself (which is the correlate of the master) and being an object of a right or a faculty to use a thing (which is the correlate of a right) are very different relations. For this reason, Molina concludes: ius and dominium are formaliter not the same, but the legal relation (relatio iuris) thus follows from the dominium, because the master has the faculty to use his thing and even to dispose of it completely, inasmuch as this thing is his and he is its master. 71 Molina specifies more reasons why ius and dominium may not be understood as the same matter. The difference between ius and dominium is furthermore illustrated by the transferability of rights: The dominus can vest the right to use his thing in someone else without losing the dominium over this thing. As we saw at the beginning of this paper, this was very important in the Franciscan dispute on poverty, because the members of the Franciscan order wanted to use things but denied having dominium of any kind (which was held by the pope). Also, there can be many different rights concerning one and the same thing (e.g. the right to use it or to reap the benefits of it, or rights resulting from a lease agreement)72 but “the concept of dominium with regard to a thing is unique and extremely simple.”73 This might be confusing, because there is for instance also dominium in usufruct, and we should also mention the difference of dominium directum and dominium utile. By taking requoniam recte dicimus, quia Petrus est dominus huius rei, habet facultatem perfecte de illa disponendi: e contrario vero non recte dicimus, quia habet facultatem perfecte disponendi hac re, est dominus illius; sicut etiam non recte dicimus, quia habet facultatem ridendi est homo: ergo facultas, seu ius perfecte disponendi, est effectus dominii non secus ac facultas ridendi est effectus homini.” 70 Ibid., 54: “Dominus enim est, qui habet aliquid suum simpliciter: quod si id sit alius homo, appellatur servus, qui relative dicitur ad servi dominum.” 71 Ibid.: “cum ergo esse suum, quod correlativum est domini, et obiectum iuris, facultatisve ad utendum re, sive sua ea sit, sive aliena (quod correlativum est iuris) sint longe diversa, efficitur, ut ius et dominium non sint idem formaliter, sed relatio iuris relationem dominii ea ratione consequitur, quod idcirco unusquisque, facultatem habeat non solum utendi, sed etiam disponendi perfecte de re aliqua, quod illa sit sua, ipseque dominus sit illius.” 72 For different kinds of dominium non plenum, see Alonso-Lasheras, Luis de Molina’s De Iustitia et Iure. Justice as Virtue in an Economic Context, 2011. He correctly points this out for dominium proprietatis, p. 102: “[…] in Molina’s mind, private property is never an absolute right. There are many ways in which private property is moderated [such as usufruct, possession and other rights over things].” However, the reader should not think of dominium plenum here, which is in fact an absolute right (see below).
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course to the Roman law, Molina first distinguishes a complete dominium (dominium plenum) and an incomplete dominium (dominium non plenum):74 When a dominus transfers rights of his complete dominium to someone else, he retains an incomplete dominium (dominium directum), while the usufructarian now also holds an incomplete dominium over the same thing (dominium utile). For Molina, ius and dominium are distinct when considering dominium plenum: Only a dominus who does not transfer any rights in his thing has dominium plenum and for Molina only the dominium plenum “is unique and extremely simple.” With this distinction, we can see that the interpretation of the relation between ius and dominium is not in the least merely “a metaphysical issue”. A very clear practical significance is shown in Molina’s discussion on the question whether the Franciscans have dominium or merely the use of things:75 Instead of a dominium utile, the Franciscans have an usus facti. This gives them the clear legitimation to receive, consume and even sell things and their earnings, so in this regard they have a full right (maius ius) compared with a user (usuarius) or a beneficiary (usufructuarius), “because they [user and beneficiary] ought to use and enjoy things in a way that keeps the substance of the things preserved.”76 Thus, although the dominus exercises power even of the substance of his things, nevertheless, according to Molina, the Franciscans have a far weaker right than a user or a beneficiary with dominium utile: The Franciscans’ right that enables use always depends on the will of the dominus. If the dominus bars the Franciscans from the use of his things, this is not unjust; however, he would act unjustly towards the user or beneficiary in that situation, because he would violate their dominium utile. The usus facti as a right is less important with regard to fair treatment (or with regard to justice and injustice) than the dominium utile which includes an independence from the will of the dominus (who still has the dominium directum).77 In other words, if someone not only has a right, but dominium, he is protected against arbitrary injustice. As we shall see, the will is of particular relevance to dominium. But first we turn to Vitoria who offers an important addition to the above remarks on dominium and use or beneficial ownership (ususfructus).
73 Molina, DIEI II 3, 54: “potestque unus et idem habere multa iura circa unam et eandem rem pro diversitate obiectorum, ad quae sunt ea iura: sed ratio dominii circa unam rem est unica et simplicissima: […].” 74 Ibid., 58. 75 Ibid., II 6. 76 Ibid., II 6, 70: “[Minores fratres] Habent quidem maius ius, quatenus percipere possunt omnes earum fructus, easque et [sic!] earum fructus consumere et alienare, ad quae omnia non se extendit ius usuarii, nec etiam usufructuarii: cum semper uti aut frui rebus debeant salva earum substantia.” 77 Molina, DIEI II 6, 71: “Quia ergo ius, quod Minores habent ad usum, et consumptionem rerum ipsis traditarum, est longe minus, quam id, quod habent usuarius et usufructuarius, de quibus iura loquuntur, ad differentiam illius, appelatur a Nicolao III. et ab aliis ‘usus facti’ non quod sit nudum factum sine iure ad illud, sed quod sit ius tenuissimum ad factum, pendens semper a voluntate dominorum.”
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(3) Finally, we have to add a third interpretation of the relationship between ius and dominium. Vitoria makes one exception to his view of dominium as depending on ius: the case of restitution. Here, dominium is equivalent to ius and depends on justice ad alterum: “Because if we take away something from someone who has dominium over it, in the same way we take away this person’s capacity to use that thing, and that is why we are forced to provide compensation. […] And thus ius and dominium are defined in the same way. […] If someone steals a thing from the user or beneficiary or possessor, he is called a thief, and he must compensate them, given that they are not the true domini.”78
Dominium here focuses on the iustum that is due because the thief prevents the person who has dominium from exercising it. It follows that all injury equates to theft, no matter what rights are violated.79 In this scenario, dominium and ius are equivalent in the sense of the Aristotelian inter-personal, commutative justice. Vitoria provides an illuminating example of how he conceives of dominium in the case of restitution: “[…] if I were the proprietor of a horse that I lend to Peter, and [then] steal it from him, I would be a thief, because it is said to be the taking of something belonging to the dominus against his will, and yet not against the will of the proprietor, since I am the proprietor, but against the will of the one who has legitimate possession over the thing.” 80
This passage requires us to make two amendments to the notion that dominium equals ius in the case of restitution. First, Vitoria equates the proprietor (dominus) and the rightful user of a thing.81 Dominium is not about a property right or any natural right – Vitoria argues that “for me to be held to compensation, it is sufficient that I commit an injury of some sort to a thing in which someone had a capacity of some sort”;82 crucially, dominium only pertains when the individual is involved 78 Vitoria, Comm ST 2a2ae, q. 62, a. 1, 8, p. 67: “Quia si tollimus aliquid ab aliquo habente dominium, isto modo tollimus facultatem ab illo utendi re, et ideo tenemur ad restitutionem. […] Et sic eodem modo diffinitur ius et dominium. […] Si aliquis subriperet rem ab usurario vel usufructario vel possessionario, diceretur fur, et teneretur illis restituere, dato quod non sint vere domini.” 79 Cf. Brett, Liberty, Right and Nature, 1997, p. 128 f. 80 Vitoria, Com ST 2a2ae, q. 62, a. 1, n. 8, p. 67: “si ego essem proprietarius hujus equi quem locavi Petro, et illum ab eo subripere, essem fur, quia diceretur contractatio rei alienae invito domino, et tamen non invito proprietario, quia ego sum proprietarius, sed invito eo qui legitimam possessionem habet in eum.” 81 Vitoria specifically seems to criticise the jurists’ emphasis on the distinction between the proprietor and the rightful user of a thing. Vitoria states that whether or not this makes a juridical difference, what is crucial is the moral sense: if one takes something from a rightful user (i.e. someone who has a capacity (facultas) in the thing), it makes no difference whether he juridically is the proprietor or the user. Such an act is theft and one must make restitution. 82 Vitoria, Com ST 2a2ae, q. 62, a. 1, n. 8, p. 67: “Quia ad hoc quod ego tenear ad restitutionem, satis est quod faciam injuriam alicui in re ad quam ille habebat facultatem quamcumque; id est quaecumque esset illa facultas, si facio illi injuriam, teneor illi restituere.”
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with his object of possession through a “capacity of some sort”. For Vitoria, dominium has a moral connotation. This marks a contrast to the jurists’ legalistic notion, where dominium is normative on the basis of the objective moral order (of nature, following Aquinas). It treats of the individual’s right to a thing because she or he is using or possessing it within the rightful realm of ius (which, in turn, is everything permitted by lex).83 This is dominium in the case of restitution. It is an interpretation of dominium that is close to Molina’s definition of ius, which we identified as subjective right and a measure of injustice (iniuria). However, based on the evidence we have considered, Molina would certainly not agree to an equivalence of ius and dominium. Yet, Vitoria himself seems to attach dominium in the case of jurisdiction and property to precisely that juridical differentiation which he discards in the case of restitution in his commentary to Secunda Secundae, Quaestio 62.84
III. Natural dominium for everyone: Humanity as mastership? On account of the moral connotation, in Vitoria’s framework it is impossible to equate dominium with ius in the way of Jean Gerson (1363 – 1429) and Conrad Summenhart (1450 – 1502), who accord this to both animals and humans.85 Likewise, Molina refuses to accept this thesis of dominium for animals and even for stars and natural elements. Gerson and Summenhart determined “ius as a faculty to anything [like the faculty of stars to illuminate] and dominium coincides with that ius”.86 According to Vitoria, humans have dominium because they are free, despite being determined to a certain extent by their object. Vitoria does not regard dominium as explicitly natural, but as having naturalistic implications. We have seen in 83 The latter point is substantial, because, understood in this way, the iustum becomes not only what is positively, objectively right, but simply denotes a negative violation against dominium. Thus, Tuck’s claim seems far fetched, that “the Spanish Dominicans in general put the objective sense of ius at the centre of their concern.” See Tuck, Natural Rights Theories, 1979, p. 47. 84 For iurisdictio and proprietas: as we discussed above, see Vitoria, Com ST 2a2ae, q. 62, a. 1, n. 6 and 7, p. 65 f. 85 On this issue, the German canonist Conrad Summenhart (1455 – 1502) takes up the ideas of the French scholar Jean Gerson (1363 – 1429). 86 Molina, DIEI II 3, 55: “Conradum in prioribus quaestionibus de contractibus, Maiorem in 4 d. 15 q. 10 et nonnullos alios, Gersonem de potestat. Eccles. consideratione 13 et de vita spirituali lect. 3 secutos, affirmare. Ius non aliud esse, quam facultatem quancunque ad rem quamvis: dominiumque cum iure recurrere, esseque non solum in bestiis, ut in equo ad pastum sumendum, sed etiam in rebus cognitione carentibus, ut in astris ad illuminandum, in elementis ad consistendum in suis propriis, locis, et c.” See for more details about dominium in Gerson and Summenhart in this context Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, pp. 128 – 132. See also Brett, Liberty, Right and Nature, 1997, pp. 34 – 43.
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Molina’s definition of ius that he also stresses the natural as one aspect of dominium (plenum): “[…] thus someone has ex natura rei the complete and perfect right with regard to this thing, because it is absolutely his thing and therefore he is its dominus […].”87 We must interpret the ex natura rei dominium plenum carefully in this context: Molina only affirms such dominium (plenum et integrum ius circa illam) qua dominus – not qua human being. To understand whether Molina in fact makes a distinction between being human per se and being a master, we should consider the conditions of having dominium. First, we should remind ourselves of the notion in Genesis 1:26 – 27 that the human being is an Imago Dei: “Then God said, ‘Let us make man in our image, after our likeness. And let them have dominium over the fish of the sea and over the birds of the heavens and over the livestock and over all the earth and over every creeping thing that creeps on the earth. So God created man in his own image, in the image of God he created him; male and female he created them.”
As an image of God according to natural law, every human has dominium over all other creatures and over nature (or, as Molina says, “over all things which are included from heaven’s extent, even light”;88 these things are also named res sublunares, everything under the moon). Thomas Aquinas explains why the human being is considered as God’s image: In contrast to other creatures, the human being has will and reason (facultas voluntatis et rationis) on which grounds she or he has liberum arbitrium, the faculty to decide freely: “So those actions are designated as intrinsically human which arise from deliberated will.” 89 For this reason, the human is dominus suorum actuum and thus, like God, also the “source of his actions, because he has the faculty to decide freely and he has power over his actions.”90 Molina takes up Aquinas’ thought to reject Summenhart’s and Gerson’s idea of dominium for animals and natural elements by emphasising the dominus suorum actuum scheme: “Those things which do not have dominium over their own actions [or efficacy], may certainly not have dominium over other things.”91 But there is something to keep in mind here: given the notion of the image of God, human dominium is always under the control of God’s dominium, because God has ius and dominium over the entirety of his creation and he is the master of human (and angelic) life. 87 Molina, DIEI II 3, 54: “[…] eo ipso, quod res aliqua simpliciter est alicuius, illeque proinde est dominus illius, ex natura rei habet is plenum et integrum ius circa illam […].” 88 Ibid., II 18, 139: “Homines naturali iure domini sunt, saltem rerum omnium quae coeli ambitu continentur, etiam lucis et influentiarum coeli.” 89 Thomas Aquinas, Summa Theologiae I-II, q.1, a.1: “Est autem homo dominus suorum actuum per rationem et voluntatem, unde et liberum arbitrium esse dicitur ‘facultas voluntatis et rationis’ [Petrus Lombardus, Libri Sententiarum II d. 24 c. 3]. Illae ergo actiones proprie humanae dicuntur, quae ex voluntate deliberata procedunt.” 90 Thomas Aquinas, Summa Theologiae I-II, Prologus: “restat ut consideremus de eius [Dei] imagine, idest de homine, secundum quod et ipse est suorum operum principium, quasi liberum arbitrium habens et suorum operum potestatem.” 91 Molina, DIEI II 3, 55: “Quae namque suorum actuum dominium non habent, multo minus aliarum rerum poterunt dominium habere.”
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For this reason, humans must not end their lives and their dominium is always merely a “certain participation in God’s dominium”.92 Vitoria circumscribes dominium using the term facultas utendi re.93 To reach a comprehensive understanding of this phrase, we must return to the relectio, ‘De eo …’. According to Vitoria, jurists and theologians agree that, as a prerequisite to be recognised as a “true dominus by everyone”, the human being must have ‘the capacity to use a thing’,94 (a generalisation that bypasses the precise juridical status of a usufructuary). In following Aquinas, Vitoria pushes his case further: “This capacity one cannot have without the capacities of ratio and voluntas, which make up free will. Therefore, it is exactly the same to have free will as to have dominium over one’s own acts. […] Thus, dominium and free will are defined in the same way, namely as a capacity (facultas).”95
Hence, dominium as free will seems to constitute a subjective right simpliciter. However, dominium and free will are capacities to do something by use of ratio and voluntas. They are not simple, unconditional facultates. Dominium and free will are capacities to do what? We find an explanation in Vitoria’s discussion of insane persons (amentes) and humans while asleep. Both instances refer to a deficiency in reason: “Free will is not the same as not acting out of necessity. […] Because it is not sufficient that actions are free in this sense [actions according to will without the use of reason, actions by amentes or by sleeping humans], because they must be deliberated, which is not the case with these people. […] Because free will is, as has been said, the capacity of ratio and voluntas. Thus, this deficiency, if it is not a case of deficiency of voluntas, but of ratio, precisely negates free will.”96 92 Ibid., II 18, 139: “Quo fit, ut dominium, quod creaturae libero arbitrio praeditae in alias res habent, cum sit participatio quaedam divini dominii, subordinatum semper sit iuri ac dominio, quod Deus in easdem res habet, et ab eo dependens.” 93 For Vitoria, as we saw above, dominium depends on ius (Comm ST 2a2ae, q. 62, a.1, n.5, p. 65), see also n. 5, to have ius is to have “facultas secundum leges”, and n. 12, p. 72 (on the human dominium omnium granted by God): “Item, confirmatur ex diffinitione iuris et dominii, quae est facultas utendi re”. 94 Vitoria, De eo, ad quod tenetur homo, cum primum venit ad usum rationis, in: Horst/ Justenhoven / Stüben (eds.), Francisco de Vitoria. Vorlesungen II (Relectiones): Völkerrecht, Politik, Kirche, 1997, 1, n. 6, p. 110: “Nam is vere dominus dicitur ab omnibus, qui habet facultatem utendi re. Ita enim definiunt et iurisconsulti et theologi.“ 95 Ibid.: “Et ista facultas non potest haberi sine facultate rationis et voluntatis, quae est liberum arbitrium. Unde idem omnino est liberum arbitrium habere quod habere dominium suarum actionum. […] Et sic et dominium et liberum arbitrium definiuntur per idem, scilicet facultatem.” We already noted Vitoria’s reference to ratio and voluntas in his treatment of lex. Here we encounter these two notions as constituting the capacity to exercise free will. Vitoria makes this explicit, as “that is to say that free will is a capacity of ratio and of voluntas. And human dominium over actions is similarly the capacity to use ratio and voluntas.” Vitoria, De eo, 1, n. 6, p. 110: “Est enim liberum arbitrium facultas rationis et voluntatis. Et dominium actionum humanarum est facultas etiam utendi ratione et voluntate.”
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An action cannot be free if it is not deliberated. Voluntas on its own is insufficient. Hence, free will and dominium are in this sense natural: they derive their legitimacy from natural ratio. Therefore, the naturalistic or rationalist aspect of Vitoria’s account is undeniable. This applies also to the most contentious case analysed above, namely restitution, where dominium equalled ius and owner and usufructuary (usufructarius) were treated in the same way. Juridical claims of ownership are not central to Vitoria. Rather, dominium over a thing exists by virtue of what it means to have the capacity to use that thing. This capacity requires free will which in turn requires deliberation. This is the necessary, naturalistic element in Vitoria’s free will. Deliberation illustrates the fact that a thing is precisely not there for free use, but for a certain end. That is why amentes (insane persons), and sleeping humans (and also children – see below) have ratio and voluntas, but not free will.97 In Molina, the naturalistic aspect of dominium is even more significant, as mentioned above. Also for Molina, ratio and voluntas are prerequisites for ius as well as for dominium and creatures without ratio and voluntas are eo ipso not susceptible to injustice.98 But the human being has intelligence (vis ad intelligendum) by his very nature in such a way that he cannot be deprived of it (like fire is hot in the way that it cannot be also cold).99 That makes the question of a natural dominium more complicated: If ratio and voluntas – in this context free will (liberum arbitrium) for Molina100 – are essential for humans in such a way, what about dominium of children and amentes, which Vitoria denied? Molina must admit that amentes and children, who are “before the use of reason”,101 lack the foundation of dominium because they do not dispose of free will. But that does not mean they are not domini over their things. This appears to be a paradox, but Molina strives to resolve it: “Because dominium is founded on potentials, this means someone is permitted by himself and his very nature to make use of things through his free will, even if the free will may be hindered in regard to its use, otherwise someone could lose the dominium over his things just by the fact that he is sleeping, which is ridiculous.”102 96 Ibid., n. 5, p. 108: “Ergo non est idem habere liberum arbitrium et non necessario agere. […] Quia non satis est, quod sint liberi hoc modo, sed oportet, quod sint deliberati, quod non est in eis. […] Et confirmatur quia, ut dictum est, liberum arbitrium est facultas rationis et voluntatis. Ergo dato, quod nullus sit defectus ex parte voluntatis, sed solum ex parte rationis, tollit liberum arbitrium.” 97 Ibid., n. 4, p. 102: “Non est idem habere liberum arbitrium aut usum rationis quod habere actus intellectus et voluntatis.” 98 With regard to ius see Molina, DIEI II 1, 41 and to dominium see ibid., II 3, 55. 99 Ibid., I 4, 15: “Ut enim inter res naturales quaedam sunt necessariae omnino, quae variationem non patiuntur, ut ignis ita est calidus, ut esse nequeat frigidus, et homo suapte natura ita vim habet ad intelligendum, ut nequeat ea privari;” 100 Ibid., II 18, 138: “Ostensum est, homo ad imaginem et similitudinem Dei eatenus sit, quatenus intellectu et voluntate, liberove arbitrio est praeditus; fit, ut quae libero arbitrio expertia sunt, dominii non sint capacia.” 101 Ibid.
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For Molina, children as well as amentes have dominium due to their human potential for it, although they cannot exercise their dominium, as he adds with reference to Paul’s Epistle to the Galatians:103 “As long as the heir is a child he does not differ at all from a slave although he is owner of everything.” De facto, children and amentes are not domini, but as humans they are domini qua potentia in an ontological sense according to Molina, for whom also reason as a prerequisite of dominium is “ontologically required”.104 For legal practice, this means children and amentes need a legal deputy and a trustee for their possessions. Although Molina and Vitoria present the same prerequisites for having dominium, the faculty of free will, they arrive in different results in regard to the question of dominium for humans who are not able to make use of free will. Remembering the centrality of the natura rei-doctrine105 in Molina’s thought, it is therefore only consequent that he grants children and amentes dominium, because as human beings their human nature or essence cannot be changed due to the fact that they are not able to make use of their free will by reason of childhood (or immaturity) or disability:106 being human, they have dominium. And for Vitoria as a ‘rationalist’ – a label too broad to take into account the moves of Vitoria and Molina that we are tracking – it is therefore not surprising that he cannot accept a free will for humans who are not able to make use of their deliberation; merely the predisposition to liberum arbitrium does not already make a human being. According to Vitoria, the free will as a potential must be put into human action. And herein Vitoria takes up Thomas Aquinas’ response to the question “whether human acts receive their species from their end?”. Aquinas maintained that “everything obtains its nature in accordance with actuality, not in accordance with potentiality.”107 Vitoria formulates this even 102 Ibid.: “Dominium namque in potentiis fundatur, hoc est, in eo, quod secundum se et suam naturam natus quis sit uti rebus per liberum arbitrium, licet arbitrium ipsum, quoad usum, sit impeditum: alioquin eo ipso, quod quis dormiret, amitteret dominium suarum rerum, quod est ridiculum.” 103 Galatians 4:1. 104 Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, p. 133: “Molina thinks that reason is ontologically required and not just to the extent that it can be used actively.” Brett, Changes of State, 2011, p. 45: “But for Molina as opposed to Vitoria, this [the cognisance of a good, moral or otherwise, that informs the will] gives such agents [children and the insane] not simply libera voluntas, but liberum arbitrium, free will, even if their ‘use’ of it is not sufficient for morality.” See also: Aichele, Moral und Seelenheil. Luis de Molinas Lehre von den zwei Freiheiten zwischen Augustin und Aristoteles, in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 59 – 83, at p. 74 and also Aichele, The real Possibility of Freedom: Luis de Molina’s Theory of Absolute Willpower in Concordia I, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 3 – 54, at p. 5. 105 Everything has its own unchangeable nature (or essence). 106 In this respect, hypothetically, Martha Nussbaum might refer sympathetically to Molina as regards the recognition of handicapped persons as full members of society. 107 Thomas Aquinas, Summa Theologiae I-II, q. 1, a. 3 (Utrum actus hominis recipiant speciem a fine?): “Respondeo dicendum quod unumquodque sortitur speciem secundum actum, et non secundum potentiam, […].”
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more pointedly: “A capacity that cannot be traced to an act is in vain.”108 In Vitoria’s use of the term, facultas is not a competence to do or not to do, but the capacity to decide what to do.109 This he makes explicitly clear in the third part of the relectio ‘De Eo …’ that considers what humans must do when they obtain usus rationis: right and wrong are not decided through virtue or grace, precisely “because one does not fulfil the commandments through grace or any other condition (habitus), but through action.”110 Thus, we can argue that Vitoria’s dominium requires the individual to act; not to act is not an option. The treatment of insane persons and children (insensati et amentes and pueri) illustrates clearly Vitoria’s model of dominium as not natural, but bearing naturalistic implications: “children can be domini before they use reason. This is obvious because they can suffer injustice. Therefore, they have ius to things, this therefore is their dominium, which is nothing other than ius.”111 This passage, along with Vitoria’s claim that “dominium is nothing other than the right to use a thing for one’s own benefit”, has led scholars to claim that Vitoria does not distinguish between dominium and ius.112 We have shown that, for Vitoria, dominium is that part of ius which the individual actually exercises. Hence, dominium partakes in ius (which itself belongs to everyone as it is what lex permits), but this differs from individual to individual.113 For example, children are explicitly not the same as amentes simply because they participate in ius to a different extent. “I am speaking of permanently mentally disabled humans: they have no usus rationis, and [contrary to children] there is no hope of them ever attaining usus rationis.”114 Hence, by contrast to the 108 Vitoria, De Indis, in: Horst/ Justenhoven/ Stüben (eds.), Francisco de Vitoria. Vorlesungen II (Relectiones): Völkerrecht, Politik, Kirche, 1997, 1, 1, 15, p. 402: “Praecipuum autem in homine est ratio, et frustra est potentia, quae non reducitur ad actum.” 109 In this context, Schnepf claims that Vitoria conceives of human freedom as the unnecessitated lordship over one’s own actions (dominium suorum actuum) because free will and dominium are both facultates or competences of the individual. Thus, Schnepf concludes that political authority has no place in this framework because the individual can always decide differently as its free will is not necessitated. Schnepf, Gnadenlehre und Willensfreiheit, p. 34 f. 110 Vitoria, De eo, 3, n. 14, p. 186: “Et ad hoc praeceptum conversionis tenentur non solum, qui ad tale tempus perveniunt sine gratia, sed etiam baptizati, qui gratiam haberit. Praeceptis enim non satisfacit quis per gratiam aut omnino per aliquem habitum, sed per actum.” 111 Vitoria, De Indis, in: Horst/ Justenhoven/ Stüben (eds.), Francisco de Vitoria. Vorlesungen II (Relectiones): Völkerrecht, Politik, Kirche, 1997, 1, 1, 13, p. 400: “pueri ante usum rationis possunt esse domini. Hoc patet quia possunt pati iniuriam; ergo habent ius rerum; ergo est illis dominium, quod nihil aliud est quam ius.“ 112 Ibid., p. 398: “Probat, quia dominium nihil aliud est quam ius utendi re in usum suum.” 113 This passage leads Tosi to conclude that the distinction between dominium and ius “seems to disappear entirely in Vitoria.” Vitoria, De Indis, 1, 1, 11, p. 398: “Probat, quia dominium nihil aliud est quam ius utendi re in usum suum.” Tosi, The Theological Roots of Subjective Rights, in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 125 – 154, at p. 139, n. 57. 114 Vitoria, De Indis, 1, 1, 13, p. 402: “Dico de perpetuo amentibus, quod nec habent nec est spes, quod sint habituri usum rationis.”
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mentally disabled human, the child disposes of dominium in the sense that it is to be expected that it will attain the full use of reason during its lifetime. Dominium describes the realm concerning action and thus differs in extent, but not in nature.115 The human being, even as a child or amens, is created in the Imago Dei. Yet, this does not mean that all humans are identical.116 This claim only posits the existence of dominium in every human being, not the identical dominium. In this case, children and amentes can both suffer abuses, but children have the perspective of attaining usus rationis, which will consequently grant them precisely the free will necessary for moral obligation as defined in ‘De eo …’: the right place for natural inclinations is in the context of free will because these do not determine the human being that has free will. Dominium hence has natural implications, but is not natural, according to Vitoria. Only when the free will can deliberate natural inclinations do we enter the realm of moral obligation. Only then can the individual choose from the range of possible actions open to him or her, and decline what is morally wrong. But it is not only because of the influence of the free will on natural inclinations as foundation for autonomy that we can talk about moral obligation in dominium. We find another argument for moral obligation in consequence of dominium at a different level in Molina, which refers to the order of creation: Although due to ratio and voluntas (liberum arbitrium), the human being has dominium over everything or over all res sublunares, she or he is not allowed to treat the res sublunares in an arbitrary or exploitative way. Molina illustrates moral obligation or responsibility along with dominium on the example of Noah: “So the human being may use and enjoy the stars and the sky regarding the light, the influences and other expediencies, which man receives from them and in respect of which they are created. Hence, although man cannot destroy the sky or stunt its movements, even if she or he had the power to do this, it would be wrong, because God did not grant the right to do so as that would be combined with a prejudice to others and a disadvantage for the universe; nevertheless, man must be called ‘dominus of those things’ in a certain way regarding the use and advantages which man receives from them by a divine plan. Even if someone could destroy any element entirely or any species, like Noah could have done when he included [all species] in his ark, he would not have the right to do this, because that would be combined with a prejudice to others and a disadvantage for the universe: and nevertheless it cannot be said that therefore he does not have dominium over res sublunares together with the other humans.”117 115 For Tosi, this occurred because “the Aristotelian conception of fixed and naturalistic differences between men was incompatible with the Christian tradition of a good and providential God.” Tosi, The Theological Roots of Subjective Rights, p. 143. 116 In the first instance, it only means that all humans are of identical worth. This is considered to be the starting point of the concept of dignity. 117 Molina, DIEI II 18, 141: “ergo cum homo uti et frui possit astris, et coelis, quoad lumen, influentias, et alias commoditates, quas ex eis percipit, et quarum causa creata sunt, sane, licet coelos destruere non possit, nec impedire eorum motum, et, esto vires ad id haberet, nefas illi esset; eo quod Deus ius ad id ei non concederet, quia cederet in praeiudicium aliorum et damnum universi; id non tollit quominus suo modo dicendus sit illorum dominus, quoad usus et
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An irresponsible use of things or even the destruction of things (or species) is inconsistent with dominium. The dominus has the obligation to treat his things (as being also part of God’s creation) with respect and she or he is responsible that they are not damaged by her or his dominium. Otherwise, she or he would violate God’s plan. Thus, to have dominium does not signify an arbitrary treatment of anything, but rather a responsible task and in the realm of morality dominium is moral obligation.118 But this raises a further question: What about those who either have not heard about God (unbelievers) or who have committed a sin? Can they be said to have dominium? Does the sinner lose her or his dominium? Against the backdrop of the discovery of the so-called New World, the relevance of this issue to Vitoria and Molina is evident. And indeed we find disputations on this subject in both late scholastics, which enables us to extend our analysis of dominium. Both thinkers deny without qualification the argument in favour of grace-founded dominium. There is thus a further point to be made against the view that Vitoria is referring to some form of unlicensed, atomistic dominium. In the second part of the relectio ‘De Eo …’, Vitoria considers humans who have usus rationis but do not know God: “And God did not order to honour the parents because of Himself, instead he only ordered to honour them, and it is the same with the other commandments, to fulfil them in such a way as was appropriate for the things themselves.”119 Vitoria elaborates on this thought later on: “the divine law is made known to us […] through natural light or through revelation and obliges us in this way. […] Also he who has reached the use of reason and neither has nor could have knowledge of God, can sin nevertheless.”120 This is as clear a statement of Thomist natural law as we might expect to encounter. Hence, we can secondly argue that Vitoria’s dominium requires the individual to act commoditates, quas divina institutione ex illis percipit. Esto namque destruere quis posset integrum elementum aliquod, aut speciem aliquam, ut poterat Noe dum eas in clusas habebat in arca, sane ius ad is non haberet: quia cederet in praeiudicium aliorum et in detrimentum universi: et tamen non idcirco dicendus esset non habere cum caeteris hominibus dominium rerum sublunarium.” 118 Kaufmann points out in this regard, that someone who destroyes his or her property on those things, acts immorally, but does not breach the natural law according to which she or he has the right to destroy (ius destruendi). See Kaufmann, Das Verhältnis von Recht und Gesetz bei Luis de Molina, in: Fidora/ Lutz-Bachmann/ Wagner (eds.), Lex und Ius, 2010, pp. 369 – 391, at p. 377. 119 Vitoria, De eo, 2, n. 7, p. 148: “Neque Deus praecipit parentes honorare propter Deum, sed honorare solum, et ita de aliis praeceptis ita nimirum ipsa implere, ut rebus ipsis expediebat.” Cf. Exodus 20:12 and Deuteronomium 5:16. Vitoria continues: “Atque adeo nihil necesse est in omnibus aliis actibus Deum colere, et maxime ipso dicente: Quaecumque uni ex minimis fecistis, mihi fecistis.” Cf. Matthew 25:45. 120 Vitoria, De eo, 2, n. 10, p. 160 f: “[…] lex divina dupliciter potest considerari a nobis: uno modo, ut est in ipso Deo, et sic omnino est nobis ignota, neque hoc modo nos obligare posset. Alio modo prout nobis innotescit, vel per lumen naturale vel per revelationem, et hoc modo nos obligat. […] Et per hoc potest responderi ad omnia argumenta, et ideo persevero in conclusione supra posita, quod etiam ille, qui perveniens ad usum rationis neque habet neque potest habere notitiam de Deo, posset nihilominus peccare.”
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in pursuit of a moral end. Free will is not concerned with doing what is allowed under the law, but with the pursuit of a moral end under the law. Molina continues with the question concerning dominium outside of grace in Disputatio 19 of the second treatise of De iustitia et iure. The conclusion is that neither dominium iurisdictionis nor dominium proprietatis can be lost due to (mortal) sin. Molina underpins his conclusions with numerous biblical references. We briefly mention the most important one, quoted from Paul’s Epistle to the Romans: “Let everyone put himself under the authority of the higher powers, because there is no power which is not of God, and all powers are ordered by God. For which reason everyone who puts himself against the authority puts himself against the order of God: and those who are against it will get punishment for themselves.”121
Every dominium (iurisdictionis) is given by God and thus every disobedience against a ruler is disobedience against God – even in the case that God “demands obedience to sinners”. Subordinates should be obedient, but they should not imitate the sins of their domini:122 “Servants, take orders from your masters with all respect; not only if they are good and gentle, but even if they are bad-humoured.”123 “The scribes and the Pharisees have the authority of Moses. All things, then, which they give you orders to do, these do and keep: but do not take their works as your example, for they say and do not.”124
For this reason “mastership and therefore dominium cannot be lost through mortal sin.”125 But Molina does not just list quotations to justify the dominium for sinners, he also adds some arguments which connect theological aspects with political considerations. For instance: “If due to a mortal sin civil power and dominia over things could be lost, then dominia over things would be uncertain, because it is uncertain who is in a mortal sin and who is not: apart from other inconveniences, nobody could know if and to whom recompensation should be made. […] Furthermore it would be uncertain, who is a legitimate master, whom to obey and if the laws and requirements issued by that master have any validity. Hence the direction and administration of commonwealths and thus peace and tranquility would perish. But it is stupid to think that the wisest God would have arranged things in a way that there could be space for so many and so fatal inconveniences.”126
Romans 13:1 – 2. Cited in Molina, DIEI II 19, 144. Ibid., II 19, 145: “Servi subditi estote in timore dominis, non tantum bonis et modestis, sed etiam dyscolis: ubi peccatoribus obedire praecipit. Et Christus Matthaei 23. Super cathedram, inquit, Moysi sederunt Scribae et Pharisaei: omnia ergo, quaecumque dixerint vobis, servate et facite, secundum opera vero eorum nolite facere: ergo potestas, atque adeo dominium, per lethale peccatum non amittitur.” 123 1 Peter 2:18. 124 Matthew 23:2 – 3. 125 Molina, DIEI II 19, 145. 121 122
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Dominium is indispensable for the peaceful cohabitation of citizens. This highlights once again its significance in the realm of morality and its connection with moral obligation.127 Furthermore, again, we can see clearly that for dominium constitutes an essential component of human nature for Molina, so that it cannot be lost even on account of mortal sin. Molina emphasises that, on account of a mortal sin, the sinner neither loses her or his life, liberty, the right to defend her or his life and liberty and the right to marry, nor dominium over external goods (dominium proprietatis) by mortal sin.128 At this point, we have encountered a serious challenge to our analysis of ius and dominium: If dominium is essential to human nature in the way Molina claims, or if dominium requires the individual to act in pursuit of a moral end as Vitoria claims (following the Aristotelian-Thomist tradition on the natural end of man), then what about humans who are under the dominium iurisdictionis of other humans? Or, even more challenging, what about those who are considered the property (dominium proprietatis) of other humans – in other words, what about slaves? Are they just the exception to the rule for Vitoria and Molina, and do they lose their dominium on account of being slaves – or do they dispose of some special form of dominium because they are still human beings? On the basis of these questions, we shall extend our enquiry into the relationship between ius and dominium to the problem of the legal status of slaves.
IV. Slavery: Relinquishing one’s own dominium as a human property? We shall now apply our discussion of dominium to a case study, namely, the issue of slavery and the pressure it puts on dominium.129 The material from ‘De eo, …’ allows us to adequately address Vitoria’s thought as represented in his most famous lec126 Ibid.: “si per peccatum lethale amitterentur potestas civilis et dominia rerum, sane incerta essent rerum dominia: quippe cum incertum sit, quis sit in lethali peccato, et quis non: quare, praeter alia incommoda, nesciretur an, et cui facienda esset restitutio. […] Praeterea incertum esset, quis nam esset legitimus dominus, cui parendum esset, et num leges et praecepta ab eo lata vim ullam haberent: quare periret regimen et administratio rerum publicarum, et consequenter pax, et tranquilitas hominum: stultum autem est cogitare, sapientissimum Deum sic res disposuisse, ut tot et tam gravia incommoda locum haberent.” 127 With regard to the bonum commune in Molina, Tellkamp concludes: “In any case, he seems to be standing on solid Aristotelian ground inasmuch as it is the aim of the republic to promote happiness.” Tellkamp, Rights and dominium, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 125 – 153, p. 150. 128 Molina, DIEI II 19, 146: “sed per lethale peccatum non amittit vitam, libertatem, ius, propriam vitam, ac propriam libertatem defendendi, et contrahendi matrimonium: ergo neque amittit dominium rerum exteriorum.” 129 Dominium and slavery in Vitoria (and late-scholastic thought more generally) have been discussed by Schäfer, ‘Freedom’ oder ‘Liberty’? and Tellkamp, Über den Zusammenhang von Freiheit und Sklaverei bei Vitoria und Soto, in: Kaufmann/ Schnepf (eds.), Politische Metaphysik, 2007, pp. 155 – 175 (however without reference to this relectio).
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ture, De indis recenter inventis. In De Indis, Vitoria denies natural slavery.130 However, he does not have total natural equality in mind either. As we will see, Molina is very far from the idea of abolishing slavery as well. Like Vitoria, he accepts the concept of civil or legal slavery, but not of natural slavery. Certainly, Molina critises the conditions and circumstances of the contemporary slave trade in a very remarkable way and founded on a detailed knowledge acquired through extensive research.131 As we have seen, Vitoria argues in ‘De Eo …’ that ius is all that is negatively permitted by lex, while dominium is the individual’s realm of possible acts leading towards a good. Thus it becomes clear that selling oneself into slavery cannot belong to the individual’s dominium if slavery is understood as the state in which the usus rationis as the means of choice is replaced by the precepts of the master. 132 In this sense, the individual is unfree to relinquish her or his dominium. In other words, dominium as a kind of ‘subjective right’ must account for the necessity for deliberation and it is to that extent limited. As Brett has shown, dominium refers to subjective right simpliciter rather than a subjective right;133 it has no meaning without its objective framework. A close reading of Vitoria’s De Indis confirms this. In that relectio (or special lecture), Vitoria distinguishes between dominium civile and dominium naturale. Dominium civile is exemplified in the ruler’s dominium (dominium superioritatis).134 Dominium naturale is the dominium provided by God. Vitoria claims that “a mortal sin does not prevent dominium civile and real dominium” because “dominium is founded on the fact that man is in the image of God. But man exists in the image of God by nature, namely his natural potential. Thus, he cannot lose it through mortal sin.”135 What exactly does Vitoria mean by natural potential? Is this still standardly Thomist? This term is the subject matter of the relectio ‘De eo …’ and it shows that 130 In chapter 5.1 of his forthcoming book, Die Theorie des natürlichen Gesetzes bei Francisco de Vitoria, Spindler points out that Vitoria’s philosophical argumentation against natural slavery in De Indis employs not only theological objections but also empirical evidence: Because the indigenous people de facto have legal institutions, they must be considered as persons of legal capacity with the capability to use reason. 131 Molina, DIEI II 34 – 36. For a detailed discussion of slavery in Molina see Kaufmann, Slavery between law, morality and economy, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 183 – 225 and Costello, The Political Philosophy of Luis de Molina, S.J. (1535 – 1600), 1974, pp. 163 – 198. 132 The precondition for the possibility of selling oneself into slavery is the case of extreme necessity (such as the danger of starvation). 133 Cf. Brett, Liberty, Right and Nature, p. 130. This reading emphasises dominium as the human power over animals and the earth as a whole, under natural law; by contrast, Deckers regards dominium as the term for modern, “natural subjective rights” (Deckers, p. 215, cited in Brett, p. 131, n. 26). 134 Vitoria, De Indis, 1, 1, 3, p. 388. 135 Ibid.: “Peccatum mortale non impedit dominium civile et verum dominium” and p. 390: “Sed homo est imago Dei per naturam, scilicet per potentias naturales. Ergo non perditur per peccatum mortale.”
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unbelievers and believers alike can sin against God. For unbelievers, knowledge of the moral good is available through the relationship between dominium and free will. Free will means that one can sin through lack of deliberation. Therefore, dominium civile and dominium naturale both exist independently of faith and, consequently, even barbarians (barbari) have these forms of dominium. Moreover, as dominium focuses on acting upon deliberation, it does not produce precise guidance concerning the outcome of actions: “I thus claim that as soon as a human being has deliberated such judgement sufficiently, she or he is obliged to the intention of acting well in conformity with this judgement.”136 Vitoria imbues dominium with a sense that requires judgement on the part of the dominus. This objective sense must be acknowledged as existing in combination with the subjective sense of dominium analysed above. The individual is able to do good (which is God’s will, no matter whether the individual in question is a believer or unbeliever) by being able to deliberate freely. We must not ignore either sense of dominium. Furthermore, while for Vitoria there can be dominium of one human being over another, this dominium is never unlimited, not even in master-slave relationships. While there is a natural distinction to be made between the ruler and the ruled, there is no natural slave in Vitoria. We can see this in the section of De Indis that discusses the legitimacy of Spanish rule over the indigenous peoples in the New World.137 “These barbarians […] differ only little from the insane, therefore they are not able to construct or uphold a rightful and orderly commonwealth in human and civil terms.”138 However, this reason is only valid if such an arrangement “is to the benefit of the barbarians and not to the benefit only of the Spanish”, since this distinction between ruler and ruled is comparable to the one of taking care of the insane or of children.139 This seems to refer to a form of tutelage based on the fact that there is no total natural equality among human beings. Still, as has already been established, in Vitoria’s view, the dominus has a responsibility towards his subject. Whether justified naturally or in the context of just war, in practice this relationship resembles a form of tutelage rather than that between a master and his slave. Vitoria’s philosophical intervention appears to be motivated by the relation of all human beings to dominium, i.e. the nature of dominus-subject relations, rather than their prerequisites in just war or other conditions.140 Moreover, 136 Vitoria, De eo, 3, p. 182: “dico ergo, quod cum primum homo habet tale iudicium sufficienter deliberatum, tenetur habere propositum bene agendi conformiter ad illud iudicium.” 137 Vitoria, De Indis, 1, 3, 1 – 17, pp. 456 – 488: “De titulis legitimis, quibus barbari potuerint venire in dicionem Hispanorum”. 138 Ibid., 17, p. 484: “Barbari enim isti licet, ut supra dictum est, non omnino sint amentes, tamen parum distant ab amentibus, ita ut non sint idonei ad constituendam vel administrandam legitimam et ordinatam rem publicam etiam inter terminos humanos et civiles.” 139 Ibid., 17, p. 486: “[…] et etiam cum illa limitatione, ut fiat propter bonum et ad utilitatem illorum et non tantum ad quaestum Hispanorum […].” 140 Cf. Tellkamp, Über den Zusammenhang von Freiheit und Sklaverei bei Vitoria und Soto, p. 169 f. Tellkamp criticises Vitoria for dealing very briefly (“nur einen knappen Ab-
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even in this milder scenario, Vitoria hesitates twice in De Indis to justify tutelage based on the indigenous peoples’ resemblance to insane persons or children as “this cannot be claimed to be certain.”141 This hesitation is explained by our analysis of Vitoria’s framework in which dominium partakes in ius and entails elements of subjective rights that would be limited by tutelage. On the one hand, ius encompasses a larger area than Aquinas’ ius because it is not what lex positively decrees or delimits, but everything that is negatively allowed by lex. In this sense, Vitoria makes use of an idea of permissive law.142 Permissiveness implies a relation to liberty rather than obligation. On the other hand, however, the decisive component of Vitoria’s thought is that dominium relates to the fact that there always is an element of obligation, also for the ruler (dominus). On this basis, we can formulate a more general conclusion: Vitoria’s dominium cannot directly serve as a justification for hierarchical political relationships because both the ruler and the ruled are required to exercise it.143 Essentially, the ruled have usus rationis as well and therefore exercise dominium.144 Vitoria strikes a balance between unlicensed liberty on the one hand, and slavery on the other hand. Essentially, the relectio ‘De eo …’ allows us to define both, the objective and the subjective elements of Vitoria’s position. This in turn permits us to comprehend the discussion of slavery in De Indis. In general, property and jurisdiction are not of natural law, by which res sublunares are common property of all humans and all humans are born free. After the state of innocence was lost through original sin, property and jurisdiction became necessary to preserve peace and tranquility among humans. The introduction of property and jurisdiction did not contravene natural law, but both are established by human law, by the ius gentium to be precise, in order to prevent conflicts and unrest among humans.145 Molina also emphasises in Disputatio 32 (“On slaves and, firstly, schnitt”) with the justification for taking slaves as the result of war in the Comm ST 2a2ae. The reason might be that Vitoria’s novelty, as argued here, is not so much concerned with the prerequisites for dominus-subject relationships (e.g. just war), but with the nature of dominussubject relationships and the participation of all human beings in some form of dominium. 141 Vitoria, De Indis, 1, 3, 17, p. 486: “Sed hoc, ut dixi, sit sine assertione propositum […].” The other reference is at 1, 3, 17, p. 484. 142 Cf. Tierney, Old Problems, Recent Approaches, p. 402 f.: “Vitoria used the idea of permissive law when he attempted […] to derive a subjective meaning from Aquinas’s objective definition of ius.” 143 More broadly, Brett describes natural rights in the late-scholastic context, such as dominium over jurisdictions and properties, simply as a hermeneutic, a priori neither limiting nor supporting the ruler’s power over the ruled. Brett, Scholastic Political Thought and the Modern Concept of the State, in: Brett/ Tully (eds.), Rethinking the Foundations of Modern Political Thought, 2006, pp. 130 – 148, at p. 144: “they function more as a kind of political hermeneutic than as a specific political doctrine.” 144 The moral status of slaves is severely limited, of course. While they are humans, they do not have full dominium. 145 Molina, DIEI II 18 – 22 and 32; Vitoria, Comm ST 2a2ae q. 57, a. 3, n. 1: “possessiones sunt divisae non dicit aequalitatem nec justitiam, sed ordinatur ad pacem et concordiam hominum, quae non potest conservari nisi unusquisque habeat bona determinata; et ideo jus gen-
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whether a human can acquire dominium proprietatis over another human”) of the second treatise of De iustitia et iure that dominium over a human being is “a certain relationship to a slave, not to any slave, but to a civil and legal slave, as it is called by Aristotle.”146 As we have seen in Vitoria also Molina helds the position that there is no natural slavery.147 One can become a civil or legal slave based on of four circumstances or conditions: As a prisoner of a just war (according to ius gentium the death of the defeated is to be transformed into lifelong slavery), as a convicted criminal in case of exceptional gravity, by buying and selling, because human dominium extends not only to external goods, but also to honour, a good reputation and liberty (but not to life which belongs to God’s dominium, as we have seen). For this reason, liberty may be sold in case of extreme need, if otherwise one’s own survival or the survival of one’s children would be endangered. And finally, someone is a slave because she or he was born of a female slave, even if the father was not a slave (in this case the offspring adopts the mother’s status, according to the Roman law maxim partus sequitur ventrem.)148 Once a person has become a slave due to one of these reasons, she or he has the status of property.149 We may expose the pressure that slavery puts on dominium even further by consulting Disputatio 38 of the second treatise of Molina’s De iustitia et iure. In this disputation, Molina addresses the question “how far the right of domini over slaves is extended and if slaves can have dominium over anything”.150 The first part of this tium est quod possessiones sint divisae, etc.” For ius gentium as regulating the effects of original sin, see n. 15 above. Vitoria, Comm ST 2a2ae, q. 57, a. 3, n. 4, p. 16: “Cum magna namque difficultate jus naturale servaretur, si non esse jus gentium. Posset quidem orbis subsistere si possessiones essent in communi, ut est in religionibus; tamen esset cum magna difficultate ne homines in discordias et bella prorrumperent.” Schüssler emphasises that “neither Molina nor any other notable early modern scholastic who wrote on economic subjects had the slightest doubt that initial privatization resulted in an enormous boost for the welfare of human societies.” Schüssler, The economic thought of Luis de Molina, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 257 – 288, p. 268. 146 Molina, DIEI II 32, 235: ”Dominium hoc habitudo quaedam est ad servum, non quemcumque, sed ad civilem, legalemque servum, ut Aristoteles vocat.” 147 Like Vitoria, Molina also points out that Aristotelian natural slavery “is more closely related to the question of equity than it is to matters of justice … [but the] mental weakness of these people does not give anyone any kind of right over them.” This is rightly stressed by Kaufmann, Slavery between law, morality and economy, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 183 – 225, at p. 191. 148 For the titles of slavery see Molina, DIEI II 33, cf. Tituli 28 ex corpore Ulpiani, 5.9 ‘partus sequitur matrem’. 149 For this reason, according to Molina, “slaves can be legally transferred just as any other form of property (i.e. they can be sold, donated, exchanged, or inherited).”, Kaufmann, Slavery between law, morality and economy, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 183 – 225, at p. 194. 150 Molina, DIEI II 38, 300: “Quousque ius dominorum in servos se extendat. Et an mancipia habere possint rei alicuius dominium.”
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question – on the scope of the dominus’ right – demonstrates that Molina contradicts his own assertion in Tractate II, Disputation 3, namely, the irrelevance for moral realm of the metaphysical character of the relationship between ius and dominium for the moral realm. First, Molina’s deduction of ius from dominium is illustrated by the following example, where he limits the rights of a dominus over slaves by comparison with those over animals: “Dominium over slaves grants not such a far-reaching right to the domini as dominium over animals, who we lawfully may even mutilate and kill by virtue of our right.”151 As we can see, ‘dominium […] non tam amplum ius tribuit [!] dominis’, dominium gives [!] the right to the domini. In contrast to Vitoria’s interpretation, Molina holds that ius depends on dominium – resulting in a practical application in the present example. Dominium over slaves considered as fellow humans and thus fellow representatives of the Imago Dei differs from dominium over other (living) things regarding the rights which are derived from this dominium. Due to their dominium over slaves, the masters have a right to every action of the slaves, the children of slaves (if they are born during the slavery of their parents) and of all the slaves’ earnings, but they are not entitled to harm them in any way or to prevent them from marrying.152 Only God has dominium over human lives and bodies, even as these belong to other humans as slaves. God also has dominium over their spiritual salvation.153 Right reason (recta ratio) determines to which acts the slaves are obliged and thus the masters have a right to. According to Thomas Aquinas, humans participate in God’s lex aeterna by right reason and are therefore able to recognise what is good and what is just.154 Emphasising the recta ratio with regard to the slaves’ acts, Molina appeals to the master’s responsibility not to overburden the slave.155 If a slave were to die while fulfilling her or his task, the dominus would act against right reason and therefore would abuse his dominium over the slave. The abuse of the dominium provided by God is an act against God’s creation and therefore a sin. It is thus evident that dominium – especially the dominium over slaves that we have analysed in this section – is located firmly in the moral realm. The consequences that follow from a master’s misbehavior towards his slave demonstrate this further: if the master com151 Ibid.: “Dominium in servos non tamen amplum ius tribuit dominis, quam dominium in pecora, quae pro iure nostro multilare etiam, ac interficere licite possumus.” 152 Ibid., II 18, 139: “Hac ratione mancipii dominus neque interficere illud potest, neque impedire omnino illius coniugium, usumque ipsius.” and also Disputatio 38, Column 303. 153 Ibid., II 38, 301: “Licet autem ius dominorum in servos tam late pareat; non tamen se extendit ad eorum vitam, cuius dominium sibi soli Deus reservavit, atque adeo neque ad membra, et salutem mancipii, quae quasi partes quaedam vitae illius sunt, a quibus vita ipsa pendet: et multo minus se extendit ad salutem illius spiritualem, quasi aliquid praecipere ei, aut ab eo exigere possint, quod cum spirituali illius salute pugnet.” 154 Thomas Aquinas, Summa Theologiae I-II, especially q. 90 and q. 91. 155 Molina, DIEI II 38, 300: “Tribuit quidem illis ius ad omnes eorum operas, quas recta ratio postulat, ut pro eorum conditione ac viribus praestent, ad omnes eorum fructus, ut ad partus ancillarum, et ad reliqua emolumenta, quae ex eis commode percipi potuerint , […].”
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mits an injustice against the slave in regard to her or his bodily or spiritual wellbeing, “then he commits a mortal sin, if this injustice is notable considering the appearance of the person and the circumstances […].”156 In such cases, Molina argues for the compensation in damages for the slaves and punishment for the masters by secular authorities. If these measures are not taken, the confessors shall hold the masters to full satisfaction regarding the slaves as “miserable humans”. If the damage was extensive, this can only be achieved by giving them liberty,157 which equates to the loss of the master’s dominium over the slave. After offering references to the Roman Law and the Bible, Molina adds that, in these cases, the domini are obliged to satisfaction by ius naturae: “and also today those are obliged according to natural law to provide an appropriate satisfaction to their slaves who have committed similar crimes against their slaves, insofar as they [the slaves] are humans and neighbours and insofar as the damage and the injustice to them occured with regard to an issue which is not under the power of their masters.” 158
Finally, we address the second part of Molina’s question in Disputatio 38, whether slaves can have dominium over anything. As we have just seen, Molina stresses that slaves must be considered as humans and as neighbours although they are objects of someone’s dominium. Considering them as humans, Molina consistently accords dominium to slaves. (Note that Molina considers only dominium proprietatis and not dominium iurisdictionis when analysing the dominium of slaves.) During their slavery they can purchase things for their own usage, although they generally acquire everything they purchase for their master. Molina mentions five cases that provide slaves with a verum dominium, a true dominium, by which the slave has free disposal of things:159 1. If the slave generates more than a contractually fixed gain, she or he is allowed to retain the added value (in case there existed such a contract between master and slave). In this way, many slaves ransom themselves with their own money.160 In this context, Molina emphasises the obligation of the master to honour the 156 Ibid., II 38, 301: “[…] aut quocumque alio modo iniuria eos afficiant, sane et lethaliter peccant, si iniuria, attenta qualitate personae, et circunstantiis concurrentibus, notabilis sit, […].” 157 Ibid.: “punirique debent a potestatibus publicis, non solum pro damnis iniuste eis illatis, sed etiam pro iniuriis, quae damni rationem non habuerint; estque illis a confessariis iniungenda pro eiusmodi iniuriis debita satisfactio mancipiis facienda, quando per potestates publicas iniuria punita non fuerit, ne miseri homines omni subsidio careant in damnis et iniuriis, quibus a dominis iniuste afficiuntur. Porro tantum potest esse aliquando damnum, ac iniuria, ut non minus, quam libertate, compensetur.” 158 Ibid., II 38, 303: “teneturque hodie naturae iure, qui similia crimina in servos suos commiserint, satisfactionem competentem servis ipsis efficere, qua homines ac proximi sunt, et quatenus damnum et iniuria in eos quoad ea, quae dominorum potestati minime subsunt, redundat.” 159 Ibid. 160 Ibid., II 38, 304: “Atque ea ratione multi servi propria pecunia se ipsos resimunt.”
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contract towards the slave, because the slave is a human161 rather than merely the master’s property. 2. If the slave receives something as a gift from the master: “As much there can be a contract between master and slave, not insofar he or she is a slave, but insofar he or she is a human being who happens to be a slave, as mentioned above, there can be also a donation, […].”162 3. In case of damages: “Because the slave is reimbursed for an injustice which happened to her or him insofar she or he is a human; the slave who purchases true dominium over this thing is not subject to the master.”163 4. If someone makes a donation on the explicit condition that it is a gift for the slave and not for the master. 5. If the slave makes a profit with her or his goods in a game or in a transaction. All of this proves that the human being remains human in the state of slavery: by becoming the property of another, a human being is not transformed into a non-human being. For this reason, Molina is not merely talking about the rights of a slave insofar she or he is a slave (and therefore the object of someone else’s dominium), but also insofar as this slave is a human being (non qua servus est, sed qua homo est).164 Therefore, slaves must have dominium, which is part of the human essence. And if they are damaged in their dominium (of property as much as of their life and body) they must be compensated, because “equity nevertheless demands that those who hurt their slaves must compensate them because they are human beings […].” 165 In this context, Kaufmann speaks of “indispensable rights of all humans”166 in Molina; but due to the fact that Molina does not refute slavery, we must not understand this in the sense of the modern concept of ‘human rights’. After all, for Molina, there is no right of liberty (as Kaufmann also argues). 161 Ibid.: “Licet enim domini comparatione servi, ea ratio ne qua servus est, neque amicitia, neque iustitia sit: ea tamen ratione, qua homo est, utrumque esse potest, ut Aristoteles 8 Ethicorum cap. 11 affirmat. Quo fit, ut tunc dominus stare teneatur contractui, neque usurpare possit, quae sibi servus eo modo comparavit.” 162 Ibid.: “Quemadmodum enim inter dominum et servum, non qua servus est, sed qua homo, cui accidit, ut sit servus, esse potest contractus, ut paulo ante dictum est: ita etiam donatio […].” 163 Ibid.: “Quia enim restituuntur pro iniuria sibi ipsi facta, qua homo est, et quoad ea, quae domino non subiacent, vere comparat illorum dominium.” 164 Here, Kaufmann points out an innovation of Molina: “It is quite remarkable to think that Molina might have been the first to speak of a slave’s ius qua homo […].” Kaufmann, Slavery between law, morality and economy, in: Aichele/ Kaufmann (eds.), A Companion to Luis de Molina, 2014, pp. 183 – 225, here p. 190 – 191. 165 Ibid., here p. 219. 166 Kaufmann, Das Verhältnis von Recht und Gesetz bei Luis de Molina, in: Fidora/ LutzBachmann/ Wagner (eds.), Lex und Ius, 2010, pp. 369 – 391, p. 377: “Offenbar gibt es für Molina durchaus unverzichtbare Rechte aller Menschen, auch der Sklaven, nämlich auf ihr Leben, ihre Glieder, ihre Gesundheit, sogar Schutz vor sexuellem Missbrauch und auf das Eheleben.“
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As a consequence of having dominium, slaves must have liberum arbitirum (the prerequisite for having dominium, according to both Molina and Vitoria.) But unlike children and the insane, for Molina slaves have dominium not just potentially, but true dominium, this became apparent in the five cases we examinded above. Thus, for Molina, slaves cannot be deprived of their status as legal entities, because having dominium is the prerequisite for having rights, as mentioned above. Given the subjective meaning of ius, slaves also have ius in a potential way as human beings, irrespective of whether or not they have true dominium. This is proven by the fact that the dominium-bearing slave “experiences an injustice if someone counteracts without any legitimate reason”167 her or him in exercising her or his dominium. Molina clearly shows that the master is not allowed to dispose over something which is under the dominium of his slave without the agreement of the slave: If he did so nevertheless, he would commit injustice, because “it follows that right according to this view is a measure of injustice (iniuria) in some way: Hence, insofar as that there is a counteraction without any legitimate reason and a hindrance, to that extent there is injustice.”168
V. Conclusion In the works of two of the most famous exponents of the School of Salamanca, Vitoria and Molina, we encounter a differentiation of terms in the metaphysics of law (ius) that had belonged tightly together in Aquinas’ thought: ius and dominium. Our contention has been that both thinkers explored the intricate relations between these terms to argue why a human being could be thought of as a bearer of rights. Our enquiry has shown that metaphysics and morals stand in a close relation in that topos. Vitoria’s notion of morality appeared to be tied to the Thomist natural law. Molina located moral content in the metaphysics of dominium, as this was the space of individual autonomy to the extent that Molina posited it prior to all ius. His ontology of natura rei identified dominium by reason of being human (though neither dominium proprietatis nor dominium iurisdictionis). Concerning dominium and ius, the broad label natural subjective rights elides the differences in the theories of Vitoria and Molina. Influenced by his Thomist heritage but applying it creatively, Vitoria changed the relationship between lex, ius and dominium to the effect that his theory of dominium was not rationalist, but bore ‘naturalistic implications’. As established in our discussion of ‘De Eo …’, dominium depends on ratio, but not on the usus rationis (free will does). Children provide an ex167 Molina, DIEI II 1, 40: “Est facultas aliquid faciendi, sive obtinendi, aut in eo insistendi, vel aliquo alio modo se habendi, cui si, sine legitima causa, contraveniatur, iniuria fit eam habenti. Quo fit, ut ius in hac acceptione sit quasi mensura iniuriae: quantum enim ei, sine legitima causa, contravenitur et praeiudicatur, tantum fit iniuriae.” 168 Ibid.
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cellent illustration: they can be domini and suffer injustice before the use of reason. While some human beings cannot be said to be fully rational, they cannot be compared to animals either. Hence, Vitoria opened up the conceptual space for individual ‘sovereignty’ (ius is what lex permits, dominium as related to free will is creatively merged with this specific sense of ius). Molina embraced this space of dominium by employing the ‘metaphysics’ of law (ius): he constructed a moral realm of dominium belonging entirely to the individual human being. To be sure, while we have illustrated that dominium itself thus does not depend on law (as a faculty), its exercise must not contradict the law (which, as it is prescribed by natural law, serves the bonum commune). In modern terms, Molina’s metaphysics is not only consistent with, but also extends into his philosophy of law. Vitoria’s conception of ‘rights’ certainly surpassed the Thomist model, but it did not come to extend to the Molinist stance. For Vitoria, free will has its place as individual deliberation because the individual qua actions alone cannot be said to have dominium. In this sense, the lex of the superior merely provides the permissive realm of ius (and subsequently, dominium), it is not a specific guide to action. This is clearly an account of autonomy and freedom, even though it does not fit into one of the categories of positive and negative liberty or subjective rights and objective right. In short, Vitoria’s novelty can be described as the conceptualisation of human beings as bearers of rights that are not tied to a specific exercise. Humans are legal entities because they have a relation to ius. The fact that Vitoria himself makes no use of this conceptual space defines him as a firm Thomist; nevertheless he represents a predecessor to Molina who would exploit this conceptual space. In our view, Molina is the late scholastic thinker who prominently develops his thought along these lines. Molina followed Vitoria’s development from Aquinas in terms of opening up the sphere of dominium, but he made further moves we cannot locate in Vitoria: firstly, Molina inversed the relationship between ius and dominium. Secondly, he grounded dominium in the ontology of the nature of the human being itself (natura rei). Molina made full domini out of all humans, including slaves. To have rights is in fact consequent upon having dominium in the first place. With Vitoria, we can hardly speak of a ‘natural dominium’, since dominium remained determined by its object (though only negatively). By contrast, the priority of dominium in Molina brings his work into the ambit of a ‘natural dominium’. However, Molina’s account does not equate to the establishment of ‘modern natural rights’ either, because it comes with the moral connotation that we have traced above and which strikes us as stemming from a world quite distinct from our own: for example, Molina’s narrative perfectly accepts the idea that one may relinquish one’s dominium and become a slave.
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Zusammenfassung Den Moraltheologen der Schule von Salamanca wird das Verdienst zugeschrieben, durch die Weiterentwicklung des mittelalterlichen Naturrechts das Fundament für moderne Grundrechte und sogar Menschenrechte gelegt zu haben. Für diese Autoren ist die Bestimmung des Verhältnisses von ius (Recht) und dominium (Eigentum, Herrschaft bzw. allgemein die Fähigkeit dazu) von entscheidender Bedeutung für die Frage, wodurch ein Mensch als Rechtsträger anzusehen sei: In den unterschiedlichen Interpretationen dieses Verhältnisses kristallisiert sich heraus, inwiefern sich bei diesen Überlegungen Konzepte individueller bzw. subjektiver Rechte ausmachen lassen, die als potentielle Vorläufer moderner Grund- und Menschenrechte gelten dürfen. Dieser Aufsatz beinhaltet eine vergleichende Untersuchung der Interpretationen des Verhältnisses von Recht und Eigentum/ Herrschaft bei dem Begründer der Schule von Salamanca, Francisco de Vitoria (1483 – 1546), der vor allem eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Völkerrechts einnimmt, und Luis de Molina (1535 – 1600), der durch seine Lehre der scientia media die göttliche Vorsehung mit der menschlichen Selbstbestimmung zu vereinbaren versucht und letztere auch in den Fokus rechtsphilosophischer Betrachtungen rückt. Bei der Bestimmung des Verhältnisses von ius und dominium handelt es sich nicht einfach um eine metaphysische Spielerei, sondern es ergeben sich moralisch relevante Konsequenzen aus den unterschiedlichen Auffassungen, wie dieses Verhältnis zu verstehen sei. Die Annahme zu dieser These wird im ersten Abschnitt des Aufsatzes näher ausgeführt, anschließend werden drei verschiedene Formen des Verhältnisses von ius und dominium vorgestellt, die sich in den Texten von Vitoria und Molina auffinden lassen. In einem dritten Abschnitt wird untersucht, inwiefern dem Menschen dominium natürlicherweise zukommt und ob damit alle Menschen über dominium verfügen. Der empfindlichen Frage, wie das dominium eines Menschen, der in Sklaverei gerät, aufzufassen sei bzw. ob es aufgegeben werden könne, widmet sich der vierte Abschnitt. Die Ergebnisse der Untersuchung werden abschließend in der Konklusion zusammengetragen.
Aspekte der Logik rechtlichen Argumentierens Anmerkungen zu Ulfrid Neumanns „Juristische Logik“ Michael Mauer Die Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, die Arthur Kaufmann, Winfried Hassemer und Ulfrid Neumann herausgegeben haben,1 enthält auch ein Kapitel über die juristische Logik, das von Ulfrid Neumann stammt.2 Es geht auf die Syllogistik und den sogenannten Justizsyllogismus ein, skizziert den Aussagen- und den Prädikatenkalkül, behandelt unter der Überschrift „Leistungsfähigkeit“ die Formalisierung und die Axiomatisierung von Rechtssätzen, vergleicht die formale mit der ‚natürlichen‘ Logik, insbesondere im Kontext regelorientierten Entscheidens, und untersucht schließlich mögliche Begründungen der Logik, darunter die Dialogregeln in Paul Lorenzens Konzeption der intuitionistischen Logik, das Verhältnis zwischen juristischer Logik und Regeln vernünftigen juristischen Argumentierens und die Vorzüge nichtmonotoner Logiken. Die folgenden Anmerkungen konzentrieren sich auf die Diskussion einiger Schwerpunkte dieses Textes. Insbesondere wird es gehen um die Darstellung des Justizsyllogismus; um Fragen der Formalisierung von Aussagen der juristischen Umgangssprache; um die Frage, ob Normen wahr oder falsch sein können, und die damit zusammenhängende Kontroverse zwischen ‚klassischer‘ Logik einerseits und Normenlogik und deontischen Logiken andererseits; um die ‚natürliche‘ Logik oder ‚Logik der Sprache‘ und ihre Rolle in der juristischen Argumentation; und um die Eigenarten der intuitionistischen/ dialogischen Logik einerseits, von nichtmonotonen Logiken andererseits. Hinter allem steht die anscheinend immer wieder neue Frage, welchen Nutzen es hat, von den Mitteln der formalen Logik im rechtswissenschaftlichen Rahmen Gebrauch zu machen, ob es zutrifft, dass (in Neumanns Worten) „von der Verwendung logischer Kalküle ein Erkenntnisgewinn nicht zu erwarten ist.“3
1 Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer / Ulfrid Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, Heidelberg etc., C. F. Müller, 2011. 2 Ebd., S. 298 – 319. 3 Ebd., S. 318.
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I. Justizsyllogismus 1. Die formale Logik hat, wie alle Wissenschaften, eine Geschichte, und die Syllogistik, deren Grundlagen Aristoteles geschaffen hat, ist eine historische Form dieser Logik. Entgegen dem berühmten Diktum Immanuel Kants4 hat die formale Logik – freilich im wesentlichen erst nach Kants Lebenszeit – große Schritte vorwärts zu tun vermocht, und Gottlob Frege ist ihr zweiter Aristoteles geworden.5 Die moderne formale Logik enthält die korrekten Schlussweisen der Syllogistik als junktoren- oder prädikatenlogische Schlüsse,6 geht aber, was Ausdrucksreichtum, inhaltliche Reichweite und Präzision angeht, weit über die traditionelle Logik hinaus.7 Die Aufmerksamkeit, die die Aristotelische Syllogistik bei Fragen nach der Rolle der Logik in rechtlichen Kontexten findet, gehört nun allerdings zu den Eigentümlichkeiten der hiesigen Rechtstheorie; auch Neumann wählt die Syllogistik als seinen Ausgangspunkt. Im Fall des sogenannten Justizsyllogismus kommt als ein eher technisches Kuriosum hinzu, dass dessen Schlussform sich in den Modi der Aristotelischen Syllogistik gar nicht ausdrücken lässt: a) Nach Neumann ist der Justizsyllogismus ein Anwendungsfall des modus barbara. Diesen modus gibt er wie üblich in der Form MaP SaM SaP wieder, wobei „M“, „P“ und „S“ Variable für Prädikate sind und „a“ für die Aussageform „alle … sind …“ steht. Die in der Aristotelischen Logik betrachteten Aussageformen sind neben S a P (also: alle S sind P) die folgenden: S i P (einige S sind P), S e P (kein S ist P), S o P (nicht alle S sind P).8 4 In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B VIII): „Daß die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten Zeiten her gegangen sei, läßt sich daraus ersehen, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen … Merkwürdig ist noch an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint“, Band II der Werke in sechs Bänden, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. 20. 5 Vgl. etwa Paul Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1974, S. 60. 6 Vgl. für einen Beweis P. Lorenzen, Formale Logik, 3. Auflage, Berlin, Walter de Gruyter, 1967, S. 116 ff. 7 Vgl. etwa Heinrich Scholz, Abriß der Geschichte der Logik, 3. unveränderte Auflage, Freiburg / München, Karl Alber, 1967, S. 57 ff., Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band I, 7. Auflage, Stuttgart, Alfred Kröner, 1989, S. 430 ff.
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Andere Aussagen und Aussageformen kommen in dieser Gestalt der Logik nicht vor. Singuläre Sätze, in denen das grammatische Subjekt ein Eigenname von Gegenständen ist, kann sie also nicht darstellen. Solche singulären Sätze fungieren nun aber, als eine der Prämissen und als Konklusion, in dem Beispiel des Justizsyllogismus, das Neumann erörtert (wo „T“ für den Namen einer Person steht): Alle Mörder sollen bestraft werden. T ist ein Mörder. T soll bestraft werden. Neumann macht auf diesen Zusammenhang auch aufmerksam; als „Anwendungsfall des modus barbara“ lasse sich der Justizsyllogismus, wie er schreibt, rekonstruieren, wenn man davon absehe, „dass der Untersatz bei der juristischen Subsumtion ein singulärer Satz ist“.9 Aber um den modus barbara handelt es sich in diesem Fall nicht mehr, und tatsächlich sind die Aristotelischen Modi um neue, singuläre Aussagen verwendende Modi systematisch erst im 16. Jahrhundert ergänzt worden, die dann freilich eine lange bizarre Kontroverse ausgelöst haben.10 b) In moderner prädikatenlogischer Schreibweise – die Neumann an späterer Stelle11 auch für die „Grundform des juristischen Syllogismus“ verwendet; auf die Frage ihrer Tauglichkeit werden wir im 2. und im 3. Abschnitt zurückkommen – lässt sich das Neumannsche Beispiel des Justizsyllogismus dagegen einfach wie folgt darstellen (mit „M“ als dem Prädikat „Mörder“, „B“ als dem Prädikat „soll(en) bestraft werden“ und „t“ als Namen des Täters; ferner „→“ als Junktor „wenn – dann“ und „8x“ als Allquantor „für alle x (gilt)“, wobei die Variable x in Ausdrücken M(x) und B(x) Leerstelle für den Namen eines – in unserem Kontext strafmündigen – Menschen ist): (1)
8x (M(x) → B(x)),
(für alle Menschen gilt: wenn er / sie ein Mörder ist, dann soll er / sie bestraft werden [oder auch: alle Mörder sollen bestraft werden])
(2)
M(t) → B(t)
(wenn t ein Mörder ist, dann soll t bestraft werden)
(3)
M(t)
(t ist ein Mörder)
(4)
B(t)
(t soll bestraft werden).
S. zu alledem P. Lorenzen (Fn. 6), S. 15 ff. U. Neumann (Fn. 1), S. 299. Neumann verweist dazu auf Ulrich Klugs Juristische Logik. Klug kritisiert nun allerdings die Praxis, die beiden Schlussweisen (mit generellem Untersatz einerseits, singulärem Untersatz andererseits) gleichzustellen; denn bei der Formalisierung beider Schlussweisen zeige sich, dass sie eine verschiedene Struktur haben. Klug nennt – nicht ganz konsequent – die erste „barbara I“, die zweite „barbara II“ (Juristische Logik, 4. Auflage, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1982, S. 49). 10 Näheres bei H. Scholz (Fn. 7), S. 38 ff. Vgl. zu den Charakteristika des modus barbara auch Rolf Gröschner in „Jurisprudenz und Enthymem – eine leidenschaftliche Liaison“, Rechtstheorie 2011, S. 518 ff. und S. 533 f. 11 U. Neumann (Fn. 1), S. 303. 8 9
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Aussage (1) entspricht dem Obersatz des Neumannschen Beispiels. Aussage (2) folgt prädikatenlogisch aus (1). Aussage (3) entspricht dem Untersatz des Neumannschen Beispiels. Aussage (4) folgt aussagenlogisch aus (2) zusammen mit (3) – nicht aus (2) oder (3) allein – und entspricht der Konklusion des Neumannschen Beispiels. Auch diese in der Symbolik der modernen Logik notierte Schlussweise ist weit davon entfernt, einen logisch komplizierten Sachverhalt wiederzugeben. Aber sie enthüllt die logische Struktur der darin vorkommenden Aussagen und der verwendeten Schlussweise doch schon in einem Maß, wie es die traditionelle Logik nicht vermocht hat.12 2. So einfach ist der Justizsyllogismus im gerade diskutierten Fall allerdings auch nur, weil Neumanns Beispiel elementar ist. Es würde der Sache aber nicht gerecht, die Analyse der juristischen Subsumtion auf solche Beispiele zu beschränken. a) Schon § 211 des Strafgesetzbuchs ist ja logisch komplexer als unser Ausgangsbeispiel, weil sein Absatz 2 eine Legaldefinition des Terms „Mörder“ enthält. Ihretwegen tritt die Aussage (3), also „M(t)“ oder „t ist ein Mörder“, nicht mehr als Prämisse, sondern als Konklusion eines logischen Schlusses auf. Das Argument lässt sich damit wie folgt skizzieren (dabei stehen die zusätzlichen logischen Zeichen „9x“ für den Einsquantor „für mindestens ein x (gilt)“, „↔“ für den Junktor „genau dann, wenn“, „˄“ für den Junktor „und“ und „˅“ für den Junktor „oder“ im nicht-aus12 Eher verwirrend ist dagegen die Art und Weise, wie Dieter Krimphove in „Grenzen der Logik“, Rechtstheorie 2013, S. 325, Fn. 29, die Zusammenhänge anhand des Beispiels des sterblichen Sokrates darstellt: Seines Erachtens handelt es sich um einen Syllogismus des Typs „Darii“. Nun ist Darii die Schlussform M a P / S i M / S i P); Krimphove gibt sie aber (mit „M“ als dem Prädikat „Mensch“, „S“ als dem Prädikat „sterblich“ und „s“ als dem Namen des Sokrates) in prädikatenlogischer Symbolik wieder, und zwar mit dem Allquantor 8, dagegen ohne den Einsquantor 9, den man zur Wiedergabe von Sätzen der Form S i P erwarten würde. Krimphove schreibt stattdessen: 8x M(x) → S(x)/ M(s)/ s → S(x). Hier ist jedoch die letzte Zeile s → S(x) ein sinnloser Ausdruck, denn „s“ ist ja der Name eines Menschen, keine Aussage; und „→“ kann nur Aussagen wieder zu einer Aussage verknüpfen; Krimphove meint mit „s → S(x)“ offenbar S(s). Aber auch wenn man deshalb die letzte Zeile durch S(s) ersetzt, fehlt seinem Schlussschema die Zeile M(s) → S(s). – Krimphove geht es indessen um ein allgemeineres Thema: Während er zwar einerseits feststellt, dass „das deduktive Schließen, also die Schlussform des Syllogismus“ [d. h. eine Weise des formalen Schließens] „… das tägliche Brot des Juristen“ sei (ebd., S. 319), resümiert er andererseits: „Der generelle – dem Wesen der formalen Logik geschuldete – Widerstand gegenüber der Übernahme der Erkenntnisse der Logik in die Rechtswissenschaft besteht darin, dass die formale Logik – als die Wissenschaft von den Regeln des Denkens – ausschließlich die logisch korrekte Verknüpfung von Aussagen, nicht aber deren Wahrheitsgehalt zum Gegenstand hat“, ebd., S. 325. In dem vorliegenden Papier geht es nun in der Tat um die Logik als die Disziplin, die sich nicht mit der Wahrheit einzelner, nicht bereits logisch-wahrer, Aussagen beschäftigt; sie behandelt allerdings auch nicht nur die logisch korrekte Verknüpfung von Aussagen, sondern in erster Linie die Regeln des formal zulässigen Übergangs von Aussagen zu Aussagen, also die Prinzipien korrekten Argumentierens. Es wird sich zeigen, dass die so charakterisierte formale Logik ihren Platz in der Rechtswissenschaft nicht weniger als in allen anderen Wissenschaften hat, dass es für sie in diesem Sinn keine wie immer rechtswissenschaftlich begründbaren Grenzen gibt.
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schließenden Sinn; „F“ sei das in § 211 Abs.1 StGB verwendete Prädikat „wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“, „Tö“ sei das zweistellige Prädikat (oder die zweistellige Relation) „tötet“, „Mo“ das Prädikat „handelt aus Mordlust“, „Ve“ das Prädikat „handelt, um eine andere Straftat zu verdecken“ und „o“ der Name des Opfers): (5)
8x (M(x) → F(x)),
(wie oben (1): für alle Menschen gilt: wenn er / sie ein Mörder ist, dann wird er / sie mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft [oder auch: alle Mörder werden mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft [oder schließlich: der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft]])
(6)
M(t) → F(t)
(wie oben (2): wenn t ein Mörder ist, dann wird t mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft)
(7)
8x (M(x) ↔ 9y (T(x,y) ˄ (Mo(x) ˅ … ˅ Ve(x))))
(für alle Menschen gilt: er / sie ist genau dann ein Mörder, wenn es mindestens einen anderen Menschen gibt, den er / sie tötet/ getötet hat, und [wenn] er / sie [dabei] aus Mordlust handelt/ gehandelt hat oder … [wir verzichten auf die Wiedergabe aller übrigen Mordvarianten] handelt/ gehandelt hat, um eine andere Straftat zu verdecken)
(8)
M(t) ↔ 9y (T(t,y) ˄ (Mo(t) ˅ … ˅ Ve(t)))
(t ist ein Mörder genau dann, wenn es mindestens einen anderen Menschen gibt, den t getötet hat, und t aus Mordlust gehandelt hat oder … gehandelt hat, um eine andere Straftat verdecken)
(9)
T(t,o)
(t hat o getötet)
(10)
9y (T(t,y)
(es gibt mindestens einen Menschen,den t getötethat)
(11)
Mo(t)
(t hat aus Mordlust gehandelt)
(12)
M(t)
(t ist ein Mörder)
(13)
F(t)
(t wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft).
Hierbei folgt wieder Aussage (6) prädikatenlogisch aus der rechtlichen Prämisse (5), also § 211 Abs. 1 StGB. (7) gibt, ebenfalls als rechtliche Prämisse, die Legaldefinition des § 211 Abs. 2 wieder. Daraus folgt (8) prädikatenlogisch. (9) stellt die faktische Prämisse dar, dass der Täter t das Opfer o getötet hat. (10) folgt prädikatenlogisch aus (9). (11) stellt die faktische Prämisse dar, dass t aus Mordlust gehandelt hat (diese Aussage setzt aber vielleicht auch eine Konkretisierung des Ausdrucks „Mordlust“ voraus, die formal einer Definition des Typs (7) entspricht). Aus (8), (10) und (11) folgt (12) aussagenlogisch, und (13) folgt aus (6) und (12) ebenfalls aussagenlogisch. (13) ist also die Konklusion, die logisch aus den Prämissen (5), (7), (9) und (11) folgt. b) Als Gegenstück zu Neumanns Beispiel mag im Übrigen der Fall gelten, den Jürgen Rödig zur Analyse des richterlichen Syllogismus untersucht hat:13 Dort geht
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es um einen Mieter, der über den Fenstern des zweiten Obergeschosses des gemieteten großstädtischen Geschäftshauses Neonleuchtbuchstaben angebracht hat, und darum, ob der Eigentümer von ihm verlangen kann, diese Buchstaben zu entfernen.14 Mag ein solcher Anspruch sich vielleicht aus § 550 BGB ergeben oder aus den Vorschriften der §§ 862 Abs. 1 Satz 1, 1004 Abs. 1 Satz 1, 823 Abs. 1 oder 823 Abs. 2 i. V. m. 858 BGB – klar ist jedenfalls, dass diese Vorschriften nicht (explizit) von Neonleuchtbuchstaben an der Fassade von gemieteten Geschäftshäusern handeln. Es ist also erforderlich, die erwähnten Vorschriften (ihren Tatbestand und passend dazu ihre Rechtsfolge) im Hinblick auf den beschriebenen Sachverhalt zu konkretisieren. Eine Aussage über den geltend gemachten Anspruch kann daher nur aus Prämissen logisch folgen, zu denen in geeigneter Weise konkretisierte Vorschriften gehören. Rödig hat dies in außerordentlicher Exaktheit ausgeführt.15 Studiert man diesen Passus, so wird man der Antwort nur zustimmen können, die er dem Vorwurf, der richterliche Syllogismus sei nur eine logische Trivialität, entgegenhält: Es sei „zuzugeben, dass der „richterliche Syllogismus“ logisch harmlos ist; jedoch so harmlos, dass man ihn gar nicht verfehlen könne, ist er nicht.“16
II. Zur Formalisierung von Ausdrücken der juristischen (Umgangs-)Sprache In Abschnitt 7.4.1.1 geht Neumann auf den Nutzen ein, den die Formalisierung von Rechtssätzen mit sich bringen könne, weil sie „zur Beachtung der Präzisionsstandards des verwendeten Kalküls“ zwinge.17 Dazu dient insbesondere das Beispiel der Verknüpfung von Sätzen mit dem Wort „oder“, das in der Umgangssprache mehrdeutig, sowohl als einschließendes als auch als ausschließendes „oder“, vorkomme.18 13 In: Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1973, S. 163 ff. 14 Ebd., S. 168. 15 Ebd., S. 173 ff. 16 Ebd., S. 175. 17 U. Neumann (Fn. 1), S. 305. 18 Demgegenüber sieht D. Krimphove (Fn. 12), S. 325 f. in diesem Sachverhalt „ein weiteres, entscheidendes Hemmnis der Nutzbarmachung formal logischer Gedankengänge zur Lösung juristischer/ rechtswissenschaftlicher Fragestellungen“. Denn einerseits werde „ein fachlich geschulter Adressat der Anweisungen den differenzierten Gebrauch des Begriffs ‚oder‘ erkennen“. Doch könnten andererseits die „grundsätzlichen Schwierigkeiten von Übersetzungsfehlern das Ergebnis logischer Operationen folgenschwer beeinträchtigen und dadurch den Einsatz der formalen Logik auf die Rechtswissenschaft unbrauchbar machen“. Soll man dies wirklich so verstehen, dass die Mehrdeutigkeit der Umgangssprache an sich keine Probleme aufwerfe, weil man mit ausreichendem fachlichen Hintergrund die passende Interpretation des mehrdeutigen Ausdrucks schon herausfinden werde, dass aber der Versuch, das Ergebnis in einer differenzierteren Sprache nun auch explizit auszudrücken, auf grundsätzliche und folgenschwere Schwierigkeiten stoße – mit dem Ergebnis, dass die differenziertere Sprache für die Jurisprudenz untauglich sei?
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Auf diesen Aspekt beschränkt sich der Nutzen der Formalisierung – oder logischen Rekonstruktion – allerdings nicht. Ziel der Formalisierung ist es vielmehr allgemein, Formen des logischen Kerns oder der logischen Struktur der betrachteten Sätze der (juristischen) Umgangssprache zum Vorschein zu bringen. Dies hat auch schon das oben I.1.b) und I.2.a) behandelte Beispiel illustrieren können: Der Satz „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ scheint ja seiner grammatischen Form nach ein singulärer Satz über einen Mörder zu sein; seine logische Struktur lässt sich – wie die von Sätzen der Art: „Der Mensch ist ein zoon politikon“ – für Zwecke formalen Schlussfolgerns am passendsten durch eine mit dem Junktor „wenn – dann“ zusammengesetzte Aussage, d. h. eine Subjunktion wiedergeben, vor der ein Allquantor steht.19 Gerade diese „Verwendung des Implikators“ – besser: des Junktors „wenn – dann“ – „zur Darstellung der konditionalen Struktur der Rechtsnorm“ hält Neumann allerdings für inadäquat. Dies begründet er mit den beiden folgenden Argumenten: 1. Zum einen sei die Verwendung des (extensionalen) „wenn – dann“-Junktors unangemessen: seines Erachtens „vernachlässigt“ sie „den zwischen Antezedens (Tatbestand) und Konsequens (Rechtsfolge) bestehenden Sinnzusammenhang und führt zu inakzeptablen Folgerungen“.20 Dazu weist Neumann darauf hin, dass „die Implikation“ – besser: die Subjunktion – „immer schon dann wahr ist, wenn der Vordersatz falsch ist. In einer Gesellschaft, in der niemand älter als 100 Jahre ist, wäre die Norm: ‚Jeder, der älter als 100 Jahre ist, wird mit dem Tode bestraft‘ wahr bzw. gültig“.21 Zu sagen, eine solche Norm gehöre – schon aus logischen Gründen – zum geltenden Recht der betrachteten Gesellschaft oder gebe es zutreffend wieder, wäre (wenn es in G kein nur irgendwie in diesem Sinn interpretierbares Gesetz gibt und keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass die Gerichte zu solchen Urteilen bereit wären) offenbar skandalös. Aber worin besteht das Skandalon genau? 19 Zum Terminus „Subjunktion“ vgl. P. Lorenzen (Fn. 6), S. 47 f. Für eine ausführliche Darstellung des Verhältnisses zwischen Umgangssprache und symbolischer Sprache vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band I Erklärung Begründung Kausalität, 2. Auflage, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1983, S. 63 ff. Darauf, dass die Annahme unzutreffend sei, „es gebe hinsichtlich gewisser Paraphrasenbündel jeweils gerade eine logisch ausgezeichnete Struktur“, weist J. Rödig hin in „Bildung einer prädikatenlogischen Normalform für § 8 Abs. 3 StVO a. F. sowie für einschlägige Paraphrasen“, in: J. Rödig, Schriften zur juristischen Logik, hrsg. von Elmar Bund / Burkhard Schmiedel/ Gerda Thieler-Mevissen, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1980, S. 235 ff., 237. 20 U. Neumann (Fn. 1), S. 305. 21 Ebd. mit dem Hinweis auf Ota Weinberger, „Kann man das normenlogische Folgerungssystem philosophisch begründen“, ARSP 1979, S. 178; Weinbergers Punkt ist aber wohl ein anderer: er wendet sich grundsätzlich dagegen, deskriptive Aussagen und Normsätze (Sollsätze) mit den Junktoren der Aussagenlogik zu verknüpfen; im Fall einer derartigen Subjunktion sei es ganz falsch, den prinzipiellen Unterschied zwischen Antezedens und Konsequens zu leugnen.
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Vergleichen wir dazu die Norm mit der Aussage eines Rechtssoziologen, der für die in Neumanns Beispiel genannte Gesellschaft G folgendes konstatiert: „Jeden, der in G älter als 100 Jahre ist, verurteilen die dortigen Strafgerichte zum Tode.“ Dies ist nun keine Norm; als Aussage in der Form einer Subjunktion der extensionalen Logik wäre der Satz aber anscheinend wahr. Denn widerlegen lässt er sich als solcher nicht: es gibt nach Voraussetzung keinen Fall einer Person, die älter als 100 Jahre geworden ist und die die Strafgerichte nicht zum Tod verurteilt haben (weil es in G keine Person gegeben hat und gibt, die älter als 100 Jahre ist). Aber trotzdem wäre die Aussage natürlich grotesk, weil sie auszusprechen scheint und jedenfalls die Assoziation erlaubt, dass die Strafgerichte in G verpflichtet seien und auch bereit wären, eine Person zum Tod zu verurteilen, wenn diese ihren 100. Geburtstag überlebe; und eine solche Aussage wäre ja falsch, ebenso wie der irreale Konditionalsatz: „Wenn jemand in G älter als 100 Jahre würde, würde er mit dem Tode bestraft werden.“ Offenbar stößt die formale – extensionale – Logik hier also tatsächlich an eine Grenze. Aber unser Problem ergibt sich nicht aus der Eigenart von rechtlichen Normen, sondern aus dem spezifischen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Antezedens und Konsequens oder Sukzedens im Fall von Konditionalsätzen.22 Konditionalsätze mit Teilsätzen A und B lassen sich wegen dieses Zusammenhangs nicht in allen Kontexten durch die Subjunktion A → B wiedergeben; die Wahrheitsbedingungen von Konditionalsätzen und Subjunktionen sind nicht identisch. Insbesondere hängt die Wahrheit von Konditionalsätzen nicht nur von der Wahrheit und Falschheit ihrer Teilsätze ab. Zur Darstellung von Konditionalsätzen bedarf es daher eines besonderen – intensionalen – Operators K; die Form der Konditionalsätze ist damit K(B,A).23 Und doch braucht uns dieser Zusammenhang nicht zu hindern, die extensionale formale Logik zur Darstellung von Normen zu verwenden. Denn in einem wichtigen Fall stimmen die Wahrheitsbedingungen von Konditionalsätzen und Subjunktionen überein: Wenn der Konditionalsatz wahr ist, dann trifft auch die entsprechende Subjunktion zu.24 Und daraus folgt: Auch wenn Normen (mit dem Tatbestand T und der Rechtsfolge R) sich im allgemeinen adäquat nur in der Form K(R,T) darstellen lassen sollten, gilt mit K(R,T) zugleich T → R, und das ist alles, was wir für Argumente der oben skizzierten Art benötigen, in denen es um die logischen Folgen von – als gültig vorausgesetzten – Normen geht. 2. Das zweite Argument lautet so: Auch bei dem „nur instrumentellen Einsatz des Kalküls“ sei Vorsicht geboten, wie sich für die „scheinbar banale Formalisierung des § 211 Abs. 1 StGB“ zeigen lasse.25 Gehe man, wie wir das oben in Abschnitt I.2.a) mit Formel (5) getan haben, von 22 Vgl. zu diesen Franz von Kutschera, Einführung in die intensionale Semantik, Berlin/ New York, Walter de Gruyter, 1976, S. 48 ff., insbes. S. 52 f. 23 Ebd. 24 Dies ist das Prinzip P 3 bei F. von Kutschera, ebd., S. 52: K(B,A) → (A→B). 25 U. Neumann (Fn. 1), S. 305.
Aspekte der Logik rechtlichen Argumentierens (14)
8x (M(x) → F(x))
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(für alle Menschen gilt: wenn er / sie ein Mörder ist, dann wird er / sie mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft [oder auch: der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft])
aus, so könne dies rasch zu Widersprüchen führen. Denn es gelte auch (15)
8x (: S(x) → : F(x))
(für alle Menschen gilt: wenn er / sie nicht schuldfähig ist, dann wird er / sie nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft [oder auch: wer nicht schuldfähig ist, wird nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft])
Für einen schuldunfähigen Mörder a gelte sowohl M(a) als auch :S(a), und daraus (genauer: aus diesen beiden Aussagen und den beiden aus den zitierten Allsätzen logisch folgenden Subjunktionen M(a) → F(a) und :S(a) → :F(a)) folgt in der Tat sowohl F(a) als auch :F(a), also ein Widerspruch. Dies ist nun freilich nicht ein Widerspruch, der sich erst aus der Formalisierung der beiden Rechtssätze ergäbe, von denen Neumann ausgeht: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ und „Wer nicht schuldfähig ist, wird nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“. Vielmehr steckt der Widerspruch schon in diesen beiden (umgangssprachlich formulierten) Rechtssätzen selbst. Dies kann man sich auch klarmachen, wenn man sich der ‚natürlichen‘ Logik bedient, von der Neumann an späterer Stelle spricht. Denn den Rechtssatz, nach dem „der Mörder“ mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werde, wird man unbefangen wohl nur so verstehen können, dass nicht nur dieser oder jener Mörder so zu bestrafen sei, sondern jeder (strafmündige) Mensch, wenn er ein Mörder ist. Und ebenso lässt sich der Rechtssatz, nach dem, wer nicht schuldfähig ist, nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werde, nur so verstehen, dass diese Strafbefreiung jedem Täter zugute komme, wenn er schuldunfähig ist. Aus den so interpretierten Rechtssätzen folgt aber auch in einer natürlichen Logik ein Widerspruch für eine Person, die sowohl Mörder als auch schuldunfähig ist. Dem Widerspruch entgeht man nur, wenn man den Rechtssätzen etwas hinzufügt: – Dies kann die (im Gesetzestext selbst nicht explizit zum Ausdruck kommende) Erklärung sein, der Rechtssatz über die Schuldunfähigkeit sei eine Ausnahme von der Regel (des § 211 Abs. 1), die deshalb, sofern die Voraussetzungen der Ausnahme erfüllt seien, die Regel einschränke, ihr also in diesem Umfang vorgehe. Diese Redeweise bestätigt nun allerdings zugleich, dass auch eine solche „natürliche“ Argumentation implizit einen Widerspruch konstatiert. Des Vorrangs eines der beiden Rechtssätze bedarf es ja nur, weil – und in dem Maß, wie – sie sonst miteinander kollidieren. – Die systematisch klarere Lösung besteht deshalb darin, dem Rechtssatz, den der andere Rechtssatz einschränken soll, von vornherein geeignete negative Tatbestandsmerkmale26 oder eine entsprechende metasprachliche Klausel hinzuzufü-
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gen: Neumann spricht von der „Notlösung“, die darin liege, „jede Formalisierung mit einer ‚Angstklausel‘ zu versehen“, nach der die Voraussetzungen kollidierender und vorrangiger Vorschriften nicht erfüllt seien.27 Unsere Diskussion sollte zeigen, dass dieses Problem nicht erst bei dem Versuch einer Formalisierung auftritt. Zu Widersprüchen kommt es immer dann, wenn ein Rechtssatz einen allgemeinen Zusammenhang statuiert, mit dem unter bestimmten Voraussetzungen der Inhalt anderer Rechtssätze nicht vereinbar ist. Dies ist ein Problem der Konzeption und Redaktion von Rechtssätzen, nicht ein Problem ihrer Formalisierung (oder logischen Rekonstruktion) und erst recht keines der formalen Logik.
III. Wahrheitsfunktionale Logik oder deontische Logiken? Bisher haben wir zur logischen Rekonstruktion von rechtlichen Sätzen nur Mittel der ‚klassischen‘ formalen Logik (in ihrer aus Aussagen- und Prädikatenlogik bestehenden Gestalt) verwendet. Sind wir damit aber dem besonderen Charakter von (Rechts-)Normen wirklich gerecht geworden? Besteht nicht ein wesentlicher Unterschied zwischen Aussagen, die wahr oder falsch sein können, und Normen, die dies, wenn überhaupt, zumindest nicht in einem vergleichbar unkomplizierten Sinn sind? Und ist die formale Logik, in ihrem aussagenlogischen Fundament, nicht wahrheitsfunktional in dem Sinn, dass von allen möglichen Eigenschaften der betrachteten Sätze für sie nur die der Wahrheit oder Falschheit eine Rolle spielt? Bedarf eine Logik, die auch von Folgerungsbeziehungen zwischen Normen handeln soll, daher nicht anderer, zumindest zusätzlicher, spezifischer Ausdrucksmöglichkeiten? Neumann zufolge stehen wir vor folgender Alternative: „Soll auf die formallogische Ableitbarkeit28 im Bereich von Normen nicht verzichtet werden, so 26 Vgl. J. Rödig in „Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht“, in: Schriften zur juristischen Logik, (Fn. 19), S. 329: „Widerspruchslose Gesetze dank ausnahmslos geltender Regeln kommen mittels Einbeziehung negativer Merkmale in die Tatbestände der Regeln zustande.“ 27 U. Neumann (Fn. 1), S. 306. Neumann formuliert die „Angstklausel“ tatsächlich ein wenig anders. Der formalisierte Rechtssatz hat danach die Form 8x ((M(x) ˄ : A(x)) → F(x)), wobei : A(x) zu lesen sei als: „hinsichtlich x greift keine andere Regelung ein“. Eine derart weite Klausel wäre sicher nicht adäquat, denn bei einem Mord mögen außer § 211 viele andere (strafrechtliche und sonstige) Vorschriften eingreifen, die an dem Ergebnis, dass der Täter mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen sei, nichts zu ändern vermögen. 28 „Ableitbarkeit“ ist ein Terminus der Syntax der Logik. Die hier interessierenden Begriffe „Wahrheit“ und „Falschheit“ sind dagegen Termini ihrer Semantik. Auf der semantischen Ebene entspricht der Ableitung von Formeln aus anderen Formeln die Folgerungsbeziehung zwischen Ausdrücken. Insgesamt verwendet Neumann überwiegend syntaktische Termini, z. B. wenn vom Aussagen- und Prädikatenkalkül die Rede ist. Kalküle sind ja nach rein syntaktischen Gesichtspunkten aufgebaute sprachliche Gebilde. Dass man die gesamte (moderne) Logik kalkülisieren kann, ist aber nicht selbstverständlich. Vgl. zu alledem W. Stegmüller (Fn. 19), S. 73 f.; zum Verhältnis zwischen syntaktischen und semantischen Systemen schreibt er dort: „Ein für sich abgeschlossener, gleichsam in der Luft hängender Kalkül ist meist uninteressant. Wenn man von einer Kalkülisierung der Logik spricht, so setzt man dabei implizit
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muss entweder die Ableitbarkeitsbeziehung anders gefasst oder die Verneinung des Wahrheitswertes von Normen revidiert werden.“ Der erste Weg führe zu eigenständigen normlogischen oder deontischen Systemen, den zweiten habe Jürgen Rödig mit dem Rückgriff auf Alfred Tarskis semantischen Wahrheitsbegriff gewählt.29 Um dies näher zu untersuchen, wollen wir uns einen – sehr allgemeinen und ganz kursorischen – Überblick über die Formen normlogischer und deontischer Logiken verschaffen. 1. Wir treffen zunächst, terminologisch hier Ota Weinberger folgend,30 die in der Sache wohlbekannte Unterscheidung zwischen Normsätzen und deontischen Sätzen und schlagen vor, in diesem Kontext auch die deskriptive Komponente von Normsätzen zu betrachten. Dahinter steht die folgende Konzeption: Paradigmen seien staatliche Rechtsvorschriften. In ihrem Fall gibt es eine gesetzgebende Instanz, die die Vorschriften erlässt und dazu im verfassungsrechtlichen Rahmen berechtigt ist. Die so erlassenen Vorschriften oder Normsätze schreiben den Normadressaten vor, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten; unter diesem Aspekt sind sie Imperative. Deontische Sätze sind Aussagen, die behaupten, dass die Normadressaten sich in einer bestimmten Weise verhalten sollen (dazu muss es offenbar mindestens implizit einen Zusammenhang mit Normsätzen geben, die eine – aus der Sicht des Behauptenden – zur Gesetzgebung berechtigte Instanz erlassen hat). Und da Normsätze, um etwas vorzuschreiben, bestimmte Sachverhalte normativ auszeichnen, haben sie neben der präskriptiven auch eine deskriptive Komponente. a) Normsätze behaupten demnach nichts, sondern statuieren, dass etwas der Fall sein soll. Als Imperative gebieten, verbieten oder erlauben sie den Normadressaten bestimmte Verhaltensweisen; als solche sind sie weder wahr noch falsch.31 Sinnvoll bereits semantische und syntaktische Systeme miteinander in Beziehung, wobei die semantische Betrachtungsweise als die grundlegendere angesehen wird, an der man die entsprechende syntaktische beurteilt. Im Fall der Aussagenlogik handelt es sich z. B. darum, einen Kalkül aufzubauen, der genau die aussagenlogischen Wahrheiten als Theoreme liefert. Im Fall der Quantorenlogik [oder Prädikatenlogik] erwarten wir von einem Kalkül, dass er gerade die quantorenlogisch gültigen Formeln als Theoreme erzeugt.“ Aussagen- und Prädikatenkalküle sind also nicht die moderne formale Logik, sondern rein syntaktische Gestalten dieser Logik. 29 U. Neumann (Fn. 1), S. 307. 30 Z.B. in „Kann man das normenlogische Folgerungssystem philosophisch begründen?“, (Fn. 21), S. 161 f. 31 F. von Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Auflage, Berlin/ New York, Walter de Gruyter, 1999, S. 5. J. Rödig hat diese Sicht der Dinge nachdrücklich kritisiert, z. B. in „Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen“, in: Schriften zur juristischen Logik, (Fn. 19), S. 202 f. Dabei geht er davon aus, dass ein Befehl „Verhalte dich so und so!“ nicht mehr aussage als die Aussage, dass das so befohlene Verhalten gesollt sei, ebd., S. 191 f. Doch scheint er bei mindestens einigen seiner Argumente, denen zufolge auch normativen Sätzen Wahrheitswerte zugeordnet werden können, tatsächlich eher deontische Sätze im Sinn gehabt zu haben. Dafür spricht sein Hinweis auf die einer normativen Aussage (die wahr oder falsch sei) zugrunde liegende allgemeine Norm, die gelte oder nicht gelte; ebd., S. 194.
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ist dagegen die Frage, ob – und in welcher Weise – Normsätze gelten oder nicht gelten.32 b) Deontische Sätze sind, in den Worten des Logikers und Philosophen Franz von Kutschera, demgegenüber „Behauptungssätze, mit denen man behauptet, daß Gebote, Obligationen oder Verpflichtungen bestehen bzw. nicht bestehen. Solche Sätze sind also wahr oder falsch je nachdem, ob der behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht oder nicht.“33 Deontische Sätze rechtlichen Inhalts sagen demnach etwas über die aus den Normsätzen sich ergebende Rechtslage aus, etwa dass der Eigentümer vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen kann (wie es ja § 985 BGB vorschreibt) oder dass der Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe betraft werden soll (wie es §211 StGB vorschreibt). Solche Aussagen sind wahr, wenn entsprechende Normsätze zu dem jeweils zugrunde gelegten Normensystem gehören, in diesem Sinn also gelten; andernfalls sind sie falsch. Ist nicht klar, auf welches Normensystem sie sich beziehen, sind sie unvollständig oder elliptisch. Das lässt sich schon an dem Satz demonstrieren, den F. von Kutschera als Beispiel eines deontischen Satzes angibt: „Es ist geboten, im Straßenverkehr rechts zu fahren.“34 Wahr ist dieser Satz nur, wenn man etwa das deutsche Straßenverkehrsrechtvor Augen hat; in Großbritannien ist er falsch. c) Demgegenüber schreiben die deskriptiven Komponenten der Normsätze35 nicht vor, was der Fall sein soll; sie sind rein deskriptiv; wahr sind sie genau dann, wenn der Zustand besteht, den der entsprechende Normsatz normativ auszeichnet.36 2. Was die interne logische Struktur der deontischen Sätze angeht, so kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht: a) Die oben zitierte Aussage F. von Kutscheras legt die Frage nahe, ob in deontischen Sätzen die spezifisch deontischen Prädikate „geboten“, „verboten“ und „erlaubt“ – und vielleicht auch nur diese – wesentlich vorkommen müssen. Demgegenüber hat Werner Krawietz darauf hingewiesen, dass es „in unserer Rechts- und Ge32 Es ist zweckmäßig, mehrere Geltungsbegriffe zu unterscheiden. Vgl. dazu insbesondere Rupert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1966, S. 58 ff. Verfassungsmäßig gelten Normsätze danach, wenn sie im Einklang mit der Verfassung des betrachteten Landes erlassen worden sind (oder selbst Teil dieser Verfassung sind). 33 F. von Kutschera (Fn. 31), S. 4. Es ist wichtig zu sehen, dass deontische Sätze damit nicht Aussagen über Normen oder Normsätze sind. Auf sie trifft also das Monitum von Werner Krawietz, in „Haupt- und Gegenströmungen in der juristischen Methodik und ihre rechtstheoretischen Implikationen“ Rechtstheorie 2011, S. 485, nicht zu, es sei „gänzlich verfehlt, die objektsprachliche Ebene der präskriptiven Normsätze des Rechts zu verlassen, um auf die bloß metasprachliche Ebene deskriptiver Aussagen über derartige Normsätze überzugehen“. 34 F. von Kutschera, ebd. 35 Sie ähnelt R. M. Hares „Phrastik“ und E. Stenius’ „Satzradikal“; vgl. dazu etwa W. Stegmüller (Fn. 7), S. 520 und F. von Kutschera (Fn. 22), S. 158. 36 Wenn also der entsprechende Normsatz in der Terminologie R. Schreibers faktisch gilt, vgl. Die Geltung von Rechtsnormen, (Fn. 32), S. 58.
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setzessprache eine Vielzahl genuin normativer Ausdrücke (gebe), deren Existenz von der Eigenart der Normsätze zeugt.“37 Interessanterweise treten nun aber die erwähnten deontischen Prädikate in zentralen Normsätzen moderner Rechtsordnungen gar nicht auf. § 211 Abs. 1 StGB lautet nicht: „(α) Es ist jedermann verboten, ein Mörder zu sein (oder: Mord ist verboten). (β) Den Strafgerichten ist es geboten, Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.“ Vielmehr enthält § 211 Abs. 1 das Verbot (α) als implizites Element von (β), und (β) gibt er sinngemäß in Form des Sachverhalts wieder, den die Ermittlungsbehörden, Strafgerichte und Vollstreckungsbehörden herstellen sollen, wenn jemand dem Verbot (α) zuwiderhandelt. Und § 985 BGB lautet nicht: „Dem Besitzer ist es geboten (oder: Der Besitzer ist verpflichtet), die Sache dem Eigentümer herauszugeben.“ Vielmehr statuiert die Vorschrift einen Anspruch, dessen Realisierung Zivilgericht und Vollstreckungsbehörden gewährleisten sollen, wenn der Eigentümer den Anspruch geltend macht, der Besitzer ihn nicht erfüllt und der Eigentümer die Angelegenheit vor Gericht bringt. Anders scheint es im Bereich des Verwaltungsrechts zu sein; dort spielen ja Verbote und Erlaubnisse, Genehmigungen etc. eine offenbar bedeutende Rolle. Doch kann man auch hier die Prädikate „verboten“ und „erlaubt“ durch Wendungen ersetzen, in denen nur noch der Ausdruck „sollen“ vorkommt. Vollständig sind im übrigen auch die verwaltungsrechtlichen und verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften erst, wenn sie Angaben zu den Sanktionen enthalten, und unter diesem Aspekt unterscheidet sich das Verwaltungsrecht nicht wesentlich von den anderen Rechtsgebieten. Es genügt also allgemein, in deontischen Sätzen den Ausdruck „sollen“ zu verwenden. Es kann als die Normalform der deontischen Sätze gelten, dass sie behaupten, ein bestimmter Sachverhalt solle hergestellt werden – und zwar genau der Sachverhalt, den der Normsatz normativ auszeichnet, der dem deontischen Satz entspricht. b) Damit verfügen wir über (mindestens) drei Ausdrucksmöglichkeiten: „Sollen“ kann als Bestandteil des Prädikats des deontischen Satzes fungieren. Dies war bei unserem ersten Beispiel – in Abschnitt I.1. b) – der Fall („… soll bestraft werden“). „Geboten“ (oder auch „gesollt“) kann als autonomes Prädikat des deontischen Satzes fungieren, und zwar – als Prädikat von Verhaltensweisen, die man durch Individuenkonstanten wiedergibt; das ist die Konzeption Jürgen Rödigs,38 37 „Haupt- und Gegenströmungen in der juristischen Methodik und ihre rechtstheoretischen Implikationen“, (Fn. 33), S. 485. 38 J. Rödig (Fn. 31), S. 197.
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– als Prädikat von Aussagen, die den Sachverhalt ausdrücken, dass Personen sich in einer bestimmten Weise verhalten. Das ist die Standardformulierung der deontischen Logik.39 Die deontischen Prädikate fungieren hier also als metasprachliche Ausdrücke, die mit ihnen gebildeten Aussagen gehören zur Metasprache.40
3. Was, wenn deontische Sätze Aussagen sind, die wahr oder falsch sein können, ist nun das Besondere der deontischen Logik(en)? Am klarsten hat dies wohl Franz von Kutschera resümiert: „Die deontische Logik befaßt sich mit Folgebeziehungen zwischen deontischen Sätzen. Sie umfaßt die formale Logik, insbesondere also Aussagen- und Prädikatenlogik, enthält darüber hinaus aber Prinzipien, die es ermöglichen, auch Schlüsse von Geboten auf andere zu rechtfertigen. Diese Prinzipien lassen sich als Bedeutungspostulate für den Ausdruck ‚Es ist geboten daß …‘ auffassen. Sie legen nur gewisse Mindesteigenschaften des Gebotsbegriffs fest, die dieser unabhängig von speziellen Deutungen und materialen Bestimmungen im Rahmen gewisser moralischer oder rechtlicher Systeme hat.“41 Ein Konkurrenzverhältnis besteht demnach zwischen der ‚klassischen‘ formalen Logik und deontischen Logiken der beschriebenen Art nicht.42 Diese deontischen Logiken verwenden insbesondere keinen speziellen Ableitungs- oder Folgerungsbegriff und bedürfen eines solchen Begriffs auch nicht. Sie fügen der Aussagen- und Prädikatenlogik nur gewisse zusätzliche Ausdrucksmöglichkeiten – nämlich Ausdrücke, in denen die deontischen Operatoren „geboten“ etc. vorkommen – und weitere Prinzipien hinzu.43 Ob es solcher Prinzipien für die Rechtstheorie bedarf, ist 39 Vgl. F. von Kutschera (Fn. 31), S. 2 f. Auch in dieser Fassung stellen deontische Aussagen also nicht Aussagen über Normen / Normsätze dar (vgl. Fn. 33). 40 Entsprechendes ist bei fast allen Modallogiken der Fall, vgl. Wolfgang Stegmüller / Matthias Varga von Kibéd, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band III Strukturtypen der Logik, Berlin/ Heidelberg/ New York / Tokyo, Springer, 1984, S. 458. Zwar ist im Rahmen von „Untersuchungen über die Grundlagen der Logik … eine sehr scharfe und pedantisch eingehaltene Unterscheidung dieser beiden Sprachstufen von größter Wichtigkeit, da sonst die Gefahr des Auftretens logischer Paradoxien entsteht“ (W. Stegmüller (Fn. 19), S. 70). Und solche Paradoxien können auch in rechtlichem Rahmen auftreten, etwa bei der nicht ganz seltenen Wendung zu Beginn von Gesetzen: „Dieses Gesetz findet keine Anwendung, sofern …“ (z. B. in § 1 Abs. 5 Bundesdatenschutzgesetz); denn wörtlich genommen findet danach mit dem Gesetz auch die Vorschrift nicht Anwendung, die die Anwendbarkeit des Gesetzes ausschließt: die Vorschrift stellt also fest, dass sie selbst unter gewissen Voraussetzungen nicht anwendbar ist (damit auch nicht der Ausschluss der Anwendbarkeit des Gesetzes in diesen Fällen etc.). Dass wegen solcher Schwierigkeiten „der Wechsel in die Metasprache oder die Verbindung metasprachlicher und objektsprachlicher Ausdrücke … in der herkömmlichen Logik … ausgeschlossen“ sei – so Eckart Ratschow, Rechtswissenschaft und Formale Logik, Baden-Baden, Nomos, 1998, S. 139 –, trifft jedoch nicht zu. 41 F. von Kutschera (Fn. 31), S. 6. 42 Auch trifft es deshalb nicht zu, dass „für die Deontik die Notwendigkeit (besteht), das logische Quadrat (alle, nicht alle, einige, keine) durch ein Sechseck (pflichtig, verboten, ungeboten, indifferent, erlaubt, geboten) zu ersetzen, wie D. Krimphove meint, (Fn. 12), S. 329.
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keine allzu grundsätzliche Frage; man kann es darauf ankommen lassen, ob man in der rechtlichen Argumentation auf sie (logisch) angewiesen ist oder auch ohne sie zum Ziel kommt.44 Dagegen sind nach Ansicht von Jörg Berkemann deontische Logiken auch aus prinzipiellen Gründen erforderlich.45 Denn nur mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten könne man spezifisch deontische, nicht auf aussagenlogische Widersprüche zurückführbare Widersprüche formulieren. Systeme deontischer Sätze müssten solche Widersprüche aber ebenso ausschließen wie Widersprüche, die sich schon in der ‚klassischen‘ Logik ausdrücken lassen. So sei der deontische Satz (16)
Op ˄ : Op
(p ist geboten und es ist nicht der Fall, dass p geboten ist; mit p als Variabler für Aussagen, die Handlungen als Sachverhalte ausdrücken)
ein schon aussagenlogischer Widerspruch. Der Satz (17)
Op ˄ O(: p)
(p ist geboten und es ist geboten, dass nicht-p)
sei dagegen ein ausschließlich deontischer Widerspruch.46
43 Wie etwa das Axiom O1: O(A) → :O(:A) – Was geboten ist, ist nicht verboten – oder das Axiom O2: O(A) ˄ O(B) → O(A˄B) – Wenn sowohl A geboten ist als auch B, so ist auch A und B geboten. – Im rechtlichen Kontext wird man sich wohl vor allem für bedingte Gebote interessieren, also etwa Gebote der Form „Unter der Bedingung, dass A gilt, ist es geboten, dass B“ Für sie ist jedoch zu beachten, dass man sie nicht generell durch A → O(B) oder O(A → B) darstellen kann; vielmehr muss man den Begriff des bedingten Gebots als Grundbegriff ansehen, symbolisch O(B,A); Näheres bei F. von Kutschera (Fn. 31), S. 8. Die Logik der bedingten Gebote ist durchaus komplexer und „intuitiv sicher weniger durchsichtig als jene für nicht-bedingte Gebote“; insbesondere „ist zu beachten, dass für bedingte Gebote der Form O(B,A) keine Abtrennungsregel gilt; man kann also nicht von O(A,B) und B auf O(A) schließen“, F. von Kutschera, ebd. – Für eine ganz andere Art, zu Aussagen über deontische Begriffe zu kommen, vgl. Jan C. Joerden, Logik im Recht, 2. Auflage, Heidelberg/ Dordrecht/ London / New York, Springer, 2010, S. 203 ff. 44 E. Ratschow (Fn. 40), S. 140, fasst seine Diskussion dieser Frage so zusammen, dass man auf die deontische Logik verzichten könne; sie zeige insgesamt keine eindeutigen Anwendungsvorteile gegenüber der Prädikatenlogik (die sie aber, wie erwähnt, tatsächlich auch nur ergänzt). – Kein Argument gegen die deontische Logik ist aber die sogenannte Paradoxie von Alf Ross, die nach Ansicht von D. Krimphove „anschaulich die Unvereinbarkeit logischer Systematik und rechtswissenschaftlicher Vorgehensweise (dokumentiert)“, (Fn. 12), S. 331. Tatsächlich lässt sich die Rosssche Paradoxie logisch einfach auflösen, vgl. etwa J. Rödig, „Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen“ in: Schriften zur juristischen Logik, (Fn. 19), S. 206 f. und Jan C. Joerden (Fn. 43), S. 388 ff. 45 Jörg Berkemann, „Zum Prinzip der Widerspruchsfreiheit in der deontischen Logik“, in: Hans Lenk (Hrsg.), Normenlogik, Pullach bei München, Verlag Dokumentation, 1974, 166 ff. 46 Ebd., S. 177 und 191. Die Negation dieses Widerspruchs, also :(Op ˄ O(:p)), folgt übrigens unmittelbar aus dem oben in Fn. 43 genannten Axiom O1 (O(A) → :O(:A)).
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Berkemann kommt damit zu folgendem Schluss: „Versuche, die deontische Logik auf die Aussagenlogik zurückzuführen (vgl. J. Rödig u. a.) erweisen sich auch am Beispiel der Diskussion über die Rolle von Widersprüchen in der deontischen Logik als undurchführbar.“47 Nun trifft es sicher zu , dass ein Satz wie Op ˄ O(:p) nicht schon aus aussagenlogischen Gründen widersprüchlich ist. Um einen derartigen Widerspruch handelt es sich nicht, weil Op und O(:p) in der Aussagenlogik nicht weiter analysierbare Aussagen sind, die man daher nur durch verschiedene Symbole, etwa durch „A“ und „B“, wiedergeben kann. A ˄ B ist aber natürlich kein (aussagen-)logischer Widerspruch. Trotzdem trifft Berkemanns Kritik nicht den Kern des Rödigschen Standpunkts. Denn auch Rödig formuliert – in seinem Axiomensystem für die Theorie der Alternative – zusätzliche (nicht schon selbst logisch-wahre) Axiome, auch solche, die die deontischen Begriffe „geboten“, „verboten“ und „erlaubt“ präzise definieren.48 Dem Satz (18)
:(Op ˄ O(:p))
(es ist nicht der Fall, dass es geboten ist, dass p, und dass es geboten ist, dass nicht-p49),
der ja zugleich mit dem ersten der fünf „Standardprinzipien der deontischen Logik“ (von Kutschera) äquivalent ist, entspricht danach in Rödigs Konzeption der Satz (19)
:(Gb (p) ˄ (Gb (r) ˄ (Un (p, r))
(es ist nicht der Fall, dass p geboten ist und dass r geboten ist, wobei r eine Unterlassung von p ist).
Dieser Satz (bzw. eine etwas detailliertere prädikatenlogische Fassung) ist in Rödigs Axiomensystem jedoch beweisbar (s. für Details den Vergleich zwischen den Standardprinzipien und Rödigs Axiomensystem im Anhang). In diesem Sinn ist also ein zentrales Element der deontischen Logik in Rödigs Axiomensystem für die Theorie der Alternative enthalten. Das Rödigsche Axiomensystem leistet im übrigen aber mehr: es entwirft eine präzise Theorie der Handlung, der Unterlassung und der Kausalität und zeigt, indem es die deontischen Begriffe auf einfachere Termini zurückführt, genauer, was es heißen kann, dass ein Verhalten geboten, verboten oder erlaubt ist. 4. Was schließlich die Normlogik (oder Normenlogik) angeht, so sollte sie nach Weinberger nicht eine Logik der deontischen Sätze, sondern eine solche der Normsätze sein. In ausgearbeiteter Form liegt eine derartige Logik freilich (noch) gar Ebd., S. 197. Vgl. Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, Berlin/ Heidelberg/ New York, Springer, 1969, S. 108 (§§ 21.6.1 bis 21.6.3) und S. 176 f. (A 26 bis A 28) und „Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen“ in: Schriften zur juristischen Logik (Fn. 19), S. 188 ff. 49 Vgl. die entsprechende Umschreibung bei J. Berkemann (Fn. 45), 185. 47 48
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nicht vor. Richard Mervyn Hare hat 1952 Grundgedanken einer Logik der Imperative entwickelt.50 Weinberger formuliert sehr allgemeine (wenig konstruktive) Desiderate wie das folgende: Funktoren der Normlogik mit normativen Funktionsargumenten und -werten können nicht identisch sein mit wahrheitsfunktionalen Funktoren / Junktoren der deskriptiven Sprache.51 Diese Vorsicht, die aus der Unterscheidung zwischen Normsätzen/ Imperativen und deontischen Sätzen resultiert, ist aber wohl zu groß. Dass, wie Werner Krawietz dies ausdrückt, „im modernen Rechtsdenken und Sprachbewußtsein die Normsätze als Kategorie eigener Art fungieren“,52 trifft zwar offenbar zu. Der Unterschied steckt jedoch nur in der Art und Weise, wie man die deskriptive Komponente von Normsätzen verwendet. Man mag sich dies noch einmal mit dem in dieser Hinsicht elementaren Satz des § 211 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs veranschaulichen; er kann ja mindestens in den folgenden drei Kontexten auftreten: (20)
Kontext/ Verwendungsweise
Deskriptive Komponente
(i) Die gesetzgebende Instanz schreibt hiermit … der Mörder wird mit lebensden Normadressaten vor, sich so zu verhalten, langer Freiheitsstrafe bestraft dass gilt: (oder : (ii) Es wird hiermit behauptet, dass faktisch … für alle [strafmündigen] gilt: Menschen, wenn er / sie ein Mörder ist, dann wird er / sie mit (iii) Es wird hiermit behauptet, dass die lebenslanger Freiheitsstrafe beNormadressaten sich so verhalten sollen, dass straft) gilt:
(i) ist der Normsatz, wie man ihn als Teil des Strafgesetzbuchs verstehen soll (auch wenn der Text des § 211 Abs. 1 sich gesetzgeberischen Konventionen entsprechend tatsächlich auf die deskriptive Komponente des Normsatzes beschränkt). Diesen normalerweise nur implizit geäußerten Gesetzesbefehl kann man als performativen Modus explizit beschreiben, den Imperativ also durch eine Aussage wiedergeben. Die sog. „explizit-performative Normalform“53 lautet danach: (i’) Die gesetzgebende Instanz schreibt den Normadressaten vor, sich so zu verhalten, dass gilt: der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. 50 Vgl. F. von Kutschera (Fn. 31), 109 f. Seines Erachtens läuft eine solche imperativische Logik etwa auf dasselbe hinaus wie die übliche deontische Logik (ebd., S. 110, Fn. 17). 51 O. Weinberger (Fn. 21), S. 175; vgl. auch die Weinbergerschen Beispiele normlogischen Schließens, die J. Rödig in „Kritik des normlogischen Schließens“, in: Schriften zur juristischen Logik (Fn. 19), S. 173 ff. untersucht, und die – ebenfalls außerordentlich allgemeinen – Desiderate, die W. Krawietz (Fn. 33), S.486 f. formuliert. 52 W. Krawietz (Fn. 33), S. 486. 53 Dazu Näheres bei F. von Kutschera (Fn. 22), S. 157 f.
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Tatsächlich können wir die Bedeutung dieser Aussage mit der Bedeutung der gesetzgeberischen Äußerung identifizieren.54 (ii) ist der Satz, der die deskriptive Komponente des Normsatzes als Faktum behauptet (also die faktische Geltung des Normsatzes feststellt). (iii) ist schließlich der deontische Satz, der in Form einer Behauptung feststellt, wie sich die Normadressaten verhalten sollen (nämlich gerade so, wie es der Normsatz vorschreibt). Im Unterschied zur explizit-performativen Normalform braucht im deontischen Satz der Hinweis auf den Normautor nicht vorzukommen. Weitergehend als diese Normalform gibt der deontische Satz normalerweise aber implizit zu verstehen, dass es sich um eine Norm handelt, die eine Verpflichtung der Normadressaten zu begründen vermag. Offensichtlich kann man nach alledem den Inhalt der Normsätze durch die entsprechenden deontischen Sätze vollständig wiedergeben.55 Und für die deontischen Sätze kann man die formale Logik ohne weiteres verwenden. Das haben wir, wie erwähnt, im ersten Beispiel – in Abschnitt I.1.b) – getan. Ähnlich können wir mit den deskriptiven Komponenten verfahren: Wir können sie ‚isolieren‘ und mit ihnen im aussagen- und prädikatenlogischen Rahmen operieren (das haben wir in unserem zweiten Beispiel – in Abschnitt I.2.a) – getan). Bei den deskriptiven Komponenten der Normsätze müssen wir uns nur bewusst bleiben, dass diese Aussagen – und alle, die aus ihnen logisch folgen, – in gewisser Weise virtuellen Charakter haben: Im Streitfall sind sie (noch) nicht wahr; sie drücken Sachverhalte aus, die das Gesetz normativ auszeichnet und die die Gerichte feststellen und die Vollstreckungsbehörden realisieren sollen. 5. Im Ergebnis braucht uns die Eigenart von Normsätzen nicht zu hindern, im rechtlichen Kontext das ganze Repertoire der aussagen- und prädikatenlogischen Mittel der formalen Logik zu verwenden. Auch die (rechtstheoretische) Kontroverse um den Tarskischen Wahrheitsbegriff scheint sich damit einfach aufzulösen. Für Vgl. F. von Kutschera, ebd., S. 158. W. Krawietz (Fn. 33), S. 486, geht demgegenüber wegen des kategorialen Unterschieds zwischen Normsätzen und Aussagesätzen von ihrer wechselseitigen Unübersetzbarkeit aus, die eine eigenständige Normenlogik erforderlich mache. Aber man muss wohl unterscheiden: Performative Beschreibungen wie die explizit-performative Normalform und deontische Sätze als Aussagen können zwar Normsätze als Imperative nicht in allen Kontexten ersetzen und umgekehrt. Aber die explizit-performative Normalform des gesetzgeberischen Imperativs hat, wie dargelegt, dieselbe Bedeutung wie dieser. Und deontische Sätze behaupten, dass genau das geschehen soll, was der Normsatz vorschreibt; in diesem Sinn gibt es eine einfache – umkehrbar eindeutige – Korrespondenz zwischen den beiden Satzarten, die gerade in der oben (III.1 b) angegebenen Wahrheitsbedingung der deontischen Sätze zum Ausdruck kommt. – Die hier skizzierte Konzeption scheint damit auch dem gerecht zu werden, was Krawietz (ebd.) von der Normenlogik verlangt: „ … die Aufgabe dieser neuen logischen Disziplin (muss) vor allem darin erblickt werden, nicht bloß die Struktur der Normsätze und die logischen Beziehungen zwischen den Normsätzen zu analysieren, sondern vor allem auch die Beziehungen zwischen Normsätzen und Aussagesätzen zu untersuchen.“ 54 55
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Normsätze als Imperative stellt sich die Frage ihrer Wahrheit oder Falschheit nicht. Und ein deontischer Satz im oben angegebenen Sinn ist wahr genau dann, wenn die ihm entsprechende Norm zu dem betrachteten Recht gehört, in ihm gilt: Der (deontische) Satz „Der Herausgeber kann vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen“ ist wahr genau dann, wenn der Eigentümer vom Besitzer Herausgabe der Sache verlangen kann, und dies ist genau dann der Fall, wenn eine Norm dieses Inhalts gilt (wie wir für das deutsche Recht mit der Existenz des § 985 BGB ja einfach zeigen können). Dieses Wahrheitskriterium erinnert natürlich sehr an Alfred Tarskis Definition der Wahrheit für formale Sprachen. Während es allerdings für das Tarskische Kriterium nicht darauf ankommt, ob und wie man sich vergewissern kann, ob die objektsprachliche Bedingung erfüllt ist, handelt es sich bei dem vorgeschlagenen Wahrheitskriterium für deontische Sätze im Fall ‚gesetzten Rechts‘ sogar um ein jedenfalls grundsätzlich entscheidbares Kriterium.
IV. Natürliche Logik der Sprache und Struktur regelgeleiteten Entscheidens 1. Im Zusammenhang mit der Verbindlichkeit der Logik für Recht und Rechtswissenschaft stellt Neumann den „Theoremen eines bestimmten logischen Kalküls“ die „Logik der Sprache“, „natürliche Logik“ oder auch „Standards der impliziten Logik der Sprache“ gegenüber;56 nur diese seien im rechtlichen Kontext verbindlich. Anstelle von Theoremen eines bestimmten logischen Kalküls (also eines rein syntaktischen Gebildes) soll es uns hier allerdings um logisch-wahre Aussageformen gehen, Aussageformen, die allein schon ihrer Form nach wahr sind, unabhängig von ihrem spezifischen Inhalt, sei er rechtlicher oder anderer Natur. Problematischer ist der Vergleich indessen wegen der Schwierigkeit festzustellen, welche denn die Regeln der natürlichen Logik sind. Konkreter: gibt es Regeln der natürlichen Logik, die in der formalen Logik nicht gelten, und umgekehrt, gibt es Regeln der formalen Logik, die in der natürlichen Logik nicht gelten? Neumann beruft sich dazu auf das ex falso quodlibet-Theorem; die natürliche Logik besitze keine ihm entsprechende Regel. Formallogisch gilt in der Tat, dass logisch-falsche Aussagen jede beliebige Aussage implizieren. Um zu begründen, warum dies in der natürlichen Logik nicht so sei, weist Neumann darauf hin, dass andernfalls „ein Widerspruch in einer Argumentation die Ableitbarkeit jedes beliebigen Satzes und damit gleichsam die „Explosion“ der gesamten Argumentation zur Folge hätte.“ Diese Konsequenz sei „kontraintuitiv“.57 Dies scheint mir als Nach(Fn. 1), S. 311. U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, S. 32 f. (mit dem ergänzenden Hinweis, dass diese Konsequenz „im rechtstheoretischen Schrifttum ganz überwiegend akzeptiert“ wird). 56 57
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weis dafür, dass ein dem ex falso quodlibet-Theorem entsprechendes Prinzip nicht zu den Regeln der natürlichen Sprache gehört, nicht auszureichen. Eher deutet alles darauf hin, dass man, bevor im Rahmen einer Argumentation Widersprüche offen zu Tage treten, intuitiv nach Auswegen suchen wird, etwa in der oben gegen Ende des Abschnitts II. skizzierten Weise mit Regel-Ausnahme-Mechanismen. Einen Widerspruch hinzunehmen, weil er weiter keine problematischen Folgen für die Tragfähigkeit eines juristischen Arguments habe (denn ex falso quodlibet gelte in seinem Rahmen nicht) scheint jedenfalls nicht zu den Standards der impliziten Logik der Sprache zu gehören.58 Die Analyse der Strukturen natürlicher Sprachen ist komplex und reicht weit über unser Thema hinaus. Das im folgenden zitierte ‚Logische Fundamentalprinzip‘ wirft aber vielleicht etwas Licht auf die Standards einer impliziten Logik der Sprache, auch wenn es nur am Anfang einer längeren Diskussion der anspruchsvollen Konzeption von Richard Montague steht und zwölf weitere Grundsätze es ergänzen: „Jede Analyse natürlicher Sprachen muss die durch die moderne Logik ermöglichten Einsichten und Differenzierungen bewahren. Sie darf die gewonnenen Einsichten nicht vernachlässigen und die Differenzierungen nicht verwischen.“ 59 Von diesem Prinzip wollen wir auch für das weitere ausgehen. 58 Auch D. Krimphove versucht zu zeigen, dass die Konventionen der Umgangssprache von Gesetzen der formalen Logik – hier den de Morganschen Gesetzen, wonach (A ˄ B) ↔ :(:A ˅ :B) – abweichen können; er bildet dazu folgendes Beispiel: „Die Aussage ‚Starkes Rauchen und Alkoholexzesse beeinträchtigen die Gesundheit‘; [(x ˄ y) → G] ist umgangssprachlich etwas anderes als die Aussage: ‚Es stimmt nicht, dass nicht starkes Rauchen oder nicht exzessives Trinken die Gesundheit beeinträchtigen.‘“ [:(:x˅ :y) → G]. Die zweite Feststellung bringt nämlich – im Gegensatz zur ersten – zum Ausdruck, dass sowohl nicht starkes Rauchen als auch nicht exzessives Alkoholtrinken einen eigenen, gesundheitsfördernden Faktor darstellt; was so inhaltlich nicht zutrifft und auch durch keine logische Formel oder Gesetzmäßigkeit belegt werden kann.“ (Fn. 12), S. 327 f. Der Fehler steckt hier in der Übersetzung der umgangssprachlichen Aussagen in aussagenlogische Formeln und umgekehrt: Zunächst ist bei der Aussage „Starkes Rauchen und Alkoholexzesse beeinträchtigen die Gesundheit“ unklar, ob starkes Rauchen und Alkoholexzesse schon je für sich oder nur zusammen gesundheitsschädigend sind. Mit der Symbolisierung (x ˄ y) → G entscheidet sich Krimphove für die zweite Variante; denn mit (x ˄ y) → G kann man auf G (Gesundheitsbeeinträchtigung) nur schließen, wenn sowohl x (starkes Rauchen) als auch y (Alkoholexzess) vorliegen. Die aus (x ˄ y) → G tatsächlich logisch folgende Aussage :(:x ˅ :y) → G ist damit aber wie folgt zu übersetzen: Wenn es nicht zutrifft, dass kein starkes Rauchen vorliegt oder dass kein Alkoholexzess vorliegt, dann liegt eine Gesundheitsbeeinträchtigung vor. Diese zweite umgangssprachliche Aussage ist nun offenbar genauso wahr oder falsch wie die Ausgangsaussage (in ihrer zweiten Variante), sie ist eben nur eine logische, ihr inhaltlich also nichts hinzufügende Folge der ersten. Krimphoves Aussage „Es stimmt nicht, dass nicht starkes Rauchen oder nicht exzessives Trinken die Gesundheit beeinträchtigen“ korrespondiert dagegen der Formel :((:x ˅ :y) → G), die mit :(:x ˅ :y) → G nicht äquivalent ist und aus (x ˄ y) → G nicht logisch folgt (die Position der Klammern, hier also die Reichweite des ersten Negationszeichens, ist tatsächlich nicht irrelevant). 59 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band II, 8. Auflage, Stuttgart, Alfred Kröner, 1987, S. 39.
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2. Nach dem instruktiven und praktisch sehr relevanten Abschnitt 7.4.3.2 über pseudo-logische Argumente kommt Neumann im Abschnitt über die logische Grundstruktur regelorientierten Entscheidens auf Unzulänglichkeiten der „logischen Rekonstruktion juristischer Entscheidungsbegründungen im Prädikatenkalkül“ zurück.60 Wir gehen auf die dort formulierten Argumente der Reihe nach ein: a) Zur Rolle logischer Allsätze in der Begründung juristischer Entscheidungen stellt Neumann die Frage: „Warum sollte der, der die Strafbarkeit eines bestimmten Mörders begründet behaupten will, zugleich die Strafbarkeit aller Mörder behaupten müssen.“61 In dieser Form scheint die Frage an der eigentlichen Aufgabe des Gerichts jedoch vorbeizugehen. Denn das Gericht soll ja nach allgemeinen Regeln entscheiden, und dazu muss es Dreierlei tun: Zum einen die für den konkreten Fall relevanten Normen identifizieren, zum zweiten den dazu gehörenden Sachverhalt feststellen (d. h. behaupten, dass es sich so und so verhalten hat) und schließlich den Zusammenhang zwischen konkreter Entscheidung einerseits, relevanten Normen und festgestelltem Sachverhalt andererseits darlegen. Der Satz über die Strafbarkeit aller Mörder ist aber nun gerade die allgemeine Norm (bzw. der ihr entsprechende deontische Satz). Dazu braucht sich das Gericht nur auf das je geltende Strafgesetzbuch zu berufen; mehr zu behaupten braucht es in diesem Kontext nicht (wenn es seiner Entscheidung nicht eine vom geltenden Strafgesetzbuch abweichende andere allgemeine Norm zugrunde legen will). Neumann weist zur Antwort auf seine Frage auf das Universalisierbarkeitsprinzip hin, das es verbiete, Fälle, die unter allen entscheidungsrelevanten Aspekten vollständig gleich sind, ungleich zu behandeln.62 Diesem Prinzip werde zwar die Herleitung der Entscheidung aus dem logischen Allsatz gerecht. Jedoch sei diese Form der Herleitung nicht erforderlich: Verstehe man das Universalisierbarkeitsprinzipals Willkürverbot, so genüge es, statt von einem ausnahmefeindlichen logischen Allsatz von einer Regel, die Ausnahmen zulässt, auszugehen. Auch die gesetzlichen Vorschriften formulierten nur solche Regeln .63 Die letzte Aussage scheint nun allerdings in dieser Allgemeinheit nicht zuzutreffen. Dazu genügt es, das Beispiel des schuldunfähigen Mörders zu betrachten. Der Satz über die Strafbarkeit der Mörder ist wegen der Einschränkungen, die das Strafgesetzbuch (und die höchstrichterliche Rechtsprechung) statuiert, in Neumanns Sinn offenbar eine Regel. Wie steht es aber mit dem Strafausschluss für nicht schuldfähige Mörder? Ist auch dieser Satz, im deutschen Strafrecht also § 20 StGB, eine Regel, die Ausnahmen zulässt? Offenbar nicht: Ein Gericht, das einen schuldunfähigen Mörder verurteilte – mit dem Argument, dass es sich in dem ihm vorliegenden Fall um eine Ausnahme von dem als Regel gewiss gültigen § 20 StGB han60 61 62 63
U. Neumann (Fn. 1), S. 312 ff. Ebd., S. 313. Ebd. Ebd.
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dele – verletzte geltendes Recht. § 20 StGB muss also ein logischer Allsatz sein. Ob eine Rechtsnorm Ausnahmen zulässt oder nicht, ist folglich eine Frage, die vom übrigen Inhalt des geltenden Rechts abhängt. Sie stellt, wenn es keine sie einschränkende andere Norm gibt, ihrer logischen Form nach einen Allsatz dar. b) In seinem zweiten Argument schreibt Neumann, der Allsatz 8x (M(x) → F(x)) begründe den singulären Satz M(a) → F(a) nicht, sondern behaupte ihn; insofern sei die Begründung des singulären Satzes durch den Allsatz zirkulär.64 Tatsächlich geht es in gerichtlichen Verfahren jedoch nicht um die Begründung des Satzes M(a) → F(a), sondern um die des Satzes F(a) (a soll mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden). F(a) ist der Kern des Urteilstenors, den das Gericht begründen muss. F(a) folgt nun aber weder aus dem Allsatz 8x (M(x) → F(x)) allein, noch aus M(a) → F(a) allein, sondern nur aus 8x (M(x) → F(x)) bzw. seiner logischen Folge M(a) → F(a) einerseits und M(a) andererseits. 8x (M(x) → F(x)) und M(a) → F(a) braucht das Gericht im Allgemeinen jedoch nicht weiter zu begründen. Der Allsatz entspricht hier ja der relevanten gesetzlichen Vorschrift, und M(a) → F(a) ist lediglich eine logische Folge dieses Allsatzes. Was das Gericht insbesondere begründen muss, ist der Satz M(a) – der Satz (12) unserer Deduktion in Abschnitt I.2.a) –, und dazu bedarf es zum einen der Interpretation des im konkreten Fall relevanten Mordkriteriums, zum anderen eines entsprechenden Beweises. Dies, zu entscheiden, ob die vorliegenden Beweise wirklich zulassen, mit der Autorität des Gerichts festzustellen, dass a in einer Weise gehandelt hat, die das in Frage kommende Kriterium eines Mordes erfüllt, ist die schwierige Hauptaufgabe des Gerichts. Damit lässt sich auch die weitere Überlegung besser beurteilen, mit der Neumann den Zusammenhang zu veranschaulichen versucht, die Überlegung nämlich, dass man erst dann wisse, ob wirklich alle Mörder bestraft werden sollen, wenn man wisse, ob auch der Mörder a bestraft werden solle.65 Tatsächlich ist es umgekehrt: Ob auch der Mörder a bestraft werden soll, weiß das Gericht erst, wenn es sich klar gemacht hat, ob nach dem geltenden Recht alle Mörder bestraft werden sollen oder ob das geltende Recht Vorschriften enthält, die diesen Allsatz einschränken, – und ob gegebenenfalls die Voraussetzungen dieser einschränkenden Vorschriften erfüllt sind. Die dazu erforderlichen Feststellungen muss das Gericht treffen, bevor es feststellen kann, dass a bestraft werden soll. Dazu scheint im Kern aber auch das Toulminsche Argumentationsschema zu passen, auf das Neumann in diesem Zusammenhang hinweist.66 Dieses Schema enthält ja zum einen das „Datum“ (a ist ein Mörder, also M(a)), zum anderen die „Konklusion“ (a soll mit … bestraft werden, also F(a)), schließlich aber auch die sogenannte „Schlussregel“67 (alle Mörder sollen mit … bestraft werden, also anscheinend 64 65 66
Ebd. Ebd., S. 314. Ebd.
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8x (M(x) → F(x))). Ein wenig merkwürdig ist in diesem Schema nur das vierte Element, die „Stützung“, d. h. die Möglichkeit, bei Zweifeln an der Schlussregel (im Toulminschen Sinn) auf § 211 Abs. 1 StGB zu verweisen. Tatsächlich ist die Schlussregel ja nichts anderes als der dem § 211 Abs. 1 entsprechende deontische Satz. Das Gericht soll seine Schlussregel aber nicht nur, wenn dazu Zweifel laut werden, mit allgemeinen Rechtsnormen ‚stützen‘; vielmehr vermag es die relevante Schlussregel ausgehend von solchen Normen erst zu formulieren. Woher, wenn nicht aus dem je geltenden Recht, sollte die Schlussregel sonst stammen?
V. Zum Geltungsgrund der Logik Im letzten Abschnitt wirft Neumann die Frage auf, worauf die Verbindlichkeit von Regeln der Logik für die juristische Argumentation beruht, und insbesondere, ob diese Verbindlichkeit allen oder nur bestimmten logischen Regeln zukommt. Es handelt sich um Fragen, die zur Philosophie der Logik gehören; in ihr spielt der Gegensatz zwischen der klassischen Form der formalen Logik einerseits und der intuitionistischen Logik oder konstruktivistisch begründeten Formen der Logik andererseits eine besondere Rolle. 1. Klassische versus intuitionistische Logik Die intuitionistische Logik ist strenger oder ‚ärmer‘ als die klassische (formale) Logik: Im Kern geht es um den Status des tertium non datur (also Aussagen der Form A ˅ :A). Dem Standpunkt des niederländischen Mathematikers Luitzen Egbertus Jan Brouwer zufolge hat dieses (in der klassischen Logik als logisch-wahr akzeptierte) Prinzip keinen klaren Sinn, wenn man über unendlich viele Gegenstände spricht, etwa die natürlichen Zahlen. Er hat deshalb das tertium non datur für die Arithmetik verworfen.68 Überträgt man diese Sicht der Dinge auf den Bereich des Rechts, so ergibt sich daraus nach Neumanns Ansicht folgendes: „Nur unter der Voraussetzung, dass a) das Recht nicht positiv gesetzt, sondern vorgegeben ist, b) die Rechtsordnung geschlossen, d. h. jede Handlung gesetzlich geregelt ist, könnte“ – dem Standpunkt des Intuitionismus gemäß – „die klassische Logik auf das Recht Anwendung finden.“69
67 Logisch handelt es sich um eine Aussage (in der Form einer Subjunktion), nicht eine Schlussregel. Schlussregeln geben an, unter welchen Voraussetzungen man von Aussagen (den Prämissen) zu einer Aussage (der Konklusion) übergehen kann. 68 Näheres dazu etwa bei P. Lorenzen (Fn. 5), S. 156 ff. 69 U. Neumann (Fn. 1), S. 316.
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Zunächst ist nicht ganz klar, in welchem Verhältnis a) und b) zueinander stehen. Offenbar verbindet sie ein ausschließendes „oder“. Denn nach a) müsste es sich um ein nicht positiv gesetztes, sondern vorgegebenes Recht handeln, also wohl ein Natur- oder Vernunftrecht. Demgegenüber setzt b) eine Rechtsordnung in Form gesetzlicher, also anscheinend gesetzter, Vorschriften voraus. Auf a) brauchen wir hier nicht näher einzugehen: es gibt ja ein positiv gesetztes Recht, und dieses Recht hat auch im Hintergrund unserer bisherigen Diskussion gestanden. Ist aber dieses positive, sagen wir: das geschriebene Recht der Bundesrepublik Deutschland, geschlossen in dem Sinn, dass jede Handlung gesetzlich geregelt ist? Aus Neumanns Sicht ist dies nicht der Fall. Es könne sich ergeben, „dass weder der Rechtssatz R1 noch seine Negation von einem gesetzten Rechtssatz herleitbar ist.“70 Auch wenn man dies zugibt, kann man jedoch im folgenden Sinn von der Geschlossenheit des geschriebenen Rechts sprechen: Aufgabe einer Rechtsordnung ist es offenbar, in ihrem Zivilrecht die Voraussetzungen von privatrechtlichen Ansprüchen einer Person gegen eine andere, in ihrem Strafrecht die Voraussetzungen der Strafbarkeit von Personen (oder des Strafanspruchs des Staates) und in ihrem öffentlichen Recht die Voraussetzungen von öffentlich-rechtlichenAnsprüchen festzulegen. Akzeptiert man nun die naheliegende Annahme, dass derartige Ansprüche auch nur dann bestehen, wenn die erwähnten Voraussetzungen erfüllt sind,71 so ist das geschriebene Recht in durchaus entscheidbarer Weise geschlossen.72 Zwar gibt es in ihm nicht zu jeder Handlung (etwa der, Herbstferien in den Bergen zu verbringen) eine gesetzliche Vorschrift; aber es genügt ja, sich zu vergewissern, ob eine solche Handlung sich unter die Voraussetzungen eines gesetzlich geregelten Anspruchs subsumieren lässt. Wegen der Endlichkeit der Anzahl der Normen des geschriebenen Rechts ist das tatsächlich möglich. Für Argumentationen, in denen es darum geht, ob das geschriebene Recht einen Anspruch gewährt, braucht man auf das tertium non datur also auch vom intuitionistischen Standpunkt aus nicht zu verzichten.
Ebd. Mag dies sich eindeutig feststellen oder auch nur in wenigstens ‚vertretbarer‘ Weise begründen lassen. E. Ratschow (Fn. 40), S. 138 f., meint, eine derartige Annahme sei, unabhängig davon, ob sie eine Norm des geltenden Rechts sei oder nicht, „einer logischen Darstellung jedenfalls nicht zugänglich. Denn diese Norm wäre eindeutig einer Metasprache zuzurechnen.“ Metasprachlich ist sie zwar; aber das bedeutet keineswegs, dass sie nicht mit logischen Mitteln darstellbar ist (vgl. Fn. 40). 72 In diesem Sinn stellt Hans Kelsen, in „Was ist juristischer Positivismus?“ JZ 1965, S. 469, fest, gemäß dem juristischen Positivismus gebe es keine Lücke im Recht. Dass die Gerichte, die nach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes neben den Gesetzen an „das Recht“ gebunden sind, dem geschriebenen Recht Normen hinzufügen, widerspricht dem nicht. Vgl. zur „formellen“ Bindung der Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG R. Schreiber (Fn. 32), S. 203 f. und insbesondere S. 217 ff. 70 71
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2. Dialogische Begründung der Logik Auf die von dem Mathematiker, Logiker und Philosophen Paul Lorenzen entwickelte operative oder effektive Logik kommt Neumann in diesem Zusammenhang zu sprechen, weil nach den sie begründenden Dialogregeln keine allgemeine Gewinnstrategie für das tertium non datur existiert, A ˅ :A daher auch in ihr nicht logisch wahr ist; die effektive Logik entspricht im Ergebnis also der intuitionistischen Logik. Doch ergibt sich auch daraus kein Grund, das tertium non datur aus dem Repertoire der für die juristische Argumentation in Frage kommenden Prinzipien auszuschließen. Denn die effektive Logik und die intuitionistische Logik verwerfen das tertium non datur aus demselben Grund: weil sie sich nicht auf wahrheitsdefinite Aussagen beschränken; die Voraussetzung der Wahrheitsdefinitheit führt auch aus Sicht der effektiven Logik zur (insofern spezielleren) klassischen Logik.73 Zu den wahrheitsdefiniten Aussagen gehören aus den skizzierten Gründen aber auch Aussagen darüber, ob in einer Rechtsordnung unter bestimmten Voraussetzungen ein bestimmter Anspruch besteht oder nicht. Hinzu kommt, dass es nicht nur eine den Standards vernünftigen Argumentierens entsprechende Klasse von Dialogregeln gibt. Schon eine kleine, vergleichsweise technische Modifikation der zur intuitionistischen Logik führenden Dialogregeln begründet die klassische Logik einschließlich des uneingeschränkten tertium non datur.74 3. Standards vernünftigen Argumentierens Dialogregeln der in V.2 genannten Art erlauben es also, die effektive oder intuitionistische Logik, aber auch die (durch die Annahme des tertium non datur speziellere) klassische Logik zu begründen. Sieht man in ihnen „Standards des vernünftigen Argumentierens“ und damit das Fundament, „von dem aus sich die Verbindlichkeit der Logik für alle Bereiche rationalen Handelns und Redens begründen lassen könnte,“75 so kann man also jedenfalls die intuitionistische Logik, aber wegen der Wahrheitsdefinitheit rechtlicher Aussagen der hier interessierenden Art auch die klassische Logik, als das System der für rechtliche Argumentationen verbindlichen formalen Regeln betrachten. So weit möchte Neumann allerdings anscheinend nicht gehen. Er schreibt: „Versteht man Logik als Rekonstruktion der Regeln vernünftigen Argumentierens, dann sind die Transformationsregeln einer“ (Hervorhebung M.M.) „formalen Logik an 73 P. Lorenzen, Metamathematik, Mannheim, Bibliographisches Institut, 1962, S. 18 f. und „Logische Strukturen in der Sprache“, in: Methodisches Denken, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1968, S. 67. 74 Vgl. Wolfgang Stegmüller / Matthias Varga von Kibéd (Fn. 40), S. 152. Auch U. Neumann weist auf dieses Faktum hin, (Fn. 1), S. 317, Fn. 70. 75 U. Neumann (Fn. 1), S. 317.
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ihrer Übereinstimmung mit diesen Regeln zu messen; nicht aber können sie umgekehrt zum Maßstab einer vernünftigen Argumentation erhoben werden.“76 Dieser Satz wirft nach dem Vorhergehenden jedoch Fragen auf. Zunächst: Wenn, wie es Neumann nahegelegt hat, die Lorenzenschen Dialogregeln die (formalen) Standards vernünftigen Argumentierens festlegen, dann führt deren Rekonstruktion, wie erwähnt, unmittelbar zur intuitionistischen oder zur klassischen Logik. Entsprechen dagegen die Standards vernünftigen Argumentierens den Lorenzenschen Dialogregeln nicht, wie sonst kann man diese Standards als Logik rekonstruieren? Allgemein kann es sich offenbar nur darum handeln, die allem Argumentieren zugrunde liegenden formalen Regeln zu identifizieren und mit ihnen die Theorie der Aussagen, die aufgrund ihrer Form allein wahr sind, zu entwerfen.77 Nichts anderes ist aber die formale Logik. In diesem Zusammenhang von einer – statt der – Logik zu sprechen, führt in die Irre. Lorenzen schreibt dazu: „Das Wort Logik verwendet man wohl besser nur im Singular. Jede intuitionistisch logisch-wahre Aussage ist auch klassisch logisch-wahr. Das ist selbstverständlich, weil die wahrheitsdefiniten Aussagen nichts als ein Spezialfall der dialogisch-definiten Aussagen sind. Es gilt aber nicht das Umgekehrte. Die klassische Logik ist also ein Spezialfall der intuitionistischen – und diese ist sozusagen die wahre Logik, da sie nicht nur für die wahrheitsdefiniten Aussagen gilt.“78 4. Zu Ansätzen einer „nichtmonotonen“ Logik Neumann erachtet Systeme nichtmonotoner Logiken als argumentationstheoretisch interessant, „weil sie in der Lage sind, der Regel-Ausnahme-Struktur in juristischen … Argumentationen Rechnung zu tragen.“79 Wie bringen diese Logiken das zuwege? Dem amerikanischen Mathematiker und Theoretiker der Künstlichen Intelligenz Judea Pearl folgend können wir nichtmonotone Logiken sehr allgemein als TheoEbd., S. 318. Vgl. dazu U. Neumanns Hinweise zu Beginn des Kapitels, (Fn. 1), S. 298. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch die Aussagen von Julian Nida-Rümelin in „Zum Begriff des Grundes“, in: Philosophie als Lebensform, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009, S. 108 f.: „Das Reich der Gründe umfasst somit das der formalen Logik. Es spricht vieles dafür, die formale Logik als Abstraktion aus einem Teilbereich von Interferenz-Regeln zu interpretieren, die in der lebensweltlichen Sprach- und Verständigungspraxis etabliert sind. Die Tatsache, dass einige logische Junktoren keine eindeutige Entsprechung in der Alltagssprache aufweisen (wie etwa die Implikation [besser: Subjunktion]), spricht deswegen nicht gegen diese Interpretation; diese behauptet ja nicht, dass die formale Logik ein getreuliches Abbild sprachpraktisch etablierter Inferenzen sei, sondern lediglich, dass jene durch Abstraktion aus diesen hervorgeht, unter Einschluss der einen oder anderen Modifikation, die zum Zwecke der Vereinfachung sinnvoll ist.“ 78 In „Logische Strukturen in der Sprache“, in: Methodisches Denken, (Fn. 73 ), S. 67. 79 U. Neumann (Fn. 1), S. 318. 76 77
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rien ansehen, die ein Modell der Prozesse entwerfen, mit denen man Überzeugungen (beliefs) bildet und korrigiert. Eine zentrale Rolle spielen dabei Hypothesen wie „Typischerweise gilt: A’s sind B’s“, zum Beispiel: „Typischerweise fliegen Vögel.“ Für diesen Zusammenhang verwendet man die Schreibweise „A → B“, die man jedoch strikt von der des aussagenlogischen wenn-dann-Junktors unterscheiden muss. Denn im Fall der Hypothese „Typischerweise fliegen Vögel“ kann es Vögel geben, die nicht fliegen (z. B. Pinguine), und in einem solchen Fall wäre es voreilig, aus dem Faktum, dass man es mit einem Vogel zu tun hat, zusammen mit der Hypothese zu schließen, dass es sich um ein Wesen handelt, das fliegen kann. Andererseits gibt es offensichtlich Ähnlichkeiten, die in den beiden folgenden Konzeptionen nichtmonotoner Logiken zum Ausdruck kommen: Die logizistische Variante betrachtet A → B als eine qualifizierte Erlaubnis, im Fall von A auch B zu behaupten, wenn gewisse Voraussetzungen (etwa die der Widerspruchsfreiheit der uns vorliegenden Prämissen) erfüllt sind. Demgegenüber zieht die probabilistische Variante eine empirische Interpretation vor, nach der A → B eine elastische Bedingung ist, die mögliche Welten erfüllen müssen: sie schließt Welten nicht völlig aus, in denen A, aber auch : B gilt, betrachtet solche Welten aber als sehr viel weniger wahrscheinlich als andere.80 Diese Skizze genügt vielleicht schon für den Befund, dass es sich bei den nichtmonotonen Logiken um heuristische Instrumentarien handelt, die bei der Tatsachenfeststellung im Fall unvollständiger Information eine Rolle spielen können. 81 Für rechtliche Argumente im engeren Sinn kommen sie dagegen nicht in Betracht. Wir erwarten, dass Gerichte in Fragen rechtlicher Art, insbesondere in der Frage, was aus allgemeinen rechtlichen Normen folgt, nicht nur mutmaßen: Iura novit curia; Im Fall des Neumannschen Beispiels kann sich das Gericht nicht mit der Regel begnügen, Mörder seien typischerweise mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu betrafen. Vielmehr muss es sich Gewissheit verschaffen, dass keine der gesetzlich geregelten (oder auch höchstrichterlich hinzugefügten) Voraussetzungen der Straflosigkeit erfüllt sind. Dem entsprechen die strikten Regeln der formalen Logik.82
80 Siehe hierzu und zu den Einzelheiten Judea Pearl, Probabilistic Reasoning in Intelligent Systems – Networks of Plausible Inference, Fourth Printing, San Francisco, Morgan Kaufmann Publishers, 1997, 467 ff. 81 Ein wichtiger Anwendungsfall ist deshalb die medizinische Diagnostik. 82 Ähnliches gilt für die Fuzzy Logic, auf die U. Neumann zum Schluss hinweist, (Fn. 1), S. 319. Soweit sie von formalen Mitteln Gebrauch macht, folgt die Philippssche Fuzzy Logik wahrscheinlichkeitstheoretischen Strukturen, die sich für Aussagen darüber, ob nach einer bestimmten Rechtsordnung unter gewissen Voraussetzungen bestimmte rechtliche Ansprüche bestehen, nicht eignen.
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VI. Zusammenfassende Thesen Da in unserer Diskussion ganz unterschiedliche Aspekte der Logik und ihrer Rolle im rechtlichen Kontext zur Sprache gekommen sind, ist es vielleicht sinnvoll, die wesentlichen Ergebnisse noch einmal thesenartig zusammenzufassen: 1. Auch wenn in der Jurisprudenz Skepsis bis zur Abwehr weit verbreitet ist und immer wieder neuen Ausdruck findet: Die Beschäftigung mit der (modernen) formalen Logik erlaubt beträchtlichen Erkenntnisgewinn. Zwei Schwerpunkte sind in diesem Papier hervorgehoben worden: a) In rechtlichen Argumentationen steckt eine unter Umständen große Anzahl logischer Schritte. In praxi wird man sich dazu im allgemeinen auf logische Intuition verlassen können. Die Rechtstheorie muss aber imstande sein, die logische Struktur rechtlicher Argumente exakt und vollständig darzustellen. Für eine solche Analyse reicht die Syllogistik nicht aus. Vielmehr bedarf es der Mittel der sehr viel ausdrucksreicheren modernen formalen Logik. b) Diese Mittel sind auch adäquat: sie erlauben es insbesondere, – die Struktur rechtlicher Vorschriften in geeigneter Weise darzustellen, und zwar normalerweise in der Form einer mit dem Allquantor versehenen Subjunktion, die die deskriptive Komponente des Normsatzes oder den ihm entsprechenden deontischen Satz wiedergibt; – den logischen Status von Normsätzen im Verhältnis insbesondere zu ihrer deskriptiven Komponente und dem ihnen entsprechenden deontischen Satz zu klären. 2. So lässt sich die hochkontroverse Frage nach der Wahrheit von (Rechts-)Normen einfach beantworten, wenn man klar zwischen Normsätzen, ihren deskriptiven Komponenten und den ihnen entsprechenden deontischen Sätzen unterscheidet: a) Normsätze (also etwa Vorschriften eines staatlichen Gesetzes) sind als Imperative weder wahr noch falsch. b) Die deskriptive Komponente eines Normsatzes ist wahr genau dann, wenn der Sachverhalt besteht, den der Normsatz normativ auszeichnet, wenn die Norm also im Schreiberschen Sinn faktisch gilt. c) Deontische Sätze sind wahr genau dann, wenn der jeweils entsprechende Normsatz zu dem betrachteten Normensystem gehört, wenn er in diesem Sinne gilt. Ohne einen expliziten oder impliziten Hinweis auf das relevante Normensystem, z. B. das (verfassungsmäßige) Recht der Bundesrepublik Deutschland, handelt es sich um unvollständige, elliptische Sätze. d) Das Kriterium 2.c) ähnelt durchaus dem (freilich genaugenommen nur für formale Sprachen formulierten) Tarskischen Wahrheitskriterium, wonach z. B. die Aussage „Das Gesetz X ist am Jahresersten in Kraft getreten“ genau dann wahr ist, wenn das Gesetz X am Jahresersten in Kraft getreten ist. An
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die Stelle des metasprachlich erwähnten, in Anführungsstrichen stehenden Satzes tritt hier der deontische Satz; an die Stelle der objektsprachlich formulierten Bedingung tritt dagegen die metasprachlich formulierte (grundsätzlich entscheidbare) Bedingung, dass die dem deontischen Satz inhaltlich entsprechende Norm zu dem betrachteten Normensystem gehört. e) In Satzsystemen, zu denen deontische Sätze oder die deskriptiven Komponenten von Normsätzen gehören, kann man von der klassischen formalen Logik einschränkungslos Gebrauch machen. 3. Besondere Logiken sind für die Analyse rechtlicher Argumentation nicht erforderlich. a) Weder braucht sich die Jurisprudenz statt der klassischen formalen Logik auf die intuitionistische oder effektive Logik zu beschränken, in der das tertium non datur nicht ohne weiteres gilt. Anders wäre es allenfalls, wenn in der rechtlichen Argumentation nicht wahrheitsdefinite Aussagen eine wesentliche Rolle spielten; das ist aber auch bei Aussagen über die Existenz von Ansprüchen in ‚gesetztem Recht‘ nicht der Fall. b) Noch bedarf es deontischer Logiken, die die klassische formale Logik um (intuitiv zum Teil wenig durchsichtige) Regeln ergänzen, in denen bestimmte deontische Prädikate wesentlich vorkommen. Jedenfalls ist es aber auch möglich, im Rahmen der klassischen formalen Logik Axiome zu formulieren, die es gestatten, deontische Prädikate mithilfe einfacherer Termini präzise zu definieren und das „Prinzip vom ausgeschlossenen deontischen Widerspruch“ zu beweisen (J. Rödig 1969). c) Auch eine spezifische, eigenständige Logik der Normen (im Gegensatz zur Logik der Aussagen) ist nicht erforderlich; zu einer Logik der Imperative liegen freilich auch nur Ansätze und wenig konstruktive allgemeine Desiderate vor. d) Schließlich sollte die Rechtstheorie im Rahmen rechtlicher Argumentation die exakten Regeln der formalen Logik nicht gegen die heuristischen Regeln nichtmonotoner Logiken eintauschen.
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Anhang Vergleich der „Standardprinzipien der deontischen Logik“ nach F. von Kutschera mit J. Rödigs axiomatischem System „einer (als Logik) ‚klassischen‘ Logik der Normen“
I. Es gibt viele Entwürfe der deontischen Logik. Wir gehen aus von den Standardprinzipien in der Form, wie sie sich bei Franz von Kutschera finden.83 Es handelt sich um fünf Axiome (dabei steht der Operator O für das Prädikat „geboten“; die Argumente dieses und der anderen deontischen Operatoren sind Sätze, vor allem natürlich solche, die Handlungen als Sachverhalte ausdrücken): O1:
O(A) → : O(:A)
(wenn A geboten ist, ist es nicht der Fall, dass nicht-A geboten ist – oder einfacher: was geboten ist, ist nicht verboten)
O2:
O(A) ˄ O(B) → O(A ˄ B)
(wenn sowohl A geboten ist als auch B, so ist A und B geboten)
O3:
8x O(F(x) → O(8x F(x))
(wenn es jedermann geboten ist, F zu tun, so ist es auch geboten, dass alle F tun)
O4:
O(T)
(tautologische – d. h. durch logische Wahrheiten ausgedrückte – Sachverhalte sind geboten)
O5:
Wenn B aus A logisch folgt, so gilt: O(A) → O(B)
(logische Folgen gebotener Handlungen sind ebenfalls geboten)
II. Rödigs Axiome, mit denen er die deontischen Prädikate definiert, sind Teil eines umfassenderen Axiomensystems einer – imponierenden – Theorie des Verhaltens, des Verhaltensspielraums, der Handlung, der Unterlassung und der Kausalität.84 Wir folgen der Schreibweise des Aufsatzes über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen.85 Prädikate sind „Ha“ (Handlung), „Un“ (Unterlassung von), „Re“ (rechtmäßig), „Nr“ (widerrechtlich), „Gb“ (geboten), „Vb“ (verboten) und „Er“ (erlaubt). Bei den Gegenständen, die die entsprechenden Attribute besitzen, handelt es sich um Sachverhalte; insbesondere geht es um Verhaltensweisen als spezielle Sachverhalte; für die Namen bzw. Variablen solcher Sachverhalte verwenden wir kleine Buchstaben. Die vier hier interessierenden Axiome lauten damit: F. von Kutschera, Grundlagen der Ethik, (Fn. 31), S. 6 f. Seines Erachtens sind deontische Modalitäten nur als komplexe Bewertungsformen adäquat explizierbar, „Logik und Rechtswissenschaft“, in: Schriften zur juristischen Logik (Fn. 19), S. 42. 85 J. Rödig (Fn. 19), S. 202 f. 83 84
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A1:
: 9a ((Re(a) ˄ Nr(a))
(kein Sachverhalt ist sowohl rechtmäßig als auch widerrechtlich)
A2:
8a (Gb(a) ↔ (Ha(a) ˄ Re(a) ˄ 8b (Un(a,b) → Nr(b)))
(für alle Sachverhalte a gilt: sie sind genau dann geboten, wenn sie Handlungen sind und rechtmäßig sind und wenn alle Sachverhalte b, die eine Unterlassung von a sind, widerrechtlich sind)
A3:
8a (Er(a) ↔ (Ha(a) ˄ Re(a)))
(Sachverhalte sind genau dann erlaubt, wenn sie Handlungen sind und rechtmäßig sind)
A4:
8a (Vb(a) ↔ 9b (Nr(a) ˄ Re(b) (für alle Sachverhalte a gilt: sie sind genau dann ˄ Un(a,b))) verboten, wenn es mindestens einen Sachverhalt b gibt, so dass a widerrechtlich ist und b rechtmäßig und eine Unterlassung von a ist)
III. Versuchen wir, diese beiden Systeme miteinander zu vergleichen und insbesondere herauszufinden, in welchem Umfang die Prinzipien der deontischen Logik aus Rödigs Axiomen folgen: 1. Ein prinzipieller Unterschied besteht, wie schon angedeutet, zwischen den Gegenständen, von denen man sagen kann, dass sie geboten, verboten oder erlaubt seien. In der deontischen Logik sind dies Aussagen; das können auch mit den Junktoren der Aussagenlogik zusammengesetzte oder mit Quantoren gebildete Aussagen sein. Sowohl die Argumente A, B, : A, A ˄ B, etc. der deontischen Operatoren als auch die Ausdrücke O(A), O(: A), O(A ˄ B) etc. sind also Aussagen. In Rödigs System sind die a, b etc. Eigennamen von bzw. Variablen für Sachverhalte als Individuen, die der Sprache der Theorie zugrunde liegen. In ihr haben Ausdrücke :a, a ˄ b etc. daher keinen Sinn; nur Ausdrücke der Form Ha(c), Ha(d) ˄ Re(d), 8a (Gb(a) etc. sind sinnvolle Aussagen. Dieser Unterschied wirkt sich insbesondere bei der Konzeption der Unterlassung einer Handlung aus; genauer kann man danach von der Unterlassung nur in dem Spezialfall sprechen, in dem es um einen Verhaltensspielraum von genau zwei voneinander verschiedenen Verhalten geht.86 In größeren Verhaltensspielräumen hat eine Handlung mehrere Unterlassungen. 2. Jedoch ist es möglich, einen dem Prinzip O1 entsprechenden Ausdruck im Rödigschen System zu formulieren. Dies ist deshalb von Interesse, weil dieses Prinzip in den Worten F. von Kutscheras das „Prinzip vom ausgeschlossenen deontischen Widerspruch“ ist,87 dessentwegen nach Ansicht J. Berkemanns eine über die klassische Logik hinausgehende deontische Logik erforderlich ist. a) Der Ausdruck des Rödigschen Systems, der O1 entspricht, lautet: 8a Gb(a) → : 9b ((Gb(b) ˄ Un(a,b)))
86 87
(für alle a gilt: wenn a geboten ist, gibt es kein b, so dass b geboten ist und b eine Unterlassung von a ist)
J. Rödig, Die Denkform der Alternative (Fn. 48), S. 81 ff., 88. F. von Kutschera (Fn. 31), S. 6.
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Der Beweis dieses Satzes ähnelt natürlich dem, den Rödig für das Weinbergersche „Widerspruchsprinzip der Normlogik“ gegeben hat,88 und lässt sich wie folgt führen: A289
1
8a Gb(a) ↔ (Ha(a) ˄ Re(a) ˄ 8b (Un(a,b) → Nr(b)))
2 (1)
Gb((c) ↔ (Ha(c) ˄ Re(c) ˄ 8b (Un(c,b) → Nr(b)))
(1) GB
3 (1)
Gb(c) ↔ (Ha(c) ˄ Re(c) ˄ (Un(c,d) → Nr(d)))
(2) GB
4 (1)
Gb(c) → (Ha(c) ˄ Re(c) ˄ (Un(c,d) → Nr(d)))
(3) JL (4) JL
5 (1)
Gb(c) → (Ha(c) ˄ Re(c))
6 (6)
: 9a ((Re(a) ˄ Nr(a))
A1
7 (6)
8a (Re(a) → : Nr(a))
(6) PL
8 (6)
Re(d) → : Nr(d)
(7) GB
9 (6)
: :Nr(d) → : Re(d)
10 (6)
Nr(d) → : Re(d)
11 (1, 6)
Gb(c) → (Ha(c) ˄ Re(c) ˄ (Un(c,d) → : Re(d)))
12 (1, 6)
Gb(c) → (Un(c,d) → : Re(d))
13 (13)
8a (Er(a) ↔ (Ha(a) ˄ Re(a)))
14 (13)
Er(c) ↔ (Ha(c) ˄ Re(c))
(8) JL (9) JL (4, 10) JL (11) JL A3 (13) GB
15 (13)
8a (Er(a) → Re(a))
16 (13)
(Er(d) → Re(d))
(13) JL
17 (13)
: Re(d) → : Er(d)
18 (1, 13)
Gb(c) → Er(c)
(5, 14) JL
19 (1, 13)
8a (Gb(a) → Er(a))
c (18) GE
(15) GB (16) JL
20 (1, 13)
Gb(d) → Er(d)
21 (1, 13)
: (Er(d) → :Gb(d))
(19) GB
22 (1, 6, 13)
Gb(c) → (Un(c,d) → : Er(d))
(12, 17) JL
23 (1, 6, 13)
Gb(c) → (Un(c,d) → : Gb(d))
(21, 22) JL
(20) JL
88 J. Rödig, „Über die Notwendigkeit einer besonderen Logik der Normen“, in: Schriften zur juristischen Logik, (Fn. 19), S. 203; vgl. auch Rödigs Anmerkung zu Berkemanns Kritik in „Logik und Rechtswissenschaft“, (ebd.), S. 52, Fn. 33. 89 Die Zeichen dieser Spalte verweisen auf die logischen Grundlagen des Übergangs zur in der entsprechenden Zeile stehenden Formel, also „A1“ etc. auf das herangezogene Rödigsche Axiom, „GB“ auf die prädikatenlogische Regel der Generalisierungsbeseitigung, „GE“ auf die prädikatenlogische Regel der Generalisierungseinführung, „PE“ auf die prädikatenlogische Regel der Partikularisierungseinführung und „PB“ auf die prädikatenlogische Regel der Partikularisierungsbeseitigung, „PL“ auf sonstige prädikatenlogische Regeln und „JL“ auf junktorenlogische Regeln. Vgl. im Übrigen J. Rödig, Die Denkform der Alternative, a. a. O. (Fn. 48), S. 166 ff. und „Logik und Rechtswissenschaft“, in: Schriften zur juristischen Logik, (Fn. 19), S. 43 ff.
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24 (1, 6, 13)
Gb(c) → (: Un(c,d) ˅ : Gb(d))
(23) JL
25 (1, 6, 13)
Gb(c) → : (Un(c,d) ˄ Gb(d))
(24) JL
26 (1, 6, 13)
Gb(c) → : 9b (Un(c,b) ˄ Gb(b))
(25) PE
27 (1, 6, 13)
8a (Gb(a) → : 9b (Gb(b) ˄ Un(a,b)))
c (26) GE
b) Dagegen kommen in den Axiomen O2 bis O5 der deontischen Logik Ausdrücke wesentlich vor, zu denen sich in Rödigs System aus den erwähnten Gründen kein sinnvolles Pendant formulieren lässt: O2 O(A) ˄ O(B) → O(A ˄ B): Hier lässt sich der Ausdruck O(A ˄ B) nicht übersetzen; Gb(a ˄ b) wäre sinnlos, weil ein Junktor nur Aussagen A, B, C … zu Aussagen verknüpfen kann, nicht Namen von Individuen a, b, c, … Und für eine ‚Verkettung‘ von Sachverhalten a, b, c … (desselben Verhaltensspielraums oder verschiedener Verhaltensspielräume) zu „komplexeren“ Sachverhalten ab, ac, …, an die man in diesem Zusammenhang vielleicht denken könnte, bietet Rödigs Theorie keine hinreichende Grundlage. O3 8x O(F(x) → O(8x F(x)): Hier gilt Vergleichbares für die Ausdrücke Gb(F(x) und Gb (8x F(x)). Gb hat angewandt auf Aussageformen wie (F(x) und Aussagen wie 8x F(x) keinen Sinn. O4 O(T): Hier gilt Vergleichbares für den Ausdruck T; T steht ja für eine logisch wahre Aussage, wie z. B. : (A ˄ : A) oder A ˅ : A. Man könnte versucht sein, an Sätze zu denken wie (i)
: (Gb(c) ˄ (Gb(d) ˄ Un(c,d)))
(es trifft nicht zu, dass sowohl eine Handlung c als auch eine Unterlassung d von c geboten ist) oder
(ii)
Gb(c) ˅ (9d (Gb(d) ˄ Un(c,d))
(eine Handlung c ist geboten oder es gibt eine Unterlassung d von c, die geboten ist).
Der Satz (i) (als eine Form des deontischen Widerspruchsfreiheitsprinzips) entspricht aber dem Prinzip O1, auf das wir schon eingegangen sind, und der Satz (ii) (der ein wenig dem tertium non datur ähnelt) ist – auch – in Rödigs System nicht unbedingt wahr: Nicht zu jedem Verhaltensspielraum muss ja eine Handlung gehören, die geboten ist. Aber beide Sätze (i) und (ii) kommen auch nicht wirklich dem nahe, was O4 ausdrückt. O5 Wenn B aus A logisch folgt, so gilt: O(A) → O(B): Hier scheitert die Übersetzbarkeit daran, dass die logische Folge nur für Aussagen und Aussageformen definiert ist, nicht für Ausdrücke, die Individuen der Sprache bezeichnen. Man könnte stattdessen an die Identität denken. Dies ergäbe das Prinzip (iii)
Wenn a und b identisch sind, so gilt: Gb(a) → Gb(b).
Aber dies wäre ganz trivial und jedenfalls im Rödigschen System nicht weiter von Interesse.
Summary This paper looks into the chapter on legal logic which Ulfrid Neumann has contributed, among others, to the Introduction to the Philosophy of Law and Legal Theory, edited by A. Kaufmann, W. Hassemer and U. Neumann. It is shown in which sense modern formal logic
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is essential for analysing the structure of legal arguments, as well as for clarifying the logical status of norms and deontic statements. As to this status, the paper advocates the view according to which norms as imperatives are neither true nor false, while deontic statements are true if and only if the corresponding norms are valid (being an element of the normative system under consideration). In addition to this distinction between norms and deontic statements, it is proposed to consider what is called the descriptive component of norms (similar to R. M. Hare’s „phrastic“ and E. Stenius’ „radical“); the descriptive components of norms are true if and only if, given the antecedent of the norm, the legal consequence effectively takes place. Thus, there is a plain answer to the highly controversial question as to whether, and to which extent, A. Tarski’s definition of truth in formal systems is applicable to norms. The need for special logical systems, such as intuitionistic logic or deontic systems or nonmonotonic reasoning is discussed in some detail. According to the findings of the paper, ‘classical’ formal logic is both adequate and sufficient for any type of formal reasoning in legal theory. In this context, a closer look is taken at the relationship between ‘classical’ formal logic and the standard version of deontic logic, with special emphasis on Jürgen Rödig’s axiomatic system of a classical logic of norms.
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– Formale Logik, 3. Auflage, Berlin, Walter de Gruyter, 1967. – Methodisches Denken, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1988. – Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1974. Neumann, Ulfrid: Juristische Argumentationslehre, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986. Nida-Rümelin, Julian: Philosophie als Lebensform, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009. Pearl, Judea: Probabilistic Reasoning in Intelligent Systems – Networks of Plausible Inference, Fourth Printing, San Francisco, Morgan Kaufmann Publishers, 1997. Ratschow, Eckart: Rechtswissenschaft und Formale Logik, Baden-Baden, Nomos, 1998. Rödig, Jürgen: Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1969. – Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1973. – Schriften zur juristischen Logik, hrsg. von Elmar Bund / Burkhard Schmiedel/ Gerda Thieler-Mevissen, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1980. Scholz, Heinrich: Abriß der Geschichte der Logik, 3. unveränderte Auflage, Freiburg / München, Karl Alber, 1967. Schreiber, Rupert: Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin/ Heidelberg / New York, Springer, 1966. Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, – Band I, 7. Auflage, Stuttgart, Alfred Kröner, 1989. – Band II, 8. Auflage, Stuttgart, Alfred Kröner, 1987. – Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band I Erklärung Begründung Kausalität, 2. Auflage, Berlin/ Heidelberg/ New York, Springer, 1983. Stegmüller, Wolfgang / Varga von Kibéd, Matthias: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band III Strukturtypen der Logik, Berlin/ Heidelberg/ New York / Tokyo, Springer, 1984. Weinberger, Ota: „Kann man das normenlogische Folgerungssystem philosophisch begründen?“ ARSP 1979, 161 – 186.
Zum Problem der Indikation Ethische und rechtliche Aspekte willensunabhängiger Therapiebegrenzung – Ein Praxisbeispiel Karin Michel Seit einigen Jahrzehnten gehört die Frage der passiven Sterbehilfe zu den zentralen Themen medizinethischer und medizinrechtlicher Diskurse. Dies gilt nicht zuletzt für Optionen der Begrenzung einer PEG- oder PEJ-gestützten Ernährung1 bei nicht einwilligungsfähigen Patientinnen und Patienten.2 Allerdings kann die genannte Thematik aufgrund ihrer prinzipiellen ethischen Mehrdimensionalität über die spezifischen Hinsichten der ärztlichen Ethik und des Medizinrechtes hinaus auch als wichtiger Topos einer allgemeiner gefassten ‚Ethik im Gesundheitswesen‘ gelten. Dies soll im Folgenden im Ausgang von einem Fallbeispiel verdeutlicht werden.
I. Fallbeispiel: Situation und Vorgeschichte Die 66-jährige Frau S., Pflegeheimbewohnerin mit einer fortgeschrittenen Alzheimererkrankung bei frühem Beginn, wird durch eine PEG-Sonde mit Nahrung, Flüssigkeit und Medikamenten versorgt. Frau S. ist aktuell weder äußerungs- noch einwilligungsfähig. Eine Patientenverfügung hat sie nicht verfasst. Psychiatrisch ist bei Frau S. eine chronische Depressionserkrankung bekannt. Frau S. hat im Rahmen einer dauerhaften Bettlägerigkeit Kontrakturen der Extremitäten entwickelt. Auf pflegerische Handlungen reagiert sie teils zugewandt, teils mit heftigen Gesichtsbewegungen (Grimassieren). Auf Fragen antwortet sie gelegentlich mit Ja oder Nein. Zugewandt reagiert sie vor allem bei Ansprache durch ihre Bezugspflegerin und ihre Söhne. Während einer stationären gerontopsychiatrischen Behandlung vor zwei Jahren war Frau S. noch mobil und kommunikationsfähig. Im Zusammenhang mit ihrer Demenzerkrankung traten zu dieser Zeit Schluckstörungen auf, so dass eine ausreichende Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit auf oralem Wege nicht 1 Die Abkürzungen PEG und PEJ stehen für „Perkutane Endoskopische Gastrostomie“ („Magensonde“) und „Perkutane Endoskopische Jejunostomie“ („Dünndarmsonde“). 2 Vgl. Alfred Simon, „Ethische Aspekte der künstlichen Ernährung bei nicht-einwilligungsfähigen Patienten“, in: Ethik in der Medizin, Bd. 16, Heft 3, September 2004, S. 217 – 228.
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mehr gewährleistet werden konnte. Aufgrund der akut drohenden Unterversorgung der Patientin wurde die Indikation zur Anlage einer PEG-Sonde gestellt und die entsprechende Maßnahme durchgeführt. Frau S. wurde nach der Sondenanlage in ein Pflegeheim verlegt. Die Anlage der PEG-Sonde wurde seinerzeit unter einvernehmlicher Mitwirkung der beiden Söhne durchgeführt, die als gesetzliche Betreuer für Frau S. eingesetzt waren. Den Söhnen wurde die Betreuung allerdings nach einiger Zeit gerichtlich entzogen, da aufgrund zunehmender Zwistigkeiten untereinander die Angelegenheiten der Mutter nicht zufriedenstellend geregelt werden konnten. Eine Berufsbetreuerin wurde eingesetzt. Nach wenigen Monaten beantragte diese aufgrund fortgesetzter Anfeindungen vor allem seitens des älteren Sohnes die Entlassung aus dem Amt. Durch das Gericht wurde eine Nachfolgerin bestellt. Auf die aktuell bestellte Berufsbetreuerin tritt nach kurzer Zeit der jüngere Sohn mit dem Anliegen heran, die Einstellung der Sondenkosternährung seiner Mutter zu veranlassen. Er begründet sein Anliegen damit, dass seine Mutter die ihr zugeführte Nahrung immer wieder erbricht. Er wertet diesen Umstand als Botschaft an ihre Umwelt, nicht mehr leben zu wollen. Der jüngere Sohn hält die gesetzliche Betreuerin dazu an, diesen Willen umzusetzen, d. h. stellvertretend für Frau S. die Zustimmung zur Weiterführung der Sondenkostversorgung zu widerrufen. 1. Ethikfokus und Perspektiven / Rechtliche Problemstellung Unter gesundheitsethischen Gesichtspunkten stellt das Ersuchen des jüngeren Sohnes zunächst die Zulässigkeit der Durchführung einer lebenserhaltenden Maßnahme für eine nicht einwilligungsfähige Patientin in Frage. Es wird geltend gemacht, dass Frau S. einer indizierten medizinischen Behandlung unterzogen wird, die sie nicht will. Der ethische Fokus seiner Anfrage richtet sich damit auf das Prinzip der Selbstbestimmungswahrung der Betroffenen.3 Als spezieller ethischer Problembestand steht zunächst die Bestimmung des mutmaßlichen Willens einer nichtäußerungsfähigen Person zur Disposition. Aus der Perspektive des jüngeren Sohnes, der seine Mutter als eine in der Zeit vor ihrer Erkrankung überaus selbstbestimmte Person beschreibt, erscheint das Erbrechen eindeutig als intentionale Nahrungsablehnung. Anders stellt sich der Sachverhalt aus der Perspektive der Berufsbetreuerin dar: Nach ihrem Verständnis besteht gegenüber der von ihr vertretenen nicht-äußerungsfähigen und damit in hohem Maße vulnerablen Person ein besonderer Schutzauftrag. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den Erhalt des Lebens der 3 Der ethische Fokus wird hier zunächst bestimmt gemäß der Standardtheorie von Tomas L. Beauchamp / James F. Childress, „Principles of Biomedical Ethics“, Oxford: Oxford University Press, 72013. Die Grundsätze dieses Ansatzes normativer Ethik werden in dem hier gegebenen Anwendungskontext vorausgesetzt. Die (erforderliche) kritische Auseinandersetzung muss im Rahmen einer Thematisierung normativer Grundsatzfragen erfolgen, die an anderer Stelle zu leisten ist.
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Klientin. Gleichwohl sieht sich die Betreuerin verpflichtet, den Hinweisen des jüngeren Sohnes nachzugehen und eine Überprüfung der Behandlungswünsche seiner Mutter durchzuführen. Als rechtlicher Problembestand ergibt sich im vorliegenden Fall, dass bei indizierter PEG-Versorgung ohne Vorliegen einer Patientenverfügung die Betreuerin gehalten ist, den mutmaßlichen Willen der Betreuten bezüglich der Maßnahme festzustellen und auf dieser Grundlage im Sinne der Klientin zu entscheiden, ob sie weiterhin durchgeführt werden soll oder nicht.4 a) Fakten und Bewertungen Im Vorfeld einer Klärung der ethischen und rechtlichen Problembestände und einer Entscheidung bezüglich der weiteren Behandlung ihrer Klientin setzt sich die gesetzliche Betreuerin mit dem Hausarzt und dem Neurologen von Frau S. in Verbindung zwecks Erörterung der medizinischen Fakten und der Frage der Indikation der Sondenkostversorgung. Beide Ärzte teilen übereinstimmend mit, dass aufgrund von massiven Schluckstörungen die Ernährung der Patientin auf oralem Wege nicht möglich ist. Ziel der Behandlung sei die Vermeidung einer Aspirationspneumonie, die bei einer oralen Ernährung aufgrund der gegebenen Schluckbeschwerden zwangsläufig auftreten würde. Ferner sollen durch die Sondenernährung Folgen einer Mangelernährung vermieden und die vitale Versorgung einer voraussichtlich noch auf längere Zeit hin stabilen Patientin gesichert werden. Zwar sei die Prognose zum Verlauf der Erkrankung langfristig ungünstig. Frau S. sei jedoch bei Verlust der Orientierung und schwerster Einschränkung von Kurzzeitgedächtnis und kognitiven Exekutivfunktionen derzeit noch zeitweise ansprechbar, somatisch sei sie in einem in Rücksicht auf ihre Erkrankungen zufriedenstellenden Zustand. Insofern sei die Sondenkostversorgung indiziert. Der Hausarzt schlägt zur Vermeidung der oralen Entleerung des Mageninhaltes das Vorschieben der Sonde in das Jejunum vor: ein entsprechender Eingriff wird kurz darauf durchgeführt. Hausarzt und Neurologe bewerten die Versorgung durch die PEG bzw. PEJ über die medizinischen Gesichtspunkte hinaus auch in einer berufsethischen Perspektive: Einer Patientin, die temporär bewusst, wach und ansprechbar sei, die Ernährung vorzuenthalten, sei für einen Arzt nicht vertretbar, auch dann nicht, wenn die Patientin aufgrund einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung von schweren zerebralen Beeinträchtigungen betroffen ist.5 Eine Pflege-Expertise holt die Betreuerin in der Rücksprache mit der Heimleiterin ein. Diese berichtet, dass Frau S. bei Heimaufnahme vor etwa einem Jahr kurzzeitig mobilisiert werden konnte. Die Demenzerkrankung habe sich in den Folgemonaten jedoch rapide verstärkt. Aktuell sei Frau S. durchgängig bettlägerig. Eine 4 N.B.: Die Anfrage des jüngeren Sohnes erfolgt im Früherbst 2008, d. h. vor Inkrafttreten des sogenannten „Patientenverfügungsgesetzes“ vom 01. September 2009. 5 Bezug genommen wird auf die „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“, in: Deutsches Ärzteblatt Jg. 101, Heft 19, 7. Mai 2004, A 1299.
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orale Nahrungsaufnahme sei nicht mehr möglich. Bei der Beschickung der Sonde werde der Oberkörper höher gelagert, um Erbrechen und Nahrungsaspiration so weit wie möglich zu verhindern. Allerdings sei es zwischenzeitlich dennoch zu Erbrechen und Aspiration von Nahrung gekommen, Frau S. sei deswegen einmal stationär behandelt worden. Die Bewohnerin sei zwar ohne Orientierung, reagiere aber auf Ansprache und antworte an guten Tagen kurz auf Fragen. Ihr Ausdruck lasse immer wieder auf eine ängstlich-dysthymische Stimmung schließen. Möglicherweise bestehe ein depressiver Zustand. Auch die Heimleiterin formuliert in Bezug auf das Anliegen des jüngeren Sohnes eine berufsethische Perspektive: Die Einstellung der Sondenernährung bei einer ansprechbaren und emotional zumindest rudimentär erreichbaren Bewohnerin ist mit der pflegerischen Verpflichtung zur Fürsorge und Zuwendung und dem Anrecht der Bewohnerin auf professionelle Hilfe gerade auch im Rahmen einer schweren chronischen Erkrankung unvereinbar.6 Die medizinische wie auch die pflegerische Expertise wenden sich in den Dimensionen der sachlichen und ethischen Beurteilung dezidiert gegen eine Therapiebegrenzung. Bedenken bezüglich der Indiziertheit der Ernährungstherapie werden nicht formuliert. Die Betreuerin konzentriert sich daher weiterhin auf die Frage des Behandlungswunsches der Klientin. b) Selbstbestimmung – Willensermittlung Die Beantwortung der Frage nach dem Willen der Klientin ist zunächst mit einem epistemischen Problem konfrontiert, das durch die irreduzible Privatheit von Bewusstseinszuständen aufgeworfen wird: Die Erlebnisqualitäten von Empfindungen und generell die Inhalte psychischer Prozesse sind als solche für einen äußeren Beobachter nicht direkt erkennbar. Naturwissenschaftliche Methoden, so differenziert sie auch sein mögen, erfassen stets hirnorganische Gegebenheiten. Sie sind jedoch nicht in der Lage, mentale Zustände, so wie sie in der Binnenperspektive erlebt werden, zugänglich zu machen.7 Der Zugang zu mentalen Vorgängen eines anderen Menschen ist stets nur vermittelt möglich, dadurch, dass seine Äußerungen als Zeichen von Zuständen interpretiert werden, die dem Rezipienten aus dem eigenen inneren Erleben heraus bekannt erscheinen. Die Interpretation solcher Äußerungen ist insofern von einer prinzipiellen Unsicherheit geprägt. Die gilt vor allem dann, wenn – wie bei Frau S. – ein kommunikativer Austausch nur noch in rudimentärer 6 Vgl auch Ulrich H. J. Körtner, Grundkurs Pflegeethik, Wien: UTB / Facultas, 2004. Elisabeth Conradi, Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/ New York: Campus-Verlag, 2001. Rainer Wettreck: „Am Bett ist alles anders“ – Perspektiven professioneller Pflegeethik, Hamburg/ London: Lit-Verlag, 2007. 7 Zum Problem der subjektiven Erlebnisgehalte von mentalen Zuständen, siehe auch z. B. Martina Nida-Rümelin, Artikel „Qualia: The Knowledge Argument“, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), Stanford Encyklopedia of Philosophy, (online-Ausgabe). Schlüsseltext zur Problemstellung: Thomas Nagel, „What is it like to be a bat?“ in: The Philosophical Review, Ithaca: Cornell University Press, Band 83, Nr. 4, 1974, S. 435 – 450.
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Form möglich ist. Insofern ist die Frage, ob in Frau S.s Erbrechen eine negative Befindlichkeit oder sogar eine zu respektierende Intention zum Ausdruck kommt, oder ob es sich um eine erkrankungsbedingte Reaktion ohne expressive Funktion handelt, nicht abschließend zu beantworten.8 In dieser allgemeinen Hinsicht erscheint es problematisch, die durch den jüngeren Sohn vorgebrachte Konjektur zum Lebenswillen seiner Mutter zur Basis einer Entscheidung über die Begrenzung ihrer Sondenkostversorgung zu machen – zumal eine solche Entscheidung irreversible Konsequenzen nach sich ziehen würde. Zur indirekten Bestimmung des Willens der nicht-äußerungsfähigen Betroffenen bietet sich allerdings ein Ermittlungsverfahren an, das verstärkt eine soziale und weltanschauliche Dimension einbezieht: die Befragung von Angehörigen und befreundeten oder bekannten Personen darauf hin, ob sich die Patientin in der Vergangenheit zur Behandlung in vergleichbaren Situationen geäußert hat, ob sie religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen vertreten hat, die Rückschlüsse auf ihre mögliche Bewertung der aktuellen Situation erlauben, ob sie in der Vergangenheit Erfahrungen oder Berichte vergleichbarer Situationen von anderen bewertet hat. Die Ermittlung des ‚mutmaßlichen Willens‘9 von Frau S. übernimmt ihre Betreuerin. Sie wendet sich zunächst an den älteren Sohn. Dieser berichtet, dass seine Mutter die Auseinandersetzung mit Leiden und Tod nach der Erfahrung der tödlichen Krebserkrankung ihres Ehemannes eher vermieden habe. Das Anliegen seines jüngeren Bruders lehnt der ältere Sohn aus seiner eigenen ethischen Perspektive vehement ab: Vielleicht leide seine Mutter ja in einem bestimmten Maße. Der Umstand aber, dass sie an guten Tagen positiv auf Ansprache reagiere, reiche für ihn aus, ihre weitere Ernährung zu befürworten. Was sein Bruder für die Mutter wolle, sei ihm vollkommen unverständlich. Der jüngere Sohn teilt auf Anfrage mit, dass seine Mutter sich zwar ihm selbst gegenüber nie konkret zu Behandlungswünschen in Grenzsituationen geäußert habe. Sie habe sich jedoch anlässlich der tödlichen Erkrankung ihres Ehemannes Verwandten gegenüber ausgesprochen. Die Verwandten werden von der Betreuerin umgehend mit der Bitte kontaktiert, schriftlich und eidesstattlich versichert mitzuteilen, welche Behandlungswünsche Frau S. ihnen gegenüber geäußert habe. Die Anfrage wird zügig und engagiert dahingehend beantwortet, dass Frau S. angesichts der maximalen intensivmedizinischen Behandlung des Ehemannes wiederholt geäußert habe, ‚so nicht von dieser Welt gehen zu wollen‘. Die Angehörigen treten da8 Vgl. dazu auch: Ralf Jox, „Der ‚natürliche Wille‘ als Entscheidungskriterium“, in: Jan Schildmann u. a. (Hrsg.), Entscheidungen am Lebensende in der modernen Medizin: Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, Hamburg/ London: Lit-Verlag, 2006, S. 69 – 86, hier S. 78. 9 Die Bundesärztekammer definiert wie folgt: Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens eines Patienten besteht darin, nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen, „was der Patient für sich selbst entscheiden würde, wenn er es könnte.“ „Empfehlungen der Bundesärztekammer und der zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen in der ärztlichen Praxis“, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 107, Heft 18, 7. Mai 2010, A 877 ff.; siehe auch: Wikipedia, Artikel ‚mutmaßlicher Wille‘.
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für ein, dass Frau S. das derzeitige ‚stumpfsinnige Dahinleben‘, ‚abhängig von Maschinen‘, insbesondere ‚gegen ihren Willen ernährt zu werden‘, … so nie gewollt hätte. Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens ist von besonderer ethischer Relevanz: sie stellt ein unverzichtbares Instrument zur Wahrung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten nicht (mehr) äußerungsfähiger Personen dar. Allerdings verlangt diese Bestimmung besondere Sorgfalt: Zum einen ist sicherzustellen, dass Äußerungen von Betroffenen in hinreichender Konkretheit und direkter Beziehbarkeit auf die aktuelle Situation bezeugt werden. Pauschale Aussagen bieten einen zu weiten Interpretationsspielraum. Andererseits muss konsequent zwischen Mutmaßungen über den mutmaßlichen Willen von Betroffenen und substanziellen Anhaltspunkten für den mutmaßlichen Willen selbst unterschieden werden.10 Diese Punkte sind auch für die rechtliche Relevanz der Willensermittlung von zentraler Bedeutung: Als die Betreuerin die Willensauskünfte der Angehörigen beim zuständigen Betreuungsgericht zur Prüfung einreicht, beruft sich der Abteilungsrichter zur Sachbeurteilung auf den § 1901 BGB.11 Er macht geltend, dass die mutmaßlichen Festlegungen der Betroffenen in der Vergangenheit der aktuell bestehenden konkreten Lebens- und Behandlungssituation entsprechen müssen. Eben diese Übereinstimmung vermöge der Richter im gegebenen Fall nicht zu erkennen, da die von Frau S. abgelehnte Behandlungssituation ihres Ehemannes mit ihrer heutigen Situation nicht vergleichbar sei: Den eingereichten Aussagen sei nicht zu entnehmen, dass Frau S. speziell die künstliche Ernährung für sich abgelehnt habe. Vielmehr handele es sich um Schlussfolgerungen der Angehörigen. Gegebenenfalls sei diesbezüglich noch einmal nachzuforschen. Für den Fall, dass sich die Wünsche der Betroffenen nicht feststellen lassen, habe sich die Betreuerin gemäß § 1901, 2, Satz 1 am Wohl der Betroffenen zu orientieren. Die Angehörigen werden befragt, ob eine konkretere Aussage von Frau S. zur Sondenkostversorgung bezeugbar sei. Die Anfrage wird negativ beantwortet. Damit stößt die Ermittlung des mutmaßlichen Willens der Betreuten zur laufenden Behandlung an eine Grenze. Da auch der aktuelle natürliche Wille von Frau S. nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar ist, teilt die Betreuerin dem jüngeren Sohn mit, dass die Sondenkosternährung seiner Mutter bis auf weiteres fortgeführt wird. c) Verrechtlichung Der jüngere Sohn ersucht nunmehr intensiv und wiederholt bei Ärzten, Gericht und Betreuerin um ein interprofessionell geführtes Gespräch zur Situation seiner 10 Vgl. Oliver Toulmein, Sterbehilfe: Wie mutmaßlich kann ein Wille sein? Beitrag FAZBlog Biopolitik (27. 04. 2010). 11 Die gerichtliche Beurteilung erfolgt im Frühjahr 2009 vor dem Inkrafttreten des sog. „Patientenverfügungsgesetzes“ am 01.09. desselben Jahres.
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Mutter. Das Gespräch kommt nicht zustande, da für die anderen Beteiligten die Angelegenheit als hinreichend geklärt gilt. Dieser Konsens wird durch den jüngeren Sohn vehement in Frage gestellt. Um seinem Anliegen Gehör zu verschaffen, bemüht er nunmehr rechtliche Mittel: Er beauftragt einen bekannten Medizinrechtler mit der Vertretung seiner Interessen. Damit wird die bis dato primär unter ethischen Gesichtspunkten diskutierte Fragestellung der Therapiebegrenzung in die Sphäre der rechtlichen Auseinandersetzung verlagert. Die Suche nach einer Problemlösung erfährt damit eine grundlegende Veränderung. Allgemein gesprochen schützt das Recht als Inbegriff sanktionsfähiger Normen zur Strukturierung intersubjektiver und intersozialer Praxis die Freiheitsspielräume von Personen. Es bestimmt die jeweiligen Grenzen des äußeren Handelns und Unterlassens. Die Normeinhaltung kann hier von den Akteuren mit Blick auf die Vereinbarkeit ihrer Handlungen mit den Freiräumen Anderer nötigenfalls auch unter Zwang verlangt werden. Im vorliegenden Fall zielt die rechtliche Konsultation auf die Überprüfung der Legitimität einer medizinischen Intervention als Handlung, die in die körperliche Integrität der Patientin eingreift. In rechtlicher Perspektive stellt sich die vom jüngeren Sohn aufgeworfene Fragestellung primär als Problem der Weite des Handlungsspielraumes der Behandler bzw. als Weite des Schutzraumes der Behandelten dar. Im Auftrag des jüngeren Sohnes verfolgt der Rechtsanwalt dessen Anliegen, die Ernährungstherapie von Frau S. zu beenden. Von den beiden Säulen der Rechtfertigung einer medizinischen Behandlung: Indikation und Patientenwille12 wurde die Willensdimension durch die Betreuerin ergebnislos überprüft. Die Sondenkostversorgung wird aktuell ausschließlich auf der Basis der Indikation der behandelnden Ärzte von Frau S. durchgeführt. Hierauf konzentriert sich der Medizinrechtler und macht Zweifel an der Indikation für den Einsatz der PEJ-Sonde geltend. Er betont, dass primär die Frage nach der Indikation für eine lebensverlängernde Maßnahme zu stellen sei, ehe man den Willen der Patientin thematisiert. Die Indikation sei bislang in keiner Weise überprüft worden. Der Anwalt macht ferner geltend, dass die derzeitige Behandlung eine Körperverletzung darstelle, falls sie nicht indiziert oder von der Patientin nicht gewünscht oder gar beides sei. Der Indikationsbegriff wird damit zum zentralen Referenzpunkt der Beurteilung. Ferner verweist der Anwalt auf mögliche rechtliche Sanktionen gegenüber den für die Behandlung von Frau S. verantwortlichen Personen. Auch die Betreuerin hat inzwischen eine Rechtsanwältin beauftragt. Diese trägt die Indikationsfrage unter dem Hinweis auf den möglichen strafrechtlichen Aspekt noch einmal an die behandelnden Ärzte heran. Hausarzt und Psychiater zeigen sich diesbezüglich nun deutlich verunsichert und verweisen zur Indikationsstellung zunächst an die Ärzte der PEG- und PEJ-anlegenden Klinik. Diese verweisen die Angelegenheit zurück mit dem Hinweis auf die fehlende Aktualität ihrer damaligen Behandlungsempfehlung. Schließlich äußert sich der Hausarzt von Frau S. nach 12 Vgl. „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 7, 18. Februar 2011, Präambel, S. A 346.
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Rücksprache mit dem Neurologen noch einmal schriftlich zur Indikation und macht geltend, dass das Therapieziel der PEG in der Sicherstellung der vitalen Funktionen und der Vermeidung einer Aspirationspneumonie bestehe. Eine Entfernung der Sonde würde unweigerlich zum Tod einer über Jahre hinweg stabilen Patientin führen.13 Diese Position wird durch den Medizinrechtler grundlegend in Frage gestellt. Er bekräftigt seine und seines Mandanten Zweifel an der Validität der Indikation der PEJ-Sonde. Er hält der Stellungnahme des Hausarztes/ Psychiaters vor, die Lebenserhaltung per se zum Therapieziel zu machen und die Indikation am Diktat des Machbaren auszurichten. Hausarzt und Psychiater halten dagegen, dass ihre Indikation nicht auf eine Lebenserhaltung um jeden Preis ziele, sondern implizit Bezug nähme auf die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung aus dem Jahr 2004. Die behandelnden Ärzte verweisen ferner darauf, dass nach ihrer Auffassung der Zustand von Frau S. noch längere Zeit stabil erhalten werden könne und ihre anhaltende Bewusstseinsbeeinträchtigung allein den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen nicht rechtfertige.14 Der Medizinrechtler hält allerdings an seinen Zweifeln fest und schlägt als Problemlösung vor, einen unabhängigen Sachverständigen zur Klärung der Indikationsfrage heranzuziehen. Ein engagierter Palliativmediziner erklärt sich bereit, als Sachverständiger Stellung zu nehmen.
II. Indikation: Nutzen und (Nicht-)Schaden Darüber, dass die Indikation von grundlegender Bedeutung in der Methodik des medizinischen Handelns ist, herrscht in der Fachliteratur Einigkeit: Sie ist „sowohl der Diagnostik als auch der Therapie in allen ihren Spielarten (einschließlich Prävention, Rehabilitation und Pflege und anderen Handlungsschritten wie z. B. der Prognoseerarbeitung) vorgeschaltet.“15 „Weder diagnostische noch therapeutische Maßnahmen [dürfen] begonnen werden, ohne dass zuvor eine Indikation dazu gestellt wurde. Nicht-indizierte oder sogar kontraindizierte Maßnahmen scheiden von vornherein aus dem Bereich rationaler, verantwortungsvoller Medizin aus.“16 Be13 Der hier zur Orientierung dienende Grundsatz der Bundesärztekammer 2004, Abschnitt III lautet wie folgt: „Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen (apallisches Syndrom; auch so genanntes Wachkoma) haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Lebenserhaltende Therapie einschließlich – ggf. künstlicher – Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten.“ Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (Fn. 5), A-1298 / B-1076 / C-1040: Was für Patienten mit apallischem Syndrom gilt, gilt a fortiori auch für Patienten mit weniger schweren zerebralen Schädigungen. 14 Vgl. Ibid. 15 Heiner Raspe, „Ethische Aspekte der Indikation“, in: Richard Toeller/ Urban Wiesing, Wissen – Handeln – Ethik. Strukturen ärztlichen Handelns, Stuttgart u. a.: Gustav-Fischer-Verlag, 1995, S. 21. 16 Gerald Neitzke, „Unterscheidung zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation. Eine ethische Analyse der Indikationsstellung“, in: Ralf Charbonnier u. a., Medizinische Indikation und Patientenwille, Stuttgart: Schattauer, 2008, S. 53 – 66, hier S. 53.
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stünde keine Indikation zur Sondenkosternährung bei Frau S., so würde derzeit eine sofort einzustellende Fehlbehandlung erfolgen. Mit dem juristischen Rekurs auf die Indikation zielt der Anwalt des jüngeren Sohnes der Patientin darauf, dass Behandlungsentscheidungen auf eine „objektive“, rein auf medizinisch-wissenschaftliche Tatsachen bezogene Basis gestellt werden können, eine Basis, „die von normativen Faktoren bereinigt“ ist.17 Die Indikationsstellung wäre so als naturwissenschaftlich begründetes Verfahren zu verstehen, das durch Erkenntnis kausaler Gesetzmäßigkeiten eindeutige Beurteilungskriterien für medizinische Problemlagen zur Verfügung stellen und sichere Prämissen für Behandlungsempfehlungen abgeben kann. Demgegenüber weisen medizintheoretische Arbeiten immer wieder darauf hin, dass ein normativ neutraler Indikationsbegriff nicht nur zu kurz greift, sondern dass sich vielmehr die Indikationsstellung „niemals und nirgendwo ohne vielfältige Rekurse auf Werte und Normen etablieren“ lässt.18 Gerald Neitzke plädiert daher dafür, „innerhalb der Indikationsstellung eine „medizinische Indikation“ von einer „ärztlichen Indikation“ zu unterscheiden19: Der Begriff der „medizinischen Indikation“ deckt die naturwissenschaftliche Seite der Indikationsstellung ab. Sie stützt sich auf empirische, finale und kausale Begründungen.20 Die ärztliche Indikation führt über die medizinische insofern hinaus, als sie diese mit der individuellen gesundheitlichen Situation von Patient_innen in Beziehung setzt. Dabei werden Faktoren wie z. B. Alter, aktuelle und künftige Lebensqualität, Komorbiditäten, Risiken und Belastungen, die allgemeine Lebenshaltung und psychosoziale Situation der Patient_innen und die daraus abgeleitete individuelle Prognose mit und ohne Therapie in die Indikationsstellung einbezogen.21 Eben diese notwendige Konkretisierung und Personalisierung der Indikation ist es, 17 A. Kunschner, „Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl als Rechtsproblem“, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 87 (1993), S. 559 – 566. Zitiert nach Heiner Raspe (Fn. 16), S. 22. 18 Vgl. dazu Felix Anschütz, Ärztliches Handeln, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987, S. 63 ff., vgl. ferner: Heiner Raspe, Ibid. 19 Gerald Neitzke (Fn. 16). 20 Im Rahmen der medizinischen Indikation werden die relevanten medizinischen Daten in Anamnese und Diagnostik erhoben, Behandlungsziele (wie Leben erhalten, Gesundheit schützen / wiederherstellen, Leiden lindern, Sterbende bis zum Tod begleiten) und klinisch kontrollierte Daten der evidence-based-medicine einbezogen. Vgl. Gerald Neitzke (Fn. 16), S. 55 – 56. 21 Vgl. Ibid, S. 58.: „Die Indikation als medizinische und ärztliche zielt auf das fachlich bestmögliche und individuell angemessene Therapieangebot. Als solches ist es Ausdruck ärztlicher Fürsorge […] und drückt das Patientenwohl aus, wie es sich aus Sicht des Arztes darstellt. Erst in einem späteren Schritt erfolgt die informierte Zustimmung oder Ablehnung des Patienten, durch die er den Patientenwillen zum Ausdruck bringt. Die ärztliche Indikation ist also keinesfalls der Versuch, eine Spekulation über den Patientenwillen quasi im Vorhinein vorzunehmen, sondern Ausdruck des Respekts vor der Gesamtpersönlichkeit des Patienten, wie sie sich nach Anamnese und Wertanamnese für den Arzt darstellt. Das Therapieangebot orientiert sich an der gesamten Persönlichkeit, kann aber, – wie jedes wohlmeinende Angebot – durch den Willen des Patienten abgelehnt werden.“
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durch die, wie Felix Anschütz es ausdrückt, „in den zwanghaften naturwissenschaftlich-logischen Gedankengang von Anamnese, Befund, Diagnose und Therapie ethische Gedankengänge eingebracht werden können.“22 So verstanden wäre die Medizin „keine reine Naturerkenntnis, sondern auch und gerade Handlungswissenschaft“.23 Auch die Sachverständigenbeurteilung zur Indikation der PEJ-Versorgung bei Frau S. stützt sich auf die genannte Doppelbestimmung: anamnestisch-deskriptiv erreicht sie in einer ‚medizinischen‘ Perspektive eine hohe Übereinstimmung mit der bisherigen ärztlichen und pflegerischen Expertise. Zusätzlich bestätigt sie mit Hilfe eines Mini-Mental-Status-Tests den Schwerstgrad einer Alzheimer-Demenz. Unter Heranziehung der Schmerzdokumentation der Pflege und dem Einsatz eines standardisierten Verfahrens der Schmerzbeurteilung bei Demenz attestiert der Sachverständige der Patientin ein relativ starkes Schmerzempfinden. Im Rahmen einer ‚ärztlichen‘ Beurteilung macht er geltend, dass sich Frau S. im Terminalstadium ihrer Erkrankung befindet. Die Aussicht auf Besserung der Erkrankung wird verneint; im Rekurs auf evidenzbasierte Leitlinien24 wird prognostisch festgehalten, dass die Lebenszeit von Frau S., unabhängig davon, ob eine Sondenkostgabe erfolgt oder nicht, ohnehin auf eine minimale Zeit begrenzt ist. In Bezug auf die PEJ-Versorgung wird bei weiterhin auftretendem Erbrechen der Patientin das erhöhte Risiko einer Aspirationspneumonie gesehen. In die ärztliche Beurteilung werden weitere Elemente einbezogen: Die Argumentation stützt sich auf die von von T. L. Beauchamp und J. F. Childress formulierten Prinzipien biomedizinischer Ethik.25 Diese bestimmen neben dem Respekt vor der Patient_innenautonomie das Nicht-Schadensprinzip, das Prinzip, zum Nutzen von Patient_innen zu handeln und das Prinzip der Gerechtigkeit als grundlegende ethische Normen für die Praxis in Gesundheitsberufen. Indem nun die gutachterliche Beurteilung diese Prinzipien in Anspruch nimmt, nimmt sie eindeutig auf normative Fragestellungen Bezug. Deren Beantwortung wird allerdings innerhalb des gegebenen Beurteilungssettings exklusiv der fachlichen Zuständigkeit des Arztes überantwortet: das Gutachten hebt hervor, dass der Arzt dem Patienten oder Stellvertreter einen Eingriff gar nicht vorschlagen dürfe, wenn er davon ausgehen müsse, dass der Schaden der Behandlung den Nutzen eindeutig überwiege. Die Frage der Selbstbestimmung des Patienten falle dabei gar nicht ins Gewicht. Hervorgehoben wird damit die Unabhängigkeit der Indikationsstellung vom Patient_innenwillen. Zugleich wird die Entscheidung über die Sinnhaftigkeit von Behandlungsoptionen allein in das Ermessen des einzelnen Arztes gelegt. Differenzen zur Beurteilung anderer Ärzte werden als Problemstellungen definiert, die primär im 22 Felix Anschütz, Indikation zum ärztlichen Handeln: Lehre, Diagnostik, Therapie, Ethik, Berlin u. a.: Springer 1982, S. 3, S. 178, Hervorhebung K. M. 23 Heiner Raspe (Fn. 16), S. 21. 24 Etwa der Leitlinie Parenterale Ernährung der DGEM (Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin). 25 Vgl. oben Fn. 3.
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medizinisch-fachlichen Diskurs zu lösen sind: Der Argumentation des Hausarztes begegnet die Sachverständigenexpertise im Rückgriff auf ausgewählte Fachliteratur.26 Die zuvor angegebene Therapiezielbestimmung für den PEJ-Einsatz wird mit Hinweis auf Studien revidiert, die eine Erhöhung des Aspriationsrisikos bei PEGversorgten Demenzpatient_innen nachzuweisen beanspruchen. In vergleichbarer Weise wird der Sinn der Zielsetzung der Lebenserhaltung in Frage gestellt: Bei einer Patientin mit Schluckstörung bei fortgeschrittener Demenz sei bereits ein Terminalstadium der Erkrankung erreicht. Im Terminalstadium aber stelle die künstliche Ernährung für Patient_innen eine Belastung dar. Zugleich könnten Hunger- und Durstempfindungen auch unabhängig von konkreter Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr gelindert werden. Die Expertise hebt ferner auf den Stellenwert der PEJ-Versorgung für den Umfang der Lebensqualität ab: Da mit der Sondenkostgabe in der Regel eine Verminderung der pflegerischen Zuwendung einhergehe und auch das orale Geschmackserleben verloren gehe, schränke die PEJ die Lebensqualität der Patientin deutlich ein, ohne auf der anderen Seite eine konstruktive Therapieoption zu bieten. Resumierend kommt die Sachverständigenexpertise im Rückgang auf eine individuelle Nutzen-Schaden-Evaluation27 zu dem Ergebnis, dass wegen des fehlenden Potentials zur Leidensminderung bei gleichzeitig hohem Schadenspotential durch die Sondenernährung davon auszugehen sei, dass Frau S. von der Fortführung der Maßnahme in keiner Weise profitiere. Eine Indikation für die Fortführung der Sondenkostversorgung wird insofern eindeutig verneint. Aus diesem Ergebnis folgt in medizinrechtlicher Perspektive eine eindeutige Handlungsoption: Der begutachtende Sachverständige hat die Nicht-Indiziertheit der Sondenkostversorgung von Frau S. ausführlich medizinisch begründet. Damit ist nachgewiesen, dass die Voraussetzungen für eine Ernährungstherapie nicht erfüllt sind. Die Behandlung ist insofern sofort einzustellen. Eine weitere Behandlung der Patientin stellt eine Körperverletzung dar, die strafrechtlich zu ahnden ist. Die Betreuerin ist somit rechtlich verpflichtet, den Hausarzt (ggf. unter Übermittlung des Indikationsgutachtens) umgehend zum Abbruch der Therapie aufzufordern, wobei der Hausarzt umgehend dieser Aufforderung Folge zu leisten hat. Die Betreuerin zögert: Im vorliegenden Fall stehen ärztliche Einschätzungen des Behandlungsrisikos einander diametral gegenüber. Wenn auch der Gutachter in seiner Rolle besondere Sachkompetenz beansprucht, bleibt doch Meinung gegen 26 Z. B. mit Verweis auf die Darstellung von Matthis Synofzik. „Verhungern und Verdursten lassen? Sondenernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz“, die auch eine Reihe einschlägiger Literaturreferenzen benennt: Internetlink: http://www.stmas.bayern.de/imperia/ md/content/stmas/stmas_internet/pflege/dokumentation/ftiw-synofzik.pdf, Stand Mai 2013. 27 Nutzen-Schadens-Evaluationen werden als generelle Methodik vorgeschlagen im Konzept des allgemeinen, krankheitsübergreifenden Entscheidungsalgorithmus von Matthis Synofzik, Georg Marckmann, „Perkutane endoskopische Gastrotomie. Ernährung bis zuletzt?“, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, Heft 49, 7. Dezember 2007, S. A 3390: Nutzen > Schaden: PEG anbieten und empfehlen, Nutzen ≈ Schaden: PEG anbieten und offen lassen; Nutzen < Schaden: PEG anbieten und abraten; kein Nutzen: PEG nicht anbieten.
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Meinung stehen. Die Evidenzbasierung für die Indikation enteraler Ernährung wird in der Fachliteratur überaus kontrovers diskutiert.28 Die Wohlergehens-Leidens-Bilanz im Rahmen der Behandlung wird von den beteiligten Professionen und Angehörigen ausgesprochen unterschiedlich eingeschätzt. Auch wird seitens der Pflege geltend gemacht, dass das mögliche Schmerzempfinden der Betroffenen durch eine verbesserte Abstimmung der Schmerztherapie gelindert werden könne. Der Betreuerin erscheint die Nutzen-Schadens-Bilanzierung nicht die einzige ethische Orientierung zur Fallbeurteilung zu sein: Ihr ist angelegen, auch die Möglichkeit einer Funktionalisierung der Therapiebegrenzungsfrage zu thematisieren: Stehen neben den medizinischen und medizinethischen Aspekten ggf. auch spezifische Konflikte und Durchsetzungsinteressen z. B. der der Angehörigen zur Disposition? Ein Forum zur Artikulation derartiger Bedenken steht nicht zur Verfügung. Diskussionen unter den Protagonist_innen finden nicht statt. Der Medizinrechtler droht der Betreuerin wegen der Verzögerung unter Aufbietung entsprechender rhetorischer Mittel mit einer sofortigen Strafanzeige, wenn sie nicht ihre Einwilligung in die Ernährungstherapie widerruft. Die Betreuerin stellt nun ihrerseits ressourcenorientierte Überlegungen an: Bevor sie ihrerseits ein Zweitgutachten in Auftrag geben könnte, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Strafanzeige des Anwaltes erfolgen. Die Durchführung eines langwierigen Strafverfahrens könnte – selbst bei einem für sie günstigen Ausgang – mit einiger Wahrscheinlichkeit das Ende ihrer eigenen beruflichen Existenz und damit die Entlassung der von ihr angestellten Mitarbeiterinnen bedeuten. Auf der Grundlage derartiger Erwägungen übermittelt sie das Gutachten schließlich dem Hausarzt mit der Bitte um Einstellung der bei Frau S. durchgeführten Ernährungstherapie. Unter dem Eindruck der Schriftstücke zieht der Hausarzt die Verordnung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr kommentarlos zurück. Frau S. wird palliativ versorgt. Die Mitarbeiterinnen der Pflege artikulieren deutliche Bedenken bezüglich der getroffenen Entscheidung. Der ältere Sohn von Frau S. entfaltet umfassende Aktivitäten, um auf dem Rechtsweg die Wiederaufnahme der Sondenkostversorgung zu erwirken. Das Zeitfenster ist allerdings knapp bemessen: Nach wenigen Tagen verstirbt die Patientin im Pflegeheim. Die Heimlei28 Vgl. z. B. Margret M. Cicirella, „Dying with Dignity. The Case against Nutrition and Hydration“, in: S. G. Post (Hrsg.), The Moral Challenge of Alzheimer Disease, Baltimore: The John Hopkins University Press, 2000, S. 96 – 109, Jan Wojnar, „Verwirrtheit/ Demenz“, in: J. Student (Hrsg.), Sterben, Tod und Trauer, Freiburg: Herder-Verlag, 2004, Seite 242 – 249, Eduard Rappold / Harald G. Kratochivla, „Aspekte der künstlichen Ernährung bei demenzkranken Patienten in der Geriatrie“, in: Ethik in der Medizin, Nr. 16, 2004, S. 253 – 264. In Bezug auf den medizinischen Sinn von Sondenkosternährung weist ein noch gebräuchliches, umfangreiches Standardwerk auf das Folgende hin: „Es wird deutlich, dass die Datenlage derzeit nicht ausreicht, um die wichtigsten Fragen zum medizinischen Nutzen der Sondenkosternährung qualifiziert zu beurteilen.“ Arved Weimann u. a.: Ernährungs- und Infusionstherapie: Standards für Klinik, Intensivstation und Ambulanz, Stuttgart: Georg-ThiemeVerlag, 2003. Vgl. ferner: ESPEN-Leitlinien Enterale Ernährung – Zusammenfassung, www. dgem.de/material/…
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tung berichtet, dass Frau S. den Sterbeprozess unter großer Anspannung durchlaufen habe. Etwa eine halbe Stunde nach ihrem Tod seien ihre Söhne im Sterbezimmer aufeinandergetroffen. Am Bett der Verstorbenen sei es zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen. Nach Ableben der Betroffenen richtet der Anwalt des jüngeren Sohnes eine dringende Empfehlung an das zuständige Amtsgericht, der (nunmehr ehemaligen) Betreuerin von Frau S. keinerlei Betreuungsmandate mehr zu übertragen, da sie nicht unmittelbar nach Bekanntgabe des Gutachtens die Behandlungszustimmung widerrufen habe. Das Gericht übermittelt der Betreuerin eine informelle Solidaritätsadresse … 1. Willensunabhängige Therapieentscheidungen und Grundrechtsschutz In der Rekapitulation stellt sich die rechtliche Bedeutung der Beurteilung der Indikation wie folgt dar: Mit seinem Ergebnis erhebt die Indikationsexpertise den Anspruch, aus objektiven Gründen eine Therapiebegrenzung zu rechtfertigen.29 Der Wille der Patientin bleibt dabei außen vor: er kann keinen Anspruch auf eine nichtindizierte Behandlung begründen. Das Indikationsgutachten nimmt zugleich Bezug auf ethische Aspekte, wie sie in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung geltend gemacht werden: „Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, weil die Krankheit weit fortgeschritten ist, kann eine Änderung des Therapiezieles indiziert sein, wenn lebenserhaltende Maßnahmen das Leiden nur verlängern würden …30 Dieser Grundsatz stellt die Erforderlichkeit der Begrenzung einer „Übertherapie“31 in den Vordergrund. Im Rahmen der gegenwärtigen medizintechnischen Entwicklung ist eine Lebenserhaltung selbst bei schwersten und weitest fortgeschrittenen Erkrankungen in der Regel auch über längere Zeiträume möglich. Das Sterben wird damit aus dem Bereich des Unverfügbaren herausgehoben und in die Sphäre menschlicher Praxis eingestellt. Zugleich werden die Grenzen zwischen einem natürlichen Sterbeprozess und einer artifiziellen Lebensverlängerung fließend: Wann genau beginnt die Terminalphase für eine Patientin, die ohne medizintechnische Versorgung bereits verstorben wäre? Allerdings ist geltend zu machen, dass der ärztlichen Erkenntnis eine prognostische Bestimmung des Beginns oder unmittelba29 Zur Analyse der rechtlichen und ethischen Dimension des Indikationsbegriffs vgl. Tina Möller, Die medizinische Indikation lebenserhaltender Maßnahmen, Baden-Baden: Nomos, 2010, S. 25 und 55 ff. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die oben in Abschnitt III durchgeführte Argumentation der Arbeit von Frau Möller wertvolle Anregungen verdankt. 30 „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ (Fn. 5). S. A 1298. 31 Vgl. hierzu: V. Lipp / D. Brauer, „Behandlungsbegrenzung und ‚Futility‘ aus rechtlicher Sicht“, in: Palliativmedizin 2013, 14 (03), S. 121 – 126.
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ren Bevorstehens der Sterbephase nicht mit hinreichender naturwissenschaftlicher Präzision möglich ist. Entsprechend gehen die Meinungen erheblich auseinander. 32 Auch bei Frau S. bestimmen die konsultierten Ärzte das Vorliegen einer ‚Terminalphase‘ höchst unterschiedlich: Die Grenzbestimmung zur Sterbephase erfolgt offenbar nicht auf der Grundlage objektivierbarer, intersubjektiv in gleicher Weise erhebbarer und reproduzierbarer Daten, sondern auf der Grundlage einer jeweils individuellen Situationsbeurteilung. Wird aber eine derartige Situationsbeurteilung zur Basis einer Behandlungsentscheidung, so erscheint diese letztlich nicht hinreichend ‚objektiv‘ und damit nicht zureichend begründbar.33 Insofern kann allgemein wie auch im Fall der Frau S. sowohl in Bezug auf die Beurteilung der behandelnden Ärzte als auch in Bezug auf die Sachverständigenexpertise festgehalten werden, dass die Indikation oder Nicht-Indikation der zur Disposition stehenden Maßnahme keine wissenschaftlich-objektiv gesicherte Aussage darstellt, sondern ein Werturteil impliziert.34 Generalisierend lässt sich sogar geltend machen: „Warum ein sich dem Ende zuneigendes Leben nicht mehr verlängert werden sollte, ist [rein K. M.] medizinisch nicht zu erklären.“35 Das Indikationsgutachten bringt den Rekurs auf die Terminalphase in einen Zusammenhang mit Überlegungen zur Aussichtslosigkeit der Behandlung und Aspekten der Lebensqualität. Geltend gemacht wird, dass sich die Grunderkrankungen der Patientin weder aktuell noch prognostisch durch die Sondenkostversorgung bessern oder lindern lassen. Die Lebensqualität von Frau S. werde durch die Maßnahme weder erhalten noch günstig beeinflusst. Im Gegenteil werde durch das Aspirationsrisiko auch das Leidensrisiko deutlich erhöht. Unter Umsetzung der medizinethischen Maximen der Fürsorge und Schadensvermeidung in eine NutzenSchaden-Kalkulation verneint die gutachterliche Beurteilung die Erfolgschance der Behandlung und damit deren Indikation. Die Argumentation folgt dabei explizit Matthies Synofzik und Georg Marckmann in der Auffassung: „Eine jede Maßnahme ist in jedem Lebensstadium allein durch einen Nettonutzen für den Patienten 32 Vgl. Birgitt van Oorschot u. a., „Einstellungen zur Sterbehilfe und Patientenverfügungen. Ergebnisse einer Befragung von 727 Ärzten“, in: Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift (DMW), 130, 2005, S. 261 – 265. „Sterbephase. In den bisherigen juristischen, ethischen und medizinischen Diskussionen kommt der Sterbephase eine besondere Bedeutung zu, da in dieser Situation jede medizinische Indikation für lebensverlängernde Maßnahmen wegfällt […] Die doch insgesamt breite Antwortpalette der befragten Ärzte und auch die der Betreuungsrichter in der Parallelbefragung […] zeigt, dass die zeitliche Eingrenzung der Sterbephase auf die Agonie zwar der Mehrheit, aber nicht der Vorstellung aller Befragten entspricht. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass eine klare Prognose oftmals schwierig ist.“ Ibid S. 264. Vgl. ferner Alfred Simon u. a., „Einstellungen deutscher Vormundschaftsrichterinnen und –richter zu medizinischen Entscheidungen und Maßnahmen am Lebensende“, in: Medizinrecht (MedR) 2004, Heft 6, S. 303 – 307. 33 Vgl. hierzu Birgitt van Oorschot u. a., Ibid., S. 264: „Aussagen zum Beginn der Sterbephase sollten für das Behandlungsangebot des Arztes nicht entscheidend sein.“ 34 Vgl. Tina Möller (Fn. 30), S. 38. 35 Ibid.
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und seine Präferenzen zu rechtfertigen.“36 Das Konzept des Nettonutzens wird dabei eng mit dem Konzept der Lebensqualität verknüpft: Was Lebensqualität erhöht, nutzt, was Lebensqualität mindert, schadet. Die normative Empfehlung zur Orientierung an dieser dezidiert ethischen, näherhin utilitaristischen Überlegung erfolgt vor dem Hintergrund einer Sorge darüber, dass die technischen Möglichkeiten moderner Medizin nicht nur das Leben sondern auch das Sterben verlängern und damit die einzelne Patientin einer erheblichen Leidenszumutung auszusetzen.37 Auf die Unzumutbarkeit einer ausgleichslosen Leidenszumutung stützt sich auch die Frau S. betreffende Stellungnahme zur Beurteilung der PEG-Indikation. Allerdings erscheint ebenso wie die Bestimmung des Eintritts der Terminalphase auch die Beurteilung des Behandlungsnutzens nach Maßgabe der Lebensqualität letztlich nicht objektivierbar: Studien zeigen, dass auch hier die Auffassungen darüber, welche Faktoren die Lebensqualität von Patient_innen ausmachen, weit auseinanderzugehen.38 Das aber bedeutet: Sofern Kosten-Nutzen-Bilanzierungen Lebensqualitätsbestimmungen einbeziehen, importieren sie zugleich die diesem Konzept innewohnende Subjektivität. Eine entsprechend basierte Beurteilung kann insofern keinen Anspruch auf objektive Geltung erheben: „In der Regel dürfte es sich bei derartigen Urteilen überwiegend um individuelle kasuistische Lagebeurteilungen handeln, bei der das Leiden betroffener Patienten vor dem empirischen Hintergrund vergleichbarer vorangegangener Fälle eine Rolle spielt. Die subjektive Einschätzung des Arztes kann aus dieser Beurteilung nicht eliminiert werden, sie ist Teil der gegebenen Situationsbeschreibung.“39 Die ärztliche Beurteilung kann somit stets nur relative Geltung beanspruchen. Objektivierbar sind Kosten-Nutzen-Kalküle allerdings im Hinblick auf quantitative Bestimmungen. Gerade in dieser Hinsicht lässt sich die Indikationsbeurteilung tendenziell für die Berücksichtigung patientenexterner Faktoren bei der Behandlungsentscheidung öffnen: Auch wenn sich die Bundesärztekammer dezidiert dagegen ausspricht40, mögen in concreto angesichts einer zunehmenden Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen durchaus wirtschaftliche Erwägungen in Indikationsstellungen Berücksichtigung finden. Denn prinzipiell ist die Einstellung der Behandlung von Patient_innen ohne Erfolgsaussicht geeignet, Kapazitäten für erfolgversprechende Behandlungen anderer freizusetzen. Das entspreMatthies Synofzik, Georg Marckmann (Fn. 28), A-3390. Vgl. Nationaler Ethikrat, Stellungnahme zur Sterbebegleitung vom 15. 07. 2006. 38 Vgl. Tina Möller, Fn. 30, S. 41. Vgl. ferner eine Sequenz im Rahmen einer Reihe von Interviews von Medizinern zur Frage der Therapiebegrenzung in Stella Reiter-Theil u. a.: „Wo steht die Ethik in der Onkologie heute?“, in: Der Onkologe 2003 (19), S. 153 ff: „Wann es gerechtfertigt ist, eine Therapie zu begrenzen, ist natürlich Geschmackssache … man kann es so und so begründen sicherlich oftmals, es gibt keine Regeln und Vorschriften, wann man etwas macht und wann nicht.“ Vgl. auch Schuhmacher u. a.: „Diagnostik von Lebensqualität und Wohlbefinden. – Eine Einführung“, in: Schumacher u. a. (Hrsg.) Diagnostische Verfahren von Lebensqualität und Wohlbefinden, Göttingen: Hogrefe, 2003. 39 A.W. Bauer, „Die Futiliy-Debatte in der Onkologie. Ein ethisches und rechtliches Problem“, in: Der Onkologe 2003 (9), S. 1325 ff., hier: S. 1326). 40 „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ (Fn. 5), S. A 346. 36 37
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chende Kosten-Nutzen-Kalkül wäre dann objektivierbar im Hinblick auf den Gesamtnutzen bei der Allokation von Ressourcen. Erwägungen dieser Art könnten im Rahmen der zu erwartenden demographischen Entwicklung in Zukunft vor allem die Gruppe von Patienten treffen, die bereits heute in der Literatur charakterisiert werden als „final Demenzerkrankte (irreversibel, immobil, kommunikationsunfähig, vollständig pflegeabhängig, mangelnde körperliche Reserven).41 Im Kontext dieser kritischen Betrachtung des Indikationsbegriffs wird deutlich, dass sich für den Bereich der willensunabhängigen Therapieentscheidungen die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Recht noch einmal genauer stellt: Der Medizinrechtler hatte im Fall von Frau S. unter Zugrundelegung der wissenschaftlichen Objektivität des Indikationsgutachtens die rechtliche Durchsetzung einer Therapiebegrenzung zur Abwehr einer ärztlichen Fehlbehandlung und eines damit verbundenen Eingriffs in die körperliche Integrität der Patientin geltend gemacht. Ist aber die Indikationsbestimmung beispielsweise im Bereich der Sondenkostversorgung keine rein wissenschaftlich begründete Sachbeurteilung, sondern auch vom normativen Vorverständnis und von persönlichen Werthorizonten der jeweils Beurteilenden abhängig, so ist ihr ein gewisser Grad an Arbitrarität nicht abzusprechen. Indem sich nun das Recht auf ärztliche Expertisen stützt, – ohne Thematisierung bzw. unter Inkaufnahme der damit verbundenen Arbitrarität – dann ermöglicht die Indikationsbestimmung nicht zuletzt eine rechtlich-praktische Durchsetzung partikularer Weltanschauungen. Dies gilt a fortiori auch für indikationsbasierte Therapiedurchführungs– oder Therapiebegrenzungsentscheidungen. Eine derartige Möglichkeit erscheint allerdings sowohl ethisch als auch in Bezug auf die Wahrung von Grundrechten durchaus problematisch: Behandlungsentscheidungen, die auf der Grundlage von persönlichen Werthorizonten der jeweils Entscheidenden getroffen werden, Behandlungsentscheidungen, in denen individuelle Vorstellungen der entscheidenden Person im Hinblick auf die Präferenzen der Betroffenen zum Tragen kommen, sind stets als ethisch subjektivistisch und relativistisch zurückweisbar. Dem entgegenzusetzen wären Forderungen nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit der Handlungsgrundsätze und Entscheidungsprozesse. Entsprechend nachdrücklich würden solche Forderungen zu stellen sein, wenn die Entscheidung über ein so hohes Schutzgut wie das menschliche Leben den Abwägungsverfahren eines individuellen Arztes oder einer individuellen Ärztin überantwortet wird. 2. Indikationsproblem und Gleichheitsgrundsatz Bei der Bestimmung willensunabhängiger Behandlungsentscheidungen gewinnt die Indikationsproblematik zugleich eine verfassungsrechtliche Dimension: Grund41 Volkert u. a., Leitlinie enterale Ernährung der DGEM und DGG – Enterale Ernährung (Trink- und Sondennahrung) in der Geriatrie und geriatrisch-neurologischen Rehabilitation. Berlin 2004, 29:198 – 225.
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gesetzlich festgeschrieben ist unter Bezugnahme auf die Unabwägbarkeit der Menschenwürde die Bindung staatlichen Handelns an bestimmte Grundrechte als Bedingungen der Wahrung dieser Würde. Zu diesen Bedingungen gehören die Wahrung der Handlungsfreiheit der Person sowie der Schutz ihres Lebens und ihrer körperlichen Integrität ebenso wie das Verbot der Ungleichbehandlung Gleicher, etwa der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. In Grundrechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. Ungleichbehandlungen lassen sich nur unter Angabe nachvollziehbarer objektiver Gründe rechtfertigen.42 Mit den starken normativen Forderungen des Grundgesetzes erscheint die Abwägung von Qualität und Wert eines Lebens durch einen individuellen indikationsstellenden Mediziner allerdings wenig kompatibel. Dies gilt vor allem für den Gleichheitsgrundsatz43: Ist nämlich, wie im Fall der Frau S., für die Indikationsstellung allein die Sichtweise des Arztes maßgeblich und können bei der ärztlichen Indikation normative und axiologische Orientierungen wie auch persönliche Präferenzen von Arzt zu Arzt differieren, so sind für gleiche Fälle höchst unterschiedliche Beurteilungen zu erwarten. Zeitigen diese Beurteilungen aber justiziable praktische Konsequenzen bezüglich der Begrenzung oder des Abbruchs von Maßnahmen, die für Patient_innen von vitaler Bedeutung sind, so entsteht ein Gefälle: Während bestimmten Patient_innen durch ein Behandlungsangebot Lebensschutz gewährt wird, erfahren Patient_innen mit nach Auffassung des Arztes stark beeinträchtigter Lebensqualität bei nicht zu erwartendem Behandlungserfolg diesen Schutz nicht. Aber auch bezogen auf dieselbe Patientin – wie im Fall von Frau S. – wird die Ungleichbehandlung deutlich: ein Arzt bietet ihr eine Behandlung als lebenserhaltend an, die vom anderen Arzt als lebensverlängernd abgelehnt wird. Der Erhalt oder Nicht-Erhalt eines Lebens ist auf diese Weise vom Urteil des jeweiligen Arztes abhängig. Die Norm- und Wertperspektiven ärztlicher Beurteilungen zum Erhalt oder Nichterhalt des Lebens von Betroffenen müssen derzeit weder explizit formuliert und transparent gemacht noch nach einem klaren Kriterienkatalog legitimiert werden. Für eine öffentliche Kontrolle dieser Praxis fehlt die gesetzliche Grundlage. Bezüglich der Schaffung einer entsprechenden Kriteriologie oder einer verbindlichen Form zur Stiftung von Transparenz und Überprüfbarkeit willensunabhängiger Behandlungsentscheidungen besteht derzeit noch Regelungsbedarf. 44
42 Siehe z. B. Kommentar zum Grundgesetz der BRD, 2. Auflage, Bd. I, Art. 1 – 37, Alternativkommentare. Luchterhand, Neuwied 1989. 43 Im sog. „Arbeitslosenhilfeurteil“ vom 17. 11. 1992, Az. 1 BvL 8 / 87, VVerfGE 87, 234 [55] stellte das Bundesverfassungsgericht klar: „Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es, daß eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. […] Die rechtliche Unterscheidung muß also in sachlichen Unterschieden eine ausreichende Stütze finden.“ Zur unmittelbaren Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes außerhalb des öffentlichen Rechtes vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 1980, Az. 1 BvL 50, 89 / 79, 1 BvR 240 / 79, BVerfGE 55, 72 – Präklusion I.
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III. Ethikberatung und Kommunikation Die ärztliche Kompetenz zur adäquaten Situationsbeurteilung im Sinn der angemessenen Einordnung relevanter Phänomene in den Kontext komplexer empirischmedizinischer Taxonomien und medizinischer Praktiken, aber auch das Urteilsvermögen in psychosozialer und ethischer Hinsicht ist vor allem bei erfahrenen Medizinern in der Regel deutlich ausgeprägt. Jedoch liegt der Schwerpunkt ärztlicher Professionalität nach wie vor bei der Beurteilung medizinischer Gesichtspunkte.45 Wenn aber, wie anhand des obigen Beispiels verdeutlicht, auch normative und axiologische Gesichtspunkte in die Fallbeurteilung einfließen, so ist ausdrücklich eben eine ethische Expertise gefragt. Für die Erstellung einer solchen handlungsorientierenden Expertise stehen derzeit zwar medizininterne Normierungen (etwa Empfehlungen der Bundesärztekammer) zur Verfügung. Dabei handelt es sich jedoch, darauf weist z. B. Jochen Taupitz explizit hin, um autonom geschaffene Regeln eines Berufsstandes, die sowohl einem juristischen Verwerfungs- und Nichtbeachtungsvorbehalt als auch einem gesellschaftlichen Akzeptanzvorbehalt unterstehen.46 Eine klare rechtliche Regelung des ärztlichen Auftrags am Lebensende unter Vorgabe einheitlicher und transparenter Entscheidungskriterien ist nach wie vor ein Desiderat. Die Entwicklung solcher Kriterien wäre eine im Rahmen eines öffentlichen Reflexions- und Entscheidungsprozesses zu bewältigende Aufgabe. Der Einzelfall lässt sich zwar niemals vollständig normieren. Seine Situativität und deren Anforderungen an die individuelle Urteilsfähigkeit sind bis zu einem gewissen Grade irreduzibel. Jedoch kann dieser Umstand keinen Verzicht auf eine rechtliche Regelung insgesamt bzw. einen ausschließlichen Verweis auf innerberufsständische Regelungen rechtfertigen, die in Bezug auf Verbindlichkeitsansprüche „schwächere“ Normen sind. Für Lebensanfangsentscheidungen (etwa zum Schwangerschaftsabbruch) 44 Vgl. hier wiederum Tina Möller (Fn. 30). 125. Auch z. B. bei Volker Lipp, Patientenautonomie und Lebensschutz. Zur Diskussion um eine gesetzliche Regelung der „Sterbehilfe“, Göttingen: Universitätsverlag, 2005, wird das Thema nicht mit Bezug auf die Indikationsfrage abgehandelt. 45 Vgl. Winfried Kahlke, „Ethik in der Medizin – ihr Stellenwert in der ärztlichen Ausbildung“, in: Zeitung Medizinische Ausbildung 1994, 11 (1); 2 – 12. 46 Die Frage, wie weit die Ärzteschaft befugt ist, die Inhalte des Heilauftrages zu bestimmen „betrifft nicht zuletzt die Umschreibung des ärztlichen Auftrages am Ende des Lebens, wie sie von Standesorganisationen in Leitlinien, Empfehlungen u. ä. vorgenommen wird. Diese wie auch andere autonom geschaffenen Regeln des Berufsstandes stehen nicht nur unter einem juristischen Verwerfungs- und Nichtbeachtungsvorbehalt, sondern auch unter einem gesellschaftlichen Akzeptanzvorbehalt. Zugleich ist aber die Unsicherheit in der Gesellschaft gewachsen: „Die Gesellschaft“ „weiß“ weithin selbst nicht, welche Erfolge der Medizin sie als „Wohltat“ und welche Fortschritte in den Behandlungsmöglichkeiten sie als „sinnlose Verlängerung von Kranksein und Leiden“ empfinden soll. In dieser Situation erwartet die Gesellschaft Entscheidungshilfe von der Medizin – in Fragen, die sie letztlich aber auch ihrerseits (mit-)beantworten muss, und in einer Geschlossenheit, über die sie selbst nicht verfügt.“ Jochen Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, Gutachten A zum 63. Deutschen Juristentag, München: C.H. Beck-Verlag, 2000, A 25.
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sind gesetzliche Regelungen getroffen, die u. a. eine Beratungspflicht vorsehen. Dies sollte ebenso für Entscheidungen am Lebensende gelten, auch und gerade dann, wenn es sich um willensunabhängige Behandlungsentscheidungen handelt.47 Wie aber kann unterhalb einer gesetzlichen Regelung eine Möglichkeit der Überprüfung und Absicherung derartiger Entscheidungen gewährleistet werden? In klinischen Zusammenhängen hat sich für die Unterstützung zur Entscheidungsfindung bei ethisch komplexen Problemstellungen das klinische Ethikkomitee seit einigen Jahren bereits fest etabliert.48 Neben den institutionengebundenen klinischen Ethikkomitees stehen andere Formen der Ethikberatung, die in außerklinischen Bereichen, etwa in Pflegeheimen, ambulant einsetzbar sind: So kann eine Fall- und Entscheidungsberatung vor Ort durch das Beratungsteam eines Ethikkonsiliardienstes oder durch Einzelberater_innen erfolgen, die Fallbesprechungen mit den Beteiligten organisieren und moderieren. Für beide Formen der Ethikberatung gilt, dass sie für die Beurteilung von medizinischen Handlungsoptionen ein in der Regel interdisziplinär besetztes Forum zur Verfügung stellen kann, in dessen Rahmen gerade die normativen, axiologischen und individuellen Gesichtspunkte von Behandlungsentscheidungen im Durchgang durch einen strukturierten Diskurs zur Sprache gebracht und so der argumentativen Erwägung zugänglich gemacht werden können. Mit einer interdisziplinären Besetzung eröffnet sich die Chance, dieselbe Fragestellung aus unterschiedlichen Perspektiven sowohl in der Sachbeurteilung als auch in der ethischen Beurteilung in den Blick nehmen zu können. Auf diese Weise wird es möglich, neben der medizinischen und ärztlichen Beurteilung auch pflegerische Gesichtspunkte sowohl in ihrer fachlichen als auch in ihrer ethischen Dimension einzubeziehen. Dies gilt unter Einbeziehung von Vertreter_innen der Seelsorge oder der Verwaltung der Institution ebenso für spirituelle und ökonomische Aspekte. Beurteilungen sozialer und emotionaler Momente der Problemstellung können durch Vertreter_innen von sozialen und psychologischen Diensten eingebracht werden. Bei schwierigen rechtlichen Fragestellungen kann die Beteiligung von Jurist_innen sinnvoll sein. Ethiker_innen können als Sachverständige hinzugezogen, Patientenvertreter_innen können mit ihrer Expertise die Betroffenenperspektive repräsentieren.49 Diese Zeichnung eines Idealbildes50 von der Besetzung einer Fall47 … „letztlich ist es aber eine im öffentlichen Entscheidungsprozess zu verhandelnde Frage, wie lange die Möglichkeiten der modernen Medizin zur Lebensverlängerung eingesetzt werden, bzw. umgekehrt: welche Szenarien als ‚aussichtslos‘ gelten sollen. Diese zu klären, wird eine der wichtigsten, gleichzeitig sicherlich aber auch schwierigsten Aufgaben im Bereich der Sterbehilfe sein. Betrachtet man die aktuelle Debatte, so muss festgestellt werden, dass mit der Bewältigung der Problematik größtenteils nicht einmal begonnen wurde. […] Solange die Indikation als medizinische Behandlungsgrenze ausgegeben wird, steht die Entwicklung von abstrakten, öffentliche Anerkennung findenden Entscheidungskriterien, an denen sich der Arzt orientieren kann, in weiter Ferne.“ Tina Möller (Fn. 30), S. 125. 48 Vgl. R. Stutzki u. a., Ethikkonsultation heute – vom Modell zur Praxis, Münster: Lit-Verlag 2011. 49 Vgl. Norbert Steinkamp / Bert Gordijn, Ethik in Klinik und Pflegeeinrichtung. Ein Arbeitsbuch, Neuwied u. a.: Luchterhand, 2005, S. 157 ff.
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konsultation weist einerseits auf die Gestaltung konkreter Möglichkeiten der Repräsentativität und Partizipation in Fragen der Entscheidungsfindung bei ethisch komplexen Problemstellungen hin.51 Zum anderen wird daran die Partikularität deutlich, die im Vergleich das Aufsuchen einer Behandlungsentscheidung durch solitäre Mediziner_innen charakterisiert. Die Konsultation eines Fallkomitees und / oder einer Ethikberatung ist bis dato fakultativ, deren Funktion ist beratend, die Entscheidungshoheit der Mediziner_innen wird durch sie nicht tangiert. Indem eine solche Konsultation jedoch den Prozess der Willensbildung aus der Sphäre des Individuellen heraushebt, trägt sie ganz erheblich zur Transparenz und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung bei. Sie erweitert dabei auch die Optionen traditioneller Hierarchien des Gesundheitswesens, in denen beispielsweise der sachlichen und ethischen Expertise aus dem Pflegebereich vergleichsweise wenig Gewicht beigemessen wird.52 Zugleich kann sie deutlich zur Entlastung der einzelnen Ärzte und Ärztinnen in der konkreten Entscheidungssituation beitragen.53 Zwar sind auch Teamentscheidungen nicht prinzipiell gegen eine Arbitrarität der Entscheidungsgründe gefeit. Jedoch eröffnen diskursive Verfahren Möglichkeiten einer sachlichen und rationalen Auseinandersetzung, in der allgemeine, intersubjektiv nachvollziehbare Gründe für die Wahl von Handlungsoptionen aufgesucht werden können. Eben diese diskursiven Verfahren öffnen die spezifisch ärztliche Ethik als Zuständigkeits- und Kompetenzbereich für Lebensendeentscheidungen in die Richtung einer allgemeineren Ethik im Gesundheitswesen, mit der eine entscheidende Aufwertung von Interdisziplinarität und Kommunikation für das Aufsuchen von Problemlösungen verbunden ist. 1. Chancen konsiliarischer Beratung Aus den voranstehenden Ausführungen lassen sich einige Überlegungen zu Chancen ableiten, welche das Fallkonsil für das Treffen willensunabhängiger Therapieentscheidungen bietet.
50 Ein so umfassend interdisziplinär besetztes Fallkonsil wird in der Praxis im Kontext begrenzter personeller und zeitlicher Ressourcen faktisch kaum zu etablieren sein. Dieses ‚Ideal‘ kann, auch wenn es faktisch nur in den seltensten Fällen erfüllbar ist, dennoch als valide Handlungsorientierung fungieren. 51 Vgl. Norbert Steinkamp / Bert Gordijn (Fn. 50) S. 172. 52 Vgl. Ulrich H. J. Körtner (Fn 6), S. 80 ff. 53 Vgl. Tina Möller (Fn. 30), S. 127: „Vorzüge einer inderdisziplinären Besetzung[:] Auch der Vorschlag, neben Medizinern andere Berufsgruppen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, überzeugt. Die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist wegen der Einbeziehung der Lebensqualität in die Beurteilung des Erfolges keine rein medizinische Entscheidung. Es ist daher kein Grund ersichtlich, warum Entscheidungen am Lebensende allein dem Arzt überlassen werden sollten. …“
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a) Kommunikation Die Einbeziehung eines ethischen Konsils in den Entscheidungsfindungsprozess würde zunächst überhaupt Kommunikationsmöglichkeiten schaffen. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen die vorausgehenden Erörterungen zum Fallbeispiel. Die Stiftung eines Kommunikationszusammenhanges schafft allererst die Basis für eine gemeinsame Deliberation. Diese Basis kann durch eine Moderation in Hinsicht auf die Wahrung von Diskursregeln und ggf. speziellen Methoden der Fallbesprechung entscheidend gestärkt werden. b) Partizipation und Repräsentativität Eine gelingende Kommunikation schafft die Grundlage für den interdisziplinären Austausch einer muliprofessionell bzw. multifunktionell zusammengesetzten Gruppe von Menschen, die in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Hier können Angehörige ebenso zu Wort kommen wie Mitarbeiter_innen des Pflegeund Behandlungsteams oder anderer Professionen. Das ethische Konsil eröffnet damit die Chance einer gleichberechtigten Teilhabe von Personen, die deutlich unterschiedliche privat- oder berufsethische Grundauffassungen repräsentieren, am diskursiven Deliberationsprozess. Durch Partizipation und Repräsentativität kann die zu treffende Entscheidung auf eine solidere Basis gestellt und mit breiterer Unterstützung umgesetzt werden als die ‚einsam‘ getroffene Entscheidung einer Einzelperson. c) Polyperspektivität Im Fallkonsil werden heterogene Normgeltungsansprüche thematisierbar und können argumentativ auf ihre Berechtigung hin überprüft werden. Auf diese Weise eröffnet die konsiliarische Beratung die Chance, eine rationale, intersubjektiv nachvollziehbare Bestimmung richtiger Handlungsweisen zu erarbeiten. So lassen sich Handlungsregeln auf ihre Allgemeingültigkeit hin überprüfen und die Gewichte ideosynkratischer Entscheidungsgründe reduzieren. d) Nicht-Verrechtlichung Der Einsatz diskursiver Verfahren in moderierten Fallbesprechungen und Ethikkonsilen wirkt einer nach Art der im obigen Fallbeispiel beschriebenen Verrechtlichung und deren Fokussierung auf Zwangsmittel und Strafandrohung entgegen. Statt einer Orientierung an adversativen und konfliktuösen Problemlösungen bietet die Orientierung an kommunikativer Rationalität die Chance einer Validierung von Entscheidungsmöglichkeiten, die sich nicht aus Hegemonial- oder Durchsetzungs-
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ansprüchen, sondern aus der Akzeptanz von Entscheidungsgründen und einer gemeinsamen Tragbarkeit der Entscheidungen speist. Eine sinnvolle Form der Verrechtlichung könnte allerdings in der gesetzliche Festlegung dokumentationspflichtiger Ethikkonsultationen der oben erwähnten Art primär bei willensunabhängigen Therapiebegrenzungsentscheidungen bestehen. e) Dispersion von Macht und Verantwortung Therapiebegrenzungsentscheidungen haben nicht selten den Charakter der Entscheidung über Leben und Tod. Solche Entscheidungen in die Hand eines einzelnen Menschen zu legen, erscheint aufgrund der nicht gegebenen Entscheidungskontrolle problematisch.54 Die ethische Konsultation eröffnet mit ihrer Konzentration auf Kommunikation und Diskursivität die Chance für eine Dispersion sowohl von Macht als auch von Verantwortung. Eine solche Dispersion stellt vor allem für nicht-einwilligungsfähige Betroffene einen wirksamen Schutz vor einer möglichen Willkür von Entscheidungen dar, die sie existenziell betreffen. Andererseits entlastet sie die Entscheidenden durch eine intersubjektive Überprüfung von Gründen in Deliberations- und Dezisionsprozessen. 2. Chancen konsiliarischer Beratung im konkreten Fall In der obigen Präsentation des Falles von Frau S. zeigt sich zunächst eine deutliche Polyperspektivität der involvierten Personen hinsichtlich der Frage einer Therapiebegrenzung: Nicht nur werden von den Angehörigen diesbezüglich entgegengesetzte Vorstellungen formuliert. Auch das Gericht bezieht eindeutig Stellung gegen einen Abbruch der Therapie bei gegebener Indikation und nicht ermittelbarem Patientinnenwillen. Unter den beteiligten Medizinern herrscht Uneinigkeit in der Beurteilung von Lebensqualität und Lebensdauer der Patientin. Die Mitarbeiterinnen des Pflegeteams vermögen sich der Indikationsexpertise nicht anzuschließen. Gleiches gilt für die gesetzliche Betreuerin. In dieser durch eine starke Heterogenität der Auffassungen geprägten Situation verfährt die Problemlösungsstrategie der Verrechtlichung des Vorgangs deutlich konfrontativ. Der Anwalt des jüngeren Sohnes verfolgt das Ziel einer mandantenbezogenen Interessensdurchsetzung unter Bezug54 „Weiterhin scheint es mir unmöglich, die Entscheidung in die Hand eines Menschen zu legen. Seine Macht wäre zu groß, aber auch zu drückend. Auf lange Sicht wird man unabhängige und fachkundige Gremien mit der Entscheidung über das ‚Sterbenlassen‘ betrauen müssen. Solange wir weder eine gesetzliche Regelung noch eine gesicherte Judikatur haben, muss man froh sein, wenn solche Gremien im Klinikumsbereich auf freiwilliger Basis gebildet werden. Auf die Dauer kann dem Gesetzgeber hier ein Eingreifen nicht erspart werden, so gern er sich um die Entscheidung derart diffiziler Fragen drückt.“ Rudolf Schmitt, „Ärztliche Entscheidungen zwischen Leben und Tod in strafrechtlicher Sicht“, in: JuristenZeitung, JG 40, Nr. 8, April 1985, S. 19.
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nahme auf eine Interpretation des Menschenwürdebegriffs, die sich auf einen Nutzen-Schadens-Algorithmus stützt. Das Mittel der Zielrealisierung besteht in einer Infragestellung der bis dato gestellten Indikation unter Einbeziehung einer Expertise, die unter unthematisch utilitaristischen Prämissen formuliert wird. Zur Erstellung der Expertise werden die beteiligten Personen intensiv befragt. Dies geschieht in einer als ‚Begutachtung‘ definierten Situation nicht im Kontext eines Diskurses unter Gleichen. Die Kommunikation verläuft asymmetrisch vom auftragsgemäß Befragenden zu den Befragten, aber nicht zurück. Die Befragung wird von den Befragten zum Teil als Kompetenzüberprüfung erlebt, die sich von der Indikationsthematik deutlich entfernt. Die Pflegemitarbeiter_innen werden ausschließlich auf fachliche Informationen und Arbeitsausführung hin befragt, ihre Norm- und Wertperspektive bleibt außen vor. Das Ergebnis der Expertise, deren praktische Konsequenz durch den Hausarzt und die Mitarbeiter_innen des Pflegeteams in Handlungen umgesetzt werden sollen, wird von den Beteiligten nicht getragen, jedoch aus Sorge vor einer Strafanzeige widerspruchslos durchgeführt. Die Indikationsbestimmung wird auf diese Weise in eine juristische Durchsetzungsprozedur eingespeist, die konfrontativ aufgestellt wird und ihr Vorgehen in Termini der Dominanz und Befolgung einfasst. Für eine kritische Hinterfragung und selbstkritische Reflexion bleibt kein Raum. Vom Zeitpunkt der Verrechtlichung an bis hin zur Szene der Begegnung der zerstrittenen Söhne am Totenbett der Mutter und dem Appell an das Betreuungsgericht prägt ein aggressives Timbre den Ton im Kontakt der in Uneinigkeit verharrenden Personen. Was hätte ein Ethik- oder Fallkonsil im Fall von Frau S. leisten können? Welche Chancen hätte es eröffnet? Ein Konsil hätte sich vor allem durch die Schaffung von Kommunikationsmöglichkeiten konstruktiv auswirken können. Schlüsselstelle für eine Konsiliaranfrage wäre das wiederholte Ersuchen des jüngeren Sohnes von Frau S. um ein interprofessionell geführtes Gespräch gewesen.55 In einem moderierten Gespräch hätte der Fall unter medizin- und pflegefachlichen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten erörtert werden können. Ein solches Forum hätte u. a. Raum für die Vermittlung von entgegengesetzten Geltungsansprüchen der im Zwist liegenden Söhne eröffnen können. In diesem Raum wären Fragen der Lebensqualitätseinschätzung und die damit verbundenen Probleme ebenso diskutierbar gewesen wie die Verpflichtung zur Fürsorge auch gegenüber schwerst pflegebedürftigen Personen oder Bedenken bezüglich einer Verletzung des Instrumentalisierungsverbots.Im besten Fall hätte im Kontext einer rationalen Deliberation und Argumentation – unter expliziter Wertschätzung der Anfrage des jüngeren Sohnes und der von den Beteiligten in die Situation eingebrachten emotionalen Momente – mit Gewichtung der ‚besten‘ Argumente eine gemeinsame Antwort und ein Konsens über die situativ ‚beste‘ Handlungsweise erarbeitet werden können. Die abschließende Entscheidung – wie immer sie auch ausgefallen wäre – hätte für die Teilnehmer_innen der Beratung einen höheren 55
Vgl. hierzu oben Abschnitt I. 1. c).
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Karin Michel
Akzeptanzgrad gehabt als die Entscheidung eines Sachverständigen außerhalb des Kontextes reziproker Kommunikation. Der Schritt in die Verrechtlichung und die damit einhergehenden interaktiven Belastungen, die für alle Seiten entstehen, hätte auf diese Weise vermieden werden können. Bei nicht-konsensuellem Ausgang der Beratung hätten noch einmal (innerhalb einer gemeinsam festgelegten Frist) Informations- und Klärungsbedarfe geprüft, offene Fragestellungen formuliert, auf die Option zur Einholung weiterer Meinungen verwiesen werden und weitere Konsile terminiert werden können. Eine Verrechtlichung der Fragestellung wäre erst dann erforderlich geworden, wenn absehbar keine Verständigung über die richtigen Entscheidungsgründe möglich gewesen wäre. Im besten und dem eingeschränkt besten Fall eines ‚offenen‘ Ausgangs hätte eine Ethikberatung die Chance zur intersubjektiv gesicherten Einschätzung der Therapieentscheidung und damit – auf dem Weg der Überzeugung – auch die Chance zu einer angemessenen und friedlichen Lösung der Problematik eröffnet. Das Recht kann einen Beitrag dazu leisten, heterogene Situationen nach klaren, öffentlich erarbeiteten normativen Vorgaben sicher zu beurteilen. Fehlen klare gesetzliche Regelungen, so sollte das Recht mit seinem Rekurs auf den Zwang nur dann zum Tragen kommen, wenn der zwanglose Zwang des besseren Argumentes und damit auch die kommunikativen und sozialen Möglichkeiten der Dissens- und Konfliktbewältigung an Grenzen stoßen.
Summary The article is basically concerned with the topic of non-treatment decisions with special reference to persons who are incapable of giving consent to medical treatment while having submitted no Patient Decree. By combining the methods of case-discussion and normative analysis the essay works out essential differences between ethical and legal aspects of the topic. At the same time, it emphasizes the important function of communication and ethics counselling for a valid decisionmaking with regard to non-treatment options. The article holds, that especially decisions concerning the indication or non-indication of therapeutic measures like PEG-probes require normative and communicative control. Indications function as a necessary basis for determining the legality of medical treatment. Indications can also give reasons to refrain from treatment independent of the patient’s will. By now, the definition of an indication is in itself not legally regulated. It falls within the subjective competence of individual physicians. This may cause problems, insofar as indications cannot be reduced to processing objective medical information but always contain also normative judgements. Since those judgements may differ among physicians significantly, either a legal or an ethical regulation of indicational decision-making should be established in order to avoid arbitrary and unequal treatment of patients especially when questions of nontreatment resulting in death are up for discussion.
Moralkonstruktivismus, Vertragstheorie und Grundpflichten: Kant contra Gauthier Kenneth R. Westphal Für B. Sharon Byrd, in memoriam
I. Einleitung In seinem Aufsatz „Political Contractarianism“ entwickelt David Gauthier eine eigenständige, besonders durchdachte Darstellung seiner Vertragstheorie der Rechtfertigung sozialer Normen und Praktiken.1 Diese hat er über die Jahre erheblich verfeinert, um den bekannten und berechtigten Einwänden gegen Vertragstheorien der Gerechtigkeit zu entgehen, die üblicherweise die Familie wie auch die Erziehung vernachlässigen, alle sozialen Verhältnisse auf Vertragsverhältnisse reduzieren oder auch davon ausgehen, dass unsere Werte und Lebenspläne vorgesellschaftlich sind und darum auch nicht sozial bedingt sein müssen.2 Eine erneute Untersuchung dieser Formulierung seiner Position erscheint deshalb lohnend, weil sie sich mit Sachfragen auseinandersetzt – und solche aufwirft – die, um ein markantes aktuelles Beispiel zu nennen, von den ansonsten interessanten Beiträgen zum neuen Sonderheft der Zeitschrift, Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics (2013, Bd. 4), „Can the Social Contract Be Signed by an Invisible Hand?“, durchweg ignoriert werden.3 1 David Gauthier, „Political Contractarianism“, in: Journal of Political Philosophy 5,2 (1997): 132 – 148. 2 Gauthier hat seine Vertragstheorie zum ersten Mal in Morals by Agreement (Oxford: The Clarendon Press, 1986) vollständig entwickelt; diese Version wird in Peter Vallentyne, Hrsg., Contractarianism and Rational Choice. Essays on David Gauthier’s Morals by Agreement (Cambridge: Cambridge University Press, 1991) kritisch diskutiert; siehe auch Christopher Morris und Arthur Ripstein, Hrsg., Practical Rationality and Preference. Essays for David Gauthier, Cambridge: Cambridge University Press, 2001. Für eine deutsche Resümé seiner Ansicht siehe David Gauthier, „Warum Kontraktualismus?“, in: R. Celikates und S. Gosepath, Hrsg., Philosophie der Moral (Frankfurt/ M: Suhrkamp, 2009), 464 – 477. 3 Im Einzelnen bezieht sich diese Überlegung auf Christine Chwaszcza, „Hume and the Social Contract: A Systematic Evaluation“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 108 – 130; Anthony de Jasay, „Conduct and Contract“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and
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Gauthier behauptet, seine Vertragstheorie sei „the only one available to persons who may neither expect nor require their fellows to share their own orientation to values and norms“. (S. 132, vgl. S. 133, 142)4
Gauthiers Vertragstheorie zufolge sind soziale Institutionen und Praktiken nur mit Bezug auf kontrafaktische, hypothetische Vereinbarungen zwischen voneinander unabhängigen Akteuren zu rechtfertigen, die die Bedingungen ihrer Interaktion rational erwägen und einer Vereinbarung nur dann zustimmen und sie auf sich nehmen, wenn sie sie für sich selbst als sinnvoll ansehen (S. 132, 133, 141). Dabei betont Gauthier, dass sein Rechtfertigungsversuch sich nur auf soziale Prinzipien und Praktiken beziehe, dass sein Vertragsmodell der Rechtfertigung mit verschiedensten nicht vertragsartigen sozialen Interaktionen problemlos vereinbar sei (S. 141) und dass es nicht verlange, dass legitime Sozialgewalt nur dadurch entstehe, dass die normativen Rechtfertigungsressourcen des Einzelnen auf eine soziale Obrigkeit übertragen würden (S. 142), wie es z. B. bei Hobbes der Fall sei.5 Mit seiner Fokussierung von Rechtfertigung korrigiert er die von ihm selbst zugestandene frühere Vernachlässigung des Unterschieds zwischen Rechtfertigung und Definition in Bezug auf ein Vertragsmodell einer Gesellschaft (S. 141 – 2). Gauthiers Vertragstheorie formuliert einige sehr strenge Bedingungen, die eine rechtfertigungsfähige und dadurch legitimierbare Gesellschaft erfüllen muss. Seine Theorie verbietet Handlungsweisen, die tendenziell einige zu Gunsten anderer beEconomics 4 (2013): 53 – 60; Danny Frederick, „Social Contract Theory Should Be Abandoned“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 178 – 190; Gerald Gaus, „Why the Conventionalist Needs the Social Contract (and Vice Versa)“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 71 – 87; David Gauthier, „Achieving Pareto-Optimality: Invisible Hands, Social Contracts, and Rational Deliberation“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 191– 204; Bernd Lahno, „‚Can the Social Contract Be Signed by an Invisible Hand?‘: A New Debate on an Old Question“, Vorwort in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 39 – 43; Jan Narveson, „Social Contract: The Last Word in Moral Theories“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 88 – 107; Nicholas Southwood, Contractualism and the Foundations of Morality, Oxford: Oxford University Press, 2010; Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer: eine moralphilosophische Untersuchung, Berlin: de Gruyter, 2000; ders., „Moralische Rechte als soziale Artefakte“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002): 673 – 691; Robert Sugden, „Contractarianism as a Broad Church“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 61 – 66; Peter Vanderschraaf, „A Governing Convention?“, in: Rationality, Markets and Morals: Studies at the Intersection of Philosophy and Economics 4 (2013): 131 – 156; wie auch Ottfried Höffe, Gerechtigkeit als Tausch? Zum politischen Projekt der Moderne, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1991; und ders., Vernunft und Recht – Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt/ M: Suhrkamp, 1996. 4 Die in Klammern gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf Gauthier, „Political Contractarianism“ (Anm. 1). 5 Vgl. David Gauthier, The Logic of Leviathan: The Moral and Political Theory of Thomas Hobbes, Oxford: The Clarendon Press, 1969.
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nachteiligen; damit schließt sie die Lebenspläne von Misse- und Übeltätern aus (S. 136, 137). Dementsprechend erfordert seine rechtfertigungsschaffende Vereinbarung, dass „[…] the actual social structure be […] mutually beneficial [and ensure] that the proportion between benefits and the contribution each chooses to make be roughly the same for all“. (S. 140)
Darüber hinaus gesteht Gauthier zu, dass „social norms […] give rise to practices that enlarge the horizon of ends“. (S. 138)
Daraus folgt, dass „the life-plans available to an agent […] depend on the social practices of her society“. (S. 138)
Ferner folgt daraus: „The contractarian supposes […] that social practices are to be justified […] by showing how they permit and encourage the formations of life-plans for which they offer the prospect of satisfying fulfilment“. (S. 138)6
In Bezug auf die Rahmenbedingungen, die er hier entwickelt, hat Gauthier m. E. Recht. Nach seinem eigenen Anspruch (vgl. das erste Zitat oben) stellt sich aber vor allem die Frage, ob diese Rahmenbedingungen, wenn überhaupt, tatsächlich nur durch eine bestimmte gesellschaftliche Vertragsvereinbarung gerechtfertigt werden können. Gauthier spitzt die Art und Weise der Rechtfertigung, die seine Vertragstheorie – nämlich sein „Kontraktarianismus“ – entwickelt, durch einen Vergleich mit dem „Kontraktualismus“ bei Thomas Scanlon zu. Diesem zufolge sei für Moral grundlegend, dass jeder die eigenen Handlungen vor anderen rechtfertigen müsse. Nach seinem eigenen „Kontraktarianismus“ müssten dagegen die anderen ihre Handlungen vor einem selbst rechtfertigen, insofern sie das eigene Handeln beträfen bzw. einschänkten (S. 134 – 5). Diesen Kontrast formuliert Gauthier wie folgt: „[…] on Scanlon’s [contractualist] view, the direction of justification is from the individual to others. The role of agreement is to gain the acceptance of others for one’s actions. But in the contractarianism I espouse, the direction of justification is quite the reverse. Beginning from the idea of a rational deliberator, the contractarian finds no basis for postulating a moral need for the justification of one’s actions to others. The role of agreement is to address each person’s demand that the constraints of society be justified to him, not a concern that he justify himself to others“. (S. 134 – 5) 6 Das führt Gauthier im Folgendem noch weiter aus: „The society must be so structured that, first, for each normal person, there is a range of social roles effectively available, each of which demands a productive contribution from its holder, and rewards the holder appropriately to her marginal contribution to the joint social product. Second, each of these roles must be compatible with a set of life-plans, any of which could in normal circumstances be chosen by and satisfyingly pursued by someone occupying the role, and having at her disposal that share of the joint social product which rewards effective occupancy“ (S. 139).
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Die Vertragsvereinbarung bezieht sich nur auf willkürliche, d. h. „optionale“ Sozialpraktiken und -institutionen, die ganz nach Wunsch entweder angenommen oder abgelehnt werden können. Wenn eine Vertragsvereinbarung die einzige und eine hinreichende Rechtfertigung gesellschaftlicher Prinzipien, Praktiken und Institutionen wäre, müssten diese also beliebig sein, um als geeignete „Optionen“ – d. h. Gegenstände – einer beliebigen Vertragsvereinbarung zu gelten. Damit erkennt Gauthier an, dass seine Vertragstheorie in direktem Widerspruch zu der Ansicht Kants steht, dass wir dem kategorischen Imperativ gemäß handeln sollen, ob wir wollen oder nicht (S. 143).7 Gauthiers Bemühungen, eine Methode zu entwickeln, um die Prinzipien der Gerechtigkeit zu identifizieren und zu rechtfertigen, ohne auf verbreitete normative Einstellungen zurückzugreifen, sind bei den heutigen Verhältnissen kultureller Vielfalt entscheidend, genau wie in der frühen Neuzeit, die die neuzeitlichen Naturrechtslehren hervorgerufen und herausgefordert hat.8 Gauthier hat auch darin Recht, dass die Identifizierung und Rechtfertigung legitimer Sozialprinzipien zeigen muss, dass und warum es für jede Person vernünftig ist, ihnen gemäß zu handeln. Um dieses Desiderat zu erfüllen, ist Moralkonstruktivismus erforderlich, weil nur ein solcher ohne die Voraussetzung auskommt, dass es solche Prinzipien gibt, und welche sie seien. Denn diese Voraussetzung begeht unvermeidlich eine petitio principii gegen diejenigen, die die bevorzugten Prinzipien bestreiten, ablehnen oder sogar verleugnen. Die Hauptfrage, die Gauthiers Vertragstheorie aufwirft, ist, ob kontrafaktische, hypothetische Vertragsvereinbarungen die einzige und eine allein hinreichende Basis bilden, um gesellschaftliche Grundnormen bzw. -prinzipien zu identifizieren und zu rechtfertigen. Im Folgenden versuche ich nachzuweisen, dass Kant Recht damit hat, dass eine so radikale Vertragstheorie wie die Gauthiers weder die einzige noch eine hinreichende Normengrundlage der Moral liefert und dass Kants Naturrechtslehre – die ebenfalls einen radikalen Moralkonstruktivismus bildet – erheblich besser zu vertreten ist als Gauthiers Vertragstheorie. Damit wird sich Gauthiers Einschätzung, dass seine Form des Moralkonstruktivismus die einzig haltbare sei (S. 132, vgl. S. 33, 142), als unzutreffend erweisen. Im Einzelnen untersuche ich, 1. ob die der Gesellschaft zu Grunde liegenden Sozialpraktiken und -institutionen alle beliebig oder „optional“ sind und damit geeignete Gegenstände willkürlicher Vereinbarungen bilden, wie Gauthiers Vertragstheorie es verlangt (II.);
Dasselbe gilt für den Utilitarianismus (S. 143), aber das gehört nicht hierher. Das gilt unabhängig davon, dass der „Multikulturalismus“, der die neuzeitlichen Naturrechtslehren herausgefordert hat, in den politisch unversöhnlichen Schismen des Christentums wie auch im internationalen Handel, besonders über das Meer, besteht; vgl. Jerry Schneewind, „History of Western Ethics 8. Seventeenth and Eighteenth Centuries“, in: L. C. Becker, und C. B. Becker, Hrsg., The Encyclopedia of Ethics, 2nd ed. (London: Routledge, 2001; 2: 730 – 739), S. 730. 7 8
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2. ob Gauthiers Vertragstheorie dem Problem der „relevanten Handlungsbeschreibungen“ entgeht (III.); 3. ob die Beweisgründe zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Grundnormen eine Zustimmung in Form einer Vertragsvereinbarung erfordern (IV., VI.); 4. ob die asymmetrischen „Rechtfertigungsrichtungen“, die Gauthier und auch Scanlon bevorzugen, haltbar sind (V.).
II. Sind alle grundlegenden sozialen Praktiken und Institutionen beliebig („optional“)? Das erste Problem in Gauthiers Vertragstheorie ist, dass sein Modell der Rechtfertigung von Moral durch einen Sozialvertrag Rahmenbedingungen voraussetzt, die selbst nicht beliebig bzw. optional sind und deshalb durch keinen Modellvertrag sachgemäß zu rechtfertigen sind. Das Problem lässt sich zunächst anhand eines Zugeständnisses Gauthiers aus einem früheren Buch, Morals by Agreement (1986; Anm. 2), verdeutlichen. Dort behauptet er, dass die Schlüsselbedingung, die „prohibits bettering one’s position through interaction worsening the position of another“, nicht optional sei (1986, 16); hierzu schreibt er: „Although a part of morals by agreement, it is not the product of rational agreement“ (ebenda). Aber genau dieser Punkt, dass diese Schlüsselbedingung nicht optional ist, legt offen, dass sie durch keine Vertragsvereinbarung gerechtfertigt werden kann, denn „it is a condition that must be accepted by each person for such agreement to be possible“ (ebenda). Gauthier versucht zu zeigen, dass „ […] it is rational for utility-maximisersto accept the proviso“ (1986, S. 193, vgl. S. 200 – 32). Aber seine Argumentation basiert unvermeidlich auf einer Begründung dafür, dass und inwiefern es vernünftig ist, diese Schlüsselbedingung zu bejahen. Also erfordert ihre Rechtfertigung nicht ihre Aufnahme, die im Belieben des Einzelnen liegt, und noch weniger eine vertragliche Vereinbarung. Einen einleuchtenden Kontrast hierzu bildet Humes Analyse der Regeln der Gerechtigkeit (Traktat 3,2), die Hume zufolge für Menschen nicht optional sind.9 Fokussieren wir nun erneut Gauthiers späteres Rechtfertigungsmodell (1997; Anm. 1). Auch dieses Modell setzt Rahmenbedingungen voraus, die selbst nicht beliebig und durch keine Vertragsvereinbarung zu rechtfertigen sind. Ein Sozialvertrag als Rechtfertigungsmodell steht nur solchen Akteuren offen und kann nur an solche adressiert werden, die als rationale Denker oder „Deliberatoren“ gelten können. Wie Gauthier selbst zugesteht, entwickeln sich Menschen zu Akteuren, die zu rationaler Erwägung imstande sind, nur durch Erziehung in einer wirtschaftlich wie auch emotional sicheren Umgebung. Hierzu schreibt er: 9 Siehe Kenneth R. Westphal, „Von der Konvention zur Sittlichkeit. Humes Begründung einer Rechtsethik aus nach-Kantischer Perspektive“, in: D. Heidemann und K. Engelhardt, Hrsg., Ethikbegründungen Zwischen Universalismus und Relativismus (Berlin: De Gruyter, 2005), 153 – 180.
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„[…] an economically and emotionally secure and stable upbringing is a basic demand enshrined in the social contract […]“. (S. 146)
Damit gesteht Gauthier auch zu, dass dies eine berechtigte Grundforderung gegenüber Eltern wie auch der Gesellschaft bildet (S. 146). Seine Verwendung des Wortes „enshrined“ – so viel wie: miteingeschlossen – verschleiert allerdings eine wichtige Zweideutigkeit. Eine solche Erziehung ist notwendig, damit ein Mensch überhaupt zu rationaler Überlegung fähig ist, so dass er bewusst Handlungsformen oder -prinzipien vorschlagen, erwägen, einschätzen bzw. rechtskräftig vereinbaren kann, wie es ein Vertragsmodell der Rechtfertigung moralischer Prinzipien und Praktiken verlangt, das soziale und auch moralische Pflichten bzw. Ansprüche gegenüber anderen überhaupt erst begründet. Eine Vertragsrechtfertigung setzt also eine solche Erziehung voraus, die erforderlich ist, um den Nutzen und die Nachteile einer Vertragsvereinbarung überhaupt einschätzen, darüber verhandeln und ihr verantwortlich zustimmen zu können.10 Damit ist es für einen potenziellen Promittenten bzw. Akzeptanten, also für einen Vertragspartner keineswegs beliebig – optional –, ob er eine solche Erziehung genossen hat. Diese ist somit kein Gegenstand beliebiger Vertragsvereinbarung und kann keiner sein. Allerdings kann in der Sache niemand eine eigene entsprechende Erziehung vertragskräftig ablehnen. Die relevanten sozialen oder auch nicht sozialen Alternativen wirklich zu verstehen, um sie entweder akzeptieren oder ablehnen zu können, erfordert schon eine hohe Vernunft- und Kenntnisreife; insofern ist diese für potenzielle Sozialverhandler keineswegs „optional“. Es genügt nicht, dem entgegenzusetzen, dass die eigene Erziehung immer den jeweiligen historischen und sozialen Lebensbedingungen zuzurechnen sei, die einer hypothetischen Vertragsvereinbarung vorgängig seien (vgl. S. 133). Gauthier stellt klar heraus, dass sein Vertragsmodell der moralischen Rechtfertigung in den Sozialpraktiken und -institutionen, die sein Sozialvertrag rechtfertigt, gängig sei und ihm darin ein zentraler Stellenwert zukomme (vgl. S. 140). Ob sie eine entsprechende Erziehung genossen haben, ist auch für die Mitglieder seiner Vertragsgesellschaft nicht beliebig, eben deshalb, weil nach Gauthiers Ansicht der Moralrechtfertigung bloß durch vertragliche Vereinbarung ein zentraler Stellenwert innerhalb so einer Gesellschaft zukommt, wie auch dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder als freiwillige, an gegenseitig vorteilhaften Sozialpraktiken beteiligte Mitglieder. Wenn man das Stadium erreicht hat, dass man verschiedene mögliche, ausführbare Vertragsvereinbarungen rational und vernünftig einschätzen kann und – wenn auch kontrafaktisch – darüber nachdenken kann, ob es sich lohnt, ein Mitglied der Gesellschaft zu sein, hat man darüber hinaus nach Gauthier schon enorm von der Gesellschaft profitiert, ohne dass man selbst schon viel zu ihr beigetragen hätte (S. 146). Gauthiers Vertragsprinzipien fordern, dass man den anderen proportional 10 Hierzu schreibt Gauthier: „It would be pointless to afford individuals opportunities for productive and satisfying lives if they were unable to take advantage of these opportunities for want of realized skills and developed sensibilities“ (1997, Anm. 1; S. 148).
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zu dem Nutzen, den man von ihnen hat, ebenfalls Nutzen bringt, und zwar von ungefähr gleichem Wert (S. 140). Damit ist nach seinem Prinzip des Austauschs jeder, der Vertragsverhandlungsreife erreicht hat, schon verpflichtet, die Vorteile auszugleichen, die er durch die Gesellschaft bereits genossen hat, ganz unabhängig davon, ob er „find[s] value in society“ (S. 140) und meint, dass es sich lohnt, ein Mitglied der Gesellschaft zu sein. In dieser entscheidenden Hinsicht kann eine kontrafaktische Vertragsvereinbarung also höchstens diejenigen Verpflichtungsgründe bestätigen, die schon durch die Erziehungsvorsorge seitens anderer gerechtfertigt sind. Damit erkennt man im Grunde nur die grundlegende Wichtigkeit der eigenen Erziehung an, ohne die man kein vernunftbegabtes Wesen wäre, sowie die eigene Verantwortung dafür und Verpflichtung dazu, diesen enormen Vorteil reziprok durch Sozialbeiträge auszugleichen. Darum ist es schwer auszumachen, was genau eine rein kontrafaktische, eine bloß hypothetische Vertragsvereinbarung zur Rechtfertigung dieser Verpflichtung beitragen könnte, die nach Gauthiers Reziprozitätsprinzip, das jedem legitimen kooperativen Handeln zu Grunde liegt, schon durch den eigenen Erziehungsgewinn gerechtfertigt und dem Einzelnen auferlegt ist.11 Dieser Punkt verdient nähere Betrachtung. Gauthier gesteht zu, dass jemand, der auf die eigene Mitgliedschaft in der Gesellschaft keinen Wert legt, weil er keinen „value in society“ sieht, „[…] would have no reason to agree to its conditions of interaction“. (S. 135)
Aber selbst wenn eine Person die eigenen gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht sieht oder sie sogar verleugnet, ändert dies nach Gauthiers Vertragsprinzipien der Reziprozität nichts daran, dass sie entsprechende Verpflichtungen hat. Die hat sie schon dadurch, dass sie von der Gesellschaft bereits in erheblichem Maße profitiert hat – vorausgesetzt (hier stimme ich mit Gauthier überein), dass diese Gesellschaft den Gerechtigkeitsprinzipien für Vertragsgesellschaften hinreichend entspricht (hierzu § III). Dieser Einwand unterstreicht den Unterschied zwischen einer rein hypothetischen Sozialvertragsvereinbarung und unseren eigentlichen sozialen Verpflichtungen und Berechtigungen und deren tatsächlichen Rechtfertigungs-, d. h. Verpflichtungsgründen. Wie Gauthier betont, begründet seine Vertragsmethode wirkliche Pflichten und Rechte nur innerhalb einer Gesellschaft, die bestimmte strenge – geradezu „revolutionäre“ (S. 148) – Rahmenbedingungen von Gerechtigkeit erfüllt, die eingangs (I.) skizziert wurden und im nächsten Abschnitt eingehender diskutiert werden (III.). Fazit: Gauthiers Vertragsmodell der moralischen Rechtfertigung, das nur solche Rechtfertigungsgründe berücksichtigen kann, die Akteure tatsächlich erwägen bzw. erwägen können, kann weder die einzige noch eine hinreichende Methode moralischer Rechtfertigung sein, denn nach diesem Modell können die notwendigen Rahmenbedingungen dafür, dass man überhaupt die Fähigkeit zu vernünftiger Verhand11
Vgl. Laurence Becker, Reciprocity, Chicago: University of Chicago Press, 1986.
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lung erlangt, kein Gegenstand beliebiger Entscheidung einer Vertragspartei sein. Eine Vertragsvereinbarung, mit der man Verpflichtungen auf sich nimmt bzw. Rechte beanspruchen kann, setzt die Rahmenbedingung der eigenen Erziehung schon voraus, anstatt sie erst durch einen beliebigen Vertrag zu rechtfertigen. Auch die verfeinerte Fassung von Gauthiers Vertragstheorie verleugnet immer noch die Unerlässlichkeit der eigenen Erziehung und Bildung, die in der Familie (jeder Art) anfängt und durch die Gemeinschaft weiter gefördert wird.
III. Kontraktarianismus und relevante Handlungsbeschreibungen Das im vorigen Abschnitt herausgearbeitete Problem wirft zunächst eine wichtige Variante des Problems relevanter Handlungsbeschreibungen auf. Dieses Problem besteht kurz gefasst darin, dass die Bewertung einer Handlung davon abhängt, wie diese beschrieben bzw. konzipiert wird. Gauthiers Rechtfertigungsstrategie erfordert an mehreren entscheidenden Stellen, dass wir uns selbst wie auch unsere Gesellschaft korrekt konzipieren. So müssen wir erkennen, dass wir als Menschen eine angemessene Erziehung benötigen, um überhaupt die Fähigkeit zu erlangen, vertragliche Überlegungen anzustellen und Verträge rechtskräftig zu schließen. Weiterhin müssen wir anerkennen, dass aufgrund der Endlichkeit menschlicher Existenz unser eigenes Leben durch gegenseitige Mitwirkung erheblich verbessert wird (oder jedenfalls werden kann). Darüber hinaus erfordert Gauthiers Rechtfertigungsmodell, dass eine Gesellschaft ein kooperatives Gebilde zum gegenseitigen Vorteil – und als solches auch anerkannt – ist, in dem die Vorteile und Beiträge unter den Mitwirkenden etwa gleich („proportional“) verteilt sind (S. 135, 140, vgl. S. 148) und das auch eine Auswahl von Lebensweisen bietet, denen der Einzelne mehr oder weniger Aussicht auf Erfolg und zur eigenen Zufriedenheit folgen kann (S. 139 – 40). Um die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft zu rechtfertigen, genügt es nach seiner Auffassung keinesfalls, dass jemand/ in bloß für wahr hält, dass er bzw. sie zugleich WohltäterIn und NutznießerIn der Gesellschaft ist: „each must be both beneficiary and benefactor“ (S. 135, Hervorhebung von krw). Dass die Korrektheit bzw. Wahrheit der Konzeptionen, also unserer Selbstbeschreibung wie auch unserer Beschreibung der Gesellschaft, eine so grundlegende Rolle spielt, wirft zwei wichtige Fragen auf, die im ersten Abschnitt als 2. und 3. Hauptfrage genannt wurden, sich nun aber präziser formulieren lassen: 2. Wie stellt Gauthiers Vertragsmodell der Gesellschaft sicher, dass gängige, auf den Sozialvertrag bezogene Überlegungen und Konzepte – d. h. Beschreibungen – korrekt und relevant sind bzw. dass falsche oder fehlerhafte Konzeptionen korrigiert werden? 3. Werden soziale Grundnormen eigentlich durch eine Vertragsvereinbarung gerechtfertigt oder vielmehr schon durch diejenigen Faktoren und ihre Implikationen, die für eine solche Vereinbarung sprechen, so dass die Vereinbarung selbst
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lediglich unser Verständnis und Zugeständnis jener Rechtfertigungsgründe modelliert? Diese beiden Fragen sind am sinnvollsten in dieser Reihenfolge zu beantworten. Vertragstheorien im Allgemeinen wie auch der Gauthiers liegt der Gedanke zugrunde, dass die Gesellschaft u. a. ein kooperatives Unternehmen zum gegenseitigen Vorteil ist, ein „cooperative venture for mutual advantage“.12 Das Problem relevanter Handlungsbeschreibungen taucht in Gauthiers Kontraktarianismus in Bezug auf folgendes Zugeständnis auf: „Someone who did not find value in society would have no reason to agree to its conditions of interaction. Someone who did not contribute value to others would give them no reason to accept her within the scope of society’s conditions of interaction. Each then must be able to draw from society some of what she seeks but could not gain on her own, and each must contribute to society some of what others seek but would lack without her. Or, put simply, each must be [sic] both beneficiary and benefactor“. (S. 135, vgl. S. 148)
Das Problem liegt darin, dass sich eine Vertragsvereinbarung nur auf solche Überlegungen bzw. Rechtfertigungsgründe stützen kann, die Personen tatsächlich explizit anstellen oder anführen, weil eine freiwillige Entscheidung nur auf Gründen basieren kann, die die betreffende Person tatsächlich als für eine mögliche Vereinbarung relevant erwägt und letztlich als hinreichende Rechtfertigungsgründe (ob nun dafür oder dagegen) betrachtet. Also lautet die für das Vertragsmodell relevante Frage nicht nur, ob eine Person tatsächlich zugleich soziale/ r WohltäterIn und NutznießerIn ist (und zwar in einer Weise, die ohne gegenseitige Unterstützung nicht möglich wäre), sondern auch, ob ein / e potenzielle/ r SozialvertragspartnerIn überzeugt ist, dass die anderen genug zum eigenen Wohl beitragen. Gauthier hat zwar darin Recht, dass „[…] someone who did not find value in society would have no reason to agree to its conditions of interaction […]“. (S. 135)
Aber die normative Hauptfrage ist nicht, ob man in der eigenen Zugehörigkeit zur Gesellschaft einen Wert sieht: In Hinsicht auf die Endlichkeit der menschlichen Existenz auf Erden stellt sich vielmehr die Frage, ob man die eigene Zugehörigkeit wertschätzen sollte. Die Frage ist nicht, ob man zugesteht, dass es hinreichende Gründe für (ausreichend) gerechte soziale Interaktion gibt, sondern in erster Linie, ob es solche hinreichenden Rechtfertigungsgründe dafür gibt. Wenn es solche gibt, ist es wichtig, potenzielle Sozialvertragsteilnehmer dazu zu bringen, sie zu verstehen und zu akzeptieren und ihre Folgen auf sich zu nehmen. Indem Gauthiers Vertragstheorie sich ausschließlich auf explizite, wenn auch kontrafaktische Vereinbarungen stützt und alle grundlegenden sozialen Praktiken und Institutionen als solche konzipiert, die beliebig akzeptiert oder abgelehnt werden können, vernachlässigt sie die wichtige Aufgabe, mögliche Missverständnisse seitens potenzieller Sozialvertragsteilneh12
Gauthier erwähnt in diesem Zusammenhang nur Rawls (1997, Anm. 1; S. 135).
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mer in Bezug auf die eigenen sozialen Abhängigkeiten und die sich daraus ergebenden Verpflichtungsgründe und Verpflichtungen auszuräumen. Und sie muss diese Aufgabe zwangsläufig vernachlässigen, denn wollte Gauthier sie ernsthaft auf sich nehmen, würde er die angeblich exklusive Funktion der Vertragsvereinbarung unterminieren, dass allein sie die Grundprinzipien und -praktiken der Gesellschaft rechtfertigen könne, weil die Rechtfertigung sich vor allem aus den Gründen ergibt, die für die Sozialvereinbarung sprechen wie auch dafür, sie einzugehen, aber nicht allein aus der kontrafaktischen, hypothetischen Vereinbarung als solcher. Das „Problem der relevanten Handlungsbeschreibungen“ bezieht sich hier nicht darauf, wie ein Akteur die eine oder andere erwogene Handlung (möglicherweise falsch) konzipiert oder (möglicherweise falsch) beschreibt, sondern darauf, wie eine Person den ganzen Bereich sozialer Interaktion, die eigenen Handlungsmöglichkeiten und die eigenen Aussichten auf Vor- und Nachteile (möglicherweise falsch) beschreibt. Das Grundproblem in Gauthiers radikaler Vertragstheorie ist, dass sie den gesamten Bereich des sozialen Verkehrs als beliebig, rein „optional“ konzipiert und dass sie die Menschen als prinzipiell selbstgenügsam und damit als voneinander wie auch von der Gesellschaft unabhängig beschreibt (ausführlicher hierzu unten, IV.). Um seine Grundthese zu stützen, dass seine radikale Sozialvertragstheorie die einzige und eine allein hinreichende Rechtfertigungsgrundlage für eine normative Sozialtheorie bildet, muss Gauthier behaupten, die einzigen Rechtfertigungsgründe, die man hat, seien diejenigen, die man explizit für sich akzeptiert. Darum muss seine Theorie prinzipiell die Möglichkeit ignorieren, relevante Missverständnisse zu korrigieren, z. B. bei jemandem, der die Gesellschaft und die eigene Zugehörigkeit dazu nicht wertschätzt bzw. sie ablehnt (hierauf komme ich unten in V. zurück). Dies ist eine grundlegende Schwäche von Sozialvertragstheorien: Weil sie sich nur auf solche Rechtfertigungsgründe berufen können, die potenzielle Sozialvertragspartner tatsächlich erwägen, sind sie gar nicht imstande, diejenigen zu adressieren, die wichtige Aspekte der Gesellschaft oder der eigenen Handlungsfähigkeit und -möglichkeiten und dadurch Gründe für eigene Pflichten bzw. Rechte nicht beachten oder sogar (möglicherweise aus verhandlungsstrategischen Motiven) schlicht verleugnen. Damit sind Sozialvertragstheorien in Bezug auf Eigensinnige, d. h. Egoisten, die sich zur Sozialphilosophie verhalten wie Skeptiker zur Erkenntnistheorie, belanglos.13 13 Gauthiers Fokussierung auf die Rechtfertigungsgründe, die ein potenzieller Vertragsabschließender zugesteht, ist vor allem dadurch begründet, dass er versucht, jeder Form von Werteobjektivität zu entgehen. Der Hauptgrund dafür ist seine Behauptung, dass die Handlungen eines Individuums nur über dessen subjektive Werte zu erklären seien (Gauthier, Morals by Agreement, Anm. 2; S. 56 – 9). Diese Behauptung ist aber aus mindestens drei Gründen abwegig: Erstens ist es Aufgabe einer Moralphilosophie, einzelne Handlungen nicht nur zu erklären, sondern sie auch normativ zu bewerten. Gauthiers Beschränkung auf die Erklärung des Handelns verfehlt also die Aufgabe einer angeblich normativen Sozialtheorie wie der seinen. Zweitens fordert die Erklärung einer Handlung eine Bezugnahme auf weit mehr als nur die subjektiven Werte des Handelnden selbst. Die Ausführung einer Handlung ist oft komplex, räumlich und zeitlich ausgedehnt und erfolgt in mehreren Schritten. Auch bei allerbester Vo-
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Sobald die Möglichkeit, das Verständnis einer Person von der Gesellschaft bzw. von den eigenen Handlungsmöglichkeiten zu verbessern bzw. zu korrigieren, in Betracht gezogen wird, ist das radikale Sozialvertragsmodell der normativen Rechtfertigung grundlegend in Frage gestellt. Denn die Überlegungen, die auf eine solche Korrektur hinauslaufen, können auch dazu dienen – wenn nicht sogar dafür hinreichen –, soziale Grundnormen und -praktiken zu identifizieren und zu rechtfertigen, ganz unabhängig davon, ob die eine oder andere Person diese Betrachtungen auch akzeptiert oder ihnen durch eine bloß kontrafaktische Vereinbarung zustimmt. Anders gesagt: Wenn sich relevante, vielleicht auch hinreichende, aber nicht von expliziter Zustimmung abhängige Rechtfertigungsgründe für soziale Grundnormen und -institutionen anführen lassen, würde dies belegen, dass die kontrafaktische Vereinbarung eines Sozialvertrags irrelevant ist. Genau das versucht Kant zu leisten. Dass er damit Recht hat, versuche ich im nächsten Abschnitt zu zeigen. Die oben angedeutete Gleichsetzung von Egoismus und Skeptizismus trifft jedoch den Kern: Der empirische wie der moralische Skeptizismus gründen sich weitgehend auf die Voraussetzung des Rechtfertigungsinternalismus, die These nämlich, dass die rationale Rechtfertigung eines Anspruchs durchaus in dssen Rechtfertigung gegenüber einer Person besteht und sich nur auf diejenigen Rechtfertigungsgründe stützen kann, die diese Person explizit zugesteht. Wie wir im Folgenden sehen werden, lehnt Kants Moraltheorie – zu Recht – genau diesen Rechtfertigungsinternalismus ab. IV. Kants vertragsfreier Moralkonstruktivismus Kant entwickelt in seiner Rechtslehre eine konstruktivistische Naturrechtslehre, die den Sozialvertrag ausdrücklich dadurch idealisiert, dass die mutmaßlich kontrafaktische Vereinbarung für die Identifizierung bzw. die Rechtfertigung sozialer Grundnormen und -institutionen gar keine konstitutive Rolle spielt. Eine solche raussicht gehen Handlungen oft fehl, weil der eine oder andere Schritt fehlschlägt, so dass man ihre weitere Ausführung revidieren oder gar aufgeben muss. Um solche Handlungsrevisionen zu erklären, müssen nicht nur die subjektive Auffassung vom Handlungsplan sowie die Erwartungen und Erfahrungen des Handelnden berücksichtigt werden, sondern auch dessen weitere Einschätzung und Revision des eigenen Plans. In dieser Hinsicht hängt die Angemessenheit einer Handlung nicht nur davon ab, ob der Akteur sie für gut hält, sondern auch davon, ob bzw. inwieweit sie seinen physischen, sozialen wie auch normativen Umständen entspricht und welche Handlungsoptionen diese ermöglichen und erlauben; vgl. Barbara Herman, The Practice of Moral Judgment (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1993), S. 173 – 7. Zum Dritten zielt eine Handlungserklärung nach dem „Wunsch-Überzeugungs-Modell“ in den Sozialwissenschaften darauf ab, die aggregierten Handlungen einer Gruppe zu verstehen. Dieses Modell dient nicht direkt dazu, einzelne Handlungen einzelner Personen zu erklären. Auch wenn Menschen zweckrational handeln, bedeutet bzw. beweist dies keineswegs, dass Menschen nur zweckrational handeln können, oder gar, dass sie nur so handeln sollten; vgl. Kenneth R. Westphal, „Kant’s Constructivism and Rational Justification“, in: S. Baiasu, S. Pihlström und H. Williams, Hrsg., Politics and Metaphysics in Kant (Cardiff: Wales University Press, 2011; S. 28 – 46), S. 42 Anm. 24.
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Vereinbarung spielt bei Kant deshalb keine Rolle, weil seine Rechtfertigung darauf abzielt, diejenigen sozialen Grundnormen und -institutionen freizulegen, die für uns Menschen unentbehrlich – und damit eben nicht beliebig, nicht „optional“ – sind und die gerade deshalb nachvollziehbar und gerechtfertigt und deshalb anzunehmen sind. Ich betrachte hier nur einen, allerdings einen exemplarischen Aspekt seiner Analyse, nämlich das Besitzrecht. Kant gesteht zu, dass die für das Besitzrecht konstitutiven Prinzipien keine bloß analytisch wahren Sätze sind und dass sich kein Normsatz bloß empirisch belegen bzw. rechtfertigen lässt. Darum fallen diese Prinzipien in den Kernbereich seiner kritischen Philosophie, die darauf abzielt, bestimmte synthetische Sätze a priori zu rechtfertigen.14 Um dies zu bewerkstelligen, entwickelt Kant in seiner Metaphysik der Sitten die Grundprinzipien der menschlichen Verpflichtungen und Rechte (6:216,37 – 217,4), indem er ein rein apriorisches normatives Prinzip durch eine besondere „moralische Anthropologie“ auf die menschliche Natur bezieht (6:217). Dieses normative Grundprinzip ist das allgemeine Prinzip des Rechts; es lautet: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“. (RL Einl. § C, 6:230)
Dieses Prinzip bildet, wie ich an anderer Stelle in Übereinstimmung mit Onora O’Neill argumentiert habe, die konstruktivistische conditio sine qua non, um Handlungsprinzipien bzw. Handlungen in nicht bloß formalen, also in substantiven Bereichen rational zu rechtfertigen: Ein Prinzip bzw. eine Handlung kann nur dann legitim sein, wenn dafür hinreichende Rechtfertigungsgründe vorliegen, die an alle betroffenen Personen adressiert werden können.15 (Hier ist aber zu beachten, dass
14 Wie Kant anmerkt, besteht die Hauptaufgabe seiner kritischen Philosophie darin, zu zeigen, „[w]ie […] synthetische Rechtssätze a priori möglich (in Ansehung der Gegenstände der Erfahrung […])“ sind (23:302,28 – 30). Zitiert werden Immanuel Kant, Kants Gesammelte Schriften. Königlich Preußische (jetzt Deutsche) Akademie der Wissenschaften; Berlin: G. Reimer, jetzt De Gruyter, 1902–; Sigel: „GS“. Die hier vorgetragene Skizze gründet sich auf ausführliche Untersuchungen, wo ich u. a. erkläre, warum ich mich mit Besitzrechten anstatt mit Eigentumsrechten befasse. Siehe Kenneth R. Westphal, „Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics 5 (1997): 141 – 94; und „A Kantian Justification of Possession“, in: M. Timmons, Hg., Kant’s Metaphysics of Ethics: Interpretive Essays (New York: Oxford University Press, 2002), 89 – 109. Jüngst haben B. Sharon Byrd and Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Right: A Commentary (Cambridge: Cambridge University Press, 2010) versucht, Kants Analyse in einer Weise zu rekonstruieren, die die von mir (1997) aufgezeigten Probleme vermeidet. Ihre einleuchtende Analyse scheint mir diese aber eher zu wiederholen. – Die folgende Seiten- bzw. Abschnittsangaben beziehen sich, wenn nichts anderes angemerkt wird, auf Kants Rechtslehre (MdS, Teil I; GS Bd. 6). 15 Siehe Kenneth R. Westphal, „Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?“ (Anm. 14), ders., „Objektive Gültigkeit zwischen Gegebenem und Gemachtem. Hegels kantischer Konstruktivismus in der praktischen Philosophie“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik/ Annual Review of Law and Ethics 11 (2003b): 177 – 98; und ders. „Urteilskraft, gegenseitige Anerken-
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Rechtfertigungsgründe an alle Betroffenen zu adressieren nicht bedeutet, dass diese sie auch akzeptieren bzw. ihnen zustimmen.16) In seiner Metaphysik der Sitten bezieht Kant das allgemeine Prinzip des Rechts auf die conditio humanae, u. a. auf basale Aspekte des menschlichen Wesens und seines Handlungskontextes auf Erden, wobei er das Prinzip des hypothetischen Imperativs berücksichtigt, nämlich: „[…] wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß nothwendig) die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind“. (Grundlegung, GS 4:417 – 8)
Dieses Prinzip zweckrationalen Handelns formuliert eine Einschränkung des rationalen Wollens von Endzwecken. Für das Besitzrecht sind folgende „moralisch-anthropologischen“ Tatsachen relevant: 1. Wir Menschen können keine Zweckerfüllung einfach ex nihilo wollen. 2. Unsere Zwecke, unabhängig davon, ob es sich um Grundbedürfnisse handelt oder um beliebige Wünsche, sind komplex, zeitlich ausdehnt sowie mehr oder weniger miteinander verbunden. 3. Wir bewohnen einen Erdball, dessen Fläche endlich, also räumlich begrenzt ist. 4. In mehreren Regionen haben wir eine so hohe Bevölkerungsdichte erreicht, dass wir Begegnungen miteinander nicht mehr vermeiden können. (RL §§ 8, 9, 13, 42) Der erste Punkt, dass wir eine Zweckerfüllung nicht einfach ex nihilo wollen können, hat zur Folge, dass wir uns immer der vorhandenen Materialien – dazu gehören mindestens Luft, Wasser, Lebensmittel und Platz als Handlungsraum sowie die zur Selbsterhaltung nötige Kleidung, Unterkünfte und Werkzeuge – bedienen müssen, um überhaupt zweckmäßig handeln zu können. Aus dem zweiten Punkt, dass unsere Zwecke komplex, zeitlich ausgedehnt und mehr oder weniger miteinander verbunden sind, folgt, dass niemand alle Mittel, die zur Selbsterhaltung nötig sind, gleichzeitig hand- bzw. innehaben kann. Das menschliche Leben erfordert also, dass man regelmäßig und zuverlässig von Materialien Gebrauch machen kann, die ein Mensch nicht alle zur selben Zeit handhaben kann.17 Wenn wir nicht zuverlässig auf die Verfügbarkeit dieser Materialien vernung und rationale Rechtfertigung“, in: H.-D. Klein, Hrsg., Praktische Philosophie als prima philosophia? (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011a), 171 – 193. 16 Die Ablehnung objektiv hinreichender Beweisgründe wirft jedoch Probleme auf, die sich letztendlich nur durch eine Analyse der Möglichkeiten konstruktiver Selbstkritik und konstruktiver gegenseitiger Kritik, wie Hegel sie in der Phänomenologie des Geistes (1807) entwickelt, lösen lassen; siehe Kenneth R. Westphal „Objektive Gültigkeit zwischen Gegebenem und Gemachtem“ (Anm. 15), ders., „Kant’s Constructivism and Rational Justification“ (Anm. 13) und ders., „Urteilskraft, gegenseitige Anerkennung und rationale Rechtfertigung“ (Anm. 15). 17 Kant war sich hierüber allerdings im Klaren (GS 23:230 – 1).
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trauen können, die wir gewöhnlich brauchen und benutzen, die wir aber zu einer Zeit Z für eine Tätigkeit T gerade nicht benötigen, können wir diese anderen Tätigkeiten gar nicht ausführen, ebenso wie die derzeitige Tätigkeit in vielen anderen Fällen. Dem dritten und vierten Punkt zufolge bedienen wir uns dieser Materialien unter der Bedingung ihrer relativen Knappheit, was bedeutet, dass die eigenen Handlungen unvermeidlich die Handlungsmöglichkeiten der anderen beeinträchtigen. Wie Hume gesteht auch Kant zu, dass dies der eigentliche Geltungsbereich sozialer und auch politischer Prinzipien und Praktiken von Gerechtigkeit ist. Aus diesen vier Tatsachen folgt, dass für uns endliche Menschen Besitzrechte und der rechtliche Besitz bestimmter Materialien notwendig sind. Nach dem Prinzip des hypothetischen Imperativs sind wir gefordert, mindestens einige dieser Materialien besitzen zu wollen, auch wenn wir sie gerade nicht physisch handhaben. Darüber hinaus müssen wir auch die minimalen hinreichenden Bedingungen für diesen nicht physischen Besitz wie auch für dessen Aneignung und Aufbewahrung wollen. Das zu lösende Problem ist also ein dreifaches: Zum einen müssen wir uns bestimmter Materialien bedienen, um überhaupt handeln zu können, aber dadurch, dass wir sie verwenden, beschränken wir die Handlungsmöglichkeiten anderer. Zum anderen ist es nicht zu rechtfertigen, anderen einseitig Verpflichtungen aufzuerlegen oder sie gar einseitig in ihren Handlungsmöglichkeiten zu beschränken, schon allein weil dies dem allgemeinen Prinzip des Rechts zuwiderläuft. Und schließlich ist der „Besitz“ von Materialien, die man gerade nicht physisch ergriffen hat, nur dadurch überhaupt möglich, dass andere unsere Besitzanspruch darauf anerkennen und respektieren. Der Witz von Besitz liegt gerade darin, dass wir dadurch unsere Handlungen und Tätigkeiten wechselseitig koordinieren und gegenseitige Beeinträchtigungen so weit wie möglich vermeiden, auch im Hinblick darauf, welche Materialien wir selbst benutzen und wie wir sie benutzen. Für Kant liegt also der Hauptpunkt in der Frage, unter welchen Bedingungen die Besitznahme und der Gebrauch von Materialien, wenn überhaupt, möglich und legitim sind.18 Kant behauptet, das „rechtliche Postulat der praktischen Vernunft“, welches besagt, dass eine Sache besessen werden kann, berechtige uns dazu, andere zur Achtung unseres Besitzes zu verpflichten, und diese Pflicht werde den anderen dadurch auferlegt, dass wir etwas in Besitz nehmen.19 Kann das stimmen? Anscheinend er18 Welche und wie viele Güter eine Person besitzen darf, ist unter anderem durch geographische sowie soziale Bedingungen bestimmt, die für jede Gesellschaft geprüft werden müssen. Hier ist aber die Hauptfrage, wie – wenn überhaupt – Besitzrechte zu rechtfertigen sind. 19 Kant formuliert zwei verschiedene „Postulate“ der [rechtlichen] praktischen Vernunft: (1) „Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objectiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig.“ (RL § 2, 6:246,5 – 8); (2) „dass es Rechtspflicht sei, gegen Andere so zu handeln, dass das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden werden könne“ (RL § 6, 6:252,13 – 15). Zum Verhältnis dieser beiden Formeln siehe Westphal, „A Kantian Justification of Possession“ (Anm. 14), 92 – 106.
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legt eine erste Besitznahme anderen unilateral eine Verpflichtung auf. Dies läuft aber dem einzigen angeborenen Recht zuwider, dem Recht auf Freiheit, denn diese Freiheit schließt auch die Unabhängigkeit des Einzelnen von jedem einseitigen fremden Willen ein. Kants Analyse zeigt, dass eine erste Besitznahme keineswegs zur einseitigen Auferlegung von Pflichten führt. Wie Rousseau unterstreicht er ausdrücklich, dass das angeborene Recht auf Handlungsfreiheit auch eine „Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür“ bedeutet,20 jedenfalls soweit diese Unabhängigkeit „mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“; das „jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ auf Handlungsfreiheit schließt auch die „angeborne Gleichheit“ ein, „d. i. die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“ (6:237,29 – 34). Eine Schlüsselthese der kritischen Metaphysik bei Kant ist, dass wir andere Menschen als endliche Vernunftwesen unserer Gattung erkennen.21 Als solche endliche menschliche Wesen müssen sie sich unvermeidlich der sie umgebenden Materialien bedienen, um die eigenen Zwecke zu erreichen. Insofern gilt für alle Menschen genau dieselbe prinzipelle Erlaubnis, die sie umgebenden Materialien in Besitz zu nehmen und von ihnen Gebrauch zu machen, wodurch sie genau dieselbe Verpflichtung eingehen, die Besitzrechte anderer zu respektieren. Also können wir durch die eigene Besitznahme von etwas andere nur insoweit verpflichten, unsere Besitzrechte zu achten, als wir uns selbst damit verpflichten, auch die Besitzrechte anderer zu respektieren, und weiterhin anerkennen, dass für jeden Menschen als endliches Vernunftwesen genau dieselben Verpflichtungsgründe gelten. Dieser Schluss lässt sich durch eine Widerspruchsprobe kantischer Art – genauer: durch eine Konzeptionswiderspruchsprobe – nachweisen, wie ich schon früher gezeigt habe.22 Kant beweist also – ich verwende hier absichtlich einen Erfolgsausdruck –, dass unsere Besitzrechte wie auch die Verpflichtung, die Besitzrechte der anderen anzuerkennen und zu respektieren, gegenseitig und gleichursprünglich sind, weil der 20 Zu Rousseau siehe Kenneth R. Westphal, „Natural Law, Social Contract & Moral Objectivity: Rousseau’s Natural Law Constructivism“, in: Jurisprudence 4.1 (2013): 48 – 75; doi: 10.5235 / 20403313. 4. 1.48. 21 RL § 42, 6:307,14 – 26, vgl. KdrV A346 / B404 – 5, KdU 5:484,7 – 19; zur Diskussion dieser These siehe Kenneth R. Westphal, „Die positive Verteidigung Kants der Urteils- und Handlungsfreiheit, und zwar ohne transzendentalen Idealismus“, in: B. Ludwig, M. Brandhorst und A. Hahmann, Hrsg., Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus (Kant-Forschungen 20; Hamburg: Meiner, 2012), 259 – 277, bes. § 4,2; und Patricia Kitcher, „Kant versus the Asymmetry Dogma“, in: Kant Yearbook 5 (2013): 51 – 77. 22 Siehe Kenneth R. Westphal, „Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?“ (Anm. 14), ders., „A Kantian Justification of Possession“ (Anm. 14); Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz, Paderborn, Mentis, 2010; Christoph Horn, Nichtideale Normativität: Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie (Berlin; Suhrkamp, 2014), S. 196 – 219.
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Witz von Besitz gerade darin besteht, unsere Handlungen sozial zu koordinieren, und dies unter der Bedingung relativer Güterknappheit, die bedeutet, dass eine Besitznahme die Handlungsoptionen der anderen beeinträchtigt, sie „schmälert“, wie Kant sagt (RL § 6; 6:250,5).
V. Rechtfertigungsrichtungen Wie verhält sich nun also Kants Analyse zu der von Gauthier? Gauthier dürfte erwidern, dass meine Auslegung von Kants Rechtfertigungsmethode, in der die Rechtfertigung der eigenen Handlungen vor anderen grundlegend ist, eine petitio principii gegen seine Theorie begeht. Demgegenüber ist als Erstes festzustellen, dass Gauthiers Vertragstheorie auf eine Rechtfertigung der eigenen Handlungen vor anderen keineswegs verzichten kann. Ein Grund dafür wurde schon in III. angeführt: Gauthier betont zwar, dass nur die anderen verpflichtet sind, ihr Verhalten gegenüber einem selbst zu rechtfertigen, jedoch ist eine Person, die eine hinreichende Urteilsreife erreicht hat, um die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft überhaupt zu erwägen, aber „no value in society“ sieht (S. 135) und sie darum ablehnt, die Förderung der eigenen Erziehung durch andere mit eigenen Sozialbeiträgen auszugleichen, nach Gauthiers Austauschprinzip dennoch verpflichtet, ihre Ablehnung vor den anderen zu rechtfertigen. Ein zweiter Grund liegt darin, dass das Besitzrecht und damit auch das Recht auf Besitznahme ein grundlegendes Gesellschaftsprinzip ist. Gauthiers Forderung, eine legitime Gesellschaft müsse eine breite Auswahl von Lebensplänen samt guten Aussichten auf ihre Erfüllung anbieten, erfordert dieses Prinzip unmittelbar; zugleich ist es nur unter der Bedingung relativer Knappheit von Belang, unter der die eigene Besitznahme von Gütern die Handlungsmöglichkeiten der anderen schmälert. Relative Güterknappheit gehört schon lange und immer noch zur conditio humanae; darum ist sie für neuzeitliche Naturrechtslehren fundamental. Die asymmetrische, einseitige Aufgabe der Rechtfertigung, die Gauthier allein zugesteht, erfordert ihrerseits die rein hypothetische, gänzlich kontrafaktische Bedingung des Güterüberflusses, weil nur dann die eigene Besitznahme von Gütern die Handlungsmöglichkeiten der anderen nicht oder nur in unbedeutendem Maße beeinträchtigt.23 In dieser Hinsicht verschleiert die Abstraktheit von Gauthiers Analyse eine grundlegende und zugleich grobe Vereinfachung in seinem Rechtfertigungsmodell.24
23 Das entspräche sogar der Maßgabe Lockes (2. Abhandlung über die Regierung, § 27), dass man sich gemäß dem Naturgesetz Naturgüter nur unter der Voraussetzung aneignen dürfe, dass „enough, and as good, left in common for others“ sei – eine Maßgabe, die, anders als die Maßgabe der Unabhängigkeit der eigenen Entscheidungen (Willkür) bei Rousseau und Kant, nur für kleine, mitten in einer Wildnis liegende Gesellschaften gelten kann. Siehe John Locke, (hrsg. v. W. Euchner), , Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/ M: Suhrkamp, 1977.
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Diesen beiden Gründen zufolge unterliegen urteilsfähige Menschen nicht dem asymmetrischen Rechtfertigungsanspruch, den Gauthier behauptet (S. 134 – 5): dass nur die anderen gefordert seien, ihre Handlungen vor einem selbst zu rechtfertigen, besonders insofern sie die eigenen Handlungsmöglichkeiten betreffen, man selbst aber nicht umgekehrt auch die eigenen Handlungen vor den anderen rechtfertigen müsse. Die Behauptung, dass Sozialvertragsparteieneiner so asymmetrischen Rechtfertigungspflicht unterliegen, zeugt von einem basalen Missverständnis und ist eine irreführende Fehlbeschreibung ihrer – d. h. unserer – Rechtfertigungspflichten als handelnder, aber endlicher Vernunftwesen, die die conditio humanae zutiefst verfehlt und verfälscht. Wie eingangs (I.) schon angemerkt wurde, stellt Gauthier die „Rechtfertigungsrichtung“ seiner eigenen Vertragstheorie Scanlons Behauptung entgegen, dass jeder sein eigenes Handeln vor den anderen rechtfertigen müsse (S. 134 – 5). Die kantische Rechtslehre macht deutlich, dass diese Orientierungen beide fehlgehen, weil die Verpflichtung zu moralischer Rechtfertigung ursprünglich eine gegenseitige ist, zumindest in Bezug auf das Besitzrecht. Etwas in Besitz zu nehmen und es zu behalten erfordert mehr, als es bloß zu handhaben bzw. innezuhaben. Es erfordert, dass andere den eigenen Besitz als solchen anerkennen und respektieren, auch wenn man das betreffende Objekt vorübergehend beiseitelegt. Es erfordert auch, dass Besitzer wechselseitig den Besitz aller anderen anerkennen und respektieren, und zwar indem jeder anerkennt, dass die eigene Besitznahme ihm die Verpflichtung dazu auferlegt, die Besitzrechte anderer Menschen anzuerkennen und zu respektieren, im Prinzip wie auch in der Praxis. Also fordert die eigene Besitznahme von jedem, sein Handeln – seine Besitznahme wie auch den Gebrauch und die Aufbewahrung dessen, was man besitzt – gegenüber den anderen zu rechtfertigen, und dies wechselseitig. Diese Gegenseitigkeit ist in der Moral der Normalfall, weil die Moral sich weitgehend mit den Prinzipien und den durch diese gestifteten Praktiken sozialer Interaktion unter den Bedingungen von relativer Güterknappheit, hoher Bevölkerungsdichte und wechselseitigen menschlichen Abhängigkeiten befasst. Dadurch wird eine asymmetrische, einseitige Rechtfertigungsorientierung, wie Gau24 Diese ist leider keine Ausnahme. An anderer Stelle schreibt Gauthier Folgendes: „ … in a technologically advanced contractarian society persons would face impoverishment only as a consequence of their failure to take advantage of the opportunity to choose a productive and satisfying life-plan. They would not be, as many persons in our society are, denied such an opportunity“ (1997, Anm. 1; S. 146 – 7). In welcher Weise rein technologischer Fortschritt zu einem Gerechtigkeitsfortschritt führen soll, der die erfolgreiche Umsetzung individueller Lebenspläne wirksam befördert und verhindert, dass dies faktisch vielen Menschen vorenthalten wird, wie Gauthier hier zugesteht – das ist sein eigener „revolutionärer“ Anspruch (S. 148) –, erklärt Gauthier nicht. Aber damit behandelt seine Vertragstheorie das Grundproblem der Verteilungsgerechtigkeit als ein rein technologisches Problem und vernachlässigt, dass weitere Produktionsfortschritte nur denen dienen würden, die (nach dem Maßstab seiner Vertragstheorie) ohnehin schon unverhältnismäßig von der Produktionsgesellschaft profitieren. Man hätte erwarten können, dass das Scheitern von Marxens Hoffnung, die Knappheitsbedingungen der Verteilungsgerechtigkeit durch beschleunigte Güterproduktion zu überwinden, zu etwas mehr Realismus auch in Gauthiers Vertragstheorie führt.
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thier sie vertritt, aufgehoben. Es ist nicht Kants Ansicht, sondern die von Gauthier, die an irreführender Abstraktheit krankt.25 VI. Schlussbemerkung Sozialvertragstheorien als Rechtfertigungsstrategien stehen vor folgendem Dilemma: Wie legitimiert eine Vertragsvereinbarung die daraus folgende Vereinbarung? Hält ein Sozialvertrag lediglich etwas fest, was schon durch andere Gründe als vereinbarungswürdig gerechtfertigt ist? Illustriert er lediglich das Verständnis der Vertragspartner von solchen Rechtfertigungsgründen und ihre Zustimmung zu diesen? Was genau trägt die gegenseitige Vereinbarung als solche zur Rechtfertigung einer abgeschlossenen Sozialvereinbarung bei? Wenn er nicht selbst eindeutig etwas zur Identifizierung bzw. zur Rechtfertigung moralischer Grundnormen oder -praktiken beiträgt, bleibt der Sozialvertrag rein illustrativ, ein bloßes Symbol, aber keine Rechtfertigungsmethode – eben weil er selbst keine Rechtfertigung leistet. Wenn er aber nicht eben durch die Vereinbarung klar zur Rechtfertigung beiträgt, kann der Sozialvertrag keinesfalls die einzige und eine allein hinreichende Grundlage moralischer Rechtfertigung bilden. Das Problem relevanter Beschreibungen (III. – V.) und Gauthiers Verweis auf Prinzipien und Prämissen, die wahr bzw. gerecht und gerechtfertigt sein müssen – sowohl in Bezug auf einzelne Menschen als auch in Bezug auf Gesellschaften (I., II.) –, zeigen klar, dass seine Vertragstheorie überhaupt keine positive, entscheidende oder gar unverzichtbare Rechtfertigung des Sozialvertrags leistet. Darum irrt Gauthier, wenn er behauptet, seine Vertragstheorie sei die „einzige“ haltbare Form des Moralkonstruktivismus (S. 132, vgl. S. 33, 142).26 Im Gegenteil bestätigt das Scheitern seines Versuchs, eine solche Vertragstheorie zu entwickeln, dass eine haltbare Form des Moralkonstruktivismus eher in dem vertragsfreien 25 Gauthier würde darauf wohl erwidern, dass Kants praktische Philosophie sich auf angeblich objektive Werte gründet, eine Ansicht, die sein Kontraktarianismus ablehnt (S. 133). Dem sind zwei Punkte entgegenzuhalten: Zum Ersten lassen sich Kants Verallgemeinerungsproben ohne Rückgriff auf die Menschenwürde formulieren und aufrechterhalten; siehe Kenneth R. Westphal, „Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?“ (Anm. 14), §§ 4 – 5; ders., „Practical Reason: Categorical Imperative, Maxims, Law“ (in: W. Dudley und K. Engelhard, Hrsg., Kant: Key Concepts, London: Acumen, 2010, S. 103 – 119), § 5. Zum Zweiten lehnt Gauthier objektive Werte mit der Begründung ab, sie seien zur Erklärung menschlicher Handlungen nicht nötig. Aber selbst wenn das zutrifft, beschäftigt sich normative Moralphilosophie nicht nur mit der Erklärung einzelner menschlicher Handlungen, sondern darüber hinaus auch mit ihrer Bewertung; siehe David Gauthier, Morals by Agreement (Anm. 2), S. 56 – 7. Die bloße „Erklärung“ von Handlungen als solchen betrifft keine normative Sachfrage (vgl. oben, Anm. 13). Man könnte annehmen, dass die politischen Gräuel des 20. Jahrhunderts diese Betrachtung überflüssig machen, aber auf jeden Fall ist Gauthiers Ablehnung objektiver Werte abwegig. 26 Neuerdings versucht Southwood, Contractualism and the Foundations of Morality (Anm. 3), einen „deliberative contractualism“ (z. T. im Anschluss an Habermas) zu entwickeln, aber dieser scheitert an ähnlichen Problemen; siehe dazu meine Rezension, erscheint demnächst in: Journal of Moral Philosophy.
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Zweig des neuzeitlichen Naturrechts liegt, wie es von Hume und Rousseau, aber vor allem von Kant (sowie im Anschluss an Kant von Hegel) entwickelt wurde.27 Denn diese Philosophen haben festgestellt, dass wir Menschen als endliche Vernunftwesen, ob nun in der Theorie oder in der Praxis, weder auf eine Gesellschaftsmitgliedschaft noch auf Grundprinzipien der Gerechtigkeit verzichten können. Beliebig sind diese für uns Menschen keineswegs.28
Summary Gauthier’s contractarianism begins with an idea of a rational deliberator but ‘finds no basis for postulating a moral need for the justification of one’s actions to others. The role of agreement is to address each person’s demand that the constraints of society be justified to him, not a concern that he justify himself to his fellows’ (Gauthier 1997, 134 – 5). He contrasts his view with Scanlon’s contractualism, according to which agreement with others is the core of morality and each agent has the burden of justifying his or her actions to others. Both of their views count as ‘constructivist’ because they reject moral realism and hold that normativity is a function of what we do, either individually or collectively. Kant’s Rechtslehre is neutral regarding moral realism and yet constructivist about moral norms. However, the relevant acts basic to Gauthier’s and Scanlon’s views concern voluntary agreements we make. Using agreement to establish basic norms faces some serious difficulties. Kant’s Rechtslehre avoids these problems by showing how basic social norms can be identified and justified independently of voluntary agreement. Moreover, it does so in a way that shows that an individual’s justification of his or her acts to others and the justification of the acts of others to any individual are inseparable aspects of one and the same justificatory reasons in which voluntary agreement plays no role. I re-examine Gauthier (1997) because it addresses – and raises – much more fundamental issues than recent discussions of social contract theory, including Gauthier (2013).
27 Siehe Kenneth R. Westphal, „Objektive Gültigkeit zwischen Gegebenem und Gemachtem“ (Anm. 15), ders., „Von der Konvention zur Sittlichkeit“ (Anm. 9), ders. „Kant, Hegel, and Determining Our Duties“, in: S. Byrd und J. Joerden, Hrsg., Philosophia practica universalis. Festschrift für Joachim Hruschka. Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics 13 (2005b): 335 – 354; sowie ders., „Vernunftkritik, Moralkonstruktivismus & Besitzrecht bei Kant“, erscheint demnächst in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. 28 Auf freundliche Einladung von Christoph Horn habe ich diesen Beitrag am 25. 10. 2012 im Bonner Institut für Philosophie vorgetragen. Ich danke den dort ansässigen PhilosophInnen sehr herzlich für ihre anregende Sachdiskussionen sowie Kathrin Flottmann für ihre sehr hilfreiche Korrektur meines Entwurfs.
Tagungsberichte – Conference Reports
Tagungsbericht Deutsch-japanisch-polnisch-türkische Tagung „Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis“ vom 26. bis 30. August 2013 Im Zeitraum vom 26. bis zum 30. August 2013 fand die deutsch-japanisch-polnisch-türkische Tagung „Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie – ein fruchtbares Spannungsverhältnis“ statt. Die Tagung wurde von Prof. Dr. Jan C. Joerden – Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Ethik (IZE) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) – und Prof. Dr. Dr. h. c. Andrzej J. Szwarc – Direktor des Deutsch-Polnischen Forschungsinstituts am Collegium Polonicum in Słubice – veranstaltet, und zwar sowohl im Collegium Polonicum in der polnischen Grenzstadt Słubice als auch in der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) auf der Słubice gegenüber liegenden Oderseite. Die Organisation der Tagung beruhte zudem auf einer engen Kooperation mit Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Keiichi Yamanaka (Osaka) und Prof. Dr. Dr. h. c. Yener Ünver (Istanbul). Die Tagung knüpfte dabei an eine Tradition von deutschjapanisch-polnischen Strafrechtskolloquien der Stipendiaten der Alexander von HumboldtStiftung an, die sich vor allem der Strafrechtsdogmatik im engeren Sinne gewidmet haben. Bisher fanden vier dieser Kolloquien statt, das letzte vor vier Jahren ebenfalls in Słubice und Frankfurt (Oder). Der Tagung lag der Gedanke zugrunde, dass zwischen der Rechtsphilosophie und der Strafrechtsdogmatik ein geistesgeschichtlicher Zusammenhang besteht. Denn die Strafrechtsdogmatik hat schon immer viele ihrer Argumentationsfiguren und Denkmodelle dem Naturrecht und damit der Praktischen (bzw. der Moral-)Philosophie entlehnt. So haben viele strafrechtliche Begriffe (wie etwa der Handlungsbegriff, der Kausalbegriff oder der Vorsatzbegriff) ihre Wurzeln in naturrechtlichem bzw. moralphilosophischem Denken. Darüber hinaus liefern Moral- und Rechtsphilosophie wesentliche Kriterien für die Auslegung strafrechtlicher Normen, indem sie einerseits Theorien unmittelbar für die Methode der Auslegung zur Verfügung stellen und andererseits eine Reflexion über die Strafbegründung und die sog. Strafzwecke ermöglichen. Zudem ist der Einfluss der philosophischen Logik auf die Strafrechtsdogmatik zu erwähnen. Schließlich bestimmt auch die rechtsphilosophische Staatstheorie die strafrechtliche Diskussion wesentlich mit. Die Diskussionen der Tagung über die Denkfiguren der Strafrechtsdogmatik wurden auch aus der internationalen Perspektive bereichert. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass ein an rechtsphilosophischen Grundlagen orientierter Rechtsvergleich ein denkbar gut geeigneter Ausgangspunkt dafür ist, zu neuen Erkenntnissen über das Strafrecht zu kommen, und zwar umso mehr als es die historische Entwicklung mit sich gebracht hat, dass einige Länder, die durchaus divergente philosophische Traditionen aufweisen, ähnliche Strafrechtsordnungen in Geltung gesetzt haben. Insbesondere sind dies Japan, Polen und die Türkei, deren Strafrechtsordnungen eine deutliche Affinität zum deutschen Strafrecht zeigen. Nicht zuletzt ist daher die
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deutsche Sprache die „lingua franca“ der Diskussionen über Strafrecht zwischen diesen Ländern. Das Konzept der Tagung war es deshalb, auf der Basis der bereits bestehenden strafrechtsdogmatischen Diskussionen zwischen den genannten Ländern die Perspektive auf das Strafrecht durch die Thematisierung seiner moral- und rechtsphilosophischen Grundlagen zu erweitern. Dies wird zwar dem Grundsatz nach in allen vier Ländern auch schon mit Blick auf das jeweilige nationale Recht durchaus betrieben; neu ist allerdings die Kombination von rechtsphilosophischer Rückbindung der Strafrechtsdogmatik einerseits und dem internationalem Vergleich der beteiligten Strafrechtslehren andererseits. Dies alles zudem vor dem Hintergrund, dass sich bei ähnlicher Strafrechtsdogmatik die (theologischen und moral-)philosophischen Fundamente in den angesprochenen Ländern durchaus erheblich voneinander unterscheiden. Das Programm der Tagung umfasste fünf allgemeine Themenstellungen (Sektionen) mit insgesamt einundzwanzig Referaten: (1) Strafrechtsphilosophie, (2) Staatstheoretische Prinzipien des Strafrechts, (3) Strafrechtliche Grundfragen, (4) Begründung von Rechtswidrigkeit und Schuld sowie (5) Strafvollstreckung und Freiheit. Für jede Sektion wurde grundsätzlich jeweils ein Referat eines/ er deutschen, eines/ er japanischen, eines/ er polnischen und eines / er türkischen Kollegen/ in vorgesehen. Die Sektionsleitung wurde von den Tagungsveranstaltern übernommen, die auch die anschließenden Diskussionen leiteten. Nach der Eröffnung der Tagung durch die Veranstalter hielten der Präsident der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Dr. Gunter Pleuger und der Dekan der Fakultät für Recht und Verwaltung der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań Prof. Dr. Roman Budzinowski jeweils eine kurze Eröffnungsrede. Den einleitenden Vortrag der ersten Sektion („Strafrechtsphilosophie“) zum Thema „‚Entphilosophierung‘ der Strafrechtsdogmatik in Japan: oder über die Abschaffung des Denkens“ hielt Prof. Dr. Dres. h. c. Makoto Ida (Keio-Universität Tokyo). In seiner Präsentation ging er zunächst auf das Auf und Ab der philosophisch orientierten Strafrechtswissenschaft ein, die in Japan mit der Übernahme des Tatbestandsbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich gestärkt wurde und in den 1950er und 60er Jahren mit dem Streit um die Handlungslehre ihren Höhepunkt erreichte, um anschließend einige Gedanken über die Hintergründe der hiermit verbundenen „Entphilosophierung“ der Strafrechtsdogmatik zu machen und anhand von zwei Beispielen aufzuzeigen, welche fatalen Folgen diese Tendenzen für die Strafrechtswissenschaft mit sich bringen und bringen werden. In seinem anschließenden Vortrag zum Thema „Das Verhältnis der Strafrechtsdogmatik zur Rechtsphilosophie in der Türkei. Einige rechtsvergleichende Betrachtungen“ widmete sich Dr. Dr. Altan Heper (Özyeğin-Universität Istanbul) den gegenwärtigen Verhältnissen und Verkettungen zwischen der deutschen Rechtsphilosophie und der Strafrechtsdogmatik in der Türkei. Zunächst betonte Heper, dass die Verbindung der Fächer Strafrecht und Rechtsphilosophie in Deutschland traditionell sehr eng sei, was inzwischen auch die türkische Strafrechtsdogmatik im erheblichen Maße beeinflusse. Nach einer kurzen Darstellung der Besonderheiten des türkischen Strafrechts wies er auf einige Bereiche und Tendenzen hin, die sich unter diesem Einfluss befinden. Dazu gehören u. a.: Grundmodelle der Strafbegründung; Präventions- und Vergeltungstheorien; Kritik der Ausweitung des Strafrechts auf immer neue Bereiche (Neukriminalisierung statt Entkriminalisierung); Kritik der Entwicklung vom klassischen Kernstrafrecht zum Sicherheitsrecht und der damit verbundenen Flexibilisierung traditioneller rechtsstaatlicher Bindungen und der Abkehr vom ultima ratio-Prinzip. Trotz dieser Entwicklung bestehe, laut Heper, in der türkischen Strafrechtsphilosophie in vielen Bereichen noch ein Nachholbedarf.
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Mit dem Thema „Das Strafrecht im Spannungsverhältnis zwischen den Herausforderungen der Postmoderne und der Religion“ lenkte Prof. Dr. Maciej Małolepszy (Europa-Universität Viadrina/ Collegium Polonicum, Słubice) den Blick auf die Schnittstellen zwischen der Religion und dem Strafrecht. Er hob zunächst hervor, dass es auf diesem Gebiet zu unterschiedlichen Spannungen komme, die u. a. daraus resultierten, dass zwischen den Werten, die den Kernbereich des Strafrechts und der Religion ausmachen, Widersprüche vorkommen könnten. Um diese Werte zu schützen, bedienen sich Strafrecht und Religion unterschiedlicher Verbote und Gebote, die wiederum miteinander in Konflikt geraten könnten, wenn ein Wertesystem etwas gebiete, das das andere Wertesystem verbiete. Małolepszy bezog seine Überlegungen auf zwei aktuell umstrittene Fragen, und zwar die Problematik der Zwangsbeschneidung von Jungen in Deutschland und die Problematik der rituellen Schlachtung von Tieren in Polen. Im Ergebnis stellte er fest, dass sowohl die deutsche als auch die polnische Rechtsordnung erhebliche Probleme damit haben, die diesbezüglichen jüdischen und muslimischen Rituale in ihren Rechtsordnungen zu legitimieren. Aus seiner Sicht lassen sich aber die daraus erwachsenden Probleme mithilfe strafrechtlicher Verbote langfristig nicht lösen. Die dabei zum Vorschein kommende Unfähigkeit des Strafrechts ergebe sich jedoch nicht nur daraus, dass die Juristen sich nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt bei diesen Problemen einigen könnten, sondern auch daraus, dass das Strafrecht – wie jedes Recht kraft seiner Entscheidungsmacht – bereits eine Form von Gewalt sei, die selbst keine Überzeugungskraft habe. Deshalb müsse dem Prozess der Rechtsfindung in diesem Bereich eine gewaltlose Kommunikation zwischen den Gegnern und den Befürwortern der strittigen Rituale zugrunde liegen. Im letzten Referat der ersten Sektion befasste sich Prof. Dr. Gerhard Seher (Freie Universität Berlin) mit dem Umgang des Strafrechts mit Tabus. Ausgehend von der Erklärung des Begriffs des Tabus, sowie dessen Arten und Kriterien, hob er hervor, dass die Besonderheit dieses Phänomens darin bestehe, in rationaler Weise über ein normatives Phänomen nachzudenken, das vor allem durch seine Irrationalität gekennzeichnet sei. Dennoch gebe es auch in den heutigen zivilisierten Gesellschaften moralische und rechtliche Normen, deren Besonderheiten sich am besten dadurch erfassen ließen, dass man sie als „Tabus“ kennzeichnet; und es sei bemerkenswert, dass das Recht in vielen Ländern die Verletzung solcher Tabus mit Strafe bedrohe. Zum Schluss rückte Seher die Frage in den Mittelpunkt, welche Gründe es für einen strafrechtlichen Schutz von Tabus geben könne. In dem die zweite Sektion („Staatstheoretische Prinzipien des Strafrechts“) eröffnenden Referat zum Thema „Die Verteilung von Macht und Verantwortung aus der Sicht rechtsstaatlicher Prinzipien“ lenkte Prof. Dr. Dr. h. c. Yener Ünver (Özyeğin-Universität Istanbul) den Blick der Tagungsteilnehmer auf den Stand der Anforderungen an einen Rechtsstaat, insbesondere unter Berücksichtigung von Beispielen aus türkischen Gesetzesbestimmungen und der türkischen Rechtsprechung. Der Grund für die Behandlung des Themas sei es, dass es wegen der Ereignisse in den letzten Jahren insbesondere im türkischen Rechtsbereich sehr strittig geworden sei, was Demokratie, Gesetzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit bedeuten und ob die Judikative ein politisches Werkzeug oder ein Werkzeug des Rechts und der Gerechtigkeit sowie ein Bereich sei, in dem man Schutz finden könne, und schließlich, wem die „Rechtssicherheit“ eigentlich dienen solle: dem Bürger oder etwa (nur) den Staatsorganen. Im nachfolgenden Vortrag zu dem Thema „Die Grenze zwischen Strafrecht und Sittlichkeit“ behandelte Prof. Dr. Gunnar Duttge (Georg August Universität Göttingen) die Frage, anhand welchen Maßstabes sich eine Trennlinie zwischen (Straf-)Recht und Sittlichkeit ausmachen lässt. Die Aktualität und Relevanz des Themas machte er anhand von drei konkreten, derzeit kontrovers diskutierten Anwendungsbeispielen deutlich. Sie betreffen die Begrenzung der Dis-
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ponibilität bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit durch die „Sittenwidrigkeits“-Klausel des § 228 StGB sowie die Tätigkeit der „interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommission“ bei der Bewertung der Vornahme eines vor-nidativen Gentests („Präimplantationsdiagnostik“). Schließlich hob Duttge hervor, dass es grundsätzlich in die Verantwortung des Einzelnen falle, selbst über seine Lebensgestaltung zu befinden. Dies gelte, und damit ist nun das dritte der erwähnten Anwendungsbeispiele in den Blick genommen, auch oder gar insbesondere dann, wenn es um die existentielle Frage nach dem „Wie“ des eigenen Sterbens gehe. In den Problemkreis der Differenz zwischen Recht und Moral führte – am Beispiel des Kernkraftunfalls in Fukushima – der Vortrag von Prof. Dr. Ken Takeshita (Kansai-Universität Osaka) ein. In seinen Ausführungen gab er zunächst einen Überblick über die auf die Situation des Kernenergieunfalls vom 11. März 2011 anzuwendenden Rechtssätze im japanischen Rechtssystem, um anschließend auf das damit zusammenhängende Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral im Rahmen einer Notstandssituation hinzuweisen. Illustriert wurde die Problematik am Beispiel der Schuldigkeit des im Notstand handelnden hochqualifizierten Fachmanns, der sich aufgrund seiner fachlichen Kenntnis in einer solchen Situation befehlswidrig verhält, um die von dem havarierten Kernkraftwerk ausgehenden Gefahren zu beherrschen. Daraufhin referierte Prof. Dr. Korkut Kanadoğlu (Özyeğin-Universtität Istanbul) zu dem Thema: „Die Position des türkischen Verfassungsgerichts zu den Grundprinzipien des Strafrechts“. Im Vordergrund seines Vortrages standen Überlegungen zur aktuellen rechtlichen Situation der türkischen Verfassung sowie des türkischen Verfassungsgerichts, und zwar insbesondere im Hinblick auf die strafrechtlichen Grundprinzipien. Nach einem rechtshistorischen Überblick über die letzten Änderungen und den aktuellen Stand der türkischen Verfassung, durch den eine kontinuierliche Liberalisierung veranschaulicht wurde, beleuchtete Kanadoğlu die Schnittstellen zwischen der Strafgerichtsbarkeit und der Verfassung, wobei er die Bedeutung des erst im Jahre 2012 eingeführten Verfahrens der (individuellen) Verfassungsbeschwerde näher erläuterte und betonte. Im Rahmen der dritten Sektion wurden strafrechtliche Grundfragen behandelt. In seinem einleitenden Vortrag trug Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Keiichi Yamanaka (Kansai-Universität Osaka) Überlegungen zu den Verhaltensnormen in der liberalen Präventionsgesellschaft vor. Zunächst konzentrierte er sich auf die Grundkonzeption des Normensystems in einer Risiko- und Präventionsgesellschaft, um im Weiteren die Handlungsfreiheit der Menschen in einer solchen Gesellschaft näher zu untersuchen. Den Schwerpunkt seines Vortrags legte Yamanaka auf zwei Problembereiche: zum einen auf die Rolle der „Verhaltensnorm“ im Strafgesetzbuch innerhalb des gesamten Rahmens der Maßnahmen für die Sozialkontrolle und zum anderen auf den Sinn einer solchen Norm für die Kriminalitätsbekämpfungin der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit dem Thema „P. J. A. Feuerbachs Deduktion der Rechte“ befasste sich Prof. Dr. Hidehiko Adachi (Universität Kanazawa). Zunächst widmete er sich den Überlegungen Feuerbachs zur Einteilung der Handlungen sowie zur absoluten und relativen Deduktion der Rechte, um im Weiteren auf die Kritik der natürlichen Rechte einzugehen und festzustellen, dass sich aus Feuerbachs Rechtslehre nicht die Trennung, sondern vielmehr die Beziehung von Recht und Sittengesetz ergebe. So ließen sich einerseits Rechte zu freien Handlungen – d. h. die Erlaubnis der von Sittengesetzen weder gebotenen noch verbotenen Handlungen – und Rechte zu moralischen Handlungen – d. h. die Erlaubnis der von den Sittengesetzen gebotenen Handlungen – aus den Sittengesetzen des berechtigten Subjekts „absolut“ herleiten, während sich andererseits Anspruchsrechte und die mit ihnen verbundene Zwangsmöglichkeit aus den Sittengesetzen des dem Berechtigten gegenüberstehenden verpflichteten Subjekts nur „relativ“ herleiten ließen.
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Prof. Dr. Frank Dietrich (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) widmete sich in seinem Beitrag der Vereinbarkeit von Überlegungen zur gezielten Vererbung genetischer Defekte mit rechtsstaatlichen Grundentscheidungen. Seine Thesen machte er am Beispiel eines „Wunschkindes mit Behinderung“ deutlich, und zwar im Lichte der im Juli 2011 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Neuregelung der Präimplantationsdiagnostik im Embryonenschutzgesetz. Er betonte dabei, dass das Gesetz die gezielte Vererbung genetischer Defekte ausdrücklich nicht verbiete. Weiterhin wies er darauf hin, dass auch die ethische Bewertung, die der Gesetzgeber in jedem Einzelfall verlange, nicht gegen die positive Selektion von Behinderungen spreche. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass sich zum einen Paare, die ein Kind mit Behinderung auswählen, weder einer Schädigung noch der Verletzung eines moralischen Anspruchs schuldig machen. Zum anderen ergebe sich aus der – durchaus problematischen – Annahme einer Pflicht, die Lebensqualität zukünftiger Kinder zu maximieren, kein überzeugender Einwand gegen die vorsätzliche Weitergabe der Behinderung. Abgeschlossen wurde der Vortrag mit der These, dass eine weitere Änderung der geltenden Rechtslage mit dem Ziel, die bewusste Auswahl behinderter Kinder zu unterbinden, nicht geboten sei. Dementsprechend erscheine auch die Ausübung staatlichen Zwangs, um den Eingriff gegen den Willen der Eltern durchzuführen, illegitim. In ihrem anschließenden Vortrag zum Thema „Strafrechtliche Probleme der Organtransplantationen in Polen“ befassten sich Prof. Dr. Emil Pływaczewski und Prof. Dr. Ewa Monika Guzik-Makaruk (beide Universität Białystok) mit der Problematik der Organtransplantation. Im ersten Teil des Vortrags wurde der Begriff der Organtransplantation näher beleuchtet. Ergänzend hierzu behandelten die Referenten die in der Fachliteratur diskutierte Frage, unter welchen Voraussetzungen es zulässig sein solle, verstorbenen Personen Organe, Gewebe oder Zellen zu entnehmen. In diesem Zusammenhang wurden zwei Hauptmodelle veranschaulicht, und zwar die Widerspruchslösung und die Zustimmungslösung. Weiterhin erläuterten Pływaczewski und Guzik-Makaruk den aktuellen Stand der Rechtslage zur Organtransplantation in Polen. Dabei stellten sie fest, dass die Verfassung der Republik Polen, anders als die Grundgesetze in manchen anderen demokratischen Ländern, keine sich direkt auf die Belange der Transplantationsmedizin beziehenden Bestimmungen enthält. Zugleich betonten sie aber, dass sich die vorrangigen Grundsätze jedenfalls indirekt ableiten ließen. Der Vortrag schloss mit einer Skizzierung der strafrechtlichen und kriminologischen Probleme der Organtransplantation in Polen. In ihrem Vortrag „Schutz der zukünftigen Rechtsgüter im japanischen Strafrecht“ legte Prof. Dr. Kanako Takayama (Universität Kyoto) eingangs dar, dass die zu behandelnde Problematik im japanischen Strafrecht bisher noch nicht ausführlich diskutiert worden sei. Hingegen seien in Deutschland generationenübergreifende Perspektiven in vielfältiger Hinsicht anerkannt und untersucht. Die in dem Vortrag entwickelte Ansicht plädiert dafür, dass auch zukünftige Rechtsgüter – darunter insbesondere die Umwelt, die genetische Verschiedenheit sowie die Identität, die Ehre und die Würde der Menschheit – geschützt werden müssten, und zwar im Interesse des Fortbestands der Menschheit. Neben dem naturwissenschaftlichen Grund dafür gebe es auch einen rechtssystematischen, der mit dem universalen Schutz der zukünftigen Rechtsgüter zusammenhänge und in der Gleichheit als Basis der gesamten Rechtsordnung bestehe. Hierzu kämen auch kulturelle Aspekte, wobei – wie Takayama unterstrich – kulturelle Rechtsgüter allerdings variabel seien. Abschließend stellte sie fest, dass die Abgrenzung der notwendigen Bedingungen für den Fortbestand der Menschen von den anderen (kulturellen, variablen) Rechtsgütern nicht immer einfach sei; und dies sei insbesondere insoweit wesentlich, als es bei den wichtigsten Rechtsgütern auch um die Grenzen der Strafbarkeit gehe.
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Die Begründung von „Rechtswidrigkeit und Schuld“ bildete das Thema der vierten Sektion. In seinem einleitenden Referat „Die freiheitstheoretische Notwehrbegründung“ erläuterte Prof. Dr. Hirokazu Kawaguchi (Kansai-Universität Osaka), dass es sowohl in der japanischen als auch in der deutschen Strafrechtswissenschaft umstritten sei, wie sich die Notwehrbefugnis legitimieren lasse. Ausgehend von der Vielfältigkeit der Ansichten zur Notwehrbegründung, die insbesondere durch die individualistische und die dualistische Theorie gekennzeichnet seien, wies Kawaguchi darauf hin, dass nach der herrschenden Auffassung die Interessen des Angegriffenen am Erhalt seiner Individualrechtsgüter nicht als Legitimationsgrund ausreichen sollten, da man dann die spezifische Schärfe des Notwehrrechts und das Fehlen einer Verhältnismäßigkeitsvoraussetzung nicht erklären könne. Aus diesem Grunde vertrete die herrschende Meinung einen dualistischen Ansatz, wonach die Notwehr nicht nur den Schutz der Individualrechtsgüter des Angegriffenen, sondern auch die Rechtsbewährung bezwecke. Im Anschluss schlug Kawaguchi statt des binären Codes individualistisch vs. überindividuell aber eine alternative Gegenüberstellung vor: klugheitstheoretische vs. freiheitstheoretische Notwehrbegründungen, wobei er unter Bezugnahme vor allem auf die Arbeiten von Michael Pawlik sich für eine freiheitstheoretische Notwehrbegründung aussprach. Anhand eines aktuellen Beispiels eines Täters als eines emotional beeinflussten Subjekts untersuchte Dr. Gülsün Ayhan Aygôrmez (Universität Izmir) im nachfolgenden Referat die Berücksichtigung von Emotionen im türkischen materiellen Strafrecht und insbesondere die Normierung zur ungerechtfertigten Provokation im türkischen Strafrecht (Art. 29 des türkischen StGB). Ausgehend von einer vergleichenden Darstellung der türkischen mit der deutschen Rechtslage auf diesem Gebiet wies die Referentin auf mehrere Widersprüche bei der Normierung der Provokation im türkischen Recht hin, und zwar nicht nur in der genannten Strafnorm, sondern auch in Bezug auf die gesamte Rechtsordnung. Im Mittelpunkt des Vortrags von Dr. Joanna Długosz (Europa-Universität Viadrina/ Adam Mickiewicz-Universität Poznań) zum Thema „Die Konzepte des nullum crimen sine legeGrundsatzes in der polnischen und deutschen Strafrechtsdogmatik“ stand zum einen die Frage, wie weit die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des polnischen Verfassungsgerichtshofs im Hinblick auf die strafrechtlichen Verbote und Sanktionen Grenzen zieht, und zum anderen die Erarbeitung der Grundsätze und Methoden der Modifizierung (bzw. Neugestaltung) des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes durch die Rechtsprechung. Im Ergebnis ihrer Ausführungen stellte Długosz fest, dass es grundsätzlich keine nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Bestimmung und des Verständnisses des nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatzes in der polnischen und der deutschen Strafrechtsdogmatik gebe. Es bestehe allerdings noch erheblicher Klärungsbedarf an der Schnittstelle zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht. Anschließend lenkte Prof. Dr. Masami Okaue (Universität Tsukuba) in ihrem Vortrag über die „Willensfreiheit und die japanische Gesellschaft“ den Blick auf einige wichtige Problembereiche der Willensfreiheit im Lichte ihrer Wahrnehmung durch die japanische Gesellschaft, und zwar im Kontext der neuen Methoden der Hirnforschung. Nach der Darstellung der Diskussion um die Willensfreiheit in Japan erläuterte sie abschließend ihre eigene Stellungnahme zu der Problematik, indem sie zwar ihre Skepsis gegenüber der Beweiskraft des Experiments um die Hirnforschung und seinen Konsequenzen für das Strafrecht unterstrich, zugleich aber die normative Bedeutung der Willensfreiheit betonte. Den Gegenstand des ersten Referates in der fünften Sektion („Strafvollstreckung und Freiheit“) bildeten die Bewährungsmaßnahmen im polnischen Strafrecht. Prof. Dr. Zbigniew Ćwiąkalski (Jagiellonen Universität Kraków), der sich den Überlegungen zum geltenden Sys-
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tem dieser Maßnahmen im polnischen Recht widmete, hob hervor, dass im polnischen StGB eine erhebliche Bedeutung nicht nur der Anwendung und Vollstreckung von Strafen zukomme, sondern auch der Anwendung von auf positiven Prognosen gegenüber der Täterperson beruhenden Einrichtungen. Dabei gehe es um Täter von nicht allzu schweren Straftaten, aber auch um zu Hauptstrafen Verurteilte, bei denen allerdings die Hoffnung bestehe, dass sie nach der verkürzten Strafverbüßung nicht wieder straffällig werden. In diesem Zusammenhang betonte Ćwiąkalski, dass die im polnischen Strafrecht vorgesehenen Bewährungsmaßnahmen eine rationale Strafpolitik möglich machen. Seiner Ansicht nach sei sogar anzunehmen, dass die Justiz ohne diese Maßnahmen keine Chancen hätte, solche Strafen zu verhängen, die einerseits nicht zur übermäßigen Repressivität führen und andererseits auf soziale Akzeptanz stoßen würden. Das System der Bewährungsmaßnahmen biete nämlich den Straftätern auf jeder Etappe des Strafverfahrens die Chance auf Besserung, sei es im vorbereitenden Verfahren, im Gerichtsverfahren oder letztendlich im Strafvollzugsverfahren. In der Einführung zu ihrem nachfolgenden Vortrag über die Maßnahmen gegenüber psychisch kranken Tätern in Japan wies Prof. Dr. Yuri Yamanaka (Kansai-Universität Osaka) darauf hin, dass in Japan für den Umgang mit psychisch kranken Tätern zwei unterschiedliche Alternativen vorgesehen seien: Strafanstalt und medizinische Einrichtung, wobei jeder psychisch kranke Täter nach Maßgabe seiner Schuldfähigkeit in eine dieser Einrichtungen eingewiesen werde. In der Praxis käme es aber vor, dass für eine solche Entscheidung maßgeblich sei, wer bei dem betreffenden Fall der Gutachter gewesen sei und wie die Staatanwaltschaft sich gemäß dem Opportunitätsprinzip entschieden habe. Aus diesem Grunde gebe es in der Praxis viele problematische Grenzfälle. Der Vortrag zeigte, dass diese eher „zufällige“ Auswahl für den betroffenen psychisch kranken Gefangenen einen gravierenden Nachteil mit sich bringen könne. Da angesichts der aktuellen Statistiken die Mehrheit der psychisch kranken Täter in eine Strafanstalt eingewiesen werde und nicht in die medizinische Behandlung, sei es wichtig, dass die Qualität des Gutachters und des Gutachtens sichergestellt und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft regelmäßig von einem externen Organ bzw. einer Aufsichtsbehörde überprüft würden. Ferner sei es unerlässlich, dass die Richter sich konsequenter an das Schuldprinzip hielten. Mit dem Thema „Die Willensfreiheit des Gefangenen im türkischen Strafrecht“ befasste sich zum Abschluss der Tagung Dr. Ramazan Barış Atladı (Türk-Alman Üniversitesi Istanbul). Im Vordergrund seines Vortrags stand die Frage nach der Beachtlichkeit des Willens bzw. der Einwilligung des Gefangenen im türkischen Strafrecht. In diesem Zusammenhang erläuterte Atladı, dass es zu einem weltweit anerkannten Grundsatz der Lehre von der Einwilligung des Verletzten geworden sei, dass eine Einwilligung nur dann wirksam sei, wenn sie freiwillig erfolge. Er hob aber zugleich hervor, dass die Freiwilligkeit des Betroffenen vor allem dort bedroht sei, wo der Einwilligende vom Erklärungsempfänger oder einer Person auf dessen Seite abhängig sei. In diesem Zusammenhang sei davon auszugehen, dass kaum ein Erwachsener stärker von anderen abhängig sei, als ein Eingesperrter. Den Schwerpunkt seiner Überlegungen bildete daher die Frage, ob man aufgrund dieser Tatsache nun die Schlussfolgerung ziehen könne, dass der Wille eines Gefangenen stets unwirksam sei, um daraus etwa abzuleiten, dass sein einer Zwangsernährung entgegenstehender Wille im Rahmen eines sog. Hungerstreiks unbeachtlich sei. Nach der Konzeption des Referenten könnte ein solcher Schluss bedeuten, dass es auf diesem Gebiet zur Missachtung der Grundrechte und Grundfreiheiten, darunter insbesondere der jedem Menschen zuerkannten Willensfreiheit, kommen könne. Die Tagung ließ durch ihre rechtsvergleichende Erarbeitung der ausgewählten Themenstellungen insbesondere deutlich werden, dass die fünf behandelten Problembereiche in jedem der
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betroffenen Strafrechtssysteme eine Reihe von dogmatischen Schwierigkeiten aufwerfen, die zumindest zum Teil auf ähnliche rechtsphilosophische Hintergründe zurückgeführt werden können. Die Beiträge zu der Tagung werden von den Veranstaltern in einem Tagungsband veröffentlicht. Joanna Długosz
Tagungsbericht „Vorgeburtliche Medizin“ Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland vom 21. bis 23. Juli 2014 Vom 21. bis 23. Juli 2014 fand an der Universität Łódź die dritte Tagung des „Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland“, diesmal zu dem Thema „Vorgeburtliche Medizin“, statt (http://blogs.urz.uni-halle.de/medizinethik/). Auf Einladung von Florian Steger (Halle/ Saale), Jan C. Joerden (Frankfurt/ Oder) und Andrzej M. Kaniowski (Łódź), den drei Initiatoren des Arbeitskreises, kamen Wissenschaftler(innen) aus Polen und Deutschland zusammen, um über Fragen vorgeburtlicher Medizin in interdisziplinärer Perspektive zu diskutieren. Die Tagung war in zwei Sektionen mit jeweils thematischen Schwerpunkten eingeteilt. In der ersten Sektion wurde die kontrovers geführte ethische und rechtliche Debatte zur Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik (PID) in Polen diskutiert. Der Schwerpunkt der zweiten Sektion lag vor allem auf den ethischen und gesellschaftlichen Grundlagen technisch bzw. medizinisch unterstützter Elternschaft. In den Diskussionen wurden diese beiden Aspekte stets zusammengebracht. In seinem Eröffnungsvortrag zeichnete Paweł Polaczuk (Olstyn) die rechtlichen und ethischen Dimensionen pränataler Diagnostik in Polen nach. Polaczuk machte deutlich, dass die technische Entwicklung neuer Diagnosemethoden einerseits einen enormen Zuwachs an empirischem Wissen ermöglicht. Andererseits sei dieser Gewinn an Wissen ambivalent, da Patient(inn)en im Rahmen des Informed Consent häufig zu überforderten Wissens- und Verantwortungsträgern würden. Um dieses Spannungsfeld zu lösen, so Polaczuk, seien empirisches Wissen, rechtliche Beurteilungen und ethische Kenntnisse notwendig. Häufig würden diese drei Felder jedoch konträr zueinander stehen und die Entscheidungsfindung erschweren. Die theoretischen Ausführungen von Polaczuk konkretisierte Andrzej Kaniowski (Łódź) an einem aktuellen Beispiel zur pränatalen Diagnostik in Polen: In einer Klinik wurde die Durchführung einer pränatalen Untersuchung solange hinausgezögert, bis ein Abbruch der Schwangerschaft legal nicht mehr möglich war. Eine zentrale Rolle spielte dabei die sogenannte Gewissensklausel. Diese Klausel ermöglicht es polnischen Ärzt(inn)en, bestimmte Eingriffe abzulehnen. Kaniowski griff die verschiedenen Argumente und Begründungen auf, welche Vertreter(innen) staatlicher, kirchlicher und kultureller Institutionen oder Gruppen für ihre Positionen zur pränatalen Diagnostik anführen. Insbesondere die Position der katholischen Kirche, die Diagnosemöglichkeiten ablehnt, in deren Folge ein Abbruch der Schwangerschaft denkbar ist, sei für die Diskussionen in Polen sehr bedeutsam, so Kaniowski. Die rechtliche Situation und politische Diskussion zur Präimplantationsdiagnostik in Polen stand in den Beiträgen von Monika Michałowska (Łódź) und Anna Alichniewicz (Łódź) im Zentrum. Michałowska und Alichniewicz reflektierten in ihrem gemeinsamen Vortrag zunächst die ethischen Probleme und Dilemmata, die im Zusammenhang mit der PID stehen. Anschlie-
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ßend fokussierten sie auf folgende Diskrepanz: Einerseits würde die technisch bzw. medizinisch unterstützte Fortpflanzung in Polen durch staatliche Programme gefördert. Andererseits gäbe es in Polen keinerlei rechtliche Regelung in Bezug auf die PID. Dies sei insofern problematisch, als die medizinische Praxis in Polen zeige, dass PID in zahlreichen Kliniken angeboten wird. Für dieses Angebot würde aber rechtliche Legitimation und damit auch ein Versicherungsschutz fehlen. Joanna Miksa (Łódź) griff noch einmal das Thema der pränatalen Diagnostik auf und führte aus, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen in Polen unzureichend seien. Zwar könne seit 2009 die pränatale Diagnostik unter der Voraussetzung einer vorhandenen Indikation eingesetzt werden – beispielsweise aufgrund des hohen Alters der Mutter oder einer familiären Vorbelastung. Dennoch entschieden nach wie vor die behandelnden Ärzte und Ärztinnen, ob eine Diagnostik durchgeführt wird. Viele Ärzte und Ärztinnen seien beim Einsatz pränataler Diagnostik zurückhaltend, da der gesellschaftliche Einfluss derjenigen Interessengruppen stetig wachse, welche die pränatale Diagnostik und möglicherweise daraus resultierende Unterbrechungen der Schwangerschaft ablehnen. Gleichzeitig existiere in Polen nur eine geringe Anzahl an Kliniken, die pränatale Diagnostik überhaupt durchführen. Frauen in abgelegenen Landesteilen und mit eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten sei der Zugang zu pränataler Diagnostik damit zusätzlich erschwert. Die Grundlagen von Entscheidungen in der vorgeburtlichen Medizin diskutierte Paweł Luków (Warschau). Luków zeigte, dass Entscheidungen in der vorgeburtlichen Medizin immer das Leben und das Interesse von Mutter und Kind berühren. Der Best-Interest-Standard und das Kindeswohl seien Entscheidungsgrundlagen, die vor allem die Wünsche, Erfahrungen und Glaubensgrundsätze des /der Entscheidenden widerspiegeln. Da ein Fötus nicht über eine auf Erfahrungen basierende Vorstellung der eigenen Zukunft verfügt, könne ihm kaum ein Interesse oder eine Vorstellung des eigenen Wohls zugeschrieben werden. Dennoch solle der Best-Interest-Standard als Entscheidungsgrundlage bei Mutter und Kind betreffenden medizinischen Eingriffen Anwendung finden, so Luków. Eine Übertragung der Bestimmung des Interesses des Kindes in die Hände der Ärzte und Ärztinnen würde dazu führen, dass das Interesse des Kindes bzw. der Patient(inn)en allgemein nur nach medizinischen Maßstäben bestimmt werde. Inhaltlicher Schwerpunkt der zweiten Sektion waren ethische und gesellschaftliche Grundlagen technisch bzw. medizinisch unterstützter Elternschaft. Tobias Eichinger (Freiburg) stellte die ethischen Herausforderungen der Reproduktionsmedizin dar und ging von der These aus, dass ethische Fragen der Reproduktionsmedizin immer sozialethische Fragen seien. Die durch die Medizin zeitlich, räumlich-körperlich und sozial-personal entgrenzte Fortpflanzung werfe Fragen bezüglich der Begrenzung von Reproduktionsautonomie, der gewünschten oder auch nicht gewünschten Familien- und Elternschaftskonzepte sowie des technischen Charakters von Fortpflanzung auf. Somit würden Fragen der Fortpflanzung zunehmend als kontrollierbares und planbares Projekt wahrgenommen. Damit erlange die Fortpflanzung einen wichtigen Stellenwert in der Frage der Konstituierung einer Gesellschaft. Die Ausführungen von Eichinger wurden durch den Vortrag von Christian Haag (Bamberg) konkretisiert, der Ergebnisse mehrerer Befragungen des Staatsinstituts für Familienforschung an der Universität Bamberg präsentierte. Gegenstand dieser Befragungen war das Thema Kinderwunsch in homosexuellen Partnerschaften. Es zeigte sich in den Befragungen deutlich, dass der Kinderwunsch mit individuellen und zum Teil sehr komplexen Wegen der Kinderwunscherfüllung verbunden ist. Grundsätzlich betonte Haag, dass die Pränatalmedizin zu einer Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung führe. Diese Entkoppelung habe zur Folge, dass Kinderwünsche von den Paaren intensiv diskutiert und die Entscheidung für ein Kind bewusst
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und verantwortungsvoll getroffen werde. Es zeige sich die Fragmentierung vorhandener Familienbilder und eine Zunahme an unkonventionellen Familiengenesen und -konstellationen. In seinem moralphilosophischen Beitrag fragte Clemens Heyder (Bielefeld) nach der Begrenzung der Reproduktionsautonomie. Grundlage seiner Argumentation war ein Modell gesellschaftlicher Interaktion, in dem die Subjekte in verschiedenen Verantwortungsbeziehungen zueinander stehen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind sei durch elterliche Verantwortung bestimmt und mit dem Ziel verbunden, die Autonomiefähigkeit des Kindes zu sichern. Dabei seien drei Fragen relevant: Können die Eltern autonom entscheiden? Wollen die Eltern diese Verantwortungsbeziehung eingehen? Sind sich die Eltern ihrer Pflichten bewusst? Insofern diese Bedingungen erfüllt sind, könne keine Einschränkung der Reproduktionsautonomie gerechtfertigt werden. Da die Ausgestaltung der Kriterien stets mit individuellen Vorstellungen von Elternschaft einhergehen, würden sich Kriterien zur Einschränkung der Reproduktionsautonomie kaum festlegen lassen. Die Vorträge der Tagung spiegelten die ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Dimensionen der facettenreich geführten Diskussion zur vorgeburtlichen Medizin in Polen und Deutschland wider. In den Beiträgen wurden sowohl aktuelle Fragen – beispielsweise zu den Folgen der Gewissensklausel in Polen – reflektiert als auch übergreifende Fragen – unter anderem zum Patient-Arzt-Verhältnis – analysiert. Die Tagung zeigte, dass ethische Fragestellungen im wissenschaftlichen Kontext sowohl in Polen als auch in Deutschland ähnlich diskutiert werden. Unterschiede wurden vor allem in rechtlicher und gesellschaftlicher Hinsicht deutlich. So erhielten die Teilnehmer(innen) einen Einblick in die jeweils unterschiedlichen rechtlichen Fragestellungen und gesellschaftlichen Kontexte zur vorgeburtlichen Medizin, die in Polen stark durch die Position der katholischen Kirche geprägt sind. Deutlich wurde zudem, dass die vorgeburtliche Medizin nicht nur in Polen zahlreiche offene ethische und rechtliche Fragen aufwirft. Die Tagung konnte dank der Unterstützung der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS) durchgeführt werden. Die Beiträge der Tagung werden in einem Sammelband publiziert. Maximilian Schochow und Manuel Willer
Autoren- und Herausgeberverzeichnis Cohen-Almagor, Raphael, Prof. Dr., Chair in Politics, School of Politics, Philosophy and International Studies, The University of Hull, Cottingham Road, UK-HULL, HU6 7RX E-Mail: [email protected] Coninx, Anna, Dr. (MJur Oxford), Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Schanzeneckstr. 1, Postfach 8573, CH-3001 Bern E-Mail: [email protected] Długosz, Joanna, Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D - 15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Droesser, Gerhard, Prof. Dr. Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaft, Paradeplatz 4, D - 97070 Würzburg E-Mail: [email protected] Geismann, Georg, Prof. (em.) Dr., Elsholzstraße 15, D - 10781 Berlin; auch erreichbar unter: www.georggeismann.de E-mail: [email protected] Graumann, Sigrid, Prof. Dr. Dr., Evangelische Fachhochschule Rheinland-WestfalenLippe, Immanuel-Kantstr. 18-20, D - 44803 Bochum E-Mail: [email protected] Haar, Christoph, Downing College, Regent Street, UK-Cambridge, CB2 1DQ E-Mail: [email protected] Hoppe, Thomas, Prof. Dr., Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, D - 22039 Hamburg E-Mail: [email protected] Huster, Stefan, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie, GC 7 / 135, D - 44780 Bochum E-Mail: [email protected] Hruschka, Joachim, Prof. (em.) Dr., Universität Erlangen, Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Schillerstraße 1, D - 91054 Erlangen Joerden, Jan C., Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D - 15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected]
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Laubach (Weißer), Thomas, Prof. Dr., Lehrstuhl für Theologische Ethik, Institut für Katholische Theologie, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, An der Universität 2, D - 96047 Bamberg E-Mail: [email protected] Lienkamp, Andreas, Prof. Dr., Institut für Katholische Theologie, Universität Osnabrück, Schloßstr. 4, D - 49074 Osnabrück E-Mail: [email protected] Lütge, Christoph, Prof. Dr., Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik, Technische Universität München, Marsstraße 20-22, D - 80335 München E-Mail: [email protected] Maaser, Wolfgang, Prof. Dr., Evangelische Fachhochschule Rheinland-WestfalenLippe, Immanuel-Kantstr. 18-20, D - 44803 Bochum E-Mail: [email protected] Mauer, Michael, Ministerialrat a. D., Halberstädter Str. 7, D - 10711 Berlin E-Mail: [email protected] Meessen, Karl, Prof. (em.) Dr., früher: Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jean-Monnet-Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Carl-Zeiss-Straße 3, D - 07743 Jena E-Mail: [email protected] Michel, Karin, Dr., Institut für praktische Philosophie, Arrenberger Straße 45a, D - 42117 Wuppertal E-Mail: [email protected] Möhring-Hesse, Matthias, Prof. Dr., Lehrstuhl für Theologische Ethik / Sozialethik, Kath.-theol. Fakultät der Eberhard-Karls Universität Tübingen, Liebermeister straße 12, D - 72076 Tübingen E-Mail: [email protected] Müller, Julian, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik, Technische Universität München, Marsstraße 20-22, D - 80335 München E-Mail: [email protected] Nothelle-Wildfeuer, Ursula, Prof. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, AB Christ liche Gesellschaftslehre, Platz der Universität, D - 79085 Freiburg E-Mail: [email protected] Ott, Konrad, Prof. Dr., Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 6, Zi. 316, D - 24118 Kiel E-Mail: [email protected] Pawlik, Michael, Prof. Dr. Dr. h. c., LL.M. (Cantab.), Albert-Ludwig-Universität Freiburg, Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht, Wilhelmstr. 26, D - 79098 Freiburg E-Mail: [email protected] Pinheiro Walla, Alice, Dr., Sternwartestraße 29 / 12, A-1180 Wien E-Mail: [email protected]
Autoren- und Herausgeberverzeichnis581
Roff Perkins, Heather M., Prof. Dr., Josef Korbel School of International Studies, University of Denver, 2201 S. Gaylord St, Denver, Co 80208 E-Mail: [email protected] Sailer-Pfister, Sonja, Prof. Dr., Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftswissenschaften und Sozialethik, Pallotti str. 3, D - 50179 Vallendar E-Mail: [email protected] Schneidereit, Nele, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, TU Dresden, Institut für Philosophie, Zellescher Weg 17, D - 01062 Dresden E-Mail: [email protected] Schochow, Maximilian, Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Magdeburger Straße 8, D - 06112 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Schramm, Michael, Prof. Dr., University of Hohenheim, Faculty of Business, Economics and Social Sciences, Chair of Catholic Theology and Business Ethics (560 D), D - 70593 Stuttgart E-Mail: [email protected] Simmermacher, Danaë, M. A., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, D - 06099 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Streng, Franz, Prof. (em.) Dr. Dr. h. c., Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Schillerstraße 1, D - 91054 Erlangen E-mail: [email protected] Vogt, Markus, Prof. Dr., Lehrstuhl für Christliche Sozialethik, Ludwig-MaximiliansUniversität, D - 80539 München E-Mail: [email protected] Westphal, Kenneth R., Prof. Dr., Boğaziçi Üniversitesi, Department of Philosophy, Tr 34342 Bebek, Istanbul Email: [email protected] Wilhelms, Günter, Prof. Dr., Theologische Fakultät Paderborn, Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre, Kamp 6, D - 33098 Paderborn E-Mail: [email protected] Willer, Manuel, M. A., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Magdeburger Straße 8, D - 06112 Halle (Saale) E-Mail: [email protected]
Personenverzeichnis / Index of Names Abicht, Johann H. 170 Achenwall, Gottfried 2, 137, 457 Adachi, Hidehiko 570 Aesop 66 Albert, Hans 181, 183, 195 f., 202, 215, 217 f., 226 Alexy, Robert 33, 35, 37 Alichniewicz, Anna 575 Anheier, Helmut 351, 354 Annan, Kofi 36 Anzenbacher, Arno 95, 322, 327, 370, 422 Aristoteles (Aristotle) 21, 181, 334 ff., 339, 383, 442, 448, 455 f., 460, 477 Atladı, Ramazan Barış 573 Augustinus, Aurelius 67, 383 Aygôrmez, Gülsün Ayhan 572 Baeck, Leo 64 f. Bahro, Rudolf 289, 307 Baker, Dean 207, 211 Baumgarten, Alexander 164 Bayertz, Kurt 56, 79, 81, 85, 350, 367, 426 Beck, Ulrich 109 Beckert, Jens 215, 220, 222 Benedikt XVI. (Papst) 68, 75, 101, 372, 416 Benhabib, Seyla 241, 287 f. Benjamin, Walter 57, 308 Bergson, Henri 25 Berkemann, Jörg 499 f., 515 f. Bieri, Peter 140 Birk, Dieter 202 Birnbacher, Dieter 104, 140, 236 Black, Don 432 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 202, 223, 424 f., 445, 453 Böhm, Franz 195, 197, 210 Bonaventura 67 Bourgeois, Léon 277 f. Brennan, William Joseph 73 f. Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 507
Budzinowski, Roman 568 Byrd, B. Sharon 1 ff., 545 Cassirer, Ernst 160, 415, 420, 427 Clinton, Bill 34 Coleman, James 423 Coninx, Anna 148, 151 Crämer, Hans 353 Crouch, Colin 423 Ćwiąkalski, Zbigniew 572 f. Dahlstrohm, Daniel 351 Darwin, Charles 387, 392 ff., 401 f. Davis, Keith 437 Dawkins, Richard 392 ff., 402 Deutsche Bischofskonferenz 105 Dietrich, Frank 571 Długosz, Joanna 572 Dryzek, John 291, 308 Duke, David 432 Duns Scotus, John 447 Durkheim, Émile 83 Duttge, Gunnar 569 f. Dworkin, Ronald 152 f., 234, 358 Ebbinghaus, Julius 189, 191 f., 199 Ehrhard, Johann B. 170 Eichinger, Tobias 576 Ekardt, Felix 109 Elkaim, Yoram 438 f. Engels, Friedrich 84 f., 99 Epiney, Astrid 107 f. Eucken, Walter 195, 197 f., 200, 203, 211, 220 Fichte, Johann G. 170 Fiegle, Thomas 98, 277 f. Fischer, Karsten 280 Fistetti, Francesco 426 Floridi, Luciano 443
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Personenverzeichnis/ Index of Names
France, Anatole 201 Frankenberg, Günter 82 Franziskus 68, 75, 100, 102, 315 ff., 365, 371 f., 415 Gauthier, David 545 ff. Gerson, Jean 464 f. Ghaddafi, Muammar 41 Göller, Thomas 236 Gore, Al 75, 77 Gregor, Mary 6 f., 241 Gröschner, Rolf 487 Große Kracht, Hermann-Josef 99, 101, 278, 367 Grotius, Hugo 167, 446 Gülich, Christian 277 Gutmann, Amy 330 Guzik-Makaruk, Monika Ewa 571 Haber, Wolfgang 105, 303 Habermas, Jürgen 100, 291 ff., 330, 405 f. Hampicke, Ulrich 303 Hartmann, Michael 212, 214, 223 Hartshorne, Charles 395 ff., 409 Hayek, Friedrich A. von 186 f., 204 f., 211, 217 ff., 334, 340 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 153 f., 290, 556 f., 563 Heisenberg, Werner 396 f. Hentschel, Volker 360 f. Heper, Altan 568 Heuss, Theodor 143 Heydemann, Berndt 303 Heyder, Clemens 577 Hill, Thomas 232 f., 241, 245 Hobbes, Thomas 17, 138, 168, 170 f., 204, 206, 546 Höffe, Otfried 32, 64, 316 Hofmann, Hasso 160, 162, 168, 172, 352 Holbrooke, Richard 30 Homann, Karl 196, 331, 338, 345, 391, 416, 423 f. Hondrich, Karl Otto 87, 142, 275, 426 Honneth, Axel 95 f., 358, 380 Horn, Christoph 230, 237, 559, 563 Hruschka, Joachim 2 Humboldt, Wilhelm von 18
Hume, David 150 f., 333, 346, 402, 549, 558, 563 Ida, Makoto 568 Iselin, Isaak 170 Jaeggi, Rahel 355 Joerden, Jan C. 499, 567, 575 Johannes XXIII. 418 f. Johannes Paul II. 57, 59, 68, 75, 85, 87 f., 101, 319, 322, 367, 369, 372 Jonas, Hans 66, 96 f., 104, 289 Kanadoğlu, Korkut 570 Kaniowski, Andrzej 575 Kant, Immanuel 1 ff., 17, 65, 76, 95 f., 137 ff., 154, 163, 170 f., 183 ff., 230 ff., 333, 346, 361, 405 f., 460, 486, 545 ff. Kapp, K. William 200 Kawaguchi, Hirokazu 572 Kelsen, Hans 508 Kempski, Jürgen von 184, 196 f., 207 Kersting, Wolfgang 95, 138 f., 153, 218, 246, 254, 271 ff. Keynes, John Maynard 195 Kim, Jim Yong 74 King, Martin Luther 438 Klug, Ulrich 487 Koch-Arzberger, Claudia 87, 142, 275, 426 Korff, Wilhelm 55, 57, 60 f., 85, 87 ff., 100, 104, 322, 416 Korsgaard, Christine 233, 235 f. Krämer, Hagen 219 ff. Krawietz, Werner 496 f., 501 f. Krimphove, Dieter 488, 490, 498 f., 504 Kutschera, Franz von 492, 495 ff., 514 f. Las Casas, Bartolomé de 447 Leibfried, Stephan 276 Leibniz, Gottfried Wilhelm 148 Leroux, Pierre 81, 99, 367 Lévinas, Emmanuel 25 Locke, John 17, 139, 150, 159, 168, 171, 176, 207, 560 Lohmann, Georg 229 Lombard, Peter 445, 465 Lorenzen, Paul 485 ff., 491, 507 ff. Łuków, Paweł 576
Personenverzeichnis/ Index of Names Małolepszy, Maciej 569 Martin, Gian 127 ff. Marx, Karl 561 Mead, George Herbert 23 Mendelssohn, Moses 137 Menke, Christoph 236 Merkel, Reinhard 117, 119 f., 126 f., 129 ff., 147 ff. Michałowska, Monika 575 Mieth, Diethmar 57 ff., 88, 101, 140, 155, 326 Miksa, Joanna 576 Milosevic, Slobodan 30 Molina, Luis de 445 ff. More, Thomas 21 Münkler, Herfried 352, 362 Munoz-Dardé, Véronique 142 Myrdal, Gunnar 188, 195 f., 198, 226 Nell-Breuning, Oswald von 56, 60, 86, 99, 274, 278, 368 f., 379, 418 ff., 425 Nettelbladt, Christian 161 Neumann, Ulfrid 485 ff. Nida-Rümelin, Julian 424, 510 Nussbaum, Martha C. 27, 95, 229, 378, 451, 468 Ockham, William of 447 Ofner, Julius 359 Okaue, Masami 572 O’Neill, Onora 240, 242 ff., 556 Paech, Nico 289, 301 Paul VI. 325 Pearl, Judea 510 f. Pelagius 450 Perroux, François 205 Persson, Torsten 220 Pesch, Heinrich 86, 99, 368 Peukert, Helmut 56 f. Piketty, Thomas 201, 213, 225 Pleuger, Gunter 568 Pływaczewski, Emil 571 Pogge, Thomas 229 Polaczuk, Paweł 575 Pollmann, Arnd 236 Popper, Karl R. 383, 396
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Preiser, Erich 200, 225 Proudhon, Pierre-Joseph 452 f. Pufendorf, Samuel von 137, 159, 161 f., 168, 176 Radbruch, Gustav 32 ff. Ratschow, Eckart 498 f., 508 Rawls, John 146, 148, 152 f., 252, 276, 331 f., 336 f., 358, 383, 385, 388, 402, 451, 553 Revkin, Andrew C. 54 Richardi, Reinhard 355 Ritter, Gerhard A. 361 Robinson, Mary 58, 69, 74 f. Rödig, Jürgen 489 ff., 494 f., 497, 499 ff., 513, 514 ff. Rogers, Everett M. 341 Röpke, Wilhelm 90 f., 211, 220 Rosa, Hartmut 110 Rosen, Allen 237 ff. Rothschild, Kurt W. 181, 200, 218 Rothschild, Walter 29, 43 Rousseau, Jean-Jacques 160, 168, 171, 219, 333, 346, 415, 559 f., 563 Rüstow, Alexander 195, 200, 209, 220 Saint-Simon, Henri de 81 Saxoferrato, Bartolus de 458 Scanlon, Thomas 547, 549, 561, 563 Schimank, Uwe 423 Schlettwein, Johann A. 170 Scholz, Heinrich 486 f. Schönecker, Dieter 233 f. Schreiber, Rupert 496, 508 Schweitzer, Albert 66 f. Schwemmer, Oswald 421, 427 Seelmann, Kurt 117 f., 122, 127 ff., 141, 450 Seher, Gerhard 569 Sen, Amartya 35, 193, 209, 226, 376, 451 Shue, Henry 229 Simma, Bruno 30 Sinn, Hans-Werner 346 ff. Sinzheimer, Hugo 359 Smith, Adam 17, 196, 209 f., 332, 387, 402 Sokrates (Socrates) 205 Soto, Domingo de 447, 458 Spitz, René 23 Steger, Florian 575
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Personenverzeichnis/ Index of Names
Stegmüller, Wolfgang 445, 486, 494, 498, 504, 509 Steigleder, Klaus 232 ff., 237, 242 Stein, Lorenz von 202, 204 Stein, Tine 290, 307 Stern, Nicholas 72 ff. Stevens, Christine 66 Stolleis, Michael 356 Stone, Deborah 441 Stooss, Carl 125 f. Suárez, Francisco 445, 447, 457 Succow, Michael 303 Sukopp, Thomas 241 Summenhart, Conrad 464 f. Sunstein, Cass R. 301, 336 Szwarc, Andrzej J. 567 Tabellini, Guido 220 Takayama, Kanako 571 Takeshita, Ken 570 Tennstedt, Florian 276, 361 Thomas Aquinas, Thomas von Aquin 445, 447, 452, 454 ff., 464 ff., 468, 476, 478, 481 f. Thomasius, Christian 161 f. Thompson, Dennis 330 Tiedemann, Paul 230 Tugendhat, Ernst 56, 230 ff., 234, 244 ff.
Ulpian, Domitius 57 Ünver, Yener 567, 569 Vázquez, Gabriel 447, 457 Vitoria, Francisco de 445 ff. Vogt, Markus 55, 60 f. Walzer, Michael 34 f., 37, 39 Weber, Max 96, 102, 296, 300 Weinberg, Steven 388 f., 395 Weinberger, Ota 491, 495, 500 f. Welzer, Harald 289 Werbick, Jürgen 67 Wessels, Johannes 141 f. Whitehead, Alfred North 385 f., 395 ff., 400 f., 404 f., 407, 410 Wildt, Andreas 98 ff. Wils, Jean-Pierre 418 Wolf, Erik 349 f. Wolff, Christian 137, 159 ff. Wood, Allan 233 f. Wright, Robert 384 ff., 395, 401, 403 f. Yamanaka, Keiichi 567, 570 Yamanaka, Yuri 573 Zimmer, Annette 354 Zintl, Reinhard 181, 218
Sachverzeichnis / Index of Subjects Adaptation (Anpassung) 48, 53, 55, 59, 69, 72 ff., 105, 107 Afghanistan 41 Agenda-Setting 298 Aggressivnotstand 137 ff. Akrasia 440, 442 Amentes (insane persons) 451, 466 ff., 475 f., 481 Andere (der gesellschaftliche) 23 Anerkennung 379 ff. Anglo-American Law 1 Anpassung (adaptation) 48, 53, 55, 59, 69, 72 ff., 105, 107 Anthropologie 418 Anthropologie, christliche 82 Anthropologie, moralische 556 ff. Anthroporelationalität 60 Anthropozentrik 60 Anti-Defamation League 435 Anti-Semitic content 439 antike Polis 21, 80, 205 Anwendungsebene 384, 404 ff. AOL 436 Appell (moralischer) 25 Armut 21, 53, 100 ff., 193, 315 ff. Art. 20a GG 291, 293, 301 f. Artenvielfalt 51, 54, 61, 67 f., 303 Aufklärung 80, 333, 352 Autonomie (autonomy) 80, 271, 277, 284, 450, 470, 481 f. Barmherzigkeit 81, 102, 319, 325, 349 ff., 372 battered women 2 Begründungsebene 382, 402 ff., 406 Beneficence (Fürsorge) 63, 67, 76, 82 Besitzrecht 556 ff. Best Interest Standard 576 f. Beteiligungsgerechtigkeit 91, 280, 285 f., 374 ff. bigotry 436, 438, 440, 442 Biodiversität 51, 54, 61, 67 f., 303
Blauhelme 29 Bundessozialhilfegesetz 264 f., 270 Bürgergesellschaft 103, 105, 108 bürgerlicher Zustand 184 ff., 190 ff., 194 Centre Information and Documentation on Israel 441 Chancengleichheit 271 children 435 f., 451, 467 ff., 475 ff., 481 Christliche Ethik 100, 417, 422 civility 436 climate divide 54, 76 competition 1 Concert of Democracies 37 Contract Law 1 copyright 438 Corporate Social Responsibility 437 f. Criminal Law 1 Defensivnotstand 126 ff. Demokratie 251, 284 ff., 289 ff., 303 ff., 332, 346 Demokratischer Verfassungsstaat 91, 290 f., 296, 301 f., 305, 307 f. Deontische Logiken 494 ff., 513 Deontische Prädikate/ Operatoren 496 f., 514 f. Deontischer Satz 495 ff., 513 Dialog 22 f. discrimination 431, 440 f. divine law 471 domestic violence 2 dominium 445 ff. dominus 452, 459 ff., 465 f., 470 f., 473, 475 f., 478, 480 early warning/ early action 42, 44 education 435 f., 442 Effizienz 182, 199, 219 Egoismus und Skeptizismus 554 f. Ehrenamt 92
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Sachverzeichnis / Index of Subjects
Eigentum 183 f., 189 ff., 200 ff., 207, 213, 220 f., 483 Eigenwert der außerhumanen Natur 62 f., 67 Einkommen 189, 198, 200, 203, 205 ff., 214 ff., 219 ff., 254, 264, 270, 342, 347 Empathie 66 Empowerment 22, 28 Energie 49, 70 ff.,105 ff., 298 f., 303 ff. Enough Is Enough 436 Entscheidungsverfahren 96 entschuldigender Notstand 117 ff. Erbschaft 215 f., 220 ff. Erziehung, eine eigene 216, 545, 549 ff., 560 Eskalation 30, 41 f. Ethik, christliche 100, 417, 422 Ethik, Individual- 235, 322 f., 415 f. Ethik, Ökonomische 416, 423 Ethik, Sozial- 326, 367 ff., 377 ff., 415 ff., 422 Ethik, Umwelt- 61, 97 f., 112 Ethik der internationalen Beziehungen 43 Ethik der Nachhaltigkeit 45, 55, 61, 74 Ethikberatung 538 ff. Ex falso quodlibet 503 f. Existenzminimum 206, 252 ff., 264 f., 270 Exklusion 20 ff. Exklusivität der Solidarität 269 f., 272, 274 f., 282 ff., 287 f. Extremwetterereignisse 50 ff. Facebook 436 facultas 451, 465 f., 469 Fairness 149 ff., 391 Family Online Safety Institute 436 First Amendment 440 Formalisierung 490 ff. Französische Revolution 55 f., 81, 361 free expression 435 free will 448 ff., 466 ff., 472, 475, 481 f. Freiheit 19 ff., 31, 90 f., 123 ff., 153, 159 ff., 164 f., 167, 169 ff., 173 ff., 181 ff., 229 ff., 271, 358 f., 375, 418, 423 ff. Freiheit, angeborenes Recht auf eigene 559 Freiheitsnotwendige Güter 247 Friedenssicherungsrecht 36 Fürsorge (beneficence) 63, 67, 76, 82 Fuzzy logic 511
Geltung 384, 386, 390 ff., 394 f. Gemeinverhaftung 56, 60, 62, 86, 278 Gemeinverstrickung (Interdependenz) 56, 60, 62, 86, 278, 368 Gemeinwohl 57 f., 84, 352, 356, 359 ff. Genese 384, 386, 390 ff., 394 f. Gerechtigkeit 31 ff., 53 ff., 72, 75, 87 ff., 95 f., 104 ff., 110 ff., 186 ff., 205, 217 ff., 237 ff., 271 ff., 280, 284, 287, 292 f., 320, 325 ff., 331, 334, 349 ff. Gerechtigkeit, Beteiligungs- 91, 280, 285 f., 374 ff. Gerechtigkeit, globale 175 Gerechtigkeit, intergenerationelle 61 f., 69, 75 f., 97, 102, 104 f. Gerechtigkeit, ökologische 61 f., 75 f., Gerechtigkeit, soziale, globale, intergenerationelle 61 f., 69, 75 f. Gerechtigkeit/ Ungerechtigkeit 58, 75 Gerechtigkeit, Verteilungs- 271, 280, 375 f. Gerechtigkeitsprobleme 53, 75 Gerechtigkeitstheorie 271, 277, 350, 353, 358, 360 Gesellschaftsvertrag (s. a. Sozialvertrag) 106, 150 ff., 169, 242, Gesundheit (s. a. Krankheiten) 52, 58, 251 ff. Gesundheitsversorgung 251 ff. Gewissensklausel 575 Gleichheit 63, 83, 86, 164 f., 170, 189 ff., 194, 201 f., 212, 220 f., 238 f., 251, 263, 265 f., 271, 273 ff., 282, 285, 287, 298, 321 f., 375, 536 f., 559 Gleichheit, Chancen- 271 Global Governance 103 f., 108 Go Daddy 439 Golden Dawn Party 438 Goldene Regel (golden rule) 63 ff., 76 Google 438 f. Gott 67 f., 161 f., 319 ff., 369 ff., 401 ff., 408 Gottessimulation (god simulation) 402 f., 410 Grundrechte 31, 34, 175, 184, 191 ff., 218, 259, 322, 483, 536 f., 573 Gutheit der Schöpfung 67 Handlungen, Erklärung von 554 f. Handlungsbeschreibungen, Problem der relevanten 549, 552 ff., 562 f. hate crimes 442
Sachverzeichnis / Index of Subjects Hate speech 431 Hermeneutik (der konkreten Situation) 26 Hermeneutik (fremder Kulturen) 27 Höchstverdienst 222 f. Holocaust 439 homosexuality 432 human law 452, 476 Ideologie (abstrakter Moralen) 19 Ideologiekritik 19 ignorance 439 Imperativ, kategorischer 63 ff., 230 Implementationsebene 384, 404 ff., 409 Indikation 521 ff., 528 ff., 576 Individualethik 235, 322 f., 415 f. Individualismus (individualism) 80 f., 86, 140, 147, 156, 317, 368, 435 Industrialisierung 48, 52, 84, 86, 226 Informed Consent 575 Inklusion 22, 264 f., 280, 284, 294 f. insane persons (amentes) 451, 466 ff., 475 f., 481 Institution/ Institutionalisierung 415 ff., 419, 421, 423 ff. Integration 379 ff. Interdependenz (Gemeinverstrickung) 56, 60, 62, 86, 278, 368 Interessenabwägung 144 ff. Intergovernmental Panel of Climate Change 46 f., 50, 53, 70, 73 International Network Against Cyberhate 440 Internet 431 Intervention 29 ff., 30, 34 ff. Intuitionistische Logik 485, 507 ff., 518 Irak 41 ISP 437 Iura novit curia 511 ius cogens 36 Jugendschutz 440 jurisdiction 448, 452, 455, 464, 476 Jurisprudence 1 Justizsyllogismus 485 ff. Kapitalismus 86 Kategorischer Imperativ 63 ff., 230 Katholische Soziallehre 274, 278, 318, 320, 366, 379, 401, 417
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Kippelemente (tipping elements) 51, 76 Kirche 68, 100 ff., 108, 188, 315 ff., 350 f., 425 Klassensolidarität 84 Klima(rahmen)konvention 46, 53, 64, 67 f., 72 Klimaschutz 48, 68 f., 72, 75, 98, 105 f., 109 f. Klimawandel 101, 105 ff. Klimawandel, anthropogener 45 ff., 74 ff., 101, 105 ff., Klimawandel, Folgen 50 ff. Klimawandel, Hauptverursacher und Hauptleidtragende 53 ff. Klimawandel, Ursachen 46 ff. Klugheit 147 ff. Kollektivismus 96, 145 ff., 156 Kommunikation, asymmetrisch 22 Konditionalsätze 492 Kongo 40 Kooperation, kooperieren 168, 170, 175, 356, 371, 386 ff. Kosovo 30, 36, 41 Krankenheiten (s. a. Gesundheit) 52, 255, 258, 260 Kultur 420 f. Lebensentwurf (stellvertretender) 24 Lebensqualität 534 lex 450, 454 ff., 469, 476, 480, 482 Liberalismus, liberal 82, 160, 175 f., 196, 207, 290, 361, 446 Libyen 41 LICRA 441 Liebesgebot (command of love) 63 f., 67, 76 Logik, intuitionistische 485, 507 ff., 518 Logik, natürliche 485, 493, 503 f. Logik, Norm- 495, 500 f., 513 Logiken, deontische 494 ff., 513 Logiken, nichtmonotone 485, 510 f., 513 Macht 184, 193, 200, 202 f., 212, 217 f., 220, 223 Machtmissbrauch durch Nichthandeln 74 Marginalisierung 317, 322, 327 f., 376, 380 f. Markt 17 f., 21, 91, 181 ff., 416 f., 422 ff. Mediatisierung 425 Meeresspiegelanstieg 50 ff. Menschenbild 102 f., 354 f.
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Sachverzeichnis / Index of Subjects
Menschenrechte 29, 32 ff., 57 f., 71, 75, 95 f., 159 ff., 175 f., 229 ff., 270, 272 ff., 287 f., 292, 483 Menschenrechte, soziale 229, 233 ff. Menschenwürde 31, 57 f., 63 ff., 84, 88 f., 103, 143, 230, 233 ff., 251 f., 264 ff., 270 f., 315, 322, 324, 371, 543 Metaphysik 383 ff. Minderung (mitigation) 69 ff., 76 f., 105, 307 mittelalterliche Ständegesellschaft 80 Moderne 79 ff. Modus barbara 487 Moral 415 f., 423 f. moral obligation 470, 473 Moral Truth 384 ff., 391 f., 401, 409 Moralität (Subjektivitätsprinzip) 17, 27 Moralkonstruktivismus 545 ff. Moralprinzip 63, 65, 76, 230 ff. Morals by Agreement (Gauthier) 549 Nachhaltigkeit (s. a. Ethik) 45 ff. Nachhaltigkeit, Ethik der 45, 55, 61, 74 Nächstenliebe 63 f., 67, 76 Näheverhältnis 123 ff. National Center for Missing & Exploited Children 436 Natur 418 ff. natura rei 449, 456 f., 465, 468, 481 natural inclination 448, 470 natural law (s. a. Naturrecht) 447 ff., 452, 456, 465, 471, 479 ff. Naturkrise 289 Natürliche Logik 485, 493, 503 f. Naturrecht (s. a. natural law) 159, 161, 185 ff., 189 f., 483, 548, 555, 560, 563, 567 Naturzustand 138 f., 168 ff., 184 ff., 190 ff., 203 f., 218 Negative Pflichten 138 ff. Netcitizenship 436 nethate 442 Nettonutzen 534 Nichtmonotone Logiken 485, 510 f., 513 Nichtschadensprinzip 63 f., 67, 534 Non-Profit-Organisationen 350 ff. nonmaleficence 63 f., 67, 534 Nonzero 384 ff., 390 ff., 395, 401 Normlogik 495, 500 f., 513 Normsatz 495 ff., 512 f.
Notstand, Aggressiv- 137 ff. Notstand, Defensiv- 126 ff. Notstand, entschuldigender 117 ff. Notstandshilfe 117, 120 ff. Offensive Search Results 439 öffentliches Recht 184 f., 190 ff. Ökologische Steuer- und Finanzreform 71 f. Ökologische Wahrheit 72 Ökonomische Ethik 416, 423 Option für die Armen 88, 100, 108, 319 f., 366, 371 ff., 376 f., 381 f. Ordnung / Ordnungsdebatte 417, 422 Ordnungspolitik 197, 208 ff. Organisation (solidarischer Praxis) 26 Organization for Security and Cooperation in Europe 441 Partners Against Hate 435 Paternalismus 161, 170, 175, 242, 269, 284 f., 288 Person 85, 88 Personalität 103, 322, 327, 418 f. Pflicht 162 f. Pflicht, Solidaritäts- 58, 117, 119, 155, 168, 229 ff., 238, 242, 245 ff. Pflichten, negative 138 ff. Pflichten, positive 138 ff. PID 575 f. Politikberatung, wissenschaftliche 299 Positive Pflichten 138 ff. Postulat, rechtliches der praktischen Vernunft 558 f. Prävention 39, 42 f. Privatrecht 184 ff., 190, 192 ff. progressive Steuer 222 ff. Proletariat 84 property 448, 452 ff., 459, 463 f., 473, 476 f., 479 Race to the bottom 329 racism 435 Radbruchsche Formel 32 f., 35 Rationality, Markets and Morals (Zeitschrift) 545 Rationierung 263 Recht und Gerechtigkeit 64 ff. Rechte 270 ff.
Sachverzeichnis / Index of Subjects Rechte der außerhumanen Natur 66 f. Rechtfertigung (Begründung), rationale, internalistische vs. externalistische 553 ff., 557 Rechtsgüterschutz 144 Rechtspositivismus 32 ff. Rechtsprinzip, allgemeines (Kant) 556 ff. Rechtssicherheit 32 f. Rechtsstaat 91, 181 ff., 183, 188 f., 197, 202, 208, 217, 226, 251, 291 f., 569 Regimewechsel 41 f. Reproduktionsautonomie 576 f. Reproduktionsmedizin 576 f. Resilienz 51, 73, 75, 109 respect 76, 409, 435 f., 440, 442 Responsibility to Protect/ R2P 34 ff., 38 ff., 42 ff. Ressourcenkonflikte 52 restitution 455, 463 f., 467 Retinität 45 ff., 55, 59 ff., 67, 75 Reziprozität 269, 275, 279 ff., 287, 379, 551 Rio-Deklaration 46, 63 f., 67, 72 Ruanda 34, 36, 40, 43 Rückkopplungen 51, 350, 352 Rüstungsexportpolitik 43 Sachzwang 423, 427 Satz, deontischer 495 ff., 513 Satz, Norm 495 ff., 512 Sätze, Konditional- 492 Schadensvermeidung 63 f., 67, 534 Schleusen-Modell 291, 295 Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) 34 ff., 38 ff., 42 ff. scientia media 449 f. Sehen – Urteilen – Handeln 45 Seinsprinzip 45, 55 f., 62 Selbsthilfe 91, 103, 283 f., 324, 424 f. Selbstverwirklichung 17, 19 ff. self-defense, right to 2 Sicherheit 52 f., 143, 161, 166 f., 169 f. Skeptizismus 554 f. slave/ slavery 448, 453 f., 460 f., 468, 473 ff. Social Contract 545 Social Responsibility 434 Solidarismus 86, 98 ff., 269 ff., 284, 368 f. Solidarität 45 ff., 55 ff., 67, 79 ff., 95 ff., 117 ff., 137 ff., 251, 255 f., 261, 269 ff., 315 ff., 330 f., 349 ff., 365 ff., 383 ff.
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Solidarität, Con- 58 f., 62, 101 f., 107, 110, 326 Solidarität, Exklusivität der 269 f., 272, 274 f., 282 ff., 287 f. Solidarität, gemeinschaftsorientierte354 Solidarität, gesellschaftliche 355 Solidarität, Klassen- 84 Solidarität, mechanische 83 Solidarität, organische 83 Solidarität, Pro- 59, 62, 101 f., 107, 110, 324, 326 Solidaritätsbegriff 79 ff., 96 ff., 141 ff., 350, 365 ff. Solidaritätspflicht 58, 117, 119, 155, 168, 229 ff., 238, 242, 245 ff. Solidaritätsprinzip 55, 62, 86 f., 89, 151, 366 f., 369 f., 419 solidarité de devoir 45, 55 f., 62, 401 solidarité de fait 45, 55 f., 62 Solidarsystem 99, 256, 329 ff., 334 ff. Sollensprinzip 45, 55 f., 62, 401 Souveränität 38 Soziale Menschenrechte 229, 233 ff. Soziale Rechte 245 f., 251 ff. Soziale Ungleichheiten 273 ff., 285 Sozialethik 326, 367 ff., 377 ff., 415 ff., 422 Sozialhilfe 209, 264, 270, 273, 283 Sozialismus 86, 361 Sozialkatholizismus 274, 278, 360 Sozialkoordinierungsprobleme 558 ff. Soziallehre, Katholische 274, 278, 318, 320, 366, 379, 401, 417 Sozialpolitik 100, 183, 188, 192, 195, 269 ff., 354, 357 ff. Sozialprinzip 79 ff., 85 ff., 319, 322, 326, 366 ff., 379, 417 ff., 548 Sozialstaat 89 ff., 99 f., 102 f., 153 f., 189 ff., 251 ff., 259, 269 ff., 349, 359 ff., 366, 368, 411 Sozialversicherungen 89 f., 269, 275 f., 278, 347 Sozialvertrag, heuristischer vs. substantiver (s. a. Gesellschaftsvertrag) 555 f., 562 Sozialvertragstheorie (s. a. Gesellschaftsvertrag) 545 ff. Srebrenica 36
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Sachverzeichnis / Index of Subjects
Staat 81, 91, 145, 155, 159 f., 165 ff., 184, 186 ff., 198 ff., 237, 241, 245, 247 f., 269 ff., 286, 291, 296, 346 f., 352, 417, 422 ff. Staatsbürger 199, 292, 295 Staatsvertrag 191 f., 194, 218 Staatszweck 169 f., 174 f., 361 Stern Review 72 ff. Stichting Magenta 440 Stormfront 432 subjective right 453, 457 f., 460, 464, 466, 470, 474 f., 481 f. Subjekt 322 Subpolitik 109 f. Subsidiarität, Subsidiaritätsprinzip 22, 38, 84 f., 89 ff., 102 ff., 330, 417 f., 424 ff. Supererogatorismus 355 ff. Syllogistik 485 f., 512 Take 25 436 Tarskischer Wahrheitsbegriff 495, 502 f., 512 Tausch (als Kommunikation) 18 Teilhabe 103, 253, 264 f., 280, 292 f., 365 ff., 374 ff. Temperaturanstieg 46 f., 50 f., 69, 71, 73 Terminalstadium 530 f. terms of service 437 f. Tertium non datur 507 ff., 513, 517 The Planet 440 Theorie des guten Lebens 353 f. theory of punishment (Kant) 2 Tipping elements (Kippelemente) 51, 76 tolerance 435 torts 1 Toulminsches Schema 506 Tradition, christliche 31, 100 Tradition, jüdische 29, 31 f. Treibhauseffekt 51 Treibhausgase 46 f., 49 ff., 59, 70 f., 108 Überflutung (dauerhaft) 50, 52, 73 Überschwemmung (episodisch) 51, 73 Umweltethik 61, 97 f., 112 UN-Behindertenrechtskonvention 229 Ungerechtigkeit 58, 75 Universalität 65, 163, 230, 252, 272, 276, 384 Vanguard Magazine 432 Vatikanisches Konzil (II.) 325
Verantwortung (s. a. Gemeinverhaftung) 55 ff., 60 ff., 66, 68, 76, 95 ff., 104, 110, 131, 140, 143, 239, 299, 327, 371, 415 f., 421, 542, 569 f., 577 Verantwortung, soziale (Social Responsibility) 434 Verantwortung, unterschiedliche Verantwortlichkeiten 53 Verdienst 152 ff., 217 Vereinte Nationen 29 ff., 34, 36 ff., 40, 59, 63 Vermögen 189, 207, 214, 216, 220, 223 ff. Verrechtlichung 423, 526 ff., 541, 543 Verteilungsgerechtigkeit 271, 280, 375 f. Verursacherprinzip 59, 69, 73 violence 439 Vorgeburtliche Medizin 575 ff. Vulnerabilität 53, 59, 73 ff., 343 Wald 48 f., 51, 299, 306 f. Wald, Aufforstung 70 Wald, -brände 49, 51 Wald, nachhaltige Forstwirtschaft 70 Wald, -schutz 71, 109 Wald, -vernichtung 48 f. 51, 72, 74 Web-hosting companies 437 Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change) 46 f., 50, 53, 70, 73 Werte, objektive vs. subjektive 554 f. Wettbewerb 193, 195 ff., 203, 207 ff., 217, 220, 329 ff., 334 ff. Widerstandsrecht 167, 172, 175 Wipeout Homophobia 436 Wirtschaft 416 Wohlfahrt 169, 171 ff. Wohlfahrtsverbände 349 ff., 352 Wohlstands-Asymmetrie 213 ff. WordPress 438 Xanga 439 xenophobia 441 Yad Vashem 439 Zivilgesellschaft 294 ff., 297 ff., 305, 307 f., 355 ff., 362, 425 f. Zukunftsräte 290 f., 307 Zwei-Grad-Limit 46, 50, 69, 71, 73, 299
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Name, „Titel des Artikels“, in: Name/ Name (Hrsg.), Buchtitel, Ort: Verlag, Jahr, Seitenzahl. Sofern ein Werk zum zweiten oder wiederholten Male zitiert wird, sollte die Abkürzung „Ebd.“ oder „Ibid.“ verwendet werden, wenn der Nachweis sich auf eine unmittelbar vorausgehende Zitierung bezieht, und nach einem Komma die Seitenangabe folgen. Wenn auf eine weiter zurückliegende Zitierung Bezug genommen werden soll, sollte der Name des Autors (kursiv gesetzt) wiederholt und in Klammern auf die Fußnote, die die erste Zitierung des Werkes aufweist, hingewiesen werden: Name (Fn. *), Seitenzahl. Seitenhinweise auf die eigene Arbeit sind aus Kostengründen zu vermeiden und durch Gliederungshinweise zu ersetzen. Von dem gesetzten Manuskript erhält der Autor nur einen Korrekturabzug. Korrekturen müssen dabei auf das Notwendige beschränkt bleiben; Kosten für nachträgliche Änderungen gehen zu Lasten des Autors. Autoren erhalten ein Belegexemplar des betreffenden Bandes des Jahrbuchs und jeweils 15 Sonderdrucke ihres Beitrages kostenlos. Die Autoren können weitere Exemplare mit einem Nachlaß von 25 % vom Ladenpreis und weitere Sonderdrucke zu einem Seitenpreis von 0,15 € beim Verlag beziehen. Das Manuskript bitte an folgende Anschrift einsenden: Jahrbuch für Recht und Ethik Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie Europa-Universität Viadrina Postfach 17 86 D-15207 Frankfurt (Oder) Tel.: 03 35 / 55 34 - 23 36 email: [email protected]
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