Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 21 (2013). Themenschwerpunkt: Das Rechtsstaatsprinzip / The Rule of Law-Principle [1 ed.] 9783428542727, 9783428142729

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Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 21 (2013). Themenschwerpunkt: Das Rechtsstaatsprinzip / The Rule of Law-Principle [1 ed.]
 9783428542727, 9783428142729

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Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 21 (2013) Herausgegeben von B. Sharon Byrd Joachim Hruschka Jan C. Joerden

Duncker & Humblot  · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 21

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Herausgegeben von B. S h a r o n B y r d · J o a c h i m H r u s c h k a · J a n C. J o e r d e n

Band 21

Duncker & Humblot · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 21 (2013) Themenschwerpunkt:

Das Rechtsstaatsprinzip / The Rule of Law-Principle Herausgegeben von B. Sharon Byrd Joachim Hruschka Jan C. Joerden

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Empfohlene Abkürzung: JRE Recommended Abbreviation: JRE Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-4610 ISBN 978-3-428-14272-9 (Print) ISBN 978-3-428-54272-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84272-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort „Das Rechtsstaatsprinzip – The Rule of Law-Principle“ – so lautet der Themenschwerpunkt dieses Bandes des Jahrbuchs für Recht und Ethik. Die Beiträge hierzu geben einen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Prinzipien, die oftmals etwas ungenau bloß als wechselseitige Übersetzungen verstanden werden. Untersuchungen zu den Grundlagen der beiden Prinzipien im vorliegenden Band zeigen, dass sie zwar aufeinander bezogen sind, aber durchaus eine unterschiedliche rechtsgeschichtliche Entwicklung genommen haben und deshalb auch die mit ihnen verbundenen Inhalte differieren können. Darüber hinaus befassen sich mehrere Beiträge mit speziellen Anwendungsproblemen der beiden Prinzipien. Es schließt sich weiterhin ein Abschnitt mit Beiträgen zur Interpretation von Kants Rechts- und Moralphilosophie, inbesondere in seinem Werk Die Metaphysik der Sitten von 1797, an. Für ihre Mitwirkung bei der Herstellung der Druckvorlagen ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Johannes Bochmann, Dariia Ieremenko, Lydia Ludolph, Susen Pönitzsch und Carola Uhlig zu danken. Carola Uhlig danken wir zudem wieder für die sorgfältige Erstellung der Register. Last, but not least gebührt einmal mehr Lars Hartmann (Berlin) Dank für die umsichtige Betreuung der Drucklegung im Verlag Duncker & Humblot. Hingewiesen sei schließlich auf die Internet-Seiten des Jahrbuchs für Recht und Ethik: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html Dort sind auch weitere Informationen zum Jahrbuch erhältlich – insbesondere die englische bzw. deutsche Zusammenfassung der Artikel und Bestellinformationen. Die Herausgeber

Preface „Das Rechtsstaatsprinzip – The Rule of Law-Principle“ is the thematic priority of this volume of the Annual Review of Law and Ethics. The contributions give an overview of similarities and differences between both principles, that are often, and not quite correctly, thought to be mere translations of each other. Examinations concerning the foundations of both principles in this present volume, however, show that although the principles correlate with one another, their legal historical development was different and thus also the content of both principles may vary. Additionally, some articles deal with specific problems in adapting both principles. Furthermore, one section is devoted to the interpretation of Kant's legal and moral philosophy, in particular his work Metaphysics of Morals from 1797. Our gratitude goes to Johannes Bochmann, Dariia Ieremenko, Lydia Ludolph, Susen Pönitzsch and Carola Uhlig, members of the Chair for Criminal Law and Legal Philosophy at the European University Viadrina Frankfurt (Oder) for their support in preparing the manuscripts for publication. We especially appreciate Carola Uhlig’s contribution in preparing the indices. Last, but not least, we would like to thank Lars Hartmann at Duncker & Humblot (Berlin) for his comprehensive assistance in printing the volume. We would also like to draw the readers’ attention to our website: http: //www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/projekte/jre/index.html where they will find further information on the Annual Review of Law and Ethics, including English and German summaries of the articles it contains and purchasing procedures. The Editors

Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Grundfragen – Fundamental Questions Christian Calliess: Rechtsstaat und Vorsorgestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Kirste: Die Rule of Law in der deutschen Rechtsstaatstheorie des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich H. J. Körtner: Demokratie, Recht und Religion – Das Rechtsstaatsprinzip aus evangelisch-theologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Joachim Lauth: Vermittlungsprobleme zwischen Demokratie und Rechtsstaat . . . .

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Anna Leisner-Egensperger: Rechtsstaatlichkeit: Verfassungsprinzip zwischen Rechtstechnik und ethischer Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alessandro Pinzani / Cristina F. Consani: Jefferson vs. Madison Revisited . . . . . . . . . . . . . . 111 Sanne Taekema: The Procedural Rule of Law – Examining Waldron’s Argument on Dignity and Agency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Probleme der Implementierung – Problems of Implementation Markus Babo: Das politische Asyl vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Orientierungen aus der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Norbert Campagna: Der Rechtsstaat und das Problem der strafrechtlichen Amnestie . . . . 167 Frank Dietrich: State Recognition between Justice and Efficiency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Jacob Emmanuel Mabe: Zivilcourage im modernen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Markus Rothhaar: Die Akteursrelativität als Meta-Norm des Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . 219 Beiträge zu Kants Metaphysik der Sitten – Contributions on Kant’s Metaphysics of Morals Alyssa R. Bernstein: War as Means to Peace? Kant on International Right . . . . . . . . . . . . . . . 237 Reinhard Brandt: Kant ein Pythagoreer? Reflexionen zu Form und Inhalt der Rechtslehre (1797) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Bernd Ludwig: „Positive und negative Freiheit“ bei Kant? – Wie begriffliche Konfusion auf philosophi(ehistori)sche Abwege führt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

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Inhaltsverzeichnis – Table of Contents

Alice Pinheiro Walla: Virtue and Prudence in a Footnote of the Metaphysics of Morals (MS VI: 433n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Tagungsbericht – Conference Report Maximilian Schochow / Jonas Grygier: Tagungsbericht. 1927 – Die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895 – 1953) . . . . . . . 325 Rezension – Recension Ulli F. H. Rühl: Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz (Joachim Hruschka)

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Contributors and Editors . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Personenverzeichnis / Index of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Sachverzeichnis / Index of Subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Hinweise für Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Information for Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Grundfragen – Fundamental Questions

Rechtsstaat und Vorsorgestaat Christian Calliess

I. Der Umgang mit Nichtwissen als Herausforderung an Staat und Gesellschaft Die dynamische Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bringt neben den vielfältigen Chancen als unbeabsichtigte Nebenfolge auch neue Risiken, die über die Gefahren der ersten Industrialisierungsphase weit hinausgehen, mit sich. Manche Entwicklungen sind mit neuartigen Umwelt- und Gesundheitsrisiken verbunden, deren Tragweite häufig anfangs nicht vorhergesagt werden kann. In der Vergangenheit galt häufig, dass die Verwendung von Stoffen oder Produkten erst dann eingeschränkt wurde, wenn eindeutige wissenschaftliche Belege für Schadwirkungen vorhanden waren. Beispielsweise war bis 1981 das Chemikalienrecht so ausgestaltet, dass neue Substanzen ohne vorherige Abschätzung der gesundheitlichen Wirkungen und ohne behördliche Prüfung hergestellt und auf den Markt gebracht werden konnten. Diese zunächst auf dem Gedanken von trial and error beruhende Herangehensweise, die staatliches Handeln nur unter den Bedingungen der klassischen Gefahrenabwehr und damit sehr spät – ja manchmal zu spät (z. B. im Falle von Asbest) – ermöglichte, ist zunehmend in die Kritik geraten. Denn hier lernten Staat und Wirtschaft immer erst aus der Krise; dies um den Preis eines sich perpetuierenden gesellschaftlichen Vertrauensverlustes. Da in der Forschung allenfalls begrenzt effektive Ansätze zur Selbstbegrenzung und Folgenverantwortung existieren und im Wettbewerb des freien Marktes grundsätzlich keine andere Grenze als die der Wirtschaftlichkeit gilt, wird an den Staat als Träger des Gewaltmonopols eine aus den Grundrechten und Art. 20a GG folgende Schutzpflicht herangetragen, im Zuge derer er der gesellschaftlichen Risikoproduktion Grenzen zu setzen hat. Als Problem erweist sich in diesem Zusammenhang, wenn der Staat mangels erfahrungsbasierter Kenntnis aller Schadensquellen und -folgen keine präzisen und wirkungssicheren Auflagen zur Schadensverhütung machen kann. Problematisch ist überdies, dass die klassischen Instrumente staatlicher Steuerung, staatliche Genehmigungspflichten und privater Schadensersatz, dort versagen, wo mit Blick auf die ubiquitäre Dimension potentieller Schäden entweder Verursacher und Kausalitäten nicht feststellbar sind, oder aber die Schäden ein Ausmaß erreichen, das vom Verursacher nicht finanziell zu ersetzen ist.1

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Christian Calliess

II. Rechtsstaatlichkeit: Staatstheoretische und verfassungsrechtliche Grundlagen Die Bundesrepublik Deutschland ist ebenso wie die Europäische Union auf Rechtsstaatlichkeit verpflichtet (vgl. Art. 20, 28 GG, Art. 2 EUV). Der Rechtsstaat definiert sich einerseits durch Verfahrensvorgaben, wie z. B. die Gewaltenteilung,2 Vorbehalt des Parlamentsgesetzes und effektiven Rechtsschutz, und andererseits materiell durch die Anerkennung der Grundrechte.3 Angelpunkt ist insoweit die Grundnorm unserer Verfassung, die Menschenwürde, die als Kernbestandteil aller Grundrechte über Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG die elementaren rechtsstaatlichen Pflichten der Achtung und des Schutzes für die nachfolgenden grundrechtlichen Schutzgüter der Art. 2 ff. GG formuliert. Staatstheoretisch betrachtet kommt der Staat seiner Schutzpflicht mittels des – im historischen Kontext der Bürgerkriege in Frankreich und England von Jean Bodin und Thomas Hobbes entwickelten und hernach Schritt für Schritt durchgesetzten – staatlichen Gewaltmonopols nach. Der Begriff des Gewaltmonopols entstammt an sich der Lehre Max Webers, der den Staat deskriptiv durch sein spezifisches Mittel, das Monopol legitimer physischer Gewaltanwendung, definiert.4 Entscheidend ist die Zuständigkeit des Staates, die ihm, und allein ihm, den Einsatz von physischer Gewalt gestattet. Aufgrund dieser Tatsache nimmt die Staatsorganisation eine besondere Qualität an, die sie von privaten Machtorganisationen unterscheidet. Sichtbar wird das Gewaltmonopol des Staates in Polizei, Zwangsvollstreckung und Armee. Das Gewaltmonopol erlegt dem Bürger in staatstheoretischer Perspektive eine „Friedenspflicht“ auf, im Zuge derer er sich privat – abgesehen von Notwehrsituationen – der Anwendung und Androhung von körperlicher Gewalt zu enthalten und Konflikte nur im Rahmen des Rechts auszutragen hat. Dem korrespondiert eine Schutzpflicht des Staates, die als eine Art Kompensation für die Akzeptanz des Gewaltmonopols zu verstehen ist. Die vertragstheoretische Vereinbarung „privater Gewaltverzicht gegen staatlichen Schutz“ wird solchermaßen zur staatstheoretischen Grundlage des Zusammenlebens der Staatsbürger.5 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 211 f. Instruktiv dazu und zu den aktuellen Verschiebungen Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 19 ff. und 121 ff. 3 Ausführlich Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 38 ff. und 253 ff. 4 Weber, Politik als Beruf, 1992, S. 5 ff.; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, 1972, S. 821 ff. 5 Dazu ausführlich Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, 1986, S. 313 (insbesondere 314, 317 ff.); Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte, in: FS Sendler, 1991, S. 39 (46 f.); Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 35 ff.; Willke, Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht, in: Grimm, Staatsaufgaben, 1996, S. 685 (688 ff.); Koller, Moderne Vertrags1 2

Rechtsstaat und Vorsorgestaat

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Verfassungsrechtlich wird die staatliche Schutzpflicht über die Grundrechte vermittelt. Die Existenz staatlicher Schutzpflichten – im Hinblick auf Objekt und Rechtsgrund des Schutzes wird besser von grundrechtlichen Schutzpflichten gesprochen – ist heute in Rechtsprechung6 und Lehre allgemein anerkannt, auch wenn über viele Einzelfragen gestritten wird.7 Konflikte werden im Kontext des staatlichen Gewaltmonopols aber nicht etwa unterdrückt, sondern durch staatliche Institutionen und Verfahren, die – quasi kompensatorisch – bestimmte Mitwirkungs-, Partizipations- sowie andere Verfahrensrechte garantieren, kanalisiert.8 Diese hat der Staat aufgrund seiner Schutzpflicht bereitzustellen. So gesehen ist der Anspruch auf polizeiliches Einschreiten oder der Justizgewährleistungsanspruch der rechtsstaatliche Ausgleich für das Verbot von Eigenmacht und Selbstjustiz.9 Mit Blick auf die dem Gewaltmonopol immanente Missbrauchsgefahr10 darf hoheitliche Gewalt im demokratisch verfassten Rechtsstaat jedoch andererseits auch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Gesetze11 und vor allem beschränkt durch die Grundrechte in ihrer klassischen abwehrrechtlichen Dimension ausgeübt werden.12 Dementsprechend sind Grundrechte im Kontext ihrer Entstehungsgeschichte auch primär als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert und ausgerichtet worden.

theorie und Grundgesetz, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 361 ff.; differenzierend Gusy, Rechtsgüterschutz als Staatsaufgabe – Verfassungsfragen der „Staatsaufgabe Sicherheit“, DÖV 1996, S. 573 (575 f.); Haverkate, Verfassungslehre – Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, 1992, S. 31 f.; kritisch Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 214 ff., 272 ff. 6 BVerfGE 39, 1, 41 – Schwangerschaftsabbruch I; 46, 160, 164 – Schleyer; 49, 89, 140 f. – Kalkar I; 53, 30, 57 – Mülheim-Kärlich; 56, 54, 73 – Fluglärm; 88, 203, 251 – Schwangerschaftsabbruch II; BVerfG, NJW 1998, S. 3264 und BGHZ 102, 350, 365 – jeweils zu Entschädigung für Waldschäden. 7 Ausführlich Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 38 ff. und 253 ff. 8 Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 2004, § 15, Rn. 93. 9 Vgl. BVerfGE 54, 277 (292); 61, 126 (136); Isensee, ebd.; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 29 ff. 10 Isensee, in: FS Sendler, S. 39 (48); Willoweit, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, 1986, S. 322; Doehring, Der Verlust der Autorität des Rechts als Problem der aktuellen Rechtsentwicklung, in: Stein (Hrsg.), Die Autorität des Rechts, 1985, S. 77 (78 ff.); aus rechtsphilosophischer Sicht dazu der Beitrag von Koller, Moderne Vertragstheorie und Grundgesetz, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 361 ff. 11 Zur diesbezüglichen Entwicklung Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 202 ff.; ausführlich zum ganzen Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 29 ff.; Willoweit, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, 1986, S. 321 ff.; Ress, Die Autorität des Verfassungsrechts, in: Stein (Hrsg.), Die Autorität des Rechts, 1985, S. 5 ff. 12 Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 2004, § 15, Rn. 90.

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Infolgedessen gründet im rechtsstaatlich eingehegten Gewaltmonopol ein historisch begründetes Spannungsverhältnis der Freiheit. Denn dieses ist ja zugleich das Mittel, durch das der Staat den ihn legitimierenden Fundamentalstaatszweck Sicherheit samt der Aufgabe des Schutzes der Bürger umsetzt: „Der rechtsstaatliche Freiheitsbegriff des Grundgesetzes erschöpft sich … nicht in der Ausgrenzung eines Raums eigenen Beliebens, sondern meint rechtlich geordnete Freiheit. Erst bei Anerkennung dieser zweiten Schicht formen sich die Grundrechte zu Bausteinen, die die gesamte Rechtsordnung durchziehen und alle Rechtsverhältnisse zu beeinflussen vermögen. … Auf die Basis des Art. 1 Abs. 1 GG zurückgeführt, zeigt sich der Doppelauftrag des Rechtsstaats … in seiner einheitlichen Form: Disziplinierung und Aktivierung staatlichen Handelns. Beides gehört, wie die geschichtliche Entwicklung zeigt, zusammen und ist die Grundlage jener Friedenspflicht, die der Rechtsstaat seinen Bürgern auferlegt“.13

Dieser Doppelauftrag des Rechtsstaats ist insbesondere nach 1945 – in Erfahrung des übermächtigen Staates des Nationalsozialismus, im Zuge dessen die Staatsbegrenzung im Vordergrund der deutschen und europäischen (Grundrechts-)Entwicklung stand14 – ein Stück weit in „Vergessenheit“ geraten. Angesichts neuer Gefährdungen und Risiken für grundrechtlich geschützte Güter, etwa durch neue Technologien, ist diese vergessene Schutzfunktion des Rechtsstaats heute aber wieder verstärkt in Erinnerung gerufen worden. Im materiellen Rechtsstaat des Grundgesetzes bedeutet dies, dass die Grundrechte als subjektiv-rechtlich wirkende Garanten einer Schutzpflicht in das Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Denn Gefahren für die Verwirklichung der Grundrechte drohen nicht nur von staatlicher, sondern eben auch von privater Seite, in concreto durch Ein- bzw. Übergriffe anderer Bürger.15

III. Vom liberalen Nachtwächterstaat zum Vorsorgestaat? 1. Neue Dimensionen von Sicherheit und staatlicher Verantwortung Obwohl die Staatsaufgabe Sicherheit auf eine lange staatstheoretische Tradition zurückgeht und die Gewährleistung von Sicherheit für die Bürger im Verbund „Staatliches Gewaltmonopol – Friedenspflicht der Bürger – Schutzpflicht des Staates“ den geradezu klassischen Legitimationsgrund für staatliche Herrschaft dar13 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, § 24, Rn. 31 f.; in diesem Sinne auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20, 1999, Rn. 191; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar6, Bd. I, 2010, Art. 1 Abs. 3, Rn. 193; Bettermann, Der totale Rechtsstaat – Zwei kritische Vorträge, 1986, S. 7; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 29 ff.; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 278 ff. 14 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 246. 15 Ausführlich Murswiek, Freiheit und Freiwilligkeit im Umweltrecht, JZ 1988, S. 985 (987 ff.); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 2011, § 191, Rn. 185 ff.

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stellt16, ist der Inhalt des Begriffs Sicherheit in Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und Befindlichkeiten17 einem ständigen Wandel unterworfen.18 Der mit einem spöttischen Unterton so bezeichnete „liberale Nachtwächterstaat“ reduzierte die Staatsaufgabe Sicherheit zunächst weitgehend auf die Gewährleistung der physischen Sicherheit seiner Bürger. In den modernen Industrie-, Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaften tritt neben die „klassische“ physische Sicherheit die mit ihr eng verbundene ökologische Sicherheit sowie, darüber hinaus weisend, die soziale Sicherheit.19 Dem korrespondiert eine für unser Thema wichtige Entwicklung, die – vielleicht etwas provokativ – mit der These einer „schwindende(n) Legitimität staatlichen Unterlassens“ beschrieben werden kann.20 Gemeint ist die Entwicklung zur sog. Risikogesellschaft21, als deren Pendant der Vorsorge- und Umweltstaat auf die Bühne tritt.22 Worum geht es hier konkret? Es geht um Innovationen in Wissenschaft und Technik, die – einmal in neuen Produkten zur Marktreife gebracht – von der Wirtschaft in den Markt gebracht und damit gezielt, aber auch mittelbar, eine Vielzahl von Menschen erreichen und betreffen. Dieser Prozess bringt neben den vielfältigen Chancen als unbeabsichtigte Nebenfolge auch neue Risiken, die über die Gefahren der ersten Industrialisierungsphase weit hinausgehen, mit sich. Auf diese Weise wird Sicherheit nicht mehr nur in den bekannten Formen der inneren, äußeren, und sozialen Sicherheit, sondern in einer gewandelten Form, die sich als Zukunftssicherheit bezeichnen ließe, zu einer maßgeblichen Verantwortung des Staates.23 16 Hierzu Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, in: Randelzhofer / Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt, 1986, S. 313 ff.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; Calliess, ZRP 2002, S. 1 ff. 17 Von einem steigenden Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft spricht G. Calliess, Prozedurales Recht, 1999, S. 56 ff.; vgl. ferner – wenngleich etwas undifferenziert – M. Kötter, KJ 2003, S. 64 ff. (insbes. 71 ff.). 18 Vgl. etwa Glaeßner, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) B 10 – 11 / 2002, S. 3 ff. 19 Vgl. z. B. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 205; Isensee, JZ 1999, S. 265 (271 ff.); Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, 2001; v. Hippel, ZRP 2001, S. 145 ff. 20 So der Titel des Beitrags von W. Lübbe, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung, Die Verfassung vor der Zukunft, 1999, S. 211 ff. 21 Begriffsprägend Beck, Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 35 ff., 300 ff.; zusammenfassend ders., APuZ B 36 / 89, S. 3 ff.; Schmidt, DÖV 1994, S. 749 (750); Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat – Zum Wandel der Dogmatik im öffentlichen Recht, insbesondere am Beispiel des Arzneimittelüberwachung, 1994, S. 53 ff.; Köck, AöR 121 (1996), S. 1 ff. 22 Ausführlich hierzu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 1 ff., 21 ff., 65 ff. 23 Grimm, Zukunft der Verfassung, 1994, S. 417 f.; Isensee, Fn. 15, Rn. 183 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 223 ff.; Di Fabio, Risikoentscheidungen, 1994, S. 41 ff.; Gusy, DÖV 1996, S. 573 ff.

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2. Die Schutzlücke des Privatrechts, konkret des Haftungsrechts In vielen gesundheits- und umweltpolitischen Handlungsfeldern sind die Wirkungs- und Wanderungsketten von belastenden Schadstoffen nur sehr begrenzt vorhersehbar. Ihre akkumulativen, synergetischen und antagonistischen Wechselwirkungen führen zu einer strukturellen Unübersichtlichkeit der Zusammenhänge, die es sehr schwer machen, geradlinige Wirkungsketten und damit etwaige Schadensursachen mit der rechtlich geforderten Sicherheit zu ermitteln. Die Möglichkeiten von Wissenschaft und Forschung, die Komplexität und Multikausalität der Umwelt zu erfassen, sind demgegenüber noch immer begrenzt. In vielen Fällen fehlen Daten und es gibt erhebliche Lücken in der Forschung. Hinzu kommt, dass Maßnahmen zur Umweltbeobachtung und -beschreibung in der Regel medial getrennt und unkoordiniert erfolgen. Überdies gibt es vielfältige Schwierigkeiten im Bereich der Messungen. Letztere sind angesichts der Instabilität von vielen Schadstoffen und ungewisser Stoffkreisläufe oftmals unsicher, sodass der einer politischen Intervention unterliegende Gegenstand als sich verändernde Größe zeigt. Unzulänglichkeiten bei den Messmethoden und den Bewertungen treten als weitere Herausforderung hinzu: Erstere leiden entweder unter einer gewissen Unschärfe, die zur Bestimmungsgrenze hin mehr und mehr zunimmt, oder sie versagen von vorneherein, weil bestimmte Faktoren, wie zum Beispiel die Belastung durch multiple Schadstoffeinträge, nicht adäquat abgebildet werden bzw. die reale Situation de facto nicht erfasst werden kann. Daher muss im Rahmen von Schwellenund Grenzwerten zwangsläufig schematisiert bzw. typisiert werden, so dass den biologischen Unterschieden der Menschen bzw. Biosysteme sowie den multikausalen Wirkungen von Umweltbelastungen nur begrenzt Rechnung getragen werden kann. Nicht zuletzt sind bestehende Risikoabschätzungen und -bewertungen häufig einer Veränderung unterworfen. Altbekannte Gegenstände des täglichen Gebrauchs, zum Beispiel Asbest oder Formaldehyd, stellen sich plötzlich als schädlich dar, oder andere, vielleicht auch neue Bewertungsmethoden gebieten einen erweiterten Schutzumfang, den das Recht nicht ohne weiteres abbilden kann. Das klassische Sicherheitsrecht, das polizeiliche Gefahrenabwehrrecht wirkt, gegenüber den neuartigen Herausforderungen der Risikogesellschaft überfordert, ja – wie manche sagen – antiquiert.24 Denn das Recht basiert klassischerweise auf Bausteinen wie Unmittelbarkeit, Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit und Schuld. Sie sind Grundlage der rechtlichen Zuordnung von Verantwortlichkeit.25 Die Kollektivierung von Schäden steht in einem paradoxen Verhältnis zur privaten Verantwortbarkeit und Verantwortlichkeit

24 So Wolf, in: Beck (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991, S. 378; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1994, S. 197 ff.; Ritter, DÖV 1992, S. 641 ff. 25 Vgl. etwa BGHZ Bd. 102, S. 350 ff. für den Fall der sog. „neuartigen Waldschäden“ sowie das Urteil des BVerfG vom 24. November 2010, Rn. 137 für den Fall der sog. Grünen Gentechnik.

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einzelner Personen: Wenn individuelle Entschädigungen entweder mangels Nachweises der Kausalitäten oder mangels Nachweisbarkeit eines Verschuldens nicht möglich sind, aber auch kollektivrechtliche Entschädigungslösungen sich schwierig gestalten, dann versagt das zivilrechtliche Instrumentarium des Schadensersatzes und des darin anknüpfenden Versicherungsschutzes.26 In einer solchen Situation, in der die individuelle Zurechnung an einen individualisierbaren Verantwortlichen nicht gelingt, richten sich die Sicherheitserwartungen an die staatlichen Institutionen, von denen – wie vorstehend gezeigt wurde: zu Recht – Vorkehrungen zum Schutz vor Schäden erwartet werden. 3. Der Vorsorgestaat a) Von der Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge Sicherheit wird im Recht traditionell als Abwesenheit von Gefahren – bewirkt durch das staatliche Instrument der Gefahrenabwehr – definiert.27 Für das Vorliegen einer Gefahr maßgebend ist die Kenntnis von Umständen, aus denen im Wege einer Erfahrungsregel und daran anknüpfender Prognose mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf einen Schaden für ein zu schützendes Rechtsgut geschlossen werden kann,28 im Zentrum effektiver Sicherheitsgewähr steht also das auf allgemeinen Erfahrungsregeln basierende „Wissen“ um ein potentielles Schadensereignis.29 Je größer und folgenschwerer letzteres ist, umso geringer sind die Anforderungen an die für das Gefahrenurteil zu fordernde Wahrscheinlichkeit; die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts reicht für die Annahme einer Gefahr allerdings niemals aus.30 In komplexen Rechtsbereichen, etwa im Umwelt- und Gesundheitsrecht, ist der Gesetzgeber dazu übergegangen, jene allgemeinen Erfahrungsregeln durch wissenschaftliche Maßstäbe und Wahrheitskriterien zu ersetzen, die – vermittelt über unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Stand der Technik“ oder „Stand von Wissenschaft und Technik“ – eine verobjektivierte Entscheidungsgrundlage für staatliche Eingriffe liefern sollen.31

26 Reiter, Entschädigungslösungen für durch Luftverureinigungen verursachte Distanz- und Summationsschäden, 1998, S. 25 ff. und S. 77 ff. 27 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 30 ff. 28 Siehe dazu nur BVerwGE 45, S. 51 (57); Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 2013, S. 40 ff.; vgl. ferner die Legaldefinition in § 2 Nr. 1a NdsGefAG. 29 Pitschas, DÖV 1989, 785 ff.; Preuß, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, S. 527; ausführlich Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft: von der Gefahrenabwehr zum Risikomanagement, 1995, S. 9 ff., 69 ff. 30 Siehe nur Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 2013, S. 41; kritisch zu den herrschenden Ansätzen zur Definition von Wahrscheinlichkeit Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge – eine Untersuchung über Struktur und Bedeutung der Prognose-Tatbestände im Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, 1983, S. 35 ff.

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Wo aber keine die Schadenskausalität bestätigenden Experimente und keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorhanden sind, kann eine polizeirechtlich hinreichende Wahrscheinlichkeit mangels der notwendigen Beurteilungssicherheit nicht mehr begründet werden. Weisen aber dennoch bestimmte Anhaltspunkte auf eine entfernte Schadensmöglichkeit hin, ist jener Übergang zwischen Gefahr einerseits und Risiko andererseits erreicht.32 In vielen Fällen wird in Anbetracht von Nichtwissen auch zukünftig nach dem Recht der Gefahrenabwehr und im Zuge dessen auch nach der trial and error- Methode vorgegangen werden können. Diese Methode ist jedoch nur für potentielle Schäden, die reversibel sind, angemessen. Wenn dagegen bei bestimmten Projekten, Techniken und Eingriffen von vornherein und begründet damit gerechnet werden kann, dass sie irreversible Auswirkungen haben werden, stößt die trial and errorMethode auch an die genannten verfassungsrechtlichen Grenzen aus der staatlichen Schutzpflicht. Neben die Aufgabe der Gefahrenabwehr, die auf der Grundlage von Nahzurechnungen und kurzen, linearen Kausalverläufen wahrgenommen werden konnte, ist in der Folge die komplexe Aufgabe der Risikovorsorge – vermittelt über das Vorsorgeprinzip – getreten. Letzteres hat zwischenzeitlich ein beachtliche juristische Karriere hingelegt, die ihren Ausgangs- und Schwerpunkt im Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzrecht findet. Und dies nicht etwa nur im Recht der oftmals als ängstlich, fortschrittsfeindlich und umweltbewegt beschriebenen33 Bundesrepublik, sondern auch im Recht der USA, der EU, der WTO, ja ganz allgemein im Völkerrecht. b) Das Vorsorgeprinzip als Rechtsprinzip im deutschen und internationalen Umweltrecht Das Vorsorgeprinzip ist im deutschen und europäischen34 Umweltrecht als Rechts- und Verfassungsprinzip seit langem anerkannt. Es stellt sich in verfassungsrechtlicher Perspektive als eine maßgebliche Ausprägung des Staatsziels Umweltschutz (vgl. Art. 20a GG, Art. 191 Abs. 2 S. 2 AEUV) und grundrechtlicher Schutzpflichten dar. Aus den genannten Normen folgt ein – auch vom Bundesverfassungsgericht anerkanntes – „Untermaßverbot“, dem der Gesetzgeber durch die Entwicklung eines effektiven Schutzkonzepts Rechnung zu tragen hat. In der Folge ist das 31 Kritisch dazu Wolf, in: Beck (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991, S. 378 (384, 386 ff.). 32 Di Fabio, Jura 1996, S. 566 (568); Wahl / Appel, Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 86. 33 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Isensee, DÖV 1983, S. 565 ff. mit dem Titel „Widerstand gegen den technischen Fortschritt“; ferner Tettinger, NuR 1997, S. 1 (5, 8); ders. DVBl. 1999, S. 679 (686 f.). 34 KOM (2000) 1 endgültig, S. 12; Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, S. 80 ff.

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Vorsorgeprinzip auch in vielen deutschen und europäischen Umweltgesetzen explizit verankert.35 Insbesondere das Völkerrecht macht deutlich, dass zwischen dem Grundsatz der Nachhaltigkeit und dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip enge Verbindungen bestehen. Dies wird deutlich, wenn man zur Konkretisierung des Begriffs der Nachhaltigkeit auf die insoweit maßgebliche Rio-Deklaration zurückgreift.36 Ihr Grundsatz 1 stellt die Menschen in den Mittelpunkt der Bemühungen um ein „sustainable development“ und betont deren Recht auf ein gesundes und produktives Leben im Einklang mit der Natur. Nach Grundsatz 4 soll der Umweltschutz integraler Bestandteil des wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprozesses sein und nicht von diesem getrennt betrachtet werden. In Grundsatz 8 der Rio-Deklaration verpflichten sich die Staaten, „unsustainable“ Produktions- und Verbrauchsstrukturen abzubauen. In relativ präzisen Formulierungen werden die Staaten dazu aufgefordert, in ihrem nationalen Bereich für eine „Öffentlichkeitsbeteiligung“ in Umweltfragen zu sorgen (Grundsatz 10) sowie bei potentiell umweltgefährdenden Vorhaben nationale Umweltverträglichkeitsprüfungen durchzuführen (Grundsatz 17). Und schließlich sind die Staaten nach Grundsatz 15 gehalten, „im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend den Vorsorgegrundsatz“ anzuwenden. Dieser wird mit der für den Umweltschutz bedeutsamen Maßgabe konkretisiert, dass „ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewißheit kein Grund dafür sein“ darf, „kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben“, falls „schwerwiegende oder bleibende Schäden“ drohen. Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sendet solchermaßen Impulse in die nationalen Rechtsordnungen, die diese verändern und zur Anpassung zwingen.37 Dessen Vorgaben prägen das staatliche und europäische Umweltrecht,38 indem ihre Inkorporierung in die nationalen Rechtssysteme zu einer Aufgabe gemacht wurde, die die Staaten – wenngleich auch in unterschiedlich konsequenter Weise – angenommen haben. Nicht zuletzt wird über den Nachhaltigkeitsgrundsatz eine Art Internationalisierung der Staatszielbestimmung Umweltschutz in Art. 20a GG bewirkt. Mag diese – im Unterschied zu den über die Umweltintegrationsklausel vermittelten Wirkungen des europäischen Unionsrechts (vgl. Art. 11 AEUV) – auch indirekter Natur sein, ihre konkretisierenden Wirkungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden.39 InsDazu der Überblick bei Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 179 ff. m. w. N. So auch Epiney / Scheyli, Strukturprinzipien des Umweltvölkerrechts, 1998, S. 98 ff., die überdies auf vökerrechtliche Praxis insgesamt einbeziehen. 37 Ruffert, ZUR 1993, S. 214; Beyerlin, ZaöRV 54 (1994), S. 140. 38 Epiney / Scheyli, Strukturprinzipien des Umweltvölkerrechts, S. 98 ff.; Frenz, ZG 1999, S. 143 ff.; ders., UTR 49 (1999), S. 37 ff.; Calliess, DVBl. 1998, S. 559 ff.; Frenz / Unnerstall, Nachhaltige Entwicklung im Europarecht, 1999, S. 153 ff.; Mitschang, DÖV 2000, S. 14 ff. (21). 39 Ausführlich Sommermann, Staatsziele, 1997, S. 252 ff. und S. 406 ff.; Frenz, UTR 49 (1999), S. 37 (40 ff.); grundlegend zu den Vorgaben des Völkerrechts für das deutsche Umweltrecht Streinz, UTR 49 (1999), S. 319 (339 ff.). 35 36

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besondere unter Rückgriff auf die in Art. 25 GG angelegte Entscheidung des Grundgesetzes für die „Harmonie zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht“ wird das Gebot begründet, bei einem Spielraum möglicher Deutungen einer Rechtsregel diejenige zu bevorzugen, die gleichzeitig den Anforderungen des Völkerrechts gerecht wird (Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung).40 c) Inhalt des Vorsorgeprinzips Vorsorge bedeutet dem Wortsinn nach zunächst einmal die Schaffung eines Vorrats für die Zukunft durch Verzicht in der Gegenwart: Mit den zunehmend knapp werdenden natürlichen Ressourcen ist gegenwärtig sparsam umzugehen, um sie künftigen Generationen im Interesse ihrer Lebensfähigkeit als Vorrat zu erhalten. Diese Ressourcenvorsorge erfüllt zugleich den Zweck, Umweltressourcen im Interesse ihrer zukünftigen Nutzung durch Nichtausschöpfung der ökologischen Belastungsgrenzen zu schonen. Hierdurch sollen „Freiräume“ in Gestalt „künftiger Lebensräume“ für Mensch und Natur sowie in Form von Belastungs- bzw. Belastbarkeitsreserven erhalten werden.41 Vorsorge ist aber darüber hinaus auf die Bewältigung von durch Ungewissheit und Unsicherheit definierte Risikosituationen (Risikovorsorge) angelegt. In Ausbau des am Begriff der Wahrscheinlichkeit orientierten Gefahrenbegriffs lässt sich das Risiko als Sachlage definieren, in der bei ungehindertem Ablauf eines Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten möglicherweise zu einer Beeinträchtigung von Rechtsgütern führt. Entscheidend ist also die Ersetzung der konkreten, hinreichenden Wahrscheinlichkeit durch die reine Möglichkeit, die abstrakte Besorgnis eines Schadenseintritts.42 Zum Objekt der Risikovorsorge wird solchermaßen statt des Schadens bereits die Gefahr, mit dem Ziel, die Fehleinschätzung einer Gefahr zu vermeiden.43 Maßgebliche Konsequenz der Erweiterung des klassischen Gefahrenabwehrmodells durch das Vorsorgemodell ist die Vorverlagerung des zulässigen Eingriffszeitpunkts für staatliche Maßnahmen.44 Wenn ein Schaden entweder völlig ungewiss ist oder seine Realisierung praktisch mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dann kann der demokratisch gewählte Gesetzgeber entscheiden, dass dieses sog. Restrisiko hinnehmbar ist. Diese genuin Ebenso Frenz, UTR 49 (1999), S. 37 (40 ff.). Lübbe-Wolff, in: Bizer / Koch (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität, 1997, S. 47 (55 f., 68 f.) m. w. N. 42 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 81, 86; Ipsen, VVDStRL 48 (1989), 177 (186 f.); Wahl / Appel, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 88; ferner Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 36 ff. 43 Vgl. Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 21; Scherzberg, VerwArch 1993, S. 484 (497 f.); Wahl / Appel in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 76; Köck, AöR 1996, 1 (19). 44 Dazu ausführlich Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 154 ff. 40 41

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politische Entscheidung ist rechtlich nur noch insoweit relevant, als eine Verpflichtung besteht, dass das Restrisiko nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik immer so gering wie möglich gehalten wird. 4. Staatliche Risikovorsorge im ethischen Kontext Unabhängig von der rechtswissenschaftlichen Diskussion wurde in der Philosophie mit Blick auf die Risiken neuer Technologien schon länger eine Beweislastumkehr gefordert. Prägend waren insoweit die Überlegungen von Hans Jonas, der in seinem vielzitierten Werk „Das Prinzip Verantwortung“ einen Vorrang der schlechten (im Sinne von skeptischen) vor der guten (im Sinne von optimistischen) Prognose postuliert.45 Ziel sei es, auf diese Weise das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen der Macht des technologischen Handelns einerseits und der Ohnmacht des prognostischen Wissens von seinen Fernwirkungen andererseits zu lösen. Hierfür wird die Nahprognose, mit der die betreffenden Einzelprojekte in der experimentell-technologischen Mikroperspektive betrachtet werden, von der Fernprognose, die sich auf die möglichen zukünftigen Folgen in der Ökosphäre bezieht, unterschieden. Vor diesem Hintergrund wird konstatiert, dass die Sicherheit, die die Nahprognose hat und ohne die das technologische Unternehmen überhaupt nicht funktionieren kann, der Fernprognose unmöglich ist, so dass insofern eine Ungewissheit verbleibt.46 Jene Kluft zwischen Prognosewissen und Wirkungsdimension stelle sich als neues ethisches Problem dar, dem im Wege eines „in dubio contra projectum“ zu begegnen sei: Der Risikoverursacher soll danach begründete Zweifel, mit denen auf ein Risiko hingewiesen wird, durch zureichende Gründe entkräften müssen. Ergänzt durch die Institutionalisierung konkreter Diskurse soll der Grundsatz als Verfahrensregel zu einer gesteigerten Rationalität der Entscheidungsfindung beitragen, indem er z. B. die am Projekt interessierten Akteure rechtfertigungspflichtig macht und sie damit zwingt, am Diskurs des Zulassungsverfahrens nicht nur defensiv, sondern aktiv zu partizipieren.47 Diesem Ansatz korrespondieren – freilich in unterschiedlichem Maße – Vorstellungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur zum Vorsorgeprinzip. Hier wird die Frage der Beweislastverteilung zwar von einigen Autoren mit dem Vorsorgeprinzip in Verbindung gebracht, jedoch bleiben die diesbezüglichen Ausführungen zumeist kursorisch. Schon deshalb ist es schwer den genauen Meinungsstand zu erfassen. Im Ergebnis ergibt sich jedoch ein Meinungsbild dahingehend, dass eine dem VorJonas, Das Prinzip Verantwortung, 1984, S. 70 ff. Vgl. Jonas, ebd., S. 61 ff.; Böhler, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1991, S. 999 (1013 ff.); ders., in: Böhler / Stitzel u. a. (Hrsg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, In Memoriam Hans Jonas, 2000, S. 34 (37 ff.). 47 Vgl. – anknüpfend an Jonas, ebd., S. 70 ff. – Böhler, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1991, S. 999 (1013 ff.); ders., ZRP 1993, S. 389 (392); ähnlich auch Beck, Gegengifte, Die Organisierte Unverantwortlichkeit, 1988, S. 24, 291. 45 46

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sorgeprinzip entsprechende Beweislastverteilung den Charakter einer widerlegbaren rechtlichen Gefährlichkeitsvermutung erlangt, die der Risikoverursacher zu erschüttern hat, damit der Staat ihm eine erstrebte Genehmigung erteilen kann.48 Gestützt wird diese Form der Beweislastumkehr im Schrifttum nicht nur auf das Vorsorgeprinzip,49 sondern auch auf die effektive Umsetzung des gerade auf die Berücksichtigung von Fernwirkungen angelegten Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung und – dem korrespondierend – auf die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG.50 IV. Vorgaben des Vorsorgeprinzips im freiheitlichen Rechtsstaat 1. Zur Struktur des Vorsorgeprinzips Wie vorstehend deutlich wurde, kann die Reichweite des Vorsorgeprinzips im freiheitlichen Rechtsstaat nicht grenzenlos sein. Insoweit ist zunächst eine rechtsstaatskonforme Konkretisierung des Vorsorgeprinzips erforderlich. Ziel muss es daher zunächst sein, den Vorsorgeanlass (definiert als dem Risikobegriff immanentes abstraktes Besorgnispotential im Sinne eines auch nur theoretischen, jedoch auf wissenschaftliche Plausibilitätsgründe gestützten Anfangsverdachts) so zu bestimmen, dass ein Abgleiten der Vorsorge „ins Blaue hinein“ vermieden51 wird. Vor diesem Hintergrund ist zunächst eine objektive, möglichst erschöpfende Ermittlung aller für den Vorsorgeanlass maßgeblichen Informationen geboten (Risikoermittlung). Diese ist wiederum von der subjektiven Risikobewertung, also der wertenden Betrachtung des durch das abstrakte Besorgnispotential gekennzeichneten Vorsorgeanlasses, zu trennen.52 Für den Vorsorgeanlass reicht also ein abstraktes Besorgnispotential, mithin ein theoretischer – im Unterschied zur reinen Spekulation aber auf wissenschaftliche Plausibilitätsgründe gestützter – Anfangsverdacht, der allerdings empirisch noch wenig verfestigt oder gar wissenschaftlich im Sinne einer Mehrheitsmeinung bewiesen sein muss. Wichtig ist zunächst eine umfassende, möglichst erschöpfende Ermittlung aller für den Vorsorgeanlass maßgeblichen Informationen. In einem ersten Schritt muss also naturwissenschaftlich ermittelt und in einem ständig fortlaufenden Prozess er48 Murswiek, VVDStRL 48 (1989), S. 207 (213 ff.); Wahl / Appel, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995 S. 123 ff.; zur „Gefährlichkeitsvermutung“ Brönneke, Umweltverfassungsrecht, 1999, S. 334 f. 49 Vgl. etwa Wahl / Appel, ebenda. 50 Vgl. etwa Wolf, KritV 1997, S. 280 (296 f.); Frenz, ZG 1999, S. 143 (146 ff. und 154 ff.); Brönneke, Umweltverfassungsrecht, 1999, S. 334 f. 51 So zutreffend Ossenbühl, NVwZ 1986, S. 161 (166). 52 Vgl. zum Ganzen Murswiek, VVDStRL 48 (1989), S. 217 ff.; Wahl / Appel, ebenda, S. 109; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 214 ff.; ähnlich Scherzberg, VerwArch 1993, S. 484 (499 ff.); Mitteilung der Europäischen Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 endg. vom 2. 2. 2000, S. 14 ff.

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forscht werden, worin das jeweilige Risikopotential besteht und wie umfangreich es ist (vorläufige naturwissenschaftliche Risikoermittlung). In Anlehnung an – mit naturwissenschaftlicher Hilfe – herauszuarbeitende Entlastungs- und Besorgniskriterien können Formeln entwickelt werden, die zur Bestimmung dieses Anfangsverdachts dienen. Anhand solcher Formeln können konkrete Regeln für einen vorsorgeorientierten Umgang mit Ungewissheit formuliert werden.53 Auf dieser Grundlage kann sodann bewertet werden, ob das jeweilige Risikopotential noch hingenommen werden darf oder nicht und mit welchen Maßnahmen ihm entsprechend der gleitenden Skala der Sicherheitsdogmatik (Gefahr-RisikoRestrisiko) begegnet werden soll (vorläufige politische Risikobewertung). Diese Bewertung obliegt dem Gesetzgeber, dem im Rahmen der erwähnten verfassungsrechtlichen Vorgaben ein Einschätzungs-, Beurteilungs- und Prognosespielraum zukommt. In diesem Kontext impliziert das Vorsorgeprinzip eine Beweislastumkehr, die – unter Beachtung rechtsstaatlicher Grenzen – nach dem Muster einer widerlegbaren Gefährlichkeitsvermutung wirken kann.54 Um diese Vermutung zu erschüttern, ist der Risikoverursacher gehalten, Tatsachen dafür darzulegen und im Sinne einer begründeten Wahrscheinlichkeit zu beweisen, dass von seinem Stoff, Herstellungsverfahren oder Produkt kein Schaden droht. Eine solche Form der Beweislastumkehr kann der Gesetzgeber im Rahmen seiner Risikoentscheidung für den Einzelfall im Gesetz verankern. Hiermit wird der Risikoverursacher, aus dessen Sphäre das Risiko stammt, in die Pflicht genommen mit der Folge, dass die staatlichen Institutionen – vom Gesetzgeber angefangen bis hin zur im Einzelfall (aufgrund des beschlossenen Gesetzes) entscheidenden Verwaltung – in dieser Situation der Ungewissheit entlastet werden. Im Hinblick auf die zu ergreifende Vorsorgemaßnahme können sodann auf dieser Basis – unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips – unterschiedlich intensive Eingriffsstufen in die grundrechtlich verbürgte Wirtschaftsfreiheit identifiziert werden. Insoweit geht es nicht von vorneherein um präventive Verbote mit Genehmigungspflichten, sondern oftmals um die vorläufige Risikoabschätzung begleitende Generierung von Informationen, die geeignet sind, die bestehende Ungewissheit aufzuklären. Daran anknüpfend geht es um die Herstellung von Transparenz und die Ermöglichung von Rückverfolgbarkeit für den Fall, dass sich ein zunächst für ungefährlich gehaltener Stoff in einem Produkt aufgrund neuer Erkenntnisse als gefährlich herausstellt.55

53 Vgl. dazu die Vorschläge des SRU in seinem Sondergutachten, Vorsorgestrategien für Nanomaterialien, 2011, Rn. 430 ff. 54 Dazu Calliess, DVBl. 2001, 1725 (insbes. 1732 f.). 55 Ausführlich dazu am Beispiel von Nanomaterialien SRU 2011, Rn. 438 ff.

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2. Vorsorge durch Verfahren Wenn sich aber ein angemessenes Schutzniveau angesichts von fortbestehenden Unsicherheiten nicht unmittelbar aus wissenschaftlichen Ergebnissen ableiten lässt, wächst die Notwendigkeit, Vorsorgeentscheidungen durch geeignete Verfahrensregeln abzusichern. Vor allem, wenn die naturwissenschaftliche Risikoermittlung nicht zu eindeutigen Bewertungen kommt, kommt dem Entscheidungsverfahren eine wichtige kompensatorische Bedeutung zu; es muss „sozial robust“56 sein. Nur so kann gesellschaftliche Akzeptanz gesichert werden.57 Das Vorsorgeprinzip wird in der Literatur daher auch als Prozessanforderung interpretiert, im Zuge derer verschiedene Verfahrensanforderungen formuliert werden.58 a) Transparenz Durch verfahrensrechtliche Regelungen ist sicherzustellen, dass die bei der Bewertung der naturwissenschaftlichen Daten und Erkenntnisse gegebenen Einschätzungs- und Bewertungsspielräume offen gelegt werden. Ein transparenter Entscheidungsprozess erfordert, dass im Prozess der Konkretisierung die gesamte Bandbreite wissenschaftlich vertretbarer Risikobewertungen von optimistischen zu pessimistischen Annahmen dargestellt und Alternativlösungen erarbeitet werden. Eine Berücksichtigung des gesamten Spektrums wissenschaftlich vertretbarer Positionen schließt dabei auch fachliche Minderheitsmeinungen ein.59 Nur wenn Maßnahmen der Vorsorge im politischen Prozess hinreichend transparent begründet werden, kann ein Verlust an Glaubwürdigkeit vermieden werden, der sich beispielsweise aus der Anpassung an neue Erkenntnislagen ergeben kann. Daher müssen zur besseren politischen Durchsetzung von Maßnahmen fehlende wissenschaftliche Erkenntnisse thematisiert werden. Das setzt einen Wandel der politischen Risikokultur voraus.60 b) Angemessene Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen Angesichts des immer auch politischen Charakters der Risikobewertung muss der Entscheidungsprozess nicht nur transparent gestaltet sein, sondern auch einen pluralen Wertediskurs ermöglichen61 und daher unter institutionalisierter BeteiliNowotny / Scott / Gibbons, Re-Thinking Science, 2001. Dazu Grundwald, Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 14 (2005), S. 54, insbesondere 58 ff. 58 Stirling / Mayer, I.J.O.E.H. 6 (4) 2000, S. 296 ff.; Wahl / Appel, ob. Fn. 48; O’Riordan / Cameron, Interpreting the Precautionary Principle, 1994; Raffensperger / Tickner, Protecting Public Health and the Environment, 1999. 59 Europäische Kommission, KOM (2000) 1 endgültig. 60 SRU, Umweltgutachten 1999, Rn. 865. 61 Stern / Fineberg, Understanding Risk: Informing Decisions in a Democratic Society, 1996. 56 57

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gung von Vertretern der am öffentlichen Leben teilnehmenden gesellschaftlichen Gruppierungen ablaufen. Entscheidend ist dabei jedoch, dass die politische und die naturwissenschaftlich-technische Ebene angemessen miteinander prozedural verkoppelt werden, sodass jede Seite die ihr zukommende Funktion erfüllen kann.62 Die institutionalisierte Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen erhöht die politische Legitimität von Entscheidungen und soll erreichen, dass ein breites Spektrum an Kriterien der Risikobewertung berücksichtigt wird. c) Absenkung des Beweismaßes Im Rahmen der Bestimmung des Vorsorgeanlasses, wird die Frage der Beweislast relevant: Was soll in den Fällen geschehen, in denen der Grund der bestehenden Ungewissheit mangels hinreichender Forschung (noch) nicht ermittelt bzw. mit den verfügbaren Untersuchungsmitteln nicht aufgehoben werden kann, oder die Abwägung im Rahmen der Risikobewertung zu einer „Pattsituation“, zu einem Gleichgewicht der Argumente, führt? Mit anderen Worten, wem obliegt die Darlegungs- und Beweislast, wenn nicht geklärt werden kann, ob eine Risikoquelle zur Herbeiführung eines Schadens geeignet ist? Angesprochen ist damit zugleich die Frage, wer unter dem Vorsorgeprinzip die Folgen eines „non liquet“ trägt, das aus einer im Ergebnis offen bleibenden und die Ungewissheit nicht beseitigenden Ermittlung und Bewertung des Vorsorgeanlasses resultiert, tragen soll. Insoweit besteht zum einen die Möglichkeit, ganz im Sinne der klassischen Gefahrenabwehr nur solche Risiken für beachtlich zu halten, deren Realisierungsmöglichkeit empirisch erwiesen ist. Faktisch liegt hiermit die Darlegungs- und Beweislast beim potentiellen Betroffenen des Risikos bzw. – korrespondierend den staatlichen Schutzpflichten aus Art. 20a GG und den Grundrechten – beim Staat. Zum anderen besteht die Möglichkeit, die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Eignung einer Risikoquelle, einen Schaden herbeizuführen, mithin die Unschädlichkeit seines Handelns dem Risikoverursacher aufzuerlegen. Das Vorsorgeprinzip impliziert demgegenüber bereits von seinem Sinn und Zweck her eine Beweislastumkehr. Denn insoweit als es ihm um die Bewältigung von durch Ungewissheit geprägten Risikosituationen geht, ist ein Regulativ notwendig, das seinem präventiven Inhalt Geltung verschafft. Damit ist allerdings noch nichts über Art und Umfang der Beweislastumkehr gesagt. Diese kann in der Tat nicht pauschaler Natur sein. Denn eine völlige Umkehr der Beweislast, die – ebenso wie der Grundsatz des „in dubio pro securitate“ – vom Risikoverursacher im Ergebnis den Nachweis der Unschädlichkeit seiner Betätigung, seiner Anlage oder seines Produkts verlangt, ist schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht möglich und im Interesse der vielfältigen positiven Effekte des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts auch gar nicht wünschenswert. Auf die rechtsstaatlichen, 62 Hey, Zukunftsfähigkeit und Komplexität. Institutionelle Innovationen in der EU, in: von Prittwitz (Hrsg.), Institutionelle Arrangements in der Umweltpolitik, 2000, S. 85 – 102.

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insbesondere grundrechtlichen Probleme einer solchen pauschalen Beweislastumkehr, deren Grundgedanke in seiner Absolutheit jenem zum Teil aus den grundrechtlichen Schutzpflichten abgeleiteten Erlaubnisvorbehalt63 ähnelt, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.64 Eher kommt dann schon jene Regel des „in dubio contra projectum“ in Betracht, die – verstanden als verfahrensmäßiges Legitimationskriterium – im Rahmen institutionalisierter Diskurse, in denen der Risikoverursacher die Beweislastverteilung durch zureichende Gründe entkräften kann, ihre Absolutheit verliert. Konkret bedeutet dies: Im Rahmen eines Vorsorgeanlasses, mithin eines abstrakten Besorgnispotentials, oder aber der vielzitierten Situation eines non liquet, in der die bestehende Ungewissheit mit den verfügbaren Untersuchungsmitteln nicht aufgeklärt werden kann, wirkt das Vorsorgeprinzip nach dem rechtlichen Muster einer widerlegbaren Gefährlichkeitsvermutung. Um diese Vermutung zu erschüttern, ist der Risikoverursacher gehalten, Tatsachen darzulegen und im Sinne einer begründeten Wahrscheinlichkeit zu beweisen. Dies erscheint in Anknüpfung an eine am Gedanken der Sphärentheorie vorzunehmenden Beweislastverteilung, die auch dem umweltrechtlichen Verursacherprinzip korrespondiert, schon deshalb gerechtfertigt, weil es der Stoff- oder Produkthersteller ist, der die Allgemeinheit mit einem Risikopotenzial konfrontiert. Aus seinem Einflussbereich stammt das Risiko, und in seinem Einflussbereich liegen die Tatsachenfragen, die sich nicht aufklären lassen und damit zu jener Situation des non liquet führen. Mit anderen Worten, derjenige, in dessen Einflusssphäre die Ungewissheit entstanden ist, hat aufgrund seiner Sachnähe einen Wissensvorsprung, der sinnvollerweise genutzt werden muss. Nur wenn der Staat in Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten nicht erst parallel zur technischen Entwicklungsforschung eine eigene Wirkungsforschung veranlassen muss, kann den Vorgaben des Vorsorgeprinzips tatsächlich entsprochen werden. Die Beweislastumkehr des Vorsorgeprinzips wirkt insoweit als Anreiz für den Risikoverursacher, parallel zur Entwicklungsforschung eigene Wirkungsforschung zu betreiben, um so die rechtliche Gefährlichkeitsvermutung in einem – wo notwendig, eigens dafür eingerichteten – Verfahren, in dem auch die Belange der Risikobetroffenen berücksichtigt werden, zu widerlegen.65 In diesem Rahmen dürfen die Anforderungen an die Beweislast jedoch weder beim Risikoverursacher noch beim potentiellen Risikobetroffenen den Grad eines positiven Beweises der Schädigungsmöglichkeit bzw. -unmöglichkeit erreichen. Vielmehr muss es ausreichend sein, dass Tatsachen ermittelt und angeführt werden, aus denen sich begründete Anzeichen für mögliche Risiken und Gefährdungslagen ergeben. Ist auf diese Weise ein Besorgnisanlass begründet worden, oder besteht eine Situation des non liquet, so ist es Sache des Risikoverursachers, die angestellte Hypothese bzw. die Vermutung über bestimmte Ursache-Wirkung-Beziehungen zu widerlegen und den daraus hergeleiteten Besorgnisanlass zu 63 64 65

VGH Kassel, NJW 1990, S. 336; VG Gelsenkirchen, ZUR 1993, S. 119 ff. Dazu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 19 ff. und 431 ff. m. w. N. Calliess / Stockhaus, DVBl. 2011, S. 923.

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erschüttern. Dabei muss aber auch er nicht den Beweis der Schadensunmöglichkeit erbringen, sondern es genügt, wenn Tatsachen ermittelt und vorgebracht werden, aus denen sich – im Verhältnis zum potentiellen Schaden – eine begründete Wahrscheinlichkeit für die Unmöglichkeit eines Schadenseintritts ergibt. V. Ausblick Schon 1792 prägte Wilhelm v. Humboldt den Satz „Denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit“.66 Gerade im Rechtsstaat gehören Freiheit und Sicherheit zusammen; ein Aspekt, der in der gegenwärtigen Diskussion nicht immer hinreichend realisiert wird. Aufgrund seines Doppelauftrags kann das Rechtsstaatsprinzip insoweit als Steuerungsmodus für das jeweilige Maß an Sicherheit wirken. Dabei gilt es, die verschiedenen, zum Teil neuen Herausforderungen an die Sicherheit zu bewältigen. In diesem Kontext legitimiert das Vorsorgeprinzip (samt der ihm immanenten widerlegbaren Gefährlichkeitsvermutung) den Gesetzgeber überhaupt regulierend tätig zu werden. Er kann vorsorgeorientierte Regelungen vorsehen und den Behörden etwa durch entsprechende Ausgestaltung von Zulassungsverfahren ein Eingreifen nach dem Muster einer widerlegbaren Gefährlichkeitsvermutung ermöglichen. Das Rechtsstaatsprinzip ist insoweit ein verlässlicher Steuerungsmodus, als es auf erprobten Prämissen beruht. Dazu zählen in staatstheoretischer Hinsicht das staatliche Gewaltmonopol und die ihm korrespondierende sog. Friedenspflicht der Bürger sowie in verfassungsrechtlicher Hinsicht die grundrechtlich verbürgte staatliche Schutzpflicht und das freiheitswahrende grundrechtliche Abwehrrecht. Letztere bilden die Basis eines mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses, aufgrund dessen eine Art „Freiheitsverträglichkeitsprüfung“ von Vorsorgemaßnahmen durchgeführt werden kann. In diesem Kontext finden Rechtsstaat und Vorsorgestaat zusammen. Summary Back in 1792, Wilhelm v. Humboldt wrote wise words when he noted: „There is no security without freedom“. If there is anywhere that freedom and security belong together, then in the constitutional state. A state under the rule of law is defined by procedural specifications, such as separation of powers, reservation of statutory powers and effective legal protection on the one hand and by the recognition of basic rights on the other. To this extent, the rule-of-law premises are the state monopoly on the legitimate use of force as well as the corresponding duty of state authorities to protect individual rights on the one hand and the „freedom-preserving“ individual rights protection against state authorities on the other hand, both aspects based on human rights. 66 Vgl. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Stuttgart 1967, S. 58.

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In addition to a multitude of chances, the dynamic development of trade and industry, science and technology also brings with it as an unintentional side-effect new risks which extend way beyond the hazards of the first industrialisation phase. In a situation of this kind, in which it is not possible to attribute responsibility to an identifiable individual, thus causing the failure of private liability law as well as traditional laws to avert imminent danger, safety and security expectations are directed once again to state institutions from whom precautionary measures to protect against damage can be justifiably expected. With regard to the fact, that responsible state authorities face often a considerable lack of knowledge on behalf of the question, if a substance, a product or a process causes a concrete danger (hazard) for individual or public goods, it becomes nevertheless difficult for them to correspond their constitutional duty to protect. In this situation risk management is geared towards the control of risk situations defined by unpredictability and uncertainty. Via the precautionary principle which corresponds with this term, the sphere of influence of the state institutions is expanded in such a way that protective measures can be taken in the event of an abstract concern and not only in the event of concrete danger (hazard) for which there is concrete evidence. The precautionary principle has embarked on a remarkable legal career, which began with and focuses on environmental, health and consumer protection law. To establish a reason for precaution, it is sufficient to have an abstract potential for concern and therefore reasonable suspicion in theory only – as opposed to purely speculative suspicion supported by scientific plausibility grounds – which does not have to be well substantiated empirically or even scientifically proven in the sense of a majority opinion. The precautionary principle (together with the rebuttable presumption of danger that is inherent to it) legitimises early regulatory action by the state. It can provide for the enactment of precautionary regulations and permit the authorities to intervene on a broader, risk orientated basis. As a consequence a constitutional conflict may arise with regard to the rule of law, especially the freedom guaranteed by human rights. If an appropriate level of protection cannot be derived directly from scientific findings due to lingering uncertainty, under the rule of law there is a growing necessity to back up precautionary decisions with procedural rules. In light of the rather political character of risk assessment, the decision-making process not only has to be made transparent, it must also enable a pluralistic discussion of values, which should be held under the institutionalised involvement of representatives of social groups which participate in public life. This is why there have been calls outside the sphere of jurisprudential debate (in the fields of philosophy and sociology, which deals with issues such as environmental ethics and the social dimensions of technological risks) for a general shift of the burden of proof from state authorities to the responsible actors in society to address the risks of new technologies (“in dubio contra projectum”). A risk decision of this kind pushes the rule-oflaw limits of our liberal constitution. As a result, the precautionary principle can only be employed in conformity with the rule-of-law concept if it is based on the

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model of a rebuttable presumption of danger. If we adopt the idea of apportioning the burden of proof based on the theory of spheres, an idea that also corresponds to the “polluter pays” principle in the field of environmental law, this appears justified if for no other reason than it is the substance or product producer who confronts the public at large with a potential risk.

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Die Rule of Law in der deutschen Rechtsstaatstheorie des 19. Jahrhunderts Stephan Kirste

I. Einleitung Sowohl die Rule of Law als auch das Rechtsstaatsprinzip bezeichnen Grundstrukturen des Rechts, die sich über längere Zeiträume entwickelt haben und noch entwickeln. Beide Prinzipien haben gemeinsame Ziele. Sie sollen die Freiheit des Menschen schützen und die dazu erforderliche Macht begrenzen und legitimieren.1 Ihre Entwicklung hat für manche Autoren einen gemeinsamen Ausgangspunkt in germanischen Rechtstraditionen.2 Die Entfaltung der Rule of Law und des Rechtsstaatsprinzips vollzog sich freilich unterschiedlich und mit einem Bedeutungsgehalt, der zeitweise stark auseinandertrat.3 Während die Entwicklung der Rule of Law mit dem Ende der normannischen Herrschaft in England einsetzt, wird der Terminus „Rechtsstaat“ erst am Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gebildet. Das mit dem Begriff der Rule of Law verbundene sachliche Anliegen einer Herrschaftslegitimation und Beschränkung war freilich auch im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bekannt und bestand in der Bindung an das Naturrecht und die Grundgesetze. In ihrer größten Entgegensetzung erscheint die Rule of Law als ein Mittel zur Sicherung der negativen individuellen Freiheit der Bürger durch die Bindung öffentlicher Gewalt an ihr nicht verfügbares Recht und Verfahren zur Ordnung der Freiheitsbeschränkung. Das Rechtsstaatsprinzip hingegen wurde als Staatsstrukturprinzip zur Beschränkung der Staatsaufgaben und der Ordnung der 1 Vgl. etwa von Hayek, der „Rule of Law“ und Rechtsstaat weitgehend gleichsetzt, so daß in der deutschen Übersetzung auch dort, wo im Englischen „Rule of Law“ verwendet wird, „Rechtsstaat“ zu finden ist, von Hayek 1944, S. 75 f., 85 f. 2 von Gneist führt den „Rechtsstaat in England“ auf „karolinische Grundeinrichtungen“ zurück, von Gneist 1879, S. 37; vgl. differenziert auch Tamanaha 2004, S. 23 f., der im historischen Teil seiner Untersuchung jedoch einen sehr breiten Begriff der Rule of Law verwendet; insofern etwas geschichtsvergessen Donnelly 2006, S. 42: „The English-speaking countries of the world are renowned citadels of the rule of law“. 3 Noch Martin Kriele differenziert: „Während die Rule of Law sich an der Dialektik des gerichtlichen Prozesses orientiert, appelliert die Rechtsstaatsidee an einen einseitig entscheidenden Souverän. Für die Rule of Law entwickelt sich das Recht im prozessualen Verfahren, für den Rechtsstaat wird es hoheitlich gesetzt. Für die Rule of Law ist die Entwicklung des Rechts ein in der Geschichte fortwährender und unabgeschlossener Prozess“, Kriele 2003, S. 287 ff.; Hofmann 1995, S. 1: „kein genaues Gegenstück“.

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Staatsgewalt angesehen, wobei das Gesetz als das zentrale Ordnungsmittel erschien.4 Diese Entgegensetzung mag auch im geschichtlichen Unterschied der Vorstellungen von Souveränität begründet sein, die in Frankreich seit der Französischen Revolution dem Volk, in England der Crown in Parliament und im Deutschland des Konstitutionalismus dem Staat zukommen sollte.5 In diesem formellen Sinn meint der Rechtsstaat einen „Staat, der die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt und eine öffentlich-rechtliche Entschädigung als unverzichtbare Institute anerkennt“6. Mit der zunehmenden Institutionalisierung freiheitssichernder Verfahren, einer gegenüber gesellschaftlich-ständischen Kräften sich ablösenden öffentlichen Gewalt und insbesondere dann einer diese Gewalt legitimierenden und beschränkenden Verfassung in den USA geriet auch im anglo-amerikanischen Denken der Rule of Law der Staat stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit. Demokratisierung – und sei es zunächst nur im Bereich der Selbstverwaltung – machte Freiheit auch in Deutschland nicht nur zu einem Schutzgut des Rechtsstaates, sondern auch zu einer begründenden Kraft des Staates und seiner Legitimation. Die Kodifikation der Grundrechte als verbindliches Recht gaben dem Rechtsstaat schließlich eine materiale Ausrichtung auf die Sicherung der Freiheit.7 Der soziale Rechtsstaat reagierte auf das Problem, daß der Einzelne u. U. nicht in der Lage ist, selbst für die Voraussetzungen seines Freiheitsgebrauchs zu sorgen.8 Europäisierung, Internationalisierung und der mit der Globalisierung verbundene Rechtspluralismus lockern ferner die dem Rechtsstaatsprinzip lange als notwendig zugewiesene Verbindung mit dem Staat9. Sie lassen die Forderung nach einer internationalen „Rule of Law“ als ein Anliegen erscheinen, das beide Prinzipien auf internationaler Ebene und auch theoretisch zusammenführt10: Die dazu am besten geeignete Macht, die öffentliche Gewalt auf kommunaler, nationaler, supranationaler und internationaler Ebene, soll die Freiheit der Menschen mit Mitteln schützen und ggf. fördern, die ihrerseits durch den Gebrauch der aktiven Freiheit der Bürger in Verfahren zur allgemeinen Willensbildung und zum Rechtsschutz legitimiert sind.11 So verbinden sich die 4 Zu dieser Verengung des Rechtsstaatsbegriffs Link 1986, S. 777 f. – sie bedeutete freilich auch eine Präzisierung. 5 Baratta 1979, S. 8 f. 6 Schmidt-Aßmann 2004, § 26, Rn. 18. 7 Schmidt-Aßmann 2004, § 26 Rn. 19. 8 Heller 1971, S. 451 ff. 9 Schmidt-Aßmann 2013, § 22, Rn. 22 f.; Schulze-Fielitz 2011, S. 4 f. u. 10 f.; Tamanaha 2004, S. 127 f.; zu den zivilgesellschaftlichen Verantwortlichkeiten der Internationalisierung, Goodin 2005, S. 229 ff. 10 Zu den Schwierigkeiten, auf die ein solches Projekt treffen mag, Berring 2004, S. 449 ff. am Beispiel von China. 11 Declaration of the High-level Meeting of the General Assembly on the Rule of Law at the National and International Levels, 30. November 2012, A / RES / 67 / 1: „We recognize that the rule of law applies to all States equally, and to international organizations, including the United Nations and its principal organs, and that respect for and promotion of the rule of law

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Menschenrechte in ihrer negativen, positiven und aktiven Dimension mit Rechtsstaatlichkeit und der Rule of Law.12 In der Entwicklung der Rule of Law und des Rechtsstaatsgedankens nimmt das 19. Jahrhundert eine besondere Stellung ein.13 Hier vollzog sich die Ausbildung der Rechtsstaatsidee, die dann bis zum Ende der Weimarer Republik im Wesentlichen feststand.14 Es fällt auf, daß die maßgeblichen Theoretiker des Rechtsstaatsprinzips zugleich wesentliche Beiträge für die Auseinandersetzung mit der anglo-amerikanischen Rechtstradition lieferten: Robert von Mohl war einer der ersten Rechtswissenschaftler, die sich intensiv mit dem amerikanischen Verfassungsrecht auseinandersetzten. Zugleich legte er die erste gründliche Untersuchung zum Begriff des Rechtsstaats vor.15 Rudolf von Gneist konzipierte aufgrund seiner langen Beschäftigung mit dem englischen Recht den Selbstverwaltungsgedanken bewußt als Gegengewicht und damit als Machtbeschränkung des Staates. Der staatsrechtliche Positivismus brachte keine bedeutenden Schriften zum englischen oder amerikanischen Recht hervor – und distanzierte sich mit der Formalisierung des Rechtsstaatsbegriffs von der Rule of Law. Deutlich wird diese Entgegensetzung von Rechtsstaat und der Rule of Law etwa in der rechtspositivistischen Theorie Hans Kelsens16 oder der staatspositivistischen von Richard Thoma17, der den Rechtsstaat auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung fokussiert.18 Bei Georg Jellinek beginnt jedoch wieder eine Annäherung. and justice should guide all of their activities and accord predictability and legitimacy to their actions. We also recognize that all persons, institutions and entities, public and private, including the State itself, are accountable to just, fair and equitable laws and are entitled without any discrimination to equal protection of the law“. „We reaffirm that human rights, the rule of law and democracy are interlinked and mutually reinforcing and that they belong to the universal and indivisible core values and principles of the United Nations“. 12 Donelly 2006, S. 37 ff. 13 Für die internationale Entwicklung Rose 2004, S. 457. 14 Stolleis 1999, Sp. 372. 15 Stolleis 1992, S. 258; das Wort ist freilich älter und dürfte auf Placidius im Jahr 1798 zurückzuführen sein. 16 „Von einem streng positivistischen, jedes Naturrecht ausschließenden Standpunkt aus muß aber jeder Staat Rechtsstaat in diesem formalen Sinne sein, soferne eben jeder Staat irgendeine Ordnung, eine Zwangsordnung menschlichen Verhaltens und diese Zwangsordnung, wie immer sie erzeugt wird, ob autokratisch oder demokratisch, und welchen Inhalt immer sie haben mag, eine Rechtsordnung sein muß, die sich stufenweise von der hypothetisch vorausgesetzten Grundnorm aus durch generelle Normen zu individuellen Rechtsakten konkretisiert. Das ist der Begriff des Rechtsstaates, der mit dem des Staates ebenso wie mit dem des Rechtes ident ist“, Kelsen 1993, S. 91. 17 „Die Rechtsstaatsidee wird … preisgegeben, insoweit sie den Staat als Ganzes unter irgendein, menschlicher Satzungsgewalt spottendes, absolutes Recht beugen will. Sie wird um so entschiedener erfaßt, insofern sie unterhalb der Gesetzgebung die vollkommene Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Staatsverwaltung und der Rechtsprechung postuliert“, Thoma 1910, S. 204. 18 Thoma 1910, S. 197 und den Begriff daher bewußt enger faßt als Robert von Mohl.

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Die folgenden Ausführungen skizzieren zunächst knapp einige Stationen der Entwicklung der Theorie der Rule of Law in England und den USA. Dabei werden auch einzelne Stimmen aus der anglo-amerikanischen Rechtstheorie zum Verhältnis von Rule of Law und Rechtsstaat vorgestellt. Danach wird die Auseinandersetzung einiger Hauptvertreter der deutschen Rechtsstaatstheorie mit Elementen der Rule of Law untersucht. Abschließende Bemerkungen fassen vorläufige Ergebnisse des in der Rechtsvergleichung noch wenig analysierten Wechselspiels beider Prinzipien zusammen.

II. Stationen der Entwicklung der Theorie der Rule of Law In seiner „Studie zur politischen Theorie des Mittelalters“ setzt sich Ernst H. Kantorowicz auch mit englischen Juristen Henry of Bracton (1210 – 1268) auseinander. Ihn interessiert dabei das Verhältnis des Herrschers zum Gesetz in der englischen Rechtslehre im Vergleich zum Herrschaftsverständnis Friedrichs II. von Staufen. Bracton hatte nicht nur über das Königtum, sondern auch über das Recht Englands19 Standardwerke verfaßt, die die weitere Rechtsentwicklung bis in die Neuzeit prägten. Seiner Herrschaftsauffassung entsprach es, daß der König unter dem Recht stehen sollte: Lex facit regem. Nur dadurch war gesichert, daß er seine Aufgabe als „Vikar Gottes“ erfüllen und seine Herrschaft vernünftig und gerecht ausüben konnte.20 Bracton habe zwar die herausgehobene Stellung des Königs anerkannt, ziehe aber unter Berufung auf dieselben römischen Rechtsquellen völlig unterschiedliche Folgen als Friedrich II. Dieser unterwerfe sich dem Naturrecht und der Vernunft, nicht jedoch dem positiven Recht. Bracton sehe den Herrscher „an das Naturrecht nicht nur als transzendente, meta-legale Abstraktion gebunden, sondern auch in seinen konkreten zeitbedingten Manifestationen, zu denen die Rechte der Geistlich-

De Legibus et Consuetudinibus Angliae „The Laws and Customs of England“ vor 1235. „Der König selbst muß nicht unter einem Menschen, sondern unter Gott und dem Gesetz stehen, denn das Gesetz macht den König … Denn es gibt keinen König, wo die Willkür herrscht statt des Gesetzes. Daß der König unter dem Gesetz steht, weil er Gottes Vikar ist, wird durch die Ähnlichkeit mit Jesus Christus evident, an dessen Statt er auf Erden regiert. Denn er, Gottes wahres Erbarmen, hat – obwohl er über viele Mittel verfügte, die Menschheit wunderbar zu retten – vor allen anderen Mitteln das eine gewählt, das sich zur Vernichtung der Werke des Teufels eignet; nicht die Stärke der Macht, sondern die Maxime der Gerechtigkeit. Deshalb wollte er sich dem Gesetz unterwerfen, um die unter dem Gesetz Stehenden zu erlösen. Denn er wollte keine Gewalt anwenden, sondern Vernunft und Urteilskraft“, Übersetzung von Kantorowicz 1999, S. 171; im Original: „Ipse autem rex non debetesse sub homine sed sub deo et sub lege, quia Iex facit regem … Non est enim rex ubi dominatur voluntas et non Iex. Et quod sub lege esse debeat, cum sit dei vicarius, evidenter apparet ad similitudinem Ihesu Christi, cuius vices gerit in terris. Quia verax dei misericordia, cum ad recuperandum humanum genus ineffabiliter ei multa suppeterent, hanc potissimam elegit viam, qua ad destruendum opus diaboli non virtute uteretur potentiae sed iustitiae ratione. Et sic esse voluit sub lege, ut eos qui sub lege erant redimeret. Noluit enim uti viribus, sed iudicio“, Bracton 1922, S. 33. 19 20

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keit, der Magnaten und des Volkes gehörten. Das war in einem England, das vorwiegend nach ungeschriebenen Gesetzen und Bräuchen lebte, ein sehr wichtiger Punkt“21.

Dies ist nun zugleich ein wichtiger Punkt für die Rule of Law: Sie bedeutete keine Bindung lediglich an das überpositive Naturrecht, sondern eine naturrechtsgleiche22 höhere Geltung bestimmter Formen des positiven Rechts. Das Naturrecht erhält gewissermaßen eine geschichtliche Form und entwickelt und bewährt sich in diesen Formen. Die zum positiven Recht transformierten Naturrechtsgehalte haben auch eine höher Form als das übrige positive Recht, denn nur unter ihrer Beachtung besitzt der König Macht; nur so ist er Diener Gottes auf Erden.23 Von der Anerkennung dieser Gesetzesbindung hingen die Vorrechte des Königs ab. Diese Vorordnung des naturrechtlich begründeten Rechts wurde nicht dadurch geschmälert, daß der König in vielerlei Hinsicht auch über dem Gesetz stand. Befugnisse haben schließlich nicht nur machtbeschränkende, sondern auch ermächtigende Wirkung. Auch den Satz „Was dem Fürsten gefällt, hat Gesetzeskraft“ aus den Digesten (D.1,4,1) verstand Bracton nicht wie Friedrich II. als Vorgriff auf eine übergesetzliche, absolute Anordnungsbefugnis, sondern schränkte diese Gesetzeskraft auf das ein, was aufgrund von Beratung und Beschlußfassung mit dem Kronrat bestimmt wurde24 – führte also auch insofern ein Moment der checks and balances ein.25 Der Gedanke, daß die öffentliche Gewalt dem Recht unterworfen sei und nicht das Recht der Macht des Souveräns – daß Bractons lex facit regem und nicht Hobbes’ „auctoritas non veritas facit legem“ – richtig sei, ist zum wesentlichen Bestandteil der Rule of Law geworden. Als es um die Beschränkung der königlichen Prärogative ging, zitiert ihn auch Lord Chief Justice Edward Coke (1552 – 1634): „The King himself ought not to be subject to man, but subject to God and the law, because the law makes him King“. Deshalb könne der König auch keine neuen Straftatbestände (Case of prohibitions, 1607) und überhaupt keine neuen Prärogativen schaffen26 – ein Grundsatz, der dann in der Bill of Rights von 1689 förmlich anerKantorowicz 1999, S. 164 f. u. 163. Aegidius Romanus: „Wenn man sagt, manches positive Recht stehe über den Fürsten, so bezieht sich diese Sprache nicht auf das positive Recht als solches, sondern auf die Tatsache, daß im positiven Recht etwas von der Kraft des Naturrechts erhalten geblieben ist“, zit. nach Kantorowicz, S. 164. 23 Zit. nach Kantorowicz 1999, S. 171. 24 Kantorowicz 1999, S. 167. 25 Kantorowicz 1999, S. 173: „Bractons Methode ist immer dieselbe: Erhöhung des Königs durch Beschränkung, wobei die Beschränkung aus der Erhöhung folgt, aus dem Vikariat Gottes, das der König aufs Spiel setzen würde, wenn er nicht durch das Gesetz gebunden und beschränkt wäre“. 26 „Also it was resolved, that the King hath no prerogative, but that which the law of the land allows him“, England and Wales High Court (King’s Bench Division) Decisions, Case of Proclamations, [1610] EWHC KB J22, (1611) 12 Co Rep 74, 77 ER 1352, zit. nach http: // www.bailii.org/ew/cases/EWHC/KB/1610/J22.html, letzter Zugriff 11. 06. 2013. 21 22

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kannt wurde. Im Urteil des High Courts von 1607, das eine Entscheidung des Königs aufhob, stellte Coke außerdem klar, daß Maßstab für das Handeln des Königs die Rule of Law sei und gerade nicht das Naturrecht. Entsprechend sei die für die Anwendung des Rechts erforderliche Fähigkeit auch nicht die „natürliche Vernunft“ – auf die sich der König berufen hatte –, sondern eine „künstliche Vernunft und Urteilskraft“, die aus einer entsprechenden Ausbildung und langer Erfahrung erübt werden müsse.27 Das Recht der Rule of Law hatte also durch die geschichtliche Positivität eine Rationalität erhalten, die sich dem Zugang durch die Vernunft, die das Naturrecht erfasste, verschloß. Erforderlich waren ebenfalls historisch bewährte, diskursive Techniken. Edmund Burke griff den Gedanken später auf und meinte, daß Unfähigkeiten in diesem Bereich „ought to be defined by the fixed rule of law – what Lord Coke calls the golden metwand of the law, and not by the crooked cord of discretion“28. Auf dieses geschichtlich bewährte Recht sollte sich in größtmöglichem Umfang und mit geringstmöglichem Ermessen die Rechtsanwendung beziehen. Der absolute Monarch konnte sehr wohl an das Naturrecht gebunden und doch von den positiven Gesetzen losgelöst sein. Sind die natürlichen Grundsätze aber in historischen Auseinandersetzungen und Gerichtsverfahren allmählich in das positive Recht transformiert worden wie in England, dann binden sie den Herrscher als prozedural legitimiertes Recht. In seinen „Commentaries on the Laws of England“ hat William Blackstone (1723 – 1780) dort, wo er an Bracton anschließt, immer wieder betont, daß der König nur dann wahrhaft Herrscher sei, wenn er dem Recht und nicht seiner Willkür und seinem Belieben folge.29 Es entspreche einem alten Grund27 „A controversy of land between parties was heard by the King, and sentence given, which was repealed for this, that it did not belong to the common law: then the King said, that he thought the law was founded upon reason, and that he and others had reason, as well as the Judges: to which it was answered by me, that true it was, that God had endowed His Majesty with excellent science, and great endowments of nature; but His Majesty was not learned in the laws of his realm of England, and causes which concern the life, or inheritance, or goods, or fortunes of his subjects, are not to be decided by natural reason but by the artificial reason and judgment of law, which law is an act which requires long study and experience, before that a man can attain to the cognizance of it: that the law was the golden met-wand and measure to try the causes of the subjects; and which protected His Majesty in safety and peace: with which the King was greatly offended, and said, that then he should be under the law, which was treason to affirm, as he said; to which I said, that Bracton saith, quod Rex non debed esse sub homine, sed sub Deo et lege [That the King ought not to be under any man but under God and the law.], Case of Prohibitions, 12 Co Rep 64, [1607] EWHC KB J23, 77 ER 1342, zit. nach http: // www.bailii.org / ew / cases / EWHC / KB / 1607 / J23.html, letzter Zugriff 11. 06. 2013. 28 Burke, S. 461. 29 Blackstone 1768, S. 234: „‚The king,‘ says Bracton, who wrote under Henry III, „ought not to be subject to man, but to God, and to the law; for the law makes the king. Let the king therefore render to the law, what the law has invested in him with regard to others; dominion, and power: for he is not truly king, where will and pleasure rules, and not the law.“ Und weiter: „the king also has a superior, namely God, and also the law, by which he was made a king“.

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satz der „Verfassung der germanischen Vorfahren auf dem Kontinent“, daß der König dem Recht entsprechend zu herrschen habe. Diese Bindung sei sowohl eine Forderung der Natur als auch des englischen Common Law.30 Solle eine wirkliche „polititical or civil monarchy“ etabliert werden, so dürfe sie nicht aus der Willkür, sondern müsse aus dem wechselseitigen Konsens hervorgehen.31 Im Übrigen sei es immer besser, das Recht seinen Besitzern, den Richtern als seinem „lebenden Orakel“ zu überlassen.32 An diese Tradition kann Albert Venn Dicey (1835 – 1922) anknüpfen, wenn er die noch heute oft zitierte Definition der Rule of Law gibt. Danach ergeben sich drei Aspekte der Rule of Law33: 1) Abwesenheit von Willkür und unbeschränktem Ermessen von Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung insbesondere bei Frei30 „THE principal duty of the king is, to govern his people according to law. Nec regibus infinita aut libera potestas [kingly power is neither free nor unlimited], was the constitution of our German ancestors on the continent. And this is not only consonant to the principles of nature, of liberty, of reason, and of society, but has always been esteemed an express part of the common law of England, even when prerogative was at the highest“, Blackstone 1768, S. 233 f. 31 „Thus Bracton: and Fortescue also, having first well distinguished between a monarchy absolutely and despotically regal, which is introduced by conquest and violence, and a political or civil monarchy, which arises from mutual consent; (of which last species he asserts the government of England to be) immediately lays it down as a principle, that the king of England must rule his people according to the decrees of the laws thereof“, Blackstone 1768, S. 234. 32 „They are the depositary of the laws; the living oracles, who must decide in all cases of doubt, and who are bound by an oath to decide according to the law“, (Blackstone 1768, S. 48) eine Formulierung, die auf dem Kontinent nicht nur Rüttimann (1867, S. 339), sondern vor allem auch Max Weber (1980, S. 450) aufgreift: „Noch Blackstone nennt die englischen Richter eine Art lebendes Orakel, und tatsächlich entspricht wenigstens die Rolle, welche die decisions als unentbehrliche und spezifische Form der Fleischwerdung des Common Law spielen, in diesem Sinn derjenigen des Orakels im alten Recht: ‚was vorher ungewiß war (die Existenz des Rechtsprinzips) ist nun (durch die Entscheidung) eine dauernde Regel geworden‘“. 33 „… ‚the rule of law,‘ then, which forms a fundamental principle of the constitution, has three meanings … It means, in the first place, the absolute supremacy or predominance of regular law as opposed to the influence of arbitrary power, and excludes the existence of arbitrariness, of prerogative, or even of wide discretionary authority on the part of the government. Englishmen are ruled by the law, and by the law alone; a man may with us be punished for a breach of law, but he can be punished for nothing else … It means, again, equality before the law, or the equal subjection of all classes to the ordinary law of the land administered by the ordinary Law Courts; the „rule of law“ in this sense excludes the idea of any exemption of officials or others from the duty of obedience to the law which governs other citizens or from the jurisdiction of the ordinary tribunals … The „rule of law,“ lastly, may be used as a formula for expressing the fact that with us the law of the constitution, the rules which in foreign countries naturally form part of a constitutional code, are not the source but the consequence of the rights of individuals, as defined and enforced by the Courts; that, in short, the principles of private law have with us been by the action of the Courts and Parliament so extended as to determine the position of the Crown and of its servants; thus the constitution is the result of the ordinary law of the land“, Dicey 1915, S. 120 f.

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heitsbeschränkungen der Bürger, die nur auf rechtlicher Grundlage erfolgen kann; 2) Niemand steht über dem Gesetz und jeder ist der Rechtsprechung ordentlicher Gerichte unterworfen; 3) Rechtsschutz bei der Verletzung individueller Rechte vor ordentlichen Gerichten.34 Dies dient dem Schutz der vorstaatlichen Freiheit der Bürger nicht in einer substantiell vorliegenden Form, sondern in ihrer Realisierung durch gerechte Verfahren.35 Zu diesem Zeitpunkt hatte freilich der nicht nur technisch innovative Brückenbauer Thomas Paine (1737 – 1809), eine naturrechtliche Brücke über den Atlantik geschlagen und in seinem Common Sense geschrieben, „that in America the law is king … and there ought to be no other“36. Eine darauf gestützte Regierung hatte er sogar als ein natürliches Recht bezeichnet.37 In der Tat wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika das prozedurale Element der Rule of Law in Ermangelung ständischer oder monarchischer Legitimation mit dem demokratischen Prinzip verbunden.38 Das zeigte sich schon am Mayflower Compact „as the beginning of law’s rule“39. Damit konnten nun aber auch – was Montesquieu aufgrund großzügiger Idealisierungen bereits in die Englische Verfassung hineininterpretierte40 – die Gewalten funktional und auch organisatorisch auseinandertreten.41 Ein frühes Zeugnis hierfür ist Art. XXX der „Constitution of the Commonwealth of Massachusetts“ von 1780: „Article XXX. In the government of this commonwealth, the legislative department shall never exercise the executive and judicial powers, or either of them: the executive shall ne-

Rose 2004, S. 458. Dicey 1881 (Neudr. 1956), S. 199: „The Habeas Corpus Acts declare no principle and define no rights, but they are for practical purposes worth a hundred constitutional articles guaranteeing individual liberty“. 36 Paine 1894, S. 99 und setzt hinzu: „For as in absolute governments the King is law, so in free countries the law ought to be king; and there ought to be no other“. 37 Ibid. 38 Kahn 1999, S. 15: „The rule of law is not just the sum total of the statutory and regulatory output at any given moment; it is also understood as a process of evaluating and creating new laws that corrects the deficiencies of what came before. For this reason, there is a tendency to think of the rule of law in procedural and institutional terms. Substance and process are equally valid ways of viewing law’s rule, because the existing law is always the subject of reasonable reform. The rule of law, accordingly, is not merely rule under the existing law; it is this whole process of continuous reform“. 39 Kahn 1999, S. 16 f.: „The state of law … stand opposed simultaneously to the divine and to the merely natural. The perfect image of this set of ideas may be that of the signing of the Mayflower Compact, which we imagine stripped of its theocratic context. On one side of the Atlantic appeared the false claim to a politics of divine will; on the other side appeared nature as wilderness without political order or history. History begins with a communal act of will, imposing a reasonable order on self and polity. This is the beginning of law’s rule“. 40 Vgl. dazu auch Hofmann 1995, S. 21. 41 Auf diese Transformation von Montesquieu in geltendes Recht weist etwa Bluntschli in seinem Staatswörterbuch hin, 1870, S. 738. 34 35

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ver exercise the legislative and judicial powers, or either of them: the judicial shall never exercise the legislative and executive powers, or either of them: to the end it may be a government of laws and not of men“.

Die Federalists machten klar, daß das diese Staatsorganisation tragende Recht, die Verfassung, auch der demokratischen Selbstbestimmung durch den Gesetzgeber Zügel anlegen könne.42 Daraus zog dann das oberste Bundesgericht der USA seit der bekannten Entscheidung Marbury v. Madison seit 1803 die Konsequenz, daß es die Einhaltung dieser Grenzen auch überprüfen könne.43 Das Prinzip der „Supremacy of Law“ bezog sich, worauf etwa auch Roscoe Pound hingewiesen hat, auf die englische Tradition seit Bracton und Coke.44 Diese Supremacy of Law ruhe auf drei Elementen: 1. Der Errichtung starker zentraler Gerichte, 2. einer starken zentralen Verwaltungsmacht und 3. der Formulierung vorgegebener rechtlicher Verpflichtungen. Diese Elemente der britischen Tradition waren nach Pound offen genug, um mit naturrechtlichen Elementen verbunden zur Grundlage des amerikanischen Verfassungsrechts zu werden.45 Nicht immer konnten sich amerikanische Juristen davon überzeugen, daß der Supreme Court im Sinne der Rule of Law judiziere. Der „activist“ Warren Court hat mit seinen innovativen Entscheidungen Befürchtungen geweckt, er entferne sich vom geltenden und schaffe neues Recht.46 Er fand darin Bestätigung im Critical Legal Studies Movement, das mit seinen rechtspolitischen Bestrebungen oft als Gegenbewegung zur liberalen Rule of Law-Tradition gesehen wird.47 Die Critical Legal Studies verbanden eine Ideologiekritik der Rule of Law mit der Kritik an der Abstraktion der formalen Rule of Law.48 Sie haben schließlich 42 Publius Federalist § 78, S. 403: „By a limited constitution I understand one which contains certain specified exceptions to the legislative authority; such for instance as that it shall pass no bills of attainder, no ex post facto laws, and the like. Limitations of this kind can be preserved in practice no other way than through the medium of the courts of justice“. 43 Brugger 2003, S. 320 ff.; Brugger 2011, Rn. 14. 44 Pound 1921, S. 64: „… when the fundamental law sets limits to their [the kings, S.K.] authority or bids them proceed in a defined path, the common-law courts have consistently refused to give effect to their acts beyond those limits. Juristically this attitude of the commonlaw courts, which we call the doctrine of the supremacy of law, has its basis in the feudal idea of the relation of king and subject and the reciprocal rights and duties involved therein. Historically, it goes back to a fundamental notion of Germanic law … Along with the doctrine of judicial precedent and trial by jury this doctrine of the supremacy of law is one of the three distinctively characteristic institutions of the Anglo-American legal system“. An anderer Stelle beruft er sich direkt auf Cokes Entscheidung „Case of Prohibitions“ (o. Fn. 26) und zieht von dort einen Bogen zum gegenwärtigen amerikanischen Recht, Pound 1958, S. 47; zu diesem Herget 1990, S. 147 ff. 45 Pound 1958, S. 174. 46 Tamanaha 2004, S. 80 ff.; vgl. auch Brugger, S. 450 f.; Fallon 1997, S. 39 u. 45 f. 47 Blum 1990, S. 61 u. S. 71: „The Rule of Law concept is ‚trashed‘ for being politically pernicious in general, and then seen as entirely illusory in any event. Legal rights are viewed as more chimera than substance …“ – und diese Kritik ist noch die milde Variante; andere verstehen sie geradezu als Unterdrückungsinstrument von unterprivilegierten Klassen, vgl. die Darstellung bei Bellotelli 1986, S. 67.

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mit ihren Forderungen nach sozialen Rechten zur Materialisierung der Rule of Law beigetragen.49 Die Bewegung richtete sich auch gegen den der Amerikanischen Rechtsrealismus, dem Formalismus und unpolitisches Denken vorgeworfen wurde.50 Der Rechtsrealismus hatte die Rule of Law gerade auch als Beschränkung der Gerichte angesehen.51 In dessen Tradition wird auch gegenwärtig die „creation of prior rules to define and limit the power of the state“ als Kennzeichen des amerikanischen Konstitutionalismus angesehen.52 Die Rule of Law habe dabei vor allem Rechtssicherheit und due „process of law“ (Am. 5, 14, Sec. 153) zu garantieren.54 Damit ist freilich eine gewisse Skepsis gegenüber einer zukunftsoffenen Demokratie und eine Bindung an vorherdefinierte rechtliche Regelungen verbunden. Die Rule of Law hat sich durch diese Debatten in den USA immer weiter ausdifferenziert und ist in den Augen mancher Autoren eine unpräzise und unbestimmte Phrase geworden.55 Mit diesem Problem versuchen einige Theoretiker dadurch umzugehen, daß sie einen Katalog des Scheiterns der Begründung von Recht aufstellen, wie die bekannten acht Merkmale von Lon Fuller56 oder umgekehrt vier Merk48 So schreibt einer der Begründer der Bewegung, Roberto Mangabeira Unger: „The very idea of the rule of law might seem to be based on a misunderstanding, which is also a mystification; it confuses a dominant theory and the mentality which that theory represents with an accurate description of the actual place of law in society“, Unger 1977, S. 56. 49 Vgl. zur Materialisierung durch sozialrechtliche Gehalte auch Hogg / Zwibel 2005, S. 717 f. 50 Als Kompromißformel wurde dann eine Materialisierung und ein kritischer Gebrauch der Rule of Law vorgeschlagen, Blum 1990, S. 76 f. u. 112. 51 Oliver Wendell Holmes, Sr. versteht etwa die Rule of Law als „rule of conduct“ für Richter, Holmes 1881, S. 151; zu ihm Herget 1990, S. 37 ff. 52 Kay 1998, S. 27. Larry Alexander referiert in der Einleitung zum Band „Constitutionalism“: „Constitutionalism implements the rule of law: It brings about predictability and security in the relations of individuals to the government by defining in advance the powers an limits of that government“, 1998, S. 4. 53 Brugger 2011b, Rn. 13; Kirste 2011, Rn. 32. 54 So besonders der konservative „Originalist“ Scalia 1989, S. 1179. 55 Jennings 1965, S. 60: „The truth is that the rule of law is apt to be rather an unruly horse. If it is only a synonym for law and order, it is characteristic of all civilised States; and such order may be based on principles which no democrat would welcome and may be used … to justify the conquest of one State by another. If it is not, it is apt to express the political views of the theorist and not to be an analysis of the practice of government. If analysis is attempted, it is found that the idea includes notions which are essentially imprecise. If it is merely a phrase for distinguishing democratic or constitutional government from dictatorship, it is wise to say so“. 56 Fuller 1969, S. 33 f.: „… the attempt to create and maintain a system of legal rules may miscarry in at least eight ways: there are in this enterprise, if you will, eight distinct routes to disaster. The first and most obvious lies in a failure to achieve rules at all, so that every issue must be decided on an ad hoc basis. The other routes are: (2) a failure to publicise, or at least to make available to the affected party, the rules he is expected to observe; (3) the abuse of retroactive legislation, which not only cannot itself guide action, but undercuts the integrity of rules prospective in effect, since it puts them under the threat of retrospective change; (4) a

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male festhalten wie Joseph Raz57 oder schließlich eine Kernbedeutung identifizieren.58 Skeptisch gegenüber Katalogen notwendiger Merkmale, versuchen andere Autoren die Rule of Law als einen Typus-Begriff oder einen Idealtypus verstehen, dessen Merkmale je nach den konkreten Umständen Vorrang gewinnen oder zurücktreten.59 Richard Fallon etwa identifiziert vier solcher Merkmale: 1. Anordnungen legitimer, demokratisch verantwortlicher öffentliche Gewalten, die 2. in der Form vernünftiger Regeln Bürger, Verwaltung und Richter in gleicher Weise binden, 3. in öffentlichen Argumentations- und Interpretationsprozessen anhand vernünftiger Normen bestimmt werden und 4. vereinbar sind mit legitimen öffentlichen Zwecken und geteilten Prinzipien der öffentlichen Moral.60 Doch bleibt bei derartigen Typenbegriffen immer eine Unsicherheit zurück. Daher erscheint es dem vielleicht wichtigsten gegenwärtigen Forscher der Rule of Law, Brian Z. Tamanaha erfolgversprechender, eine „dichte“ von einer „dünnen“ Definition der Rule of Law zu unterscheiden, die sich sehr stark der oben erwähnten Unterscheidung von formellem und materiellem Rechtsstaat annähert. Zur „thin definition“ gehören Merkmale wie Stabilität und Sicherheit des Rechts,61 während bei der „thick definition“ auch noch Aspekte wie Gerechtigkeit, Demokratie und der Schutz von Menschenrechten hinzutreten.62 Andere unterscheiden zwischen einer eher formalen engen und einer materialen weiten Fassung der Rule of Law.63

III. Die Unterscheidung zwischen Rechtsstaat und Rule of Law in der anglo-amerikanischen Literatur Die Literatur nimmt häufig eine Differenz zwischen der Rule of Law und dem Rechtsstaatsgedanken an. So wird darauf abgestellt, daß das Rechtsstaatsprinzip

failure to make rules understandable; (5) the enactment of contradictory rules or (6) rules that require conduct beyond the powers of the affected party; (7) introducing such frequent changes in the rules that the subject cannot orient his action by them; and, finally, (8) a failure of congruence between the rules as announced and their action administration“. 57 „1. All laws should be prospective, open, and clear … 2. Laws should be relative stable … 3. The making of particular laws (particular legal orders) should be guided by open, stable and clear general rules … 4. The independence of the judiciary must be guaranteed …“, Raz 1979, S. 214 – 216. 58 Hogg / Zwibel 2005, S. 717 f.; im Anschluß an Dicey auch Rose 2004, S. 458. 59 Fallon 1997, S. 10 ff. 60 Fallon 1997, S. 38. 61 Tamanaha 2009, S. 3: „The rule of law, at its core, requires that government officials and citizens be bound by and act consistently with the law. This basic requirement entails a set of minimal characteristics: law must be set forth in advance (be prospective), be made public, be general, be clear, be stable and certain, and be applied to everyone according to its terms. In the absence of these characteristics, the rule of law cannot be satisfied“. 62 Tamanaha 2009, S. 3 u. 7; ders. 2004, S. 91 f. 63 Rose 2004, S. 459 f.

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sich an die öffentliche Gewalt richte und in einer geschriebenen Verfassung verankert sei64. Die Rule of Law erscheint hingegen als ein ungeschriebener Grundsatz, der die gesamte Gesellschaft auf elementare Rechte gründen und deren Realisierung vorwiegend gerichtlichen Verfahren überantwortet. Andere unterscheiden anhand institutioneller Aspekte und sehen die „Rule of Law“ eher auf die Rechtsprechung, den Rechtsstaat auf die Gesetzgebung bezogen.65 Zeitlich solle die Rule of Law eher das ältere Recht bewahren und behutsam fortentwickeln. Weiterentwicklungen dienten der Wiederherstellung des guten alten Rechts nicht der Erfindung eines ganz neuen. Es ist Recht für den Bürger aber nicht des Bürgers.66 Der us-amerikanische Experte für deutsches Verfassungsrecht, Donald P. Kommers, meint, mit der Begründung der Gesetzgebung auf „Gesetz und Recht“ („law and justice“), sei unter dem Grundgesetz der alte formale Rechtsstaat überwunden worden.67 Den Unterschied zur Rule of Law sieht er eher darin, daß der materiale Rechtsstaat Werten den Vorrang gegenüber Rechten einräumen kann, die Rule of Law aber den grundsätzlichen Vorrang der subjektiven Rechte gegenüber objektiven Werten voraussetzt. Daneben finden sich andere Auffassungen, die den Unterschied zwischen der Rule of Law und dem Rechtsstaatsprinzip für überkommen und mit Rücksicht auf die Ergebnisse als nicht mehr tragfähig ansehen. Neil MacCormick etwa nimmt an: „die beste Konzeption des Rechtsstaats ist auch die beste Konzeption der rule of law und umgekehrt“68. Rule of Law und Rechtsstaat seien durch die gleichen Grundprinzipien konstituiert, auch wenn sie in unterschiedlichen Traditionen ausgebildet und auf Besonderheiten in Großbritannien und Deutschland antworteten. Zu diesen gemeinsamen Grundprinzipien gehörten Allgemeinheit des Rechts, insbesondere auch Willkürfreiheit in der Anwendung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Dauerhaftigkeit des Rechts und seine Öffentlichkeit, das Rückwirkungsverbot von Rechtsnormen / Vorhersehbarkeit69, die Reasonableness / Verhältnismäßigkeit und der Ausschluß des Verlangens von Unmöglichem.70 Wenn man die Gewaltenteilung auf ein System von Checks and Balances reduziere, das dann unterschiedlich ausgestaltet werden könne, so wäre auch sie als Ordnung des Einsatzes staatlicher Mittel zu den Gemeinsamkeiten zu rechnen.71 64 Barenboim 2009, S. 2: „Rechtsstaat – meaning legal state, law-bounded state, law-governed state – is close but different to the rule of law because it focuses on state and governmental issues that create a number of nuances“. 65 Stewart 2007, S. 9: „Yet, to have a Rechtsstaat as ordinarily conceived is not clearly the same as having ‚the rule of law‘ as ordinarily conceived. For the law to which policy is subject in a Rechtsstaat is statute, preferably codified – while ‚the rule of law‘ as it is conceived by Dicey is quite different. For him, ‚the rule of law‘ means that, where there is conflict between law and state policy, it is judge-made law that should ultimately prevail“. 66 Stewart 2007, S. 12. 67 Kommers 2012, S. 48 f. 68 MacCormick 1984, S. 67. 69 MacCormick 1984, S. 68. 70 Fuller: Morality of Law 1969, S. 33.

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Man mag diese Annäherung als sehr großzügig ansehen, so stellt in einer differenzierten Studie auch Jonathan Rosenfeld neben Unterschieden Gemeinsamkeiten beider Prinzipien fest. Diese bestehen darin, daß sich beide Konzeptionen auf die Ausübung öffentlicher Gewalt in den Formen des Gesetzes und in Übereinstimmung mit grundlegenden Prinzipien des Rechts beziehen sowie dem Bürger durch allgemeine Regeln Klarheit über die Grenzen seiner Freiheit vermitteln.72 Während jedoch im Rechtsstaatsprinzip Recht und Staat in einem notwendigen Zusammenhang stünden,73 könnten sie bei der Rule of Law in ein antagonistisches Verhältnis zueinander treten.74 Während der Rechtsstaat eher statisch und substanzialistisch auf die Sicherung festumrissener Rechte ausgerichtet sei,75 bezeichne die Rule of law eher Aufgaben von Gerichten und weise daher einen evolutiven, einzelfallbezogenen, inkrementellen und experimentellen Weg der Rechtskonkretisierung.76 Der Unterschied ruhe letztlich in der naturrechtlichen Grundlage der rule of law. Danach sind die rechtliche Basis des Staats die natürlichen, unveräußerlichen Rechte des Menschen im Sinne von John Locke. Der Staat hat eine instrumentelle Funktion zur Sicherung dieser – zumeist negativen – Rechte. Alle Rechtsbeschränkungen handeln die Einzelnen untereinander aus. Der Staat hat demgegenüber nur eine Schiedsrichterfunktion. Im kontinentalen Verständnis seien die Menschenrechte Grundrechte, die vom Staat gewährt würden und an die er sich selbst bindet.77 Bedenkt man freilich die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte auch in den Verfassungen der Vereinigten Staaten und etwa dem Grundgesetz sowie die Bindung Großbritanniens an die EMRK, den Human Rights Act von 1998 und die Europäische Grundrechtecharta, so findet gerade hier eine Annäherung der Systeme statt. In die Ordnung des Rechtsstaates werden abwägungsoffene Prinzipien, die die Rechtsprechung entwicklungsoffen konkretisiert eingeführt; in den Staaten der Rule of Law werden die vormals vorpositiv geltenden subjektiven Rechte in Grundrechte transformiert.78 MacCormick 1984, S. 69. Rosenfeld 2000, S. 49. 73 Rosenfeld 2000, S. 49: „In the broadest terms, the Rechtsstaat envisages a kind of symbiosis between state and law, with law becoming inextricably tied to the state as the only legitimate means or channel through which the state can wield its power“. 74 Rosenfeld 2000, S. 50: „From a practical standpoint, Anglo-American rule of law may not be completely divorced from the state, but in theory the two remain independent of one another to the extent that the rule of law is conceived as being rooted in norms that pre-exist and transcend the state and that may be invoked against it whenever it fails to abide by them“ – jedenfalls in naturrechtlicher Perspektive. 75 Rosenfeld 2000, S. 53. 76 Rosenfeld 2000, S. 58: „a procedurally grounded rule of law would revolve around three essential components: the rule of law as opposed to the rule of men – which to avoid confusion can be referred to as ‚the rule of law in the narrow sense‘; the prevalence and maintenance of fundamental due process guarantees; and, institutionalization of the adversary system of justice as a means to channel conflicts towards legal resolution rather than towards other possible outcomes“. 77 Rosenfeld 2000, S. 52. 71 72

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Findet so gerade auch durch die Europäisierung und Internationalisierung über die Menschenrechte eine Annäherung beider Systeme statt, so interpretieren einzelne amerikanische Autoren die Rule of Law als ein Grundprinzip der menschlichen Kultur überhaupt und geben damit einiges von ihrem macht-beschränkenden Charakter auf, derentwegen der frühe Konstitutionalismus in Deutschland sich gerade mit ihr beschäftigt hat.79 Schon Lon Fuller hatte die Rule of Law als „the enterprise of subjecting human conduct to the governance of rules“ bezeichnet.80 Paul W. Kahns kulturwissenschaftlicher Ansatz geht darüber noch deutlich hinaus und läßt in Weiterentwicklung des römischen Grundsatzes „Ubi societas ibi ius“81 die Herrschaft des Rechts umfassend werden: „… a cultural study of law cannot narrowly limit itself to ‚legal‘ phenomena. There is no such subset of experience. If we want to study what it means to live under the rule of law, then we must be prepared to examine the entire reach of our experience in the modern state.“82

Die Rule of law wird damit zum Reign of Law oder eben zu „Laws Empire“83 und verliert ihre beschränkende Kraft, derentwegen sie etwa von Mohl schätzte. Sie wirkt dann eher als Motor der Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse. Doch wie wurde die Rule of Law in der alten Welt verstanden und für die Entwicklung der Rechtsstaatsidee fruchtbar gemacht?

IV. Die Entwicklung der Rechtsstaatsidee in Auseinandersetzung mit der Rule of Law im 19. Jahrhundert in Deutschland 1. Ausgehendes 18. Jahrhundert und Vormärz Daß die rechtsvergleichende Auseinandersetzung mit dem englischen und nordamerikanischen Recht politisch veranlaßt war, ist bekannt und braucht hier nicht noch einmal wiederholt zu werden.84 Im Folgenden geht es vielmehr darum, wie 78 Zum Entwurf einer geschriebenen Verfassung für das Vereinigte Königreich, vgl. Starck 1994, S. 627 ff. 79 Und sehen den gerichtlichen Einfluß auf die Vertiefung der „Rule of Law“ in Europa geradezu als Modell für ihre Internationalisierung an, Donnelly 2006, S. 43 f. 80 Fuller 1969, S. 106. 81 Den auch Grotius bei der Begründung des Völkerrechts zitiert, vgl. Starck, S. 348. 82 Kahn 1999, S. 125. 83 Dworkin 1986. Seine eigene Bestimmung der Rule of Law findet sich auf S. 93: „Law insists that force not be used or withheld, no matter how useful that would be to ends in view, no matter how beneficial or noble these ends, except as licensed or required by individual rights and responsibilities flowing from past political decisions about when collective force is justified. The law of a community on this account is the scheme of rights and responsibilities that meet that complex standard: they license coercion because they flow from past decisions of the right sort … This characterization of the concept of law sets out … what is sometimes called the ‚rule‘ of law“.

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beim Ringen um eine Konzeption des Rechtsstaats85 Elemente der Rule of Law im Rahmen der allgemeinen Analyse des anglo-amerikanischen Rechtsdenkens berücksichtigt wurden. Bereits im 18. Jahrhundert werden die „Englische Freiheit“, die Gerechtigkeit auf der Insel und die milden Strafen gelobt. Gebhard Friedrich August Wendeborn (1742 – 1811) betont, daß die Engländer humanere Ermittlungsverfahren und Strafen hätten.86 Der Publizist Johann Wilhelm von Archenholz rühmt auch, daß der Engländer „fast nie die Gesetze aus den Augen verliert“87. Die Pressefreiheit preist er als „Palladium ihrer politischen Freiheiten“88 – eine Formulierung, die der auch für die Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens so bedeutende Immanuel Kant 1793 aufgreift.89 Kant selbst weiß sich insofern einig mit der englischen Rule of Law, daß auch er den Herrscher als unter dem Gesetz stehend ansieht und dem Prinzip „The King can do no wrong“ mit Coke zutreffend eine sehr eingeschränkte, insbesondere nicht strafrechtliche Bedeutung, beimißt.90 Wilhelm von Humboldt weist auf die positiven Folgen hin, die ein rechtlich gebundenes Verfahren auch auf den Straftäter selbst und den Charakter der Nation habe, wie das Englische Beispiel zeige.91 Kirste 2013 Rn. 3 f.; Dippel 1994; Heyen 1996. Eingehend Link 1986, S. 775 ff., 782 f. 86 Wendeborn, S. 35 f.: „Die Tortur, diese Schande der Menschlichkeit, ist in diesem Lande nicht üblich. Niemand braucht hier sein eigner Ankläger zu werden. Wenn jemand durch hinlängliche Zeugen eines Verbrechens überwiesen ist, so muß er die Strafe der Gesetze ausstehen, er mag auch immer leugnen, daß er die That begangen. Durch die Heftigkeit der Qual der Folter kann niemand dahin gebracht werden, sich eines Verbrechens schuldig zu erklären, welches er nie begangen; er kann als Schuldiger hingerichtet werden, wenn sich doch Vernunft und Menschlichkeit dahin erklären, daß es besser sey, zwanzig Schuldige, die man ihrer Verbrechen nicht überweisen kann, entgiengen der strafenden Gerechtigkeit, als daß ein einziger Unschuldiger ihr Opfer werden sollte“. 87 „Denn diese ist das Charakteristische der englischen Thorheiten, daß man fast nie die Gesetze dabey aus den Augen verliert“, die „zum Wohle des Ganzen hier herrschen“, Archenholz 1887, S. 3. 88 „Die Engländer nennen mit Recht die Preßfreyheit das große Palladium ihrer politischen Freiheiten. Der Mißbrauch derselben, wodurch oft schändliche Pasquille gemacht und verbreitet werden, wird unendlich von dem großen Nutzen überwogen, den der gute Gebrauch dem gemeinen Wesen gewährt“, Archenholz 1887, S. 9. 89 „Also ist die Freiheit der Feder … das einzige Palladium der Volksrechte“, Kant: Gemeinspruch, S. 161. 90 „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän, verpflichtet. Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren, aber ihn nicht strafen (und das bedeutet allein der in England gebräuchliche Ausdruck: der König, d.i. die oberste ausübende Gewalt, kann nicht unrecht tun); denn das wäre wiederum ein Akt der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen, dem Gesetze gemäß zu zwingen, zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht“, Kant MS, S. 436, zu Kants Rechtsstaatstheorie auch Link 1986, S. 793 f. 84 85

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Nicht alle waren so begeistert von der Herrschaft des Rechts in England. Richtungsweisend für die deutsche Staatsrechtslehre beklagt Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Fehlen eines Rechts, das „in allgemeinen Formen“ abgefaßt sei, „welche in der Tat erst den Namen von Gesetzen verdienen“ und so für Orientierungssicherheit sorgen könnten.92 Dem liegt ein auch von anderen Autoren93 später immer wieder erhobener Vorwurf zugrunde, den Engländern fehle die „wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts“, womit vor allem der Mangel an einer systematischen Ordnung der Rechtssätze gemeint war.94 Kritisch betrachtet er die Mitwirkung von juristischen Laien in Geschworenengerichten. Zu Unrecht sei Kontinentaleuropa von der „Englische Freiheit“ beeindruckt gewesen. Die in ihren grundlegenden Erklärungen gewährten Rechte hätten die privatrechtliche Natur von Vereinbarungen und nicht die öffentlich-rechtliche von allgemein anerkannten und gleich gewährten Rechten.95 91 von Humboldt (Ideen), XIII: „Der Richter muß nämlich alle rechtmäßige Mittel anwenden, die Wahrheit zu erforschen, darf sich hingegen keines erlauben, das außerhalb der Schranken des Rechts liegt … Die Anwendung von Mitteln, welche einen eigentlichen Betrug enthalten, dürfte daher ebenso unerlaubt sein als die Folter. Denn wenn man dieselbe gleich vielleicht dadurch entschuldigen kann, daß der Verdächtige oder wenigstens der Verbrecher selbst durch seine eignen Handlungen dazu berechtiget, so sind sie dennoch der Würde des Staats, welchen der Richter vorstellt, allemal unangemessen; und wie heilsame Folgen ein offnes und gerades Betragen auch gegen Verbrecher auf den Charakter der Nation haben würde, ist nicht nur an sich, sondern auch aus der Erfahrung derjenigen Staaten klar, welche sich, wie z. B. England, hierin einer edlen Gesetzgebung erfreuen“. 92 Hegel Enzyklopädie, § 529A, S. 329. 93 Vgl. auch etwa Lorenz von Steins durchaus überhebliche Äußerung: „Die Franzosen und Engländer, die wir stets als Muster bewundern, haben allerdings weder Begriff noch System vom Staate, aber sie haben eben überhaupt keine Staatswissenschaft. Das, was den deutschen Geist so hoch über beide Völker stellt, ist, daß wir eben streben, eine Wissenschaft vom Staate zu besitzen“, 1869, S. 14; Jellinek 1885, S. 1; Hatschek 1905, S. 29: Der Mangel der Rechtswissenschaft führe hier nicht nur zu einem Mangel im theoretischen System des Rechts, sondern auch in der positiven Rechtsordnung des Staates. Die fehlende Systematik sei wiederum durch die Verwaltung und Entwicklung des englischen Rechts durch die Praxis ohne feste Verankerung an den Universitäten und ohne eine Rezeption des römischen Rechts begründet. Damit fehle dem englischen Recht auch die Probe seiner Rationalität durch die Konstruktion aus Grundsätzen und der Einpassung in die systematischen Zusammenhänge … – Auffassungen, denen amerikanische Rechtsrealisten nur ein lakonisches „The life of the law has not been logic: it has been experience“ entgegenwarfen (Holmes 1881, S. 1). Holmes setzt fort „The law embodies the story of a nation’s development through many centuries, and it cannot be dealt with as if it contained only the axioms and corollaries of a book of mathematics“. 94 Hegel Reformbill, S. 89, England fehle „die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts, welche einerseits allgemeine Grundlagen auf die besonderen Arten und deren Verwicklungen angewendet und in ihnen durchgeführt, andererseits das Konkrete und Spezielle auf einfachere Bestimmungen zurückgebracht hat …“. 95 Hegel Reformbill, S. 89: „Bekanntlich beruht diese durch und durch auf besonderen Rechten, Freiheiten, Privilegien, welche von Königen oder Parlamenten auf besondere Veranlassungen erteilt, verkauft, geschenkt oder ihnen abgetrotzt worden sind; die Magna Charta, Bill of rights, diese wichtigsten Grundlagen der englischen Verfassung, die nachher durch Parlamentsbeschlüsse weiter bestimmt worden sind, sind mit Gewalt abgedrungene Konzessionen

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Dem traten im Vormärz Auffassungen entgegen, die gerade den konkreten, erfahrungsgesättigten Duktus des englischen Rechts hervorhoben.96 Friedrich Murhard (1778 – 1853) forderte 1837 in seinem Artikel über „Englands Verfassung“ im liberalen97 Rotteck-Welckerschen Staatslexikon: „kommt nach England und studiert England!“ und entwarf selbst das Idealbild98 eines Musterstaates, dem es gelingt, unter den Bedingungen einer Erbmonarchie optimal für Gerechtigkeit zu sorgen.99 Das gelte zuvorderst für die Einbindung des Monarchen: „Der König von England steht darum auch nicht über dem Gesetze, sondern wie jeder Staatsbürger unter dem Gesetze“, wie er im Anschluß an Bracton lobt.100 Immer wieder betont Murhard die englische Freiheit und das gewachsene Recht.101 An ihm schätzt er, daß sich Gerechtigkeit historisch bewährt hat und durch Verfahren gesichert ist, die Mißbräuche aufdecken und verteidigen.102 Verantwortlich dafür sei die Herrschaft der Gesetze: „Hier sieht man das Gesetz allein seine souveraine Macht ausüben und seine unwiderstehliche Macht über alle Einwohner ohne Unterschied ausdehnen“ könne103. oder Gnadengeschenke, Pacta usf., und die Staatsrechte sind bei der privatrechtlichen Form ihres Ursprungs und damit bei der Zufälligkeit ihres Inhalts stehengeblieben“. 96 Bezogen auf England schrieb Murhard (1837, S. 89): „Was ist die englische Constitution? Die beste Sammlung von erfahrungsmäßigen Mitteln, wodurch die Gerechtigkeit unter mitmenschlichen Gebrechen und Unvollkommenheiten behafteten Geschöpfen, unter von Natur eigennützigen, selbstsüchtigen und leidenschaftlichen Individuen, unter erbmonarchischem Scepter geschützt wird“. 97 Welcker selbst schrieb, daß im Rechtsstaat „die sittliche Achtung und Heiligkeit des objektiven Rechtes zugleich Erhaltung der Freyheit und Autonomie der Bürger fordert“, (1813, S. 166) und die Maxime gelte, „daß die Regierungen um der Bürger, nicht, wie in der Despotie, diese um jener willen da sind“ (ibid., S. 169), zu ihm auch Hofmann 1995, S. 4. 98 Pöggeler 1995, S. 63 99 Murhard 1837, S. 89. 100 Murhard 1837, S. 112: „Der König von England darf nie vergessen, daß die Attribution der Unverletzlichkeit und Unverantwortlichkeit ihm durch die Verfassung nur unter der Voraussetzung und Bedingung der Constitutionalität seiner Regierungsthätigkeit beigelegt ist, so daß ein der Verfassung und den Gesetzen Zuwiderhandeln von seiner Seite einer stillschweigenden Entsagung jeder Attribution gleich zu erachten sein und in England auch also betrachtet werden würde“. 101 Murhard 1837, S. 161: „Die Rechte und Freiheiten des Individuums nehmen in Englands Grundgesetzen den ersten Platz ein, und die Engländer sind so stolz und eifersüchtig auf ihre so lange behaupteten Rechte und Freiheiten, daß König und Parlament, ohne mit Gewißheit vorauszusehende größte Gefahren, es nicht würden wagen können, sie anzutasten“. 102 Murhard 1837, S. 90 f.: „Die britische Verfassung … hat … selbst unter den schwierigsten Verhältnissen und Conjuncturen, siegreich die Probe bestanden. Welcher Unbefangene wird umhin können, die herrlichen Wirkungen dieser politischen Ordnung mit Freudigkeit anzuerkennen! … Die Presse genießt hier ihre reelle volle Freiheit; Alles kann gedruckt, Alles öffentlich bekannt gemacht werden, ohne daß Jemand ungestraft beleidigen oder verleumden darf. Alle Mißbräuche der Regierung werden dreist aufgedeckt, alle öffentlichen Handlungen derselben werden kritisirt und nach Gefallen bestritten, und ohne daß dadurch die Thätigkeit der Staatsregierung gehemmt wird, erhält sie vielmehr durch diese Freiheit der Beurtheilung diejenige Kraft und Energie, welche nur eine durch Angriff und Vertheidigung gereinigte und aufgeklärte öffentliche Meinung verschaffen kann.“

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„Die Bewunderung der englischen Verfassung wich dann bei Vielen der Bewunderung der nordamerikanischen“, wie August Arnold (1789 – 1860) schrieb.104 Das gilt für Murhard nicht in vollem Umfang, jedoch war auch er der Ansicht, die Freiheit werde in den Vereinigten Staaten besser realisiert, wo die Beschränkung durch „das sogenannte historische Recht, womit man bei der Reformirung der Staaten in der alten Welt so viel zu kämpfen hat“105. Die Freiheit, die in Mitteleuropa erst erkämpft werden müsse, hätten die amerikanischen Verfassungsväter bereits voraussetzen können106. Wie keine andere Verfassung sichere die amerikanische diese Freiheit107, indem sie die Unabhängigkeit des Einzelnen vom Staat sicherstelle. Zugleich sei sich die US-Verfassung aber auch der Gefahren einer unumschränkten Freiheit bewußt und hege die Volkssouveränität rechtstaatlich ein.108 Bei den Beratungen der §§ 125 ff. der Paulskirchenverfassung über das Reichsgericht entstand die Frage, wie sehr man sich an der verfassungsrechtlichen und – seit der Entscheidung Marbury v. Madison – selbst geschaffenen Stellung des US Supreme Court orientieren sollte.109 Euphorisch hatte Murhard von einer Autorität des Obersten Gerichtshofs gesprochen, die „so unermeßlich, so ungeheuer, daß kein anderer Gerichtshof der Welt sich des Besitzes einer so großen Machvollkommenheit rühmen kann, und das Ansehen keines ist auch mit dem zu vergleichen, welches der der vereinigten Staaten genießt“110. Nüchterner referierte Carl Joseph Anton Mittermeier in seinem Abschlußbericht vom obersten Gericht als dem einzigen Mittel, wodurch die Unbestimmtheiten, die in der Verfassung sind, behoben und die Lücken ausgefüllt werden, das einzige Mittel, wodurch die notwendige Fortbildung bewirkt werden kann. Lesen Sie die amerikanische Verfassung … und vergleichen Sie sie mit dem, was sie wirklich im Leben ist, so werden Sie sehen, sie verdankt ihr Leben, ihre Kraft, die Sicherheit der Bestimmungen über Einzelheiten den Entscheidungen des Reichsgerichts“111. Am Ende sind Parallelen zwischen den ZustänMurhard 1837, S. 91. Arnold 1849, S. 59. 105 Murhard 1841, S. 385. 106 „Man hatte nicht nöthig, die öffentliche Freiheit, so wie die individuelle, erst zu gründen; sie war schon da“, Murhard 1841, S. 391. 107 Murhard 1841, S. 449: „Keine politische Verfassung in der Welt garantirt die Freiheit der Individuen so sehr, wie die nordamerikanische.“ 108 Murhard 1832, S. 31 f.: „Schon seines eigenen teuersten Interesses halber muß das souveräne Volk daher das Bestehen eines Verwalters seiner höchsten Gewalt verlangen und sich selbst von der souveränen Macht nur soviel verfassungsmäßig vorbehalten, als zur Erhaltung des Wohls des Ganzen zweckmäßig ist. Mit einer auf diese Weise gesetzlich modifizierten Volkssouveränität, die sich allezeit nur in bestimmten, genau in der Verfassung vorgeschriebenen Formen äußern kann, ist das Bestehen einer weisen volkstümlichen Regierung vollkommen verträglich, wie das Beispiel des freien Nordamerika auf die glänzendste Weise beurkundet“. 109 Zur aktuellen Bedeutung des Supreme Court für die Rule of Law, vgl. Kauper 1961, S. 531 ff., 552: „pre-eminent role in vindicating the Rule of Law“. 110 Murhard 1841, S. 389. 103 104

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digkeiten des US Supreme Court und dem umfangreichen Kompetenzkatalog des Art. 126 der Paulskirchenverfassung nicht zu übersehen.112 2. Robert von Mohl (1799 – 1875): Rule of Law und Rechtsstaat zwischen England und den USA Gegenüber diesen Ansätzen erhielt die Auseinandersetzung mit der Rule of Law bei Robert von Mohl eine größere Tiefe und gewann Bedeutung auch bei der Ausbildung seines Rechtsstaatsbegriffs.113 Ähnlich wie Welcker114 und stärker als spätere Theorien stützte er sich bei seiner Rechtsstaatsidee noch auf philosophische und theologische Fundamente. Sein Zweck sei zwar die Förderung und Sicherung der Freiheit des Menschen.115 Doch komme ihm nur eine Ermöglichungs- und Sicherungsfunktion; Ausbildung und Realisierung der Freiheit bleibe dem Einzelnen überlassen. Den Ursprung des Rechtsstaatsgedankens findet von Mohl zwar bei Hugo Grotius116; seine Elemente hätten sich dann jedoch im englischen Recht und schließlich in beinahe vollkommener Form in den USA realisiert: „in jenem merkwürdigen Staate“ – England – seien „durch ein glückliches Zusammentreffen verschiedener Ursachen die staatsrechtlichen Grundsätze, welche in dem Kampfe gegen die Stuarts zuerst aufgestellt, seitdem die Axe geworden …, um welche sich die Bewegung des Völkerlebens in mehr als Einem Welttheile dreht, in der Wirklichkeit nach ihrer ganzen Ausdehnung am folgerichtigsten praktisch durchgeführt sind“117.

Auch wenn von Mohl hier nicht von der „Rule of Law“ spricht, ist sie doch sehr deutlich gemeint und wird in einen Zusammenhang mit dem Rechtsstaat gebracht. Der historische Verweis macht deutlich, daß er die Rule of Law als den Dreh- und Angelpunkt nicht nur des britischen, sondern auch des amerikanischen Rechts versteht. Wesentliche Elemente des Rechtsstaates wie eine immanente und nicht transzendente Begründung des Staates aus weltlichen Zwecken, seine Legitimation aus einem aufgeklärten Willen der Rechtsunterworfenen, der Individualismus in der

Abgedr. bei Dippel 1994, S. 164. Wilms 1999, S. 187; Steinberger 1987, S. 21. 113 Vgl. dazu auch Sobota 1997, S. 306 ff. 114 Welcker 1813, S. 25 f. 115 von Mohl 1832 / 33, I, S. 6 f.; vgl. auch 1872, S. 324 f. 116 von Mohl 1855, S. 230: „In dieser Lehre des ‚natürlichen Rechtes‘ lagen denn schon alle wesentlichen Grundgedanken der Theorie vom Rechtsstaate, nämlich die Auffassung des Staates aus dem Gesichtspunkte eines zufälligen und äusseren Bedürfnisses; das Hervorgehen desselben aus dem freien verständigen Willen der einzelnen, in völliger lsolirung betrachteten Persönlichkeiten; die ausschliessliche Bestimmung des Staates zu einer Rechtsanstalt, also zu einem blosen Mittel, und die Nichtbeachtung der menschlichen Lebenszwecke selbst; die Beschränkung auf das engste Maass von Wirksamkeit zur Schonung der negativen Freiheit der Einzelnen; die beliebige Wahl unter den Einrichtungen nach Gründen der Nützlichkeit“. 117 von Mohl 1835, S. 1 f. 111

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Stellung des Einzelnen mit der Beschränkung der Staatsaufgaben durch das Recht des Menschen, selbst für seine Glückseligkeit und sein Wohlergehen zu sorgen, unter Sicherung seiner negativen Freiheit durch die Konzeption der Grundrechte als Abwehrrechte und schließlich die Ausrichtung der Staatsorganisation auf die Nützlichkeit, findet er im englischen und mehr noch im Recht der Vereinigten Staaten realisiert. Von Mohl ist der Ansicht, daß „der Gedanke des Rechtsstaats der Neuzeit wesentlich den Engländern gehört“ – ohne also zwischen diesem und der Rule of Law zu unterscheiden.118 – Nur hätten die Deutschen und insbesondere Kant dieses Prinzip vollständiger durchgearbeitet. Überhaupt fehle es in England überall an der systematischen Durchdringung des historisch gewachsenen Rechtsstoffes.119 Festzuhalten sei jedoch, daß „unsere staatsbürgerlichen Rechte den englischen Gesetzen nachgebildet“ sind: „So die Freiheit von ungesetzlichem Verhafte, Pressfreiheit, Beschränkung der Haussuchungen u.s.w. Zum Theile sind unsere Bestimmungen selbst im Einzelsten den englischen Mustern entnommen“120. Die Realisierung dieser Rechte in gerichtlichen Verfahren weise jedoch erhebliche Defizite auf – und dieser Unterschied ist gerade mit Rücksicht auf die Rule of Law wichtig: „Einmal bieten unsere Gerichte nicht entfernt dieselbe Gewährleistung des Rechtes gegen einen entschiedenen Willen der Regierung“. Das liege an der besonderen Stellung der englischen Richter. Ferner gelte zwar der „verfassungsmäßige Gehorsam“ der öffentlichen Gewalt nach dem Vorbild des englischen Rechts. Dieser und auch das parlamentarische System werde jedoch höchst unvollkommen umgesetzt.121 Einen durchgreifenden Unterschied im Rechtsschutz zwischen Deutschland und England begreift er im Britischen Laienrichtertum – den Friedensrichtern, die in sich verwaltungs- und Rechtsschutzfunktion vereinigen.122 Als Land der Zukunft sieht von Mohl jedoch die Vereinigten Staaten an.123 Ihre Verfassung sei ein „Meisterstück“124. Den Amerikanern sei die Verbindung der Herrschaft des Rechts auf einer selbstbestimmten Basis des Volks in einem großen Bundesstaat gelungen.125 Das sei gerade auch mit Rücksicht auf die Anliegen der

von Mohl 1855, S. 33. von Mohl ebd., Bd. I, S. 21; Bd. II, S. 7. 120 von Mohl 1856, S. 4. 121 von Mohl 1856, S. 4 f. 122 von Mohl 1856, S. 94. 123 von Mohl 1855, S. 349: „Schon jetzt stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika in der Reihe der mächtigsten Staaten; und aller menschlichen Voraussicht nach ist ihre jetzige Macht nur das Vorspiel einer unberechenbar wichtigeren Stellung“. 124 von Mohl 1835, S. 17. 125 von Mohl 1855, S. 511: „Die Verfassung der Vereinigten Staaten begreift die Lösung zweier staatsrechtlicher Aufgaben in sich, welche, zu jeder Zeit als schwierig erachtet, eben jetzt durch den ganzen Entwicklungsgang vieler europäischer Völker die höchste Bedeutung 118 119

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Rule of Law und des Rechtsstaats durchaus in Kontinuität mit der englischen Tradition geschehen: Die Konzeption negativer Freiheit, des Parlamentsrechts und der Staatsorganisation seien etwa britischen Ursprungs.126 Die Vereinigten Staaten hätten jedoch zum Rechtsstaat den Gedanken der Repräsentation beigetragen.127 Dies habe zur „höchsten Achtung vor dem Gesetze mit der möglichsten Freiheit des individuellen Gebahrens“ geführt, so daß die „Aufgabe gelöst war, grosses Selbstgefühl des Bürgers mit dem nöthigen Maasse von Macht für den Staat zu verbinden“128. Zwar sieht von Mohl erhebliche Begründungsdefizite des Rechts wegen der Vorenthaltung von Rechten gegenüber Farbigen129 und dem Fortbestand der Sklaverei,130 rühmt aber den Supreme Court als einen der „interessantesten und kühnsten Versuche des neueren Staatsrechts“131. Seine umfangreichen Befugnisse auch zur Aufhebung verfassungswidriger Gesetze hätten sich bewährt.132 Herausragende Richterpersönlichkeiten wie etwa John Marshall hätten die „Handhabung der Verfassung in das Geleise“ gebracht.133 Den Urteilen des Gerichts entnimmt von Mohl „Belehrungen über die schwierigsten Fragen“ des Verfassungsrechts und Anleitungen zu seiner weiteren Entwicklung, die „nicht blos für amerikanische Staatsgelehrte Bedeutung haben“134. So groß die Begeisterung von Mohls für das anglo-amerikanische Recht war, so sehr warnt er jedoch vor vorschnellen Übernahmen auf die gänzlich unterschiedlichen Verhältnisse in Mitteleuropa.135 Seine Rechtsstaatstheorie stellt vielmehr gerade den Versuch dar, wesentliche Anliegen der Rule of Law mit der deutschen Tradition einer Begründung des staatlichen Rechts auf eine systematisch verfahrende erhalten haben; nämlich die Gründung einer Demokratie bei einem zahlreichen Volke und in einem ausgedehnten Gebiete, sodann die Errichtung eines starken Bundesstaates“. 126 von Mohl 1855, S. 519: „Englisches Recht ordnet das Privatleben; nach englischer Auffassung wird das Gesetz ausgelegt und angewendet; die zahlreichen und wirksamen englischen Grundsatze über den Schutz des Einzelnen gegen Vergewaltigungen der öffentlichen Macht sind in alle Verfassungsurkunden und Gerichtsordnungen der Vereinigten Staaten aufgenommen; nach englischen parlamentarischen Regeln wird jede berathende Versammlung geleitet; englisch sind die sämmtlichen Einrichtungen der Behörden, bis herunter in die Ordnung der Gemeinden und Kirchspiele“. 127 von Mohl 1855, S. 250. 128 von Mohl 1855, S. 519. 129 von Mohl 1855, S. 526. 130 von Mohl 1835, S. 20. 131 von Mohl 1835, S. 23. 132 von Mohl 1860, S. 89: „In den USA bestehe das Recht der Gerichte, verfassungswidrige Gesetze im Kreise ihrer Thätigkeit nicht in Anwendung zu bringen, seit vollen 70 Jahren, und es ist dasselbe schon in sehr vielen Fällen wirklich zur Anwendung gekommen; von einer Anarchie, oder überhaupt von grossen Uebelständen, welche aus dieser Uebung entstünden, weiss aber Niemand etwas“. 133 von Mohl 1855, S. 582. 134 von Mohl 1855, S. 582. 135 von Mohl 1835, S. 17, vgl. a. S. 23.

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Rechtswissenschaft zu verbinden. Die Verwandtschaft der beiden Prinzipien bei von Mohl zeigt sich gerade in der Begründung des Staates aus der Freiheit und der sichernden Aufgabe für sie.136 3. Rudolf von Gneist (1816 – 1895) und die prozeduralen Aspekte der Rule of Law Auch weiterhin rühmen Autoren die „Englische Freiheit“137 – d. h. die negative Freiheit – und stellen fest, daß sie in den USA noch stärker als in England gesichert sei.138 „Bahn frei!“ sei das Motto einer auf das Selbstvertrauen in das Individuum und seine Entfaltung gestützte Verfassung.139 Die so geschützte Freiheit garantiere zugleich auch ihre Realisierung, weil bei der Gesetzgebung und in den Gerichten anders als im Absolutismus die legitimatorische Bewegung der Staatsorganisation vom Volk zur öffentlichen Gewalt aufsteige.140 Die freie unmittelbare Teilnahme an der Regierung ist die „Sicherung und Bürgschaft“ des Bestehens der privaten Freiheit.141 Es treten immer stärker deren verfahrensmäßige Realisierungsbedingungen 136 von Mohl 1866, S. 14: „Auf der einen Seite nämlich ist die Freiheit des Bürgers die Grundlage des ganzen Rechtsstaates; er darf und soll sich nach allen Richtungen, in welchen er einen vernünftigen Zweck verfolgt und auf kein Recht eine Dritten stößt, frei bewegen. Der ganze Staat mit allen Einrichtungen ist nur dazu bestimmt, diese Freiheit zu schützen und möglich zu machen. Auf der andern Seite sind die Fälle unzählig, in welchen der Einzelne durch übermächtige äussere Hindernisse in seiner vernunftgemäßen Thätigkeit gehindert wird, und in welchen er also die Hülfe des Staates verlangt“. 137 Differenzierte Darstellung zu den „Grundrechten der Engländer“ findet sich bei Fischel 1862, S. 32 ff. 138 So etwa der deutsch-amerikanische Jurist und Publizist Franz Lieber (in den USA Francis Lieber) in der Beilage zu Mittermaiers Schrift über die Englische Staatsverfassung 1849, S. 28: „Fasst man diese Grundsätze und Einrichtungen [der bürgerlichen Freiheit, S.K.] zusammen, so zeigen sie sich als Gewähr des Eigenthums, der persönlichen Freiheit, der einzelnen eigenthümlichen Entwickelung, der Sicherheit der Gesellschaft gegen Angriffe oder Einmischung der Staatsgewalt, der Gewissheit, dass die öffentliche Meinung auf organischem Wege Staatswille werde, und des Schutzes der Minderheit. Viele davon entstanden, die meisten entwickelten sich zuerst in England; doch sind sie nicht auf dieses Land beschränkt, noch weniger sind alle zu so hoher Stufe in England entwickelt als in Amerika“. 139 Lieber hält in der Beilage über „Englische und Französische Freiheit“ (1849, S. 29) fest, daß „englisch-amerikanischen Freiheit sich vor Allem durch entschiedenes Streben, die Unabhängigkeit des Einzelnen zu kräftigen, und durch das Gefühl des Selbstvertrauens auszeichnet… die Individualität ist fast vernichtet im Absolutismus (mag er nun monarchischer oder demokratischer Art sein), während höchste Freiheit (nach englisch-amerikanischer Anschauung) die Individualität eines Jeden ans Licht und die besondere Thätigkeit von Jedem, nach seinem Gutdünken, in die freiest Bewegung bringt. Unabhängigkeit auf der höchsten, mit Wohlfahrt und breiter volksthümlicher Sicherung der Freiheit verträglichen Stufe ist das grosse Ziel englisch-amerikanischer Freiheit, und Selbstvertrauen ist die Hauptquelle, woher sie ihre Kraft schöpft“. 140 Lieber 1849, S. 35: „In englisch-amerikanischer Freiheit beginnt nicht nur die Bewegung beim Volke, sondern auch ihre praktische Durchführung“. 141 Lieber 1849, S. 31.

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und damit die prozeduralen Aspekte der Rule of Law ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Sprecher des Verfassungsausschusses in der Paulskirche, Carl Josef Anton Mittermaier (1887 – 1867), meint etwa, daß zur Verwirklichung der Freiheit nicht weniger die Formen der Verfassung als vielmehr das Volksbewußtsein und ihre institutionelle Durchsetzung von Bedeutung seien.142 Hierzu verweist er auf den Parlamentsvorbehalt, die in England seit Alters bestehenden Beschränkungen des Ermittlungsverfahrens, die Geschworenengerichte und schließlich die Überragende Bedeutung des US-Supreme Courts als „Zierde der amerikanischen Verfassung“, dem die Verfassung „ihr Leben, ihre Kraft, die Sicherheit ihrer Bestimmungen“ verdanke.143 Während die US-Verfassung oft eher als „eine theoretische Darstellung des Naturrechts, als eine positive Verfassung“ erscheine, würden die „Gerichte mit Recht als die Beschützer der verfassungsmäßigen Rechte der einzelnen Bürger“144 angesehen schreibt Johann Jakob Rüttimann (1813 – 1876) in seinem Vergleich der USA mit der Schweiz.145 Auch national-liberale Stimmen, die – nach der politischen Erfolglosigkeit der Revolution von 1848 / 49 – nach Wegen suchten, dennoch Bürgerkräfte für die Verbesserung des Staates zu mobilisieren, orientierten sich eher an den verfahrensrechtlichen Aspekten der Rule of Law. Rudolf von Gneist146 etwa diente der Rechtsvergleich nicht dazu, die englischen Verhältnisse zu kopieren. Ihm kam es bei der Auseinandersetzung mit anderen Rechtsordnungen vielmehr auf die Selbstvergewisserung der Besonderheiten Deutschlands als Grundlage einer diesen Besonderheiten genügenden eigenständigen Lösung an.147 142 Mittermaier 1849, S. 4: „Die Eigenthümlichkeit, mit welcher in England die Interessen des Volkes auf das Höchste geschützt und dennoch der Staatsgewalt alle Macht und Energie, deren sie bedarf, zuerkannt werden, liegt nicht in gewissen Formen und Bestimmungen der Verfassung, und während in den deutschen Verfassungen häufig schlau jedes Wort abgewogen ist, um unter einem allgemeinen wohlklingenden freisinnigen Grundsatze scheinbar dem Volke recht grosse Freiheiten zu geben, in der Sache aber, wenn es zur Anwendung kömmt, Nichts zu gewähren, weil sich die Worte drehen lassen, wie man will, ist in England die Verfassung im Leben, im Volksbewusstsein, in einer von der unsrigen weit verschiedenen Auffassungsweise der Freiheit, und in einer grossen Zahl von Einrichtungen, welche das Volk zum Schutze seiner Freiheit zu benutzen versteht“. 143 Vgl. bereits oben Fn. 111. 144 Rüttimann 1867, S. 347. 145 Rüttimann 1872, S. 130 f. 146 Zu ihm Stolleis 1992, S. 385 f.; Schönberger 2010, S. 241 ff. 147 von Gneist 1860, S. 833: Wenn Frankreich und England „einen Anspruch auf eine Geltung als Musterstaaten der Zivilisation machen, so ist dies in dem Sinne richtig, daß beide die in Europa möglichen Elemente zu politischen und socialen Kombinationen in sich tragen. Unrichtig, wenn man darunter versteht, daß Deutschland dem einen oder dem anderen mustergültigen Beispiel zu folgen habe. Englische und französische Staatsbildung können uns nur Mittel der Erkenntnis unseres Selbst sein, die der deutsche Geist so gern in weiter Ferne sucht. Die wirkliche Gestaltung unseres Staatswesens kann schon deshalb weder dem englischen noch dem französischen folgen, weil es in vielen seiner Grundlagen tüchtiger, weil es in der geistigen, sittlichen und wirthschaftlichen Entwickelung der Massen des Volks sowohl England als Frankreich überlegen ist“.

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Von Gneist zitiert in seinen Arbeiten zur Rechtsstaatlichkeit148 das alte, von Bracton erwähnte Prinzip „Lex facit Regem“ und schließt sich der Idee des „Government of Laws and not of Men“ an.149 Das schloß jedoch die Erkenntnis nicht aus, daß die Herrschaft des ungeschriebenen Rechts ganz wesentlich von der Überzeugung und vom Einsatz einflußreicher Gruppen für dieses Recht abhing. Nur immer neue Grundrechte in Verfassungen nach dem Muster des englischen Rechts zu fordern, verkenne die Notwendigkeit entsprechender Rechtsgarantien.150 Auch die „Magna Charta enthält also an formellem Verfassungsrecht viel weniger, als man darin gesucht hat“.151 Da Demokratie in Deutschland für ihn gegenwärtig kein realistisches Ziel war, konzentrierten sich seine rechtsvergleichenden Arbeiten wieder stärker auf das Englische Rechtssystem. Im gehobenen Bürgertum und im niederen Adel der Gentry fand er die Garanten für die Durchsetzung des Rechts. Entsprechend war ihm das englische Self-Government das Modell, um auch in Deutschland die Selbstverwaltung der Bürger zu fördern. Diese „vom Staat den Gemeindeverbänden aufgetragene obrigkeitliche Localverwaltung nach den Justiz-, Verwaltungsund Steuergesetzen des Staats“152 habe ganz entscheidend zur Machtbalance in England und zur Förderung des Gemeinsinns beigetragen. Sie die „Garantie des Rechtsstaats“.153 Auf ihrem Boden bildeten sich in politischen Auseinandersetzungen die politischen Grundsätze aus, die dann in Gesetzesform gegossen würden.154 Dazu trügen maßgeblich die Institutionen der Geschworenengerichte, der GemeindeverHierzu auch Sobota 1997, S. 354 ff. von Gneist 1886, S. 123; deutsch 1882, S. 459. 150 von Gneist 1879, S. 237 f.: „Die Gesellschaft bleibt dabei, ihre persönlichen Forderungen an den Staat als ‚Grundrechte‘ obenanzustellen; die Nutzlosigkeit solcher Sätze bei gänzlichem Mangel einer Rechtsgarantie für ihre Ausführung macht sie aber nicht irre, immer noch neue Grundrechte nach demselben Muster zu verlangen … So ungenügend im Verlauf von zwei Jahrzehnten die Garantien der Verfassung sich erwiesen hatten, so wurden dennoch immer nur neue Gesetzesparagraphen, nicht aber Institutionen der Rechtsordnungen verlangt“. 151 Er setzt hinzu: Sie enthält aber bereits die größten Züge des englischen Charakters und Verfassungswesens …“, von Gneist 1867, S. 281. 152 von Gneist 1879, S. 41. 153 „Die durch den Zwischenbau [der Selbstverwaltung, SK] geschaffenen Garantien des ‚Rechtsstaats‘ sind aber wesentlich vollständig; es fehlt darin kaum ein Glied, welches zum Schutz des individuellen Rechtskreises im Staat erforderlich scheint. Es liegt darin vor Allem die Realität der sogenannten Grundrechte …“, von Gneist 1879, S. 60 154 von Gneist 1879, S. 59 f.: „Das gesellschaftliche Leben der Grafschaft und der Gemeinde wird damit durchdrungen und befruchtet von dem Verständniss für den Staat und von dem Gemeinsinn, welchen der Absolutismus auch in seiner besten Gestalt nur zu einem Monopol der Beamtenklasse macht. Ein dauerndes Band vereinigt hier die widerstreitenden Klassen der Gesellschaft im Dienst des Staats, gewöhnt sie zuerst im Nachbarverband an gemeinsame staatliche Thätigkeit, bringt in dieser Zusammengewöhnung die höheren Ziele der menschlichen Gemeinschaft zum Bewusstsein, und bildet auf diesem Boden die politischen Grundsätze, aus deren Zusammenfassung die gesetzgebende Versammlung hervorgeht. Aus der Gewöhnung an ein gesetzmässiges, verantwortliches Selbstthun im Einzelnen entsteht die Fähigkeit und das Recht zur Selbstverwaltung im Ganzen, d. h. die erfolgreiche Gesetzgebung und Controle der Staatsverwaltung durch einen parlamentarischen Körper“. 148 149

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fassung und der Rechtspflege insgesamt bei, die er auch für Deutschland empfiehlt.155 Daher sei „aus England … im Gegentheil nur die Wahrheit zu entnehmen, dass die politische Freiheit nicht anders als in ununterbrochener Anknüpfung an das überkommene Recht des Landes zu gewinnen ist, und dass die erstrebte Freiheit. nach englischem Vorbild nur dadurch entstehen kann, wenn jedes Volk seine Verwaltungsorgane in gleichem Sinne der Stetigkeit mit der heutigen Ordnung der Gesellschaft verbindet“156.

Von Gneist hebt immer wieder hervor, daß das englische Recht auf den im Laufe der Geschichte an die Übernahme von Regierungsverantwortung und das Recht gewöhnten Persönlichkeiten und Institutionen beruht. Er setzt also – stärker als dies vielleicht in der britischen Literatur selbst artikuliert wird – auf die Habitualisierung des Rechts.157 Wie in England müsse auch in Deutschland die Gerichtsbarkeit so eingerichtet sein, daß sie einerseits die Freiheit des Einzelnen sichere, andererseits jedoch auch die Selbständigkeit der vollziehenden Gewalt achte.158 Für von Gneist wird die Herrschaft des Rechts nicht auf eine demokratische Grundlage gestellt. Daher orientiert er sich nicht an den USA. Er sieht jedoch, daß ein effektiver Rechtsstaat auf das Bewußtsein und den Willen der Bürger angewiesen ist, die rechtlichen Potentiale zu entfalten. Hierfür erscheint ihm England als das weit treffendere Beispiel. Sein Blick ist entsprechend auch nicht auf eine ganz andere Zukunft der politischen Verhältnisse, sondern auf die geschichtlich bewährten Institutionen der britischen Rule of Law gerichtet.

4. Georg Jellinek: Verfassungsmäßige Machtbeschränkung durch subjektive Rechte und Verfassungsgerichtsbarkeit Ging es in Deutschland um den rechtlich verfaßten Staat, so überwog immer stärker die Orientierung am staatlich verfaßten Recht der USA das Interesse an der von ständischen und gesellschaftlichen Interessen getragenen Rule of Law Englands159. An den Vereinigten Staaten hatte man das Modell einer „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“, die Kant als Idealbild einer jeden Civitas entworfen hatte.160 Georg Jellinek kennt natürlich die englische Tradition der Rule of Law, teilt aber diese stärkere Orientierung an den Vereinigten Staaten, weil er dort weit eher Anregungen für die zukünftige Gestaltung des Rechts in Deutschland sieht. Immer wieder kam aber Georg Jellinek auf das Verfassungsrecht in der Union und der ameri155 156 157 158 159 160

von Gneist 1848, S. III. von Gneist 1879, S. 37. von Gneist 1867, S. 634. von Gneist 1879, S. 45. Kontinuitätselemente zwischen beiden Systemen zeigt Angermann 1965, S. 61 ff. Kant (MS), § 45, S. 431.

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kanischen Bundesstaaten zurück.161 Entsprechende Analysen finden sich nicht nur in seiner – Schrift über „Die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte“162, sondern häufig in seinem Werk, wenn er aus amerikanischen Verfassungen163 zitiert und dogmatische Aspekte164 und theoretische165 des Staatsrechts der USA berührt.166 Im Kern ist es aber die moderne Verfassungsstaatlichkeit selbst, die für ihn ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten hatte.167 Sein 1887 erschienenes Werk „Gesetz und Verordnung“ beginnt Georg Jellinek mit einer Darstellung der Geschichte der beiden Rechtsinstitute und einem Rechtsvergleich mit England sowie kurzen Bemerkungen zu den USA. Hier setzt sich Jellinek bereits intensiv auch mit dem englischen Begriff des „Law“ auseinander.168 Er beruft sich auf Bracton und Blackstone, wenn er festhält, daß mit „Law … ununterschiedlich Alles bezeichnet [wird, SK], was aus den verschiedensten Rechtsquellen kommend den mannigfaltigsten Inhalt haben kann“169. Ein zentraler Gedanke der Rule of Law verwundert Jellinek jedoch: „Wie aus ihr die Thronfolgeordnung zu begreifen sei, die bereits vor sechshundert Jahren Bracton zu der Erkenntniss führte, dass der König unter dem Gesetze stehe „quia lex facit regem, das ist schlechterdings unerklärlich“170. Den dahinter stehenden Gedanken, daß der Monarch das Recht zwar reformieren, aber nicht aus eigener Machtfülle neues Recht schaffen kann, sondern sich dazu mit den Ständen (in England), dem Volk (in Frankreich) verständigen müsse, bzw. dies nur durch das Volk und seine Vertreter geschehen könne, greift er durchaus auf und befürwortet ihn.171 Erst durch das Hinzutreten des

Eingehende Würdigung Jellineks bei Brugger 2011, S. 1-43. Jellinek 1919. Hier verlegt er den Ursprung der Menschenrechte von der Alten Welt nach Nordamerika. 163 Etwa Jellinek 1959, S. 144. 164 Zum Budgetrecht, Jellinek 1887, S. 180 f. 165 Zu den Staatsgründungsverträgen und zur Staatenbildung überhaupt, Jellinek 1959, S. 272 f. 166 Zum Bundesstaat in Jellinek 1959, S. 39 u. 489 f. 167 Jellinek 1959, S. 521: „In Amerika ist der Ursprung unserer heutigen geschriebenen Verfassung zu suchen, weshalb die amerikanischen Konstitutionen eingehender zu betrachten wären. Die französische Revolution akzeptiert die amerikanische Idee, und von Frankreich aus pflanzt sie sich in die übrigen europäischen Staaten fort“. 168 Jellinek 1887, S. 3 ff. 169 Jellinek 1887, S. 3. 170 Jellinek 1892, S. 33. 171 Jellinek 1887, S. 254 f. „Der constitutionelle Staat ist ausgegangen von der Idee, dass der Monarch nicht einseitig neues Recht schaffen und bestehendes abändern oder aufheben könne, sondern zur Umbildung der Rechtsordnung stets der Zustimmung der Volksvertretung bedürfe. In England auf Grund altgermanischer Traditionen sich allmählich ausbildend, ist dieser Satz in die französische und damit in die gesammte continentale Verfassungsentwickelung eingeführt worden durch die dem Naturrechte entstammende Idee, dass der Staat eine durch Vertrag der Theilnehmer gebildete Gesellschaft freier Menschen sei, dass jedes Mitglied der Gesellschaft in Folge dessen angeborene, unveräusserliche Rechte habe, dass eine Einschränkung 161 162

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Gedankens des Verfassungsvertrages der Bürger seien jedoch die Rechteverbürgungen zu echten Verfassungen geworden. Auch insofern spielt dann der MayflowerCompact von 1620 eine entscheidende Rolle.172 Dieser Covenant – ein eher kirchenrechtliches Institut – war ein feierlicher Vertrag und wurde als solcher aufgezeichnet; entsprechend auch die an ihn angelehnte Verfassung. Für Jellinek ist dann „die erste und einzige Verfassungsurkunde, die England je gehabt hat“, nämlich Cromwells Instrument of Government von 1653, zugleich auch die erste Verfassung im formellen Sinn.173 Hierauf sei dann auch die Theorie der höheren Kraft des Verfassungsvertrages zunächst in England durch Hobbes und Locke ausgearbeitet worden. Es ist lediglich das positive Verfassungsgesetz, was seinen Vorrang gegenüber dem einfachen Recht behaupten muß. Jellinek erkennt auch die Bindung der Krone an diese Gesetze und erinnert auch hier an Bractons berühmtes „lex facit regem“174. Mit Gneist betont er den Ursprung dieses Grundsatzes in der „germanischen Rechtslogik“. Dies interessiert Jellinek vor allem auch hinsichtlich der Bindung bei Gesetzesänderungen. Auch hier werden die Bedeutung der Petition of Rights und der Bill of Rights für diesen Grundsatz gewürdigt. Deutlich arbeitet er den Vorrang der „Laws“ vor den Verordnungen heraus.175 Jellinek gibt dem Begriff des „Law“ jedoch eine stärker gesetzes-positivistische Wendung im deutschen Sinn, wenn er auch dort das Gesetz als Ausdruck des Volkswillens versteht und in der Verfassungstheorie eine Konzentration auf den formellen Gesetzesbegriff ausmacht.176 Seine voluntaristische, gesetzespositivistische Perspektive wird dann aber der menschlichen Freiheit nur um der Existenz der Gemeinschaft und des allgemeinen Interesses willen und nur durch den allgemeinen Willen stattfinden dürfe. … Von dem materiellen Gesetzesbegriff ausgehend, kommt die constitutionelle Theorie zu der Forderung, dass neue mit Bewusstsein geschaffene Rechtssätze nur auf dem Wege der formellen Gesetzgebung zu Bestandtheilen der geltenden Rechtsordnung erhoben werden dürfen“. 172 Jellinek 1959, S. 510; 1898, S. 13 f.; in den Staatenverbindungen äußert sich Jellinek freilich noch sehr kritisch zur Entstehung von Staat oder Verfassung aus einem Vertrag und auch zum Mayflower-Compact, S. 257: „durch Vertrag kann man keinen höheren Willen über sich und keinen selbständigen Willen neben sich hervorbringen. … Denn wo kein höherer Wille vorhanden ist, der den Vertrag zu einem dauernden; von der Willensänderung der Vertragschliessenden unabhängigen macht, besteht der Vertrag nur so lange, als es mit den höchsten Interessen der Contrahenten, die natürlich immer particulärer Natur sind, verträglich ist“. Das gilt auch für den amerikanischen Bundesstaat – alles andere sei Volklore: „Alle Versuche, die Entstehung des Bundesstaates aus einem Vertrage der Gliedstaaten abzuleiten, müssen misslingen, weil es unmöglich ist, die Entstehung des Staates juristisch zu construiren. Der Staat als Voraussetzung der Rechtsordnung kann nicht durch einen Satz der erst von ihm Sanction empfangenden Ordnung erklärt werden“. 173 Jellinek 1959, S. 512. 174 Jellinek 1887, S. 12. 175 Jellinek 1887, S. 22 f. 176 Jellinek 1887, S. 47: „Die alten im common law sanktionirten, seit Jahrhunderten im Volksbewusstsein lebendigen Rechtssätze von dem über dem Könige stehenden, seinem Inhalt nach auf die allgemeine Volksüberzeugung oder die Petition des im Parlament repräsentirten Volkes zurückzuführenden Gesetze, lassen in England die Ueberzeugung entstehen, dass das Gesetz Volkswillen sei, welche in dem grossen Kämpfe gegen die Stuarts dahin fortschreitet,

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dadurch unterstrichen, daß er erst Rousseau das Privileg zugesteht, den vollständigen Begriff des Gesetzes geprägt zu haben.177 Damit gerät zwar die in der volontè generale liegende Allgemeinheit in den Blick; die Einbettung der „Laws“ in ein System von Checks-and-Balances – ein zentrales Element der Rule of Law – gerät jedoch dabei verloren, was Jellinek durchaus erkennt. Locke wiederum trage den Gedanken der Unterscheidung von gesetzgebender, vollziehender und föderativer Gewalt, sowie ihre Zuordnung durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, insbesondere des Vorrangs des Gesetzes bei.178 Zugleich sei dieser Realist genug, im Bereich der Prärogative selbständige Verordnungen, die gesetzesvertretend sind, anzuerkennen. Darin sei er Montesquieu überlegen, der nur die Vollzugsverordnung kenne. Jellineks positivistischer Realismus und Pragmatismus zeigt sich auch, wenn er begrüßt, daß die Engländer zwar grundsätzlich von der Rechtsbindung der Regierung ausgegangen seien, jedoch „auch die offenbarsten Verletzungen ihres öffentlichen Rechtes durch juristische Deduktionen als legitim hinzustellen“ würden179 – in diesen Gedanken weht noch immer der Geist der Indemnitätsvorlage im Preußischen Verfassungskonflikt. In der 1900 erstmals erschienenen Allgemeinen Staatslehre wird die Rechtsstaatsidee zum deutschen Pendent der englischen Lehre von den Checks-and-Balances und der französischen von der Gewaltenteilung: „Die englische Lehre von den „checks and balances“, die französische von der Gewaltenteilung, die deutsche vom Rechtsstaat, sie alle haben den letzten Zweck, die nun einmal nicht zu beseitigende Eigenmacht der obersten Staatsorgane in feste Schranken zu bannen“180. Hier führt er auch weitere materielle Elemente der Rule of Law wie das Rückwirkungsverbot und die den Vorrang der Verfassung an.181 Dieser Vorrang habe „auf einer höheren Stufe der Entwicklung“ auch die Entstehung einer Verfassungsgerichtsbarkeit zur Folge, die diesen Vorrang auch gegenüber dem Gesetzgeber durchsetze.182 Positiv würdigt er auch die Bedeutung der umfassenden Kompetenzen des Supreme Courts – in der Folge von Marbury v. Madison auch zur Kontrolle des Gesetzgebers – für die Sicherung des Vorrangs der Verfassung,183 die England nicht aufwei-

dass es seiner Natur nach Volkswille sein müsse. In der in England sich entwickelnden constitutionellen Theorie wird das Schwergewicht auf den formellen Gesetzesbegriff gelegt“. 177 Jellinek 1887, S. 51, S. 54: „So finden wir denn bei Rousseau in der denkbar schärfsten Weise den Begriff des materiellen Gesetzes erörtert, die Möglichkeit bloss formeller Gesetze klar erkannt, die Natur derselben als Verwaltungsakte bestimmt“. 178 Jellinek 1887, S. 67. 179 Jellinek 1887, S. 300 f., vgl. auch S. 305 und öfters. 180 Jellinek 1959, S. 362. 181 Jellinek 1959, S. 373: Rückwirkende Gesetze „verstoßen nach heutiger Rechtsanschauung gegen anerkannte Rechtsgrundsätze, die dem englischen Recht als Basis dienen; sie stehen in Widerspruch mit dem Teil des common law, von dem die Engländer oft behauptet haben, daß es selbst durch Parlamentsstatut nicht geändert werden könne“. 182 Jellinek 1959, S. 373.

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sen konnte.184 Auch ergeben sich daraus Konsequenzen für die Änderung der Verfassung selbst. Immer wieder spricht er die Möglichkeit der Verfassungsänderung an185 und hebt die Bedeutung der Grenzen der Verfassungsänderung und des Mehrheitsprinzips für den Schutz des Individuums und von Minderheiten gerade in der amerikanischen Verfassung hervor.186 Besonders interessieren Georg Jellinek die subjektiven öffentlichen Rechte. Wie zuvor schon von Gneist, so verweist auch Jellinek auf die „altgermanische Anschauung von der Priorität eines Individualrechtes, das der Staat nicht schafft, sondern nur anerkennt“187. Dies sei die Grundlage der Anerkennung der Menschenrechte geworden. Während die damit gegebene Beschränkung für den christlichen Staat aus seiner dienenden Funktion folge und zu einem Recht der Bekenntnisfreiheit geführt habe, hätten die Engländer schon zuvor „die alten Rechte und Landesfreiheiten durch ausdrückliche Normierung und Anerkennung von seiten des Königs in der Petition of Right (1628) und in der Bill of Rights (1689) gegen jeden Zweifel und Angriff“ sicherstellen wollen. Sie seien „Vorboten des Gedankens, die gesamten öffentlichen Rechte des einzelnen zu kodifizieren“188; aber eben nur Vorboten. Erst in Amerika sei die Gewissensfreiheit als allgemeines Menschenrecht anerkannt worden. Blackstone habe für die englische Theorie die Verbindung der Naturrechtslehre mit den Rechten der Bill of Rights zu echten Menschenrechten entdeckt.189 An der englischen Fassung der Menschenrechte kritisiert er jedoch, daß sie lediglich als Vereinbarungen zwischen den Ständen gelten würden. In der Petition of Right sei die Bindung des Königs an die bestehenden Gesetze und Gewohnheiten Englands bei seiner rechtsetzenden Tätigkeit bekräftigt worden.190 Dies und die darauf folgenden Rechteerklärungen seien jedoch typisch mittelalterliche zweiseitige Rechtsgeschäfte und keine Verfassungen im formellen Sinn.191 Nicht in England und auch nicht in Frankreich, sondern in der Virginia Bill of Rights seien erstmals

183 Jellinek 1885, S. 55 f. und schließt daran die Feststellung (S. 60): „Ein Bundesstaat ohne Verfassungsgericht ist kein Rechtsstaat im vollen Sinne“, vgl. auch 1906, S. 16 f.; hier sieht er aber auch Schattenseiten: Jellinek 1959, S. 615. 184 Zum britischen Supreme Court vgl. von Sydow 2004 S., 65 ff. 185 Jellinek 1898, S. 14 ff. 186 Jellinek (N 185), S. 25. 187 Jellinek 1959, S. 411. 188 Jellinek 1959, S. 411. 189 Jellinek 1959, S. 413; 1892, S. 1. 190 Jellinek 1959, S. 411 f. 191 Jellinek 1959, S. 508 u. 518: „In diese Bills of Rights sind aber nicht nur die Freiheitsrechte, sondern auch die Grundzüge der übrigen subjektiven öffentlichen Rechte des Individuums aufgenommen. Ferner sind die Prinzipien der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung, der Zeitigkeit der Staatsämter, der Verantwortlichkeit ihrer Inhaber sowie manche Rechtssätze, die nur indirekt im Zusammenhang mit subjektiven Rechten stehen, in ihr enthalten, so daß auch in ihnen noch der altenglische Gedanke nachklingt, der die Verfassung in erster Linie als ein ius inter partes, demnach als wesentlich subjektive Rechte begründend auffaßt“.

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die allgemeinen Menschenrechte in eine angemessene Form gebracht worden. Deren Art. 16 mit dem Schutz der Religionsfreiheit war für Jellinek das Geburtsrecht der positivierten Menschenrechte.192 Die Franzosen stimmten zwar in wichtigen Punkten mit den amerikanischen Rechteerklärungen überein;193 die Bestimmung der negativen Freiheitsrechte dankten sie jedoch den Amerikanern.194 Die Zentralität der negativen Freiheitsrechte war daraus begründet, daß nach der amerikanischen Theorie subjektiver Rechte, der einzelne eine vorstaatliche Freiheit besaß, an die der Staat nur beschränkend, nicht aber begründend herantreten konnte.195 Bei alledem entfernen sich jedoch Rule of Law und Rechtsstaat weiter als bei von Mohl und von Gneist. Die Elemente der Rule of Law spielen zwar auch eine Rolle im Rechtsstaatsprinzip; aber der Fundierungszusammenhang von Recht und Staat wird umgekehrt. Das zeigt sich gerade bei der Auseinandersetzung mit der Amerikanischen Unabhängigkeit und der US-Verfassung. Ihre Grundlage sieht er im Gefühl der Verbundenheit der Auswanderer und der Notwendigkeit ihrer Assoziation, nicht aber im Vertragsschluß.196 Lehren vom Staatsvertrag lehnt er vielmehr mit großer Konsequenz ab, auch wenn er ihre politische Wirksamkeit im 18. Jahrhundert anerkennt.197 Mit dem staatsrechtlichen Positivismus hält Jellinek daran fest, daß der Staat vor dem Recht da sein muß, weil sonst kein Über- und Unterordnungsverhältnis, das für ihn noch konstitutiv für den Staat ist, möglich sei. Diese selbständige Sphäre des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Gruppen unterscheide den modernen Staat von der föderalen, auf wechselseitigen vertraglichen Anerkennungsverhältnissen der Stände gegründeten mittelalterlichen Rechtsordnung. Daß mit der Herauslösung des Menschen aus den ständischen Bindungen, der Anerkennung seiner individuellen Würde und Freiheit zugleich eine Neubegründung des Vertragsgedankens und damit einer rechtlichen Staatsbegründung möglich wird, schließt er noch aus.

Brugger 2011a, S. 217 ff. Jellinek 1919, S. 32: „In einem Punkte … und zwar dem allerwichtigsten, treffen Amerikaner und Franzosen völlig zusammen, in der Aufstellung fester Schranken für die Staatsgewalt“. 194 Jellinek 1919, S. 32: „In dieser Aufstellung spezieller Freiheitsrechte sind aber die Franzosen ganz von den Amerikanern abhängig. Den amerikanischen Normen gegenüber haben die Franzosen nicht einen einzigen originellen Rechtsgedanken gehabt“. 195 Jellinek 1919, S. 36: „Die amerikanischen bills of rights wollen nicht nur gewisse Prinzipien für die staatliche Organisation aufstellen, sondern vor allem die Grenzlinie zwischen Staat und Individuum ziehen. Das Individuum ist ihnen zufolge nicht erst durch den Staat, sondern durch seine Natur Rechtssubjekt, es hat unveräußerliche, unantastbare Rechte. Davon wissen die englischen Gesetze nichts“. 196 Jellinek 1882, S. 262: „Auch wenn die Puritaner bei Gründung der Neu-Englandstaaten keine Verträge untereinander geschlossen, wenn sie sich nicht feierlich versprochen hätten, sich als Staat zu organisiren und den eingesetzten Obrigkeiten zu gehorchen, die Geschichte der englischen Colonien in Nordamerika wäre auch ohne diese erhebende Ceremonie ihren Weg gegangen“, vgl. auch schon Fn. 66. 197 Jellinek 1959, S. 214 ff., S. 218. 192 193

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V. Englische oder amerikanische Rule of Law? Die Beschäftigung mit der englischen Rule of Law bedeutete für die deutsche Staatsrechtslehre eine naturrechtliche Spurensuche in der Geschichte. So wie Montesquieu die englischen Verhältnisse idealisiert hatte; so war deutschen Autoren die englische Rechtsgeschichte der Beleg für ein historisch realisiertes Naturrecht. Man brauchte nach der kritisch beobachteten französischen Verfassungsentwicklung seit den Revolutionen nach 1789 nicht mehr auf ein philosophisches Naturrecht zu vertrauen, das um so schöner erschien, je weltentrückter es war, sondern konnte auf die allmähliche Entfaltung naturrechtlicher Elemente in der englischen Geschichte verweisen, was dem historistischen, realpolitischen und positivistischen, zugleich ggf. auch liberalen Geist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr entgegenkam.198 In dieses Bild fügt sich auch die Auseinandersetzung mit wesentlichen Elementen der Rule of Law. Von Mohl, von Gneist und Jellinek beklagen gemeinsam die fehlende Systematisierung der Elemente der Rule of Law im Englischen Recht und sehen hier geradezu eine dogmatische Aufgabe der deutschen Rechtswissenschaft für das Rechtswesen auf der Insel. Während von Mohl noch sehr deutlich den Freiheitsbezug und die vorstaatliche Machtbeschränkung des Rechts hervorhebt, stellt von Gneist stärker auf den prozeduralen Aspekt von Friedensrichtern und Selbstverwaltung ab. Jellinek präzisiert hingegen den Gesetzesbegriff, reduziert die Rule of Law auf eine Rule of Laws, der Rechtsstaat wird zum Gesetzesstaat. Daher betont er stärker das auslaufende britische und das aufsteigende amerikanische Modell: Die Rezeption der Zukunft statt derjenigen einer – von allen dreien betonten – gemeinsamen englisch-deutschen Vergangenheit der Rule of Law im germanischen Recht.199 Während von Mohl von der Orientierung an der englischen Rule of Law eine quasinaturrechtliche Fundierung des deutschen Rechtsstaates erhofft hatte, sieht Jellinek in den Vereinigten Staaten von Amerika die Synthese zwischen einer historisch überkommenen und bewährten Rechtsauffassung mit der philosophischen Klärung durch das Naturrechtsdenken und dem in die Zukunft gerichteten demokratischen Impuls. Die Rule of Law hat für ihn dort eine auf den vertragstheoretisch begründeten Willen des Volkes gestützte Freiheitsgestalt erhalten, die der ungeschriebenen englischen Tradition abging. So wie der bei von Mohl noch naturrechtlich verwurzelte Rechtsstaat bei ihm zum Gesetzesstaat geworden ist, so sieht Jellinek, daß im Gesetz zugleich ein Formelement ruht, das das Recht nicht nur zur Bedingung, sondern auch zum Ergebnis der Freiheit machen kann. Nach dem zweiten Weltkrieg pries Gustav Radbruch noch einmal die britische Rule of Law. Hier sei die Eigengesetzlichkeit des Rechts gegenüber dem Staat gesichert. Common Law und Unabhängigkeit der von einem hohen Berufsethos getragenen Richter trügen die „Rule of Law, der sonst nirgends so fest wie dort verbürg198 Gewissermaßen als Mittelweg zwischen dem nicht möglichen amerikanischen Urzustand und dem nicht gewünschten französischen revolutionären Umbruch, Stolleis 1992, S. 99. 199 Kirste 2013, S. 419 f.

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ten Herrschaft des Rechts.“200 Zunehmend treten jedoch auch die Schattenseiten eines eigengesetzlichen Rechts hervor. Der Staat erscheint nicht als Gefahr der Freiheit und des sie schützenden Rechts, sondern als Institutionalisierung des dieses Recht hervorbringenden und legitimierenden demokratischen Prozesses. Auch wenn ihm im Zuge von Internationalisierung und Europäisierung diese Rolle streitig gemacht wird, verfügt er doch gegenwärtig noch über die dafür am besten geeigneten Verfahrensbedingungen.201 Damit verdrängen aber die USA England als Vorbild. Die kraftvollen Institutionen, die in der Neuen Welt die Rule of Law garantieren, wurden als eher mit der Rechtsstaatsidee vereinbar angesehen als die englischen. Entsprechend ist die mittelfristige Perspektive eher eine Annäherung als eine Entgegensetzung des Rechtsstaatsgedankens mit der amerikanischen Rule of Law.202 Meinungen wie diejenige von Heinrich Herrfahrdt, der bei der ersten Staatsrechtslehrertagung nach dem II. Weltkrieg einen deutschen Sonderweg in Sachen Rechtsstaat gegenüber dem „Fremdkörper“ des „liberaldemokratischen Rechtsstaat [s] des Westens“ forderte, blieben Abwege.203 Gerade auch der deutsche Rechtsstaat orientierte sich am amerikanischen durch die – nicht immer spannungsfreie – Verbindung von Demokratie und liberalem Freiheitsmoment.204 Die Vorstellung, der deutsche Rechtsstaat beziehe sich anders als die englische und amerikanische Rule of Law nicht auf die individuelle Freiheit, fand sich freilich auch noch in späteren Arbeiten der Bundesrepublik Deutschland.205 Die Unterscheidung, ja Trennung von Gesellschaft und Staat, die ihrerseits notwendige Voraussetzung der Freiheit der Bürger sei.206 beruhe darauf, daß der Rechtsstaat nicht von der individuellen, sondern von der kollektiven Freiheit oder vom Allgemeinwillen der Bürger getragen sei. Hier spiegelt sich noch einmal die zu Zeiten des staatsrechtlichen Positivismus bestehende Orientierung der Staatskonzeption an der Französischen Tradition207 Radbruch, 1990, S. 110 f. Wenn man nicht auf ein „Law-Making by Law-Braking“ verfallen will, wie dies Goodin 2005, S. 229 für die Etablierung einer „International Rule of Law“ im Wege zivilen Ungehorsams vorschlägt. 202 So daß heute von einem synonymen Gebrauch der beiden Begriffe gesprochen wird, Schulze-Fielitz 2011, S. 2. 203 Herrfahrdt 1950, S. 138 f.: „Unser deutscher Rechtsstaat geht in die ältesten Zeiten zurück, wo der Fürst als Wahrer von Recht und Frieden innere Gegensätze überbrückt, führt dann im Ständestaat zu einem Rechtsschutz durch die Gerichte des Reiches und hat eine moderne Ausprägung vor allem in Preußen erhalten … Dieser Rechtsstaat geht nicht, wie der des Westens, von der Freiheit des Individuums aus, sondern von der Ordnung der Gemeinschaft … Die leitende Idee dieser Ordnung ist der gerechte Ausgleich zwischen den verschiedenen Gliedern des Volkes (‚suum cuique‘) … Die für den Westen charakteristischen Forderungen der Freiheit des Individuums und der Gesetzgebung durch den Volkswillen waren dem deutschen Rechtsstaat von Hause aus fremd“. 204 Anders und unzutreffend Herrfahrdt 1950, S. 141. 205 Maier 1986, S. 294 f. Dagegen zutreffend und differenziert zu den Freiheitsmodellen der Rule of Law, Tamanaha 2004, S. 33 ff. 206 Böckenförde 1973. 207 Heyen 1996, S. 181 zu Otto Mayer. 200 201

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und die Ablehnung der als zu den deutschen Verhältnissen angeblich nicht passenden anglo-amerikanischen Rechts- und Staatsauffassung. Von hier her erklären sich die auch heute noch bestehenden Auffassungen von der Entgegensetzung einer Gesellschaft und Staat durchdringenden Rule of Law einerseits im Verhältnis zu einem die Trennung von Staat und Gesellschaft sichernden Rechtsstaat andererseits.208 Der demokratische Rechtsstaat – das beweist gerade das amerikanische Modell – kann jedoch durchaus nicht weniger das Recht für die Freiheit als die Freiheit für das Recht mobilisieren. Will der Rechtsstaat kein paternalistischer Rechtsgewährungsstaat sein wie im Konstitutionalismus, sondern die Bürger selbst an der Begründung ihrer Rechte teilhaben lassen, dann muß er ein demokratischer Staat sein und dann muß auch die Demokratie aus der Freiheit rekonstruiert werden. Will umgekehrt die Demokratie nicht despotisch werden, muß sie sich selbst an vorgängiges Recht, insbesondere an Grundrechte binden. Weder ist der Rechtsstaat vor dem Recht da, wie manche konstitutionellen Auffassungen meinten, noch ist das positive, durch die Rechtsunterworfenen legitimierte Recht ohne den Staat da, wie es der englischen Rule of Law entspricht. Beide sind vielmehr aus der Freiheit selbst zu begründen. Das schließt Probleme im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und Demokratie nicht aus, wie das Problem der „Countermajoritarian Difficulty“ zeigt; also das Problem, daß demokratische Mehrheitsentscheidungen des Congress’, die von einem Großteil der Bevölkerung getragen sind, von einem Richterspruch des Supreme Courts für ungültig erklärt werden können.209 Deshalb müssen Mechanismen in die Verfassung eingebaut werden, wie in Momenten des „Higher Lawmaking“ auch die Vorgaben des höheren Rechts selbst geändert werden können.210 In dieser Perspektive nähern sich Rule of Law und Rechtsstaat an,211 ohne völlig zu verschwimmen.212 Es ist ein konsequenter Ausdruck dieses Zusammenwachsens der beiden Prinzipien, wenn der EUV in Art. 2 unter den europäischen Werten „Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ anführt und dies in der Englischen Fassung „human dignity, freedom, democracy, equality, the rule of law and respect for human rights“ lautet.213

Böckenförde 1991, S. 143 ff. Bickel 1962. 210 Kirste 2008, S. 35 ff.; zum „Higher Lawmaking“ in einem weiten, auch verfassungsrichterliche Rechtsfortbildung umfassenden Sinn vgl. Ackerman 1993, S. 266 ff. 211 Das wird besonders deutlich, wenn etwa Kay (1998, S. 26 f.) annimmt, „Rule of Law values will be the state’s outstanding features“ und dazu dann insbesondere Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit rechnet. 212 Etwa in der Gewichtung der Bedeutung des Gesetzes, Lepsius 1997, S. 301; dazu auch Brugger 2001, S. 212 ff. 213 Hierzu auch Schulze-Fielitz 2011, S. 3 f.: „Rechtsstaatlichkeit als Basis der Europäischen Union“. 208 209

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Summary The article investigates the reception of elements of the rule of law during the foundation period of the theory „Rechtsstaat“ in the 19th century. It is remarkable that some of the most important theorists of the „Rechtsstaat“ were at the same time scholars in the comparative studies of law: Robert von Mohl, Rudolf von Gneist and Georg Jellinek. Significantly, they were mostly interested in the English and increasingly in the US-American legal orders. The concepts of the rule of law and the legal state have common roots, but developed in times nearer or more distinct to each other. Initially, when in the late 18th century and beginning 19th century the theory of the „Rechtsstaat“ was influenced by natural law concepts, it shared many elements with the rule of law. Only under the influence of German public law positivism, which was in part in its comparative studies more oriented towards France, the concepts of the rule of law and „Rechtsstaat“ were opposed to each other. Under the influence of European and International law these differences have nearly vanished today and concentrate, perhaps, only on the function of parliamentary laws. – Before the background of a short sketch of the development of the rule of law in England and the US, and some remarks about Anglo-American conceptions of the relation of the rule of law and the „Rechtsstaat“, the article depicts the developments of the reception of the rule of law in German legal thought in the 19th century and draws some conclusions about their present relation.

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Demokratie, Recht und Religion Das Rechtsstaatsprinzip aus evangelisch-theologischer Sicht Ulrich H. J. Körtner

I. Kernelemente und Voraussetzungen des Rechtsstaatsprinzips Der moderne demokratische Rechtsstaat ist ein säkulares Gemeinwesen. Auch wenn es in der Präambel des deutschen Grundgesetzes heißt, das Deutsche Volk habe sich dieses Grundgesetz in der Verantwortung vor Gott und den Menschen gegeben, ist doch nicht Gott, sondern eben das Volk das Subjekt der Gesetzgebung. Der Staat des Grundgesetzes ist freilich nicht bloß in formeller Hinsicht ein Rechtsstaat. Er setzt vielmehr voraus, dass das Recht als solches unabhängig vom Staat besteht und diesem vorgeordnet ist. Diese Überzeugung bringt das im Grundgesetz verankerte Rechtsstaatsprinzip zum Ausdruck. Auch wenn es nicht ausdrücklich so genannt wird, findet es sich doch in Art. 20 GG. Abs. 1 bestimmt die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen und zugleich sozialen Bundesstaat. Nach Abs. 2 geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, wobei Satz 2 die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion festschreibt. Gemäß Abs. 3 ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, Exekutive und Jurisdiktion an Gesetz und Recht gebunden. Dass das Recht eigens neben dem Gesetz erwähnt wird, deutet darauf hin, dass es unabhängig vom Staat besteht und diesem vorgeordnet ist. Den Kern des Rechts bilden Menschenwürde und Menschenrechte bzw. die Grundrechte, die gemäß Art. 19 GG zwar durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden können, in ihrem Wesensgehalt jedoch nicht angetastet werden dürfen. Änderungen des Grundgesetzes, welche die in Art. 1 und 20 GG formulierten Grundsätze berühren, sind nach Art. 79 Abs. 3 GG ebenso unzulässig wie Grundgesetzänderungen, welche die föderale Struktur der Bundesrepublik antasten. Zusammengefasst bilden die Anerkennung der unveräußerlichen Menschenwürde und der allen Menschen angeborenen Grundrechte, die Gründung des Staates auf dem Recht, die Gewaltenteilung und der Vorrang des Gesetzes vor der Exekutive und der Jurisdiktion die Kernelemente des Rechtsstaatsprinzips. Hinzu kommen Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot sowie das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Das Grundgesetz und sein Rechtsstaatsprinzip weisen darauf hin, dass der freiheitliche und säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde, der in diesem Zusammenhang regelmä-

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Ulrich H. J. Körtner

ßig zitiert wird, handelt es sich um die moralische Substanz der Individuen wie auch der Homogenität der Gesellschaft, aus der sich die vom freiheitlichen Staat seinen Bürgern gewährte Freiheit von innen her reguliert.1 Die moralische Substanz des Grundgesetzes bildet ein nach 1945 wiederbelebtes Naturrecht, das einerseits sittlich autonom begründet werden kann und andererseits anschlussfähig für eine christlich-religiöse Begründung ist. So speist sich das von Böckenförde vorausgesetzte Ethos der Gesellschaft neben den Quellen der Sitte und der autonomen praktischen Vernunft auch aus religiösen Quellen. Zwei Dinge sind jedoch sogleich kritisch anzumerken. Erstens mag es wohl sein, dass das Rechtsstaatsprinzip heute auf ökumenische Zustimmung zählen kann.2 Historisch ist allerdings festzustellen, dass die Kirchen bis ins 20. Jahrhundert der modernen Demokratie distanziert bis offen ablehnend gegenüberstanden. In Deutschland hat die Evangelische Kirche erst 1985 in einer Denkschrift auf umfassende Weise und mit theologischen Gründen ihre Zustimmung zur Verfassungsform der Demokratie formuliert.3 Die römisch-katholische Kirche bekennt sich in ihrem Weltkatechismus zwar zu einem formalen Rechtsstaatsprinzip, wonach das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrschen soll,4 lässt aber die Frage nach der konkreten Regierungsform ausdrücklich offen. Sehr allgemein gehalten heißt es, dass unterschiedliche Regierungsformen moralisch akzeptabel seien, „sofern sie zum rechtmäßigen Wohl der Gemeinschaft, die sie annimmt, beitragen. Regierungen, deren Wesen dem natürlichen Sittengesetz, der öffentlichen Ordnung und den Grundrechten der Person widerspricht, können das Gemeinwohl der Nationen, denen sie aufgezwungen wurden, nicht verwirklichen.“5 Wohl müssen „die Bestimmung der Regierungsform und die Auswahl der Regierenden“, wie schon das II. Vatikanische Konzil erklärt hat, „dem freien Willen der Staatsbürger überlassen“ bleiben.6 Von Demokratie ist aber im Weltkatechismus nicht ausdrücklich die Rede. Zweitens ist kritisch anzumerken, dass Böckenfördes Theorem das Problem des ethischen, weltanschaulichen und religiösen Pluralismus unterschätzt. Im Anschluss 1 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (stw 914), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 112. Böckenförde spricht übrigens nicht vom säkularen, sondern vom säkularisierten Staat. 2 Vgl. Wolfgang Lienemann, Art. Rechtsstaat (Theologisch), in: Evangelisches Staatslexikon. Neuausgabe, hrsg. v. Werner Heun u. a., Stuttgart: Kohlhammer, 2006, Sp. 1934 – 1939, hier Sp. 1934. 3 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 31986. 4 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München u. a.: Oldenbourg u. a. 1993, Nr. 1904 (S. 497), im folgenden KK abgekürzt. – Zur katholischen Diskussion über die Staatsform der Demokratie siehe William J. Hoye, Demokratie und Christentum. Die christliche Verantwortung für demokratische Prinzipien, Münster: Aschendorff, 1999. 5 KK, Nr. 1901 (S. 497). 6 Pastorale Konstitution „Gaudium et spes“ 74,3, zitiert nach KK, Nr. 1901 (S. 497).

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an Hegel rechnet Böckenförde mit inneren Antrieben und Bindungskräften, die den Bürgern durch ihren religiösen Glauben vermittelt werden. Stillschweigend setzt er dabei eine mehrheitlich christlich geprägte Gesellschaft voraus. Diese mag durchaus konfessionell plural sein, ist aber doch insoweit homogen, als sich die konfessionellen Gegensätze im Gefolge der Aufklärung und im Zeichen ökumenischer Annäherungen im 20. Jahrhundert abgeschwächt haben. Freilich erweist sich die von Böckenförde unterstellte Homogenität zunehmend als Fiktion. So führt Migration europaweit zu einer Zunahme des muslimischen Bevölkerungsanteils, während die Zahl der Kirchenmitglieder kontinuierlich abnimmt. Im folgenden soll nun ein Einblick in die evangelisch-theologische Diskussion zum Rechtsstaatsprinzip gegeben werden. Zunächst (II.) werden wir grundlegend das Verhältnis von Religion, Recht und Moral beleuchten. Anschließend (III.) soll anhand der bereits erwähnten Demokratie-Denkschrift die heutige evangelische Sicht des Rechtsstaatsprinzips entfaltet werden. Abschließend (IV.) gehen wir der Frage nach, inwiefern auch innerhalb der Kirche Demokratie herrscht und inwieweit im innerkirchlichen Recht eine Analogie zum Rechtsstaatsprinzip besteht.

II. Religion, Recht und Moral Das Verhältnis von Religion und Moral ist seit der Aufklärung ebenso strittig wie dasjenige von Moral und Recht. Es gehört zu den Kernfragen der Rechtsethik, ob das Recht einer moralischen Begründung bedarf und, wenn ja, ob eine moralische Grundlegung des Rechts ihrerseits religiös fundiert sein muss oder nicht. Die Gleichsetzung von Recht und Moral in dem Sinne, dass dasjenige, was als sittlich gefordert gilt, auch im geltenden Recht zu positivieren ist, scheidet für den säkularen und weltanschaulich neutralen Staat grundsätzlich aus. Ebenso fragwürdig ist die gegenteilige These von der vollständigen Trennung von Recht und Moral, so gewiss hinter die Kantische Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität bzw. die Ausdifferenzierung von Recht und Moral in modernen Gesellschaften nicht zurückgegangen werden kann. Diese gilt es in einer pluralistischen Gesellschaft zumindest auch nach Auffassung der zeitgenössischen evangelischen Theologie zu verteidigen. Konzeptionen einer Öffentlichen Theologie wie sie heute im evangelischen Raum vertreten werden,7 begreifen den neuzeitlichen Pluralismus – im Gegensatz etwa zur politischen Theologie Carl Schmitts – nicht als Verhängnis, sondern letztlich als eine Frucht der Reformation. Ein konsequent pluralistischer Gesamtzustand der Gesellschaft, der sich als Folge der in der Reformation geforderten Gewissens- und Glaubensfreiheit verstehen lässt, ist daher auch aus theologischen Gründen zu bejahen.

7 Vgl. dazu Ulrich H. J. Körtner, Politische Ethik und politische Theologie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19, 2011, S. 19 – 33.

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Gegen die rechtspositivistische Trennung von Recht und Moral, wie sie insbesondere von der reinen Rechtslehre Hans Kelsens vertreten wird, hat Gustav Radbruch seine bekannte These gesetzt, dass nur die Moral die verpflichtende Kraft des Rechts begründen kann und dass das gesetzliche Unrecht dem übergesetzlichen Recht weichen müsse, dessen Grundidee die Gleichheit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit umfassende Gerechtigkeit sei. Neuere Entwürfe einer theologischen Rechtsethik8 knüpfen daran an, betonen aber, dass Recht und Moral auch nach theologischem Verständnis unterschieden bleiben. Die moralische Begründung einer prinzipiellen Achtung des Rechts ist nicht mit einer durchgängigen Moralisierung des Rechts zu verwechseln. In Anschluss an Radbruch lässt sich das Recht als Teil der Kultur verstehen. Wie die Kultur insgesamt hat auch das Recht eine Geschichte. Als menschliche Setzung ist es abhängig von einer Kultur und ihren moralischen Grundüberzeugungen, was im Begriff der Rechtskultur und ihrer Geschichte zum Ausdruck kommt. Theologische Theorien des Rechts, die dieser Auffassung folgen, üben Kritik an der vormodernen Auffassung, menschliche Rechtssetzung habe ihre Letztbegründung in einem überzeitlichen göttlichen Recht. Eine solche Vorstellung, die in der Geschichte des Christentums lange Zeit gültig war, basierte auf einem personalistischen Konzept von Obrigkeit und staatlicher Gewalt, die sich als unmittelbar von Gott eingesetzt verstand und einer überzeitlichen Schöpfungsordnung entsprach. Der moderne demokratische Rechtsstaat ist mit der Auffassung, dass alles weltliche Recht von Gott ausgeht, wie sie etwa noch in der Präambel der Verfassung des österreichischen Ständestaates vom Mai 1934 formuliert worden ist, unvereinbar. Das bedeutet freilich nicht, dass religiöse Überzeugungen für die Begründung von Recht und Moral keine Rolle spielen. Welche, ist allerdings Gegenstand einer kontroversen Debatte. Während auf der einen Seite die Forderung erhoben wird, die Vielfalt gesellschaftlich, kulturell und auch religiös geprägter Sichtweisen in moralischen Fragen angemessen zu berücksichtigen, wird auf der anderen Seite die These vertreten, die Vielfalt der moralischen Überzeugungen müsse zumindest insoweit reduziert werden, dass religiöse und weltanschaulich gebundene Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden. Im Ergebnis läuft dieser Vorschlag jedoch auf die Zumutung hinaus, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der öffentlichen Entscheidungsfindung in moralischen Fragen eben jene religiösen Hintergründe verleugnen sollen, aus denen sich ihre moralische Sensibilität speist und die diese Fragen für sie überhaupt erst zu moralischen Fragen machen. Auch nach Jürgen Habermas ist die Säkularisierung der Staatsgewalt nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft zu verwechseln. Der falschen Alternative von aufgeklärtem Universalismus 8 Vgl. Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik. Berlin / New York 1995, S. 567 ff.; ders., Recht in der Kirche des Evangeliums (Ius ecclesiasticum 85), Tübingen: Mohr Siebeck, 2008; ders., Evangelisches Kirchenrecht. Eine Einführung in die theologischen Grundlagen (Bensheimer Hefte 109), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009; Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik, Stuttgart: Kohlhammer 2012.

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und multikulturellem Relativismus hält er entgegen, dass sich das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten erfülle. In den religiösen Traditionen und ihrer Semantik liege ein möglicherweise noch unabgegoltenes Deutungspotential menschlicher Existenz, das durch eine säkulare Sprache – zumindest bis auf weiteres – nicht vollständig ersetzt werde. Habermas denkt dabei etwa an die jüdische und christliche Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die in bioethischen und biopolitischen Zusammenhängen die Unverfügbarkeit des Menschen in einer Weise zum Ausdruck bringe, die der Begrifflichkeit der Menschenwürde in bestimmter Hinsicht überlegen sei. Freilich müssen religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften akzeptieren, dass der politisch relevante Gehalt ihrer Diskussionsbeiträge erst dann in die politischen Entscheidungsprozesse Eingang finden kann, nachdem er in einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängigen Diskurs übersetzt worden ist. In der evangelischen Rechtstheologie des 20. Jahrhunderts lassen sich verschiedene Strömungen ausmachen. Zum einen findet die Theologie der Schöpfungsordnungen ihre Fortsetzung, vor allem in Kreisen eines konservativen Luthertums. Eine Variante ist das Modell der Erhaltungsordnungen. Demnach gehören Staat und Recht nicht zu den Ordnungen der ursprünglichen Schöpfung, sondern sie sind göttliche Ordnungen für die Welt nach dem Sündenfall, die das Böse eindämmen sollen. Zum anderen kommt es nach 1945 unter dem Eindruck der Verbrechen des „Dritten Reiches“ zu einer Renaissance des Naturrechts, vor allem in der katholischen Theologie, mit gewisser Zurückhaltung aber auch im Protestantismus. Karl Barth und seine Schüler vertreten eine christologische Begründung des Rechts. Barth selbst behauptet einen positiven Zusammenhang zwischen der Rechtfertigung des Sünders durch Gott und der menschlichen Rechtsordnung. Seine Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde ordnet Kirche und Staat nach dem Modell konzentrischer Kreise zu, in deren Mittelpunkt Christus steht. Der Staat und sein positives Recht stehen demnach ebenso wie die Kirche unter der Herrschaft Christi. Natürliche Gotteserkenntnis und Naturrechtstradition werden auf diese Weise radikal verabschiedet. Vom Evangelium her deutet Barth die weltliche Rechtsordnung als Instrument der göttlichen Gnade. Sein Gedanke einer analogia fidei besagt, dass Gott und Mensch durch Jesus Christus im Glauben zur Entsprechung gebracht werden. Für den Staat und das positive Recht bedeutet dies, dass diese als Gleichnisse für die göttliche Gnade in Anspruch genommen werden. Die weltliche Rechtsordnung ist nach Barths Auffassung ebenso gleichnisfähig wie gleichnisbedürftig für die göttliche Gerechtigkeit. Wie Barths eigene Konzeption stehen auch von ihm inspirierte Konzepte wie das der „biblischen Weisungen“9 oder der auf göttlichen Willen zurückgehenden Institutionen10 in der Gefahr, das positive Recht theologisch zu überhöhen. Martin Hone-

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Erik Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, Tübingen: Furche-Verlag 1948.

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cker und Hartmut Kreß verweisen demgegenüber auf die Kulturbestimmtheit des Rechts. Der Naturrechtstradition wird ein gewisses Wahrheitsmoment zugestanden, jedoch nur in der abgeschwächten Form eines „geschichtlichen Naturrechts“ (Kreß). Während Honecker mit Böckenförde das Recht als Vermittlungsinstanz zwischen Ethik und Politik interpretiert, übt Kreß an Böckenfördes Modell berechtige Kritik. Die Frage stellt sich dann freilich, inwieweit eine kulturalistische Rechtsauffassung noch auf verallgemeinerungsfähige Maßstäbe der praktischen Vernunft rekurrieren kann. Skeptisch gegenüber vernunftrechtlichen und gerechtigkeitstheoretischen Begründungen des positiven Rechtes zeigt sich Eilert Herms.11 Er deutet das Recht freilich sehr einseitig als Zustand institutionalisierter Gewalt. Die Rechtsordnung sei aber darauf angewiesen, durch die gesellschaftlichen Akteure sittlich qualifiziert zu werden, deren religiös-weltanschaulichen Überzeugungen plural sind. Wolfhart Pannenberg sieht einen strukturellen Zusammenhang zwischen Recht und Liebe, weil es sich in beiden Fällen um Erscheinungsweisen wechselseitiger Anerkennung handelt.12 Sein Versuch, eine Theorie der Anerkennung mit kulturanthropologischen Erwägungen zu verbinden, läuft freilich darauf hinaus, den weltanschaulich neutralen Staat auf ein christliches Menschenbild und den Schutz traditioneller Lebensformen zu verpflichten. Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter vertreten demgegenüber das Modell einer kritischen Rechtsethik, das sich grundlegend am Begriff der kommunikativen Freiheit orientiert.13 Als kommunikative Freiheit interpretiert Huber die Freiheit eines Christenmenschen im Sinne Luthers, die ihrerseits in der Kommunikationsgemeinschaft des dreieinigen und in Christus menschgewordenen Gottes mit dem Menschen gründet. Während die Moderne nach der Aufklärung Freiheit in erster Linie als Recht deutet, das mit den Kategorien von Anspruch und Abgrenzung verbunden ist, bzw. als vom Menschen selbstgemachte und selbst hergestellte Freiheit, deutet Huber die menschliche Freiheit, welche im christlichen Glauben gründet, als Gabe, die nur im Zusammenleben mit anderen realisiert werden kann. Weil der Mensch nur durch die Liebe im anderen zu sich selbst kommen kann, gehören nach Huber nicht nur Freiheit und Liebe, sondern auch Freiheit und Gerechtigkeit sowie Freiheit und Verantwortung unlöslich zusammen. Die Auslegung der Einheit von Freiheit und Verantwortung oder Gehorsam geschieht bei Huber in Form einer Ethik der Institutionen, zu denen auch die Kirche zu rechnen ist. In Abgrenzung von Arnold Gehlen, aber auch von Ernst 10 Vgl. Hans Dombois, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht. 3 Bde. Witten / Bielefeld 1961 / 1974 / 1983; Ernst Wolf, Sozialethik. Theologische Grundlagen (UTB 1516), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 31988. 11 Vgl. Eilert Herms, Gewalt und Recht in theologischer Sicht, in: ders., Gesellschaft gestalten, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 125 – 145. 12 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Zur Theologie des Rechts, in: ders., Ethik und Ekklesiologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1977, S. 11 – 40. 13 Vgl. Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1996; Hans-Richard Reuter, Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion (Öffentliche Theologie 6), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996.

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Wolf, betrachtet Huber die Institutionen nicht einfach als vorgegebene Gestalten und Verwirklichungen menschlicher Freiheit, sondern diese ist der Geltungsgrund von Institutionen. Sie sind also ethisch daran zu messen, inwiefern sie tatsächliche Freiheit ermöglichen und zugleich – im Sinne ihrer Selbstbegrenzung – die Unverfügbarkeit des Menschen und seiner Würde achten, für die der biblische Begriff der Gottebenbildlichkeit steht. Die kommunikative Freiheit wird in den Menschenrechten konkret, welche einerseits begründungsoffen und andererseits begründungsbedürftig sind. Sie können christlich ausgelegt und angeeignet werden, ohne einseitig aus dem Christentum abgeleitet und für dieses vereinnahmt zu werden.

III. Evangelische Kirche und Demokratie Die Emanzipation des Staates von Kirche und Theologie ist die Grundlage aller modernen Staatstheorien. Zumindest in dieser Hinsicht ist die Säkularisierung in Europa eine Realität und ein unumkehrbarer Vorgang. Moderne Staatstheorien kommen darin überein, dass sie Staatszweck und Staatsziele rein innerweltlich und nicht religiös begründen. Der Staat beruht demnach nicht auf einer Setzung Gottes, wie dies vor der Aufklärung auch von evangelischer Theologie und Kirche behauptet wurde, sondern auf dem Willen seiner Bürger. Die Entstehung des neuzeitlichen Staates fällt ins 16. Jahrhundert, also ins Zeitalter der Reformation. Die Idee vom Staatsvertrag und die Vorstellung unveräußerlicher Menschenrechte gehen allerdings auf spätmittelalterliche Vertragstheorien und die Renaissance zurück. Die reformatorische Zweireichelehre hat am Entstehen moderner Staatstheorien jedoch zumindest insofern Anteil, als sie zur Entklerikalisierung der Gesellschaft führt. Der Anteil der Reformation, ihres Gedankens vom Priestertum aller Gläubigen sowie des reformierten Bundesgedankens am Entstehen der modernen Demokratie ist differenziert zu beurteilen. Eine direkte Herleitung moderner Demokratie aus der presbyterialen und synodalen Verfassung evangelischer Kirchen, wie sie zunächst in reformierten Gebieten entwickelt wurde, ist historisch nicht haltbar. Der calvinistische Bundesgedanke führte in der Reformationszeit keineswegs zu einer demokratischen Gemeinschaftsform, sondern begünstigte ein theokratisches Gesellschaftsmodell mit einem rigorosen Gemeinschaftsethos. Sehr wohl aber gab der „linke Flügel“ des Puritanismus, zu dem die Kongregationalisten, die Baptisten, die Seeker und die Quäker gerechnet werden, dem Bundesgedanken eine demokratieanaloge Wendung.14 Staat und staatliche Gewalt werden von der Reformation grundsätzlich bejaht. Das gilt sowohl für die lutherische als auch für die reformierte Tradition. Politische Ordnung, Recht und Autorität gelten als gute Ordnung Gottes. Hierbei beruft man sich auf das biblische Zeugnis. Auch die katholische Staatslehre sieht den Staat im 14 Vgl. Heinz Eduard Tödt, Art. Demokratie I. Ethisch, in: TRE 8, Berlin / New York: de Gruyter, 1981, S. 432 – 452, hier S. 437.

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Willen des Schöpfers begründet, der mit der Naturordnung als Seinsordnung gleichgesetzt wird. Auch wenn das Luthertum bis ins 20. Jahrhundert die Monarchie favorisiert hat, steht doch nicht die Staatsform als solche, sondern die Aufgabe staatlicher Gewalt, nämlich ihre Abwehrfunktion gegenüber dem Bösen, im Zentrum der Lehre von den zwei Regimentern oder Zwei Reichen. Ihre Stoßrichtung ist gegenüber der älteren katholischen Staatslehre in der bereits angesprochenen Entklerikalisierung von Politik und Gesellschaft zu sehen, wenngleich diese in den Zeiten des landesherrlichen Kirchenregiments durchaus verdunkelt werden konnte. Zu den dunklen Kapiteln der Geschichte des evangelischen Staatsverständnisses in Deutschland gehören auch ein übersteigerter Nationalismus, die Glorifizierung des Staates, die bis 1945 sich haltende Kritik an Demokratie, Parlamentarismus und Menschenrechten sowie schließlich auch in der Zeit des Nationalsozialismus die Zustimmung zur Diktatur und zum totalen Staat. Eine Neubesinnung erfolgte nach dem 2. Weltkrieg nicht zuletzt unter dem Eindruck des Kirchenkampfes und der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, deren 5. These die absolute Macht des Staates in Abrede stellt, jedoch keine theologische Staatslehre enthält. Karl Barth hat diese mit seiner Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde und seinem Modell der Königsherrschaft Christi nachliefern wollen.15 Ein positives Verhältnis zur Demokratie hat deutlich früher der westliche, also reformierte Protestantismus entwickelt. Allerdings war er „im Grunde nur deshalb an der demokratischen Staatsform interessiert, weil diese die sogenannten unveräußerlichen Rechte des Menschen am ehesten zu schützen in der Lage ist“16. Weder Zwingli noch Calvin haben den Gedanken der Souveräntität des Volkes vertreten oder theologisch zu begründen versucht. Die eigentliche Ausbildung demokratischer Traditionen im westlichen Protestantismus geschah nicht auf dem europäischen Kontinent, auch nicht in den Anfängen der europäischen Kolonialisierung Nordamerikas, sondern in England, nämlich im Puritanismus und den aus ihm hervorgegangenen Gruppen. Joachim Staedtke rechnet zum gemeinsamen Erbe des englischen Protestantismus der Revolutionsepoche, „daß hier die enge Verknüpfung der Souveränität des Rechtes mit der Souveränität des Volkes geistig konzipiert wurde“17. Im deutschsprachigen Protestantismus sollte es allerdings bis nach 1945 dauern, bis die Kirchen zu einer grundsätzlichen Bejahung der modernen demokratischen Staatsform fanden. Wie schon oben erwähnt, hat die Evangelische Kirche in Deutschland erst 1985 in ihrer Denkschrift Evangelische Kirche und freiheitliche

15 K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: ders., Rechtfertigung und Recht / Christengemeinde und Bürgergemeinde (ThSt 104), Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 3 1984, S. 49 – 82. 16 Joachim Staedtke, Demokratische Traditionen im westlichen Protestantismus, in: Theodor Strohm / Heinz-Dietrich Wendland (Hrsg.), Kirche und moderne Demokratie (WdF 205), Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1973, S. 346 – 369, hier S. 347. 17 Ebd., S. 367.

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Demokratie grundlegend zum demokratischen Rechtsstaat Stellung bezogen.18 In diesem Dokument wird die Staatsform der freiheitlichen Demokratie bejaht und vom Evangelium her anderen Staatsformen vorgezogen. Gleichzeitig stellt die Denkschrift fest, dass die Demokratie eine beständige Aufgabe ist, an der sich nicht nur alle Bürger zu beteiligen haben, sondern auch die Kirche. In ihren drei Hauptteilen entfaltet die Denkschrift zunächst ein evangelisches Verständnis von Demokratie (I.), erörtert sodann Grundelemente des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates (II.) und bezieht abschließend zu den Herausforderungen Stellung, vor die sich die Demokratie in der Gegenwart gestellt sieht (III.). Die Denkschrift setzt voraus, dass der gegenwärtige Staat aus einer geschichtlichen Entwicklung hervorgegangen ist, zu der auch die Lehren aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gehören. Der theologische Zugang zur politischen Ethik wird nicht über die Gotteslehre, sondern über die Anthropologie gesucht. Die grundlegende Bestimmung für alle weiteren Überlegungen ist die Menschenwürde. Statt den Staat unmittelbar auf eine göttliche Setzung zurückzuführen, ist das Kriterium der Denkschrift zur Beurteilung unterschiedlicher Staatsformen, welche von ihnen der Menschenwürde und den mit ihr verbundenen Menschenrechten am besten entspricht und sie am besten schützt. Das aber ist nach Überzeugung der Autoren die freiheitliche Demokratie mit ihrem Rechtsstaatsprinzip, d. h. den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Anerkennung der Würde, der Freiheit und der Gleichheit aller Bürger. Hieraus folgt das Gebot der politischen und sozialen Gerechtigkeit, weshalb der demokratische Verfassungsstaat nicht nur als Rechtsstaat, sondern zugleich als Sozialstaat auszugestalten ist. Wie die Denkschrift formuliert, sind die Grundrechte der Ausgangspunkt auch für soziale Verpflichtungen des Staates.19 Wie die Denkschrift hinzufügt, treten zu den Rechten der Bürger nach evangelischem Verständnis aber auch Pflichten der Bürger gegenüber der Gesellschaft, die aus dem Gebot und der Verpflichtung zur Nächstenliebe abgeleitet werden.20 In ihrer Geschichte haben protestantische Theologie und Kirche stark die Sündhaftigkeit des Menschen betont und die Aufgabe der Obrigkeit bzw. des Staates vor allem darin gesehen, das Böse einzudämmen und für Frieden zu sorgen. Obrigkeit und Staat wurden als göttliche Anordnung, auch Schöpfungsordnung genannt, verstanden, mit der Gott auf den Sündenfall reagiert. Der Staat wird unter Berufung auf Paulus (Römer 13) vornehmlich als Machtstaat gesehen. In dieser Weise wird zunächst auch der moderne Rechtsstaat gedeutet. Die erwähnte Denkschrift von 18 Zur Neuorientierung der politischen Ethik in der evangelischen Kirche vgl. auch Hartmut Ruddies, Protestantismus in der Demokratie. Bemerkungen zum Verhältnis von Gesellschaft und Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 – 1989, in: Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 6, 1997, S. 209 – 225. 19 Vgl. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (Fn. 3), S. 27. 20 Ebd.

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1985 rückt von dieser Tradition ab. Der Rechtsstaat ist nun der demokratische Verfassungsstaat, für den in gleicher Weise wie für seine Bürger die Verpflichtung zur Rechtsbefolgung besteht, weshalb eine Ethik der Rechtsbefolgung für notwendig gehalten wird.21 Sodann erklärt die Denkschrift, dass die Grundrechte, deren Basis die Menschenwürde ist, „das wichtigste und für den demokratischen Rechtsstaat spezifische Verfassungselement“ sei.22 Gemeinsam sei allen Artikeln des Grundgesetzes, dass sie vom Staat fordern, einen Freiheitsraum für seine Bürger zu respektieren. Ein wesentliches Grundelement des demokratischen Rechtsstaates ist nach Ansicht der evangelischen Kirche die Religions- und Gewissensfreiheit. Ihre Achtung und ihr Schutz werden besonders eingemahnt. Als Lehre aus den Erfahrungen mit einem totalitären System wird dem Staat „eine für ihn unbedingt verbindliche Grenze“ gesetzt.23 Diese Aussage ist eindeutig als Absage an Vorstellungen eines Machtstaates zu lesen. Auch die Gewaltenteilung wird theologisch kommentiert: „Im Licht eines evangelischen Verständnisses des Staates trägt die Gewaltenteilung der Einsicht Rechnung, daß Menschen zum Machtmißbrauch neigen“24. Wurde in der Vergangenheit der Machtstaat sündentheologisch gerechtfertigt, so wird also nun aus der christlichen Sündenlehre die Konsequenz gezogen, dass staatliche Macht zu begrenzen ist. Zur Begrenzung staatlicher Macht gehört auch, dass politische Ämter zeitlich befristet sind. Wie die evangelische Kirche würdigt, tritt der demokratische Verfassungsstaat auf diese Weise „jeder absoluten, zeitlich wie inhaltlichen Machtausübung entgegen und verhindert solchen Machtanspruch“25. Zur Gewaltenteilung merkt die Denkschrift übrigens an, dass in der Verfassungswirklichkeit weniger zwischen Legislative und Exekutive als zwischen Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit auf der einen und Opposition auf der anderen Seite unterschieden wird. Neben den Parteien wird auch die Rolle der Medien in der modernen Demokratie angesprochen. Im weiteren Verlauf spricht die Denkschrift auch Gefährdungen der Demokratie an. Dazu zählen noch immer anzutreffende obrigkeitsstaatliche Verhaltensweisen in der Verwaltung, Tendenzen zur einer „Elitendemokratie“ und mangelnde Transparenz in der Parteienfinanzierung oder wirtschaftliche Abhängigkeiten von Politikern. Angesprochen wird aber auch Kritik am Modell der repräsentativen Demokratie. Diese wird einerseits nachdrücklich verteidigt. Andererseits spricht sich die Denkschrift für den Ausbau plebiszitärer Verfahren und eine Stärkung der Partizipation aller Bürger an demokratischen Entscheidungsprozessen aus. Außerdem sei das Rechtsstaatsprinzip möglicherweise durch die Formulierung weiterer Grundrechte

21 22 23 24 25

Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd.

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weiterzuentwickeln. Angesprochen werden sogenannte Schöpfungs- oder Fundamentalrechte einschließlich des Rechts auf Arbeit. Für die Beurteilung neuer Grundrechte hält die Denkschrift jedoch die Frage nach ihrer Rechtsverwirklichung für entscheidend. Eine bloße Grundrechtslyrik könnte den Wert von Grundrechten empfindlich schmälern. Da es sich um eine kirchliche Denkschrift handelt, wird insbesondere die Verantwortung aller Christen im Staat und sodann die besondere Rolle kirchlicher Amtsträger im politischen Bereich reflektiert. Und schließlich ist vom Öffentlichkeitsauftrag der Kirche die Rede, welche „in Grundfragen des Gemeinwesens ihr Stimme zu erheben, Orientierung zu geben und den politischen Prozess kritisch zu begleiten“ habe.26 Eine Ethik der Rechtsbefolgung, von der die Denkschrift an mehreren Stellen spricht, schließe nicht aus, dass die Kirche in konkreten Fällen mit dem Staat und der Öffentlichkeit in einen Konflikt gerate. Zurückhaltung wird aber in der Frage geübt, wie weit es im demokratischen Verfassungsstaat ein Widerstandsrecht gibt,27 wobei im Hintergrund der Ausführungen die seinerzeitigen Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss und die Atomenergie stehen. Insgesamt wird die Demokratie als eine gleichermaßen verbesserungsfähige wie verbesserungsbedürftige Staatsform gesehen, die nicht nur eine Herrschafts-, sondern auch eine Lebensform ist. Zur christlichen Bejahung des demokratischen Staates, wie sie in der Denkschrift zum Ausdruck gebracht wird, gehört nicht etwa nur die Anerkennung des Status quo, was typisch für die protestantische Tradition in der Vergangenheit ist, sondern die Einsicht, dass die Demokratie eine beständige Aufgabe und ihre beständige Überprüfung und Reform geradezu ein Wesenselement ist. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die moderne Demokratie westlicher Prägung von der Evangelischen Kirche nicht deshalb bejaht wird, weil es sich um eine „christliche Staatsform“ handelt. Der demokratische Rechtsstaat ist ja weltanschaulich neutral, wenngleich er, wie schon weiter oben diskutiert wurde, von moralischen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen und nicht garantieren kann. Gleichwohl ist die positive Beziehung der Kirchen zum demokratischen Staat mehr als äußerlicher Natur, weil es, wie beschrieben, Konvergenzen zwischen den Grundwerten des Staates, dem Rechtsstaatsprinzip und den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens gibt. Gegenüber der älteren protestantischen Tradition hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass sich das Verhältnis der Kirchen zur freiheitlichen Demokratie nicht einseitig von Röm 13 oder von Confessio Augustana XVI (1530) – dem Artikel über die Staatsordnung und das weltliche Regiment – her bestimmen lässt.28 Die Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 21 f. 28 Zur älteren Diskussion siehe v. a. Strohm / Wendland (Fn. 16). Grundlegend für die amerikanische Diskussion ist das Werk von Reinhold Niebuhr, Die Kinder des Lichts und die Kin26 27

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politische Verantwortung im Sinne Luthers ist demnach durchaus als göttlicher Auftrag zu verstehen, jedoch nicht allein der gewählten Politiker und Politikerinnen, sondern aller Bürger in der Demokratie. Das paulinische Wort von der Obrigkeit, die von Gott angeordnet ist, fordert geradezu im demokratischen Staat die politische Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger. Wie die EKD-Denkschrift richtig feststellt, ist im Kontext der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie auch die Barmer Theologische Erklärung von 1934 (These 5) heute in diesem Sinne zu interpretieren.29 Bleibende Voraussetzung für die Bereitschaft der Christen zur Demokratie ist nach dem Urteil der Denkschrift freilich die „klare Unterscheidung zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates“30, welche dem Selbstverständnis der Kirche ebenso wie der Demokratie entspreche. Diese könne von der Kirche aber nicht zuletzt deshalb bejaht werden, weil dem Staat durch das „Bekenntnis zu der evangelischen Wahrheit, daß allein Gott ein Anspruch auf unser ganzes Leben zukommt“, Grenzen gesetzt sind, welche die demokratische Staatsform sich selbst als verbindlich setzt.31

IV. Demokratie in der Kirche? Das Thema Evangelische Kirche und Demokratie beschränkt sich nicht auf das Verhältnis der Kirche zum heutigen demokratischen Verfassungsstaat, sondern schließt auch die Frage nach innerkirchlichen demokratischen Strukturen und Entsprechungen zum Rechtsstaatsprinzip ein. Wir lenken damit den Blick von einer anthropologischen Begründung einer christlichen Zustimmung zur Staatsform der Demokratie auf die Ekklesiologie, d. h. eine theologische Theorie der Kirche und ihres Selbstverständnisses. Nun gibt es allerdings nicht die eine evangelische Kirche, sondern eine Vielzahl evangelischer Kirchen. Wir beschränken unsere Analyse im Folgenden exemplarisch auf die lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen, die sich zur Evangelischen Kirche in Deutschland zusammengeschlossen haben, von der die im vorigen Abschnitt vorgestellte Demokratie-Denkschrift stammt. Es sei aber ausdrücklich auf die übrigen protestantischen Traditionen und Kirchen hingewiesen, die z. T. neben Luthertum, Reformiertentum und unierten evangelischen Kirchen der „Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa“ (Leuenberger Kirchengemeinschaft) angehören. Als konfessionskundliche Kategorie bzw. als Selbstbezeichnung von Kirchen umfasst der Begriff „evangelisch“ im deutschsprader der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung, München: Chr. Kaiser, 1974. 29 Vgl. dazu Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (Fn. 3), S. 15 ff. 30 Ebd., S. 12. 31 Ebd., S. 13.

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chigen Bereich nicht nur die lutherischen und die reformierten Kirchen, sondern auch die evangelisch-methodistische Kirche und die Baptisten, die in Deutschland im „Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden“ organisiert sind. Das englische Wort „evangelical“ kann sowohl mit „evangelisch“ als auch mit „evangelikal“ übersetzt werden. Die letztgenannte Bezeichnung trifft wiederum auf unterschiedliche freikirchliche Gemeinden und Bewegungen zu. Der neben der Bezeichnung „evangelisch“ international gebräuchliche Terminus „protestantisch“ bezeichnet noch weitere Kirchen, die aus der Reformation oder sogar aus vorreformatorischen Traditionen hervorgegangen sind, wie z. B. die Waldenser, die Hussiten, die Mennoniten oder die Herrnhuter Brüdergemeine. Der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa gehören 105 lutherische, reformierte, unierte, methodistische und vorreformatorische Kirchen an, die untereinander volle Kirchen-, Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft haben. Seit geraumer Zeit sind sie auch darum bemüht, dem europäischen Protestantismus auch auf ethischem Gebiet eine Stimme zu geben. Verbleibende Unterschiede in der theologischen Lehre haben keinen kirchentrennenden Charakter mehr. Gleichwohl werden die fortbestehenden konfessionellen Unterschiede keineswegs nivelliert, sondern respektiert. Die Grundlage dafür bietet das Ökumene-Modell der Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Nach einem sechsjährigen Lehrgespräch hat die 7. Vollversammlung der GEKE im September 2012 ein Dokument über Amt – Ordination – Episkopé veröffentlicht, das auch einige grundlegende Aussagen zur innerkirchlichen Demokratie enthält, auch wenn dieser Terminus nicht verwendet wird.32 Wie das Dokument feststellt, herrscht unter den christlichen Kirchen breite Einstimmung darüber, dass die Leitung der Kirche und das Amt der geistlichen Aufsicht – Episkopé genannt – „in personaler, kollegialer und gemeinschaftlicher Weise ausgeübt werden muss. Die Formen, wie sich diese drei Dimensionen zueinander verhalten, weichen jedoch beträchtlich voneinander ab. Die meisten evangelischen Kirchenordnungen stellen einen Ausgleich zwischen dem personalen und dem gemeinschaftlichen Element der Episkopé her, indem sie eine geordnete Wechselwirkung zwischen Dienern der Episkopé und synodalen Formen von Kirchenleitung auf lokaler und regionaler Ebene sicherstellen. Synodale Strukturen werden durch repräsentative Organe wie Kirchenvorstände, Presbyterien und Synoden auf verschiedenen Ebenen gebildet, in denen ordinierte und nicht-ordinierte Personen zusammenarbeiten. Personaler Dienst der Aufsicht ist ein Element innerhalb des Ganzen der Episkopé im Leben der Kirche. Er wird örtlich durch Gemeindepfarrerinnen und regional durch Superintendenten, Bischöfinnen oder Kirchenpräsidenten wahrgenommen. Im Gesamtrahmen der Episkopé besteht die Aufsichtsaufgabe derer, die am Dienst der Episkopé auf örtlicher und regionaler Ebene teilhaben, darin, immer wieder zu bezeu32 Text in: Michael Bünker / Martin Friedrich (Hrsg.), Amt, Ordination, Episkopé und theologische Ausbildung (Leuenberger Texte 13), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2013, S. 15 – 95, 97 – 184 (engl. und deutsch).

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gen, dass die Kirche, auch in institutioneller Sicht, das Evangelium als ihr entscheidendes Kriterium hat. Als Glieder am Leib Christi und Teilhaber am Dienst des gesamten Gottesvolkes sind ordinierte und nicht-ordinierte getaufte Personen befähigt, miteinander am Gesamten der Episkopé teilzuhaben.“33 Allerdings weichen die Modelle, wie die personalen und synodalen Elemente miteinander verbunden und die Leitungsautoriät aufgeteilt werden, in den Mitgliedskirchen der GEKE erheblich voneinander ab. In manchen Fällen werden Bischöfe und Kirchenpräsidenten von Synoden, Konferenzen oder Kirchenräten gewählt, in anderen Kirchen dagegen von den Pfarrern ihrer Kirchenprovinzen gemeinsam mit einer repräsentativen Anzahl von Presbyteriums- oder Kirchenvorstandsmitgliedern. Festhalten kann man, dass die Wählerschaft immer eine große Zahl von Nicht-Ordinierten einschließt. Im Unterschied etwa zur römisch-katholischen Kirche werden die Bischöfe, Bischöfinnen oder Präsidenten in den evangelischen Kirchen stets von einem Gremium gewählt, das sich aus Ordinierten und Nicht-ordinierten zusammensetzt, also nicht allein von den ordinierten Pfarreren oder anderen Bischöfen. Die so gewählten kirchenleitenden Personen üben die Episkopé außerdem niemals unabhängig von Synoden oder Konferenzen aus. Die verschiedenen Modelle von Kirchenverfassungen und Kirchenleitung stimmen darin überein, dass grundsätzlich alle getauften Kirchenmitglieder an der Leitung der Kirche und an der Erfüllung ihres Auftrags beteiligt sind. Wie das erwähnte GEKE-Dokument erklärt, hält das gemeinsame reformatorische Verständnis von der Einheit der Kirche daran fest, „dass die Bezeugung des Evangeliums in Wort und Sakrament dem gesamten Gottesvolk anvertraut ist und in der Gemeinde durch ein besonders berufenes Amt, das den Dienst der Episkopé einschließt, aufrecht erhalten wird. Die Ordnung der Ämter in der Kirche schließt den Dienst der Episkopé ein. Dieser Dienst garantiert nicht die Einheit der Kirche, aber dient der Kirche in ihrer Berufung, an der apostolischen Wahrheit festzuhalten und mit Christus im Glauben vereint zu bleiben.“34 Sind die evangelischen Kirchen also demokratisch? In gewisser Hinsicht ja, insofern alle Ämter in der Kirche auf die Idee des Priestertums aller Gläubigen bzw. aller Getauften zurückgeführt wird. Alle Getauften bilden das Volk Gottes, als welches sich die Kirche versteht. Zwar bedarf es auch nach evangelischem Verständnis eines besonderen Amtes der Evangeliumsverkündigung, auf der die Kirche gründet und zu deren Zweck sie besteht. Doch begründet die Ordination zum geistlichen Amt der Verkündigung – Dienst an Wort und Sakrament genannt – nach evangelischem Verständnis keinen qualitativen Unterschied zwischen Geweihten und Laien wie in der römisch-katholischen Kirche, nach deren Lehre die Nicht-Ordinierten von entscheidenden Funktionen der Kirchenleitung – z. B. der Wahl von Bischöfen – kategorisch ausgeschlossen sind.

33 34

Amt – Ordination – Episkopé (Fn. 32), Nr. 77. Ebd., Nr. 79.

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Wenngleich Verkündigung, Sakramentsverwaltung und Kirchenleitung die gemeinsame Aufgabe aller Getauften sind, gibt es in der Kirche doch besondere Ämter, die auch nach evangelischem Verständnis nicht im Sinne eines modernen Verständnisses von Demokratie lediglich als ausführende Organe des „Kirchenvolkes“ aufzufassen sind, sondern einen eigenverantwortlich wahrzunehmenden Auftrag erfüllen.35 Die Beauftragung geschieht nach evangelischem Verständnis im Namen des Herrn der Kirche, Jesus Christus, und für die solchermaßen Beauftragten erbittet die Kirche den Beistand des Heiligen Geistes. In der Praxis geschieht die Kirchenleitung auf Gemeindeebene durch ein durch Urwahl gewähltes Gremium, das Presbyterium bzw. den Kirchenvorstand.36 In manchen Kirchenverfassungen, z. B. in derjenigen der Evangelischen Kirche A. u. H.B. in Österreich, wird durch Urwahl eine Gemeindevertretung gewählt, aus deren Reihen dann das Presbyterium gewählt wird. Aktives und passives Wahlrecht werden durch Kirchenverfassung oder gesonderte Kirchengesetze geregelt und variieren je nach zu besetzender Funktion. Die übrigen Gremien der evangelischen Kirche, welche auf der mittleren und der oberen Ebene das synodale Element repräsentieren, werden im deutschsprachigen Raum üblicherweise nach dem sogenannten Filtriersystem gewählt. D. h., dass nur die untersten Instanzen durch Urwahl, alle weiteren von den nächst höheren Instanzen gewählt werden.37 Daneben gibt es in allen Landeskirchen Synodale, die nicht gewählt, sondern berufen werden, weil sie z. B. Ämter und Werke oder theologische Fakultäten repräsentieren, die nach Kirchenverfassung in der Synode vertreten sein sollen.38 Generell lässt sich sagen, dass die mit dem Priestertum aller Gläubigen begründete presbyterial-synodale Ordnung der evangelischen Kirche, die sich seit der Reformation entwickelt hat, zwar eine Affinität zum modernen demokratischen Prinzip aufweist. Dennoch ist zwischen moderner Demokratie und presbyterial-synodaler Kirchenverfassung zu unterscheiden. Zwar gehört zur Existenzweise jeder Einzelkirche notwendigerweise eine Verfassung, die in manchen Kirchen auch Kirchenordnung genannt wird, um die Kontinuität zu den evangelischen Kirchenordnungen des 16. bis 19. Jahrhunderts zum Ausdruck zu bringen.39 Die Verfassungen der

35 Vgl. Dietrich Pirson, Art. Kirchenverfassung V. Gegenwart, 1. Evangelische Kirche, in: RGG4 IV, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, Sp. 1343 – 1349, hier Sp. 1346. 36 Selbstverständlich ist die Terminologie nicht mit derjenigen der römisch-katholischen Kirche zu verwechseln, wo das Presbyterium die Priesterschaft einer Diözese bezeichnet. 37 Vgl. Martin Ohst, Art. Kirchenverfassung IV. Neuzeit, 2. Evangelische Kirche, in: RGG4 IV, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, Sp. 1329 – 1332, hier Sp. 1330. Eine Ausnahme vom Filtriersystem bildet z. B. die Evangelische Landeskirche in Württemberg. 38 Vgl. Thomas Barth, Elemente und Typen landeskirchlicher Leitung (JusEcc 53), Tübingen: Mohr Siebeck, 1995, S. 64 ff. 39 So z. B. in den evangelischen Landeskirchen des Rheinlands, Westfalens und HessenNassaus.

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evangelischen Kirchen sind jedoch nicht das Produkt einer autonomen verfassungsgebenden Gewalt auf der Basis des Prinzips der Volkssouveränität, sondern werden aus dem stiftungsgemäßen Auftrag der Kirche abgeleitet, der auf Christus selbst zurückgeführt wird. Die Kirchenverfassung ist demnach „kein in erster Linie voluntaristisch zu erklärender Akt“40. So repräsentieren auch die Synoden „nicht als ‚Kirchenparlamente‘ das ‚Kirchenvolk‘, sondern die ganze Kirche“41. Und schließlich ist festzustellen, dass es nach wie vor evangelische Kirchen gibt, in denen zumindest der Bischof oder auch Superintendenten nicht für eine begrenzte Zeit, sondern auf Lebenszeit bzw. bis zu seiner Pensionierung gewählt oder berufen wird. Auch Pfarrerinnen und Pfarrer werden in der Regel auf Lebenszeit gewählt. Allerdings sind verschiedene Kirchen davon inzwischen abgerückt, wobei die Wiederwahl eines Pfarrers, eines Superintendenten oder eines Bischofs möglich ist. Während es der Demokratiedenkschrift der EKD ein besonderes Anliegen war, auf die zeitliche Befristung politischer Ämter hinzuweisen, durch welche Herrschaft und Machtausübung begrenzt werden,42 kommt dieses Prinzip in den evangelischen Kirchen nach wie vor nicht uneingeschränkt zur Geltung. Der Begriff der Kirchenleitung hat im 20. Jahrhundert den im älteren Protestantismus gebräuchlichen Begriff des Kirchenregiments ersetzt. Im Unterschied zur Aufgabe des geistlichen Amtes ist die äußere Leitung der Kirche gemeint. Nach Friedrich Schleiermacher beruht das Kirchenregiment „in der Gestaltung eines Zusammenhanges unter einem Komplexus von Gemeinden“43 und besteht aus zwei Elementen, „dem gebundenen, nämlich der Gestaltung des Gegensatzes für den gegebenen Komplexus, und dem ungebundenen, nämlich der freien Einwirkung auf das Ganze, welche jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt“44. Der auch im Zusammenhang mit den allgemeinen demokratischen Bestrebungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehende kirchliche Konstitutionalismus erlitt nach anfänglichen Fortschritten politische Rückschläge. Immerhin konnte aber die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 die presbyterial-synodale Struktur der evangelischen Gemeindeverbände in den preußischen Westprovinzen bewahren.45 Mit dem landesherrlichen Kirchenregiment hatte sich seit der ReformaPirson (Fn. 35), Sp. 1343. Barth (Fn. 38), S. 56. 42 Vgl. Evangelische Kirche und Freiheitliche Demokratie (Fn. 3), S. 28. 43 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (21830), hrsg. v. Heinrich Scholz, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 51982, § 309 (S. 118). 44 Ebd., § 312 (S. 119). 45 Zu ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte vgl. Wilhelm H. Neuser, Die Entstehung der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung, in: J. F. Gerhard Goeters / Rudolf Mau (Hrsg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. I: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817 – 1850), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 1992, S. 241 – 256; Joachim Mehlhausen, Kirche zwischen Staat und Gesellschaft. Zur Geschichte 40 41

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tionszeit eine Konsistorialverfassung herausgebildet, in welche presbyteriale und synodale Elemente eingefügt wurden. So bildete sich eine Mischverfassung heraus, die später auch von anderen evangelischen Kirchen übernommen wurde und bis in die Gegenwart maßgeblich geblieben ist. Als Grundform evangelischer Kirchenverfassung konnte sich die konsistoriale und presbyterial-synodale Elemente verbindende Mischverfassung allgemein erst nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregimentes, d. h. nach dem Ende der Monarchie 1918 durchsetzen. Versuche in der Zeit des Nationalsozialismus, auch in der evangelischen Kirche das „Führerprinzip“ einzuführen und die Kirchen „gleichzuschalten“ waren letztlich zum Scheitern verurteilt. Die kirchliche Neuordnung nach 1945 knüpfte an die Mischverfassungen der Landeskirchen aus der Zeit vor 1933 an.46 Die innere Gliederung und Zuordnung der kirchlichen Organe beruht daher bis heute nicht auf dem demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung. In etlichen evangelischen Landeskirchen ist z. B. der Vorsitzende der Synode zugleich der leitende Geistliche seiner Kirche – Präses, Bischof oder Kirchenpräsident genannt –, der in Personalunion auch den Vorsitz in der kollegialen Kirchenleitung hat. Legislative und Exekutive sind also in diesen Fällen nicht voneinander klar getrennt. Auch findet das demokratische Mehrheitsprinzip in der evangelischen Kirche nur eingeschränkte Anwendung. Zwar wird nach ihm in weiten Bereichen der Kirche verfahren, grundsätzlich sind aber alle Gremien dazu verpflichtet, sich um Einmütigkeit zu bemühen. In Fragen von theologischem Gewicht, zumal dann, wenn der Bekenntnisstand berührt oder der status confessionis gegeben ist, gilt das Prinzip des „magnus consensus“, der unter Einbeziehung aller Ebenen der Kirche gefunden und im Zusammenwirken aller Leitungsorgane festgestellt werden muss.47 Bilden Menschenwürde und Menschen- oder Grundrechte den Kern des Rechtsstaatsprinzips, ist nun auch zu fragen, wie es um Menschen- und Grundrechte in der Kirche – konkret: in den evangelischen Kirchen – bestellt ist.48 Zwar treten die Kirchen für die Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere für die Religionsfreiheit gegenüber dem politischen Gemeinwesen ein. Umstritten ist aber, ob sich aus ihrem Bekenntnis zu den Menschenrechten auch Folgerungen für die Ordnung der Kirche des evangelischen Kirchenverfassungsrechts in Deutschland (19. Jahrhundert), in: Gerhard Rau / Hans-Richard Reuter / Klaus Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. II: Zur Geschichte des Kirchenrechts, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1995, S. 193 – 271, hier S. 228 ff., 260 ff. 46 Vgl. Ohst (Fn. 37), Sp. 1331 f. 47 Vgl. Barth (Fn. 38), S. 105 f. 48 Vgl. dazu Wolfgang Huber / Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte – Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart: Kreuz Verlag, 21978, S. 198 ff.; Wolfgang Huber, Art. Menschenrechte / Menschenwürde, in: TRE 22, Berlin / New York: de Gruyter, S. 577 – 602, hier S. 594 f.; Eugenio Corecco u. a. (Hrsg.), Die Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen Kongresses für Kirchenrecht, Fribourg: Éd. Universitaire, 1981; Otfried Höffe, Die Menschenrechte in der Kirche, in: Anselm Hertz u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 3, Freiburg: Herder / Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1982, S. 246 ff.

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ergeben, so dass man auch von Grundrechten innerhalb der Kirche selbst sprechen könnte. Wie steht es zum Beispiel um die Gewissens- und Meinungsfreiheit innerhalb der Kirchen? Wo liegen die Grenzen des an sich zu bejahenden Pluralismus in der Volkskirche? Welche Rechte haben Getaufte, die aus der Kirche austreten, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Taufe aufgehoben würde? Wie weit gibt es Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung? In der römisch-katholischen Kirche sind Frauen prinzipiell von allen Weihestufen des ordinierten Amtes ausgeschlossen. Demgegenüber ist heute in den meisten protestantischen Kirchen die Ordination von Frauen – und das heißt in der Folge auch; die Ordination durch Frauen (Superintendentinnen, Bischöfinnen, Kirchenpräsidentinnen) – gängige Praxis. Das gilt ausnahmslos für alle Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Allerdings hat man erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu einem gemeinsamen Verständnis der Berufung von Frauen und Männern in alle kirchlichen Ämter gefunden. Der Einführung der Frauenordination ging ein langes Ringen voraus. Wie die GEKE in ihrem Dokument Amt – Ordination – Episkopé einräumt, gibt es selbst in ihrer eigenen Gemeinschaft Kirchen, die noch immer zögerlich sind, so „dass prinzipielle Gleichheit nicht immer auch praktische Gleichheit bedeutet“49. Besonders umstritten ist der innerkirchliche Umgang mit Homosexualität, und zwar nicht nur mit der Tatsache, dass Menschen eine homosexuelle Orientierung haben, sondern auch mit homosexueller Lebensführung. Die Lage in den protestantischen Kirchen Europas ist in dieser Frage sehr uneinheitlich. Sie reicht von der Verurteilung der Homosexualität bis hin zur kirchenrechtlichen Gleichstellung von homosexuellen Pfarrern oder Pfarrerinnen, die mit ihrem gleichgeschlechtlichen Lebenspartner im Pfarrhaus leben. Das erwähnte GEKEDokument stellt zusammenfassend fest, „dass es innerhalb der GEKE eine breite Übereinstimmung in Bezug auf die Rechte und die menschliche Würde von Personen mit homosexueller Orientierung gibt, aber keine Übereinstimmung in Bezug auf die Annehmbarkeit von homosexuellen Beziehungen innerhalb der christlichen Kirche im allgemeinen und deshalb auch für Ordinierte im besonderen“50. In puncto Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Pluralismus hat die katholische Kirche spezifische Probleme, die sich aus dem zentralistischen Lehramt ergeben. Der Sache stellt sich die Frage aber auch für den Bereich der evangelischen Kirchen. Man denke nur an das kirchliche Arbeitsrecht, das aufgrund von Tendenzschutzbestimmungen die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche zur Einstellungsvoraussetzung oder im Fall eines Kirchenaustritts als Kündigungsgrund geltend machen kann. Das kirchliche Disziplinarrecht kann für evangelische Pfarrer Lehrzuchtverfahren vorsehen, wenn eine Kirchenleitung zu der Einschätzung gelangen sollte, dass die Verkündigung eines Pfarrers in zentralen Aussagen gegen Schrift und Bekenntnis, d. h. gegen das biblische Gesamtzeugnis und die bekenntnismäßigen Lehrgrundlagen der evangelischen Kirche verstoßen. Außerdem kennt das kirchli49 50

Amt – Ordination – Episkopé (Fn. 32), Nr. 58. Ebd., Nr. 61.

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che und diakonische Arbeitsrecht – Stichwort „dritter Weg“ – kein Streikrecht, was mit dem besonderen Charakter von Kirche und Diakonie als Dienstgemeinschaft begründet wird, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer – Dienstgeber und Dienstnehmer genannt – gemeinsam den von Gott gegebenen Auftrag der Verkündigung und des Dienstes am Nächsten erfüllen. Gott aber, so ein häufig vorgetragenes Argument, könne man nicht bestreiken. Die angesprochenen Problemfelder im Einzelnen zu diskutieren, ist hier nicht der Ort. Weder soll die rechtsstaatliche Legitimität des kirchlichen Arbeitsrechtes in Deutschland pauschal bestritten werden – auch wenn im einzelnen Fragezeichen erlaubt sind – noch behauptet werden, dass z. B. das Instrument eines Lehrzuchtverfahrens prinzipiell im Widerspruch zu den durch die Verfassung in Deutschland garantierten Grundrechten steht. Schließlich kennen auch politische Parteien Disziplinarverfahren, die unter Umständen mit einem Parteiausschluss enden können. Es geht hier lediglich darum, einige der Problembereich zu identifizieren, die eine Kirchen eine Analogie zum Rechtsstaatsprinzip gibt oder nicht, seriös beantwortet werden soll. Generell ist zu fragen, inwiefern die den Menschenrechten zugrunde liegenden Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bzw. Solidarität in den Kirchen ihre Entsprechung finden. Das Grundgesetz garantiert den Kirchen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst sind, in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 der Weimarer Verfassung ihr Selbstbestimmungsrecht. Offenbar widerspricht es dem Selbstverständnis der Kirche, Grundrechte aus dem staatlichen Bereich einfach auf die Kirche zu übertragen. So erklärt der evangelische Kirchenrechtler Axel von Campenhausen, die Kirchen- und Religionsgemeinschaften seien „als solche nicht an die Grundrechte gebunden, sondern im Gegenteil Träger ihres eigenen Grundrechts der Religionsfreiheit“51. Andererseits ergibt sich sowohl aus dem evangelischen als auch dem katholischen Kirchenverständnis der Gedanke von kirchlichen Grundrechten, der freilich in beiden Kirchen erst in Ansätzen entwickelt ist.52 Für den evangelischen Bereich gilt dies mindestens dann, wenn man die ekklesiologische Bedeutung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 anerkennt.53 In Deutschland liegt ein erster Versuch, auf dieser Linie innerkirchliche Grundrechte zu formulieren, in der Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche von 51 Axel v. Campenhausen, Steht das Religionsverfassungsrecht vor einem Wandel?, in: ThR 69, 2004, S. 273 – 313, hier S. 294. 52 Für die evangelischen Kirchen siehe Dietrich Pirson, Innerkirchliche Grundrechte aus Sicht der evangelischen Kirchenrechtslehre, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 98, 1981, S. 339 – 375; Wolfgang Huber / Horst Ehnes, Grundrechte in der Kirche, in: Gerhard Rau / Hans-Richard Reuter / Klaus Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. I: Zur Theorie des Kirchenrechts, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997, S. 518 – 568; Jan Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft (APTh 38), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 136 ff. 53 Vgl. Alfred Burgsmüller (Hrsg.), Kirche als ‚Gemeinde von Brüdern‘. Barmen III, Bd. 2, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1981.

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1988 vor.54 Jedoch ist die Gesamtdiskussion aber noch längst nicht zu einem Anschluss gekommen.

Summary The essay gives an insight into the discussion of the rule of law in Protestant theology. First, it describes the core elements of the discussion, and offers critical remarks on the Dilemma of Böckenförde according to which the libertarian, secularised state lives by prerequisites which the state itself cannot guarantee (I.). Subsequently, (II.) it sheds light on the relation between religion, law, and morality from the perspective of Protestant ethics. The memorandum Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985) offers foundational statements of the Protestant Churches in Germany on the rule of law by analysing liberal democracy (III.). The memorandum seeks to approach political ethics theologically by means of anthropology, and not by means of the doctrine of God. The foundational term for all further thoughts is human dignity. Instead of ascribing the state directly to divine positing, the criterion of the memorandum, according to which different forms of government are evaluated, is which of them best matches human dignity as well as human rights – both are connected –, and is best able to protect them. The authors, however, are convinced that liberal democracy meets the criterion best, since it follows the rule of law, i.e. the principles of the separation of powers, as well as acknowledging dignity, freedom, and equality of all citizens. Finally, (IV.) the question is raised to which extent democracy prevails within the Church, and to what extent law within the Church offers an analogy to the rule of law.

54 Text in: ABlEKD 43, 1989, S. 78 – 97. Ansatzweise werden kirchliche Grundrechte auch in der Grundsatzerklärung 1996 der Evangelischen Kirche H.B. in Österreich formuliert. Der Text findet sich in Peter Karner (Hrsg.), Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Texte – Impulse – Konkretionen, Innsbruck / Wien: Tyrolia, 1997, S. 165 – 168, bes. S. 166.

Vermittlungsprobleme zwischen Demokratie und Rechtsstaat Hans-Joachim Lauth In vielen jungen Demokratien wird ein schwacher Rechtsstaat konstatiert.1 Gefordert wird der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen. Doch dabei wird oftmals nicht beachtet, dass hier verschiedene Optionen zur Verfügung stehen. Mit Verfassungsstaat, materieller Rechtsstaat und formaler Rechtsstaat lassen sich drei Modelle staatsrechtlicher Konstruktion unterscheiden. In welcher Beziehung stehen nun diese Staatsrechtsmodelle zur Demokratie? Sind alle in gleicher Weise mit ihr kompatibel und kann die Demokratie oder der Rechtsstaat eine Priorität behaupten? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es zunächst die genannten Begriffe zu präzisieren. Anschließend werden die Beziehungen in Rückgriff auf die sogenannte Konstitutionalismusdebatte diskutiert, in der Prozeduralisten und Konstitutionalisten viele relevante Argumente anführen, die fruchtbar für unsere Fragestellungen sind. Auf dieser Grundlage werden Überlegungen zu einer Vermittlung der Positionen diskutiert. Zu klären ist letztlich der innere Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat, speziell in seiner materiellen Fassung.

I. Grundlegende Begriffe: Rechtsstaat und Demokratie Wenn die Diskussion zum Rechtsstaat aus kontinentaleuropäischer und angelsächsischer Sicht gebündelt werden, lässt sich folgender Kern erkennen.2 Ein Rechtsstaat beruht auf einem funktionsfähigen Staat und der Allgemeinheit des

1 Lauth, H.-J. / Sehring, Jenniver, Putting Deficient Rechtsstaat on the Research Agenda: Reflections on Diminished Subtypes, in: Comparative Sociology Volume 8, Number 2, 2009, S. 165 – 201; Schuppert, G. F., Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit: Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen, Baden-Baden: Nomos- Verlag, 2011. 2 Lauth, H.-J., Demokratie und Demokratiemessung. Eine konzeptionelle Grundlegung für den interkulturellen Vergleich, Wiesbaden: Springer Vs, 2004; Becker, M. / Zimmerling, R. (Hrsg.), Politik und Recht, PVS-Sonderband 36, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006.; Schulze-Fielitz, H., Zur Geltung des Rechtsstaates: Zwischen Kulturangemessenheit und universellem Anspruch, in: ZfVP Jg. 5, 1 / 2011, 2011, S. 1 – 23; Enzmann, B., Der Demokratische Verfassungsstaat: Entstehung, Elemente, Herausforderungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012.

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Rechts, das ein personenbezogenes Gesetz und damit auch rückwirkende Gesetze untersagt. Das Rechtsstaatsprinzip bedingt die Gleichheit vor dem Gesetz, die allgemeine Anwendung des Gesetzes unabhängig vom sozialen Status der Betroffenen (Fairnessgebot) und schließt hierbei staatliche Institutionen ausdrücklich ein. Die rechtliche Bindung des Staates bezieht sich auf die Übereinstimmung von Verfassung und Gesetzgebung, das von Gesetzen begrenzte und geregelte Handeln von Regierung und Verwaltung (‚Gesetzmäßigkeit der Verwaltung‘) sowie die Verhältnismäßigkeit staatlicher Intervention. Damit sind formale justiziable Garantien (Rechtswegegarantien) für den einzelnen Bürger verbunden, der seine durch die Verfassung gewährten Rechte auch gegen die Regierung einklagen kann (Gerichtsschutz). Notwendig hierzu sind Transparenz, Klarheit und Widerspruchsfreiheit der Gesetze. Zugleich erfordern die Rechtswegegarantien die öffentliche Bekanntheit und eine gewisse Stabilität der Gesetze, um eine Vertrautheit mit ihnen zu erlangen und rationale Kalkulationen zu ermöglichen (Rechtssicherheit). Eine wesentliche Voraussetzung für den Klageweg ist ein ausgebildetes Prozessrecht, das neben zahlreichen anderen Merkmalen die Existenz einer unabhängigen und professionellen Justiz einschließt, die für alle Bürger zugänglich ist und letztlich auch Kontrollmöglichkeiten über das Handeln der Exekutive besitzt. Die einzelnen Kriterien kulminieren in der Zielsetzung der Verwirklichung des Rechtsgedankens, der das Verbot staatlicher Willkür umfasst und als basaler Beitrag zur Gerechtigkeit zu verstehen ist. Die Gewaltenteilung zwischen der Judikative und den anderen Gewalten ist ein zentrales Kriterium zur Bestimmung des Rechtsstaats.3 Im Verständnis der Gewaltenteilung ist der Vorrang der demokratischen Gesetzgebung gegenüber den anderen Gewalten enthalten. Weder Justiz noch Exekutive und Verwaltung können eigenes Recht generieren. Administrative Erlasse stehen im Prinzip unter Gesetzesvorbehalt. Der Rechtsstaat ist mit der Bereitstellung von Institutionen, Normen und Verfahren der markanteste Ausdruck der horizontalen accountability, die sich in unterschiedlichen institutionellen Formen ausdifferenzieren kann.4 Die legal gesicherte Gestaltung des öffentlichen Raumes und der politischen Sphäre bedeutet nicht nur einen Schutz vor staatlicher Willkür, sondern zugleich vor gesellschaftlichen Akteuren, die entweder Gesetze missachten oder versuchen, sie verfassungswidrig zu manipulieren (z. B. mittels Korruption). Die Qualität des Rechtsstaats wird in dem Maße eingeschränkt, in dem es ihm nicht gelingt, diese

3 Böckenförde, E.-W., Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt: Suhrkamp Verlag KG, 1976, 65 – 92; Grimm, D., Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders.: Die Zukunft der Verfassung, 2. Auflage Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag, 1994, S. 31 – 66. 4 Lauth, H.-J., „Horizontal accountability“. Aktuelle Aspekte der Gewaltenteilung: Ein Vorschlag zur Systematisierung der Kontrollfunktion der Gewaltenteilung, in: Sabine Kropp / Hans-Joachim Lauth (Hrsg.): Gewaltenteilung und Demokratie, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 2007, S. 45 – 71.

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Akteure zu bändigen. Der Rechtsstaat setzt somit Rechte und Pflichten sowohl für den Staat als auch für den Bürger und begrenzt beide. Alle bislang vorgestellten Merkmale des Rechtsstaats betreffen den formalen Rechtsstaat. Doch die Behauptung von Grundrechten erscheint logisch notwendig, wenn die Institution des Rechtsweges sinnvoll sein soll. Sie ist gleichfalls zwingend, wenn die mit ihr unauflöslich verbundene Idee der Begrenzung staatlichen Handelns ernst genommen werden soll. Die Begrenzung ausschließlich auf die Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns zu beziehen, hieße letztlich, nur eine geringe Begrenzung für das zukünftige Handeln der Mehrheit zu akzeptieren, da die Rechtsetzung sich entsprechend verändern ließe. Aus den genannten Gründen ist es durchaus plausibel, Grundrechte – neben den anderen formalen prozeduralen Garantien des Rechtsstaates – als materielle Komponente konstitutiv für den Rechtsstaates zu begreifen,5 wenngleich in der Konkretisierung der abstrakten Rechte ein nicht unerheblicher Interpretationsspielraum besteht. In der weiteren Konkretisierung des materiellen Rechtsstaats bleibt zu klären, was zu den Grundrechten gehört und wie diese zu verstehen sind. Das skizzierte Rechtsstaatsverständnis ist nicht einfach vom Verfassungsstaatsgedanken zu trennen, da letzterer selbst verschiedene Bedeutungen angenommen hat. Es finden sich Positionen, die ihn nahezu deckungsgleich mit dem materiellen Rechtsstaatskonzept begreifen,6 während andere ihn eher in einer positivistischen Perspektive verstehen, eine Position, die durchaus mit dem Prinzip der ‚absoluten‘ Parlamentssouveränität in Großbritannien zu verbinden ist.7 In der Regel finden sich die Merkmale des materiellen Rechtsstaates (Grundrechte und Verfahrensrechte) aber auch im Verfassungsstaat (constitutionalism) wieder. Ein Verfassungsstaat in diesem Sinne ist somit nicht identisch mit einem Staat, der lediglich eine geschriebene Verfassung besitzt, aber nicht die geforderten normativen Implikationen aufweist. Doch darüber hinaus behauptet dieser die Verteidigung auch anderer Merkmale einer Verfassung, vor allem diejenigen der Staatsordnung, die entsprechend schwer zu verändern ist. In diesem Sinne bewegt sich das GG mit Art. 20 (1) auf der Ebene des Verfassungsstaats, da es nicht nur den materiellen Rechtsstaat festschreibt, sondern zugleich die föderale Staatsordnung. Die Bestimmung des Demokratieverständnisses beruht auf einer Analyse verschiedener Demokratiekonzeptionen im Spektrum prozeduraler Demokratievorstellungen.8 Auf dieser Grundlage lassen sich drei grundlegende Dimensionen der 5 Zippelius, R., Allgemeine Staatslehre, 11. Aufl., München: Verlag C. H. Beck, 1991, S. 281. 6 Holmes, S., Constitutionalism, in: S. M. Lipset (Hrsg.): The Encyclopedia of Democracy, London: CQ Press, 1995, S. 299 – 305. 7 Reitz, J., Constitutionalism and the Rule of Law: Theoretical Perspectives, in: R. D. Grey (Hrsg.): Democratic Theory and Post-Communist Change, New-Jersey: Prentice Hall, 1997, S. 111 – 143. 8 Lauth, H.-J., (Fn. 2), S. 32 – 101.

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Demokratie identifizieren: Politische Gleichheit, Politische Freiheit und rechtliche und politische Kontrolle. Demokratie kann mit der damit vollzogenen normativen Fundierung auch nicht als unbegrenzte Herrschaft der Mehrheit verstanden werden, sondern findet ihre immanente Begrenzung in den Grundrechten aller Bürger. Nicht zu ignorieren ist das potentielle Spannungsverhältnis von Gleichheit, Freiheit und Kontrolle.9 Demokratie besteht aus den drei Dimensionen, die sich gegenseitig bedingen, um sich entfalten zu können, die jedoch in Konflikt geraten, wenn sich eine Dimension zu stark entfaltet und zu dominieren beginnt. Eine funktionierende Demokratie ist aber nicht nur Ausdruck von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle, sondern zugleich das Medium und Regelsystem, um die Spannung zwischen den Grundwerten zu vermitteln. Diese Vermittlung und Begrenzung erfordert ihre Einbettung in rechtsstaatliche Strukturen, welche die Bandbreite der demokratieimmanenten Auseinandersetzung markieren. Abgesteckt ist damit das Koordinatensystem, in dem die gesellschaftlichen Konflikte ausgetragen werden und sich die historisch konkrete Gestalt der Demokratie entfaltet. Die besondere Leistung der Demokratie besteht darin, dass sie nicht nur die Vermittlung konfligierender Positionen innerhalb des Koordinatensystems erlaubt, sondern zugleich die Reflexion über ihre immanenten Grenzen ermöglicht. Denn diese sind – wie die historische Entwicklung der Interpretation der Grundrechte zeigt – durchaus veränderbar, wenngleich aber die abstrakten Dimensionen nicht zur Disposition stehen. In ihrer Fähigkeit, diese Grenzen reflexiv auszuloten, erweist sich die Stärke der Demokratie als Boundary-Konzept. Mit dem hier vertretenen Demokratieverständnis sind die drei rechtsstaatlichen Modelle im Prinzip vereinbar. Doch ihre Beziehung zur Demokratie variiert, wie sich in der Debatte zwischen Konstitutionalisten und Prozeduralisten zeigt. Im Folgenden werden kurz die Positionen beider Seiten dargestellt, die Vallespín10 treffend unter den Begriffen der „inneren“ vs. „äußeren“ Kontrolle der Demokratie fasst.

II. Positionen in der Konstitutionalismusdebatte Betrachten wir zunächst die Position der Prozeduralisten.11 Nach ihnen besteht das zentrale Prinzip der Demokratie in der Volkssouveränität, das letztlich in der partizipativen Freiheit des Einzelnen wurzelt. Dieses Recht darf nicht beschnitten 9 Bühlmann, M. et al, Demokratiebarometer: ein neues Instrument zur Messung von Demokratiequalität. Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 6 (1): 2012, S. 115 – 159. 10 Vallespín, F., Gerechtigkeit und Demokratie, in: Merkel, W. / Busch, A. (Hrsg.): Demokratie in Ost und West, Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag, S. 103 – 121. 11 Maus, I., Volkssouveränität versus Konstitutionalismus. Zum Begriff einer demokratischen Verfassung, in: Frankenberg, G. (Hrsg.): Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt / Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994, S. 74 – 83; Maus, I., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag, 1994.; Dahl, R. A., Democracy and its Critics, New Haven / London, Yale: Yale University Press, 1989.

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werden und mithin ist die Macht des Souveräns (ausgedrückt in Mehrheitsentscheidungen) unbegrenzt. Attackiert wird zum einen die Verfassung, die Entscheidungen dem demokratischen Mehrheitswillen entzieht oder anders gefragt: „[W]hy should any generation be bound by decisions of its predecessors?“.12 Angegriffen wird zum anderen der Schutz der Verfassung, der nicht nur in erschwerten Veränderungsmöglichkeiten liegt, sondern in der materiellen Interpretationssouveränität des Verfassungsgerichts besteht. Eine externe Bindung – als Schutz vor Unmündigkeit begriffen – wird als unnötig betrachtet, da eine Demokratie sich selbst am besten schützen kann und die Bürger die besten Interpreten ihrer Rechte sind. Es scheint, dass ein formaler Rechtsstaat demnach die angemessene staatsrechtliche Form wäre. Zur Fundierung dieses Standpunktes werden zwei unterschiedliche Argumentationsstrategien verfolgt. Erstens wird versucht, die konkurrierende externe Bindungsargumentation zu schwächen. Im Zentrum der Kritik stehen hierbei vor allem die Verfassungsgerichte. Bestritten wird ein Weisheitsmonopol der Richter, die als elitäre guardians betrachtet werden. Es lassen sich zahlreiche Fälle für ‚widersprüchliche‘ und ‚divergierende‘ Entscheidungen anführen, die Gerichte, über einen längeren Zeitraum betrachtet, fällen. Akzeptiert wird lediglich eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich auf die Überprüfung der formalen Verfahren bzw. auf die Garantie der Beteiligungsrechte beschränkt. Zweitens behaupten die Prozeduralisten die Überlegenheit der demokratischen Verfahren, nach denen auf angemessene Weise Entscheidungen über die strittigen Grundwerte getroffen werden könnten. Diese effektive Funktionsweise und Überlegenheit demokratischer Verfahren muss auch behauptet werden, um dem Missbrauchsargument („Diktatur der Mehrheit“) zu entgehen. Die demokratischen Verfahren sind somit anspruchsvoll und verlangen den ‚mündigen Bürger‘, der autonom und moralisch verantwortlich an Entscheidung in deliberativen Verfahren beteiligt ist. Entsprechend fordernd sind die Kriterien, die Dahl13 für den demokratischen Prozess formuliert, dessen Funktionsweise wiederum von der Existenz von primary political rights geprägt ist.14 Die Verteidigung des Constitutionalism15 erfolgt auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Zum einen wird die Verfassung als ermächtigende Grammatik für demokrati12 Elster, J., Introduction, in: Elster, J. / Slagstad, R. (Hersg.): Constitutionalism and Democracy, Cambridge: Cambridge University Press, 1988, S. 6. 13 Dahl, R. A., (Fn 11) 108 – 114. 14 Zu den primary political rights zählt Dahl (1989: 167 – 173) alle Rechte, die dem demokratischen Prozess (effektive und aufgeklärte Partizipation, Stimmengleichheit, Agendakontrolle) immanent sind (z. B. Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, freie und faire Wahlen). 15 Holmes, S. (Fn 6) 299 – 305; Sunstein, C. R., Constitutions and Democracies: An Epilogue, in: Elster, J. / Slagstad, R. (Hrsg.): Constitutionalism and Democracy, Cambridge: Cambridge University Press, 1988, S. 327 – 353; Dworkin, R., Gleichheit, Demokratie und die Verfassung: Wir, das Volk, und die Richter, in: U. K. Preuß (Hrsg.): Zum Begriff der Verfassung.

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sches Handeln verstanden (Holmes) und zum anderen bezieht sich die Verteidigung der Verfassung auf die ihr zugrunde liegenden Grundrechte („Rechte als Trümpfe“, Dworkin); „Trümpfe“ sind die in einer Verfassung enthaltenen Rechte der einzelnen gegenüber der normalen Politik im Sinne von Policy-Entscheidungen. Auf der ersten Ebene wird generell die Idee einer Verfassung verteidigt, wobei unterstellt wird, dass diese umfassend demokratieverträglich ist. Die grundlegende Idee besteht darin, dass die Verfassung nicht nur als handlungsbegrenzend, sondern gleichfalls als handlungsermächtigend im Sinne einer Grammatik des politischen Prozesses begriffen wird. Auch der demokratische Prozess werde folglich nicht nur begrenzt, sondern mit der Verfassung konstituiert. In der konstitutionellen Sichtweise lässt sich der Entzug der Entscheidungskompetenz oder zumindest die erschwerten Entscheidungsbedingungen des demokratischen Souveräns über bestimmte Sachverhalte (Staatsordnung, materielle Bestimmungen etc.) weiterhin durch die erforderliche Stabilität, Berechenbarkeit und Kontinuität politischer Gemeinwesen begründen. Gerade die Grundstrukturen politischer Ordnung sollen nicht zur ständigen Disposition kurzfristiger Stimmungen stehen, da mögliche Fehlentscheidungen auch nur begrenzt reversibel sind. Aufgrund dieser Funktionsleistung trägt das konstitutionelle Prinzip zur Stabilisierung der Demokratie bei. Auf der zweiten Ebene, die sich auch für die Rechtfertigung einer materiellen Rechtsstaatskonzeption anwenden ließe, wird die Existenz von Rechten als dem demokratischen Prozess vorläufig und vorrangig verstanden. Diese limitieren den demokratischen Entscheidungsspielraum, indem sie diejenigen Entscheidungen unterbinden, die mit unzulässigen Beschränkungen der Grundrechte verbunden sind. Da sich die Entscheidenden nicht selbst kontrollieren sollen und auch nur unzureichend können, besteht die Notwendigkeit einer externen richterlichen Kontrolle (judicial review). Hierbei sprechen nach Dworkin16 (1994: 172f) zusätzlich folgende Gründe für die Überlegenheit dieser Kontrolle. Die richterliche Deliberation ist dem aktuellen politischen Streit und den strategischen Zwängen entzogen und mit funktionalem Wissen (technischer Kompetenz) und adäquaten Auslegungsfähigkeiten ausgestattet (hermeneutische Interpretationsverfahren). Die externe Kontrolle ermöglicht zudem eine bessere Bewertung der Situation (vgl. ‚Schiedsrichtersitz‘), als wenn die Beteiligten selbst darüber entscheiden müssten. Dies beruht nicht nur auf der damit möglichen Distanz zum Entscheidungsgegenstand und dem damit gewonnenen Überblick, sondern auch auf der weitgehenden Abwesenheit von Eigeninteressen. Wie könnte beispielsweise eine strukturelle Minderheit ihre Rechte wahren, wenn sie stets vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig ist? Dem stärksten Argument liegt die Unterscheidung von Interessen und Rechten zugrunde. Während erste der Mehrheitsregel unterliegen, können Gültigkeit und Richtigkeit von Rechten Die Ordnung des Politischen, Frankfurt / Main: Fischer Taschenbuch, 1994, S.171 – 209; Kriele, M., Die Menschenrechte zwischen Ost und West, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1997. 16 Ebd.

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nicht abhängig von Mehrheitsmeinungen gemacht werden, sondern nur aufgrund ihrer moralischen Kraft bestehen. Ihre Begründung entstammt der moralischen Vernunft, die nicht politischen Kompromissen unterworfen werden kann.17 Die Vorrangigkeit von Grundrechten gegenüber dem demokratischen Prozess basiert gleichfalls auf der Einsicht in die Unmöglichkeit, das Gemeinwohl oder den allgemeinen Volkswillen bestimmen zu können. Der Verzicht auf den Anspruch absoluter Wahrheiten bedeutet die Akzeptanz anderer Meinungen und schließt damit das Existenzrecht von Minderheitspositionen ein, die um eine potentielle Mehrheit kämpfen.18 In dem Maße wie die Mehrheit mit ihren Entscheidungen die Rechte der Minderheit verletzt, werden deren Mitglieder ihrer Rechte entäußert. Damit würde eine solche Demokratie die sie kennzeichnende und tragende Legitimität, die sie gerade in ihrer Bezugnahme auf die Selbstregierung des gesamten Volkes oder aller Bürger besitzt, verlieren und damit die Grundlage aufgeben, die Kielmansegg19 bereits dem Staat zuweist: „Legitim ist der Staat, der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt.“ III. Konsequenzen für das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat: Möglichkeiten der Vermittlung Nach der Darstellung beider Positionen ist zu fragen, ob nicht alle die Existenz von dem demokratischen Prozess vorgelagerten oder innewohnenden Rechten (Freiheit im Sinne der Partizipationsrechte bei Maus und primary political rights bei Dahl) behaupten und die Prozeduralisten keine Relativisten sind, da sie auf substantielle Setzungen (im Sinne von Rechten) rekurrieren (müssen)? Wird nicht damit die Entscheidungsgewalt des Souveräns durch die notwendige Beachtung der demokratieimmanenten Werte gleichfalls begrenzt? Es sei nur an das lapidare Diktum von Dahl20 erinnert, wonach der politische Prozess gestört sei, wenn die von ihm genannten demokratischen Grundlagen („primary political rights“) verletzt werden.21 Da die Ansprüche an den demokratischen Prozess sehr hoch sind (enlighten17 Entsprechend konstatiert Martin Kriele (1977: 10): „Die Menschenrechte haben Vorrang vor dem Mehrheitsprinzip.“ 18 Kelsen, H., Vom Wesen und Wert der Demokratie, Aalen: Scientia Verlag, 1963 (= Neudruck der 2. Aufl. von 1929), 102 f.; Lenk, K., Probleme der Demokratie, in: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): Politische Theorie von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1993, S. 975 f.; „Wer die ‚Herrschaft der Mehrheit‘ zur Grundlage staatlichen Handelns erheben will, darf vor allem auch die prinzipiellen Schranken nicht außer acht lassen, die dem Mehrheitsprinzip innewohnen: Diese umfaßt nicht die Befugnis, die Bedingungen aufzuheben, auf denen es beruht: nämlich die Achtung der Menschenwürde und die daraus folgende fortdauernde, gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz eines jeden; dies schließt zugleich die Chance ein, daß gegenwärtige Minderheitsmeinungen zu Mehrheitsmeinungen werden“ (Zippelius 1991: 128). 19 Kielmansegg, P. Graf, Volkssouveränität, Stuttgart: Klett, 1977, 258. 20 Dahl, R. A. (Fn 11), 170. 21 Ebd., 171; Vallespin, F. (Fn 10), 107.

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ed understanding), wäre solch eine Verletzung empirisch durchaus möglich.22 Dahl spricht daher auch von den prinzipiellen Irrtumsmöglichkeiten des Souveräns, die nur durch verbesserte deliberative Verfahren reduziert werden können. Wenn wir seine Kriterien der Polyarchie als Maßstab der Qualität des demokratischen Prozesses anlegen, so erscheint angesichts der empirischen Befunde in vielen Demokratien seine Position der ausreichenden Kontrolle durch den demokratischen Prozess wenig plausibel. Maus arbeitet in ihrem Konzept der Volkssouveränität mit geringeren Voraussetzungen. Sie riskiert hierbei aber auch größere ‚Fehlinterpretationen‘ durch den Souverän, die zu Lasten der Grundrechtssicherung gehen können. Solch eine Interpretation ist bei ihr jedoch nicht naheliegend, da sie keinen normativen Standpunkt akzeptiert, der zu solchen Bewertungen berechtigt. Die Setzung und Entfaltung aller Rechte entspringt der Volkssouveränität. Dies gilt bei Dahl auch, nur wird die Volkssouveränität in den ‚primary political rights‘ institutionell verankert. Doch bei beiden Ansätzen ist die aufgeworfene Frage nach der Behauptung von Rechten zu bejahen, wenngleich sie damit nicht als Vertreter eines materiellen Rechtsstaats zu verstehen sind, da ihr ‚Grundrechtekanon‘ in der bloßen Berücksichtigung der dem status activus immanenten Rechte wesentlich schlanker ausfällt als bei dem gängigen Verständnis, das auf dem status negativus basiert. Mit dieser Position können sie aber auch nicht in einem rechtspositivistischen Verständnis strikt relativistischer Provenienz verstanden werden. Unbestritten von allen Positionen ist die Begrenzung der Herrschaftsausübung durch die Prinzipien des formalen Rechtsstaates. Nun ließe sich zwar auch darüber streiten, inwieweit damit bereits implizit Normen eingeführt sind,23 doch weiterführend ist die Frage, welche Normen oder Rechte explizit behauptet und wie begründet werden. Von den Prozeduralisten und den Konstitutionalisten wird jeweils eine prinzipielle Antwort gegeben. Während die ersten auf die Rechte rekurrieren, die sie mit dem demokratischen Prozess immanent gegeben sehen und diesem also nicht vorrangig sind, behaupten die zweiten einen Grundrechtekanon, der dem demokratischen vorgelagert ist und unabhängig von ihm existiert. Die demokratieimmanenten Freiheitsrechte sind nicht deckungsgleich mit gängigen Grundrechtskatalogen. So können alle Rechte, die nicht konstitutiv mit der Demokratie verbunden sind, sondern aus ihr abgeleitet werden, im ‚vordemokratischen‘ Grundrechtekanon keine Berücksichtigung finden, wie beispielsweise die Religionsfreiheit. Diese Lü22 Dahl (1989: 112) bestimmt das Kriterium des „enlightened understanding“ wie folgt: „Each citizen ought to have adequate and equal opportunities for discovering and validating (…) the choice on the matter to be decided that would best serve the citizen’s interests.“ Dahl reflektiert die verfassungsrechtliche Bindung in der Verteidigung des Vorrangs demokratischer Entscheidung gegenüber konstitutionellen, rechtsstaatlichen Garantien zu gering. Er wäre allerdings falsch verstanden, wenn man ihm ein unbeschränktes Volkssouveränitätsverständnis unterstellen würde („Of course democracy has limits“, Dahl 1989: 172). 23 Ten, C. L. Constitutionalism and the Rule of Law, in: R. E. Goodin / Ph. Pettit (Hrsg.): A Companion to Contemporary Political Philosophy, Oxford: WB Verlag, 1993, S. 399 ff.

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cke wird von den Rechtebefürwortern (‚rigths foundationalists‘) wie Dworkin geschlossen, der ausgehend von den Grundprinzipien der Gleichheit und der Freiheit einen umfassenderen Grundrechtskatalog aus der amerikanischen Verfassung erschließt. Mit diesem Begründungsweg wird zugleich eine Schwäche dieser Position deutlich. Dworkin sieht die Rechte in der Verfassung als gegeben und bemüht sich weniger um eine Fundierung der Rechte, die auch in anderen Regionen und Kulturkreisen tragfähig wäre,24 sondern konzentriert sich auf die Frage nach der angemessenen Art und Weise der Interpretation der Grundrechte. Einen Ausweg aus diesem Problem der Präzisierung und Begründung der notwendigen Grundrechte schlägt Jürgen Habermas25 vor. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat ist die These der Gleichursprünglichkeit, die sich in den Konzeptionen des modernen Rechts (s. Vernunftrecht bei Locke, Rousseau, Kant) findet. Beide Aspekte ‚Grundrechte‘ und ‚demokratische Verfahren‘ stehen in einem engen konzeptionellen Zusammenhang,26 der sowohl genetisch als auch systematisch betrachtet die normative Basis der Rechtsstaates darstellt. Analog wie Dahl und Maus geht Habermas von einer zweistufigen Rechtskonstruktion aus. Demnach ist für die Identifizierung beziehungsweise Ausdifferenzierung der Rechte ein Satz von basalen Rechten notwendig, der die Grundlage für diese Aufgabe bildet. Welche Rechte müssen vorausgesetzt werden, wenn Bürger „ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen?“27 Mit Michael Becker,28 der das treffende Attribut basal einführt, lassen sich drei basale Rechte nennen, die Habermas29 als Rechtskode begreift, in der die private Autonomie der Rechtsgenossen zum Ausdruck gebracht werden: (1) Recht auf das größtmögliche Maß gleicher subjektive Handlungsfreiheiten (s. Menschenrecht auf Freiheit bei Kant), (2) Grundrechte, die sich aus dem Status der Mitgliedschaft in freier Assoziation von Rechtsgenossen ergeben und (3) Schutz individueller Rechte (im Sinne von Justizgrundrechten / Prozessrechten). Um nun die basalen Rechte von der Sphäre privater Autonomie auf die verbindliche Ebene der Politik zu transformieren und zugleich mit einem allgemeinen Legitimationsanspruch zu Schultze-Fielitz, H. (Fn 2), S. 1 – 23. Habermas, J., Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag, 1996, S. 293 – 305; Habermas, J., Politische Theorie, Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag, 2009. 26 Ebd., S. 294. 27 Habermas, J., Faktizität und Geltung, Franktfurt / Main: Suhrkamp Verlag, 1992, S. 151. 28 Becker, M., Grundrechte versus Volkssouveränität? Zur Achillesverse des demokratischen Prozeduralismus, in: ders. / Lauth, Hans-Joachim / Pickel, Gert (Hrsg.): Rechtsstaat und Demokratie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2001, S. 45 – 68; Becker, M., Verständigungsorientierte Kommunikation und rechtliche Ordnung, Baden-Baden: NomosVerlag, 2003, S. 143. 29 Habermas, J. (Fn 27), S. 155 f. 24 25

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verbinden, bedarf es einer vierten Rechtekategorie, die sich in dem allgemeinen Anspruch auf Partizipation an dem Willensbildungs- und Gesetzgebungsprozess ausdrückt. Rechtskode und politische Partizipationsrechte bilden nun die Grundlage für die weitere Interpretation und Positivierung von Rechten, die sich in dieser zweiten Stufe vollziehen. Hierbei sind nicht nur die institutionellen Repräsentanten von Bedeutung, sondern auch im besonderen Maße der Bereich der Öffentlichkeit als Vermittlungsinstanz (‚kommunikative Macht‘), deren Zusammenspiel sich erst angemessen in Formen deliberativer Demokratie erschließt. Entsprechend spricht Vallespín30 von der „diskursive[n] Beschaffenheit der Grundrechte“. Die Ausgangsfrage nach der Auswahl und Begründung der Grundrechte wird durch die Identifikation von Normen beantwortet, die den kommunikativen und demokratischen Verfahren notwendiger Weise zugrunde liegen müssen. „Der entscheidende Grundgedanke ist, daß sich das Demokratieprinzip der Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform verdankt“.31 Die Qualität der Verfahren bedingt letztlich die Sicherung und Entfaltung der Grundrechte. Die Vernünftigkeit des Verfahrens selbst beruht schließlich und endlich auf den normativen Implikationen, die ihm innewohnen. Habermas ist mit diesem Vorschlag jedoch nur begrenzt als Mittler zwischen den beiden Positionen von Prozeduralisten und Konstitutionalisten zu verstehen, wie Vallespín32 anregt. Eher ist er als Vertreter einer differenzierteren Form prozeduralistischer Argumentation zu sehen, indem er die Erschließung von Grundrechten nicht allein an den demokratischen Prozess bindet, sondern bereits auf der vorgelagerten Ebene der kommunikativen Verständigung ansiedelt. Damit kann er die Existenz von dem demokratischen Prozess vorgängigen Rechten behaupten, deren weitere Entzifferung dann wiederum – wie bei Dahl und Maus – dem demokratischen Souverän obliegt. Der Souverän kann somit über Grundrechte verfügen, jedoch nicht über die, welche im Rechtskode als basale gegeben sind. Allerdings kann es für die basalen Rechte keine generelle Grundrechtssicherung im konstitutionellen Rahmen geben, da die Formulierung konstitutioneller Rechte erst in der zweiten Stufe erfolgen kann und somit von dem Willen und der Bereitschaft des Souveräns abhängt, sie entsprechend zu verankern. Die vertiefte Behandlung der prozeduralistischen Position bestätigt die bisherige Interpretation, wonach sie nicht mit einem rein positivistischen Rechtsverständnis einher geht. Auch sie behauptet unveräußerliche Rechte, deren Ausdifferenzierung dann allerdings dem demokratischen Souverän überlassen wird. Es kann somit keine bleibende Grundrechte-Charta erstellt werden, da deren konkrete Fassung stets von der jeweiligen historischen Situation abhängt. Die durchaus sympathische Offenheit bedingt jedoch zwangsläufig, dass Rechtslücken hinsichtlich grundlegender Menschenrechte möglich sind. 30 31 32

Vallespin, F. (Fn 10), S. 118. Habermas, J. (Fn 27), S.154. Vallespin, F. (Fn 10), S. 118.

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Diese Lücke wird von der Konzeption des materiellen Rechtsstaats geschlossen, in dem die Bestimmung der Menschrechte deutlich über die partizipativen Rechte hinausreicht. Der Umstand divergierender Rechtebestimmungen sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass viele Aspekte in der Bestimmung des materiellen Kerns des Rechtsstaates auf einen inzwischen erreichten Konsensbestand verweisen können, der sich in den internationalen Menschenrechtschartas oder in den nationalen Verfassungen widerspiegelt. Wenn wir diese historischen Entwicklungen der Grundrechte ernst nehmen, gewinnen wir neben der gezeigten Möglichkeit der Rechteerzeugung durch Vernunftbegründung basaler Rechte und deren demokratischer Interpretation einen weiteren Weg, der sich im Argument des ‚gängigen Standards‘ bündeln lässt. Prozeduralistisch gewendet bedeutet dies nichts anderes, als die bereits gewonnenen Diskursergebnisse unterschiedlicher Länder und Generationen ernst zu nehmen. Zu beachten ist jedoch der unsichere Status solch eines Konsenses, der über ein empirisch kontingentes Resultat informiert. In der Interpretation dieses Befundes ist außerdem der naturalistische Fehlschluss vom Sein auf das Sollen zu vermeiden. Weiterführend ist daher der Einbezug der ihnen zugrunde liegenden Begründungsstrukturen, der empirische Beobachtungen und normative Argumentation verbindet. Die Orientierung an ‚gängigen Standards‘ stößt zudem an Grenzen, wenn damit der Blick nicht nur auf Gemeinsamkeiten, sondern auch auf Differenzen in der Interpretation von Grundrechten gerichtet wird. Hierbei wird deutlich, dass manche Dissonanzen bestehen bleiben und neue Streitfelder erwachsen. Zu erwähnen sei nur die Schwierigkeit, selbst grundlegende Menschenrechte übereinstimmend zu präzisieren, wie die Debatten über Abtreibung, Sterbehilfe oder Gentechnologie vielfältig beweisen. Ein weiterer Streitfall bildet die Frage des Einbezugs kollektiver Menschenrechte oder Gruppenrechte in einem Verständnis, das über den bislang thematisierten Minderheitenschutz hinausgeht, wenn die explizite Förderung von Minderheiten damit angestrebt wird. Zugleich lassen sich systematische Argumente aus demokratie-theoretischer Perspektive anführen, die zeigen, dass die rechtsstaatliche Bindung demokratische Herrschaft geradezu zum Ausdruck bringt. Franz Neumann33 unterstreicht den engen konstitutiven Zusammenhang zwischen Grundrechtssicherung und freier Selbstbestimmung: „Das demokratische politische System ist das einzige, das das aktivistische Element der politischen Freiheit institutionalisiert. Es institutionalisiert die Möglichkeiten des Menschen, seine Freiheit zu verwirklichen und die Entfremdung von der politischen Macht zu überwinden. (…) Die rule of law, ausgedrückt in den Grundrechten, verhütet die Zerschlagung von Minderheiten und die Unterdrückung abweichender Meinungen (…). Der Bürger kann zwischen Alternativen nur wählen, wenn er wirklich frei wählen kann; das heißt, wenn seine persönlichen und gesellschaftlichen Rechte geschützt werden.“ Wenn das Prinzip der Volkssouveränität an 33 Neumann, F., Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt / Main: Europäische Verlagsanstalt, 1986, S. 126.

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die individuellen Grundrechte gekoppelt wird, die auf der verantwortlichen Autonomie und Würde des einzelnen basieren, dann sind mit ihm mehr als nur diejenigen politischen Grundrechte verbunden, die Dahl im Sinne hat. Es schließt die bürgerlichen Freiheitsrechte des status negativus gleichfalls ein. Mit diesen Rechten erschließt sich eine äußerst enge Korrespondenz mit dem Grundrechtekanon des materiellen Rechtsstaats. Zum Abschluss der Diskussion wenden wir uns nochmals dem Unterschied zwischen Verfassungsstaat und materiellem Rechtsstaat zu. Behauptet der materielle Rechtsstaat die Notwendigkeit von Grundrechten und Verfahrensrechten, so bedeutet der Verfassungsstaat darüber hinaus die Verteidigung zusätzlicher Merkmale einer Verfassung, vor allem diejenigen der Staatsordnung. Während die beiden Merkmale des materiellen Rechtsstaats als notwendig für die Demokratie behauptet und sogar als Merkmale von ihr begriffen werden (und nicht disponibel sind), gilt dies nicht in gleicher Weise für die Staatsordnung. Zwar benötigen alle Demokratien eine solche, doch ihre Form kann im Rahmen des materiellen Rechtsstaats (einschließlich der demokratischen Partizipationsrechte) unterschiedlich ausgeprägt sein. Zur Rechtfertigung der jeweiligen Form können ausschließlich funktionale Gründe angeführt werden, deren Plausibilität letztlich vom empirischen Kontext abhängt. Damit ist das Argument einer möglichen Spannung von Verfassung und Demokratie nicht völlig von der Hand zu weisen. Generell ist nicht auszuschließen, dass durch rigide Verfassungsbestimmungen – vor allem hinsichtlich ihrer schwierigen Veränderbarkeit – demokratieproblematische Konstellationen auftreten können. Demokratietheoretisch betrachtet ist es nicht plausibel, den politischen Entscheidungsraum jenseits des skizzierten Sperrbezirks34 stark einzuengen. Allerdings ist das Urteil einer generellen Spannung zwischen Verfassungsstaat und Demokratie überzogen.35 Zum einen sind Verfassungsänderungen faktisch durch demokratische Verfahren möglich, wie die Geschichte der Verfassungen in zahlreichen Ländern ausgiebig belegt. Zum anderen trifft die Kritik an der Beharrungskraft von Verfassungsnormen weniger den Verfassungsstaat selbst, sondern die spezifischen Formen von Regierungssystemen, die diese Kontrollen beinhalten und die in einer rigiden Variante im Sinne von Kelsen36 in Richtung einer Tyrannei der Minderheiten tendieren, da der Status quo somit schwierig zu überwinden ist. Ein treffendes Beispiel bildet dafür die Konsensdemokratie, wie sie von Lijphart37 typologisch bestimmt wurde.38 Dagegen kennt eine Mehrheitsdemokratie, so34 Garzón Valdés, E., Repräsentation und Demokratie, in: Werner Krawietz / Jerzy Wróblewski (Hrsg.): Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts, Berlin: Duncker & Humblot, 1993, S. 124. 35 Sartori, G., Demokratietheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, 194 f. – modifiziert 384 f.; Elster, J. (Fn 12), S. 1 – 18. 36 Kelsen, H., Allgemeine Staatslehre, Bad Hohenburg / Homburg: Springer Verlag, 1966, S. 323, (original 1925).

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lange sie gleichfalls als Verfassungsstaat verstanden werden kann – also zumindest ein Verfassungsgericht besitzt, weitaus weniger spezifische Schranken für eine Verfassungsänderung. Die einfache Mehrheit im Parlament kann hierfür ausreichend sein und als Verfassungsgesetzgeber fungieren. Die faktischen Hürden hinsichtlich demokratietheoretisch disponibler Bestimmungen entspringen – abgesehen von dem genuinen Stabilitätsinteresse des Rechtssystems – somit nicht dem Rechtsstaatsgedanken und nur begrenzt dem Verfassungsstaat, sondern einem spezifischen Typus des Regierungssystems, der dem Regierungshandeln große Restriktionen entgegen stellt. An diesem hätte sich die Kritik der Verletzung demokratischer Volkssouveränität zu orientieren. Auch wenn die demokratietheoretische Problematik nicht zu ignorieren ist, lassen sich aber selbst die Hürden in einer Hinsicht demokratietheoretisch im positiven Sinne wenden, was Dahl39 in seiner Verfassungsdiskussion zu gering achtet. Die Superiorität der Verfassung bzw. ihre Beharrungskraft verhindert, dass spontane Mehrheiten grundlegende Regeln und Rechte zu ihren Gunsten verändern. Sie trägt somit – wie die Konstitutionalisten betonen – zur Garantie des Offenhaltens des politischen Prozesses bei, der eine ständige Opposition erfordert.40 In diesem Verständnis reflektieren Verfassungsregeln nicht nur vergangene Entscheidungen, sondern ziehen auch die Garantien zukünftiger Entscheidungen in Betracht.

IV. Fazit Die mögliche Spannung zwischen Konstitutionalismus und Demokratie ist durchaus zu vermitteln. Dies gilt umso mehr, wenn die oben erläuterte Position akzeptiert wird, dass dem Verständnis von Demokratie eine Begrenzung von Herrschaft imma37 Lijphart, A., Democracies: Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-one Countries, New Haven: Yale University Press, 1984.; Lijphart, A., Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, New Haven and London: Yale University Press, 1999. 38 Entsprechend unterstreicht Böckenförde (1991: 338): „Das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten für bestimmte Entscheidungen bedeutet in aller Regel weder eine Verstärkung von noch ein Mehr an Demokratie. Es dient dem Minderheitenschutz und einer erhöhten Bestandsgarantie für davon betroffene Materien“ (vgl. ebd.: 339). Hadenius (1992: 11f) hebt hervor, dass die Qualifizierung von Entscheidungsmehrheiten den Stimmenwert ungleich gewichtet, was im Falle von Mehrheitsentscheidungen nicht der Fall ist. Ist eine Konsensdemokratie somit weniger demokratisch (was Anhänger einer uneingeschränkten Volkssouveränitätskonzeption behaupten müssten) als eine Mehrheitsdemokratie? In ihren jeweiligen Extremvarianten sind beide keine angemessenen Ausdrucksformen funktionierender Demokratien. Während die erste in der Tat die Freiheitsdimension merkbar beschneidet, fehlt bei der zweiten eine kontinuierliche effektive Kontrolle. Doch ist die Diskrepanz nicht so stark, um von demokratischen Defekten zu sprechen. Beide repräsentieren unterschiedlich akzentuierte Demokratiemodelle im Bereich funktionierender Demokratien. 39 Dahl, R. A. (Fn 11), 172 f. 40 Holmes, S. (Fn 6), S. 301 ff.

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nent ist. „There is no inevitable tension between democracy and constitutionalism“.41 Noch deutlicher wird Holmes42: „Nevertheless, the idea of an inherent tension between constitutionalism and democracy is empirically unconfirmed and theoretically inadequate“. Konstitutionalismus, der von Holmes allerdings weitgehend als materieller Rechtsstaat begriffen wird, setzt nicht nur Handlungsrestriktionen, sondern ermöglicht die tatsächliche Inkraftsetzung der Volkssouveränität. Es bleibt allerdings zu beachten, dass die Restriktionen des Konstitutionalismus im Sinne eines Verfassungsstaates höher sind als im Rahmen des materiellen Rechtsstaats. Wenn Verfassungen andere Sachverhalte – z. B. den Föderalismus im GG – unter Vorbehalt stellen, ist dies kein Ausdruck der unveränderlichen Grundbausteine des Rechtsstaats, sondern schlicht eine Verfassungsschranke, die aus demokratietheoretischer Sicht problemlos zu verändern wäre. Daher ist es nicht unproblematisch, entscheidungsoffene Bereiche dem demokratischen Prozess durch zu hohe Hürden zu verschließen, wie dies bei dem Verfassungsstaat möglich ist. Mit dem Verzicht auf eine materielle Verfassungsgerichtsbarkeit, wie es dagegen die Prozeduralisten präferieren, wird das Souveränitätsprinzip auf wenig plausible Weise verabsolutiert und gerät dabei selbst in Begründungsprobleme. Wie können die demokratischen Grundprinzipien aufrechterhalten werden, wenn auf institutionellen Schutz verzichtet wird? Dies erfordert eine Verlagerung der normgeleiteten Handlungsrestriktionen in das Individuum, und somit eine innere Kontrolle. Nur durch die ‚freiwillig‘ anerkannten normativen Barrieren des Handelns autonomer Individuen kann ein rationales Ergebnis entstehen, das auf Makroebene nicht die demokratischen Grundlagen beschädigt oder sogar aufhebt. Wenn solch ein Konsens besteht, ist in der Tat kein Schutz mehr notwendig. Doch die durch die Befunde der aktuellen Demokratieforschung informierte institutionelle Schutzargumentation geht davon aus, dass gerade diese Annahme die illusionäre Ausnahme ist.43 Zwar setzt die rechtsstaatliche Kontrolle und Einhegung der Regierung der Volkssouveränität Grenzen, aber sie ermöglicht jene gerade damit und schützt sie vor einer Selbstzerstörung. So impliziert die Vermeidung des Selbstabschaffungsparadoxons eine Begrenzung der demokratischen Entscheidungsagenda.44 Das funktionale Argument hinsichtlich positiver Entstehungsbedingungen und Stabilitätssicherung von Demokratien gilt hier verstärkt.45 Nicht zu ignorieren ist jedoch auch die Gefahr einer unzulässigen Kompetenzzuweisung durch ein Verfassungsgericht, die weit in den Raum der politisch disponiblen Entscheidungen hinreicht und die Rolle eines Ersatzgesetzgebers betrifft.46, 47

Sunstein, C. R. (Fn 15), S. 352 f. Holmes, J. (Fn 6), S. 300. 43 Merkel, W., Systemtransformation: Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010. 44 Analog im Verständnis von Dahl, R. A. (Fn 11), S. 170 f. 45 Carothers, T., The Rule of Law Revival, in: Foreign Affairs, Vol. 77 (March / April – 2), 1998: S. 95 – 106. 41 42

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Eine adäquate Lösung des doppelten Kontrollproblems (Garantie der Rechte und zugleich Begrenzung des Verfassungsgerichts) besteht darin, dass diese Rechte nicht mehr grundlegend zur Diskussion gestellt werden, aber diskursiv weiterentwickelt werden können. Dazu ist ein abgestimmter Prozess im Austausch von demokratischen Entscheidungsverfahren und verfassungsrechtlichen Prüfungen notwendig, dessen Plausibilität sich stets im kommunikativen Prozess der Öffentlichkeit rechtfertigen muss. Damit wird ein zu riskantes Überlassen an einfache Mehrheitsentscheidungen ebenso vermieden wie ein ‚Richterstaat‘. Die Koppelung des Rechtsstaats an die Demokratie erweist sich in doppelter Weise als produktiv. Sie schützt die Demokratie vor einer Erosion ihrer Grundlagen und ermöglicht dem materiellen Rechtsstaats eine Weiterentwicklung ihres normativen Bestands. In diesem Sinne ist Demokratie in der Tat ein reflexives Konzept, das ihre eigenen Spielregeln stets modifiziert ohne sie jedoch zur Disposition zu stellen. Welche institutionellen Formen mit welchen Kompetenzen im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit angemessen sind, lässt sich nicht abstrakt bestimmen, da sie in Abhängigkeit der Qualität des demokratischen Prozesses stehen. Je höher dieser ausgeprägt ist, desto mehr kann die institutionelle Kontrolle zurückgefahren werden und das gleiche gilt vice versa. Durchaus im Sinne der Prozeduralisten und des eigenen Integrationsvorschlages sollte nicht nur auf die Gabe der Selbstbeschränkung eines Verfassungsgerichts vertraut, sondern vielmehr durch eine öffentliche Debatte die Rechtfertigung der zu ziehenden Grenze (der Interpretationskompetenzen) stets auf das Neue verlangt werden. Als Ergebnis der Überlegungen können wir festhalten: Der Rechtsstaat in seiner materiellen Fassung erweist sich als die angemessene Form demokratischer Herrschaft, weil er genau den normativen Grundbestand schützt, der konzeptionell mit der Demokratie verbunden ist. Ein lediglich formal verstandener Rechtsstaat unterschätzt diese normative Bindung und kann sich dem autokratischen Missbrauch nicht gänzlich entziehen, da Grundrechte zur Disposition gestellt werden können. Der Verfassungsstaat überzieht den Bindungsspruch, indem er auch nicht demokratierelevante Sachverhalte unter Kautel stellt.

46 Höffe, O., Wie viel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, in: Der Staat 38. Jg. (2), 1999: S. 171 – 193; Kneip, S., Demokratieimmanente Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Becker / Zimmerling (Hrsg.): Politik und Recht, 2006, S. 259 – 281. 47 Die Konsequenzen sind auch hierbei demokratietheoretisch problematisch, wie Höffe (1999: 185) hinsichtlich des BVerfG argumentiert: „Die Folgen der expansiven Verfassungsinterpretation sind nicht gering. Da der politisch-parlamentarische Prozeß an Gewicht verliert, läuft die ‚methodische Selbstbedienung‘ des Verfassungsgerichts auf eine Gefährdung der Demokratie hinaus.“; vgl. Benz 2006, S. 159 f. Möglichkeiten der verfassungsrichterlichen Begrenzung diskutiert Becker 2007, S. 90.

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Summary It is hardly denied nowadays that democracy and the rule of law are closely related. However, the perceptions of the rule of law differ and their relationship to democracy varies. The article outlines the debate regarding formal and material conceptions of the rule of law as well as the constitutional state. The line of argument is structured according to the different viewpoints as well as mediating positions in the constitutionalism debate. On these grounds the article concludes with an answer to the question as to what extent democracy is able to maintain itself procedurally and in how far it has to be restricted by the rule of law.

Rechtsstaatlichkeit: Verfassungsprinzip zwischen Rechtstechnik und ethischer Dimension Anna Leisner-Egensperger

I. Fragestellung 1. Rechtsstaat: das ist zum Idealwort emporgestiegen – oder zum Modewort verkommen, je nach Grundeinstellung oder Perspektive des Beurteilenden. Im 19. Jahrhundert ist Rechtsstaat bereits zu einem Schlüsselwort öffentlich-rechtlicher Vorstellungen, im 20. Jahrhundert zum Verfassungsprinzip potenziert worden, ja zur unabänderlichen Verfassungsgrundlage (Art. 20 Abs. 3, vgl. auch Art. 28 Abs. 1, iVm. Art. 79 Abs. 3 GG)1. Dieser rechtlichen, rechtstechnischen Entwicklung entspricht eine Bedeutungsentfaltung im Politischen: Der Rechtsstaat wurde zu einer Rechtsbegrifflichkeit der Demokratie als politisches Regime, als solcher geradezu zum Kampfwort bei missionarischen Ausbreitungsbemühungen dieser Staatsform unter grenzüberschreitender „Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten“2; das Völkerrecht hatte diese bisher, herkömmlich und noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, gegen Einmischung dritter Staaten abgeschirmt. Diese Entwicklungsstränge wirken immer deutlicher hinein auch in den „gesellschaftlichen“ Bereich, schon auf politischen Wegen, aber auch in einem allgemeinen Sprachgebrauch, der sich weithin von seinen rechtlichen Ausgangsvorstellungen gelöst hat: Im Namen der Rechtsstaatlichkeit wird vor allem indiskutable Klarheit und Bestimmtheit des Ordnens gefordert, in transparenter Festlegung von Kategorien und Kriterien – in einer Welt nahezu unbegrenzter politischer und rechtlicher Debatten. 2. Auf diesen Wegen hat sich jedoch vor allem eines immer deutlicher herausgebildet: Der Rechtsstaat, zum Prinzip der „Rechtsstaatlichkeit“ erweitert und poten1 Karl-Eberhard Hain, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), 6. Aufl. 2010, Art. 79 Rn. 28; Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin: Duncker & Humblot, 1953; Hans-Uwe Erichsen, „Zu den Grenzen von Verfassungsänderungen nach dem Grundgesetz“, VerwArch 62 (1971), S. 291 ff. 2 Matthias Herdegen, Völkerrecht, 12. Auflage, München: C. H. Beck, 2013, § 35; Hartmut Jäckel (Hrsg.), Ist das Prinzip der Nichteinmischung überholt?, Baden-Baden: NomosVerl.-Ges., 1995; Philipp Kunig: Das völkerrechtliche Nichteinmischungsprinzip, Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges., 1981.

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ziert, ist zum „guten Wort“ geworden, zu einem allgemeinen Fixpunkt im Fluss der Debatten. Er widersteht jeglicher Kritik, der ständigen, nahezu unbegrenzten Relativierung aller Vorstellungen und Werte in Recht, Politik und Gesellschaft. Wer könnte es heute noch wagen – so muss es wohl bereits heißen –, sich gegen die Rechtsstaatlichkeit zu wenden, sie auch nur in Randbereichen ihrer Inhalte in Frage zu stellen? Allenfalls der Rechtswegestaat mag noch als ihre Übersteigerung erscheinen, Bürokratie als ihre den Bürgern überlastende Folge. Jenseits solcher Distanzierungen, die jedoch in Rechtstechnik zurückführen und auf diese auch beschränkt bleiben, ist Rechtsstaatlichkeit schlechthin geistig unangreifbar geworden. In ihr dominiert das Recht als solches – außerhalb von ihr beginnen Anarchie3, Terrorismus4, Verbrechen. 3. Die Rechtsstaatlichkeit muss daher zugleich in ihrer ethischen Dimension gesehen werden. Damit wird der Rechtsstaat zwar nicht als solcher in die Bestreitbarkeiten der (verfassungs)rechtlichen Wertediskussion5 geworfen; er wird aber zu einer ihrer zentralen Kategorien. Der Rechtsstaat ist gerade als Wert unangreifbar, allenfalls gilt es, die einzelnen ihn konstituierenden Elemente wertmäßig (um)zuakzentuieren. Dass damit dieser wesentlich auf Klarheit zielende Begriff (vgl. oben 1.) in die Gefahr des Formelkompromisses, ja der Rechtshülse gerät, muss immerhin aufmerksam beobachtet werden. Doch dies ändert nichts an der ethischen Dimension von Gut und Böse, in die er als „guter Rechtsbegriff“ gehört. Sie ist schon deshalb sein Raum, weil es sich hier um ein (Rechts-)Prinzip par excellence handelt,6 um eine „verbesserungs-optimierungsfähige Direktive“ – wieder näher hin zum Guten, wie es die Ethik beschäftigt. 4. Diese übergreifende Fragestellung wird hier in folgenden Schritten verfolgt: Rechtsstaat als Verfassungsprinzip wird zunächst in seinen inhaltlichen Entwicklungsschwerpunkten in Deutschland beleuchtet (im Folg. II.) und in seinen einzel3 Ulrich Klug, „Der Rechtsstaat und die Staatsphilosophie der geordneten Anarchie“, in: Ernst von Hippel / Carl Joseph Hering (Hrsg.), Staat – Recht – Kultur, Bonn: Rohrscheid, 1965, 148 – 158; Rüdiger Schott, „Anarchie und Tradition“, in: Ulrich Nembach (Hrsg.), Begründungen des Rechts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, 22 – 48; Walter Leisner, Die demokratische Anarchie, Berlin: Duncker & Humblot, 1982. 4 Gunter Warg, „Extremismus und Terrorismus. Ein Definitionsversuch aus rechtlicher Sicht“, VerwArch 2011, 570 – 589; Jochen Frowein, „Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht“, ZaöRV 2002, 879 – 905; Ulf Häußler, „Der Schutz der Rechtsidee – Zur Notwendigkeit effektiver Terrorismusbekämpfung nach geltendem Völkerrecht“, ZRP 2001, 537 – 541. 5 Joachim Detjen, Die Werteordnung des Grundgesetzes, 2009; Walter Leisner, „Werteverlust“, „Wertewandel“ und Verfassungsrecht, JZ 2001, 313; Christian Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien: Lang, 1999. 6 Alexander Heinhold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, Berlin: Duncker & Humblot, 2011; Ronald Dworkin, A Matter of Principle, Oxford: University Press, 1985; Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1977.

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nen rechtsdogmatischen Elementen verdeutlicht (im Folg. III.). Sodann kommt sein Verhältnis zur Legalität und Rule of Law in den Blick (im Folg. IV.). Ethische Dimensionen des so dargestellten Rechtsbegriffs sind Gegenstand abschließender Überlegungen (im Folg. V.). In all dem bleibt Rechtsstaatlichkeit als Rechtsprinzip stets Ausgangspunkt und zentrales Kriterium der Überlegungen. Denn was immer eine darüber hinausgreifende, in die Gesellschaft hineinwirkende Bedeutung des Begriffs sein mag: Es ist und bleibt dies ein primär juristischer Betrachtungsgegenstand.

II. Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit 1. Rechtsstaatlichkeit ist nicht etwa als ein rechtsphilosophischer Begriff entstanden und geschichtlich bewusst geworden. In allen historisch näher bekannten Gemeinschaften wurde selbstverständlich stets der Begriff der Ordnung problematisiert, in Verbindung mit dem der Rechtsnorm. Recht – Unrecht, Ordnung – Anarchie waren stets Spannungslagen, in denen aus Antithesen etwas wie staatliche Ordnung entstehen sollte. Die Geschichte der organisierten Gemeinschaft ist aber eine solche der Staatlichkeit schlechthin, nicht einer (spezifischen) Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Rechts der Gegenwart. Der Staat als Hüter der Ordnung, in diesem Sinn „des Rechts“ – das war zwar stets ein Zentrum der Staatsrechtfertigung.7 In der Aufklärung trat diese Rechte- und Pflichtenstellung des Staates dann in immer schärferen Gegensatz zu Rechten der Individuen. Eine „Einheit von Rechtsstaat und Recht“, in welcher der „Staat als solcher zu Recht würde“, nur aus diesem und in seinen Formen wirken könnte8, war damit aber noch nicht gefordert. Erst mit der Grundrechtsbewegung wurden dem Staat systematisch rechtliche Schranken gezogen. Aber auch das zeigte ihm zunächst nur rechtliche Grenzen auf; sein Wesen als solches wurde noch nicht als „rechtlich durchwirkt“ gesehen, durch Inhalte und in Formen des Rechts. Vor dem 19. Jahrhundert kann nicht von Rechtsstaatlichkeit im heutigen Sinn die Rede sein. 2. Historische Geburtsstunde der Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Gegenwart ist der deutsche Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts.9 Damals wurde erstmals, 7 Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Auflage, München: C. H. Beck, 2010, S. 99 ff.; Josef Isensee, „Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates“, JZ 1999, 265 – 278; Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Wien: Julius-Springer-Verlag, 1925, S. 27 ff. 8 Hans Kelsen, in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Reine Rechtslehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, S. 115 ff.; Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses zwischen Staat und Recht., Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1922; Hans Kelsen, Grundriß einer allgemeinen Theorie des Staates, Brünn / Wien: Rudolf M. Rohrer, 1926. 9 Vgl. dazu instruktiv Bodo Pieroth, „Historische Etappen des Rechtsstaats in Deutschland“, Jura 2011, 729, 731 ff.; Werner Frotscher / Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Auflage, München: C. H. Beck, 2012, S. 222 ff.; Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 3. Auflage, München: C. H. Beck, 2006, S. 434 ff.

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unter dem beherrschenden Einfluss der deutschen spätidealistischen Philosophie, vor allem Hegels, der Staat als solcher systematisch als Juristische Person erkannt, aus dem monarchischen Monopol des „L’Etat c’est moi“ (Ludwig XIV.) befreit. Er trat als Über-Person über alle Staatsorganträger, insbesondere Monarch und Volk. Damit war der Weg offen zu einer begrifflich-grundsätzlichen Annäherung von Staat und Recht; sie wurde, wiederum in Deutschland, als „Rechtsstaat“ in das sich entfaltende Verfassungsrecht als dessen neuer Kern-Begriff eingeführt: Vom Recht als Grenze (der Macht) des Staates, zum Recht als „Wesen des Staates“ in Rechtsstaatlichkeit.10 Damit war schon eine weitere Kategorisierung vorgezeichnet: Formelle Rechtsstaatlichkeit, Staatsgewalt / Tätigkeit nur in rechtlichen Formen, und materielle Rechtsstaatlichkeit, Staatsaktivitäten nur in Achtung vor gewissen (höheren) Rechtspositionen, vor allem vor den Grundrechten der Bürger. Der Staat erhielt nicht nur ein rechtliches Gesicht, Recht war Blut in all seinen Adern. 3. Diese Entwicklung vollzog sich, wiederum der Entfaltung der Dogmatik des deutschen Staatsrechts entsprechend, vor allem in zwei Phasen, die der formellen und materiellen Rechtsstaatlichkeit entsprachen: Rechtsstaatlichkeit war zunächst, für die Begriffsschöpfer der konstitutionellen Periode, im Wesentlichen ein juristischer Forderungs-, ja Kampfbegriff für mehr Parlamentarismus: Rechtsfreie monarchische, exekutivische Macht sollte es nicht (mehr) geben. Wie die Dritte Gewalt in Pandektistik und Kodifikationen, schon ab dem 18. Jahrhundert, an die Ketten des Gesetzes gelegt worden war, so sollte nun die Zweite Gewalt darin folgen: Kein freies Ermessen mehr, kein rechtsfreies Verwalten, keine gesetzesfreie Verordnungsgewalt! „Herrschaft des Gesetzes“ hieß die große Forderung. Damit aber bedeutete Rechtsstaatlichkeit zunächst, zu allererst, Primat, ja Souveränität des Parlamentsgesetzes – Gewaltenteilung nicht (nur) horizontal, sondern auch formal vertikal, in einer Unterordnung der vollziehenden Gewalt unter das Gesetzesgebot. So ist die Rechtsstaatlichkeit entstanden, dieses ist, noch immer, ihr Begriffs- und Bedeutungskern. 4. Damit ist die Rechtsstaatlichkeit zur Kraftquelle der Demokratie geworden. Die Macht der gewählten Volksvertreter verdrängte, in immer weiteren Schritten und in allen Ländern, die der Monarchen, aber auch der aristokratischen Oberhäuser; der parlamentarische Rechtsstaat brach durch ins Verfassungsrecht des 20. Jahrhunderts mit der Speerspitze der Demokratie, in Deutschland wie kurz zuvor in Frankreich. Der Parlamentarismus hatte den Rechtsstaat gebracht, nun brachte dieser die Demokratie voran; als das gute Wort des Rechts (vgl. I., 3.) schützte er sie gegen die Kritik des Aufstands der Massen, der (staatsrechtlichen) „Vernunft stets nur bei Wenigen“. 5. Die nächste, entscheidende Phase wurde mit dem endgültigen Sieg der Grundrechte auf nationaler Ebene erreicht, in Deutschland in der Weimarer Verfassung11. 10 Heinrich Rudolph von Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 3. Auflage, Darmstadt: Gentner, 1958.

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Damit war auch die materiell-inhaltliche Rechtsstaatlichkeit prinzipiell erreicht: materielle Schranken waren so jenem selben parlamentarischen, demokratisch-legitimierten Gesetzgeber gezogen, der zunächst doch zum souveränen, höchsten Verfassungsorgan hochpotenziert worden war (vgl. oben 3.). Darin erschien gleichzeitig auch die in Rechtsstaatlichkeit zunächst (vgl. oben 4.) gestärkte Demokratie doch wieder als gemäßigt: Ihr ungestümes Mehrheitsprinzip sah sich an die Ketten erhöhter Mehrheiten der Verfassungsänderung gelegt, bald überwacht von der Verfassungsgerichtsbarkeit. So ist Rechtsstaatlichkeit, vorbildlich in Deutschland, stets ein Mäßigungsbegriff der Staatsmacht geblieben, erst der monarchischen, sodann der volkssouveränen, potenziell stets Totalitarismus anstrebenden gewaltbereiten Staatlichkeit.

III. Rechtsbindung der Staatlichkeit: Elemente der Rechtsstaatlichkeit 1. Die dargestellte Entwicklung hat zu dem geführt, was die Bindung des Staates an das Recht genannt wird. Dogmatisch wird sie heute, anschließend an die Formulierung des Art. 20 Abs. 3 GG, in der Bindung aller drei Staatsgewalten gesehen: der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der Exekutive an die Gesetze, der Judikative an Gesetz und Recht. Der Staat darf nur mehr in diesen rechtsbestimmten Räumen tätig werden – damit letztlich überhaupt nur mehr rechtsbestimmt. Die klassische Diskussion um „Staatstätigkeit nur auf rechtlicher Grundlage“ oder „nur soweit es das Recht nicht verbietet“12, ist letztlich bereits überholt, mag sie auch rechtstechnisch noch weiter von Belang sein: Es geht dabei rechtlich doch nur mehr darum, wie (weit) das Recht diesen Staat noch handeln lässt, in welcher Form der rechtlichen Gestaltung immer. Auch für den Staat gilt: Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist. Welche Formen diese Verbote und Erlaubnisse annehmen − das sind aber letztlich rechtstechnische Fragen. 2. Fast scheint es also, als habe die Rechtsstaatlichkeit in der oben II. dargestellten Entwicklung bereits ihre Schuldigkeit getan: den Staat normativ (in einem weiten Sinn) geordnet. Dann wäre aller Rest nur mehr Rechtstechnik im Einzelnen. Diese Sicht widerspräche aber nicht nur offenkundig der heute allgemein betonten Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit; sie würde auch deren inhaltlicher Wirkung nicht gerecht. Diese liegt in dem zunehmenden Gewicht der wesentlichen inneren Verbindung des Rechts im Sinne der Rechtsstaatlichkeit mit der Normativität. Diese 11 Hans Carl Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung: Allgemeine Bedeutung der Grundrechte und die Artikel 102 – 117. Bd. 2. Artikel 118 – 142, Bd. 3. Artikel 143 – 165 und „Zur Ideengeschichte der Grundrechte“, Frankfurt am Main: Keip, 1929. 12 Christoph Gusy, „Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz“, JA 2002, 610; Steffen Detterbeck, „Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes“, Jura 2002, 235; Hans-Uwe Erichsen, „Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes“, Jura 1995, 550.

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wiederum führt zu allererst zu der zentralen Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit als einer Forderung von Bestimmtheit der Ordnung in Rechtsklarheit.13 Beides mag in einer Wechselbezüglichkeit stehen, die hier nicht vertieft werden kann. Keinesfalls handelt es sich dabei aber um Marginalien oder gar Selbstverständlichkeiten. Bestimmtheit, Bestimmbarkeit der Macht(äußerungen) des Staates ist eine wichtige, oft entscheidende Schranke der Staatsgewalt: Diese wird damit in die Konsequenzialität ihrer Äußerungen gezwungen, nach einem Grundsatz der Folgerichtigkeit14 als Kernelement eines Verfassungsprinzips der Rechtskontinuität.15 Rechtsklarheit macht ihr eigenes, früheres Handeln zum Maßstab allen künftigen Verhaltens. Das Gebot der Rechtsklarheit zwingt die Staatsgewalt zu sorgfältiger Vorbereitung ihrer Entscheidungen, insbesondere in Abwägung widerstreitender Interessen. Damit geht von ihr ein „Zwang zu geordnetem Verfahren“ im staatlichen Bereich aus. Die öffentlichen Organträger können bei ihren Entscheidungen nicht alles offen lassen. Jedenfalls werden sie damit auf Widerspruchsfreiheit16 ihres Verhaltens verpflichtet. Begründungszwang verhindert Willkür.17 Rechtsstaatlichkeit nimmt der öffentlichen Gewalt das Selbstbestimmungsrecht ihres Umfangs und ihrer Äußerungsformen; damit wird der Rechtsstaat zur wesentlich machtmäßigenden Ordnung. 3. Darüber noch hinaus reichen die Wirkungen der Rechtsstaatlichkeit im Schutz des Vertrauens18 der Adressaten staatlicher Machtäußerungen. Hier geht es nicht nur um Bestandsklarheit, sondern um Beständigkeit, um Grenzen für Änderungen der Machtformen, der Rechtslagen. Ein hochspezialisiertes System der Rückwir13 Bernd Grzeszick, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, München: Stand 66. EL. 2012, Art. 20 Rn. 58 ff.; Hans-Jürgen Papier / Johannes Möller, „Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung“, AöR 122 (1997), 177 – 211; Wilhelm Herschel, „Rechtssicherheit und Rechtsklarheit“, JZ 1967, 727 – 737; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat – Verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Aspekte, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, S. 132 ff. 14 Siehe hierzu aus neuerer Zeit BVerfGE 117, 1; 120, 1; 121, 317. 15 Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002; Sobota (Fn. 13), S. 153 f.; Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfasungspostulat, München: Münchener Universitätsschriften, 1976. 16 BVerfGE 1, 14, 45; Grzeszick (Fn. 12), 56 f.; Christoph Brüning, „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?“, NVwZ 2002, 33 – 37; Horst Sendler, „Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung? – Eine Reise nach Absurdistan?“, NJW 1998, 2875 – 2877; Sobota (Fn. 13), S. 64 f. 17 BVerfGE 1, 14, 52; 68, 237, 250; 71, 39, 53; 76, 256, 329; Erich Eyermann, „Gleichheitssatz, Wurzel des Willkürverbots?“, in: Verfassung und Verfassungsrechtsprechung – Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bayer. Verfassungsgerichtshof, 1972, S. 45 ff.; DieterDirk Hartmann, Willkürverbot und Gleichheitsgebot, Neuwied / Berlin: Luchterhand, 1972; Karl Schweiger, „Zur Geschichte und Bewertung des Willkürverbots“, in: Verfassung und Verfassungsrechtsprechung – Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bayer. Verfassungsgerichtshof, 1972, S. 55 ff.; Sobota (Fn. 13), S. 62 f. 18 Ralf Ramin, „Vertrauensschutz“, DVP 2012, 274 – 283; Kyrill-Alexander Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2002; Hermann-Josef Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997; Sobota (Fn. 13), S. 154 f.

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kungsbeschränkungen19 staatlicher Machtäußerungen, vor allem solcher, die in normativer Form ergehen, schafft Rechtssicherheit in der Zeit, verlangt vom Staat Rücksichtnahme auf die Dispositionsfreiheit seiner Bürger, auf deren Wirkungen in die Zukunft hinein. Auch dies bedeutet im Ergebnis, eine entscheidende Machtmäßigung der Staatsgewalt. 4. Diese „Ideen zu einem Versuch, Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“20, erfahren schließlich eine letzte, allgemeine, in ihren Wirkungen in vielen Fällen entscheidende Präzisierung und Bestätigung in Wirkungen der Rechtsstaatlichkeit, die für dieses Prinzip zentral sind: Strenge Prüfung der Erforderlichkeit und Angemessenheit aller staatlichen Eingriffe. Dies reicht von der absoluten Unabdingbarkeit solcher Maßnahmen zum Schutz öffentlicher Interessen bis zur Angemessenheit staatlichen Handelns, welche die Eingriffsbelange den Betroffenenbelangen gegenüberstellt, beides in der Abwägung einer „praktischen Konkordanz“ (Konrad Hesse) zusammenführt. In der machtpolitischen Realität wirkt sich dies vor allem aus als ein Zwang für die Staatsgewalt zur Achtung der Privatsphäre der Bürger, der Rechtspositionen der Rechtssubjektive schlechthin. Gewiss ergibt sich dieser bereits allgemein aus der Sorgfaltsverpflichtung bei allem staatlichen Vorgehen, diese wiederum aus dem Zwang zum geordneten Verfahren (vgl. oben 2., 3.). Die Verhältnismäßigkeit fügt dem aber eine „materielle Komponente notwendiger, meist kompromissträchtiger Ausgewogenheit“ hinzu. Dies also bedeutet Rechtsstaatlichkeit als Rechtsprinzip: ein hochspezialisiertes, in dogmatisch-wissenschaftlicher Durchdringung und vor allem judikativer Anwendung laufend verfeinertes, vielfältiges Instrumentarium der Mäßigung staatlicher Macht(-Äußerungen). IV. Rechtsstaatlichkeit – Legalität – Rule of Law 1. Diese Rechtsinstitution der Rechtsstaatlichkeit21 muss nun aber stets in ihrer – ursprünglichen und ständig weiterwirkenden – Rechtstechnizität gesehen und erhalten werden. Es kann nicht angehen, sie kurzerhand mit einer Herrschaft des Rechts über die Macht gleichzusetzen, sie als solche geradezu definieren zu wollen, von dort aus dann sogleich mit staatsethischen Erwägungen und Begründungen fortzu19 Heike Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung, Berlin: Duncker und Humblot, 2005; Thomas Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien: Lang, 2002; Christine Lübbe, Grenzen der Rückwirkung bei Rechtsprechungsänderungen, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien: Lang, 1998; Sobota (Fn. 13), S. 163. 20 I. S. v. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Gesammelte Werke 1841, Bd. 7, Breslau: Eduard Trewendt, 1851 S. 1 ff. 21 Überblick bei Karl-Peter Sommermann, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 226 ff.

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fahren, Rechtsstaatlichkeit (nur) mit ihnen fortzusetzen. Das Recht mag in Semantik, ja als geistiger Hintergrund politisch in besonderer Intensität wirken, dem Rechtsstaat und der ihn tragenden Demokratie missionarische Schubkräfte verleihen. Doch das Verfassungsprinzip Rechtsstaat erschöpft sich nicht in der Wirksamkeit des Rechts. 2. Dies zeigt sich schon bei näherer Betrachtung einer Begrifflichkeit, die eine andere historische Entwicklungs- und Erscheinungsform der Rechtsstaatlichkeit anspricht: der Legalität. Sie ist ein Kind der Französischen Revolution, der aus ihr kontinentaleuropäisch im 19. Jahrhundert entwickelten „légalité“, welche die deutsche Rechtsstaatlichkeit in vielfacher Weise in deren Entfaltung befruchtet hat, mag sie mit dieser auch nicht ohne weiteres gleichzusetzen sein. Bei der „légalité“ liegt der Akzent auf der Gesetzesbindung, auf „la loi, expression de la volonté générale“22, in der Tradition Jean-Jacques Rousseaus. Entscheidend ist hier die Suche nach den rechtlichen Formen, in denen sich diese Gesetzmäßigkeit vor allem in der Verwaltung ausprägt – dies ist auch zum speziellen terminus technicus im deutschen Staatsrecht geworden. Hier hat dieses früh, im Gefolge der Rechtsstaatlichkeit, zu (notwendigen) Verfassungsformen der Staatstätigkeit gefunden; in Frankreich dagegen wird Legalität noch heute im Wesentlichen durch die judikative Kontrolle, vor allem des Conseil d’Etat, zentral im Verwaltungsrecht gesichert. Daraus ergeben sich wiederum rechtstechnische Besonderheiten innerhalb deutschrechtlicher und französischrechtlicher Rechtsentwicklungen, die weit über den Europäischen Kontinent hinausgewirkt haben. In europarechtlichen Entwicklungen zeigt sich allerdings die deutsche Rechtsstaatlichkeit dogmatisch deutlich auf dem Vormarsch.23 3. Noch weit differenzierter muss das Verhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und angelsächsischer Rule of Law gesehen werden. Diese Problematik kann hier nicht vertieft, sie soll nur in einem Punkt „angeleuchtet“ werden: „Law“ hat im kontinental-, im Wesentlichen auch im europarechtlichen Kontext eine andere, weitere Bedeutung als „loi-légalité“, aber auch als die Rechtsstaatlichkeit. In den ersteren Bereichen steht, vor allem in Frankreich, das politisch-parlamentarisch gesetzte Gesetzesrecht im Mittelpunkt, das Gewohnheitsrecht tritt, gegenüber angelsächsischen, vor allem englischen Vorstellungen (noch immer weit) zurück. Praktisch (noch) bedeutsam(er) ist der traditionelle Unterschied der Bedeutung der Rule of Law gegenüber kontinentaleuropäischen Rechtsvorstellungen darin, dass dort dem 22 Art. 6 S. 1 der Déclaration des droits de l´homme et du citoyen, 1789; Raymond Carré de Malberg, La loi: expression de la volonté générale: [étude sur le concept de la loi dans la Constitution de 1875] 1931. 23 Meinhard Hilf / Frank Schorkopf, in: Eberhard Grabitz / Meinhard Hilf / Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München: C. H. Beck, Stand: 49. EL. 2012, EUV Art. 2 Rn. 34 f.; Christian Calliess, in: Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV, 4. Auflage, München: C. H. Beck, 2011, EUV Art. 2 Rn. 25 f.; Claus Dieter Classen, „Rechtsstaatlichkeit als Primärrechtsgebot in der Europäischen Union – Vertragsrechtliche Grundlagen und Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte“, EuR 2008 Heft Beiheft 3, 7 – 23.

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Richterrecht24 eine weit höhere Bedeutung zukommt als auf dem europäischen Festland. Dies verbietet von vorneherein eine verkürzende Gleichsetzung von Rule of Law und Rechtsstaatlichkeit: Beides kommt aus jeweils langen historischen Traditionen, ist in unzähligen rechtlichen Formen in den Rechts-, ja Verfassungsentwicklungen verwurzelt. Sie mögen langsam zusammengeführt, sie dürfen nicht in sogenannten Visionen in einem rechtlichen, ja intellektuellen Primitivismus, aus ihren rechtlich-politischen Nährböden gerissen werden. V. Rechtsstaatlichkeit in ethischen Dimensionen 1. Die Rechtsstaatlichkeit der deutschen Rechts- und Verfassungstradition kann zwar im Lichte ethischer Kategorien betrachtet, sie muss dabei aber stets in ihrer rechtstechnischen Besonderheit gesehen werden. Hier können dazu nur einige Schlaglichter gesetzt werden, aus jenem geltenden deutschen Verfassungsrecht heraus, dem diese Betrachtungen verpflichtet bleiben. Rechtsphilosophische Vertiefungen sind – selbstverständlich – vorbehalten. Sie dürfen jedoch keinesfalls in methodischer Verkürzung von vorneherein ins Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland hinein getragen werden, auch nicht in ein Europarecht, das über Rechtsstaatlichkeit maßgeblich aus deutscher Entwicklung heraus geprägt ist. 2. Für das deutsche Verfassungsrecht ist die Verfassungsethik nicht ein rechtsdogmatischer Topos, der über einzelne, judikativ greifbare Elemente normativ-direktiv auf die Verfassungsordnung laufend und wesentlich prägend wirkte. Dies zeigt sich schon darin, dass „Ethik“, „Moral“, „Rechtsethik“, „Staatsethik“ oder ähnliche Begriffe in führenden Erläuterungswerken zum Grundgesetz nicht in Sachwortverzeichnissen erscheinen und auch in den Kommentierungen zur Rechtsstaatlichkeit nicht anklingen.25 Allenfalls im Zusammenhang mit Begriffen wie „Rechtskultur“26 oder „(Allgemeine) Rechtsgrundsätze“ können hier Recherchen fündig werden. Kriterien und Kategorien müssen dann speziell auf die Rechtsstaatlichkeit übertragen, dort auf ihr rechtsethisches Potenzial überprüft, diese wiederum in ihrer Bewährung in der Praxis untersucht werden. Von rechtsethischen Dimensionen der Rechtsstaatlichkeit auf politisch wirksame Direktivkräfte zu schließen, kann gegenwärtig nicht ernsthaft die Rede sein. Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit ist, jedenfalls für den Juristen, bis auf weiteres primär Rechtstechnik zu betrachten. Ethische Wege sind vor allem über Begriffe wie Rechtsgrundsatz und Norm zu beschreiten. 24 Ralph Christensen, „Richterrecht – rechtsstaatlich oder pragmatisch? – Zum Streit um die Sicht des Richterrechts in der strukturierenden Rechtslehre“, NJW 1989, 3194 – 3197; Horst Sendler, „Richterrecht – rechtstheoretisch und rechtspraktisch“, NJW 1987, 3240 – 3242. 25 Dies gilt auch für umfangreiche Kommentierungen wie etwa die von Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), 6. Aufl. 2010. 26 Ingo von Münch, Rechtspolitik und Rechtskultur, Berlin: BWV, Berliner Wiss.-Verl., 2011; Heinrich Scholler, Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa, Berlin: Duncker & Humblot, 2010; Peter Mankowski, „Rechtskultur“, JZ 2009, 321 – 331.

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3. Zurückhaltung ist grundsätzlich, gerade unter der Staatsform der demokratischen Volkssouveränität, angesagt, bei Versuchen einer Politik-, insbesondere einer „Staatsmoralisierung“, wie sie heute, leider, als gängig bezeichnet werden müssen. Zunehmend wird es im Zuge derselben unternommen, „die Demokratie“ als die „beste“, ja als die „einzig mögliche“, mit allen Mitteln durchzusetzende Staatsform zu propagieren. Dabei bleibt dann meist völlig offen, welche der zahlreichen, wenn nicht zahllosen Spielarten dieser „Demokratie“ gestärkt oder gar neu eingeführt werden soll. Gerade wer politisch überzeugt für diese Staatsform eintreten will, erweist seiner Überzeugung einen schlechten rechtlichen Dienst, wenn er verkürzend seine (jeweiligen) politischen Vorstellungen von Volksherrschaft, ja demokratischem Wahlrecht voranträgt, sie in den Begriff der Demokratie hineinzuschieben versucht. Demokratieüberzeugung, Treue zur Verfassung27 haben nichts mit solcher demokratischer Staatsmoralisierung zu tun, sie könnten mit ihr ins Zwielicht geraten. 4. In besonderer Weise gilt dies für die Versuchung einer allzu rasch pauschalierenden Ethisierung gerade der Rechtsstaatlichkeit. Wenn die Grundthese dieser Betrachtung etwas für sich hat, dass nämlich diese Staatsgrundsatznorm ihre Entfaltung vor allem in Rechtstechnik und vielfältig spezialisierender Rechtsanwendung gefunden hat, dann mag es zwar verdienstvoll sein, den Juristen immer wieder auf ethische Leuchttürme blicken zu lassen. Überfordert würde er aber, in seiner täglichen Praxis vor allem, wollte er seine eigenen moralischen Grundsätze und Überzeugungen in alle tägliche Rechtsanwendung einfließen lassen. Rechtsethik ist keine Korrekturtaste für rechtliche Computer, noch weniger ein rechtliches Programm der Datenverarbeitung, um es überspitzt zu formulieren. Ob ein Link von ihr zur Rechtsstaatlichkeit – und umgekehrt – geschaltet werden kann, muss stets sehr sorgfältig, jedenfalls kann er immer nur für einzelne rechtlich spezialisierte Verbindungen geprüft werden. 5. Diese Versuchungen einer Moralisierung des Rechtstechnischen sind groß, gerade bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sind sie nicht am nächsten beim Menschen, geradezu nächster, notwendiger Ausdruck, Ausfluss des rechtlichen Höchstwerts der Menschenwürde? Und doch tritt gerade hier die Problematik der Ethisierung hervor, vertiefende Überblicke zu Art. 1 GG28 zeigen die rechtstechnischen Geltungsprobleme in eben diesem Bereich: Ist Menschenwürde überhaupt als solche Inhalt einer grundrechtlichen Verbürgung? Welches sind ihre Bezüge im Einzelnen zu anderen Grundrechten? Was an all dem ist als „gestirnter Himmel über dem Grundgesetz“ jeder Rechts-, ja Verfassungsänderung entrückt (Art. 79 Abs. 3 GG)?

27 Winfried Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, Baden-Baden: Nomos, 2011; Frank Rottmann, „Unantastbare Verfassungstreue?“, ZRP 1984, 97 – 105; Klaus Stern, Zur Verfassungstreue der Beamten, München: Vahlen, 1974. 28 Z. B. Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), 6. Aufl. 2010., Art. 1 Rn. 1 ff.

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Hier muss die Untersuchung abbrechen. Sie hat gezeigt: Rechtsstaatlichkeit ist stets zu allererst Rechtstechnik. Ethische Dimensionen sind bei ihr schwer fassbar, gegenwärtig noch kaum nach einzelnen juristischen Kategorien und Kriterien ausgeleuchtet. Dies zu leisten ist allerdings eine rechtliche Verpflichtung, nicht nur eine moralische Pflicht: Die Suche nach ethischen Hintergründen des Staates und seines Verfassungsrechts.

VI. Ergebnisse Rechtsstaatlichkeit ist ein Staatsgrundsatzbegriff der grundgesetzlichen Ordnung. Mit der demokratischen Staatsform, der sie die Überzeugungskraft des Rechts verleiht, ist sie zum Leitbegriff der Politik geworden, von dort zu etwas wie einer allgemein-gesellschaftlichen Idealvorstellung der Gestaltung von Ordnung überhaupt. Als ein „gutes Wort“ erscheint sie weithin rechtlicher wie allgemeiner Kritik entrückt. Gesehen werden muss Rechtsstaatlichkeit aber vor allem als ein Rechtsprinzip, das sich im Verfassungsrecht, insbesondere im deutschen Konstitutionalismus entfaltet hat; es stellt gegenwärtig den wohl bedeutsamsten „rechtsdogmatischen Export aus dem deutschen Rechts- und Verfassungskreis“ dar, wirkt vor allem auf die Europäische Rechtsentwicklung. Rechtsstaatlichkeit bewährt sich insbesondere in verfassungstechnisch ordnenden Bezügen: als Prinzip der Bestimmtheit und Klarheit des Rechts, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit. In all dem ist sie rechtstechnisch leitender Grundsatz des Rechts, in Bindung der Staatsgewalt und ihrer Mäßigung, in rechtlichen, vor allem in (bestimmten) normativen Formen. Rechtsstaatlichkeit steht in begrifflicher Nähe zur Legalität, wie sie vor allem in Frankreich entwickelt wurde und die deutsche Begrifflichkeit befruchtet hat; dort liegt allerdings der Schwerpunkt beim parlamentarisch gesetzten Recht. Die angelsächsische Rule of Law weist ebenfalls Berührungen mit der Rechtsstaatlichkeit auf. Dies ist aber in vorsichtiger Distanz zu sehen, denn der Begriff des Rechts ist dort ein anderer und weiterer, jedenfalls was Gewohnheitsrecht und Richterrecht anlangt. Ethische Dimensionen der Rechtsstaatlichkeit gibt es, mag diese auch stets unter primärer Berücksichtigung der Rechtstechnizität dieses Bereichs in den Blick zu nehmen sein. Sie müssen aus der Rechtspraxis heraus gesucht und entfaltet werden. Dabei darf nicht in einer Grundstimmung demokratiebegeisterten politischen Missionierens verfahren werden, dem Rechtsstaatlichkeit nur noch weitere Schubkraft geben soll.

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Summary Rule of law is a general state principle of constitutional order. Together with the principle of democracy rule of law grew to be the guiding principle of politics. Nowadays it became the ideal conception of state order. Being a “good word” rule of law seems to be far from any legal or general criticism. Rule of law is primarily a legal principle which grew in constitutional law, particularly in German constitutionalism. It is the most important legal doctrine which is exported from German law and constitution. Rule of law has an important influence on the development of European law. The main aspect of rule of law is its regulative character: a principle of certainty and clarity of law, legitimate expectations and proportionality. Concerning all these aspects rule of law is a leading principle of law. It binds state power to the law and limits it. Rule of law is close to the term of legality, which primarily developed in France and influenced the German development of rule of law. In France however the main focus lies on law enacted by parliament. The Anglo-Saxon concept of rule of law has some connecting factors to the German concept of rule of law as well. However, one has to be careful comparing these two concepts. The Anglo-Saxon understanding of law is different and broader, especially concerning legal custom and development of law by judges. There is an ethical aspect of rule of law. This aspect however has to be looked at considering primarily technical aspects. The ethical aspect has to be searched and developed in legal practice. Thereby however one may not fall into only missionary activity.

Jefferson vs. Madison Revisited Alessandro Pinzani and Cristina F. Consani

In this paper we would like to point out a dilemma that has challenged constitutionalism since its beginning in the 18th century (its first paradigmatic formulation occurred in an epistolary exchange between Thomas Jefferson and James Madison). It concerns the difficult relationship between constitutions and democracy. In this article we aim at reconstructing possible historical and conceptual reasons that have led many theorists to contrast two models, each of which purports to be the best way to achieve the democratic ideal: the constitutionalist and the radical-democratic model.1 As we shall see, those who defend one of them think that the other one betrays that ideal and would lead to a breakdown of the democratic system should it prevail. Our thesis is that the only way out of the dilemma would be a constitution allowing for institutions through which the popular will could be democratically exercised, without running the risk of the negative side effects highlighted by Madison and the other champions of the constitutional model. We found an historical example for this alternative in Condorcet’s project for a Constitution. We shall present a brief historical survey of the origins of the dilemma in the discussion between Jefferson and Madison at the end of 18th century (I.) and of how it was restarted in present times (II.). Further, we shall offer a third model also created at the end of 18th century, but which has practically been forgotten since: the democratic constitution as elaborated by Condorcet (III.). Finally, we shall briefly discuss the advantages of a possible actualization of this model (IV.). Along the text we shall consider also the concept of ‘people’, which is far from being unequivocal. It is precisely this ambiguity which has been and still is one of the main causes of misunderstanding between champions of constitutionalism and of radical democracy.

I. The Tension between the Constitution and Democracy From as early as the 1790s, a debate raged among the U.S. Founding Fathers. On the one side, Thomas Paine2 and Thomas Jefferson3 claimed that an unchangeable 1 For a recent formulation of this opposition see Maus, Ingeborg, Über Volkssouveränität. Berlin: Suhrkamp, 2012, 27 ff. 2 Paine, Thomas, Rights of Man, Common Sense and Other Political Writings. Edited by M. Philp. Oxford / New York: Oxford University Press, 1995.

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constitution would be contrary to the very idea of democracy and would represent an act of tyranny of one generation on those following. In a letter to Samuel Kercheval, Jefferson expressed the conviction “that laws and institutions must go hand in hand with the progress of the human mind” and must, therefore, be emended and changed “as new discoveries are made, new truths disclosed, and manners and opinions change with the change of circumstances.” He thought that “each generation is as independent of the one preceding, as that was of all which have gone before”; therefore, each generation has, as the preceding ones, “a right to choose for itself the form of government it believes most promotive of its own happiness.” In other words, it has a right to reform the constitution and modify its political institutions. According to Jefferson, this “solemn opportunity” should be anchored in the constitution itself and should be granted to each generation “every nineteen or twenty years”. This is not tantamount to rewriting the constitution. Rather, Jefferson’s idea is that precisely these “periodical repairs” would allow that the constitution itself “may be handed on […] from generation to generation, to the end of time, if anything human can so long endure.”4 Some years later, in a letter to John Cartwright, Jefferson wrote: “The Creator has made the earth for the living, not the dead. Rights and powers can only belong to persons, not to things, not to mere matter, endowed with will. The dead are not even things.” For this reason, “[a] generation may bind itself as long as its majority continues in life; when that has disappeared, another majority is in place, holds all the rights and powers their predecessors once held, and may change their laws and institutions to suit themselves.” Jefferson justifies this by echoing Thomas Paine’s main idea: “Nothing then is unchangeable but the inherent and unalienable rights of man.”5 On the other hand, James Madison, who had been one of the authors of the 1787 Constitution (as opposed to Jefferson, who at the time was ambassador in Paris), claimed that a constitution, far from representing a limit to the freedom of future generations, allows them to better express their will and to achieve their goals. Through its norms, it establishes the ‘game rules’ that make the game itself possible. To Jefferson’s argument that the earth is for the living, not for the dead, Madison replied that, if this were so, the title of the living “can extend to the earth in its natural State only”. Actually, the living benefit from the “improvements made by the dead”, whether said improvements were of a technological or political nature. Therefore, the living have a duty toward the dead and “this charge can no otherwise be satisfied than by executing the will of the dead accompanying the improvements.”6 One could claim that, while Jefferson was pointing out the rights of the living, Madison insisted on their duties.

3 Jefferson, Thomas, The Portable Thomas Jefferson. Edited by Merrill D. Peterson. New York: Penguin, 1977. 4 Ibid., p. 560 (letter to Samuel Kercheval of July 12th 1816). 5 Ibid., p. 580 f. (letter to John Cartwright of June 5th 1824). 6 Madison, James, Writings. New York: Library of America, 1999, 475.

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Even if one leaves aside the question of the generations and Jefferson’s nineteen year argument,7 the question remains open whether it is actually possible to force individuals to live in a political system organized according to rules they did not choose and which, although not completely inaccessible to their will, can only be modified with difficulty, if one considers that the path towards a constitutional review or amendment is almost always very complex, slow and full of procedural hindrances. Normally this difficulty is met with the rejoinder that a constitution represents a sort of self-obligation that a political community imposes on itself. Frequently one uses the metaphor of Ulysses and the sirens, made famous by Spinoza in his Political Treatise (VII / 1):8 the cunning Greek king commanded his companions to tie him to the mast, so that he might hear the sirens’ song without giving in to the temptation of diving into the sea and swimming toward them – thereby causing his own death by smashing on the rocks where these dangerous sea creatures nestled. Then he put wax in his crews’ ears. When they reached the sirens’ rocks, Ulysses, bedazzled by the singing, implored to be unbound, then ordered and threatened, but his crew followed his former order and did not untie him (this should not puzzle us, since they had wax in their ears and could not possibly hear him screaming). According to this metaphor, Ulysses bound to the mast would be a political community bound by a constitution. It would be a self-imposed bound for one’s own good, i.e., in order to avoid that the State become prey to momentary passions and emotions.9 In this reading, a constitution is – to use an expression by Stephen Holmes, who for his part is echoing Frederick Hayek – “Peter sober, while the electorate is Peter drunk.”10 The citizens need to bind themselves to the mast in order not to stumble over their own feet. According to Madison, a major problem the constitution is expected to resolve is precisely that of controlling the passions and egoistic interests of the citizens (and of the rulers): to this topic he dedicated his most famous Federalist article, i.e. arti-

7 In his colorful language David Hume had already observed that human generations do not succeed each other as abruptly as happens with butterflies and silkworms (Hume, David, Political Essays. Ed. by Ch. W. Hendel. New York: The Library of Liberal Arts, 1953, 52). 8 Cf. Elster, Jon, Ulysses Unbound. Studies in Rationality, Precommitment, and Constraints. Cambridge: Cambridge University Press, 2000. 9 Like the passions and the commotion that moved the U.S. American Congress and Senate to pass the so-called Patriot Act in the wake of the events of September 2001: a decision that probably would have displeased Madison, who in several Federalist articles insisted on the importance of bicameralism and of representative democracy precisely as a defense against passions and momentary emotions. 10 Holmes, Stephen, “Precommitment and the paradox of democracy”, in: Elster, Jon / Slagstad, Rune (eds.), Constitutionalism and Democracy. Cambridge: Cambridge University Press, 1988, 196. Actually Hayek had commented on a definition of a constitution as a mechanism allowing the “appeal from the people drunk to the people sober” (Hayek, Frederick von, The Constitution of Liberty. Ed. by R. Hamowy. Chicago: Chicago University Press 2011, 268).

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cle 10. In the contemporary reformulations of the topic, in which the language of passions disappears for reasons we shall not investigate here, the constitution represents a form of pre-commitment through which individuals bind their present and future actions so that their unavoidable conflicts will not have a dissolving effect on society. In this vision, the constitution has primarily a civilizing goal11 and only secondarily that of organizing and coordinating the citizens’ particular interests – contrary to the opinion of those who defend an economic vision of the democratic constitutional State such as Schumpeter, Downs or Hardin.12 The solution offered by Madison underestimated nonetheless the disruptive potential of passions and interests that institutions are supposed to neutralize. According the power of decision to representatives does not guarantee in itself that decisions will be taken in favor of the general interest or without being blinded by passions and personal interests. For this reason, Madison himself preferred to rely on impersonal mechanisms such as the institutional arrangements foreseen by the U.S. Constitution. In this sense, his republicanism is sui generis. Instead of counting on the morality of citizens and of representatives, i.e. on their civic virtues (as did and do those thinkers – such as contemporary new Roman or new republican theorists – who were and are inspired by the current of classical republicanism called civic humanism),13 Madison relied instead on the smooth functioning of institutions. This refers to another republican ideal, namely, to law’s empire, but is also compatible with a liberal or even libertarian position. Nevertheless, even in the Madisonian model, passions seem not to be fully eradicable. There is a breech through which the uproar of interests can burst into the grave constitutional building. Although Madison was realistic enough to be aware of the possibility that public opinion in its totality may be a victim of mistakes, passions, and temporary delusions, and although he tried to prevent the consequent negative effects by taking away its decision-taking power, one wonders why he did not foresee the possibility that strong and widely diffused interests, e.g. those of big landowners or big businessmen, could coalesce and influence the process of decision-taking not directly, by electing own representatives (as Madison feared), but indirectly, by the pressures of lobbies, by corruption, by controlling the media etc. Governor Morris had already claimed during a discussion at the Philadelphia Convention (presumably in the presence of Madison): “We should remember that the people never act from reason alone. The Rich take advantage of their passions and make these the instruments for oppressing them.”14 Passions are therefore instru-

11 Cf. Holmes, Stephen, Passions and Constraint. On the Theory of Liberal Democracy. Chicago: Chicago University Press, 1995. 12 Schumpeter, Joseph A. Capitalism, Socialism and Democracy. New York et al.: Harper & Row, 1942; Downs, Anthony, An Economic Theory of Democracy. New York: Harper & Row, 1957; Hardin, Russell, Liberalism, Constitutionalism, and Democracy. Oxford: Oxford University Press, 1999. 13 We are thinking particularly of authors like Quentin Skinner or Maurizio Viroli.

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ments for manipulating both individual and collective will; they can be aroused and directed by those who have the ability to do so, by those who control public opinion, by those who can influence the people’s representatives. Another main problem brought up by the discussion between Jefferson and Madison concerns the definition of the concept of people. Jefferson seemed to think that the people are composed of the individuals who at a certain moment make up the political body; Madison seemed to include as well the past and future generations of citizens. The people can be thought of, therefore, in a synchronic or in a diachronic way. The former corresponds to a concept of popular will analogous to Rousseau’s volonté de tous, i.e. the will of all individuals who make up the political body at a certain moment. The latter corresponds to the concept of volonté générale, or a general will that transcends the particular, individual one. Would the constitution be expression of a people in a synchronic or in a diachronic sense? We are faced with a parallax view, in which the same object assumes different contours and shapes when observed from different perspectives:15 we can either assume the diachronic perspective of People with capital P, which transcends the group of those who are citizens at present, or the synchronic perspective of people with small p. It is difficult to assume the first perspective because it is almost impossible to define general will. The People become an almost mythical entity whose will becomes something to be attained by a sort of inspiration (or harking to the voice of conscience, as Rousseau claimed) or, worse, a will that only few individuals are able to recognize and impose upon the others. The risk of the synchronic view of The People is, notably, the risk of tyranny by majority. If the synchronically defined people should decide to discriminate against certain citizens, there would be no reason to deny them to do so, if one does not accept the existence of individual rights unalienable and untouchable even by popular will. We come back, therefore, to the alleged conflict between the constitutional and the radical-democratic model, between law and politics, between the judiciary and legislative powers, between individual rights and popular sovereignty. It is worth noting that both perspectives (more obviously the diachronic one) tend to see the people as an individual with a singular will – be it the general will or the will of all, be it unanimous or an expression of a majority. Both Jefferson and Madison (as well as the other Founding Fathers) believed that it was possible to speak of the people as something homogeneous and compact. As we shall see, this is far from obvious.

14 Quoted by Schudson, Michael, The Good Citizen. A History of American Civic Life. Cambridge (MA) / London: Harvard University Press, 1999, 50. 15 The concept of parallax view is applied to philosophy by Slavoj Žižek (The Parallax View. Cambridge (MA): The MIT Press, 2006). A well-known example of it in painting is represented by Hans Holbein’s “The Ambassadors” (National Gallery, London) which features a skull painted in anamorphic perspective that looks like a blot from the front and shows its real shape only when observed from a certain perspective.

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II. The Constitution and Democracy Two Hundred Years Later The Jefferson-Madison debate has never fallen out of fashion, particularly in the Anglo-Saxon world. In 1988 Stephen Holmes observed, while commenting on the questions raised by this debate: “to require the express consent of every generation to the constitutional framework (or of every individual to majority rule) would introduce an element of nervous hysteria into the heart of democratic politics, weakening its capacity to resolve conflict and aggregate diverse interests without violence”. For this reason, “to require express and constantly reiterated consent would decrease the influence of citizens over the direction of public policy and thus over their own lives.”16 According to the previously mentioned definition of the constitution as Peter sober deciding on Peter drunk, which Holmes shares, the people are seen as an individual that is moved by frequently overwhelming passions (Holmes speaks of “nervous hysteria”!). In other words, while contrasting democracy and the constitution it is possible to use the argument that the former would not protect us against the prevalence of impetuous or even violent passions, while the latter has precisely the task of channeling passions and particular interests in order to avoid violent conflicts (as Madison had already claimed). An even sharper criticism can be leveled against the notion that democracy should prevail over the idea of pre-commitment embodied by the constitution: one can call into question the need for democracy, i.e. the idea that it is something that cannot be renounced. In other words: why should the constitution be democratic (as Jefferson demanded)? Or rather, should democracy become constitutional, i.e. should inviolable limits be established to popular sovereignty itself (as Madison claimed)? Why should we reject the idea of a constitution for not expressing the democratic will of the people; can it not be true, instead, that democracy can run the risk of engaging in illegitimate or even tyrannical acts if not guided by constitutional reins? Wherein does the allegedly superior value of democracy over constitutional regime precisely lie? Richard Kay remarks that what he defines as “democratic legitimacy” (i.e. the idea that “what is democratically chosen should be carried out simply because it is democratically chosen”) would represent “a species of what Weber called charismatic legitimacy” and as such it would be “irrational and arbitrary”. It is therefore necessary to put constitutional limits on democratic power: “When hedged with formal rules for its exercise, the extreme potentialities of this charismatic democratic authority are tempered, domesticated, by a rational-legal authority.”17 According to Kay, the very “idea of democratic decision-making involves multiple and, perhaps, contradictory meanings”, so that “there is no single specification of whose assent confers democratic legitimacy on a decision”, i.e. it is not clear whether it should be Holmes (note 10), 221. Kay, Richard S. “American Constitutionalism”, in: Alexander, Larry (ed.), Constitutionalism. Philosophical Foundations. Cambridge: Cambridge University Press, 1998, 25. 16 17

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the assent of the people or of the People. Further, “it is unclear over what period democratic decision is to be respected.”18 Constitutional rules have, among others, the responsibility to secure democracy itself for the future. As Holmes points out: “By means of a constitution, generation a can help generation c protect itself from being sold into slavery by generation b.”19 Finally, Kay questions the democratic nature of the idea that a constitution may be at any time put into question and modified: “what does it mean democratically to establish a rule in a world where every procedure and institution is subject to immediate and total change, where the very arena of collective choice is undefined?”20 Alternatively, Kay concedes that the political acceptability of the constitution in society (he calls this “substantive legitimacy”) must be retained and that it therefore must be possible “to provide a procedure for constitutional amendment that can both refresh the historical legitimacy of the constitutional rules and permit their substantive realignment with the political realities.”21 Hence we ought to distinguish between – on the one hand – the argument that posits that the constitution represents a dam against the impetuous tide of passions (Peter sober against Peter drunk) and, therefore, a defense of democracy against itself (against its moments of drunkenness) and – on the other hand – the argument claiming that the greater legitimacy of democracy has never been convincingly proven.22 The first contention points to democracy’s superior value, but admits the risks implicit in the democratic process itself and tries to avoid them by establishing a pre-commitment (the constitution), while the second position calls into question the superiority of democracy relative to the constitution. A possible answer to the second approach would be to remark that most modern constitutions aim precisely at establishing and maintaining a democratic system; hence, democracy’s superiority is defended precisely by constitutions, which pose as instruments to better realize democracy. However, one can understand Kay’s criticism to democracy’s superiority as aiming not at democracy in itself, but rather at the principle of popular sovereignty, which is not the same thing, as Jeremy Waldron emphasizes.23 The principle of popular sovereignty “requires that the people Ibid., 26. Holmes (note 10), 226. 20 Kay (note 17), 26. 21 Ibid., 33. 22 Along the same line as Kay, Russell Hardin remarks that democracy is far from being the supreme value to be realized in politics: “In general, democracy might be the best form of government under certain circumstances […] even though its forms might be better violated on occasion such as, perhaps, in the administrative state. But under certain conditions, including our own, relatively limited democracy might be generally, not just occasionally, preferable to full-scale democracy” (Hardin [note 12], 172). 23 Waldron, Jeremy, “Precommitment and Disagreement”, in: Alexander, Larry (ed.), Constitutionalism. Philosophical Foundations. Cambridge: Cambridge University Press, 1998, 272. 18 19

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should have whatever constitution, whatever form of government they want”, but this is not tantamount to claiming that the result is going to be democratic. On the contrary, there can be great differences among the various forms of government; for instance, both Locke and Hobbes defended the principle of popular sovereignty, yet they defended very different forms of government and of institutional realization of that principle. As Waldron observes, “the fact that there is popular support, even overwhelming popular support, for an alteration in the constitution does not show that such an alteration would make things more democratic.”24 For instance, a people could choose democratically (i.e. according to decision-making rules established through a democratic constitution) to adopt a non-democratic constitution or to give the power to individuals who will almost certainly institute a dictatorship.25 Waldron calls our attention to the fact that claiming that a particular decision concerning the acceptance of a specific constitution was democratically taken is not tantamount to claiming that that constitution has a democratic character. In an interesting twist, Waldron temporarily examines the idea that a constitution represents a pre-commitment established in order to guarantee the democratic character of the system. He reasons that there is a risk that we see in the constitution a sort of automatic mechanism that is supposed to become operant autonomously every time it is needed to solve conflicts in an impersonal and accurate way. In reality, constitutional constraints are not automatically activated. The constitution vests rather “a power of decision in some person or body of persons (a court) whose job it is to determine as a matter of judgment”, i.e. not automatically, whether a certain constitutional constraint applies in a certain case.26 Furthermore, this also implies that a constitution is not a pre-commitment in the sense of a self-imposed constraint: the people who give themselves a constitution actually deliver their power of decision as to what to do in a future moment over to the judgment of another person, e.g. a constitutional court.27 This is legitimate and may be the result of a free choice by the people, but it does not necessarily result in a democracy (just as in the above mentioned case in which a people opt democratically for a dictatorship).28 The decision to activate the constitutional constraints in a certain case and in a certain way refers to the capacity of judgment of certain individuals or bodies and not to an impersonal mechanism build in into the constitution. Now, the presence of Ibid. The classical example, which is mentioned often, albeit quite improperly, is that of Mussolini or Hitler, who, however, were not elected by a majority as prime ministers of their countries, but received the power by king Victor Emmanuel III and by the Reichspräsident Hindenburg respectively. Only later were their governments confirmed by a majority of electors, although the democratic character of these elections was as good as inexistent. 26 Waldron (note 23), 278. 27 Ibid., 279. 28 “When the people vote for the dictatorship, maybe dictatorship is what they need, and maybe dictatorship is what they should have, but let us not kid ourselves that dictatorship is therefore a form of democracy” (Waldron [note 23], 278). 24 25

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an element connected to individual judgment and to the exclusion of automatisms leads inevitably to interpretative conflicts, whose resolution will be achieved less through consent among citizens (i.e. democratically) than through a decision made by specialists – and this is antidemocratic, according to Waldron, since “the democratic claim has always been that the people are entitled to govern themselves by their own judgments.”29 Furthermore, the existence of a special judiciary charged with the task of constitutional review does not eliminate conflict, since there will be disagreement also within this body.30 Finally, Waldron comments that the idea of a constitution as pre-commitment presupposes that the people are like an individual entity. In reality, the people are a complex and plural organism, in which different opinions and reasonable disagreements are unavoidable. This plurality extends to both past and future generations, which can have different visions of the opportunity of establishing certain constitutional constraints. What was deemed as being good in a certain epoch may seem bad or even silly in another. Such a judgment is always made ex post, of course; but it should be taken into account ex ante by those who want to introduce the constraints, i.e. by “the framers of the pre-commitment”. They should foresee the possibility of altering or even eliminating the constraints “by processes of constitutional amendment.”31 Hence, Waldron calls into question the diachronic vision of a people, by stressing the plurality that characterizes this entity, which only apparently is so unitary and compact. The idea of the people as an individual with a single will, who at a certain moment in the past assumed a pre-commitment with himself, comes out much the worse for wear following the analysis of the New Zealander philosopher. However, precisely the pluralism and non-homogeneity of the people poses a problem as well for the synchronic approach. As Bobbio observes: “Groups and not individuals are the protagonists of political life in a democratic society”, in which the people is “conceived as an ideal (or mystical) unit. Instead the people are divided into opposing and conflicting groups.”32 Not only does the diachronic concept of people reveal itself to be inadequate but the synchronic concept also undergoes deep transformations to the extent that we think of the people as being com29 Waldron (note 23), 280. Dworkin uses an analogous argument, claiming that, if we were to privilege the opinions of the Justices of the Supreme Court over the opinion of a democratic majority, we would contradict the most basic premises concerning the way in which a community chooses its values. Therefore, the real opposition is not between democracy and other values, but between democratic and elitist ways of deciding which values are going to be acknowledged (Dworkin, Ronald, “Equality, Democracy, and Constitution”, in: Alberta Law Review, XXVIII / 2, 1990, 326). 30 For this reason Waldron rejects the analogy with Ulysses and the sirens: Ulysses knows from the beginning what he wants (namely: to hear the sirens without dying), while the people neither agree on how to interpret the constitution nor whether a certain law is in compliance with the constitution (Waldron [note 23], 283). 31 Ibid., 289. 32 Bobbio, Norberto, The Future of Democracy. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987, 28.

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posed of competing groups instead of competing individuals. This vision would brings us back to Madison’s theory of factions, but in this context we put let it aside.

III. Constitution, Democracy, People, and Will Both in modern and contemporary political philosophy there are, then, distinct and even antagonistic concepts of constitution, democracy and people. On the one hand, according to Madison and Holmes, a constitution is understood as a pre-commitment limiting democracy and, under these conditions, the people is viewed diachronically to the extent that constitutional limitations assume an intergenerational character, i.e., they are intended to ensure the legacy of the dead, the rights of the living as well as those belonging to the yet unborn. On the other hand, Jefferson and Waldron deny that a constitution can be seen as a pre-commitment imposing limits on democracy, since they consider it to be essential to the democratic ideal that each generation should be able to exercise its own judgment relative to selfgovernment; their view of people is, thus, synchronic. Between diachronism and synchronism an implicit tension arises also with regard to duties, rights and responsibilities. A diachronic conception of people emphasizes the duty and responsibility of maintaining the political system and the rights conferred by earlier generations, combining this maintenance with an ideal of common interest or general will that is, however, impossible to define. Alternatively, a synchronic conception of people would be linked to the right to operate changes, which however invokes the risk that such changes may lead to political and social setbacks and to a potential loss or restriction of rights. An attempt to sidestep these dilemmas would involve dismembering of the concepts of people previously presented and separating the concept of people from that of will. In this case, four categories arise, which will be analyzed below. The first category can be named as diachronic people with diachronic will. This is Madison’s view. The ‘people’ who found a constitution conceive of themselves in a diachronic fashion, that is, this group establishes a constitution valid not only for itself but also for future generations. Its legitimacy is based on the fact that the political will is not that of the current generation but is assumed to be that of future ones. Here, the diachronic aspect of the will provides a kind of limit to irresponsible popular action. The second category can be named as diachronic people with synchronic will. This refers to Jefferson and Paine’s understanding of Madison’s notion of the people, i.e., a people who found a constitution for future generations, but with the will of their time. In this case, the same diachronic view of the people makes inflexible the political and legal structure of the country, thus precluding any necessary modifications.

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The third category can be named as synchronic people with synchronic will. This would probably describe Jefferson’s concept of people in his debate with Madison, i.e. a people who establish a constitution that can be applied only during their own lifetime, according to their interests and disregarding the achievements of past generations and the rights and interests of present minorities and future generations. The fourth category can be named as synchronic people with diachronic will. This category will be defended and explored in the remainder of this work. It presupposes a people that understand themselves in a synchronic way, i.e., that found a constitution valid, firstly, only for their generation, but does not limit themselves to taking into account merely their own present concerns. It is a people that not only think about their own generation and the majority, but also take into account the legacy of past generations and the well-being and rights of future generations, as well as the rights and interests of minorities in their own time. In this category, the synchronic notion of people allows a constitution to be considered as a living document open to change. On the other hand, the diachronic nature of will guarantees that opening a constitution to the people implies neither the loss and suppression of fundamental rights nor the destruction of democracy itself. This synthesis between synchronism and diachronism can be outlined from the work of a contemporary of Jefferson and Madison: the Enlightenment philosopher Condorcet, who, from the other side of the Atlantic, was faced with the tension between a constitution and democracy at its most extreme during the French revolutionary period. In this context, the author saw clearly that the acceptance of conflict is crucial for any society that intends to remain democratic. Nevertheless, in order to prevent popular manifestations from occurring in a disorderly fashion, turning into riots or revolts, he advocated that a constitution had the obligation to create the formal means for expressing the demands of citizens and for exercising sovereignty. That is why Condorcet’s interpreters claim that the great originality and contribution of his constitutional theory consists of the institutionalization of various channels for the expression of popular sovereignty, for the limitation of power, for the resolution of conflict and also for the protection of rights.33

33 In this vein, Rosanvallon believes that “[t]he great idea of Condorcet is to pluralize the forms of exercise of popular sovereignty […]” (Rosanvallon, Pierre, La democratie inachevée. Histoire de la souveraineté du people en France. Paris: Gallimard, 2000, 67); Rothschild understands that “[h]is principal innovation in political theory is to have outlined a constitutional setting for political conflict” (Rothschild, Emma, Economic Sentiments: Adam Smith, Condorcet and the Enlightnment. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2001, 204); for Magrin, Condorcet’s constitutional theory is the result of a consensual order entirely based on human rights. He also believes that Condorcet was the architect of a “rare constitutional synthesis capable of reconciling the full development of democracy with an effective strategy for limiting power” (Magrin, Gabriele, Condorcet: un costituzionalismo democratico. Milano: Francoangeli, 2001, 11 and 13). According to Urbinati, “Condorcet translated sovereignty into the language of ‘rights’ and conceived the constitution as a founding process of a legal, political, and ethical order whose goal was to facilitate ‘the most complete enjoyment of their [individuals’]

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The underpinning for the following analysis is found in Condorcet’s Plan de Constitution of 1793.34 It is a compilation of the constitutional ideas of the thinker who identifies the conflict between the ideal of a constitution (to ensure rights and political stability) and that of democracy (the exercise of popular sovereignty) and seeks to accommodate them as best as possible through a set of institutions. The very idea of the people considered synchronously is, in some measure, created by the constitution and by the democratic institutions to which it gives rise. These institutions enable the action of the people; they channel all claims and allow conflicts of interest to be discussed and weighed politically. It is inside them that the diachronic will itself shall be produced. Thus, the relationship between constitution, democracy, people, and will is defined starting from the answer to three questions: (a) What is the role played by the constitution? (b) Who are the people? (c) How should they act? (a) The constitution, in Condorcet’s theory, is based on the natural rights of man and has the duty to safeguard them. However, protecting rights is not its only role; it also functions as a limit to irresponsible popular participation. The constitution also, and mostly, plays the role of establishing rights and social powers. A constitution, says Condorcet in the Exposition des principes et motifs du Plan de Constitution, “should contain all the laws which cover the establishment, formation, organization, functions, applications and limits of all social powers.”35 This means that the constitution is delineated as a policy framework within which rights are inserted and must be protected not only by the action of courts (constitutional courts, for instance), but also through popular participation in political decisions. Popular sovereignty is one of the rights enshrined in the Projet de Déclaration des droits naturels, civils et politique des hommes. According to Condorcet, “[s]overeignty is one, indivisible, indefeasible and inalienable. It essentially rests on the whole people and every citizen has an equal right to concur to its exercise.” Directly related to the right of popular sovereignty is the right to make changes in the constitution and in the form of government. In terms very similar to those of Jefferson and Paine, the French philosopher believes that “[a] people have always the right to review, to reform, and to change their constitution; a generation has no right to subject future generations to its laws.”36 rights” (Urbinati, Nadia, Representative Democracy. Principles and Genealogy. Chicago: Chicago University Press 2006, 180). 34 Here we refer to the Plan de Constitution and not only to Projet de Constitution Française, because the former contains the Exposition de Principes et des motifs du Plan de Constitution, presented to the National Convention on February 15th and 16th 1793, as well as the Projet de déclaration des droits naturels, civils et politiques des homes plus the Projet de Constitution Française (in: Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas de Caritat de, Oeuvres de Condorcet, publiées par A. Condorcet O’Connor et M.F. Arago, Paris: F. Didot, 1847, Tome XII, 333 – 501). 35 Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas de Caritat de, Condorcet: foundations of social choice and political theory. Translated and edited by Ian McLean and Fiona Hewitt. Aldershot / Brookfield: E. Elgar, 1994, 224.

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In this way, although the constitution is fundamental to the protection of rights and the establishment and organization of social power, it is not beyond the reach of sovereign decisions of the people as a whole. A constitution that establishes and protects rights, to be legitimate, must receive the expressed consensus of the members of political body, i.e., the people. Who, then, are the people? Who holds the one, indivisible, inalienable and imprescriptible sovereign power? (b) The unity mentioned by Condorcet is politically established when the constitution creates the rules of behavior in public life. In the Projet de Constitution Française, (Part II, article 1), the question “who are the people” is answered as follows: “[e]very man on accomplishing twenty-one years who registers at the civic table of a primary assembly, and who has resided for one year without interruption in French territory shall be a Citizen of the Republic.”37 Therefore, the unity resulting from the constitutional text is independent of the different political, moral, cultural or religious views of the citizens; it is independent of gender or economic criteria. It is even independent of race or ethnicity, since foreigners are also admitted to the exercise of political rights.38 The unity originates, hence, from equal rights to participate in public life. Lucien Jaume argues that Condorcet is the thinker who has best managed to bring the relationships between the concepts of unity, indivisibility and inalienability into harmony. Unity, “is not a given assumption, but it results from pluralization.”39 The pluralization in question refers to the notion of sovereignty which, in Condorcet’s constitutional theory, is split into an inalienable part (constituent power) and an alienable part (constituted powers). There is, then, a division. However, the unity is maintained to the extent that the bond created between the parts through institutions of control and supervision of the constituted power by the constituent power remains strong enough to prevent any kind of misuse. Regulating the exercise of sovereignty, the constitution establishes how people should act, and then confers upon them a political function. This decisive role in shaping the concept of people had been previously observed by Condorcet in 1786 when he asserted, in Vie de M. Turgot, that political institutions, notably the representative government, have the power to “provide people with a new education, to create new ideas at the same time that would call people to new functions.”40 36 Condorcet (note 34), tome XII, 421 f. Condorcet (note 35) does not contain a full translation of the constitutional project, nor of the project for a declaration of rights of 1793. Therefore, the English translations from the 1847 edition of Condorcet’s works are our own. 37 Condorcet (note 34), tome XII, 425. 38 Although the text mentions “men” and there is much debate among scholars about why Condorcet would have taken this option, considering the constitutional theory of the author as a whole, here the term “men” should be taken in the sense of humanity, mainly because in writings pre (“Sur l’instruction publique” in: Condorcet (note 34), tome VII, 167 – 449) and post (“Sur l’admission des femmes au droit de cite”, in: ibid., tome X, 119 – 130) the “Projet de Constitution Française” Condorcet supported the equality of rights between men and women. 39 Jaume, Lucien, Le discours Jacobin et la démocratie. Paris: Fayard, 1989, 311. 40 Condorcet (note 34), tome V, 122.

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Therefore, one can conclude that the constitution creates the people in two stages. Firstly, in a purely formal sense, the constitution establishes what conditions must be met for someone to take part in the people of a state. In the Projet de Constitution Française, as seen above, these conditions are quite broad and admit as members of the political body, i.e., as members of the people, all individuals endowed with rational capacity, without distinction of race, gender, social class or nationality. In a second stage, when the constitution gives rise to democratic political institutions that will regulate popular action, these institutions start acting on citizens in order to provide, as the author himself acknowledged, education for citizenship. It is those very institutions that shall ascribe to the people their synchronic character, since as they channel and control popular action they also create the conditions for the current and effective participation of the people in public life. (c) The definition of the way in which the people should act occurs starting from the organization of social power. These powers, in Condorcet’s theory, can be seen from the perspective of the classical distinction between constituent and constituted power, thus adopting the mode of representative government. However, these concepts assume greater complexity, given that in addition to establishing a necessary separation between these powers, Condorcet gave the constituent power assignments much broader than drawing up the constitution and leaving the scene. Popular sovereignty, and the constituent power resulting from it, can be put into practice regularly, as established in the constitution, or whenever the citizenry consider it necessary. Moreover, sovereign power also assumes the function of surveying and controlling the established powers. We have used Alengry’s classification, according to which the powers in Condorcet’s constitutional theory are not divided merely into constituent and constituted power, but they can be classified as powers retained (with the people), common powers (exercised both by the people as well as by representatives) and delegated power (basically, constituted powers: legislative, executive and judicial). In this theory, all these powers derive from the constituent power,41 but what is unique to it is precisely the existence of retained and common powers, otherwise called positive and negative powers.42 The retained powers exercised directly by the people are announced in Part VIII of the Projet de Constitution Française and consist of the enjoyment of four rights: censorship and popular initiative in legislative matters (always exercised ex post facto, i.e., subsequent to the enactment of the law by the legislature); consultative referendum (through which the legislature requests the people’s opinion about an issue of general interest), the right of petition, and lastly, the right to demand the trial of public officials in case of abuse of power and violation of the law. The retaining of such powers by citizens, according to Condorcet, is what characterizes a “popular 41 Alengry, Franck, Condorcet: Guide de la Révolution Française, Théoricien du Droite Constitutionnel, et Précurseur de la Science Sociale. 5ª Ed. Paris: V. Giard et E. Brière, 1904, 476. 42 Urbinati (note 33), 213.

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constitution” in which the people delegate their powers, “but do not delegate their reason.” In other words, it is a kind of constitution in which the people “cede the right to act, but they reserve the right to monitor if men who act for them and on their behalf comply with the laws and protect their interests.”43 The common powers exercised by the people and the representatives are those related to constitutional review. As noted above, Condorcet argues that the constitution must undergo the review process with a certain frequency, and this is taken as a condition for the improvement of political and legal institutions established and safeguarded by it. In Part IX of the Projet de Constitution Française the twofold rules for requesting a constitutional review are set out: periodically within the time prescribed in the constitution for this review (in article 4 Condorcet suggests a twenty year period), or at any time, when the revision is requested by citizens or by the legislative body. A petition for constitutional review should lead to the formation of a constitutional assembly composed of members elected directly by the people. The constituent assembly (which Condorcet calls “National Convention”) shall have a term of one year to develop the new draft, which will be submitted to popular ratification. Citizens may exercise rights resulting from retained and common powers within their primary assemblies. In the Projet de Constitution Française Condorcet sets out that the French territory should be divided into departments which in turn should be subdivided into municipalities; further, municipalities should be divided into municipal sections and these into primary assemblies. This territorial division is carried out in order to enable the direct and frequent participation of citizens in the government, especially seeking to limit the size of the primary assemblies to a manageable number, in order to ensure participation, discussion and deliberation in molds devised to keep the decision-making power in the hands of the people. In this way, the primary assemblies might be made up of between 450 and 900 members. Each municipality could have as many primary assemblies as necessary to respect the numerical limitations.44 Condorcet outlines also procedures enabling single citizens to instigate constitutional revision or legislative suggestion (a positive power) or censorship or bringing a suit against public officials or representatives (a negative power). To do so, concerned citizens should present their proposal to the office of their primary assembly. If they have the approval of a number of their fellow citizens (in the Projet de Constitution Française Condorcet stipulates the support of at least fifty citizens), the request has to be submitted to vote in their primary assembly and, if approved, it must be considered and voted on by other primary assemblies in municipal sections, in municipalities, in departments, and so on, until it reaches the national legislature. The deliberations in each of these instances should strictly follow the forms and

43 44

Condorcet (note 34), tome X, 341. Ibid., tome XII, 427.

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terms previously established in the constitution for deliberation at primary assemblies.45 By creating formal channels for citizens to place their claims at any time, Condorcet assured the reversibility of policy decisions considered unconstitutional, illegal or contrary to the public interest, as well as the possibility to promote the removal of a representative who did not meet constituent expectations. One of the most important consequences of the Condorcet’s model of political control and supervision is that, by requiring the approval of fellow citizens in primary assemblies for individual proposals, the philosopher reduces the possibility that private interests might maculate legislation and undermine legal certainty and political stability. This is mainly possible due to the variety of places of deliberation and decision (the primary assemblies of each municipal section, municipalities and departments) in combination with the time delay between resolutions. Such mechanisms filter the level of public interest in the particular draft of a proposed law, in an act of legislative censorship, or even in the trial of a public official. These mechanisms also prevent overly hasty decisions from being taken and avoid any chaos caused by a specific situation, i.e., they maximize the diachronic element in the will that should be formed through the process of deliberation. At this point, Condorcet’s mechanisms share Madison’s logic, since both thinkers seem to be concerned with minimizing the role of passions and private interests in public decision-making. Thereby, the constitution can create the legal conditions to ensure that all members of a political body have equal influence over collective decisions. In this sense, democratic constitutions play an important role in educating citizens for freedom, to the extent that the institutions set up by the constitution create democratic habits that in turn end up defining the people.46 But the people whose democratic habits are created by the constitution and its institutions can only be considered synchronically, that is, they can only act synchronically, if the constitution contains rules simultaneously allowing and limiting sovereign action. For this reason, the institutional design in the Projet de Constitution Française is of great importance for studying the conflicts between constitution and democracy since, by constitutionalizing means of direct participation and by guaranteeing the people the control over delegated powers, over the law and over the constitution, this project also creates the means for the actual and synchronic exercise of popular sovereignty. On the other hand, as we have seen, a will whose outcome is merely synchronic may undermine both democracy and fundamental rights. Therefore, although the civic education promoted by institutions is very important, it needs to be supplemented in order to avoid that popular action be influenced by another power that might exploit the prejudices, interests and passions of the people. Only by qualifying the

Ibid., tome XII 438 – 441 and 469 – 479. Cf. Pinzani, Alessandro, “Democratic constitutions and education to freedom”. In: Civitas, v. 9, n. 3, p. 472 – 495. 45 46

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will according to a diachronic principle can we attempt to avoid the shortcomings of synchronism. Diachronic will is not something given, it is built and its construction depends on methodological and substantial foundations (respectively: on the deliberation procedure performed inside democratic institutions and on the presence of enlightened subject and equal rights). Condorcet borrows the lexicon of Rousseau and uses the term volonté general. However, his definition is less ambiguous than that of the Genevan. Condorcet considers procedural and epistemological conditions in order to describe this concept in detail. Sometimes he uses the term ‘will’ without adjectives (‘general’, ‘common’) to denote a private interest. Volonté general, or the public interest, is called also collective reason, since Condorcet thinks that collective decisions should contain not only the will of the citizens, but also their judgment. Thus, it is important to note that the probability that the collective decision is correct is based on judgment and not just on will, as we can see in Sur la forme des élections: An election, like any other decision, should express only the judgment [jugement] of those who have the right to decide or elect. However, men often act according to their interests or their passions far more than according to their reason, so in fact, every decision, every election actually only expresses the will [volonté] of the majority of voters. An appropriate method of election shall then have two objectives: first, to make sure that in general the resolution [voeu] of voters is in accordance with their opinion; and second, that the election results is in accordance with the resolution [voeu] of the majority of voters. The electoral method is especially important in regard to the latter objective.47

Here Condorcet recognizes that will is formed from interests and passions associated with private interests. Judgment, on the other hand, implies the ability of the voter to reflect and decide in accordance with the public interest. Therefore, in this excerpt, the difference between will (volonté) and resolution (voeu) should be highlighted. Resolution should be understood as a decision taken after reflection. It is precisely at this point that procedural and epistemological conditions intersect and complement each other. The method of decision making should provide that voting be preceded by discussion and deliberation. It is in the deliberation process that citizens can put into practice their judgment and their ability to reason abstractly in order to balance private and public interests. But the very act of deliberation presupposes the task of informing citizens about the public interest. For this reason, in the Exposition des principes et motifs du Plan de Constitution Condorcet points out that there is no need for citizens to have read or be informed about all aspects of a topic under examination before being admitted to the process of collective decisionmaking. In other words, ordinary citizens are able to participate adequately in this process. According to the author, Discussions in a debating assembly have two main concerns. First, there is a discussion about principles which are fundamental to any decision on a general question; this question 47

Condorcet (note 34), tome IX, 289 – italics ours.

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is broken down and considered from all angles, and the consequences of each different decision are examined. In this first stage, the opinions are personal; they are all different and none obtains the majority of votes. This is followed by another debate. As the question becomes clearer, the opinions become less diverse and begin to combine into a small number of more general opinions. Soon, the question can be reduced to a number of clear and simple questions about which the assembly can be consulted. If this reduction is done perfectly, then each individual can give a true expression of his resolution [voeu] by replying yes or no to each of these basic questions.48

This is the culmination of the relationship form / content. Condorcet presupposes, of course, that citizens have an elementary education, but it is the very form of the decision-making process that will further elucidate the matter to be decided. On the one hand, the method of simplifying propositions enables citizens to use their knowledge and rationality in weighing private and public interests. On the other hand, the method will not be effective if the citizens have not been driven to the development of their capacity for reason. In Condorcet, then, it is not collective will but collective reason that serves as the source of norms created through collective decisions. He says: reason, according to nature, puts only one limit on individual independence, it adds a single social obligation to those of particular morality: it is the need and obligation to obey, in the actions that should follow a common rule, not to its own reason, but to the collective reason of the greater number; I have stated to its reason and not to its will [volonté], because the power of the majority over the minority should not be arbitrary; it does not extend to the violation of the right of any single individual. Nor does it require submission when it evidently contradicts reason. This distinction is not useless: a set of men can and should, as well as an individual, distinguish what he wants from what he thinks fair and reasonable.49

Collective reason does not predate political activity. Instead, it arises from the interaction and reflection of citizens during discussion and deliberation. Thus, it turns out that Condorcet creates material conditions for the formation of a diachronic will. He believes that the manner in which a decision is made can directly affect its results. For this reason, he insists on the adoption of a rigorous methodology for the deliberation process, i.e., the reduction of a complex issue into simple propositions that can be easily understood and answered with yes or no, because the way a question is posed may interfere in the judgment of the citizens. But he also knows that a good method would be pointless if citizens were not considered equal in rights and in their rational and moral capacities, which should be developed through public, gratuitous and equal education. Both methodology and education are essential to guaranteeing the elucidation of citizens on any matter. It is, then, the elucidation that creates the conditions for the gradual increase of citizens’ equal influence in

48 Condorcet (note 35), 193 (modified translation). The American translators use “will” to translate both “volonté” and “voeu”; however, in this way the distinction between the two terms is lost. 49 Condorcet (note 34), tome X, 589 f.

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shaping the law. It is also the elucidation of the citizens that allows us to seek a diachronic ideal in will. Synchronism and diachronism are complementary and interdependent concepts. Without the continuous possibility of change introduced by synchronism, democracy loses its essential nature as popular self-government. On the other hand, without the ideal of stability and improvement provided by diachronism, the results of synchronic actions of the people can harm society and individuals. Thereby, the democratic institutions that shape the synchronic people are of great relevance to the democratic ideal, especially because they contribute to citizens’ political education inasmuch as they produce democratic habits. However, the form created by a democratic constitution is not sufficiently able to deal with the problems arising from a merely synchronic act of the people, as pointed out earlier. In turn, the diachronic element alone is similarly unable to produce results, since it is, in fact, mere content and therefore requires a form in which to express the will. Thus, it is useless to develop an excellent method of deliberation and to have a highly enlightened people in a state whose constitution does not provide adequate institutions for popular participation.

IV. Final Remarks The originality of Condorcet’s proposal consists in the attempt to institutionalize citizen control of the process of democratic decision-making. We consider this aspect particularly relevant, since it has a twofold effect: on the one hand, it allows the constituent power (the original sovereign power) to be exercised continuously following the implementation of the pouvoir constitué, i.e. of the power of the political institutions created by the constitution. It also guarantees that the citizens not view the constitution itself as being the expression of the will of the dead, of past generations. Rather, they will see it as an instrument for exercising their actual democratic will by way of controlling their representatives and the results of institutional decision-making processes. For this reason, we consider it important that this form of democratic control be institutionalized and not remain merely informal (as happens e.g. in Habermas’ theory of the public sphere)50. More recently, Colin Crouch and Pierre Rosanvallon,51 among others, have claimed that democracy needs that the citizens exercise direct control of the actions of their representatives, but both insist on non-institutional forms of control. It is not our intention to offer a practical model in Condorcet’s footsteps, since this is a question of institutional engineering and should be answered by every peo-

50 Cf. Habermas, Jürgen, Between Facts and Norms. Cambridge (MA): MIT Press, 1996, 329 ff. 51 Crouch, Colin, Post-Democracy. Oxford: Polity Press, 2004 e Rosanvallon, Pierre, La contre-democrátie. La politique à l’âge de la défiance. Paris: Seuil, 2006.

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ple for their particular constitution (in the spirit of Jefferson). Nevertheless, we would like to stress a decisive point in Condorcet’s proposal: if the people do not exercise the controlling powers guaranteed by the constitution, they will never develop the democratic culture necessary for the formation of a diachronic will of a synchronic people. Without such a culture, individuals would remain slaves of passions and particular interests, as Condorcet and Madison warned. In this context, the Jeffersonian idea of renegotiating and possibly amending the constitution receives a new meaning: far from being an expression of the synchronic will of a synchronic people, it would represent an ideal discussion among generations and a way of expressing the democratic culture and the identity of a nation.

Zusammenfassung Im vorliegenden Aufsatz wollen wir auf ein Dilemma eingehen, mit dem sich der Konstitutionalismus seit seiner Entstehung im 18. Jhd. konfrontiert sieht, da es seine erste, paradigmatische Gestalt in einem Briefwechsel zwischen Thomas Jefferson und James Madison annahm. Es betrifft die schwierige Beziehung zwischen Verfassung und Demokratie. Unser Ziel ist es, die möglichen historischen und begrifflichen Gründe zu rekonstruieren, die viele Autoren dazu geführt haben, zwei Modelle einander entgegenzusetzen: das Konstitutionalismusmodell und das radikal-demokratische Modell. Beide beanspruchen, jeweils die beste Möglichkeit anzubieten, um das demokratische Ideal zu realisieren. Wer das eine vertritt, behauptet oft, dass das andere dieses Ideal verrät und zu einem Zusammenbruch des demokratischen Systems führen würde, falls es sich durchsetzen sollte. Es ist unsere These, dass der einzig mögliche Ausweg aus dem Dilemma eine Verfassungsform wäre, die Institutionen vorsieht, durch die der souveräne Volkswille demokratisch ausgeübt werden kann, ohne die von Madison und anderen Vertretern des Konstitutionalismusmodells hervorgehobenen negativen Auswirkungen zu verursachen. Wir finden ein historisches Beispiel für diese dritte Alternative in Condorcets Verfassungsplan.

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The Procedural Rule of Law: Examining Waldron’s Argument on Dignity and Agency Sanne Taekema*

I. Introduction The idea of the rule of law has had the attention of legal philosophers for centuries. As an idea closely related to the concept of law and to the foundations of a legal and political order, it has given rise to an array of different conceptions and to many debates about the principles that follow from it. Among current theorists of the rule of law, Jeremy Waldron stands out as a particularly original and interesting thinker. In his papers of the last fifteen years, he has argued for a novel understanding of the rule of law as procedural, which demands the opportunity for individuals to contest legal decisions in the formalized processes of courts and tribunals.1 With this conception of the rule of law, Waldron challenges the standard categorization of rule of law theories as either formal or substantive and at the same time argues that such a procedural conception captures the importance of the rule of law better than the other two. Although I will pay attention to the relationship between the different categorizations too, the main objective of this article is to examine the arguments Waldron advances for the procedural rule of law and to develop these further where necessary. This article is structured as follows. After discussing Waldron’s main line of argument and the way his theory diverges from the standard typologies, I will discuss two weaknesses in his argumentation and I will argue that these can be remedied to a large extent by linking the rule of law work more firmly to his account of dignity and to Lon Fuller’s interactionism. I will then discuss his view of the rule of law in relation to international law and argue that he does not fully understand the importance of the interrelations of national and international law for conceptualizing the rule of law. Again, turning to another part of his work that does not concern the rule * My arguments owe much to discussions with and suggestions by Ellen Hey, especially in the context of a collaborative project about the rule of law in transnational settings. 1 The following articles form the core of Waldron’s position on the rule of law as discussed here: Jeremy Waldron, “The Concept and the Rule of Law”, Georgia Law Review (43) 2008, 1 – 61; Jeremy Waldron, “The Rule of Law and the Importance of Procedure”, In James Fleming, ed., Getting to the Rule of Law, New York / London: New York University Press 2011, 3 – 31.

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of law directly provides a source of argument, this time the idea of ius gentium, which can support a different reading of the rule of law as transnational.2 Thus, by reconstructing Waldron’s argument I hope to show that a procedural conception of the rule of law is important in order to relate the rule of law to changing legal circumstances.

II. The third strand of the rule of law: a focus on procedure Commonly, the rule of law is understood as the restraint law puts on those in power.3 The famous phrase ‘Rule of law, not man’ encompasses the idea that a person in a position of power should not be left to his own devices, but should be subject to legal limitations. Often this basic idea of the rule of law is accompanied by the requirement of clear and general legal rules which protect the ruled against the exercise of arbitrary power. This line of argument, which is associated with Hayek, sees the rule of law as serving legal certainty, and through legal certainty the freedom of the individual: if an individual knows exactly what the rules are to which he is subjected, he can plan accordingly.4 In a similar vein, Lon Fuller saw the rule of law as respecting the principles of legality, which are all requirements about the formal quality of rules: they should be clear, non-contradictory, non-retroactive, and so on.5 By contrast, it has been argued that the rule of law concerns guaranteeing individual rights.6 In positive law scholarship, the focus on clear rules and on individual rights are often combined into one rich view of the rule of law, the recent work by Bingham being a good example.7 In his typology of rule of law theories, Brian Tamanaha has categorized them on two scales. First, as formal or substantive, meaning concerning the form or the content of law; secondly, from less to more demanding theories, or in his words, from thin to thick versions.8 The contrast that is of interest is the first one, also made by others, concerning form or substance. Usually, these are regarded as distinct and exhaustive categories: a requirement is either formal or substantive. According to Waldron, it is a mistake to think so: many of the rule of law principles which are labeled as formal, do not concern the form of law but its procedures. 2 On transnational law, see Peer Zumbansen, “Defining the Space of Transnational Law: Legal Theory, Global Governance & Legal Pluralism”, Transnational Law and Contemporary Problems (21) 2012, 305 – 335. 3 Brian Tamanaha, On the Rule of Law. History, Politics, Theory, Cambridge: Cambridge University Press 2004, 114 ff. 4 F.A. Hayek, The Road to Serfdom, London: Routledge 1991, 54 – 62. 5 Lon L. Fuller, The Morality of Law, New Haven: Yale University Press 1969, 46 – 91. 6 E.g. Ronald Dworkin, “Political Judges and the Rule of Law”, in A Matter of Principle, Cambridge: Harvard University Press 1985, 9 – 32. 7 Tom Bingham, The Rule of Law, London: Allan Lane 2010. 8 Tamanaha (op.cit. fn. 3, 91).

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If we look at the history of the rule of law, procedural principles have often been prominent, as early as the Magna Carta (1215): “No freemen shall be taken or imprisoned or disseised or exiled or in any way destroyed, nor will we go upon him nor send upon him, except by the lawful judgment of his peers or by the law of the land.”9 The lawful judgment of his peers is a procedural demand, requiring the particular institution of a court. Similar prominence for court procedure can be found in the nineteenth century work by Dicey or the twentieth century work by Raz.10 Waldron argues that the procedural strand of the rule of law has been neglected in the philosophy of law, while it is the aspect of the rule of law that is more commonly appealed to by ordinary people.11 One of the reasons why he believes this to be the case is that the formal and procedural aspects of the rule of law are usually in accordance with each other: having predictable and stable rules combines well with having access to independent courts. However, there are instances in which the two strands of the rule of law may conflict, when the contestation of a rule or the application of it in a case makes the law less predictable or clear.12 In such cases, the question is brought to the fore what is more important: the stable rule or the access to court procedure? Waldron has several arguments why the procedural strand is more important, but before I turn to these, a second route to approach the importance of procedure deserves attention. Waldron not only finds procedural strands on the formal side of the rule of law typology, but also on the substantive side, in the work of Ronald Dworkin. Waldron shows that Dworkin’s rights conception of the rule of law actually contains two rule of law demands: the demand that moral rights are recognized in law and the demand that individuals may ask for enforcement of their rights through courts.13 Here too, he shows how a commitment to procedure may be unsettling for the substantive focus, which calls for recognition of objective moral rights, because the outcome of the procedure is not determinable in advance. The procedural element in the rule of law, he argues, is therefore distinct from both the formal and the substantive element. Not everybody agrees. Dworkin sees the procedural element as part of what is objectively required by political morality: apart from substantive moral rights, people also “have rights to particular procedures.”14 Others have argued that the proceClause 39, see Tamanaha (op.cit. fn. 3, 26). A.V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, Basingstoke / London: MacMillan 1987, 188; Joseph Raz, The Authority of Law, Oxford: Clarendon 1979, 210 – 229. 11 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 9). 12 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 8). 13 Waldron refers to these two as objectivist and proceduralist elements, see Waldron, The Rule of Law as a Theatre of Debate, in Justine Burley, ed., Dworkin and His Critics, Malden: Blackwell 2004, 319 – 336. I present them as (versions of) the substantive and procedural strand in the rule of law. 9

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dural element is a combination of the formal and the substantive elements of the rule of law because it highlights values of fairness and equity.15 Thus, there seem to be four possibilities for viewing the relationship between the procedural, formal, and substantive elements: first, seeing the procedural as forming one category together with formal aspects, second, seeing the procedural as forming one category together with substantive aspects, third, seeing the procedural as a fusion of formal and substantive aspects, or fourth, seeing the procedural as a third element in its own right. Waldron has good arguments against the first two possibilities. The procedural element can conflict both with formal and substantive concerns: with the predictability of the law and with the recognition of objective moral rights. In my view, the third and fourth possibilities are not contradictory: if we see a combination of formal and substantive aspects as yielding a new, combined, element, this can be termed the new, procedural, element. If we think about examples of procedural law, this seems warranted: the phrase audi et alterem partem (listen also to the other side) is a formal quality of ordinary court procedure, serving the determination of the facts of the case, but it is also a right to equal participation of the parties involved. Therefore, Waldron’s amendment of the categorization of rule of law theories or strands in the concept of the rule of law to include the procedural seems valid. So why should we value the procedural version of the rule of law in particular? Waldron has two main arguments. First, this is the version of the rule of law most referred to by ordinary people and by legal practitioners, rather than legal philosophers.16 So the argument seems to be that there is a popular understanding of the rule of law that needs to be reflected in philosophical theories of the rule of law too. I will discuss the merit of this argument in the next section. The second argument is that the procedural aspects “seem to value opportunities for active engagement in the administration of public affairs”.17 Other than the formal aspects which make law predictable and enable private freedom, the procedural version highlights the participation of individuals in the public realm. Such procedures treat individuals with respect: “Applying a norm to an individual is not like deciding what to do about a rabid animal or a dilapidated house. It involves paying attention to a point of view and respecting the personality of the entity one is dealing with.”18 The procedural element of the rule of law is important then, because it respects the dignity 14 Ronald Dworkin, “Ronald Dworkin Replies”, in Justine Burley, ed., Dworkin and His Critics, Malden: Blackwell 2004, 339 – 395 at 388. 15 Daniel B. Rodriguez, Mathew D. McCubbins & Barry R. Weingast, “The Rule of Law Unplugged”, Emory Law Journal (59) 2010, 1455 – 1494 at 1470. Confusingly, they contrast proceduralist and substantive views instead of formal and substantive, but given the theories they list as proceduralist (Hayek, Fuller, etc.) it seems warranted to recast their view in the more conventional terminology of formal versus substantive. 16 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 3 – 5 and 9). 17 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 9). 18 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 23 – 24).

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and agency of persons. It does so by giving individuals the right to contest decisions which concern them through court procedures, in which they are able to advance their own arguments about the law. III. Difficulties in Waldron’s argument As must be apparent by now, I think there is much to be said for Waldron’s account of the rule of law. There are, however, a few points in which the argumentation is problematic or incomplete. The first issue that merits discussion is the role of the formal element in Waldron’s argumentation about procedure. In the previous section, I supported Waldron’s claim that the procedural merits recognition as a third, separate strand of rule of law thinking. If we look more closely at the way he describes the importance of procedure, it is noteworthy that it is not only part of the rule of law argument but also of his conception of law itself. When he talks about the inclusion of procedural and institutional elements in the conception of law, he stresses the role of courts as “institutions that [operate] through the medium of hearings – formal events that are tightly structured to enable an impartial body to fairly and effectively determine the rights and responsibilities of particular persons after hearing evidence and argument from both sides.”19 What strikes me in this passage is the emphasis on the formal character and the “tight structure”, which are attributes that are part of the formal element of the rule of law. If he wants to make the case for the procedural element as really distinct from the formal element, it is not obvious that the formal character of procedures and the institutions enabling them should carry this much weight. If we look at the “laundry list” of procedural requirements he discusses, the form of procedures is only a very minor point, only one aspect of one item out of a list of ten items, eight of which enumerate procedural rights, not formal characteristics.20 I see two reasons to downplay the formalization of procedure. Because Waldron wants his conception of law to contribute to general jurisprudence, it should remain fairly abstract and applicable to different legal systems. More importantly, the moral reasons for emphasizing the procedural rule of law have little to do with formalized procedure, other than ensuring that individuals can make their arguments about legal decisions. Here too, there is a clear tension between the formalized procedures of ordinary courts and the right to be heard in a meaningful way: many procedural laws have become so technical that it is a real challenge for ordinary people to recognize their own point of view in how they are represented in legal procedure. Procedure is important as a precondition for the argumentative character of law, which may require openness more than formalization. The second issue of concern here is the use of the popular conception of the rule of law.21 It does not become completely clear what the significance of the argument 19 20

Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 20). Waldron 2011 (op.cit. fn. 1, 5 – 6).

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is: should we value the procedural rule of law because this is what people in the streets do? This is not probable: the value of procedure is not a matter of general opinion, but of moral argument. Should our conception of the rule of law reflect what ordinary people think the rule of law amounts to? This is more plausible: one of the aims of philosophical analysis is to clarify concepts as they are used practically. This is a venerable tradition in legal philosophy too; think only of H.L.A. Hart’s characterization of The Concept of Law as an “essay in descriptive sociology”.22 However, that does not seem to be what Waldron has in mind. In “The Concept and the Rule of Law” he chooses position against Hart’s “casual positivism” by arguing that law is a value-laden concept,23 and earlier he argued that, both theoretically and at the street level, the rule of law concept is essentially contested.24 In the context of the Florida elections of Bush versus Gore, there was not only theoretical debate over the meaning and values of the rule of law, but also public and political debate. The rule of law is therefore not a suitable concept for the study of standard usage of a term. There is a third interpretation of the argument of popular understanding, and to my mind the most plausible one: that Waldron appeals to an empirical argument to change the philosophical stakes. Because ordinary people appeal to the rule of law as procedural ideal, it is an understanding of the rule of law that needs to be seriously considered. There are two things to note about this: it is an empirical argument about legal consciousness, not a philosophical argument, and partly as a consequence, its force is rather weak. That it is an empirical argument about what people actually think about the rule of law is not a problem in itself, but it is a problem for Waldron as a legal philosopher: he cannot support the argument further on his own terms. The argument that this is what people think needs to be supported by empirical evidence that this is indeed the case. Such evidence seems to be available,25 but it appears that Waldron does not think it necessary to support the argument further. He uses it as an appeal to common sense, as something we can all recognize as relevant. Given his own argument that the rule of law is an essentially contested concept, appealing to ordinary people to argue for a particular conception of the rule of law is not very convincing: it should be just as easy to find ordinary people who appeal to the importance of the clarity of rules or the freedom of speech as rule of law essentials. 21 See previous references in fn. 16 and Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 55), Waldron 2011 (op.cit. fn. 1, 5 – 6). 22 H.L.A. Hart, The Concept of Law, 2nd edition, Oxford: Clarendon, 1994, v (where he refers to the ordinary language philosophy of J.L. Austin as a source of inspiration). 23 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 36). 24 Jeremy Waldron, “Is the Rule of Law an Essentially Contested Concept (in Florida)?”, Law and Philosophy (21) 2002, 137 – 164. 25 There is a rich socio-legal literature on legal consciousness, see e.g. Patricia Ewick & Susan Silbey, The Common Place of Law: Stories from Everyday Life, Chicago: Chicago University Press 1998, and Marc Hertogh, “A ‘European’ Conception of Legal Consciousness: Rediscovering Eugen Ehrlich”, Journal of Law and Society (31) 2004, 457 – 481.

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This means, and that was my second point about the argument, that the force of the appeal to popular understanding of the rule of law is weak. Given the variety of public opinions about the rule of law and the lack of further support, it is no more than a prima facie argument that the procedural rule of law matters. This means that the argument about respect for dignity and agency becomes even more central. I will turn to the development of that argument in the next section.

IV. The moral reasons for procedure: respect for dignity and agency In the previous section, it became clear that the argumentative weight in Waldron’s account of the rule of law lies with the moral reasons for having the rule of law and for stressing procedure as central to it. The core of these reasons is respect for the dignity and agency of persons. The exact meaning of these ideas and their precise link to the procedural and argumentative side of the rule of law need to be further explored. More particularly, there are elements in Waldron’s other work and in the work of Fuller which may help to substantiate the argument. In what way does the procedural rule of law contribute to respect for personal dignity and agency? First of all, legal procedures recognize the point of view of a person by allowing a person to contest a legal decision which concerns him and by allowing him to advance arguments in support of that point of view. This means that such procedures rest upon, as Waldron says, “respect for the freedom and dignity of each person as an active center of intelligence”.26 If we contrast this with the formal element of the rule of law, which ensures the predictability and generality of rules, the main difference is in the idea of the individual person and his capabilities, which is more fully developed here. The formal idea of the rule of law can be said to serve freedom and dignity too, because it enables individuals to plan their lives on the basis of clear, general rules. This idea of “private freedom”, in Waldron’s terms,27 is compatible, however, with a top-down, authoritarian model of government: the clear, general rules may be very restrictive and unfair in the eyes of the individuals subject to them. The procedural element of the rule of law, on the other hand, stresses the contribution of individuals to the shape and content of the law, because it takes seriously the arguments about the law that individuals advance. Waldron links the importance of procedure and the agency of persons to a view of law as an argumentative discipline.28 Although it is possible to see law as an argumentative discipline without giving a substantial role to ordinary citizens, for example by focussing on the discourse of judges only,29 the importance of procedure Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 60). Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 8 – 9). 28 Waldron 2008 (op.cit. fn. 1, 56) and Neil MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law, Oxford: Oxford University Press 2005, 27. 26 27

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does guarantee that ordinary people are able to contribute to legal argumentation, by giving them their ‘day in court’. However, this is an argument based on a characterization of law, not on the agency of persons as such. A better supporting argument can be found in the work of Fuller, more particularly in his interactional account of law. In the rule of law debate, Fuller is known for The Morality of Law and the list of principles that are part of the formal element of the rule of law. However, in other work,30 and in the ‘Reply to Critics’ in the second edition of The Morality of Law,31 he underpinned his idea of the rule of law with an interactional account of law: the idea that law arises out of human interaction and that facilitating interaction is the basis of both customary and enacted law.32 Waldron finds an ally in Fuller because he also links the rule of law to respect for dignity and agency,33 but there is a more significant link in the use he makes of Fuller’s article on adjudication.34 Waldron points out that for Fuller the significance of the form of adjudication is not the fact that an impartial third party takes a decision, but the fact that the affected person is able to participate in the proceedings by presenting proof and arguments. Waldron does not pursue this further, but if we put this idea in the context of Fuller’s broader thesis, it becomes clear that it is an instance of the idea that law is a matter of interaction: not only of citizens among themselves, but also of citizens and officials, be it legislators or judges. How does Fuller’s interactionism support Waldron’s arguments for the procedural rule of law? If we see law as being shaped by and itself shaping human interactions, the procedures through which law operates and in which it is operated are essential for making interaction possible and for ensuring its quality. An interactional account of law foregrounds what persons do with the law and how their interpretations and expectations develop law’s meaning. Acknowledging the contributions of individuals to the meaning of law in this way is a natural continuation of Waldron’s argument of respecting people as active centers of intelligence. The notion of dignity, as was already noted above, is not only used by Waldron in connection with the rule of law. Both Fuller and Raz also argue that the rule of law serves the value of human dignity.35 There are, however, different meanings of 29 An example would be the work of Ronald Dworkin, e.g. his notion of law as a chain novel, see Law’s Empire, Cambridge: Belknap 1986, 227 – 232. 30 Especially the papers in Kenneth I. Winston, ed., The Principles of Social Order. Selected Essays of Lon L. Fuller, Durham: Duke University Press 1982. 31 Lon L. Fuller, (op.cit. fn. 5, 187 – 242). 32 Lon L. Fuller, “Human Interaction and the Law”, in: Winston (op.cit. fn. 30, 211 – 246) at 230. 33 Waldron 2011 (op.cit. fn 1, 9 – 10), citing Fuller (op.cit. fn 5, 162): “man’s dignity as a responsible agent”. 34 Lon L. Fuller, “Forms and Limits of Adjudication”, in Winston (op.cit. fn. 30, 86 – 124), see Waldron, Thoughtfulness and the Rule of Law, New York University School of Law Working Paper No. 11 – 13, 2011, available at http: //ssrn.com/abstract=1759550, 11. 35 Fuller (op.cit. fn. 5, 162); Raz (op.cit. fn. 10, 221).

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human dignity that can be linked to the rule of law. Tamanaha refers to the importance of dignity in the context of the German Rechtsstaat, and sees this as a prime example of a substantive right to dignity.36 This is rather different from the way Waldron (and Fuller and Raz for that matter) employ the idea of dignity: dignity is the rationale or value served by the rule of law, not one of the requirements following from the rule of law idea. Or as Waldron might put it, dignity is not part of the ‘laundry list’ of rule of law requirements, but the moral value to be realized by adhering to the laundry list. To make the difference clear, a distinction made by Waldron in a different context is useful. In his article “How law protects dignity”, he distinguishes the idea of dignity as a status concept from dignity in the sense of moral or sacred worth.37 If dignity is understood as the intrinsic moral worth of persons, it may serve to argue for the sanctity of life as a human right. According to Waldron, this notion should be separated from the idea of dignity in the sense of “the status of a person predicated on the fact that she is recognized as having the ability to control and regulate her actions in accordance with her own apprehension of norms and reasons that apply to her; it assumes she is capable of giving and entitled to give an account of herself …”.38 The core of this notion of dignity is formed by being recognized by others as a person capable of self-control. According to Waldron, this is a crucial idea for law, because legal orders rely on the self-application of their norms.39 Legal norms are not forced upon people; they are expected to comply with them of their own accord, and only if they fail to do so, force is used to make them comply or punish them for non-compliance. The procedural aspects of law take up the idea of giving an account of yourself further by creating the opportunity to present your own point of view and arguments in the proceedings. The procedural rule of law can therefore be seen as requiring respect for people as independent agents. And, I would add, this entails recognition of the role of ordinary people as contributors to the shape and content of the law itself.

V. The rule of law in a transnational context Waldron’s account of the rule of law and its procedural element, as discussed here, positions the rule of law in relation to the national legal order. However, as is generally acknowledged, the meaning of the rule of law does not stop at the borders of a national state. Most rule of law theorists, Waldron among them, pay separate attention to the international rule of law, i.e. “what the rule of law demands … in the international arena”.40 As Waldron explains it, thinking about the rule of law in an

Tamanaha (op.cit. fn 3, 109). Jeremy Waldron, “How Law Protects Dignity”, Sir David Williams Lecture, Cambridge 2011, available at: http: //ssrn.com/abstract=1973341. 38 Waldron (op.cit. fn. 37, 2 – 3). 39 Waldron 2008 (op.cit. fn. 37, 7 – 8), referring to Fuller. 36 37

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international context means shifting attention from the individual citizen to governments and lawyers operating on the international level. With all the emphasis on the moral reasons for the rule of law in terms of the dignity and agency of persons, this seems strange. In present-day discussions among legal scholars, individuals are also regarded as relevant actors in international law. Public international law is no longer the exclusive domain of states, but includes international organizations, non-state actors and individuals as relevant actors.41 Moreover, the dichotomy between a national and an international order is criticized repeatedly. With the influence of international law in the national legal order and the role of national bodies in upholding international law, the least we can say is that law and the rule of law are “internationalized”.42 We may even go a step further and claim that law in the present globalized world can no longer be neatly divided into the national, the regional and the international: these orders are intertwined and can be regarded together as transnational law. Of course, this is a pluralistic notion of law, without implying that there is a single global law or authority. Many legal problems nowadays concern the interaction and fragmentation of legal orders. One of the problems is the rule of law: how to limit arbitrary power in situations where it is no longer clear who has the ultimate authority or whose rules are relevant? It is slightly disappointing that Waldron in his discussion of the connection between international law and the rule of law simply proceeds on the basis of the old dichotomy of national and international law. He only pays attention to states as the actors of international law, seeing their behaviour in the international sphere as relevant for the rule of law relationship between state and individual, and he does not extend his criticism of states as beneficiaries of the rule of law to acknowledging that individuals might be directly involved on the international level.43 By accepting this framework, Waldron passes over the opportunity of extending his idea of the procedural rule of law beyond the borders of the nation state. I would argue that the procedural rule of law is especially powerful in a transnational context, and I think this can be linked to Waldron’s work by using his notion of ius gentium. In my view, the procedural aspects of the rule of law easily qualify as a form of ius gentium as Waldron understands it. What does it entail for rule of law thinking if we regard law as transnational? Most importantly, it means that we cannot conceptualize the rule of law as always 40 Jeremy Waldron, “The Rule of International Law”, Harvard Journal of Law and Public Policy (30) 2006, 15 – 30, at 15; compare Tamanaha (op.cit. fn. 3, 127 – 36) and Bingham (op. cit. fn. 7, 110 – 129). 41 Kate Parlett, The Individual in the International Legal System. Continuity and Change in International Law, Cambridge: Cambridge University Press 2011, 4. 42 André Nollkaemper, “The Internationalized Rule of Law”, Hague Journal on the Rule of Law (1) 2009, 74 – 78. 43 Waldron (op.cit. fn. 40) and also Jeremy Waldron, “Are Sovereigns Entitled to the Benefit of the International Rule of Law?”, European Journal of International Law (22) 2011, 315 – 343.

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related to state institutions. This goes two ways: the rule of law becomes relevant for the arbitrary exercise of power by other actors than the state and the rule of law may be guaranteed by other actors than state institutions. For both extensions, Europe offers good examples: the European Union exercises legal authority comparable to state authority and as a powerful actor should therefore be subjected to the rule of law; the European Court of Human Rights has an important role in guaranteeing aspects of the rule of law, both substantive rights, and procedural rights by way of article 6 European Convention on Human Rights: the right to a fair trial. Of course, these supranational institutions are the easy examples. In transnational settings, more complicated relationships between states, public international organizations, private organizations or companies, individuals and groups from different societies, and non-governmental organizations have formed. An example is the involvement of the World Bank in developing countries, in which multinationals also invest and where non-governmental organizations and societal groups criticize the behaviour of both.44 In such situations it seems arbitrary to restrict the relevance of the rule of law to the relationship between state and individual citizen, or to see the state as a representative of the individual´s interests. If the argument is accepted that the rule of law may be relevant for transnational contexts and linked to other entities than the state, the rule of law needs to be conceptualized at a rather abstract level, which makes philosophical discussions of the rule of law very relevant. One of the problems of transnational legal issues is that the specifics of the legal orders and actors involved differ hugely, so that precise rule of law requirements will not be applicable across the board. In relation to Waldron´s ideas, as discussed in the previous sections, the following route seems promising: comparing the relevance of formal, procedural and substantive rule of law ideas, in relation to the values the rule of law serves. To some extent, all three strands of the rule of law, formal, procedural and substantive, may be extended to contexts beyond the state. The formal element of predictable general rules, and Fuller´s requirements, are applicable to all rule-makers. The procedural element of the possibility to contest and argue against legal decisions is also not necessarily tied to state institutions, but can in principle be guaranteed by other dispute resolution mechanisms. The substantive element of individual rights is already prominent in global law in the form of human rights treaties and the widespread appeal to these in various contexts. When we look more closely, however, some of these elements are problematic in transnational contexts. The formal element of the rule of law makes use of a rather specific idea of general legal rules, as set by an official rule-maker such as a legislature for a clearly delineated population of citizens. This is extendable to supra-national institutions such as the European Union, but not easily applicable to transnational settings in which 44 Compare Andria Naudé Fourie, The World Bank Inspection Panel and Quasi-Judicial Oversight. In search of the Judicial Spirit in Public International Law, Utrecht: Eleven International Publishing 2009, 2 – 7.

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private actors engage in standard-setting or conduct is governed by a mixture of binding and non-binding norms. The formal element of the rule of law seems to require a fairly strict delineation between what is law and what is not law, which is often not achievable in transnational contexts.45 Moreover, applying the rule of law only to rulemaking bodies and the bodies executing the rules seems to miss the main point of the rule of law: restricting arbitrary power. The substantive element of the rule of law seems to fare better: there is a development in the direction of seeing human rights as relevant not only for the conduct of the state, but also for international and private actors.46 There is, however, the problem of the universality of individual rights. Large parts of the globe do not subscribe to the idea of the individual as the central actor or to the idea of rights as the way to shape values.47 I do not wish to take position in this debate now, but for the viability of the rule of law beyond Western states it seems important to leave open possibilities for contestation. If we see respect for dignity and agency as the main value behind the rule of law, it is important to allow people to develop their own ideas about the way to express their agency, as an individual or collectively. Such openness to contestation and different ideas about the substantive content of the law is present in the procedural strand of the rule of law. Because of its focus on the ways in which people may be given a voice in response to legal decisions, it leaves open for debate what the precise content of substantive norms might be. Similarly, the procedural rule of law is not necessarily tied to formal characteristics of rules: there may be many different procedural rules or principles which may serve to create room for people’s own point of view. In principle, therefore, the procedural rule of law seems suitable as an ideal for transnational law. The question then remains how to underpin the notion of the procedural rule of law as transnational in the context of Waldron’s work. In a very different context, writing about the use of foreign law by national courts, Waldron develops an understanding of ius gentium, which I think may be used to argue for a transnational rule of law as well. In the article, Waldron discusses two meanings of the term ius gentium, a limited conception referring to customary international law and a broad conception, referring to “a body of law purporting to represent what various domestic legal systems share in the way of common answers to common problems”.48 He shows that the broad conception brings

Compare Zumbansen (op.cit. fn 2, 309). A good example are the Ruggie principles on business and human rights, see John Ruggie, “Protect, Respect and Remedy. A Framework for Business and Human Rights”, Innovations (3) 2008, 189 – 212, doi:10.1162 / itgg.2008.3.2.189. 47 E.g. the debate on Asian values, see Amartya Sen, “Human Rights and Asian Values: What Lee Kuan Yew and Le Peng don’t understand about Asia”, The New Republic (217) 1997 – 7, 33. 48 Jeremy Waldron, “Foreign Law and the Modern Ius Gentium”, Harvard Law Review (119) 2005, 129 – 147, at 133. 45 46

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together natural law thinking with the Roman idea of ius gentium, as the law related to foreigners, to form an idea of natural justice. To my mind, this notion of ius gentium presents a different kind of argumentation for the procedural rule of law than the argument based on the relationship between ruler and ruled. The procedural rule of law is based on an idea of natural justice in its focus on ensuring the dignity and agency of persons, but it is also a widely shared response among the legal systems of the world. As Waldron notes, the idea of ius gentium is used to argue for transnational law in different legal contexts which do not restrict themselves to the national level, such as copyright and data protection law.49 Something very similar may be said for the rule of law: it is not restricted to a purely national context; it is seen generally as a relevant ideal for the common problem of how to restrict arbitrary power; and in its procedural form it is tied to an idea of natural justice. Thus, seeing the procedural rule of law as a form of modern ius gentium may help to support the argument that the rule of law is equally relevant to other contexts than the national state.

VI. Concluding remarks Looking closely at Waldron’s vision of the rule of law, as I have done in this article, reveals an underlying moral argument for the rule of law that I find very welcome. It is not enough to discuss the rule of law as a set of demands made on rulers or others in positions of authority; we need to discuss why these demands in particular are the ones to make. As I have tried to show, Waldron does a good job in explaining why the procedural aspects of the rule of law are particularly valuable: they are most directly concerned with respect for the dignity and agency of persons with their own point of view and arguments worth listening to. I have criticized some of the lines of argument Waldron pursues, which I hope results in more focussed position that can be summarized as follows. The procedural rule of law is an ideal that governs a particular conception of law. Law ultimately depends on moral reasons which are not restricted to, but give pride of place to, human agency and capacity for reasoned argument. Such a position, which I link not only to Waldron but also to Fuller, sees law as being developed by people in their interactions with each other and with legal officials. Procedure as part of the rule of law is central to making this vision of law work. Such ideas of law and the rule of law are not restricted to domestic legal contexts, but extend to the transnational, to legal relations that cross the borders of national and international law and can no longer be neatly categorized as one or the other. Legal philosophy should not ignore such issues, but develop arguments that link moral and conceptual issues to the shifting configurations of positive law.

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Waldron (op.cit. fn. 40, 135).

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Zusammenfassung Aus der aktuellen Literatur zur rule of law stechen die Werke des Rechtsphilosophen Jeremy Waldron hervor, der das prozessuale Element der rule of law besonders betont. Die Implikationen eines solchen prozessualen Blicks auf die rule of law sind indes nicht völlig klar. Dieser Aufsatz setzt sich mit Waldrons Hauptargumentationslinie und den Abweichungen seiner Theorie von der üblichen Typologie auseinander. Es wird die These vertreten, dass die Argumentation zwei Schwachstellen aufweist und dass diese größtenteils behoben werden können, indem die Überlegungen zur rule of law deutlicher mit Waldrons Begriff der Würde und Lon Fullers Interaktionismus verknüpft werden. Anschließend wird Waldrons Sicht auf die rule of law im Verhältnis zum Völkerrecht diskutiert und die These vertreten, dass sein Konzept die Wichtigkeit der wechselseitigen Beziehungen zwischen nationalem und internationalem Recht nicht vollständig erfasst. Erneut führt die Hinwendung zu anderen Werken Waldrons, die sich nicht unmittelbar mit der rule of law befassen, zu einem Argument, und zwar dem Gedanken des ius gentium, der eine andere Lesart der rule of law als transnationales Prinzip unterstützt. Indem also Waldrons Argumente nachvollzogen werden, soll zugleich gezeigt werden, dass ein prozessuales Konzept der rule of law wichtig ist, um sie an die sich verändernden rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen.

Probleme der Implementierung – Problems of Implementation

Das politische Asyl vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts Orientierungen aus der Geschichte Markus Babo

Einleitung Die Inanspruchnahme von Asyl wird heute in der Öffentlichkeit gerne unter dem Vorzeichen der Bedrohung diskutiert: Bei gestiegenen Bewerberzahlen wird schnell die Metapher des übervollen Bootes bemüht und mit dem Generalverdacht des massenhaften Missbrauchs verbunden. Der daraus resultierende Abbau rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien provozierte angesichts problematischer Einzelfallentscheidungen eine Renaissance des sog. „Kirchenasyls“, das freilich kontrovers diskutiert wird. Angesichts dessen scheint ein differenzierter Blick in die Geschichte notwendig, um die Bedeutung von säkularem und sakralem Asyl für eine menschengerechte Entwicklung von Recht und Gesellschaft aufzuschlüsseln und Perspektiven zur Lösung der grundlegenden Probleme zu erkennen.

I. Asyl als Beitrag zur Humanisierung von Recht und Gesellschaft Das Asylrecht beginnt wie viele andere Bereiche der Rechtsordnung im sakralen Raum,1 konnte dort aber vermutlich auch deshalb bis in die Neuzeit hinein überdauern, weil es dem (sozialen) Ausgleich innerhalb von Gesellschaften sowie dem Schutz Rechtloser, Fremder und Marginalisierter diente und mitunter gezielt zur Ausdifferenzierung und Humanisierung des Rechts eingesetzt wurde.2 Nach dem griechischen Etymon sind Orte und Personen sylonlos, an bzw. gegenüber welchen Gewalthandlungen jedweder Art untersagt waren.3 Durch Verträge zwischen den griechischen Poleis über die gegenseitige Begrenzung oder Abschaffung des bestehenden Sylonrechts sollten insbesondere Angehörige eines fremden Stadtstaats vor 1 Dieses Kapitel basiert auf einer früheren Studie des Autors; vgl. Markus Babo, Kirchenasyl – Kirchenhikesie. Zur Relevanz eines historischen Modells im Hinblick auf das Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland, Münster / Hamburg / London: Lit, 2003, S. 21 ff. 2 Vgl. etwa Otto Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, S. 8. 3 Vgl. Eilhard Schlesinger, Die griechische Asylie, Gießen, 1933, S. 6 – 10.

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eigenmächtiger Zwangsvollstreckung, Verschleppung, Verfolgung, Plünderung und Misshandlung infolge von Selbsthilfehandlungen geschützt und überdies auch die Handelsbeziehungen sichergestellt werden.4 Neben diesem eher säkularen und rechtsförmig gewährleisteten Schutz existierte im antiken Griechenland auch die Hiketeia5, also das Schutzflehen an einem Heiligtum, mit vergleichbarer gesellschaftlicher Funktion zugunsten marginalisierter Gruppen: Durch Flucht in den befriedeten Bereich eines Heiligtums konnte beispielsweise fehlende Sicherheit für Fremde kompensiert werden, Sklaven konnten zwar keine vollständige Freilassung, wohl aber eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erreichen, ev. sogar ihren Herren wechseln, Frauen konnten einer Zwangsheirat entgehen, zerstrittene Familien wiederversöhnt, Ehen gelöst oder Waise einem Vormund zugeführt werden. Hatte sich der Schutzsuchende als solcher durch bestimmte Insignien ausgewiesen, galt es, sich mit den Vertretern des Heiligtums gut zu stellen, damit diese eine für alle Seiten akzeptable Lösung zum Verlassen des sakrosankten Bereichs aushandeln konnten. Da die Sicherheit in den stärker im Blickfeld der Öffentlichkeit stehenden Heiligtümern größer war, wurden diese wohl vermehrt nachgefragt; um auch eine größere Anzahl an Schutzflehenden über einen längeren Zeitraum hinweg unterzubringen, wurden um bestimmte Kultanlagen herum Schutzzonen markiert. Auf diese Weise konnte dort auch im Kriegsfall die Bevölkerung und die Armee unterlegener Stadtstaaten Zuflucht finden, bis eine friedliche Lösung ausgehandelt war. Brisant war auch damals schon der Schutz von Steuerflüchtlingen und Verbrechern, weshalb man Hikesiestätten auch gern an exponierten Orten fernab der Zentren des politischen Geschehens baute und mitunter nach Mitteln und Wegen suchte, die Schutzflehenden etwa durch Versprechungen, Aushungern, Einmauern, Ausbrennen und ähnliche Mittel aus den sakralen Stätten herauszulocken, ohne sich der Hierosylie schuldig zu machen.6 Ab der Zeit des Hellenismus verschmolzen die ursprünglich getrennten Institutionen der Hikesie und der Asylie miteinander, d. h. die Unantastbarkeit sakraler Stät4 Vgl. Christian Traulsen, Das sakrale Asyl in der Alten Welt. Zur Schutzfunktion des Heiligen von König Salomo bis zum Codex Theodosianus, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 163 – 171; Martin Dreher, Asyl in der Antike von seinen griechischen Ursprüngen bis zur christlichen Spätantike, in: Tyche 11 (1996), S. 79 – 96, hier: 80 – 83; Schlesinger (Fn. 3), S. 10 – 28. 5 Zur Terminologie vgl. Schlesinger (Fn. 3), S. 28 – 38; Gerhard Franke, Das Kirchenasyl im Kontext sakraler Zufluchtnahmen der Antike, Frankfurt: Peter Lang, 2003, S. 43 – 73. Hinsichtlich der genauen Abgrenzung zwischen Hikesie und Asylie wenig präzise hingegen die ansonsten sehr gründliche Studie von Traulsen (Fn. 4), S. 131 ff. 6 Vgl. dazu näher Ulrich Sinn, Das Heraion von Perachora. Eine sakrale Schutzzone in der korinthischen Peraia, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 105 (1990), S. 53 – 116; Ulrich Sinn, Greek Sanctuaries as Places of Refuge, in: Nanno Marinatos / Robin Hägg (Hrsg.), Greek Sanctuaries. New Approaches, London / New York: Routledge, 1993, S. 88 – 109; Dreher (Fn. 4), S. 84 – 88.

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ten wurde zusätzlich staatsrechtlich abgesichert7. Im Ägypten der Ptolemäerzeit scheint der König Asylrechtsverleihungen an Heiligtümer auch gezielt als Mittel zur Stärkung seiner Machtposition gegen das erstarkte Beamtentum eingesetzt zu haben8. Auch Vertreter Roms scheinen vorhandene Tempelasyle in jenen Städten bestätigt zu haben, von denen sie im Zuge der Eroberung Griechenlands unterstützt wurden, schließlich waren vermögende Flüchtlinge auch eine lukrative Einnahmequelle für die Städte und Provinzen9. Aus einem traditionellen Institut, das in beschränktem Umfang für Ausgleich, Sicherheit und menschengerechtere Verhältnisse zu sorgen vermochte, wurde ein ordnungspolitisches Instrument, das durch gezielte Entlastung bestimmter Gruppen (wie Steuerflüchtlinge oder Sklaven) das bestehende Machtgefüge zu erhalten und zu stabilisieren suchte. Mit dem Siegeszug des Christentums ging die offensichtlich auch bei den Römern nicht unbekannte Praxis der Zuflucht zu Heiligtümern und Kaiserstatuen10 auf die Kirchen über, die Schutzsuchenden in Kriegs- und Krisenzeiten (als die bestehende Rechtsordnung mehr oder minder außer Kraft gesetzt war) einigermaßen Sicherheit bieten konnten, in Friedenszeiten aber als Korrektur von Ungerechtigkeiten in Recht und Rechtsanwendung dienten. Analog zu den Priestern der paganen Hikesiestätten hatten die seit Konstantin zunehmend mit öffentlichen Aufgaben betrauten Bischöfe anschließend bei den staatlichen Behörden zu Gunsten der Schutzsuchenden einzutreten, um zwischen allen Seiten eine einvernehmliche Lösung auszuhandeln. Der Erfolg dieser Interzessionen war natürlich auch abhängig von Bedeutung und politischem Einfluss des jeweiligen Oberhirten. Zu der durch Korruption geschwächten Staatsverwaltung scheinen die Bischöfe mit ihrem advokatorischen Eintreten zugunsten rechtloser und sozial benachteiligter Kirchenflüchtlinge ein wichtiges Pendant gebildet und für notwendigen sozialen Ausgleich innerhalb der Gesellschaft gesorgt zu haben. Dies lag auch im Interesse des Staates, der umgekehrt durch gesetzliche Regelungen seit dem Ende des 4. Jh.11 zu verhindern wusste, dass sich vermögende Staatsschuldner durch Flucht in Kirchen ihren 7 Vgl. Schlesinger (Fn. 3), S. 64 – 68; 70; Franke (Fn. 5), S. 52 – 73; Dreher (Fn. 4), S. 89 – 91; Traulsen (Fn. 4), S. 238 – 248; 265. 8 Vgl. Werner Huß, Der makedonische König und die ägyptischen Priester. Studien zur Geschichte des ptolemaiischen Ägypten, Stuttgart: Steiner, 1994, S. 40. 9 Vgl. Hans Langenfeld, Christianisierungspolitik und Sklavengesetzgebung der römischen Kaiser von Konstantin bis Theodosius II, Bonn: Habelt, 1977, S. 109. 10 Vgl. näher Richard Gamauf, Ad statuam licet confugere: Untersuchungen zum Asylrecht im römischen Prinzipat, Frankfurt u. a.: Peter Lang, 1999; Gérard Freyburger, Le droit d’asile à Rome, in: Les études classiques 60 (1992), S. 139 – 151; Gérard Freyburger, Le dieu Veiovis et l’asile accordé à Rome aux suppliants, in: Martin Dreher (Hrsg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Köln: Böhlau 2003, S. 161 – 175; Jochen Derlien, Asyl. Die religiöse und rechtliche Begründung der Flucht zu sakralen Orten in der griechisch-römischen Antike, Marburg: Tectum, 2003, S. 145 ff. 11 Vgl. Cod. Theod. 9,45,1 – 3; 9,40,16 (Theodosiani libri XVI cum constitutionibus Sirmondianis et leges novellae ad Theodosianum pertinentes, ed. Theodor Mommsen, Bd. I, 2, Berlin: Weidmann, 1954 (= Nachdr. d. Ausg. 1905), S. 519).

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Steuerpflichten entzogen, hatten doch die Kirchenflüchtlinge – im Gegensatz zu den Hiketiden der heidnischen Tempel – in ihren Schutzstätten bis zum sechsten Jahrhundert keine Abgaben zu entrichten. Diese Spezialgesetze für Steuerflüchtlinge wurden nach der vollständigen rechtlichen Anerkennung des Kirchenasyls durch eine Konstitution des Kaisers Theodosius II. im Jahr 43112 weiter ausdifferenziert.13 Sondernormen für Sklaven sahen vor, dass diese zwar nicht durch List oder Zwang aus den Asylen geholt werden durften, jedoch nach Zusage der Straffreiheit zur Rückkehr zu bewegen seien.14 In den Germanenreichen des Mittelalters wurden die spätantiken Regelungen des Kirchenasyls weiterentwickelt und in je unterschiedlicher Weise zur Entfaltung des öffentlichen Rechts genutzt.15 Da im Westgotenreich Privatrache und Fehdewesen schon weitgehend durch das öffentliche Strafrecht verdrängt waren,16 diente das hauptsächlich im staatlichen Recht geregelte Kirchenasyl vornehmlich als Korrektiv rechtlicher Härten, also beispielsweise einer humanen Behandlung entlaufener Sklaven, der Entschuldung von Privatpersonen oder der Verhinderung der Todesstrafe.17 Demgegenüber dominieren im vom Fehdewesen beherrschten Merowingerreich kirchenrechtliche Vorschriften, in denen der offensichtlich häufige Bruch des Kirchenasyls mit Exkommunikation bewehrt und der Schutz der Kirchenflüchtlinge vor peinlicher oder kapitaler Strafe eingeschärft wurde.18 Ziel war dabei keineswegs vollkommene Straffreiheit, sondern eine einvernehmliche Schadensersatzregelung oder mildere weltliche Strafe, die nach der Lex Baiuvariorum sogar cum consilio sacerdotis festgesetzt werden sollte.19 Im Karolingerreich hingegen wurde das landes12 Vgl. Cod. Theod. 9,45,4 (Exzerpt); vollständiger Wortlaut in: Acta Conciliorum Oecumenicorum, ed. Eduard Schwartz, Bd. 1,1,4, Berlin: Walter de Gruyter, 1928, S. 61 – 65. Zur Entstehung des Kirchenasyls vgl. grundlegend Langenfeld (Fn. 9), passim; ferner Peter Landau, Asylrecht III. Alte Kirche und Mittelalter, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, Berlin / New York: de Gruyter, 1979, S. 319 – 327, hier: S. 320 f. 13 Vgl. dazu grundlegend: Harald Siems, Zur Entwicklung des Kirchenasyls zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Okko Behrends / Malte Diesselhorst (Hrsg.), Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach: Gremer, 1991, S. 139 – 186, hier: S. 143 ff. 14 Vgl. etwa c. 30 des Zweiten Konzils von Arles (Concilia Galliae a. 314 – a. 506, ed. Charles Munier (Corpus Christianorum Series Latina 148), Turnhout: Brepols 1963, S. 120). Daneben Gelasius fr. 41 (Epistolae Romanorum pontificum genuinae et quae ad eos scriptae sunt a S. Hilaro usque ad Pelagium II, ed. Andreas Thiel, Hildesheim / New York: Olms 1974 (= Nachdr. d. Ausg. Braunsberg 1876 – 1877), S. 505 f.). 15 Vgl. dazu grundlegend Siems (Fn. 13), S. 160 ff.; daneben immer noch Martin Siebold, Das Asylrecht der römischen Kirche mit besonderer Berücksichtigung seiner Entwicklung auf germanischem Boden, Münster: Helios, 1930, S. 53 ff. 16 Vgl. Siebold (Fn. 15), S. 70 – 71. 17 Vgl. Siems (Fn. 13), S. 161 – 164; Siebold (Fn. 15), S. 70 – 78; Landau (Fn. 12), S. 323; Daniela Fruscione, Das Asyl bei den germanischen Stämmen im frühen Mittelalter, Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2003, S. 42 – 49. 18 Vgl. Siems (Fn. 13), S. 167 – 176; Fruscione (Fn. 17), S. 55 – 76; 190 f.

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herrliche Kirchenregiment weiter ausgebaut, der Einfluss der Geistlichkeit im Asylwesen zurückgedrängt und das weitgehend im weltlichen Recht geregelte Kirchenasyl dazu eingesetzt, potentielle Delinquenten vor Privatrache zu schützen und nach Beruhigung der Lage dem staatlichen Strafrecht zu unterstellen. Zu diesem Zweck wurde eine Auslieferungspflicht bei bestimmten Delikten festgesetzt.20 Trotz dieser restriktiven Maßnahmen gegen die kirchlichen Asyle bleibt aber die Interzession Geistlicher zum Zweck der Strafmilderung.21 Mit dem Erlahmen der staatlichen Zentralgewalt und dem erneuten Aufflackern von Privatkriegen zwischen adeligen Feudalherren seit dem Ende des 10. Jh. wurde das Asylrecht der Kirchen ebenso wie ein persönliches Asyl von Klerikern und Pilgern im Zuge der Gottes- und Landfriedensbewegung ein wichtiges Mittel der internen Friedenssicherung.22 Die Verbindung des Asyls mit der Verleihung von Immunitätsprivilegien ab dem Hochmittelalter führte schließlich dazu, dass das Asylrecht „nicht mehr als originäres Recht aller Kirchen, sondern als Privileg einzelner Kirchen“ 23 wahrgenommen wurde. Da mit der Immunität zumindest die niedere Gerichtsbarkeit verbunden war, ging es fortan nicht mehr in erster Linie um Schutz und menschengerechte Behandlung des Flüchtlings, sondern vielmehr um die Achtung der Immunität, als dessen „Inventar“ der Flüchtling betrachtet wurde, und um die Machtfrage, ob denn nun die Rechtsprechungskompetenz gegenüber einem potentiellen Delinquenten dem Staat oder der Kirche zustand.24 Dies wiederum führte zur Festlegung von Asylausschlussdelikten (casus excepti), für deren Feststellung sowohl die Kirche als auch der Staat konkurrierende Kompetenzen beanspruchten.25 Zu diesen asylunwürdigen Verbrechen zählte neben Mord, Raub und anderen schweren Delikten zu Beginn der Neuzeit auch das crimen laesae maiestatis, d. h. politische Straftaten. Mit dem Erstarken des Rechtswesens in den Städten ab dem 14. Jh. und dem allmählichen Erliegen des Fehdewesens nach dem Reichstag zu Worms 1495 wurde das Kirchenasyl langsam zurückgedrängt, dem staatlichen Recht untergeordnet und in seiner ausgleichenden und humanisierenden Funktion im Inneren eines Gemeinwesens von rechtsstaatlichen Instrumenten ersetzt, zu denen heute die Grund- und Men19 Vgl. Lex Baiuvariorum 1,7 (Monumenta Germaniae historica. Leges nationum Germanicarum, Bd. 5.2, ed. Ernst von Schwind, Hannover: Hahn, 1926 (Nachdr. 1997), S. 276 f.). 20 Vgl. näher Siems (Fn. 13), S. 176 – 184; Siebold (Fn. 15), S. 113; Fruscione (Fn. 17), S. 94 – 110; 127 – 129; 193 – 196. 21 Vgl. Fruscione (Fn. 17), S. 108 f. 22 Vgl. Joachim Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, Bonn: Röhrscheid, 1952, S. 205 f. 23 Landau (Fn. 12), S. 324. 24 Vgl. näher Babo (Fn. 1), S. 101 – 109; Landau (Fn. 12), S. 324. In der Frühen Neuzeit scheint sogar von kirchlichen Gerichten die Todesstrafe verhängt worden zu sein; vgl. Karl Härter, Vom Kirchenasyl zum politischen Asyl: Asylrecht und Asylpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Martin Dreher (Hrsg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Köln: Böhlau 2003, S. 301 – 336, hier: 329 f. 25 Vgl. Landau (Fn. 12), S. 326; Pierre Timbal Duclaux de Martin, Le droit d’asile, Paris: Recueil Sirey, 1939, S. 287 ff.

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schenrechte zählen. Diese können Freiheit, Gleichheit, politische Partizipation und soziale Sicherheit der Menschen effektiver gewährleisten als Asylstätten, deren Erreichen auch immer von vielen Zufällen abhängt. Folglich wurde das als Privileg erachtete kirchliche Asylrecht in einer Reihe von absolutistischen Staaten abgeschafft;26 die Katholische Kirche gab ihren Anspruch offiziell erst mit Inkrafttreten des CIC / 1983 auf.27 Was allenfalls blieb, ist die Flucht von Menschen in höchster Not unter die Obhut der Kirche in der Hoffnung, dort Schutz und Beistand zu finden, und die Möglichkeit der Kirche zur Interzession. Analog zum antiken Modell könnte man dies als Hikesie bezeichnen.

II. Asyl und Auswanderungsfreiheit politisch Andersdenkender Im 17. bis 19. Jh. bildeten sich mit der Auswanderungsfreiheit, der staatlichen Souveränität und der Privilegierung politischer Flüchtlinge die Grundsätze der späteren völkerrechtlichen Asylrechtsgewährung heraus. Ein (im Augsburger Reichsabschied von 1555 noch begrenztes) Recht auf Wegzug sollte in einem konfessionell gespaltenen und durch Konfessionskriege erschütterten Land für Ausgleich und Frieden sorgen. Glaubensfreiheit wurde damals vornehmlich im Sinne einer negativen Freiheit von Zwang zur Annahme einer bestimmten Konfession gesehen. In diesem Zusammenhang erscheint die Auswanderungsfreiheit als eine Art passives Widerstandsrecht28, das erst mit der vollen Anerkennung der Religionsfreiheit im Sinne einer aktiven Religionsausübungsfreiheit obsolet wurde. Das Souveränitätsprinzip entwickelte sich unter dem Einfluss von Jean Bodins Staatskonzeption. Analog zu den griechischen Poleis wurde die Entscheidung über die Gewährung oder Verweigerung von Asyl als exklusives Hoheitsrecht der souveränen Fürsten bzw. Staaten gesehen. Die absolutistischen Monarchen freilich interpretierten jede noch so geringfügige Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt als Angriff gegen den Souverän und verfolgten das crimen laesae maiestatis mit aller

Vgl. näher Timbal (Fn. 25), S. 437 ff. Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht. Zur Motivation und Rezeption des kirchlichen Asylrechts, in: Trierer Theologische Zeitschrift 100 (1991), S. 126 – 142, hier: S. 138 – 141; Uwe Kai Jacobs, Kirchliches Asylrecht, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 35 (1990), S. 25 – 43, hier: S. 32 – 34; Jochen Grefen, Kirchenasyl im Rechtsstaat: christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik. Kirchenrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung zum sogenannten Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot, 2001, S. 128 – 136. 28 Vgl. Ulrich Scheuner, Die Auswanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im Verfassungsrecht Deutschlands, in: Festschrift Richard Thoma zum 75. Geburtstag, Tübingen: Mohr, 1950, S. 199 – 224, hier: S. 200; 208 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt: Suhrkamp, 1976, S. 155 f.; Reinhard Marx, Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts. Rechtstheoretische und dogmatische Untersuchung zum Politikbegriff im Asylrecht, Baden-Baden: Nomos, 1984, S. 165. 26 27

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Konsequenz. In der Regel waren politische Straftäter härteren Sanktionen ausgesetzt als gemeine Delinquenten, obwohl für deren Bestrafung das kirchliche Asylrecht zurückgedrängt wurde. Kirchliche und weltliche Asylstätten boten nicht einmal mehr sozialen Randgruppen eine sichere Zuflucht, obwohl diese in der Frühen Neuzeit verstärkt Verfolgungen und Kriminalisierungen ausgesetzt waren.29 Flohen Majestätsverbrecher ins Ausland, wurden sie mitunter heimlich oder sogar durch offene Repressions- und Kriegsdrohungen zurückgeholt.30 Demgegenüber wurde in den Religionskriegen von der Auswanderungsfreiheit reger Gebrauch gemacht, die im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit erstritten worden war. Im Gegensatz zu den Majestätsverbrechern hatte an der Rückführung der Religionsflüchtlinge aber niemand Interesse; in ihrer neuen Heimat wurden sie in der Regel offen empfangen.31 Erst unter dem Einfluss der bürgerlichen Revolution von 1830 / 31 wurde dann allmählich auch in Deutschland zwischen dem aus lauteren Motiven handelnden „politischen Verbrecher“ und gewöhnlichen Kriminellen differenziert und politische Straftäter zunehmend von der Auslieferungspflicht gegenüber anderen Staaten ausgenommen.32 Auf diese Weise konnten politische Flüchtlinge die Rolle der Religionsflüchtlinge einnehmen und von dem Auswanderungsrecht Gebrauch machen, das Mitte des 19. Jh. Bestandteil vieler Verfassungen des Deutschen Bundes war.33 Gewährte ihnen ein Staat Asyl, so war dies völkerrechtlich akzeptiert. Dadurch schützten sich die Staaten auch gegenseitig vor größeren diplomatischen Verwicklungen bis hin zu kriegerischen Handlungen, war doch mit der Entscheidung eines Staates über die Nichtauslieferung eines politischen Flüchtlings auch eine Beurteilung des diesem vorgeworfenen Verhaltens und damit letztlich der Innenpolitik des anderen Staates verbunden, was als unerlaubte Einmischung in innere Angelegenheiten gedeutet werden konnte.34 Asylgewährung bleibt somit ein exklusives Recht des Staates. In der Praxis freilich zeigte sich, dass der unklare Begriff des politischen Delikts höchst unterschiedlich interpretiert wurde, so dass aus politischen Aktivisten auch leicht gewöhnliche Straftäter werden konnten. Rechtliche Verpflichtungen zur Aufnahme oder Nichtauslieferung der Flüchtenden gingen die Staaten mit Ausnahme Großbritanniens und der USA ohnehin nicht ein. Die Aufnahme war also ein reiner Vgl. Härter (Fn. 24), S. 321 f. Vgl. Kimminich (Fn. 2), S. 18 – 19. 31 Vgl. ebd., S. 19 – 20. 32 Vgl. Herbert Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen politischen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848 / 49 in Europa und den USA, Berlin: Duncker & Humblot, 1992; Christian Baltzer, Geschichtliche Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im Reichsstrafgesetzbuch von 1871, Bonn: Röhrscheid, 1966, S. 37 – 40; 78 – 183. 33 Vgl. Reiter (Fn. 32), S. 62. 34 Vgl. Kimminich (Fn. 2), S. 22. 29 30

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Gnadenakt, der in der Regel nur gegenüber liberalen Gesinnungsgenossen – anfangs durchaus großzügig, nach der Revolution von 1848 / 49 aber sehr restriktiv – gewährt wurde. Auch der Status der Aufgenommenen in den kontinentaleuropäischen Gastländern blieb prekär: Sie waren mehr oder weniger rechtlos und einem Klima des Misstrauens ausgesetzt; lediglich die Vereinigten Staaten unterschieden nicht zwischen politischen Flüchtlingen und regulären Einwanderern und eröffneten beiden die Möglichkeit vollständiger gesellschaftlicher Integration.35 Letztlich wird damit das bis heute geltende völkerrechtliche Prinzip grundgelegt, dass die Gewährung oder Verweigerung von Zutritt zum Territorium ein exklusives Recht des Staates ist, wohingegen politischen Flüchtlingen über das ius emigrationis hinaus kein völkerrechtlich gesicherter Rechtsanspruch auf Asylgewährung in einem anderen Land zusteht. Auch wenn sich das Asylrecht damit von seinen historischen Wurzeln entfernt hat, kann es doch auch auf internationaler Ebene einen subsidiären Ausgleich schaffen, damit auch politisch Andersdenkende in einer immer nur fast gerechten Gesellschaft ihrer Überzeugung treu bleiben und nach ihrem Gewissen denken und handeln können. Entspricht dem Recht auf Auswanderung aber kein auch effektiv einlösbares Recht auf Aufnahme in einem anderen Land, bleibt der Schutz des Einzelnen wie einst bei den sakralen Asylstätten des Mittelalters letztlich ein reines Zufallsergebnis, das dem Subjektstatus der Person in keiner Weise gerecht wird. Dieser Vergleich mag das immer noch bestehende völkerrechtliche Defizit offenkundig machen.

III. Die Ausdifferenzierung von Begriff und Rechten politisch Verfolgter in der Spannung zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlichem Anspruch Begaben sich Menschen im 19. Jh. aufgrund dessen was sie politisch dachten und taten auf die Flucht, so verfolgten die Nationalstaaten zu Beginn des 20. Jh. Menschen aufgrund dessen, was sie in ihren Augen waren.36 Diese neue Qualität der Verfolgung verbunden mit der hohen Zahl an Flüchtlingen führte zu einer Erweiterung des Begriffs der politischen Verfolgung und zu Regelungen des rechtlichen Schutzes von Flüchtlingen. Ist das Individuum nach internationalem Recht nämlich in der Regel durch seinen Heimatstaat geschützt, so trifft dies auf politisch Verfolgte gerade nicht zu. Die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zielen deshalb darauf ab, diesen Personen, die ihre Heimat aufgrund kriegerischer Ereignisse verloren hatten, „eine juristische Ersatzheimat zu verschaffen“37. Dem diente bereits das 1921 auf Initiative des

Vgl. Reiter (Fn. 32), S. 37 ff. Vgl. ebd. S. 67; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Beck 2002, S. 209. 37 Vgl. Kimminich (Fn. 2), S. 64. 35 36

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Internationalen Roten Kreuzes gegründete Hochkommissariat für Flüchtlinge, welches im Rahmen von Arrangements u. a. die Ausstellung des sog. Nansen-Passes erwirkte und in Kooperation mit den Aufnahmestaaten zunächst russischen und armenischen, später allen Flüchtlingen einen eigenen, vom Herkunftsstaat unabhängigen Status verschaffte, durch den die Einreise bzw. Wiedereinreise in einen Zufluchtsstaat ihrer Wahl sichergestellt werden sollte.38 Angesichts der steigenden Zahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland werden ab 1935 in der Arbeit des Intergovernmental Committee on Refugees die Fluchtgründe um die Furcht vor Verfolgung aus rassischen, religiösen, politischen und ethnischen Gründen erweitert und der Flüchtlingsschutz zunehmend individualisiert, d. h. insbesondere in den USA wird jeder Einzelfall gesondert geprüft.39 Dieser individualrechtliche Flüchtlingsbegriff floss dann vor dem Hintergrund der Deportationen und Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Staaten Mittel- und Osteuropas neben dem statutorischen Flüchtlingsbegriff aus früheren Arrangements in die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ein, die durch das Zusatzprotokoll von 1967 zeitlich und räumlich entgrenzt wurde. Darin anerkannten die Konventionsstaaten Pflichten des Zufluchtslandes gegenüber dem aufgenommenen Flüchtling, zu denen zuvorderst das Refoulement-Verbot zählt, das inzwischen als Völkergewohnheitsrecht gilt.40 Gegenüber früheren Entwicklungen werden jetzt erstmals menschenrechtliche Grundlagen erkennbar, die in der GFK sowohl im expliziten Menschenrechtsbezug der Präambel41 als auch in der Flüchtlingsdefinition zum Ausdruck kommen. Letztendlich geht es dabei um den subsidiären Schutz von Menschen vor Diskriminierung aufgrund ihrer politischen Überzeugung sowie ihrer ethnischen, religiösen, nationalen und sozialen Zugehörigkeit, mithin vor schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Da der Herkunftsstaat in diesem Punkt versagt, wird die internationale Gemeinschaft subsidiär in die Verantwortung genommen, Flüchtlingen diese grundlegenden Rechte zu gewährleisten.42 Dies ist nach der GFK freilich nur sehr eingeschränkt umgesetzt, weil der Flüchtlingsstatus erst greift, wenn der Betroffene bereits erfolgreich aus seinem Heimatland geflohen ist; damit hat er aber noch keinen Anspruch auf Aufnahme in einem anderen Land. Ein über den völkerrechtlichen Mindeststand hinausgehendes Recht auf Asylgewährung hingegen haben nur wenige Staaten anerkannt. Zu diesen gehört die Bun38 Vgl. Joachim Wolf, Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 – Entstehungsgeschichtliche Bestimmungsgründe und konzeptionelle Substanz im Hinblick auf heutige Migrationsprobleme, in: Die Friedens-Warte 77 (2002), S. 97 – 141, hier: S. 107 – 112. 39 Vgl. ebd. 113 – 125. 40 Vgl. Guy S. Goodwin-Gill / Jane McAdam, The refugee in international law, 3. Aufl. Oxford: Oxford Univ. Press, 2007, S. 345 – 354; gegenteiliger Ansicht James C. Hathaway, The rights of refugees under international law, Cambridge u. a.: Cambridge Univ. Press, 2005, S. 363 ff. 41 Vgl. Hathaway (Fn. 40), S. 53 – 54. 42 Vgl. Volker Türk, UNHCR’s supervisory responsibility, Genf: UNHCR, 2002, S. 2.

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desrepublik Deutschland, die mit Art. 16 Abs. 1 S. 2 a. F. GG ihrer historischen Verantwortung gerecht wurde und politisch Verfolgten einen Rechtsanspruch auf Asyl garantierte. Dieses ursprünglich bewusst generös konzipierte43 Grundrecht wurde hinsichtlich des genaueren Gewährleistungsumfangs auf jurisdiktionellem Weg entfaltet. Demnach liegt politische Verfolgung einer Person immer dann vor, wenn sie einem Staat zuzurechnen ist, was bei einer allgemeinen Notlage, wie einer Hungersnot oder einem Bürgerkrieg noch nicht der Fall ist; sie ist dann als politisch zu werten, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.44 Hinsichtlich dieser persönlichkeitsprägenden Merkmale liefert der Flüchtlingsbegriff der GFK mit der ethnischen und nationalen Zugehörigkeit gewisse Anhaltspunkte. Doch selbst wenn kein Flüchtlingsstatus zuerkannt wird, kann eine Person wegen schwerwiegender Gefahren für Freiheit, Leib und Leben als subsidiär schutzbedürftig gelten, so dass sie nicht abgeschoben wird. Diese höchst komplexe Ausdifferenzierung des Asylrechts ging einher mit einer leistungs-, verfahrens- und schließlich verfassungsrechtlichen Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, in der sich die alte Vorstellung vom Asyl als staatlichem Gnadenrecht wieder stärker durchsetzte. Dazu gehören die Festlegung sicherer Dritt- und Herkunftsländer (Art. 16a Abs. 2 u. 3 GG), Beschleunigungen bei den Anhörungs- und Entscheidungsverfahren, Einschränkungen von Rechtswegen, Verkürzung von Fristen zur Einlegung von Rechtsmitteln, der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung bei Rechtsschutzverfahren in bestimmten Fällen (u. a. bei offensichtlich unbegründeten oder als unbegründet geltenden Asylanträgen)45, Erleichterungen von Abschiebungen, bei deren Durchführung sogar Familien getrennt werden46 und unverhältnismäßige Inhaftierungen. Durch Kürzungen im Bereich des

43 Der Abgeordnete Schmid führte in der ersten Lesung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 04. 12. 1948 folgendes aus: „Die Asylrechtsgewährung ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muß man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben. Das ist die andere Seite davon, und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes“ (Text in: Hans Kreuzberg, Volker Wahrendorf (Hrsg.), Grundrecht auf Asyl: Materialien zur Entstehungsgeschichte, Köln u. a.: Heymann, 2. Aufl. 1992, S. 44). 44 Vgl. BVerfGE 80 (1990) 315 – 353. 45 Viktor Pfaff, Wider die „Selbstherrlichkeit“ der vollziehenden Gewalt. Ein Vorschlag zur Sicherung der Rechtsweggarantie im Eilrechtsschutzverfahren, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 29 (2009), S. 53 – 59 berichtet sogar davon, dass Ausländerbehörden mit Abschiebungen nicht bis zum Abschluss von Eilrechtsschutzverfahren abwarten. 46 Vgl. zu den Problemen der Asylrechtsreform des Jahres 1993 etwa Christoph Gusy, Neuregelung des Asylrechts: Grundrecht oder Grundrechtsverhinderungsrecht, in: Jura 15 (1993), S. 505 – 513; Christian Tomuschat, Asylrecht in der Schieflage. Anmerkungen zu den drei Asylrechtsurteilen des BVerfG, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 3 (1996), S. 381 – 386.

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AsylbLG wurde sogar eine menschenunwürdige und damit verfassungswidrige47 Ungleichbehandlung von Asylbewerbern gegenüber Bedürftigen mit verfestigtem Aufenthaltsstatus in Kauf genommen. Hinter diesem Abbau rechts- und sozialstaatlicher Garantien im Asylverfahren verbirgt sich eine Politik der Verdächtigungen gegenüber jedem ankommenden Flüchtling, die sicherlich auch die Entscheider im Bundesamt beeinflussen48 kann. Dabei kommt den Anhörungen eine sensible Schlüsselrolle im Anerkennungsverfahren zu, muss der Antragsteller doch hinreichend substantiiert, widerspruchsfrei und glaubhaft seine individuellen Verfolgungsgründe darlegen. Dies setzt voraus, dass er umfassend in einer Sprache, die er sicher versteht, über Ziele der Anhörung und seine Rechte im Verfahren aufgeklärt wurde und dass keine gesundheitlichen Einschränkungen vorliegen. Behält er beispielsweise Informationen zurück, um seine Verwandten im Herkunftsland zu schützen, kann er aufgrund eines Traumas nicht schlüssig vortragen oder passieren Fehler bei der Übersetzung, kann der Asylantrag schnell als offensichtlich unbegründet gelten (§ 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG)49. Erfahrungen aus der Praxis lassen ernste Zweifel aufkommen ob der Flüchtling wirklich noch Subjekt dieses Verfahrens ist und einen vorhandenen Anspruch auf Asylgewährung auch in jedem Einzelfall effektiv geltend machen kann; vielen war dies erst durch unterstützendes Handeln der Kirchen möglich50. Da im Falle einer Fehlentscheidung Leib und Leben des Betroffenen bedroht sein können, müssten diese durch umfängliche rechtsstaatliche Verfahrensgarantien und durch eine Anwendungspraxis, in der der Informations- und Ermittlungspflicht gegenüber Antragstellern umfassend nachgekommen und im Zweifel für den Betroffenen entschieden wird, nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden. Je engmaschiger das Verfahren wird, desto höher werden die Anforderungen an Verwaltung und Gerichte. Im Zuge der Öffnung der europäischen Binnengrenzen wurden die Außengrenzen immer stärker abgeschottet, ohne dass präventive Maßnahmen ergriffen wurden, die den Migrationsdruck aus dem Süden hätten entlasten können. Dies setzt seitens der Flüchtlinge Anreize, zur Überwindung der Festungsmauern immer gefährlichere Wege über die Meere in Kauf zu nehmen und sich kriminellen Schleppern auszuliefern. Die europäischen Vertragsstaaten einigten sich in den Übereinkommen von Schengen und Dublin zwar darauf, jedes Asylbegehren, das von ei47 Vgl. BVerfG, 1 BvL 10 / 10 vom 18. 7. 2012, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 32 (2012), S. 339 – 344. 48 Vgl. David Kossen, Die Tatsachenfeststellung im Asylverfahren: das deutsche Asylverfahren in europäischer Perspektive, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 91; Reinhard Marx, Das Asylrecht kritisch gesehen, in: Kritische Justiz 32 (1999), S. 116 – 118, hier: S. 117. 49 Zu Mängeln bei der Anhörung vgl. Kossen (Fn. 48), passim, bes. S. 76; 80 – 84; 141 – 144; Reinhard Marx, Probleme der Kommunikation und der Darstellung der Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen im Asylverfahren, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 32 (2012), S. 417 – 424. 50 Konkrete Beispiele bei Babo (Fn. 1), S. 241 ff.

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nem Drittausländer in dem Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien gestellt wird, zu behandeln; für dessen Durchführung wurde grundsätzlich der Ersteinreisestaat nach Maßgabe seines nationalen Rechts als zuständig erklärt. Da sich die Vertragsstaaten aber ausdrücklich das Recht auf Aus- und Zurückweisung in Drittstaaten vorbehalten, bleibt eine offene Schutzlücke bei höchst unterschiedlichen Standards in den Mitgliedsstaaten. Einzelstaatliche Interessen und damit wieder einmal das Prinzip nationaler Souveränität überlagern auch in diesem Punkt die notwendige Solidarität auf horizontaler und vertikaler Ebene. Spannungen zwischen nationalstaatlichen und gemeinschaftlichen Interessen sind durchaus geeignet, die Rechte der Flüchtlinge aus dem Blick zu verlieren, die dann schnell zur „Verschiebemasse“ unter den Staaten werden. Da die Betroffenen über das Dublin-II-Verfahren offensichtlich nicht hinreichend informiert werden und insbesondere in Deutschland auch erschwerten Zugang zu Anwälten haben, können sie ihre Rechte (beispielsweise im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 und Art. 15 DV) auch nicht immer geltend machen. Die Ermittlung des zuständigen Staates wird damit zu einer für die Verwaltung höchst aufwändigen und für die Flüchtlinge sehr belastenden Vorprüfung, die einen weiteren Zufallsfaktor einbaut und effektivem Flüchtlingsschutz zuwider läuft.51 Für die Aufnahmestaaten steht weniger das individuelle Verfolgungsschicksal des Flüchtlings, als vielmehr dessen Reiseweg im Mittelpunkt des Interesses. Deshalb kommen immer mehr Asylbewerber ohne Ausweispapiere in der EU an und können, wenn ihr genaues Herkunftsland nicht auszumachen ist, auch nicht abgeschoben werden. Ausreiseeinrichtungen nach § 61 Abs. 2 AufenthG, in denen durch Betreuung und psychosoziale Beratung die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise gefördert werden soll, sind als verzweifelter Versuch der Staaten zu werten, vor dieser Situation nicht zu kapitulieren. Gleichwohl bleiben einem Rechtsstaat an diesem Punkt klare, durch Menschenwürde und Menschenrechte vorgegebene Grenzen gesetzt. Letztendlich ist es immer der Mensch, der im Recht steht. Deshalb sind auch für jene Flüchtlinge, deren Herkunft im Unklaren bleibt, menschengerechte Lösungen zu suchen. Die Grund- und Menschenrechte, die ihnen schon in ihren Herkunftsländern, sicher auf der Flucht und dann vielleicht auch im Verfahren vorenthalten wurden, erweisen sich an dieser Stelle doch als rettender Anker. IV. Die korrektive Funktion des „Kirchenasyls“ Wenn seit dem Ende des 20. Jh. auch in demokratischen Rechtsstaaten der Schutz der Kirchen von abgelehnten Asylbewerbern vermehrt nachgefragt wird,52 so steht 51 So das Ergebnis einer empirischen Untersuchung des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Vgl. Jesuit Refugee Service Europe, Protection interrupted. The Dublin Regulation’s Impact on Asylum Seeker’s Protection, Brüssel: JRS 2013. 52 Vgl. den zusammenfassenden Überblick in der deskriptiven Studie von Matthias Morgenstern, Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung – Ak-

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dies in einer langen Tradition. Dadurch soll keineswegs ein die staatliche Asylgewährung konkurrierendes Institut begründet werden;53 vielmehr hoffen die Kirchenflüchtlinge – vergleichbar den Hiketiden der Antike – darauf, dass die reverentia loci staatlicherseits geachtet und durch Vermittlung von Vertretern der Kirche eine für alle Seiten akzeptable Lösung im Rahmen des geltenden Rechts erreicht werden kann. Durch die Ermöglichung der Einrichtung von Härtefallkommissionen nach § 23a AufenthG (die freilich nur Empfehlungen gegenüber den Obersten Landesbehörden aussprechen können) wurde dies in gewisser Weise zwischenzeitlich institutionalisiert. War die Inanspruchnahme von Asyl immer ein Indikator für Ungerechtigkeiten und Inhumanitäten, so lässt die Renaissance der Zuflucht zu den Kirchen Defizite im Asylrecht und dessen Anwendung in Gestalt konkreter Personen offenkundig werden. Sind die Asylverfahren inzwischen so eng gestrickt, dass fatale Fehlentscheidungen nicht mehr auszuschließen sind, so kann der gewaltfrei und offen gewährte subsidiäre Schutz durch Kirchen ein legitimes letztes Mittel sein, um ein größeres Übel zu verhindern.54 Die historischen Erfahrungen mit sakraler Schutzgewährung machen jedenfalls deutlich, dass dieses Institut Marginalisierten und Rechtlosen zu Recht verhelfen konnte. Durch eine Milderung überzogener Strafen und durch eine Umwandlung peinlicher und kapitaler Strafen konnte so langfristig ein Beitrag zur Humanisierung von Recht und Gesellschaft geleistet werden. Auch der erfolgreiche Ausgang55 von etwa zwei Dritteln der modernen „Kirchenasyle“ lässt erkennen, dass nur dadurch Menschen ihren Schutzanspruch geltend machen konnten, denen dieser ansonsten vorenthalten worden wäre. Die schützende Hand der sakralen Stätten konnte schon immer verhindern, dass die Stärkeren am Ende automatisch obsiegen; sie hat vielmehr die Position der Ohnmächtigen gestärkt und den formal korrekten Rechtsvollzug an den Menschen als Maßstab gebunden. So gesehen, ist jeder erfolgreiche Abschluss einer kirchlichen Schutzgewährung am Ende auch ein Erfolg des materiellen Rechtsstaats.56 tuelle Situation – Internationaler Vergleich, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003, S. 85 ff. 53 Vgl. etwa Albert-Peter Rethmann, Asyl und Migration. Ethik für eine Politik in Deutschland, Münster: Lit, 1996, S. 307; 312; Beatrice von Weizsäcker, Die Kirchen müssen Asyl gewähren, in: Deutsche Richterzeitung 72 (1994), S. 271. 54 Zur Diskussion um das Kirchenasyl vgl. näher Babo (Fn. 1), S. 273 ff. 55 Vgl. Beate Sträter, Über Erfolg und Misserfolg von Kirchenasyl, in: Wolf-Dieter Just / Beate Sträter (Hrsg.), Kirchenasyl. Ein Handbuch, Karlsruhe: von Loeper, 2003, S. 164 – 177. 56 Dem steht das formalrechtliche Argument gegenüber, dass auch Christen an die Beachtung der staatlichen Gesetze und der rechtsstaatlich korrekt ergangenen behördlichen Entscheidungen gebunden seien und für sich keine noch dazu willkürlich gewährten Sonderrechte beanspruchen dürften. Denn durch den Rechtsungehorsam einer Minderheit würden die Grundfeste des eher formell verstandenen Rechtsstaates untergraben. Vgl. etwa Benno Kirsch, Rechtsstaat, Kirchen und „Kirchenasyl“, in: Die Neue Ordnung 52 (1998), S. 300 – 309; Hans-Georg Maaßen, „Kirchenasyl“ aus juristischer Sicht, in: Una Sancta 53 (1998), S. 195 – 212; Johann Peißl, „Kirchenasyl“ – gelebter Grundrechtsschutz oder Affront gegen den

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Begreift man die Geschichte des säkularen ebenso wie des kirchlichen Asyls in gewisser Weise als Institutionalisierung eines Widerstands gegen die bestehende Ordnung, so verdient auch aus dieser Perspektive die Schutzgewährung der Kirchen für unmittelbar von einer vermutlich lebensbedrohlichen Abschiebung betroffene Ausländer einen differenzierteren Blick, zählt doch die Freiheit, nach seinem Gewissen zu handeln, zu den wichtigsten Grundrechten. Das Schutzersuchen bei den Kirchen kann deshalb in mehrfacher Hinsicht als Chance begriffen werden: Sie ist Ausdruck aktiver Mitverantwortung der Bürger, verhindert gravierendes Unrecht, verhilft Menschen zu ihrem Recht und ermöglicht einen öffentlichen Diskurs über die unterschiedlichen Ebenen staatlicher Verantwortung gegenüber der einheimischen Bevölkerung, den Flüchtlingen und den Menschen der südlichen Erdhalbkugel. Sowohl säkulares als auch kirchliches Asyl können immer nur eine subsidiäre Abhilfe, aber letztlich nicht die Lösung der Probleme sein, die sie durch ihre Inanspruchnahme offenkundig machen und deren Verbesserung sie damit anmahnen. Das Schutzersuchen bei den Kirchen erweist sich im binnenstaatlichen Bereich als historisch bewährte Chance für eine Weiterentwicklung von Rechtsstaat und Demokratie und wird nach den Lehren der Geschichte obsolet werden, sobald dieses Ziel erreicht ist.

V. Das Asylrecht vor den globalen Herausforderungen Ist die Achtung der Grund- und Menschenrechte in westlichen Demokratien gegenüber der eigenen Bevölkerung – aber nicht immer gegenüber Migranten57 – weitgehend gewährleistet, so dass „Kirchenasyl“ eine seltene Ausnahmeerscheinung darstellt, so verweist die vermehrte Inanspruchnahme des Asylrechts durch Menschen aus der südlichen Erdhalbkugel auf grundlegende Gerechtigkeitsdefizite im internationalen Bereich. Diese hängen mit der Ausbildung des Systems der Weltgesellschaft seit der Kolonialisierung zusammen. Nationale Wohlfahrtsstaaten organisieren sich nach innen zunehmend nach rechtsstaatlichen Maßstäben, was parallel Rechtsstaat?, in: Bayerische Verwaltungsblätter 130 (1999), S. 137 – 139; Rupert Hofmann, „Kirchenasyl“ und ziviler Ungehorsam, in: Karl G. Kick / Stephan Weingarz / Ulrich Bartosch (Hrsg.), Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 1998, S. 363 – 388. Dabei wird freilich grundsätzlich übersehen, dass es sich bei kirchlichen Schutzgewährungen letztlich immer um sehr wenige, aber wohl begründete Einzelfälle handelt, die alle im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gelöst werden sollen. Eine Unterwanderung des Rechtsstaats kann somit nicht ernsthaft behauptet werden; vgl. auch Andreas Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls: Ziviler Ungehorsam, Art. 4 GG und die Ombudsfunktion der Kirche, Konstanz: Hartung-Gorre, 1997, S. 74 f. Letztendlich destabilisierte es nämlich umgekehrt den Rechtsstaat, „wenn jene, denen die Werte der Demokratie so am Herzen liegen, daß sie dafür Strafen in Kauf nehmen, innerlich dem Staat entfremdet würden“ (Ernst Josef Nagel, Flüchtlinge und „Kirchenasyl“, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1995, S. 37). 57 Vgl. etwa Amnesty International Report 2011 zur weltweiten Lage der Menschenrechte, Frankfurt: Fischer, 2011, S. 143 f.

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dazu ein Binnenasyl obsolet macht, und versuchen ihren Mitgliedern relativ gleiche Lebenschancen zu gewähren. Dafür nehmen sie aber nach außen fast beliebige Ungleichheiten in Kauf und müssen sich folglich immer stärker abgrenzen.58 Die zunehmende Flucht von Menschen aus dem Süden in vermeintlich reiche Länder des Nordens legt die hinter der Tendenz der Wohlfahrtsstaaten zur Selbstprivilegierung stehende menschenungerechte internationale Ordnung radikal offen und fordert deren Beseitigung. Das Asylrecht kann auch auf internationaler Ebene nur ein vorläufiges Mittel sein, das gewiss Entlastung schaffen kann, insgesamt aber von zu vielen Unwägbarkeiten abhängt und eher dazu tendiert, die bestehende Ordnung zu erhalten. Seitens der Wohlfahrtsstaaten wird dies in einer zunehmenden Abschottung der Grenzen und einem Festhalten an einem Flüchtlingsbegriff deutlich, der europäische Probleme aus der Mitte des 20. Jh. abbildet. Dabei zeigt die Geschichte, dass sich das Asylwesen an die Herausforderungen der jeweiligen Zeit sehr gut anpasste und zuvorderst den Rechtlosen und Marginalisierten zukam. Der exklusive Schutz der politisch Verfolgten wandelte sich vom Schutz des Gesinnungstäters im 19. bis zum Schutz des menschlichen So-Seins im 20. Jh. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste das Asylrecht, das sich schon immer als vorstaatliches Institut erwiesen und damit auf die Menschenrechte verwiesen hat, auch verfahrensrechtlich dem Anspruch der zwischenzeitlich anerkannten Menschenrechte genügen. Demgegenüber ist der Abbau rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien sowie sozialer Versorgungsstandards als eindeutiger Rückschritt zu werten, der kein Problem löst, sondern neue schafft: Der Migrationsdruck wird dadurch nicht reduziert, aber durch die enge Spalte eines Asylverfahrens gedrängt, das einzelfallgerechte Entscheidungen nicht mehr garantieren kann. Dies macht in aller Radikalität deutlich, dass den globalen Herausforderungen des 21. Jh. weitaus grundlegender begegnet werden muss. Am Beispiel des Themenfeldes der Nachhaltigen Entwicklung wird die Vernetztheit ökologischer, ökonomischer und sozialer Probleme offenkundig, gegenüber der das alleinige Abstellen auf die politische Verfolgung des Individuums im Flüchtlingsbegriff entschieden zu kurz greift.59 Umweltflüchtlinge werden in den kommenden Jahrzehnten zu einer bedeutenden Größe heranwachsen, was eine Weiterentwicklung des Flüchtlingsbegriffs60 nicht nur in diesem Punkt analog zur Fortschreibung der Menschenrechte notwendig macht.

58 Vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld: Transcript, 2005, S. 152. 59 Den engen Zusammenhang von politischer und ökonomischer Repression hat bereits Marx (Fn. 28), S. 81 – 98 herausgearbeitet. 60 Vgl. etwa Andreas Lienkamp, Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive, Paderborn u. a.: Schöningh, 2009, S. 463; Frithjof Ziegler, Klima- und umweltbedingte Migration, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 29 (2009), S. 85 – 89; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltver-

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Die Geschichte lehrt freilich, dass eine erleichterte Aufnahme von Menschen gewiss eine zumindest subsidiäre Abhilfe schaffen, aber das zugrundeliegende Gerechtigkeitsdefizit auf globaler Ebene keineswegs beheben kann. Die Erfahrungen im binnenstaatlichen Bereich zeigen, dass dies letztlich nur eine internationale Ordnung vermag, in der die Menschenrechte aller drei Generationen konsequent geachtet werden. Die Partikularinteressen souveräner Einzelstaaten (neben der global tätiger Wirtschaftskonzerne) an die Menschenrechte zu binden, wird eine wichtige Zukunftsaufgabe der Vereinten Nationen sein. Für die Industriestaaten der nördlichen Erdhalbkugel gilt der Grundsatz, dass umso mehr in die Prävention erzwungener Migration investiert werden muss, je restriktiver die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten gestaltet wird.61 Daran sollten gerade die Staaten der nördlichen Erdhalbkugel in ihrem ureigenen Interesse arbeiten – statt populistisch den angeblich massenhaften Missbrauch des Asylrechts zu beklagen und sich ansonsten „in der Wagenburg des Wohlstandschauvinismus gegen den Andrang von Immigrationswilligen und Asylsuchenden [zu] verschanzen“62.

Summary Throughout history, the use of asylum always proved as an indicator of fundamental social injustices. Asylum in its specific embodiments adapts to the challenges of the time highly flexible. It is given in each case by a neutral authority first and foremost to the disenfranchised and marginalized. It may in some cases actually remedy the situation and thereby contribute to humanization of law and society in a long term. Therefore, the right of asylum can be designated as a pre-state institute, which refers to the human rights and is only required as long as they are not consistently respected. Against this background, the global refugee movements, of which only a small part escapes to Europe, can be understood as an indicator of global injustice that can only be resolved in a just world order, where all three generations of human rights are consistently recognized and enforced. Walling off against immigrants pushes them in applying for asylum. Therefore procedures were increasingly narrowed and operate with a definition of a refugee according to the European situation in the first half of the 20th Century, which does not satisfy to the global challenges of the 21st. So powerless are deprived of asserting any right. This retreat from human rights standards led consistently to a renaissance of sanctuary movement which can be seen beyond the concrete help in some cases also as an opportuänderungen, Die Zukunft der Meere – zu warm, zu hoch, zu sauer, Berlin: WBGU, 2006, S. 48. 61 Vgl. auch Veith Bader, Praktische Philosophie und Zulassung von Flüchtlingen und Migranten, in: Alfredo Märker / Stephan Schlothfeld (Hrsg.), Was schulden wir Flüchtlingen und Migranten? Grundlagen einer gerechten Zuwanderungspolitik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 143 – 167, hier: S. 148 – 153. 62 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt: Suhrkamp, 1998, S. 659.

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nity to actualize the definition of refugee, to reform the procedure for granting the right of asylum and to create a more humane and inclusive international order, which ideally would make asylums unnecessary.

Der Rechtsstaat und das Problem der strafrechtlichen Amnestie Norbert Campagna Einleitung Immer wieder ist es im Laufe der Geschichte dazu gekommen, dass nach einem blutigen Bürgerkrieg oder nach einer ebenso blutigen Gewaltherrschaft – die manchmal durch den eben erwähnten Bürgerkrieg zu Ende gebracht wurde – eine strafrechtliche Amnestie durchgesetzt wurde. Diese konnte entweder bedingungslos sein, so dass jeder automatisch und, könnte man sagen, ohne Gegenleistung, in ihren Genuss kam, oder sie konnte an bestimmte Bedingungen, wie etwa die Mitarbeit bei der Wahrheitsfindung, also bei der Aufklärung bestimmter Ereignisse, an denen die Amnestierten oft unmittelbar beteiligt und manchmal die einzigen – überlebenden – Zeugen waren, geknüpft sein.1 Auch wenn die eben genannten Amnestien die heftigsten, und aus der Perspektive der Strafrechtsphilosophie wahrscheinlich auch interessantesten Debatten hervorgerufen haben, so sollte dies nicht den Eindruck erwecken, als ob es Amnestien nur im Zusammenhang mit solchen politischen Extremsituationen geben kann, und als ob die Praxis der Amnestie unseren heute fest etablierten demokratischen Rechtsstaaten gänzlich fremd wäre.2 Eine Steueramnestie, um nur eines der gängigsten Beispiele zu nennen, ist weitaus weniger dramatisch3 als die Amnestie, mit der in Südafrika das Apartheidregime beendet werden konnte, aber das Grundprinzip ist und bleibt immer dasselbe. 1 Man sollte hier zwischen zwei Arten von Bedingungen unterscheiden. Die erste Art betrifft die Identität der Person und ihrer Handlungen. Im Falle von Amnestien nach Bürgerkriegen oder nach dem Untergang von tyrannischen Regierungen, kommen höchstens nur die politisch motivierten Delikte für eine Amnestie in Frage. Die zweite Art von Bedingung betrifft die Handlung, die man von demjenigen verlangt, der ein politisch motiviertes Delikt begangen hat. Und hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man fordert keine Gegenleistung, oder man fordert eine solche. 2 Man findet auch manchmal sogenannte Jubelamnestien. Hier werden etwa nach einer Präsidentschaftswahl bestimmte kleinere Strafen aufgehoben. Bis Präsident Sarkozy dem Ganzen ein Ende setzte, wurden zum Beispiel in Frankreich leichte Verkehrsdelikte nach der Präsidentschaftswahl amnestiert. 3 Gacon meint, die Amnestie sei ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts „fader“ geworden, da sie nicht mehr nur bei Krisensituationen eingesetzt wird, bei denen es um die Wiederherstellung des öffentlichen Friedens geht (Gacon, L’amnistie, Paris: Editions du Seuil 2000, S. 99).

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Dieses Grundprinzip ist an sich relativ einfach: Den Autoren bestimmter Verbrechen wird garantiert, dass sie keiner strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sein werden, wobei diese Garantie meistens die Form eines Gesetzes annimmt, durch das die Staatsanwaltschaften oder die Gerichte daran gehindert werden, bestimmte Klagen entgegenzunehmen.4 Die Opfer besagter Verbrechen bzw. die Familien dieser Opfer stehen somit vor einem Justizapparat, dem der Gesetzgeber befohlen hat, in Fällen untätig zu bleiben, in denen er eigentlich reagieren müsste. In manchen Fällen kann das Amnestiegesetz sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Opfern bzw. ihren Verwandten verbieten, überhaupt eine Anklage zu erheben, wenn nicht sogar verbieten, die Autoren der Verbrechen als solche in der Öffentlichkeit zu erwähnen. Auch wenn das Opfer bzw. seine Verwandten die Verbrechen in foro interno nicht vergessen können und auch nicht vergessen wollen, so soll doch die Erinnerung dieser Verbrechen oder zumindest die Erinnerung an die Autoren dieser Verbrechen aus dem öffentlichen Gedächtnisraum verbannt werden. Das Amnestiegesetz ordnet insofern eine öffentliche Amnesie an und kann gegebenenfalls diejenigen mit einer Strafe bedrohen, die das angeordnete Schweigen brechen.5 Für die Opfer bzw. ihre Verwandten entsteht somit eine Situation, die in einem krassen Konflikt mit ihrem, wie manche sagen würden, natürlichen Rechtsbewusstsein steht. Wenn sie nämlich eine Bestrafung derjenigen verlangen, die in ihren Augen eine Strafe verdienen, dann setzen sie sich einer möglichen Bestrafung aus, die sie in ihren eigenen Augen nicht verdienen. Und selbst dort, wo es ihnen nicht ver-

4 Man unterscheidet heute allerdings zwischen einer ex ante und einer ex post Amnestie. Schätzler charakterisiert die Amnestie wie folgt: „Rechtsnormen, die für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen den Erlass und (oder) die Milderung rechtskräftig erkannter Strafen […] aussprechen sowie die Niederschlagung anhängiger und die Nichteinleitung neuer Verfahren anordnen“ (Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, München: C. H. Beck Verlag 1992, 2. Auflage, S. 208). Die ex post Amnestie erfolgt nach dem Schuldspruch und nimmt die Form eines Gesetzes an, durch das eine strafrechtliche Sanktion aufgehoben wird. So wurde Ende Februar 2013 vom französischen Senat ein Gesetzesvorschlag angenommen, der vorsah, die schon durch Gerichte verhängten strafrechtlichen Sanktionen gegen Gewerkschaftsmitglieder aufzuheben, die sich einer Sachbeschädigung während des syndikalistischen Kampfes schuldig gemacht hatten. Wir werden in diesem Beitrag nur die ex ante Amnestie diskutieren. 5 So wird etwa im Edit de Nantes (1598), der den Religionskriegen in Frankreich ein Ende setzen sollte, gefordert, dass die Erinnerung an alle Ereignisse die zwischen 1585 und der Thronbesteigung durch Heinrich IV. stattgefunden haben, erlöschen soll, so als ob diese Ereignisse nie stattgefunden hätten. Um hier Artikel II zu zitieren: „Wir verbieten es unseren Untertanen, was auch immer ihr Stand und ihre Würde sein mag, die Erinnerung daran aufzufrischen, sich anzugreifen, einander gegenüber nachtragend zu sein, sich zu beschimpfen oder zu provozieren, indem sie sich etwas vorwerfen, das geschehen ist, was auch immer die Ursache oder Gelegenheit dazu sein möge, darüber zu disputieren, es zu bestreiten, zu streiten, sich zu beschimpfen oder zu verletzen, sei es durch Tat oder Wort: sie sollen sich zurückhalten und friedlich zusammenleben als Brüder, Freunde, Mitbürger, ansonsten den Zuwiderhandelnden eine Strafe als Friedensbrecher und Störer der öffentlichen Ruhe erwartet“ (zitiert in: Ricoeur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris: Editions du Seuil 2000, S. 586). Durch das Vergessen sollte die alle religiösen Unterschiede und vor allem auch alle persönlichen Hassgefühle transzendierende nationale Einheit wieder hergestellt werden.

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boten ist, die Ereignisse öffentlich zu erwähnen, stehen sie vor einer Situation, in welcher sie auf etwas verzichten müssen, das ihnen, zumindest in ihren Augen, zusteht, nämlich auf den Prozess gegen diejenigen, die gegen sie selbst oder gegen ihre Verwandten ein Verbrechen begangen haben. Und wo, wie im Fall einer Steueramnestie, keine Privatperson als unmittelbares Opfer der Steuerhinterziehung auftreten kann, können die ehrlichen Steuerzahler sich als unfair behandelt fühlen. Die strafrechtliche Amnestie stellt den Rechtsstaat vor ein ethisches Problem. Als Rechtsstaat muss er, wie sein Name es schon sagt, für Recht sorgen. Und dieses Recht wird heute nicht nur mit dem Inhalt des Gesetzes identifiziert – und von einigen Philosophen und Juristen abgesehen, wurde es auch ganz selten mit dem bloßen Inhalt des Gesetzes identifiziert. Die Tatsache, dass die Amnestie heute eine Gesetzesform annehmen und d. h. als Ausdruck des allgemeinen Willens auftreten muss, löst insofern nicht das Problem. Ein Staat wird nicht schon dadurch zu einem Rechtsstaat, dass er der substantiellen Ungerechtigkeit ein formales gesetzliches Kleid anzieht. Heute stellt die Frage sich anders als zur Zeit der absoluten Monarchen: Darf ein aus freien und fairen Wahlen hervorgegangenes Parlament ein Gesetz verabschieden, das dazu führt, dass bestimmte Opfer bzw. deren Verwandte nicht mehr die Möglichkeit haben, die in ihren Augen für das Begehen bestimmter Verbrechen Schuldigen zu verklagen? Hat nicht jedes Opfer bzw. die für das Opfer handelnden Verwandten das Recht, einen strafrechtlichen Prozess zu provozieren? Und hat nicht jeder Staatsanwalt die Pflicht, bei genügender Beweislage, den Prozess einzuleiten? Kann ein Rechtsstaat zulassen, dass bestimmte Personen während Jahren gegen Gesetze verstoßen oder gegen fundamentale Werte, die jeder Staat schützen sollte, und dann nicht dafür gerichtlich belangt werden? In diesem Beitrag möchte ich mich mit der Frage befassen, ob die strafrechtliche Amnestie mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und den sich daraus ableitbaren Normen vereinbar ist. Gary Smith meint hierzu dezidiert: „Amnestie ist ein Rechtsbegriff fast ohne rechtliche Füllung, der paradoxerweise gerade im Übergang zum Rechtsstaat rechtsstaatliche Normen außer Kraft setzt“6. Verabsolutiert man diese Normen, so dass ihr Außer-Kraft-Setzen niemals legitim sein kann, dann wird eine Legitimation der Amnestie so gut wie unmöglich. Um dieser Konsequenz zu entgehen, könnte man die durch den Rechtsstaat zu schützenden Güter von den rechtsstaatlichen Normen und Institutionen unterscheiden, um dann zu behaupten, dass die Bewahrung der durch den Rechtsstaat zu schützenden Güter manchmal das Außer-Kraft-Setzen derjenigen Normen und Institutionen rechtfertigen kann, die zum normalen Funktionieren eines Rechtsstaates gehören und die unter normalen Umständen die Bewahrung dieser Güter garantieren.7 Amnestie wäre dann insofern zu6 Gary Smith, „Ein normatives Niemandsland? Zwischen Gerechtigkeit und Versöhnungspolitik in jungen Demokratien“, in: Smith / Margalit (Hrsg.), Amnestie oder Die Politik des Vergessens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 13.

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lässig, als sie dazu dient, die Bedingungen herzustellen oder herbeizuführen, unter denen allein ein wohlgeordneter Rechtsstaat funktionieren kann. Im ersten Teil dieses Beitrags präsentiere ich eine Liste von drei Grundgütern, die ein Rechtsstaat seinen Bürgern schuldet. Es sind dies die Sicherung der körperlichen Integrität, die Garantie des gesetzmäßigen Verfahrens und der Schutz der Würde. Im zweiten Teil setze ich mich etwas genauer mit der Amnestie auseinander und vergleiche sie mit der Verjährung. Dabei wird es mir darum gehen zu zeigen, dass von einem rein strafrechtrechtlichen Standpunkt aus betrachtet, die Amnestie sich nicht fundamental von der Verjährung unterscheidet, und dass sich die Unterschiede zwischen beiden auf einem anderen Terrain als dem strafrechtlichen befinden. Die in diesem Beitrag zu beantwortende Frage lautet demnach nicht: „Darf der Rechtsstaat seinen Bürgern befehlen, bestimmte Delikte zu vergessen?“. Sondern sie lautet: „Darf der Rechtsstaat seinen Bürgern zumuten, auf bestimmte strafrechtliche Klagen und damit auch auf die damit zusammenhängenden Prozesse zu verzichten?“. Amnestie und Verjährung stellen den Rechtsstaat vor ein ähnliches Problem. Der dritte Teil stellt mögliche Gründe vor, mit denen man eine Amnestie rechtfertigen kann. Der vierte und letzte Teil geht dann der Frage nach, ob und inwiefern eine Amnestie die Grundgüter gefährden kann, die im ersten Teil genannt wurden.

I. Was schuldet der Rechtsstaat seinen Bürgern? Bevor wir die Frage beantworten, was der Rechtsstaat seinen Bürgern schuldet, sollten wir uns die Frage stellen, was der Staat als solcher ihnen überhaupt schuldet. Und die in meinen Augen immer noch beste Antwort auf diese Frage finden wir im Leviathan von Thomas Hobbes. Die erste und zentrale – aber sicherlich nicht einzige – Aufgabe eines Staates besteht darin, die von Natur aus zu gewaltsamen Konfliktlösungen tendierenden Individuen voreinander zu schützen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man den zu unterbindenden Krieg als einen Krieg eines jeden gegen einen jeden betrachtet, wie Hobbes es im Rahmen seiner philosophischen Überlegungen gemacht hat, oder als einen Krieg zwischen bestimmten religiös, ethnisch oder sozial definierten Gruppen – wie die wirkliche Geschichte ihn uns präsentiert. Um den gesellschaftlichen Frieden zu verwirklichen, muss der Staat diejenigen mit einer Strafe bedrohen, die gegenüber ihren Mitbürgern gewalttätig werden. Die Strafandrohung hat einen rein präventiven Zweck, und die tatsächliche Bestrafung soll jedem verdeutlichen, dass die Androhung kein bloßes Wort ist, sondern Wirklichkeit werden kann, wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind. Insofern die Straf7 Im 43. Beitrag des Federalist erwähnt James Madison „the transcendent law of nature and of nature’s God, which declares that the safety and happiness of society are the objects at which all political institutions aim, and to which all such institutions must be sacrificed“ (Hamilton, Madison & Jay, The Federalist or The new Constitution, London e.a.: Dent 1978 [reprint], S. 225).

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androhungen wirksam sind, brauchen die Individuen keine Angst mehr vor ihren Mitmenschen zu haben, und sie können demnach die Meinung hegen, dass kein anderer Mensch sie mit Gewalt daran hindern wird das zu tun, was die Gesetze ihnen zu tun erlauben. Für Hobbes besteht die bürgerliche Freiheit darin, das tun zu können8, was einem die Gesetze zu tun erlauben. Etwa ein Jahrhundert später definierte Charles de Montesquieu die politische bzw. bürgerliche Freiheit als „die Meinung, die jeder von seiner Sicherheit hat“9. Diese Meinung ist nicht jedem von Natur aus gegeben, noch entsteht sie spontan. Sie setzt vielmehr ein institutionelles Gebilde voraus, dessen zentrale Elemente einerseits eine angemessene Teilung und Verteilung der Gewalten – sie bildet das, was Montesquieu als „Freiheit der Verfassung“ bezeichnet – und dann andererseits die Herrschaft des Gesetzes sind. Handlungen bzw. Entscheidungen der Regierung, der Verwaltung und der Gerichte müssen eine gesetzliche Basis haben, so dass letztendlich nicht Menschen entscheiden, sondern die Gesetze. Die Agenten des Staates sind lediglich das Sprachrohr der Gesetze. Im Visier hat Montesquieu hier vor allem jene Handlungen und Gesetze, durch die Individuen unmittelbar in ihrem Leben, ihrer körperlichen Integrität, ihrer Freiheit und ihrem Eigentum betroffen werden können. Die Sicherheit, von der Montesquieu spricht, ist eine Sicherheit gegenüber der Willkür von Menschen. Insofern Menschen oft dazu tendieren, ihren eigenen Interessen oder ihren Leidenschaften zu folgen, muss dieses subjektive Element ausgeschaltet werden, wenn die Bürger auf eine faire Weise behandelt werden sollen. Der ideale Staat ist somit ein Staat, in dem die Gesetze herrschen, und jeder auch gute Gründe dafür hat zu glauben, dass die Gesetze herrschen. Auch wenn Montesquieu den Ausdruck „Rechtsstaat“ nicht gebraucht, so hätte er doch wahrscheinlich kein Problem damit gehabt, die von ihm gepriesene Regierungsform als Rechtsstaat zu bezeichnen. Die im Titel dieses Teils gestellte Frage kann demnach wie folgt beantwortet werden: Der Rechtsstaat schuldet seinen Bürgern u. a. ein institutionelles Gefüge und ein Funktionieren dieses Gefüges, das ihnen die Meinung vermittelt, in Sicherheit zu leben. Wie wichtig es auch sein mag, die Handlungen und Entscheidungen jener Agenten des Staates zu normieren, die einen unmittelbaren Impact auf wichtige individuelle Güter haben, so sollte man doch nicht dabei stehen bleiben. Ein Rechtsstaat, der diesen Namen wirklich verdient, schuldet seinen Bürgern mehr als nur die Freiheit im Sinne Montesquieus. Denn wenn die Gesetze ungerecht oder sogar menschenverachtend sind, dann hilft es den Bürgern wenig, wenn sie wissen, dass man sie stets nur gemäß dem allgemeinen Willen des Gesetzes und nicht gemäß dem partikularen Willen eines staatlichen Funktionärs behandeln wird. Wichtig ist auch, 8 „Können“ ist hier im Sinne von „nicht durch einen Mitbürger daran gehindert werden“ zu verstehen. Es ist damit keine capability im Sinne von Martha Nussbaum gemeint. 9 „La liberté politique consiste dans la sûreté, ou du moins dans l’opinion que l’on a de sa sûreté“ (Montesquieu, De l’esprit des lois, Paris: Garnier-Flammarion 1979, Buch XII, Kapitel II, S. 328).

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dass jeder eine Meinung von seiner Würde hat und gleichzeitig die Meinung, dass die Gesellschaft, in welcher er lebt, diese Meinung teilt. Auf diesen Punkt hat vor allem Jeremy Waldron in seinem neuesten Buch hingewiesen, in dem er nach einer akzeptierbaren Basis für eine sogenannte hate speech legislation sucht, also für Gesetze, die bestimmte Äußerungen verbieten und unter Strafe stellen.10 Ausgehend von Rawls’ Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft11, weist Waldron darauf hin, dass eine solche Gesellschaft nur dort existieren kann, wo jeder Bürger damit rechnen kann, keiner – schriftlichen, mündlichen, graphischen oder sonstigen – Äußerung zu begegnen, die seinen Status als freien und gleichen Bürger radikal in Frage stellt und ihn etwa mit Ungeziefer oder Ähnlichem vergleicht. Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, soll also keiner Äußerung begegnen, die seinen legitimen Platz in diesem öffentlichen Raum leugnet und ihn von diesem Raum ausschließen will. Das Ziel der von Waldron befürworteten Gesetzgebung ist der Schutz des „shared sense of the basic elements of each person’s status, dignity, and reputation as a citizen or member of society in good standing“12. Dieser „shared sense“ ist ein öffentliches und kein bloß privates Gut, und als solches kann er dem Gesetzgeber nicht fremd sein. Es obliegt dem Gesetzgeber dafür zu sorgen, dass niemand den begründeten Eindruck hegt, man wolle ihn radikal vom Genuss bestimmter politischer, rechtlicher und sozialer Grundgüter ausschließen. Die „Hassredegesetzgebung“ – falls mir diese Übersetzung des englischen Ausdrucks erlaubt ist – ist natürlich nur ein Mittel in den Händen des Staates, um das von Waldron genannte öffentliche Gut zu schützen. Wie schlimm es auch für jemanden sein mag, wegen seiner ethnischen Abstammung als „Schund“ oder als „Ungeziefer“ bezeichnet zu werden, so sollte man doch auch erwähnen, dass der Status und die Würde des Einzelnen ebenfalls durch andere Phänomene tangiert werden können, wie etwa durch das „Angebot“ – das mit einer Schließung des Betriebs gekoppelt ist –, seinen Arbeitsplatz in Deutschland und einen monatlichen Lohn von 2.000 €, mit einem Arbeitsplatz in Rumänien und einem monatlichen Lohn von 200 € zu tauschen, wenn man weiter für die Firma arbeiten will. Das von Waldron genannte öffentliche Gut ist selbstverständlich auch für den Gesetzgeber selbst bindend, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass er Gesetze erlassen muss, die von den Bürgern verlangen, es nicht zu verletzen13, sondern darüber hinaus und vor allem in dem Sinne, dass er selbst es nicht durch seine Gesetze verletzt. 10 In Deutschland kann Hassrede durch eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden (StGB 130 (1)). 11 Waldron übernimmt lediglich das allgemeine Modell von Rawls. 12 Waldron, The harm in hate speech, Cambridge (MA) / London: Harvard University Press 2012, S. 47. 13 Im Artikel 20 (2) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte wird festgehalten: „Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch das Gesetz verboten“.

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Fassen wir zusammen: Die Bürger können von einem Rechtsstaat erwarten, dass er sie vor gegenseitigen physischen Übergriffen, vor der Willkür der Funktionäre und vor radikalen Formen öffentlicher Demütigung schützt. Sie müssen in einer Gesellschaft leben, die in ihnen die Meinung fördert, dass man sie nicht wie Dreck behandeln wird. Oder Kantianisch formuliert: Sie müssen in einer Gesellschaft leben, in der sie gute Gründe für die Annahme haben, dass man sie – oder die Menschheit in ihnen, wenn man ganz Kantianisch sein will – niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck an sich selbst ansehen und behandeln wird. Für uns wird die zentrale Frage darin bestehen, ob eine strafrechtliche Amnestie den von Waldron erwähnten „shared sense of the basic elements of each person’s status, dignity, and reputation as a citizen or member of society in good standing“ bedroht oder gar zerstört. Und wenn ja, ob und inwiefern bestimmte Begleitmaßnahmen ein Gegengewicht schaffen können, so dass man für die Vorteile der Amnestie keinen Preis zu zahlen braucht, der einem Verrat am Rechtsstaat gleichkommt.

II. Amnestie und Verjährung Bevor wir uns in dem nächsten Teil mit den Gründen befassen, mittels derer man eine Amnestie rechtfertigen kann, soll hier zunächst auf den paradoxen Charakter der Amnestie eingegangen werden, um die Amnestie dann mit der Verjährung zu vergleichen. Dabei wird sich zeigen, dass man in einer Amnestie zwischen einer rechtlichen und einer psychologisch-moralischen Dimension unterscheiden muss. Bei der ersten geht es um den Verzicht auf strafrechtliche Verfolgungen, bei der zweiten um Vergessen und Vergeben. Der soeben erwähnte paradoxe Charakter der Amnestie kommt gut zum Ausdruck, wenn man sie ganz explizit als ein angeordnetes oder befohlenes Vergessen definiert: In einem Amnestiegesetz, dessen Existenz man zumindest solange nicht vergessen darf, wie man sich an das erinnert, was man vergessen soll,14 wird festgehalten, was man vergessen soll oder zumindest, dass es etwas gibt, das man vergessen soll. Problematisch ist hier zunächst einmal die Tatsache, dass das Vergessen befohlen wird,15 dass aus ihr eine staatsbürgerliche Pflicht wird.16 Läge es gänzlich in unserer Macht, an etwas zu denken oder etwas zu vergessen, dann wäre ein solcher Befehl zumindest sinnvoll – wenn auch vielleicht nicht unbedingt moralisch oder psychisch zumutbar. Das Erinnern oder Vergessen steht aber nicht gänzlich in unserer Hat man es nämlich ein für allemal vergessen, dann wird der Befehl überflüssig. Hierzu etwa Schwan, „Die Idee des Schlussstrichs – oder: Welches Erinnern und welches Vergessen tun der Demokratie gut?“, in: Smith / Margalit (Hrsg.), (Fn. 6), S. 96. 16 Dazu Campagna, „Amnestie: Wenn das Vergessen zur staatsbürgerlichen Pflicht wird“, in: Jahrbuch für Rechts- und Sozialphilosophie, Band 90, Heft 4, 2004, S. 530 – 549. 14 15

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Macht, und man kann uns höchstens befehlen, das zu zerstören oder zu unterlassen, was bei uns selbst oder anderen latente Erinnerungen wach werden lassen könnte. So kann man es verbieten, Denkmäler zu errichten oder Gedenkzeremonien abzuhalten. Noch problematischer ist allerdings die Tatsache, dass gerade das Gesetz, durch das uns befohlen wird, jene Dinge zu zerstören oder zu verbergen, durch die latente Erinnerungen wieder wach werden können, zu denjenigen Dingen zählt, die latente Erinnerungen wachrufen. Das Gesetz muss natürlich keine Aufzählung der Fakten enthalten, die vergessen werden sollen, aber allein schon die Tatsache, dass es uns daran erinnert, dass es etwas gibt, das wir vergessen sollen, wird in uns die Erinnerung an das zu Vergessende wachrufen. Aus dem eben Gesagten lässt sich zumindest ein Fazit ziehen: Die Amnestie kann nur in einem schwachen, oder wenn man will kontrafaktischen Sinn als Vergessen verstanden werden. Im öffentlichen Raum soll so getan werden, als ob man vergessen hätte, und das Symptom dieses Vergessens besteht in der öffentlichen Nicht-Erwähnung des zu Vergessenden und vor allem in der öffentlichen Nicht-Erwähnung der Namen derjenigen, die dafür verantwortlich sind, dass es überhaupt etwas gegeben hat, das jetzt nicht mehr öffentlich erwähnt werden darf.17 Darüber, wo genau die Sphäre der Öffentlichkeit beginnt, kann diskutiert werden. Ein enger Begriff der Öffentlichkeit identifiziert diese mit den staatlichen und parastaatlichen Institutionen, wohingegen ein weiter Begriff jede zwischenmenschliche Kommunikation oder gar jede Äußerung bezeichnet.18 Jenseits von allem rhetorischen Pathos, den man oft bei Diskussionen der Amnestie findet19, sollte man sich die nüchterne Frage stellen, ob die unmittelbaren rechtlichen Wirkungen der Amnestie nicht denjenigen einer Verjährung gleichkommen.20 Dabei würde es sich natürlich gewissermaßen um eine ex post Verjährung bzw. um ein ex post verabschiedetes Verjährungsgesetz handeln. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass es sich bei der Amnestie und bei der Verjährung ganz genau um dasselbe handelt, sondern es soll nur darauf hingewiesen werden, dass die strafrechtlichen Wirkungen zu einem nicht unwesentlichen Teil

Gemeint ist natürlich die Erwähnung der Namen im Zusammenhang mit den Taten. Im Extremfall könnte es verboten sein, in einem für den reinen Privatgebrauch gedachten Notizbuch irgendetwas zu erwähnen, das vergessen werden sollte. Das Notizbuch könnte nämlich entwendet und sein Inhalt öffentlich gemacht werden. 19 Und ich sehe in diesem Beitrag absichtlich vom religiös geprägten Verzeihungs- und Vergebungsdiskurs ab, wie man ihn besonders anlässlich der Amnestie in Südafrika zu hören bekam. Dass Vergessen und Verzeihen sich ausschließen, haben etwa Paul Ricoeur und Jacques Ricot gezeigt (Ricoeur, [Fn. 5], S. 586; Ricot, Peut-on tout pardonner?, Nantes: Editions Pleins feux 2001, S. 36). Das Problem des Verzeihens und Vergebens kann nicht durch das Recht, und schon gar nicht durch das Strafrecht, geregelt werden. 20 Zur Verjährung siehe etwa Vogel (Hrsg.), Ein Weg aus der Vergangenheit, Frankurt / Main / Berlin: Ullstein 1969. 17 18

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ähnlich sind: In beiden Fällen können Individuen nicht vor Gericht gestellt werden, obwohl sie vor Gericht hätten kommen müssen. Und in beiden Fällen ist es ein Gesetz, das dies so bestimmt. Im Falle der Verjährung spielt, wie der Begriff es schon deutlich macht, der Zeitfaktor eine große Rolle. Wo es Verjährungsgesetze gibt – und solche Gesetze gibt es in vielen Staaten –, ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass nach einer bestimmten Zeit – die von der Schwere der Tat abhängt – ein Vergehen oder Verbrechen nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden sollten. Den Opfern wird aber kein Vergessen aufgezwungen, und niemand verbietet es ihnen, das Verbrechen im öffentlichen Raum zu erwähnen. Im Falle der Amnestie spielt der Zeitfaktor auch eine Rolle21, und in den meisten Amnestiegesetzen wird festgehalten, dass nur diejenigen Straftaten amnestiert werden, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums begangen wurden.22 Klaus Günther macht in einem Aufsatz den Unterschied zwischen einer Amnestie, die im Vergessen der Strafe, und einer Amnestie, die im Vergessen der Schuld besteht, weist aber gleich auf den mehr als problematischen Charakter dieser Unterscheidung hin: „Ich gebe zu, dass diesem Argumentationsziel etwas Fiktives und Unrealistisches anhaftet, weil es ja das rechtlich Unmögliche voraussetzt, eine Amnestie auf den Straferlass zu beschränken“23. Fasst man die Amnestie im starken Sinn des Wortes auf, dann ergibt sich tatsächlich die Unmöglichkeit, auf die Günther hinweist. Sie ergibt sich aber nicht, wenn man mit einem schwächeren Begriff der Amnestie operiert und die Amnestie mit dem Rechtsinstitut der Verjährung in Zusammenhang bringt. Genauso wie die Amnestie, hat auch die Verjährung „die Wirkung, dass eine möglicherweise bestehende Schuld nicht öffentlich festgestellt wird“24. Nach einer bestimmten Anzahl von Jahren darf der Justizapparat sich nicht mehr mit einem bestimmten Delikt befassen, und es kann demnach keine öffentliche Feststellung der Schuld, also eine Feststellung dieser Schuld durch ein Organ der öffentlichen Macht, mehr stattfinden. Eine rein strafrechtsphilosophische Diskussion der Amnestie im Rahmen des Rechtsstaates sollte sich auf den eben erwähnten Punkt konzentrieren, also auf die Tatsache, dass durch die Amnestie die Möglichkeit entfällt, bestimmte Personen für die von ihnen begangenen Delikte zu bestrafen. Und zwar entfällt diese Möglichkeit nicht, weil die betroffenen Personen geflüchtet oder gar gestorben sind, sondern weil der Gesetzgeber sie durch ein Gesetz vor einem möglichen Prozess und damit 21 Man wird darauf hinweisen können, dass die Zeitspanne bei der Verjährung länger ist. Das hat selbstverständlich seine Bedeutung für die Psyche des Opfers oder seiner Verwandten. 22 Es kommen meistens noch andere Bedingungen hinzu, wie etwa, dass die Straftaten eine politische Motivation haben müssen. 23 Günther, „Der strafrechtliche Schuldbegriff als Gegenstand einer Politik der Erinnerung in der Demokratie“, in: Smith / Margalit (Hrsg.), (Fn. 6), S. 50. Viñar und Viñar machen den Unterschied zwischen einer „Vergessensamnestie“ und einer „Straflosigkeitsamnestie“; Viñar / Viñar, „Dal Sudamerica: terrorismo di Stato e soggettività“, in: Flores (a cura di), Storia, verità, giustizia, Milano: Mondadori 2001, S. 216. 24 Günther, (Fn. 6), S. 50.

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auch vor einer möglichen Bestrafung bewahrt.25 Und die Verjährung hat genau dieselbe strafrechtliche Wirkung. In beiden Fällen wird bestimmten Personen eine strafrechtliche Immunität gewährt. Den Opfern wird in beiden Fällen eine Situation zugemutet, in denen die Täter sich nicht vor Gericht verantworten müssen.26

III. Warum amnestieren? Eine Amnestie ist keine Selbstverständlichkeit, es sei denn, man würde das Liebesgebot des Neuen Testamentes beim Wort nehmen und dementsprechend radikal auf Gewaltanwendung und Zwang verzichten, selbst dann, wenn es sich um eine auf den ersten Blick legitime strafrechtliche Gewaltanwendung handelt. Normalerweise wird man von den Menschen erwarten, dass sie sich eher nach dem alttestamentarischen Prinzip „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ richten27 und dementsprechend diejenigen bestrafen, die sich bestimmter Verbrechen schuldig gemacht haben, und dies umso mehr, als es sich um besonders grausame Verbrechen handelt. Den nicht verjährbaren Verbrechen, wie es heute die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, könnten demnach nicht amnestierbare Verbrechen entsprechen.28 Die Amnestie verlangt eine Selbstbeschränkung29, und diese Forderung nach Selbstbeschränkung – eine Forderung, die man durchaus an sich selbst richten kann30 – verlangt ihrerseits eine Begründung. Die Menschen dürfen nicht bloß durch strafrechtliche Drohungen daran gehindert werden, dem Amnestiegesetz zu25 In den strafrechtlichen Debatten unterscheidet man zwischen dem Legalitäts- und dem Opportunitätsprinzip. Während das erste Prinzip zur Verfolgung einer Straftat zwingt, lässt das zweite Prinzip die Möglichkeit zu, eine Straftat nicht zu verfolgen (dazu etwa Hoffmann-Riem, Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, Frankfurt / Main: Suhrkamp 2000, S. 80). 26 Um komplett zu sein, könnte man hier auch die Nicht-Verfolgung von sogenannten Bagatelldelikten erwähnen. Man könnte den Willen der Staatsanwaltschaft, die Täter bestimmter Vergehen nicht zu verfolgen, als eine informelle Amnestie betrachten (so etwa Ntsebeza, „The legacy of the TRC“, in: Villa-Vicencio / Doxtader [eds.], The provocations of amnesty, Trenton [N.J.]: Africa World Press 2003, S. 19). Für eine Übersicht über alle jene Fälle, in denen der Staat auf die Bestrafung verzichtet, siehe Campagna, Strafrecht und unbestrafte Straftaten. Philosophische Überlegungen zur strafenden Gerechtigkeit und ihren Grenzen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007. 27 Nicht unbedingt nach dem Buchstaben, aber doch nach dem Geist dieses Prinzips. 28 Hierzu Jankélévitch, L’imprescriptible, Paris: Editions du Seuil 1986. 29 So notiert Nippel hinsichtlich der Amnestie nach dem Peloponnesischen Krieg: „Insgesamt haben die siegreichen Demokraten eine […] außerordentliche Mäßigung gezeigt, die nicht nur vorteilhaft vom Verhalten nach 411 abstach, sondern noch viel mehr von dem, was in griechischen Poleis sonst nach Bürgerkriegen üblich war, in denen die unterlegene Partei im Regelfall mit Hinrichtungen, Exilierungen und Vermögenskonfiskationen im großen Stil zu rechnen hatte“; Nippel, „Bürgerkrieg und Amnestie: Athen 411 – 403“, in: Smith / Margalit (Hrsg.), (Fn. 6), S. 117. 30 So weist Dieter Simon darauf hin, dass der Adressat der Amnestie durchaus der Amnestierende selbst sein kann; Simon, „Verordnetes Vergessen“, in: Smith / Margalit (Hrsg.), (Fn. 6), S. 29.

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widerzuhandeln, noch darf man sich damit begnügen, ihnen einfach den Weg zu dem abzuschneiden, zu dem sie sich berechtigt fühlen – sprich den Weg zu den Gerichten –, sondern es muss ihnen auch gezeigt werden, dass es gute – und das Wort ist hier durchaus in einem normativen und nicht bloß in einem rein pragmatischen Sinn zu verstehen – Gründe für die Amnestie gibt.31 In manchen Fällen ist eine Amnestie eine conditio sine qua non für eine Machtübergabe und den damit zusammenhängenden Regimewechsel. Diejenigen, die die Macht besitzen und während Jahren oder Jahrzehnten verbrecherische Handlungen begangen haben – von Entführungen über Folter bis hin zu Ermordungen –, sind nur dann bereit abzutreten, wenn ihnen Straffreiheit gewährt wird. Die Amnestie erscheint dann als notwendiges Mittel, um überhaupt einen Rechtsstaat aufbauen zu können bzw. um den Regimewechsel relativ schnell vollziehen zu können und damit nicht noch das Opfer zahlreicher Menschenleben in Kauf nehmen zu müssen. Hätten die Delegierten des African National Congress den Machthabern keine Amnestie zugestanden, dann wäre es nicht so schnell zu einem Machtwechsel gekommen, und der Bürgerkrieg hätte sich noch über Jahre erstrecken können.32 Die Ermöglichung des Aufbaus eines Rechtsstaats erscheint somit als Grund für die Amnestie. Die Amnestie kann hier als Preis für die schnellere Errichtung des Rechtsstaats gesehen werden.33 Im Falle Südafrikas kommt noch ein anderes Element hinzu, nämlich die Aufdeckung der Vergangenheit. Die Gewährung einer Amnestie war dort nämlich an die Bedingung geknüpft, Auskunft über die begangenen Verbrechen zu geben, und etwa mitzuteilen, wann und wo man einen politischen Gegner hingerichtet und seine Leiche begraben oder sonstwie zum Verschwinden gebracht hat. Ohne die Versicherung der Straffreiheit hätten die Täter diese oft, besonders für die Verwand31 Schätzler schreibt: „Eine Zweckangabe [beim Amnestiegesetz – N.C.] ist idR entbehrlich, wenn der Zweck offensichtlich und die Öffentlichkeit hinreichend informiert und vorbereitet ist“; Schätzler (Fn. 4), S. 212. Die Offensichtlichkeit des Zweckes ist eine Sache. Eine andere Sache ist die als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes eingesetzte Amnestie. Mag auch die Amnestie ein „technisch“ geeignetes Mittel zur Erreichung des Zwecks sein, so bedeutet das noch nicht, dass sie auch ein moralisch geeignetes Mittel ist bzw. ein Mittel, das ein Rechtsstaat seinen Bürgern zumuten darf, ohne diejenigen Grundgüter zu verletzen, die er ihnen schuldet. 32 „Without the compromise on amnesty, the bitter conflict between the government and the resistance movements undoubtedly would have continued with many more human rights violations and the deaths of added thousands“ (Graybill, Truth and reconciliation in South Africa. Miracle or model?, Boulder: Lienne Rienner Publishers 2002, S. 163). 33 Man sollte in diesem Zusammenhang nicht nur den Frieden sehen, den man durch eine Amnestie erreichen kann, sondern auch die Tatsache, dass dieser Frieden eine Bedingung für die Einrichtung eines Rechtsstaats ist. Wenn Nigel Biggar demnach von einer „tension between the moral demands of justice and the political requirements of peace“ spricht (Biggar, „Burying the past: Making peace and doing justice after civil conflict“, in: Societas Ethica [Hrsg.], Jahresbericht 2000. Vergangenes Unrecht vergeben?, Aarhus o.D., S. 141), dann vergisst er zu sagen, dass der Frieden nur insofern wertvoll ist, als er die Möglichkeit gibt, eine moralische Forderung nach Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen.

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ten der Opfer, wichtigen Informationen nicht preisgegeben. In diesem Fall ist die Amnestie „a price many victims had to pay in order to know some of the truth of their horrendous past“34. Einen anderen möglichen Rechtfertigungsgrund für die Amnestie findet man besonders in solchen Situationen, in denen es sehr viele Schuldige gibt und keine realistische Aussicht besteht, ihnen allen in einem vernünftigen Zeitraum den Prozess zu machen bzw. sie zu bestrafen, wenn ihre Schuld festgestellt wird. Wie es Levinson treffend bemerkt: „[T]he formal legal system has a problem with high numbers“35. Im Falle Ruandas hat man zum Beispiel ausgerechnet, dass es zwei Jahrhunderte gedauert hätte, bevor man allen Beteiligten den Prozess gemacht hätte.36 In einer solchen Situation weiß man von Anfang an, dass es faktisch unmöglich sein wird, jeden vor Gericht zu bringen. Man kann dann gewissermaßen aus der Not eine Tugend machen, indem man die faktische Unmöglichkeit zu einer rechtlichen macht. Im Falle der bloß faktischen Unmöglichkeit werden einige vor Gericht kommen, während dies für andere nicht der Fall sein wird.37 Aus der Gerechtigkeit wird dann eine Art Lotterie und vieles wird von zufälligen Bedingungen abhängen. Die Amnestie ist dann eine unter vielen möglichen Alternativen zu „Western-style trials“38. Ein weiterer Rechtfertigungsgrund bezieht sich auf die Tatsache, dass bei einem Regimewechsel oft die Gefahr von reinen Racheprozessen besteht, von Prozessen, bei denen es nicht so sehr darum geht, gerechte Urteile zu fällen, als möglichst viele Schuldige so hart wie möglich zu bestrafen39. Durch die Amnestie kann solchen Prozessen vorgebeugt werden und damit auch die Gefahr abgewendet werden, dass 34 Boraine, „Truth and reconciliation in South Africa. The third way“, in: Rotberg / Thompson (eds.) Truth vs. Justice. The morality of truth commissions, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2000, S. 150. 35 Levinson, „Trials, commissions, and investigating committees. The elusive search for norms of due process“, in: Rotberg / Thompson (eds.), (Fn. 34), S. 220. 36 Hiedu Moghalu, „Reconciling fractured societies: An African perspective on the role of judicial prosecutions“, in: Thakur / Malcontent (eds.), From sovereign impunity to international accountability. The search for justice in a world of states, Tokyo / New York / Paris: United Nations University Press 2004, S. 203. 37 So schreibt Ruti Teitel: „Selective prosecution policy can threaten the rule of law“ (Teitel, Transitional justice, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 40). Sarkin meint allerdings, dass „at least some prosecutions for human rights violations are necessary in transitional societies“; Sarkin, „To prosecute or not to prosecute?“, in: Villa-Vicencio / Doxtader (eds.), (Fn. 26), S. 239. Die Notwendigkeit ist hier symbolischer Natur: Das neue Regime muss zeigen, dass es (a) keine Angst vor den Mächtigen der Vergangenheit hat und (b) prinzipiell gewillt ist, Strafgerechtigkeit walten zu lassen. 38 So Ratner / Abrams, Accountability for Human Rights atrocities in International Law, Oxford: Oxford University Press 2001 (2. Auflage), S. 184. 39 „The more unfavourable the balance of power for the elite of the old regime, the more probable that trials and administrative purges will be arbitrary“; Barahona de Brito e.a., „Conclusion“, in: Barahona de Brito e.a. (eds.), The politics of memory, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 305.

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der neue Justizapparat gleich schon am Anfang in ein schlechtes Licht gerät40. Wie Rama Mani festhält, ist das Nichtstattfinden eines Prozesses manchmal besser als das Stattfinden eines unfairen Prozesses41. Die Unfairness könnte dabei nicht nur darin bestehen, dass die Angeklagten im Schnellverfahren und ohne zureichende Beweise verurteilt werden, sondern auch darin, dass nur ganz bestimmte Personen vor Gericht kommen, nämlich diejenigen, die auf der „falschen“ Seite waren, also die Unterlegenen. Man stünde dann gewissermaßen vor einer Art faktischer Amnestie, da es nicht zu Strafverfolgungen gegen die Sieger kommt. In den eben genannten Fällen wird die gegebenenfalls mit der Amnestie assoziierte Ungerechtigkeit als die, wenn man so will, kleinere Ungerechtigkeit gesehen und insofern auch legitimiert. Lieber keine Prozesse als ungerechte Prozesse. Die Etablierung des Rechtsstaats, die Aufdeckung der Wahrheit und die Gerechtigkeit sind drei wichtige Güter, die man unter bestimmten Umständen nur um den Preis einer Amnestie haben kann42. Aber auch wenn wir ihre Wichtigkeit anerkennen, so könnte es doch ein ebenso wichtiges Gut geben, das ihnen entgegensteht und dessen Opfer den sich um den Preis einer Amnestie etablierenden Rechtsstaat von Anfang an mit einem Makel befleckt, von dem man sich der Rechtsstaat nicht mehr befreien kann.

IV. Rechtsstaat und Amnestie In diesem vierten und letzten Teil unseres Beitrags wollen wir uns der Frage zuwenden, ob und inwiefern ein Rechtsstaat ein Amnestiegesetz verabschieden kann und vor allem darf, ohne dadurch ein Gut zu verletzen, das ein Rechtsstaat respektieren muss, ohne automatisch aufzuhören, ein Rechtsstaat zu sein43. Dabei muss gleich gesagt werden, dass wir eine Position voraussetzen, die davon ausgeht, dass bei einer Rechtfertigung der Amnestie nur auf individuelle Interessen zu achten ist44. Wenn überhaupt, dann verletzt eine Amnestie höchstens die legitimen Interes40 In ein solches schlechtes Licht ist die internationale Strafjustiz Ende der 40er Jahre mit den Gerichtshöfen in Nürnberg und Tokyo geraten, von denen etwa Hans Köchler behauptet, es sei ihnen mehr um Rache als um Gerechtigkeit gegangen (Köchler, Global justice or global revenge?, Wien: Springer 2003, S. 150). Erinnern wir hier auch daran, dass Churchill vorgeschlagen hatte, die Hauptexponenten des Naziregimes nach ihrer Festnahme standrechtlich zu erschießen, diesen Vorschlag aber zurückzog, als Stalin ihm eine Liste mit 50 000 Namen überreichte; siehe Ahtisaari, „Justice and accountability: local or international?“, in: Thakur / Malcontent (eds.), (Fn. 36), S. xiii. 41 Mani, Beyond retribution, Cambridge: Polity Press 2002, S. 94. 42 Es gibt natürlich noch zahlreiche andere Rechtfertigungsgründe, wie etwa der politische Wille, die zerstörte Einheit wieder herzustellen, indem ein Schlussstrich gezogen wird – man spricht in einem solchen Fall oft von einer Schlussstrichamnestie. 43 Wir werden nicht auf die Frage eingehen, ob und inwiefern ein rechtsstaatliches Nachfolgeregime ein Amnestiegesetz respektieren muss, das von seinem Vorgängerregime verabschiedet wurde und durch das sich die Schuldigen sozusagen selbst amnestiert haben.

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sen bestimmter Individuen und nicht ein abstraktes transzendentes Prinzip, wie das der Gerechtigkeit45. Sollten alle betroffenen Individuen sich frei und ohne unter Druck gesetzt worden zu sein für das Prinzip einer Amnestie entscheiden, dann kann ihre Entscheidung nicht dadurch entlegitimisiert werden, dass sie als im Widerspruch zu einer transzendenten Gerechtigkeit stehend gekennzeichnet wird.46 Im ersten Teil dieses Beitrags hatten wir drei Güter genannt, die ein Rechtsstaat seinen Bürgern schuldet, und zwar die Sicherheit, die Gesetzmäßigkeit der öffentlichen Handlungen und den Respekt der Würde. Es muss dementsprechend untersucht werden, inwiefern diese Güter durch eine Amnestie tangiert werden können. Eine erste Bemerkung, die hier gemacht werden muss, ist, dass die Amnestie in manchen Fällen erst eine Situation zu schaffen erlaubt, in welcher die eben genannten Güter überhaupt wieder respektiert werden können. Oder anders formuliert: Die Amnestie ist manchmal die Bedingung der Möglichkeit für die Wiedereinführung des Rechtsstaates und der durch ihn garantierten Güter. In einem Terrorregime ist kein Platz für Sicherheit, Gesetzmäßigkeit und Respekt der Würde. Jedes Individuum lebt in der ständigen Angst vor dem gewaltsamen Tode, der willkürlichen Festnahme und der unwürdigen Behandlung. Durch den Regimewechsel kommt es zu einer Situation, in welcher man wieder in Sicherheit leben kann, in welcher man die begründete Meinung haben kann, dass man nicht der unberechenbaren Willkür ausgesetzt sein wird, und in der man als Mensch mit gleichen Grundrechten respektiert wird. Auf Grund des eben Gesagten könnte der Eindruck entstehen, als ob die in diesem Beitrag aufgeworfene Frage eigentlich gegenstandslos ist bzw. die Antwort auf sie derart evident ist, dass man sich nicht lange mit ihr zu befassen braucht. Ist eine Amnestie nicht eo ipso mit den Prinzipien eines Rechtsstaats vereinbar, wenn sie die Bedingung der Möglichkeit für die Errichtung eines solchen Rechtsstaats darstellt? Heiligt hier der erreichte Zweck nicht automatisch das eingesetzte Mittel? Bevor man diese Frage voreilig positiv beantwortet, sollte man sehen, ob nicht doch einige Probleme bestehen.47 44 Für eine Darlegung und Begründung dieser Position, siehe von der Pfordten, Rechtsethik, München: C. H. Beck 2001. 45 Was heißt überhaupt „Gerechtigkeit“: „Geschieht Gerechtigkeit, wenn die Schuldigen verurteilt, eingesperrt oder hingerichtet werden; geschieht Gerechtigkeit, wenn man weiß, wer den Opfern einen Schaden zugefügt hat; oder geschieht Gerechtigkeit vielleicht, wenn die neue Regierung anerkennt, dass ein Schaden zugefügt wurde und gegebenenfalls einen Schadensersatz in Geldform oder in anderer Form anbietet?“; Steeman, „Storia, verità e prospettive di giustizia in Birmania“, in: Flores (a cura di), (Fn. 23), S. 328. 46 Zu dieser Frage, siehe Campagna, „Réconciliation ou justice? Le problème de l’amnestie“, in: Revue de théologie et de philosophie, Volume 134, 2002, S. 353 – 368. 47 Ein Problem das hier nur am Rande erwähnt werden soll, ohne dass wir es weiter diskutieren, betrifft die Unschuldsvermutung. Im Falle einer Amnestie wird jedem Amnestierten automatisch die Identität eines Schuldigen verliehen. Damit wird die Unschuldsvermutung, ein zentrales Prinzip der rechtsstaatlichen Strafjustiz, verletzt. So etwa Ricot: „[W]er in den Ge-

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Hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit dürfte es keine größeren Probleme geben. Wir hatten gesehen, dass eine Amnestie prinzipiell in Gesetzesform auftaucht. Darin unterscheidet sie sich übrigens von der Gnade. Man begnadigt ganz bestimmte Personen, die im Gnadendekret nominell erwähnt werden, aber man amnestiert eine Gruppe von Personen, von denen im Gesetz nur allgemeine Merkmale genannt werden. Durch die Amnestie wird somit nicht nur eine Situation hergestellt, in welcher das Gesetz und nicht die individuelle Willkür herrscht, sondern die Amnestie nimmt selbst die Form eines Gesetzes und nicht diejenige einer willkürlichen Entscheidung an.48 Was die Sicherheit betrifft, so sollte man zwischen den Amnestierten und dem Rest der Bevölkerung unterscheiden. Wir hatten im vorigen Teil darauf hingewiesen, dass die Amnestie nichts Selbstverständliches ist und dass die natürliche Reaktion eines Opfers oder seiner Verwandten und Nahestehenden oft in der Rache besteht. Wie es Karol Modzelewski formuliert: „Selbst die Rachebegierde ist durchaus menschlich. In manchen Fällen ist sie unausweichlich, vielleicht sogar nützlich“49. Ein Rechtsstaat kann dieser Rachebegierde aber keinen freien Lauf lassen, und auch wenn es vom psychologischen Standpunkt aus gesehen durchaus verständlich ist, dass man jemanden peinigen und töten will, der sich grauenhafter Verbrechen an nahen Verwandten schuldig gemacht hat, so kann ein Rechtsstaat dies nicht zulassen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass eine Amnestie zu Racheakten führen wird. Insofern der Staat davon absieht, die Schuldigen zu bestrafen und damit den Opfern bzw. deren Verwandten nicht die Genugtuung gibt zu wissen, dass die Schuldigen leiden müssen – genauso wie sie, als Opfer oder Verwandte gelitten haben und noch nuss einer Amnestie kommt, ohne dass ein Schuldspruch über ihn ergangen wäre, und der sich tatsächlich für unschuldig hält, wird dieses Verzeihen als eine Schuldvermutung auffassen“ (Ricot, (Fn. 19), S. 58). Man findet auch bei manchen Autoren den Gedanken, dass durch die Amnestie ein fundamentales Recht der Amnestierten verletzt wird. Zu der Frage, ob es so etwas wie ein Recht des Schuldigen auf Bestrafung gibt, siehe Campagna, „D’un prétendu droit du coupable à la sanction pénale“, in: Institut Grand-Ducal (éd.), Actes de la section des Sciences morales et politiques, Volume XI, Luxembourg 2008, S. 9 – 34. 48 Sandrine Lefranc sieht allerdings ein mögliches Problem: „Die Amnestie, als Gesetz, welches das Gesetz außer Kraft setzt, ist emblematisch für eine Souveränität, der es an einem wirklich rechtlichen Fundament mangelt […]“ (Lefranc, Politiques du pardon, Paris: Presses Universitaires de France 2002, S. 93). Dass Gesetze Gesetze außer Kraft setzen können, widerspricht prinzipiell nicht dem Wesen eines Rechtsstaats. Gesetze sind Instrumente, durch die man bestimmte Werte schützen will, und wenn der Fall auftritt, dass ein bestimmtes Gesetz diesen Zweck nicht mehr angemessen erfüllen kann, dann steht es dem Gesetzgeber durchaus zu, das Gesetz außer Kraft zu setzen, vorausgesetzt, es geschieht durch ein neues Gesetz. Hier sei auch angemerkt, dass bei der Anwendung eines Amnestiegesetzes Platz für Willkür ist. Wenn etwa, wie im Falle Südafrikas, man nur in den Genuss einer Amnestie kommt, wenn man bei der Aufdeckung der Wahrheit mithilft, muss in jedem Einzelfall darüber befunden werden, ob der Betreffende genügend mitgeholfen hat. 49 Modzelewski, „Lo studio del totalitarismo: comprendere o giudicare?“, in: Flores (a cura di), (Fn. 23), S. 136.

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leiden –, können die Opfer oder deren Verwandte die Bestrafung selbst in die Hand nehmen.50 Und je weniger etabliert der neue Rechtsstaat ist, umso größer wird diese Gefahr sein.51 Eine Amnestie kann demnach eine Situation der Unsicherheit für die Amnestierten schaffen. Durch sie droht die Selbstjustiz, deren Ende die staatliche Strafjustiz einläuten sollte, wieder zu erwecken.52 Will er diese Gefahr bannen, muss der Rechtsstaat gegebenenfalls den möglichen „Zielscheiben“ einen erweiterten Schutz gewähren. Doch abgesehen davon, dass dies schwierig sein kann, vor allem dann, wenn der gesamte Polizeiapparat neu organisiert werden muss, stellt sich noch das zusätzliche Problem, dass die Opfer nicht verstehen werden, warum man riesige Mengen Geld zum Schutz von Verbrechern ausgibt. In diesem Zusammenhang ist Platz für den Diskurs des Verzeihens und Vergebens: Wer seinem Feind verziehen hat, wird sich nicht mehr an ihm rächen wollen. Kommen wir dann schließlich zum dritten Grundgut, das ein Rechtsstaat seinen Bürgern schuldet. Charles Barton bringt dieses Grundgut zum Ausdruck, wenn er schreibt: „[L]egal systems must grant victims the right to fair retributive justice, as well as a corresponding right to show leniency and mercy as they see fit in their own cases“53. Und dies muss geschehen, so Barton weiter, damit die Opfer ihren Selbstrespekt wiedergewinnen können. Durch das Verbrechen sind die Opfer in ihrem Selbstrespekt geschädigt worden54, und ihre Rachebegierde – die, so Barton, durchaus frei von Hass sein kann55 – ist als Reaktion auf diese Schädigung zu sehen. Durch die Bestrafung der Täter kann diese Rachebegierde gestillt werden, und das Opfer kann – vor allem dann, wenn es aktiv an der Prozedur beteiligt war – seinen Selbstrespekt wiedergewinnen. Eine Amnestie könnte unter diesen Umständen einer Wiederherstellung des Selbstrespekts im Wege stehen. Der Schutz des Selbstrespekts ist aber, wie wir im ersten Teil des Beitrags gesehen haben, ein Grundgut, das der Rechtsstaat schützen soll. Durch die Amnestie könnte der Staat die Wieder50 So meinte der vorige Generalsekretär der UNO, Boutros Boutros-Ghali: „Wenn es zu keinem fairen Prozess kommt, dann bleiben die Rache- und Hassgefühle wach, und sie werden sicherlich früher oder später explodieren und neue Gewalttaten hervorrufen“ (zitiert in: Hazan, La justice face à la guerre, Paris: Stock 2000, S. 76). Interessant ist hier, dass Boutros-Ghali nicht nur von Prozessen spricht, sondern von fairen Prozessen. Das Fehlen von Prozessen überhaupt könnte den Hass der Opfer provozieren, und das Fehlen fairer Prozesse könnte den Hass der Täter und ihrer Anhänger auf das neue Regime fördern. 51 In Italien ist es kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu ungefähr 10 000 summarischen Hinrichtungen gekommen; Krainz, „La giustizia sommaria in Italia dopo la seconda guerra mondiale“, in: Flores (a cura di), (Fn. 23), S. 162. 52 Siehe hierzu auch Goldstone, „Frieden und Gerechtigkeit – Ein unvereinbarer Gegensatz?“, in: Smith / Margalit (Hrsg.), (Fn. 6), S. 38. Dazu auch Wilson, The politics of truth and reconciliation in South Africa, Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 155 ff. 53 Barton, Getting even, Chicago and La Salle: Open court 1999, S. xiv. 54 „When persons are wronged, they are not only made to suffer physically but are mentally scarred. The most injurious suffering is the damage to their sense of self-respect“; Bhargava, „Restoring decency to barbaric societies“, in: Rotberg / Thompson (eds.), (Fn. 34), S. 52. 55 Barton, (Fn. 53), S. 13.

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herstellung des Selbstrespekts verhindern, und diese Verhinderung könnte vom Opfer als eine weitere Verletzung des ihm geschuldeten Respekts betrachtet werden. Höffe bringt dies wie folgt zum Ausdruck: „Damit [die Opfer] nicht zum Mittel einer kollektiven Gnade missbraucht werden, müsste die Selbstaufhebung der Strafgerechtigkeit vom Opfer selbst, gegebenenfalls, wenn es getötet ist, von den ihm Nahestehenden ausgehen. Sie sind es, die dem jeweiligen Täter verzeihen müssten, und nicht die gar nicht unmittelbar Betroffenen“56. Höffe gebraucht hier die Sprache des Verzeihens. Dass nur die Opfer verzeihen können und dürfen, nicht aber die „gar nicht unmittelbar Betroffenen“, kann schon fast, mit Wittgenstein gesprochen, als eine grammatikalische Aussage betrachtet werden.57 Aber um Verzeihen im starken, moralischen Sinn des Wortes geht es hier nicht. Es geht hier lediglich um die Frage, ob man jemandem den Prozess machen soll und ob man ihn, je nach Urteilsspruch, bestrafen soll oder nicht. Ob man darüberhinaus verzeiht oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Aber Höffe hat in einem Punkt Recht: Die Opfer oder die Nahestehenden dürfen „nicht zum Mittel einer kollektiven Gnade missbraucht werden“ – wobei man „kollektive Gnade“ durch „Amnestie“ ersetzen kann. Insofern Höffe von einem Missbrauch spricht, wird er „nicht zum Mittel“ wahrscheinlich im Sinne von „nicht zum bloßen Mittel“ verstehen. Kant, dessen Schatten man hinter Höffes Formulierung erahnen kann, hat lediglich verboten, den Menschen bzw. die Menschheit in seiner eigenen Person als bloßes Mittel zu gebrauchen. Man kann den Menschen bzw. die Menschheit in seiner eigenen Person als Mittel gebrauchen, aber nur unter der Bedingung, dass man ihn bzw. sie immer zugleich auch als Zweck an sich selbst betrachtet. Und was von mir selbst gilt, gilt auch von meinen Mitmenschen: Es ist ihnen nicht verboten, mich auch als Mittel zu gebrauchen, nur dürfen sie niemals die Dimension der Selbstzweckhaftigkeit in mir leugnen. Diese Dimension der Selbstzweckhaftigkeit wird m. E. dann respektiert, wenn die Opfer oder deren Verwandte aktiv an der Gestaltung der neuen Gesellschaft teilnehmen können, was u. a. bedeutet, dass ihnen auch die dazu nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Sie sollten prioritär bei der Allokation dieser Mittel sein. Es bedeutet aber auch, dass die Opfer in ihrem Opferstatus anerkannt werden. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass Opfer bzw. deren nahe Verwandte ein besonderes Recht darauf haben, an der Neugestaltung der Verhältnisse mitzuarbeiten, dann muss der Opferstatus anerkannt werden. Und in manchen Fällen erfordert eine solche Anerkennung die Aussage des oder der Schuldigen. Insofern sollte eine Am-

56 Höffe, Gerechtigkeit, München: C. H. Beck 2001, S. 84. Für Südafrika stellt Graybill fest: „Women in particular were sacrificed for the greater good of nation building“; Graybill, (Fn. 32), S. 108F. Damit spielt sie auf die Tatsache an, dass viele Frauen nicht öffentlich aussagen wollten, Opfer einer Vergewaltigung geworden zu sein, und dass umgekehrt auch kein Täter eine Vergewaltigung vor der zuständigen Kommission zugeben wollte. 57 Solche Aussagen teilen uns etwas über die grundlegenden Regeln des Sprachspiels mit, in das ein bestimmter Begriff eingebettet ist.

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nestie nur denjenigen gewährt werden, die bereit sind, bei der Wahrheitsfindung mitzuarbeiten. Indem sie ihr Verbrechen zugeben, erkennen sie öffentlich die Opferidentität ihrer Opfer an und erlauben es diesen Opfern somit, ihr Recht auf Beteiligung an der Gestaltung der neuen Gesellschaft geltend zu machen. Aber verlangen die Opfer oder ihre Verwandten nicht nach einer Bestrafung der Täter? Hierzu schreibt Mangcu: „The desire for prosecution may have more to do with macro-concerns of the state and the legal profession, about issues of precedent and accountability, than it does with the micro-desires of individuals and families“58. Wie es auch immer um diesen „desire for prosecution“ bestellt sein mag, die Frage, die sich stellt, ist, ob man aus ihm ein Recht auf Verfolgung und gegebenenfalls Bestrafung ableiten kann,59 und zwar ein Recht des Opfers und / oder seiner Verwandten.60 Wir bestreiten die Existenz eines solchen Rechts61, behaupten aber, dass die Opfer und / oder ihre Verwandten durchaus ein Recht darauf haben, dass sie in ihrer Würde wieder hergestellt werden.62 Gleichzeitig behaupten wir, dass ein Rechtsstaat auch dazu verpflichtet ist, die möglichen, durch eine Amnestie provozierten Frustrationen des „desire for prosecution“ abzuschwächen oder zumindest zu kompensieren. Dem Opfer und / oder seinen Verwandten muss das Gefühl ver-

58 Mangcu, „Revisiting the TRC’s assumptions about racial healing“, in: Villa-Vicencio / Doxtader (eds.) (Fn. 26), S. 27. Schon Feuerbach meinte: „Durch die Strafe wird blos (sic) das Recht des Staats befriedigt, aber nicht das Recht des Beleidigten“ (Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil 1, Aalen: Scientia 1966 [Nachdruck der Ausgabe von 1799], S. 69). Zur Frage einer absoluten Strafpflicht des Staates, siehe Campagna, „L’État a-t-il un devoir catégorique de punir ?“, in : Bondolfi (éd.), Y a-t-il une peine juste? Dossier de la Revue de Théologie et de Philosophie, Vol. 141, S. 127 – 140. 59 Laut Garapon suchen die Opfer von Straftaten weniger die Bestrafung als den Prozess, da dieser es ihnen erlaubt, öffentlich als Opfer anerkannt zu werden (Garapon, „La justice reconstructive“, in: Garapon / Gros / Pech, Et ce sera justice. Punir en démocratie, Paris: Odile Jacob 2001, S. 263). Allerdings betont der Autor, dass der Prozess nur dann sinnvoll ist, wenn das Opfer aktiv daran beteiligt ist, und nicht nur als bloße Prozessangelegenheit. Siehe auch Garapon, Des crimes qu’on ne peut ni punir, ni pardonner, Paris: Odile Jacob 2002. 60 Und eine ähnliche Frage lässt sich im Zusammenhang mit der etwa von Höffe erwähnten Empörung stellen (Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1999, S. 35). Bestimmte Verbrechen lösen ohne Zweifel eine berechtigte allgemeine Empörung aus, und es besteht auch kein Zweifel darüber, dass man dieser Empörung, insofern sie berechtigt ist, Rechnung tragen muss. Ob dies aber nur dadurch möglich ist, dass man die Empörung damit zur Ruhe bringt, dass man die Schuldigen bestraft, sollte zumindest kontrovers diskutiert werden, anstatt einfach als unhinterfragbare Evidenz akzeptiert zu werden. 61 Man kann seine Existenz höchstens im Rahmen einer präventiven Straftheorie behaupten. Insofern die Bürger ein Recht darauf haben, in einer sicheren Gesellschaft zu leben, einer Gesellschaft, in welcher sowohl ihre körperliche als auch ihre moralische Integrität geschützt werden, und insofern die Umsetzung der strafrechtlichen Drohungen notwendig ist, um eine sichere Gesellschaft herzustellen und zu bewahren, kann ein abgeleitetes Recht auf Bestrafung behauptet werden. 62 Kiss erwähnt „victims of injustice, who assert that their dignity will be restored only if they see their victimizers punished“; Kiss, „Moral ambition within and beyond political constraints. Reflections on restorative justice“, in: Rotberg / Thompson (eds.), (Fn. 34), S. 83.

Der Rechtsstaat und das Problem der strafrechtlichen Amnestie

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mittelt werden, dass ihr Leiden ernst genommen wird und dass man darum bemüht ist, eine angemessene Antwort auf dieses Leiden zu finden. Gleichzeitig soll ihnen verständlich gemacht werden, dass man ihren, wie Mangcu ihn nennt, „desire for prosecution“ durchaus versteht. Wichtig ist auf jeden Fall, dass der Opferstatus anerkannt wird – ohne die Opfer allerdings auf diesen Status zu reduzieren bzw. sie in diesem Status festzuschreiben –, denn nur wenn die Opfer – und man kann die Verwandten durchaus als indirekte Opfer betrachten – identifiziert sind, weiß man, wem gegenüber man die nötigen Schritte in die Wege leiten muss, um das Selbstwertgefühl der Betroffenen wieder herzustellen und sie wieder voll in die politische Gemeinschaft zu integrieren.63 Das impliziert u. a., dass man nur denjenigen Individuen eine Amnestie gewähren sollte, die sich an der Wahrheitsfindung beteiligen, wobei diese Wahrheitsfindung nicht bloß um ihrer selbst willen wichtig ist, noch, um die nationale Geschichte schreiben zu können, sondern auch und vor allem, damit alle Opfer als Opfer identifiziert werden können.64 In diesem Zusammenhang sollte auch die Kostenfrage angeschnitten werden. So schreibt etwa Leonard Mc Carthy: „Should the limited resources of the South African state be expended on trials when, for example, the demand for poverty relief is wanting to be addressed?“65. Es wäre an und für sich falsch, die Situation so darzustellen, als ob man hier das hohe und edle Ideal der Gerechtigkeit auf dem niederen Altar des Geldes opfern würde. Es geht hier vielmehr darum, ob man durch eine Maßnahme X das Selbstwertgefühl der Bürger besser fördern kann als durch eine Maßnahme Y.

Schluss Die Amnestie stellt den Rechtsstaat vor ein Problem, vor allem dann, wenn man den Rechtsstaat nicht nur unter dem Aspekt einer rein formalen Gerechtigkeit be63 „Officially recognizing the wrongs perpetrated against historically marginal, oppressed, or demonized groups is a necessary first step towards their inclusion as citizens“; Sieder, „War, peace, and memory politics in Central America“, in: Barahona de Brito e.a. (eds.), (Fn. 39), S. 189. Was hier von Gruppen gesagt wird, gilt auch für Individuen. Ähnlich Minow: „Reestablishing a moral framework, in which wrongs are correctly named and condemned, is crucial to restoring the mental health of survivors“; Minow, „The hope for healing. What can truth commissions do?“, in: Rotberg / Thompson (eds.), (Fn. 34), S. 245 – 6. 64 Wichtig ist auch, dass sich die Opfer trauen, sich als Opfer zu outen. Hier kann die Amnestie eine Rolle spielen: „[S]ince amnesty would be granted to perpetrators, victims needed not fear reprisal from speaking out“; Graybill, (Fn. 32), S. 164. 65 Mc Carthy, „Prosecutorial discretion“, in: Villa-Vicencio / Doxtader (eds.) (Fn. 26), S. 15. Das Jahresbudget des internationalen Gerichtshofs für Ex-Jugoslawien belief sich 2002 auf 111 Millionen US-Dollar; Andreopoulos, „Violations of human rights and humanitarian law and threats to international peace and security“, in: Thakur / Malcontent (eds.), (Fn. 36), S. 92.

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trachtet, der es lediglich um die strikte Legalität einer jeden staatlichen Handlung geht, sondern auch unter einem substantiellen Aspekt, der allein erklären kann, wieso man dem formalen Aspekt Wichtigkeit schenkt. Als Kern dieses substantiellen Aspekts haben wir die Würde identifiziert. In einem wohlgeordneten Rechtsstaat soll jeder Bürger die Meinung haben, dass er in seiner Selbstzweckhaftigkeit anerkannt und nicht als bloßes Mittel betrachtet wird, das man nur solange duldet, wie man es gebrauchen kann. Er muss sich wieder als Person, und zwar in allen relevanten Dimensionen seiner Persönlichkeit, betrachten können.66 Diese Rekonstruktion der Person sollte immer im Zentrum stehen, und anstatt sich darauf zu konzentrieren, den Opfern die Genugtuung zu geben, dass die Schuldigen bestraft wurden, sollte man einen viel größeren Wert darauf legen, den Opfern einen relevanten Einfluss auf die Entwicklung der neuen Gesellschaft zu geben, was vor allem durch „reparatory schemes“ geschehen sollte,67 also durch Projekte, in denen den Opfern die Möglichkeit gegeben wird, sich trotz fehlender Bestrafung der Schuldigen als vollwertige und gleichberechtigte Bürger der neuen politischen Gemeinschaft zu fühlen und in dieser Gemeinschaft eine Rolle zu spielen oder einen Platz einzunehmen, der ihnen in der überkommenen Gemeinschaft untersagt war.

Summary According to many authors, the practice of amnesty is incompatible with the rule of law (Rechtsstaat), since an amnesty amounts to a denial of justice and rule of law demands that justice be done. The aim of this paper is to show that such an incompatibility is not as evident as it seems to be. The paper begins with a presentation of three basic goods a Rechtsstaat owes its citizens: protection against violence, the guarantee that law and not arbitrary will reigns in the political institutions, and the feeling of being respected as a full and equal member of the political community. Before showing, in the final chapter, that amnesty is compatible with the protection of these goods, I first discuss the notion of amnesty, showing that we should bracket the pathos of forgiveness often associated with amnesty as well as the idea of oblivion, and concentrate on the fact that an amnesty means the absence of criminal prosecutions and that in this sense it has an analogy with prescription. This conceptual discussion is followed by a brief overview of some ethical – and not merely political – reasons justifying amnesties. 66 Wilson meint: „An important impediment to the resuscitation of the legal person has been the historical inability of the justice system to carry out prosecutions of human rights violations“; Wilson, „Justice and legitimacy in the South African transition“, in: Barahona de Brito e.a. (eds.), (Fn. 39), S. 201. Genauso wichtig ist aber die Tatsache, dass die Opfer ganz oft auch unter dem neuen Regime keine wirkliche Möglichkeit haben, ihre Rechte zu behaupten, da sie auch im neuen Regime kein wirkliches Mitspracherecht haben und der Gang zu den Gerichten für sie oft finanziell unerschwinglich ist. 67 „Reparatory schemes lend victims a restored juridical and political standing“; Teitel, (Fn. 37), S. 137.

State Recognition between Justice and Efficiency Frank Dietrich I. Introduction1 Surprisingly, the problem of state recognition has as yet been hardly discussed by the philosophy of international law. Only Allen Buchanan, in his essay “Recognitional Legitimacy and the State System” as well as in some other works, has dealt with the topic in more detail (Buchanan 1999; 2000; 2004, 261 – 288). His considerations, which will be discussed in the following, have not provoked many critical reactions, however. To my knowledge, only Chris Naticchia (2000 and 2005) defended a pragmatist account of state recognition against Buchanan. Up to the present day there has been no extensive debate on the ethical foundations of state recognition. As a consequence, important aspects of its regulation in international law have not been adequately addressed. The question of the recognition or non-recognition of a territory as a state is not only at the heart of various current conflicts, such as Kosovo. It is also of crucial significance for an analysis of international law in terms of justice theory. The moral relevance of state recognition can be illustrated by reaching back to an insight by Michael Walzer, formulated in his principal work “Spheres of Justice”. Speaking about individual societies, he writes: “The primary good that we distribute to one another is membership in some human community. And what we do with regard to membership structures all our other distributive choices …” (Walzer 1983, 31). The recognition of membership means an important preliminary decision concerning the distribution of all other societal goods. Only members of the distribution community are qualified to receive financial transfer, social security, or other benefits. Individuals without access to society have no claim to the goods it distributes or may at best be secondary recipients. Within the system of international law, membership decisions are made primarily at the level of state recognition. Most of all those political entities as being recognized as states are entitled to the rights 1 I received very useful feedbacks from the participants of the Global Justice and International Law Conference at Atlanta in September 2012, the audience of the Philosophical Colloquium at Humboldt University, Berlin, in November 2012, and the participants of the Wallenberg Symposium on Popular Sovereignty and Territory in Stockholm in January 2013. Furthermore, I am indebted to Mirko Wittwar for the translation of my talk on “The Ethics of State Recognition” at Atlanta and the proofreading of the here presented, thoroughly revised version.

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which are distributed as the specific good of international law. Insofar, the rules of state recognition that are enshrined in international law play a key role for the access to the community of law. Actually independent political entities which are not recognized by the international community of states suffer from grave disadvantages. First of all, they have no access to the fundamental rights international law grants to sovereign states. For example, they have no claim to protection of their territorial integrity or to non-interference with their internal affairs (Crawford 2006, 40 – 45). Furthermore, they have no access to the United Nations or to other international organizations which usually accept only states as members. They cannot establish diplomatic relationships to states refusing to recognize them, and they cannot make legally binding treaties with them. Typically, the legal insecurity and political isolation coming along with being collectively non-recognized also affect the investment climate as well as the economic development. Finally, the exclusion of political entities at the state level also results in exclusion at the level of individuals. As the people living in such entities do not have any internationally recognized citizenship, their freedom to travel is considerably restricted. Apart from the already mentioned relevance in terms of justice theory, collective non-recognition is of increasingly more practical relevance for international politics. Indeed, since the end of World War II the number of independent states has almost quadrupled. Currently the United Nations, with 51 member states at the time of their foundation in 1945, have 193 members. At the same time, however, the demands placed on those applying for membership with the international system of states have clearly been increased over time. As a consequence, a number of political entities which basically show the essential characteristics of states have not been recognized by the international community. Apart from historical precedents, such as Rhodesia and Transkei, a. o. Taiwan, Palestine, North Cyprus, Puntland, Transnistria, Abkhazia, North Ossetia and Kosovo may be given as examples. In the relevant literature, the term “quasi-state” or “de facto state” – to delimit them from “de jure state” – has become common for these political entities (Rywkin 2006). In the following I will speak of a “quasi-state” or “de facto state” if a political entity meets two conditions. First, there must be the typical features of a state, such as its own territory and efficient governmental power (see Section 2.1). Second, a sufficient number of states, and influential ones among them, must refuse recognition, so that access to the United Nations and other important organizations is blocked. Non-recognition without exception seems to be too strong a criterion, insofar as usually quasi-states have one or more protecting powers maintaining regular diplomatic relationships with them. For example, Turkey has recognized the Republic of North Cyprus, and Russia as well as some of her allies, such as Nicaragua and Venezuela, have recognized South Ossetia.2 2 Some authors label political entities as quasi-states that are legally recognized but unable to make use of their sovereignty rights because they depend economically on the support of other states (Erskine 2001).

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Two more delimitations seem to be helpful for a better understanding of the category of the quasi-state. First, the term “quasi-state” and the term “failed state” must be carefully distinguished from each other. A so called “failed state” – in contrast to a “quasi-state” – is internationally recognized, although it has lost its capability of fulfilling the essential tasks of a state (Kolstǿ 2006, 724 – 725). Second, there is a difference between a state being recognized by the international community and the recognition of its ruling government. If a government which has come to power e.g. by way of a military coup is not recognized, the state’s international status remains untouched. Thus, a lack of a government which is considered legitimate and might unrestrictedly take part in international affairs is not sufficient for classifying a political entity as a quasi-state. The following analysis starts out from a reconstruction of the essential international rules for state recognition. At first, the essential elements of classical state definition and the most important ways of understanding the international significance of the act of recognition will be explained (2). Then current trends of international law which connect state recognition to normative standards will be sketched. In this context, also the arguments will be discussed which were proposed by Buchanan to justify the more recent developments (3). In the then following section several questions raised by Buchanan’s concept will be critically analyzed. Most of all three objections must be discussed which might be brought forward against a “moralization” of state recognition. Objections might be raised concerning the unequal treatment of established vs. new states, the need to compromise legitimacy standards for recognition to ensure the efficiency of international law, as well as disagreement among the international community on normative questions (4). As a conclusion, the most important results of the analysis will be shortly summarized (5).

II. State recognition in international law For the literature on international law the recognition of states became a topic only after the beginning of the 19th century. For the classical theories of international law, which unfolded their arguments within a natural law frame, the status of a political entity was still irrelevant. Those norms as being derived from natural law were considered binding for every international actor – independent of statehood. Only by international law becoming more oriented at legal positivism in the course of the 19th century, the question if a political entity might be classified as a state gained crucial importance (Alexandrowicz 1958). According to the legal positivist point of view, international law is a legal system which has been established by the states themselves, to organize their mutual relationships. Thus, its norms may claim validity only for political entities which have been recognized as states through a valid legal act.

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1. Defining states In the context of modern international law the will of states, which becomes manifest both by treaties and by their actual behavior, must be considered the primary source of law. Consequently, the essential characteristics of a state must be based on contractual provisions or on customary law. The Montevideo Convention from 1933 has to be considered the most relevant legal source for the definition of statehood. In Art. 1 it gives four criteria any political entity has to meet: “The State as a person of international law should possess the following qualifications: (a) a permanent population; (b) a defined territory; (c) government; and (d) capacity to enter into relations with other states.” The first criterion does not place any specific demand on the size of the population living constantly in the territory of a state. For example, doubtlessly the island kingdoms of Tuvalu and Nauru in the Pacific Ocean are considered states, although each of them has only about 10,000 inhabitants. Furthermore, to qualify as a state population it is not necessary to exhibit a certain degree of national or cultural homogeneity. Also the second criterion does not place any particular demand on the size or cohesion of the territory where a state has national jurisdiction. On the one hand, the statehood of Monaco, whose territory covers only 1.5 km², is undisputed these days. On the other hand, a high degree of fragmentation, such as e.g. in the case of the Marshall Islands, or far away exclaves such as Alaska or Hawaii, is no obstacle for being recognized as a cohesive state. The third criterion, that of government, refers to the existence of an effective political authority. A government must be considered effective if it is capable of enforcing the state’s legal order in the entire territory and towards all groups of the population. The question of effectivity is of practical significance particularly for the recognition as states of newly developed political entities. A loss of control over individual parts and even the complete disintegration of state structures (“failed state”) does not automatically affect a state’s international legal status. The effectivity of a government is an important precondition also for a state’s capability of establishing diplomatic relations to other states. The fourth criterion gains a significance of its own only if it is interpreted as independence of other actors. Thus according to the current understanding, only those political entities as being capable of acting independently are able to participate in international relations. The independence of a political entity may be doubted for formal reasons, e.g. if its right of sovereignty is contractually restricted. On the other hand, the independence of so called “puppet states” may be denied if their foreign policy is considerably dependent on the will of another state (Aust 2005, 16 – 21).3

3 A classical example of the non-recognition of a “puppet state” is the international reaction to the creation of Manchukuo in 1933 (Crawford 2006, 78 – 88).

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2. International law theories on state recognition In the context of the modern debate on international law, two positions have developed which judge differently on the significance of state recognition. According to declaratory theory, a recognition granted to a newly developed entity by already established states has no legal effect. The existence of a state’s rights and duties depends exclusively on a political entity meeting the above mentioned criteria. By granting recognition, the respective state only declares its belief that the conditions of statehood have been met and that it is ready to establish diplomatic relations (Brownlie 2008, 85 – 89). Such a recognition is of practical relevance particularly if it is debated if a political entity meets the essential criteria. In such a case the established states signalize by the act of recognition their belief that the preconditions in question have been met. This function of state recognition is important insofar as international law does not know any other institution which might decide if the objective characteristics of statehood have been met. However, according to declaratory theory, recognition or non-recognition by the community of states is irrelevant for the international legal status of a political entity. In terms of international law, a political entity may be a state even if the international community in its entirety or its majority refuses state recognition. On the other hand, if a political entity is granted rights to which it is not entitled according to international law, state recognition may even happen erroneously. In contrast to declaratory theory, constitutive theory considers state recognition to be of essential significance for the international legal status of a political entity (Kelsen 1941). According to its supporters, the fact that the above-sketched criteria have been met is not sufficient for having the rights and duties of a state. In terms of international law, a political entity may be considered a state precisely if the international community of states grants the necessary recognition. According to constitutive theory, established states may claim some discretion when it comes to the recognition of newly developed entities. Insofar, this theory is in congruence with the legal understanding expressed by the actual recognition behavior of most states. Usually, states assume to be entitled to independently decide about the recognition or non-recognition of other political entities, which considerably influences the latter’s international legal status. However, in contrast to declaratory theory, constitutive theory is necessarily confronted with the problem of partial recognition (Worster 2009, 120 – 121). If states have some leeway in deciding about the recognition of new actors, contradicting estimations cannot be avoided. The effects of a deep rift in the international community over questions of recognition on the international legal status of the respective entity is mostly unclear.

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III. The “moralization” of state recognition 1. How the recognition practice has changed Particularly since the second half of the 20th century the actual practice of recognition has not been exclusively oriented at the above given Montevideo criteria. In a considerable number of cases de facto states have not been legally recognized by the international community. Such a refusal of recognition may sometimes be due to strategic reasons of influential states or alliances of states. Apart from this, however, legitimation standards are more strongly taken into account when it comes to the recognition of newly developed political entities (Crawford 2006, 96 – 173; Ryngaert / Sobrie 2011). In addition to stating that the criteria for statehood have been met, recognition is increasingly connected to meeting fundamental principles of international law. On the one hand, obstacles for the recognition of quasi-states may result from the way in which they have developed. On the other hand, there may be reservations against recognizing them if their rule over the population contradicts essential goals of international law. Basically, the development of a new state may show two flaws, which might lead to a complete or partial refusal of recognition. The first group of cases refers to violent intervention by third-party states, thus violating the ban on aggression expressed by Art. 2.4 of the Charter of the United Nations. One important example is the creation of North Cyprus in 1974, which became possible only by Turkey’s military intervention. Due to the territorial integrity of the Republic of Cyprus being violated by force, the international community of states has stayed away from recognition (Talmon 2006, 48 – 60). In the context of military interventions, however, there are also often doubts concerning the independence of a newly developed political entity. Insofar, concerns if the fourth one of the above-explained descriptive criteria for statehood has been met may contribute to non-recognition. The second – numerically more important – group of cases concerns political entities which have been created by irregularly claiming the right to self-determination. For instance, Biafra or Transnistria have not been internationally recognized because their secession was considered an illegal violation of the territorial integrity of Nigeria or Moldavia respectively. The question of which groups of a population may be considered bearers of the right to self-determination is debated in the literature on international law (see Section 4.3). There is agreement only about the legality of independent states created in the course of decolonization. Beyond this, the secession of a sub-territory is undisputed only if the existing state – as recently in the case of South Sudan – has agreed. Up to now, the kind of rule which may be expected from a newly proclaimed de facto state has less seldom been a reason for its non-recognition. The collective refusal of a political entity which meets the descriptive characteristics of a state may be particularly related to it being of racist nature. The condemnation of apartheid is an important normative foundation of international law, which finds, among others,

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expression by the human rights documents. It was the incompatibility of racism to the normative-ethical goals of international law what made the international community stay away from state recognition for Transkei or other so called homeland states. Also in the case of Rhodesia it was the apartheid policy of its white minority population which formed a significant obstacle for recognition (Dugard 1987, 90 – 108). Apart from rejecting apartheid regimes, more recently the guaranteeing of democratic structures has become a focus of attention. The guidelines for the recognition of new states in Eastern Europe and in the territory of the former Soviet Union, agreed on by the members of the European Community in December 1991, are of particular significance. These guidelines demand more than just respect for the human rights from those political entities as having developed from the disintegration of the Soviet Union and Yugoslavia. Furthermore, they connect recognition as states also to the credible commitment to democratic principles (Radan 2002, 164 – 166). However, these guidelines only express an opinion held by an influential regional alliance of states as a reaction to the above mentioned events. Currently, the criterion of democracy is doubtlessly no general standard of international law when it comes to state recognition (Murphy 1999). Obviously, the constitutive theory of state recognition provides more favorable conditions for an explanation of the described development. If established states have some leeway for deciding about the recognition of new political entities, they are able to orient their decision not only at descriptive characteristics. They may use their discretionary power to additionally take normative criteria into account for their recognition behavior. Basically, however, the more recent developments may also be interpreted as being in accordance with declaratory theory. Then the legitimation standards must be understood to be facts of customary law which complete the Montevideo Convention. The act of recognition would have no effect on the legal status of the recognized political unit. The recognizing party would only express its belief that the descriptive and normative criteria for statehood have been met and that it is ready to establish diplomatic relations.

2. The philosophical justification In the context of the philosophy of international law, above all Allen Buchanan has dealt intensively with the topic of state recognition. In his works he explicitly welcomes the increased orientation at legitimacy standards with respect to newly created political entities. Buchanan demands that in the future only such political entities should be recognized as states which meet fundamental requirements of justice. In his opinion, a political entity may be considered to be “minimally just” if it meets the following three criteria. First, it must not have resulted from the impermissible usurpation of a territory which was part of a legitimate state. Second, the state seaking recognition must accept the basic human rights both of its own citizens

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and of the populations of other states. Third, there should be elementary democratic institutions, in particular parliaments with a minimum power of decision-making (Buchanan 1999, 52 – 63 and 2004, 266 – 281). It is important to note that the first criterion does not only focus on violent annexations by third-party states. The non-usurpation requirement is also directed against secessions from democratic states which grant important individual freedoms. According to Buchanan, minimally just states have a right to the territory over which they exert political power. Since a separation necessarily violates this right, a breakaway region’s claim to independence should not be legally recognized.4 However, the non-usurpation requirement does not apply to secessions from states that do not conform to basic principles of justice. If a newly created entity broke away from an unjust state and is itself prepared to respect human rights and democratic values, it deserves full legal recognition (Buchanan 2004, 275 – 276). In Buchanan’s opinion, a reform of international law which would make the above explained legitimacy standards definitely valid is urgently needed for two reasons. On the one hand, he states, it is morally reprehensible to support illegitimate political entities by granting them the rights of states if the latter e.g. violate the human rights of their populations. As the traditional concept is exclusively guided by descriptive criteria, these confront those parties as being called up to recognize with the demand to act immorally. Buchanan (2004, 270) writes: “… Recognition supports and enhances the ability of an entity that is awarded this status to wield political power, which includes coercion, within its territory. But supporting and enhancing the political power of an entity that is not morally justified in wielding that power amounts to being an accomplice in injustice, since the morally unjustifiable exercise of political power is itself an injustice.” On the other hand, in Buchanan’s view also consequentialist considerations suggest taking legitimacy standards into account. The collective non-recognition of political entities violating basic principles of justice, he argues, would in two ways provide reasonable incentives. First, political actors will be prevented from founding illegitimate states, as there would be no chance for international recognition. Second, for established states it will pay off if they respect elementary human rights and introduce democratic institutions, as only this way they will be protected from acts of legal secession. Insofar, the implementation of his recognition concept might considerably contribute to increasing the readiness of international actors to act according to moral norms. Since international law is lacking an efficient mechanism of sanctions, it must rely on the readiness of established states to comply voluntarily with its norms.

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For a detailed account of Buchanan’s theory of secession see Dietrich 2010, 104 – 120.

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IV. Three problems of the legitimacy conception 1. The application of “double standards” An immediate problem of the recognition concept suggested by Buchanan is the unequal treatment of established and newly constituted states. As explained in the previous section, the international recognition of new political entities is supposed to be connected to moral criteria. On the one hand, the entities concerned must not have been created illegitimately, i.e. by way of violent annexation or illegal secession. On the other hand, they must be expected to respect the human rights and to realize fundamental democratic principles. If a political entity does not meet one or several of these criteria, it should not be internationally recognized as a state. However, many established states themselves which are called up to refuse recognition do not meet the relevant legitimacy standards. For example, according to the prevailing opinion, in 1950 China illegally annexed Tibet and up to this day has made it subject to a repressive rule. Moreover, in China’s heartland the human rights are violated in many ways, and there are no serious attempts of democratic reform. According to Buchanan’s concept, this violation of legitimacy standards would have to result in withdrawing statehood and the rights connected to it. If China’s legal status remains untouched, obviously the established members of the community of states do not accept the same moral standards for themselves as they demand from newly developed political entities.5 A response to the accusation of “double standards” may be based on two arguments. On the one hand, one may refer to the historical change the international regulation of state recognition has undergone in the course of time. The established members of the community of states developed at a time when the question of legitimacy played no role or only a minor one. However, recognized states must be able to trust that they will not lose their legal status by retroactively applying new standards. Furthermore, their recognition has resulted in legal facts which cannot be easily ignored. Usually they have accepted a number of contractual obligations whose fulfillment requires their ongoing existence as legal entities. Legal security in international affairs will be considerably affected if individual parties lose their legal capacity as a result of withdrawing statehood. On the other hand, the practicability of a symmetric treatment of assigning and withdrawing statehood may be doubted. Currently the majority of recognized states do not meet demanding legitimacy standards, such as respecting democratic principles. Among those states as lagging behind normative expectations are influential political entities such as China or Russia. But the international legal order would be

5 In addition, if other members of the community of states are not prepared to withdraw recognition from China, they are exposed to Buchanan’s complicity charge. As Chris Naticchia (2005, 61) rightly observed: “(…) If recognizing unjust entities necessarily makes us accomplices in their injustices, then the justice-based and pragmatic account are partner in guilt.”

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doomed to insignificance if less than half of all states had a legal status and important actors were excluded. Insofar, there are also significant pragmatic reasons which speak against applying the above explained legitimacy criteria to established members of the community of states. For the above stated reasons, Buchanan clearly spoke out against touching the legal status of states which have developed illegitimately at some time in the past. He only considered the possibility to withdraw statehood from states which have become guilty of lasting and grave violations of the human rights. In a short statement on the problem of “double standards” Buchanan (2004, 278) expresses the following: “… Efforts to reform the practice of recognition should focus mainly on implementing the justice-based criteria for new entities that seek recognition as states (as in the many cases of secession we now see) and withdrawing recognition from those states that at present persist in massive violations of basic human rights.” The above stated arguments may explain why legitimacy criteria cannot (or only to very limited extent) be applied to established states. However, at best they illustrate why one way of avoiding “double standards” fails. Another possibility is considering only those legitimacy criteria in the context of recognition which, by and large, are also met by the established states. The question if, given the blatantly unequal treatment of de jure and de facto states, a “moralization” of the recognition practice can be justified cannot be answered by the above mentioned arguments. Furthermore, one must also consider how the privileging of established states affects those incentives which might influence the decision-making of political actors. Among others, taking legitimacy standards into account for state recognition is meant to prevent illegal secession. The prospect of not achieving international recognition is supposed to prevent separatist groups of a population from proclaiming their independence. If, however, established states cannot lose their legal status, at least in some cases there results another option for them. After secession they may unite with another state which has already been definitely recognized by the community of international law. For example, Abkhazia may put an end to its non-existence under international law by joining Russia. As the illegality of such a process would not affect Russia’s status, from then on it would be a part of a recognized state with unrestricted legal capacity. Similar considerations are basically true for all separatist conflicts if there exists a third party state which is ready to accept a separatist territory. Among others, South Ossetia, the Bosnian Republic of Srpska and Northern Ireland may be given as further examples. To be sure, the international community of states might refuse their recognition of Russia’s territorial sovereignty over Abkhazia and – as a legal fiction – go on considering it a part of Georgia. However, the legal effect of such a reaction would clearly be less grave than a collective non-recognition of statehood. At best, Russia would be prevented from making treaties which directly concern Abkhazia. But basically her ability to contract and to make alliances would not be questioned. Insofar, in a variety of ways Abkhazia might benefit from Russia’s international treaties. After such a union, also other typical problems of quasi-states could be solved, such

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as the statelessness of their citizens. Abkhazia’s population would be given Russian passports and could thus travel abroad without problem. The above described incentives contradict the declared intention of preventing illegal secession. Insofar as separatist groups are able to avoid the disadvantages of collective non-recognition by joining a recognized state, the threat of sanctions does not apply to them. Accordingly, the protection legitimate states are supposed to be guaranteed concerning their territorial integrity becomes less effective. On the other hand, however, also those groups of a population as striving for independence are unable to fulfill their desire to live in an independent state. Instead, they are driven to join an already established state which they consider to be – compared to the status quo – the lesser of two evils. 2. Compromising justice A closely connected objection to the “moralization” of state recognition has been raised by Chris Naticchia. According to Allen Buchanan (2004, 74 – 83), the realization of justice has to be considered the primary goal of the international legal order. By pursuing justice, international law also reduces potential causes of conflict and contributes significantly to the achievement of peace. In Buchanan’s view, the regulation of state recognition in international law should facilitate the attainment of both aims. However, the criteria determining the conferment of the legal status of statehood must be minimally realistic. As explained in the preceding section, the international legal system loses its efficacy if too many or too important political actors are excluded. It is a necessary precondition for the capacity of international law to achieve justice and peace (or any other goal) that most de facto existing states are subjected to its rules. In Naticchia’s view, the requirement to be realistic unavoidably affects the stipulation of legitimacy standards for the recognition of states. He states: “If the best theory of justice sets a standard of minimal justice that is high enough, then on the justice-based account, where minimal justice is required for recognition, only a few entities may qualify for recognition as states. If only a few entities qualify for recognition as states, though, then only a few entities will be entitled to participate in the process for formulating, abjudicating, and implementing international law. But if only a few entities are entitled to participate in these processes, that may make the pursuit of global peace and justice inefficacious. If so, then the requirement that our criteria for recognition be realistic dictates lowering our standard of minimal justice so that enough entities qualify for recognition as states to make the realization of peace and justice a genuine possibility. This suggests that pragmatic considerations – not the best theory of justice – drive the level of the minimum.” (Naticchia 2005, 36 – 37) Naticchia correctly observes that legitimacy standards for state recognition cannot be stipulated by purely justice-based considerations. Any realistic proposal to

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orient the recognition of newly created political entities at moral criteria has to take the efficiency of the international legal order into account. Therefore, the determination of legitimacy standards depends to some extent on factors which are unrelated to questions of justice. The normative requirements applicants for statehood must meet need to be adapted to the moral performance of other political actors. If many (or important) established states do not conform to fundamental principles of justice, the threshold for the recognition of new political entities has to be lowered accordingly. As a consequence, Allen Buchanan or other advocates of legitimacy accounts may be forced to compromise their normative standards. Since they must prevent the international legal system from becoming inefficient, they cannot avoid applying less demanding moral criteria. For instance, if China or other powerful actors are not prepared to respect minority rights, the legitimacy standards will reflect their failure. Most obviously, the need to compromise one’s normative criteria thwarts the aim of using state recognition as an instrument for promoting global justice. However, the application of lowered legitimacy standards may also have negative effects on international relations more generally. On the basis of a descriptive account of state recognition one may consistently criticize newly recognized political entities for violating crucial principles of justice. Since the act of recognition does not entail any judgment on the legitimacy of a state, its moral condemnation remains a viable option. For instance, one may plausibly refuse to accept a newly recognized state as a member of an important international organization, such as the European Union, on moral grounds. However, if the practice of state recognition is oriented at (compromised) legitimacy standards, accusing an established state of injustice becomes more difficult. According to legitimacy accounts, the act of recognition does not only confer the legal status of statehood, but also implies a positive moral assessment of the political entity concerned. Hence, it would appear contradictory to admonish a newly recognized state for its failure to conform to basic principles of justice. At first glance, the here discussed objection builds entirely on the accusation of “double standards” that I have explicated in the previous section. If the rules of state recognition had no bearing on the legal status of established states, the application of legitimacy standards would not lead to the exclusion of numerous (and influential) political actors. One might think that by providing a sound justification for the differential treatment of de facto states and de jure states one would also refute the above raised objection. Hence, it seems worth noting that inefficiency problems may as well arise if legitimacy criteria only pertain to new applicants for statehood. For instance, think of the collapse of the Soviet Union in 1991 that brought fifteen independent political units into being. If none of the newly created entities, Russia among them, had received recognition, the efficiency of the international legal order would have been significantly diminished. Therefore, it would have been impracticable, or at least highly problematic, to apply normative recognition criteria that the new political entities did not satisfy. Once again the legitimacy standards had to be

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compromised to prevent international law from becoming irrelevant for an important world region.

3. Normative dissent Another problem results from the necessity to achieve agreement among the international community on the criteria of recognition. The descriptive characteristics which have traditionally been decisive for recognition could easily be accepted as minimum conditions for statehood. If, furthermore, the international community of states will be able to reach an understanding about legitimacy standards is a question which needs further consideration. In the context of this study it is not possible to evaluate all normative criteria suggested by Buchanan. The following considerations will be restricted to cases of illegal secession which are supposed to result in a collective refusal of recognition. The unauthorized secession of sub-territories is of particular significance insofar as it is the most frequent cause of the development of quasi-states. In modern international law, in particular two norms are relevant for judging on cases of secession, which are obviously conflicting with each other. On the one hand, according to Art. 2.4 of the Charter of the United Nations, sovereign states have a right to their territorial integrity. On the other hand, by Art. 1.2 the Charter of the United Nations explicitly recognizes the principle of self-determination of peoples. After initially the scholars of international law had assumed the absolute primacy of territorial integrity, in the course of decolonization a different understanding has been established. As a considerable number of “colonial peoples” had been able to successfully realize their claim to independent statehood, self-determination had to be given more weight. As a consequence, the idea that secession in the context of decolonization must be considered legal has become generally accepted. However, restricting the right to self-determination to peoples living under colonial rule makes it irrelevant for any current situation. According to the general opinion, the period of decolonization must be considered to have come to an end since the 1970s. Thus, in the context of current conflicts separatist groups could not claim a right to self-determination. According to this, international law would have granted the possibility to proclaim an independent state only for a certain period of history. By the completion of the process of decolonization the right to self-determination would expire, and secession would have to be considered fundamentally illegitimate. However, the above explained understanding is connected to two fundamental difficulties which increasingly attract the attention of the science of international law. On the one hand, the question of under which conditions a group of a population is a colonial people has not been sufficiently answered (Pomerance 1982, 14 – 23). The oft-quoted “Salt Water Doctrine”, according to which the “mother country”

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and the colony must be separated by the sea, is hardly convincing. If, for example, one tries to explain why Chechnya or other Caucasus republics may not be considered Russian colonies, a more plausible reason must be given. On the other hand, it looks quite arbitrary to grant the possibility of legal secession only for a certain period in history. The relevant reasons why for colonial peoples their way towards independence was paved may also be relevant for other contexts. If so, categorically restricting the right to self-determination to the period of decolonization would not be vindicated. The latter point brings us to the question of which were the reasons why the international community of states granted colonial peoples a right to self-determination. Here a look at the “Declaration on the granting of independence to colonial countries and peoples”, passed by the General Assembly of the United Nations in 1960, may be instructive. The Declaration emphasizes the necessity to put an end to the suppression and exploitation of colonial peoples by foreign powers.6 The position concerning the legality of secession on which Buchanan bases his recognition concept connects to this idea. According to his opinion, secession may be considered legitimate only if it is used as a remedy for overcoming repressive rule (see Section 3.2). However, the suppression and exploitation of parts of a population is a phenomenon which, beyond the period of colonialism, may justify the foundation of new states still in our days. In addition, an understanding of self-determination which is not exhausted by overcoming repressive rule has become apparent more recently. For instance, in 1998 the Canadian Supreme Court decided that a majority vote of Quebec’s population in favor of secession could not be ignored. Despite the fact that the citizens of Quebec were not oppressed, their wish to break away from Canada would confer democratic legitimacy to their independence claim.7 Furthermore, the governments of some democratic states have declared their willingness to allow referenda in separatist regions. Most notably, Great Britain and Denmark seem prepared to accept a majority decision for full political independence of the Scots and the Greenlanders, respectively. Apparently they concede these groups – irrespective of any oppression – a right to pursue their particular societal and cultural ends in independent states.8 6 “The General Assembly … declares that: 1. The subjection of peoples to alien subjugation, domination and exploitation constitutes a denial of fundamental human rights, is contrary to the Charter of the United Nations and is an impediment to the promotion of world peace and co-operation” (Res. 1514 / XV). 7 “A clear majority vote in Quebec on a clear question in favour of secession would confer democratic legitimacy on the secession initiative which all of the other participants in Confederation would have to recognize” (Reference re Secession of Quebec). For a detailed discussion of the Supreme Court decision see Des Rosiers 2000. 8 Moreover, the advisory opinion on the independence of Kosovo rendered by the International Court of Justice in June 2010 did not mention any condition for a unilateral declaration of independence. To be sure, the Court deliberately left the question open whether Kosovo had a right to self-determination under international law. However, it stated that “general international law contains no applicable prohibition of declarations of independence. Accordingly,

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On the whole, there result three readings of the right to self-determination, coming along with different ideas of the legitimacy of secessions. First, the recognition of new states may be considered a special regulation for a certain period of history, as a reaction to the specific challenges of colonialism. Second, the right to secession may be understood as a kind of right to resistance, giving a population the authority to evade repressive kinds of rule. Third, one may assume a basic right for all peoples to realize their respective social and cultural objectives via a state of their own. Both in the science of international law and among the international community of states the debate on the above mentioned interpretations has not come to an end. Thus, in the foreseeable future we may not expect the development of a common understanding of the right to self-determination. Insofar we must envisage contradictory judgments if normative criteria will be taken into account for recognition. As a consequence, newly developed political entities will often be only partly recognized and will – as recently Kosovo – become objects of permanent dispute.9

V. Conclusion The here presented analysis shows how difficult it is to judge on the proposed reform of state recognition in international law. On the one hand, Buchanan may refer to two weighty arguments supporting the idea that normative criteria should be taken into account. Both the desire to avoid “complicity” with illegitimate regimes and the goal of providing ethically reasonable incentives make moving away from a purely descriptive approach look necessary. On the other hand, however, three grave problems could be identified which raise doubts about Buchanan’s suggestion for a reform. The application of different normative criteria to both established and newly created states, the possible need for compromising fundamental principles of justice, as well as the difficulty to reach agreement among the international community over important legitimacy standards have to be considered serious deficiencies of his account. It seems clear that the “moralization” of state recognition will not necessarily bring results which are morally desirable. Given the contradicting arguments, the future form of the rules of international recognition still requires an intensive philosophical debate. On the whole, however, we may assume that we must be much more careful with introducing normative elements than suggested by Buchanan’s concept. A possible compromise may be guided by the following considerations: In response to the problem of normative dissent, non-recognition may be restricted to legitimacy criteria on which the international community widely agrees. Most importantly, there seems to be not much [Kosovo’s] declaration of independence of 17 February 2008 did not violate general international law.” (Summary, p. 8). 9 Even more than five years after proclaiming its independence, the Republic of Kosovo has been recognized by only 98 states (see http: // www.kosovothanksyou.com, last accessed on 25 May 2013).

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dispute over the moral condemnation of military aggression and extreme forms of racism, such as apartheid policy. If non-recognition were limited to these criteria, a symmetrical treatment of de jure states and de facto states might be practicable. The system of international law would not lose its efficiency if a small number of extremely reprehensible states were deprived of its legal status.

Zusammenfassung Im Völkerrecht hat sich die Anerkennung neu entstandener Herrschaftsgebilde traditionell an deskriptiven Kriterien der Staatlichkeit orientiert. In jüngerer Zeit hat die internationale Gemeinschaft in ihrer Anerkennungspraxis aber zunehmend auch Legitimitätsstandards berücksichtigt. In der Folge haben verschiedene politische Entitäten, die die wesentlichen Charakteristika eines Staates aufweisen, wie z. B. Nord-Zypern oder Transnistrien, keine Anerkennung erhalten. Die verstärkte Bezugnahme auf normative Kriterien ist in der Philosophie des Völkerrechts insbesondere von Allen Buchanan begrüßt worden. Seiner Auffassung nach setzt die Anerkennung illegitimer Staaten falsche Anreize und macht die anerkennenden Staaten zu „Komplizen der Ungerechtigkeit“. Die von Buchanan geforderte Ausrichtung der Staatenanerkennung an Legitimitätsstandards führt aber zu drei Problemen, die einer ausführlichen Erörterung bedürfen. Erstens trifft sie der Vorwurf der „Doppelmoral“, wenn die normativen Kriterien, die über den rechtlichen Status neuer Herrschaftsgebilde entscheiden, nicht auch auf etablierte Staaten Anwendung finden. Zweitens besteht die Gefahr, dass die Legitimitätsstandards gesenkt werden müssen, um einen Ausschluss von zu vielen oder zu einflussreichen politischen Entitäten aus der Völkerrechtsordnung zu vermeiden. Drittens können Konflikte in der internationalen Gemeinschaft über die Bedeutung der einschlägigen normativen Prinzipien zu einer problematischen Praxis der partiellen Anerkennung führen. Die untersuchten Einwände lassen es zweifelhaft erscheinen, ob eine „Moralisierung“ der völkerrechtlichen Anerkennungsregeln moralisch wünschenswerte Ergebnisse bringt.

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Zivilcourage im modernen Rechtsstaat Jacob Emmanuel Mabe

Einführung Im übertragenen Sinne entspricht die deutsche Bezeichnung Zivilcourage dem Französischen courage civique und bedeutet die Fähigkeit eines mündigen Staatsbürgers zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten durch den Vollzug seiner freien Meinungs- oder Willensäußerung, und dies, ohne mögliche negative Folgen für sein Leben zu fürchten.1 Zivilcourage ist daher Ausdruck und zugleich Manifestation der staatsbürgerlichen Treue sowie des Selbstbewusstseins eines jeden Menschen, der sich zur staatlichen Ordnung bekennt und die Landesgesetze nicht nur beachtet, sondern auch in dem Bewusstsein handelt, seine Pflichten als Bürger konsequent zu erfüllen. Dieser Artikel plädiert dafür, Zivilcourage international und national als ein Menschen- und Grundrecht anzuerkennen, auf das jeder mündige Bürger zurückgreifen kann, um sich gegen Machtwillkür und ungerechte Gesetze zur Wehr zu setzen. Zivilcourage ist nicht nur autoritären Regimen ohne unabhängige Rechtsprechung gegenüber gefragt, die ihre Macht meist auf die Überlegenheit einer politischen und religiösen Ideologie gründen, sondern auch in so genannten liberalen Demokratien, in denen sich Gesetze auch in Willkür verkehren und damit jegliche mutige Aktion gegen sie verhindern können. Tatsächlich ist es den modernen Demokratien kaum gelungen, einen rechtsstaatlichen Standard zu erreichen, der Unrecht, Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch auch seitens der staatlichen Institutionen unmöglich macht. Zur Rechtsstaatlichkeit gehören hier nicht nur die formelle Vorrangstellung der Gesetze durch die Gleichstellung der richterlichen, legislativen und exekutiven Gewalten, sondern auch die materielle Gewährleistung der Rechtssicherheit für alle durch (a) den Schutz der Grundrechte, d. h. die Gewährleistung der Abwehrrechte der Bürger gegenüber der politischen Macht; (b) die Achtung der Menschenwürde durch die Sicherung des Rechts auf ein freies Leben sowie körperliche Unversehrtheit. Dieser Artikel widmet sich der Frage von Vergiftungen am Arbeitsplatz als einem besonderen Fall von Menschenrechtsverletzung, die auch im demokratischen Rechtsstaat nur mit Zivilcourage effektiv verhindert werden kann.

1 Vgl. dazu Stefan Frohloff, Gesicht zeigen! Handbuch für Zivilcourage, Frankfurt / M. 2001; Dieter Baisch, Zivilcourage, 3. überarbeitete Aufl., Münster 2001.

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I. Was ist Zivilcourage? Etymologisch leitet sich das Wort Zivilcourage aus lat. civilis, „Bürger“, und frz. courage, „Mut“, ab. Doch die Franzosen verwenden die Bezeichnung courage civique anstelle von courage civil; das Adjektiv civil, das im Deutschen benutzt wird, dient dagegen als wesentliches Kriterium der Identifikation einer Person in der Gesellschaft. Der zivile Mut verhält sich seinerseits als Antipode zur soldatischen Tapferkeit, die sich durch Gehorsamspflicht oder willige Befolgung der von der Obrigkeit erlassenen Befehle manifestiert.2 Civique hingegen umschreibt den moralischen Charakter eines Menschen, der sich seiner Rechte, Freiheiten und Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen sowie dem Gemeinwesen voll bewusst ist.3 Es ist daher eine Eigenschaft, die vor allem dem Staatsbürger zukommt. Unter Zivilcourage wird im Folgenden daher eine aus innerer Überzeugung motivierte Handlung des Menschen verstanden, seine Stimme oder seinen Ton als Bürger mit Nachdruck zu erheben, um seine Würde4 sowie die anderer Menschen in Gesellschaft und Staat zu bewahren. Mit anderen Worten, Zivilcourage manifestiert sich insbesondere durch eine willige Fähigkeit zur Stimmen- oder Tonerhebung, um Machtwillkür und Machtmissbrauch publik zu denunzieren oder energisch entgegenzutreten, wenn rechtliche Grundlagen entweder fehlen oder einfach nicht ausreichen. Bereits die alten Griechen maßen dem menschlichen Mut, den sie als andreia (Tapferkeit)5 bezeichneten, einen besonders hohen Stellenwert zu. Bei Platon zählt die Tapferkeit, die er auch als „verständige Beharrlichkeit“ bezeichnet und nur wenigen Menschen zuerkennt, zu den Kardinaltugenden.6 Seiner Ansicht nach sind die Tapferen nicht nur die „im Kriege, sondern auch die Tapferen in den Gefahren zur See, ferner auch die, welche in Krankheiten und in Armut und in der Staatsverwaltung tapfer sind, ja noch mehr, nicht nur die gegen den Schmerz tapfer sind und gegen die Furcht, sondern auch die gegen Begierden und Lust stark sind zu fechten, und zwar sowohl standhaltend als umwendend.“7 Während Platon die Weisheit hö2 Es sei in diesem Zusammenhang auf Sebastian Haffner verwiesen, der in seinen Memoiren den Mangel an Zivilcourage und Widerstand gegenüber dem deutschen Militantismus oder Militarismus während des Nationalsozialismus kritisiert. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen – Die Erinnerungen 1914 – 1933, Stuttgart und München 2000. 3 Vgl. Franck Lemerck, Jean-Pierre Duclos, Frédéric Broussois, Jean-Marc Broux, Droits et devoirs civiques, Lyon 1997; Jacky Desquenes, Education civique. Droits, devoirs et responsabilités du citoyen dans la République Francaise, Paris 2006; Hélène Bellanger, Le civisme, vertu privée d’utilité publique, Paris 2009. 4 Würde wird hierbei als Anspruch auf natürliche Existenz begriffen. 5 Zur Andrea gehörte auch die von Michel Foucault ins Spiel gebrachte parrhesia, d. h. der Freimut, die Wahrheit auch gegen Widerstände und bestehende Konventionen öffentlich zu sagen. Siehe Michel Foucault, Le courage de la vérité. Le gouvernement de soi et des autres II. Cours au Collège de France 1984. Paris 2009. 6 Diese sind: dikaiosyne (Gerechtigkeit), sophia (Weisheit), sophrosyne (Besonnenheit) und andreia (Tapferkeit).

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her als die Tapferkeit einstuft, wird Letztere von Aristoteles als die höchste Tugend betrachtet, da sie sich gegen die Furcht vor Bosheit, Armut, Elend, Einsamkeit und Tod wendet.8 Was aber heute unter Zivilcourage verstanden wird, ist mehr als eine ethische Tugend. Denn sie wird weder erworben noch verliehen. Es handelt sich dabei vielmehr um ein natürliches Abwehrmittel schlechthin, das jedem Menschen innewohnt und in ihm ruht. Doch sie ist passiv und wird nach Konfrontation mit Gewalt durch die Reflexion aktiviert. So kann sie insbesondere den Tapferen zum Aufstand gegen jede despotische Moral oder Ideologie animieren, die Gehorsam, Passivität, Indifferenz, Ausbeutung, Demut, Ausdauer, Geduld etc. gegenüber obrigkeitlichen Mächten und Instanzen zum Prinzip ihrer Herrschaft erhebt. Zivilcourage geht demnach mit Bewusstsein einher, erlöst von Einschüchterungen, Repressionen, Unterdrückung sowie Misshandlungen und schützt vor physischer (körperlicher) wie symbolischer (der Polizei, Militär, Justiz) Gewalt durch Machtmissbrauch. Zivilcourage schließt zudem jegliche emotionale Mutprobe zur Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung aus. Sie setzt vielmehr geschicktes und gut durchdachtes Handeln nur aus der Wahrheitsüberzeugung voraus. Selbstbeherrschung nach Maßgabe der Vernunft ist ihr einziges Prinzip, um sein Leben ohne vorherige Reflexion nicht aufs Spiel zu setzen. Der Bürger-Mensch zeigt Zivilcourage, indem er sein Nein zu Unrecht, Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Folter, Willkürherrschaft oder Intoleranz öffentlich und ohne Umschweife sagt. Man findet in jedem Land solche mutigen und mündigen Bürger. Es sei an dieser Stelle lediglich an einige Pioniergestalten, wie etwa Mahatma Gandhi (1869 – 1948), Rosa Luxemburg (1871 – 1919), Nelson Mandela (1918*), Martin Luther King (1929 – 1968) etc.9 erinnert, die als unermüdliche zivilcouragierte Menschen in die Weltgeschichte eingegangen sind. Sie alle haben sich gegen das Menschheits- und Völkerrechtsverbrechen vehement gewehrt. Zusammengefasst beruht Zivilcourage auf acht wesentlichen Prinzipien: a) auf dem Bewusstsein von Recht und Unrecht als dem Wissen darüber, was man tut b) auf der Betroffenheit gegenüber jeder Form von Ungerechtigkeit c) auf dem Glauben an die innere Freiheit d) auf dem Vertrauen auf die Kraft der Vernunft sowie die Objektivität der Wahrheit

7 Platon, Laches, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1985, 191d. 8 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, in: Philosophische Schriften, nach der Übers. von Eugen Rolfes, Bd. 3, Hamburg 1995, Buch III, 9, 1115a 6 ff. 9 Vgl. Wolfgang Heuer, Couragiertes Handeln, Lüneburg 2002; Francis Guibal, Le courage de la raison. La philosophie d’Eric Weil, Paris 2009.

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e) auf der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für sich und andere f) auf dem klaren Bekenntnis zum Gemeinwesen und Gemeinwohl (Zivilcourage schließt somit das Verfolgen von Privatinteressen oder Profilierungssucht aus) g) auf der Neutralität gegenüber allen Ideologien, Parteien, Denk- und Glaubenssystemen h) auf der Ablehnung von Gewalt und Zwang

II. Zivilcourage als Menschen- und Bürgerrecht? Was ist Zivilcourage und inwiefern ist sie ein Menschenrecht10? Als Manifestation der freien Willensäußerung ist Zivilcourage der menschlichen Natur immanent. Sie ist daher die ursprüngliche Freiheit des Menschen zur Meinungsäußerung, die ihm eigentümlich ist und sich keiner einzigen obrigkeitlichen Instanz in der Gesellschaft veräußern kann. Als solche ist sie ein Menschenrecht, dessen naturgesetzmäßiges Prinzip darin besteht, sich zum Selbstschutz sowie zum Schutz seiner Mitmenschen vor Gewalt – und Willkürakten zu erheben, ohne seinen Mut jedoch zu missbrauchen oder zu überfordern. Zivilcourage ist zudem ein mit Vernunft verbundener Akt des Menschen, Missstände anzusprechen und ihre Behebung einzufordern, ohne sich in kriegerische Auseinandersetzungen mit den Mächtigen im Staat zu verwickeln. Denn die Ausübung von Zivilcourage schließt selbst freie Willkür und Machtausübung schlichtweg aus. Zivilcourage vollzieht sich zwar durch aktiven Widerstand gegen verleumderische Bestrebungen, Denunziation, Verrat oder Diskriminierung. Doch das ihr zugrunde liegende Handeln erfordert ein hohes Maß an Intelligenz und ermahnt gleichzeitig zur Besonnenheit und Standfestigkeit ohne Furcht gegenüber Repressionen und Einschüchterungen. Zivilcourage bedeutet mithin mehr als bloßen Lebensmut, ihre Ausübung soll nicht mehr unrechtmäßig bleiben, sondern durch staatliche Gesetze reglementiert werden. Sie soll zum allgemeinen Freiheitsrecht beispielweise nach dem Artikel 22 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gehören. Denn sie ist ein Menschenrecht, d. h. ein Recht, das jedem Menschen angeboren und als solches von jedem Staat zu schützen ist. Damit soll Zivilcourage zum Grundrecht erklärt werden, von dem jeder Bürger Gebrauch machen kann, soweit sich die Gesetze und die Autorität des Staates als ungeeignet erweisen, das Gleichheitsprinzip zu gewährleisten. Ist hier von Menschenrechten die Rede, so sind damit folgende dualistische Kategorien im Blick, die als Werte oder Unwerte gelten: Gerechtigkeit und Ungerechtig-

10 Einzelheiten zum Verhältnis von Rechtsstaat und Menschenrechte bei B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenrecht – Human Rights and the Rule of Law, Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Bd. 3, Berlin 1995.

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keit, Gleichheit und Ungleichheit, Recht und Unrecht, Frieden und Unfrieden. Sie manifestieren sich durch unser individuelles Handeln und Verhalten (wenn wir vorsätzlich beleidigen, ausbeuten, demütigen, bevormunden, verachten etc.) oder kollektiv durch positive Gesetze (die systematisch diskriminieren, privilegieren, ausgrenzen, benachteiligen oder präjudizieren). Mit Menschenrecht ist sodann nichts anderes angesprochen, als das einem jeden Menschen innewohnende Gefühl oder Bedürfnis von Handlungsfreiheit und selbstbestimmter Lebensführung. Die Identität von Menschenrecht und Zivilcourage beruht nicht zuletzt auf einem philosophischen Prinzip, aus welchem sich das Recht auf Freiheit ableiten lässt.11 Damit ist der Mut nicht nur zur Wahrheit, sondern auch zum freien und friedlichen Miteinander ohne apriorische Parteinahme, Voreingenommenheit, Feindschaft oder Ressentiment gemeint. Nur der Verstand sollte das Handeln und Denken bestimmen und zugleich Einsicht in Objektivität und Sachlichkeit ermöglichen. Als Menschenrecht gebietet Zivilcourage, sich für die Wahrung der eigenen individuellen Würde sowie die Verteidigung der Würde anderer Menschen selbstbewusst zu erheben, sobald diese angetastet wird. Allgemein wird unter Menschenrecht vor allem ein objektives Wertprinzip verstanden, welches die Freiheit als angeborenes oder natürliches Recht des Menschen zur Geltung bringt. Das Recht dient dabei als Brückenschlag zwischen Mensch und Freiheit. Ausgehend von dieser Erkenntnis kann hier ohne Einschränkung behauptet werden, dass alle Menschen von Natur aus das Recht auf Ausübung von Zivilcourage haben. Vor diesem Hintergrund ist Zivilcourage als Wert von universaler und unbegrenzter Reichweite zu betrachten, der für alle Menschen weltweit gilt und den sie als ihr natürliches Recht erkennen sowie ausüben dürfen müssen. Das Menschenrecht auf Zivilcourage sollte sogar in jeder modernen Verfassung enthalten sein. Idealtypisch wird hierbei an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gedacht, das ein solches Recht komplementär zum Artikel 2 des Grundgesetzes mit einem ergänzenden Abschnitt garantieren könnte. Dass das Grundrecht auf freies Gewissen und freie Meinungsäußerung darin enthalten ist, impliziert nicht das Recht auf Zivilcourage als ein Handlungsprinzip12, auf das der Mensch zurückgreifen kann, um seine Würde wiederherzustellen und sich als freier Bürger zu rehabilitieren. Deutschland könnte gerade in dieser Hinsicht in einer Vorbildfunktion als zeitgemäßer und zukunftsfähiger Rechtsstaat wahrgenommen werden, wenn die im Grundgesetz enthaltenen Rechtsnormen weder statisch bleiben noch absolut gelten, sondern sich als erweiterbar und veränderbar entsprechend den Erfordernissen der Zeiten erweisen würden. Das Telos eines derart dynamischen Rechtsstaats besteht 11 Vgl. Stefan Gosepath / Georg Lohmann (Hrsg.), Die Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt / M. 1998; Hauke Brunkhorst / Wolfgang R. Köhler / Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrecht, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt / M. 1999. 12 Kollektiv können Menschen auch auf Rebellion, Revolte und Revolution zurückgreifen.

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darin, keine obsoleten oder mangelhaften Gesetze aufrechtzuerhalten, geschweige denn die dauerhafte Bindung an sie zu tolerieren. Er soll vielmehr der Mündigkeit seiner Bürger Rechnung tragen, indem er ihnen einen verfassungsmäßigen Spielraum bietet, ihre Willensentscheidungen autonom zu bilden, statt sich der heteronomen Autorität sogar der archaischen Gesetze blind zu unterwerfen. Leider gibt es noch Staaten insbesondere in Afrika, Asien, Südamerika und Osteuropa, die trotz ihrer Wertschätzung für die Rechtsstaatlichkeit noch weit davon entfernt sind, Zivilcourage als Menschen- und Grundrecht zu legalisieren. Denn sie bauen lieber ihre Herrschaft weiter auf Gewalt auf und verhindern dabei die individuelle Selbstentfaltung ihrer Bürger. Kennzeichnend für solche autoritären Ordnungsformen ist der ausgeprägte Hang insbesondere ihrer politischen Führer zum Machtmissbrauch. Auf diese Weise widersprechen sie dem modernen Rechtsstaatsprinzip und lassen deshalb keinerlei Raum für Zivilcourage zu.

III. Zivilcourage, Gewissen und Vergiftungen am Arbeitsplatz Das Gewissen (lat. conscientia, d. h. „Mitwissen“)13 ist eine metaphysische Eigenschaft, die dem Menschen zur Erkenntnis seiner selbst als eines freien und wollenden Wesens verhilft. Zudem ist das Gewissen ein ethischer Wert, insofern es dem Menschen als Wegweiser für seine Handlungen und Entscheidungen dient, damit diese weder seiner inneren Überzeugung noch seinem freien Willen zuwiderlaufen.14 Bezüglich möglicher Vergiftungen am Arbeitsplatz ermöglicht es das Gewissen dem Menschen, sich der primären und sekundären Risikofaktoren seines Arbeitsplatzes bewusst zu werden. Gewissenhaft handelt der Mensch nur dann, wenn er sich rechtfertigen und erklären kann, warum und weshalb er eine Arbeit verrichtet. Denn erst unter dieser Bedingung kann der Mensch für sein Handeln oder seine Entscheidung selbst verantwortlich gemacht werden.15

13 Nach Arthur Schopenhauer ist nur das bereits Gewesene gewiss. Conscientia beruht daher auf Erfahrung und bezeichnet nichts anderes als „das Wissen des Menschen um das, was er getan hat“. Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Hauptwerke, Band 2: Zur Erkenntnistheorie, Ethik, Logik und Religion, hrsg. von Alexander Ulfig, Köln 2000, S. 457. 14 Im Deutschen wird conscientia mit Bewusstsein und Gewissen übersetzt. Dem Bewusstsein wird dabei meist eine metaphysisch-ontologische Bedeutung beigemessen. Es bezeichnet die Vergewisserung oder die Gewissheit, die jeder denkende Mensch von sich als Wissendem hat. Gewissen hingegen ist ein moralischer Begriff, der fast ausschließlich ethische Funktion hat. Jürgen Blühdorn (Hrsg.), Das Gewissen in der Diskussion, Darmstadt 1976; Walter E. Conn, Conscience-development and self-transcendence, Birmingham 1981; Heinz von Förster, Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, hrsg. von Siegfried Schmidt, Frankfurt / Main 1997; Hans Ebeling, Gewalt und Gewissen. Das verborgene Eine, Würzburg 1999. 15 Näheres dazu bei Jean-Paul Sartre, Bewusstsein und Selbsterkenntnis, Reinbek 1973; Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, 2. Aufl., Frankfurt / Main 2006.

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Bestimmend für die Manifestation des Gewissens ist dabei ein Befolgen der inneren Stimme, ohne Kalkül, Vorteilssucht oder Schuldgefühl.16 Denn das Gewissen schließt jeglichen Einfluss von außen aus und setzt ausschließlich die Autonomie der Vernunft bei jeder Handlung voraus. Der Vollzug des Gewissens erfolgt allerdings erst nach kritischer Überlegung, d. h. nach genauer Abwägung der positiven und negativen Konsequenzen für ein Tun. Das Gewissen setzt daher rationales Denken voraus und dient insofern als Steuerungsinstanz aller moralischen Handlungsund Verhaltensweisen des Menschen. So gesehen, kann kein gewissenhafter, ja rationaler Mensch eine Arbeit annehmen und dauerhaft verrichten, die mit massiven Gesundheits- oder Lebensrisiken verbunden ist, es sei denn, er wird zu seiner Arbeit genötigt oder aber er betrachtet seine Berufsausübung lediglich als ökonomische Notwendigkeit, was leider oft genug der Fall ist. Tatsächlich verbinden die meisten Menschen heute ihre Berufstätigkeit überwiegend mit finanziellen und sozialen Notwendigkeiten. Die Frage, ob die Entscheidung für einen Arbeitsplatz mit dem Gewissen des jeweiligen Menschen im Einklang steht, stellt sich daher immer weniger. Vielmehr muss man sich fragen, ob es überhaupt noch Menschen auf der Welt gibt, die eine Möglichkeit zum Überleben jenseits entlohnter Arbeit sehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Kriterium eines gesundheitsverträglichen Arbeitsplatzes nur schwer in den Vordergrund der vitalen Prioritäten stellen. Betroffen sind jedoch fast alle Menschen, vor allem diejenigen, die mit elektronischen Geräten, Chemikalien, etc. oder in Räumlichkeiten mit extrem niedrigen oder hohen Temperaturen arbeiten müssen. Die Gewissensfrage stellt sich zudem nicht nur für Arbeitnehmer mit fehlendem Verantwortungsbewusstsein, sondern auch für die Arbeitgeber, die trotz ethischer, medizinischer und biologischer Bedenken keine gesundheitskonformen Bedingungen für ihre Beschäftigten durchsetzen. Der verantwortliche Arbeitnehmer wird seinerseits mit seinem Gewissen konfrontiert, wenn der Arzt eine Intoxikation diagnostiziert, die in engem Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit steht, und er aus Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes nicht einmal juristische Schritte unternimmt, um seine Rechte einzuklagen. Den meisten Menschen fehlt die entsprechende Zivilcourage, gesundheitliche Beeinträchtigungen als Folgen von Intoxikationen durch die Tätigkeit in einem Büro, einer Werkstatt oder in einem Betrieb anzuzeigen. Doch nicht nur schlechte oder fehlende Hygiene sowie der Verzehr von belasteten Speisen oder Getränken in der Kantine ziehen Vergiftungen nach sich; auch der Umgang mit modernen Kommuni16 Vgl. dazu Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, in: Sämtliche Werke, Berlin 1845 / 1846, Band 2, S. 140 ff.; Niklas Luhmann, Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, in: Ernst Wolfgang Böckenförde / F. Böckler (Hrsg.): Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 223 – 243. Ludger Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein? Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld, Berlin 2007, S. 40 ff.

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kationsmedien, Elektrogeräten, Chemikalien etc. können Übelkeit, Erbrechen oder schwere Kopfschmerzen zur Folge haben und damit Menschenrechte verletzen. Daraus wird ersichtlich, was alle Berufstätigen dringend brauchen: eine ethische Aufklärung bezüglich des Gewissens und der Zivilcourage als moralische Hilfsinstrumente für die Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte.17 Dies gilt auch für die Bedingungen am Arbeitsplatz. Da toxische Wirkungen sich schädigend auf die Gesundheit auswirken und zugleich die ungleichen Behandlungen von Menschen innerhalb der Arbeitswelt wie der Gesellschaft als ganzer offenbaren,18 sollten sie engagierter und mutiger bekämpft werden. Es gibt Menschen, deren wahrer und aufrichtiger Charakter erst durch ihren Mut hervortritt, dann, wenn sie ihre Stimme laut erheben, um Missstände anzuprangern. Diese Art der Ausübung von Zivilcourage schließt bloßen Ungehorsam oder Widerstand aus persönlichem Egoismus und Interesse beispielsweise gegen den Arbeitgeber aus. Die Courage des Beschäftigten besteht ausschließlich darin, die Sorge um die Verletzung seiner Würde und Freiheit sowie der Würde anderer Mitarbeiter öffentlich zu machen. Vor diesem Hintergrund zielt die Zivilcourage darauf, für alle Bürger das gleiche Recht auf einen gesundheitsverträglichen Arbeitsplatz zu erreichen. Denn toxische Gefahren verdeutlichen nicht zuletzt eine ungerechte Behandlung nach dem Arbeitsvertrag, der Betriebsverfassung, dem Arbeitsrecht etc. Aus dem Thema ‚Vergiftungen am Arbeitsplatz‘ ergibt sich eine Vielfalt von ethischen Fragen, die einer systematischen Kritik unterzogen werden müssen. Bislang wurden die Debatten über dieses Thema überwiegend von Psychologen, Juristen und Medizinern geführt. Nun will der vorliegende Beitrag in diese Diskussion eingreifen und zeigen, dass toxische Kontaminationen, hervorgerufen durch welche Berufstätigkeit auch immer,19 gravierende Menschenrechtsverletzungen darstellen und damit eine Herausforderung für die Philosophie.20

17 Zur Gewissensfreiheit als Menschenrecht siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: ders.: Staat, Gesellschaft und Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt / M. 1976, S. 233 – 317. 18 Siehe z. B. Lance Compa, Unfair Advantage Workers: Freedom of Association in the United States under International Rights Standards, New York 2004. 19 Vergiftungen sind der Philosophie seit der Antike als Herausforderung bekannt. Sokrates (469 – 399 v. Chr.), der nicht nur aufgrund seiner intellektuellen Wirkung, sondern auch wegen seiner Zivilcourage in die Geschichte der Menschheit eingegangen ist, erlag einer Vergiftung infolge seiner Verurteilung zum Tode durch den Trank eines aus der Schierlingspflanze gewonnenen Saftes. Man könnte etwas ironisch sogar behaupten, dass er der Vergiftung an seinem Arbeitsplatz erlag, insofern er den Giftbecher vor seinen Schülern leerte. Im Dialog Phaidon schildert Platon diese Szene mit folgenden Worten: „[d]er Knabe ging heraus, und, nachdem er eine Weile weggeblieben war, kam er und führte den herein, der ihm den Trank reichen sollte, welchen er schon zubereitet im Becher brachte. […] Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, […] setzte […] an, und ganz frisch und unverdrossen trank er [ihn] aus.“ Platon, Phaidon, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1958, 117a-c.

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In der gegenwärtigen Arbeitswelt sind Menschen durch ihren Beruf ständig Vergiftungsgefahren ausgesetzt.21 Die zunehmende Modernisierung von Arbeitsplätzen durch immer komfortablere Einrichtungsgegenstände, technische Geräte, Kommunikationssysteme, Heiz- und Klimaanlagen etc. mag zwar die Lust am Arbeiten fördern und manche Berufe attraktiver gestalten. Die Vergiftungsgefahr wird durch sie jedoch weder minimiert noch gar abgewendet. Im Gegenteil, hinter dieser vermeintlichen Logik der Modernität verbergen sich massive Gesundheitsrisiken. Selbst die so begehrte Büroarbeit bietet trotz allen Komforts keine Gewähr für Hygiene und Gesundheitsverträglichkeit, geschweige denn einen absoluten Schutz vor Intoxikationen. Steht das Thema ‚Vergiftungen‘ im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen, so geht es lediglich darum, die damit verbundenen Grundfragen auf ihre ethische Bedeutsamkeit hin zu erörtern. Dabei werden insbesondere die Bedingungen untersucht, unter denen toxische Wirkungen die Freiheit des arbeitenden Menschen sowie seine Würde beeinträchtigen. Ist der homo sapiens schon dazu verurteilt, sein Überleben selbst in die Hand zu nehmen, so fragt sich doch, ob dies mit jeder beliebigen Tätigkeit zu rechtfertigen ist, zumal mit einer, die nachweislich dem Geist und dem Körper schadet. Jeder gute Philosoph, der im Sinne der alten Griechen den Menschen als ein von Natur mit Vernunft ausgestattetes und begabtes Wesen betrachtet, würde diese Frage rundweg verneinen.22 Auch unabhängig davon, gibt es kaum nennenswerte und ernstzunehmende Denkerpersönlichkeiten, die dem Menschen die Qualität absprechen, Bewusstsein, d. h. das geistige Vermögen zu besitzen, die Bedingungen seiner Existenz entweder aus eigener Kraft oder aber im Verein mit seinen Mitmenschen zu verbessern. Die Vernunft ist demnach die intelligible Kraft, die dem Menschen den Weg zum richtigen Denken und sittlichen Handeln weist und ihn zugleich dazu befähigt, die Paradoxien auch des Arbeitslebens aufzulösen. Zwar sind nicht alle Vernunftwesen gleichermaßen zu einer derart selbstständigen Lebensführung fähig. Doch gibt es mündige Menschen, die sich ihres Gewissens und damit ihrer Freiheit voll bewusst sind. Mit Gewissen ist hierbei nichts anderes gemeint, als das Wissen des Menschen von seiner Würde, seinen Handlungen, seinen Rechten und sittlichen Werten. Die Freiheit wiederum bezeichnet die Fähigkeit zur autonomen Willensentscheidung sowie zum selbstverantwortlichen Denken und Handeln.

20 Zum Thema Menschenrechtsverletzungen als philosophische Herausforderung siehe James W. Nickel, Making Sense of Human Rights, 2. Aufl., Oxford 2007. 21 Einzelheiten bei Max Daunderer, Gifte im Alltag. Wo sie herkommen, wie sie wirken, wie man sich dagegen schützt, München 2005; Carola Kleinschmidt / Hans-Peter Unger; Bevor der Job krank macht, München 2006. 22 Bereits Heraklit lehrte, es sei dem Menschen zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken. Diese Vorstellung vom Menschen hat sich seit Platon und Aristoteles substanziell kaum verändert.

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Das Gewissen geht mit Verantwortungsbewusstsein einher und dient somit als eine ethische Richtschnur, die es auch dem Berufstätigen gebietet, kein seine Menschenwürde sowie sein Persönlichkeitsrecht beeinträchtigendes Arbeitsverhältnis einzugehen.23 Dazu gehören nicht zuletzt die mit schwerwiegenden Vergiftungen verbundenen Tätigkeiten. Mit anderen Worten: Vergiftungen am Arbeitsplatz verletzen nicht nur die Würde des Menschen, sondern bringen auch die Deformation sowie die Degradation einer Gesellschaft zum Ausdruck. Der vorliegende Beitrag will die Konsequenz aus dieser Erkenntnis ziehen, um den Menschen zu helfen, Gewissen und Zivilcourage als Tugenden zu begreifen, die eingeübt sowie zum Schutz der Menschenrechte effektiv genutzt werden können. Es handelt sich dabei um Fähigkeiten, über die jeder Mensch verfügt, und die ihn davon abhalten können, gegen seinen Willen zu handeln, indem er tatenlos zusieht, wie seinem Körper und seiner Seele am Arbeitsplatz Schaden zugefügt werden. Leider zeigen die unvermindert auftretenden Intoxikationen am Arbeitsplatz, dass offenbar immer mehr Menschen ohne eine solche Zivilcourage und damit wenig gewissenhaft agieren. Da kaum eine Beschäftigung Vergiftungsfreiheit garantiert, sollte es zumindest allgemein verbindliche ethische Regelungen geben, die als Grundlage für die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit der Arbeitnehmer dienen können. Doch die Verantwortung für die praktische Umsetzung der Regel obliegt ausschließlich den Arbeit- und Gesetzgebern. Erstere sollten deshalb dazu verpflichtet werden, alle notwendigen Bedingungen zur Gewährleistung und zum Schutz der Rechte ihrer Beschäftigten herzustellen.24 Solange dies nicht der Fall ist, können nur das Gewissen und die Zivilcourage helfen, die Menschenrechte einzuklagen oder zumindest die Öffentlichkeit auf die bedrohliche Situation am Arbeitsplatz aufmerksam zu machen. Mit Ungerechtigkeit sind in diesem Zusammenhang sämtliche diskriminierenden Beschäftigungsverhältnisse aufgrund der Qualifikation, der kulturellen Herkunft, des Geschlechtes, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit gemeint. Denn manche Vergiftungen sind auf spezielle Tätigkeiten zurückzuführen, die nur bestimmte Kategorien von Menschen ausüben. Dabei sind nicht nur individuell falsche Entscheidungen, sondern auch willkürlicher Missbrauch vonseiten der Arbeitgeber für die Auswahl von Arbeitsplätzen maßgebend.

23 Vgl. Phil Hughes / Ed Ferret, Introduction to Health and Safety at Work, 4. Aufl., Oxford 2009. 24 Näheres bei Todd Landmann, Protecting Human Rights: A Comparative Study, Washington 2005.

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IV. Schlussbetrachtung Durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte haben sich alle Staaten dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der Rechte ihrer Bürger vollständig zu gewährleisten.25 Diesem zivilisatorischen Projekt stehen noch immer Hindernisse insbesondere im Bereich der Arbeit und des Berufswesens im Wege. Die meisten Länderverfassungen garantieren zwar nicht nur die Berufsfreiheit, sondern haben darüber hinaus ausreichende Gesetze bezüglich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Doch es gibt kaum ein Land in der Welt, in dessen Verfassung ein Grundrecht auf gesundheitsverträgliche Arbeit enthalten ist.26 Um dieses juristische Defizit auszugleichen, wären die politisch Verantwortlichen weltweit gut beraten, zumindest die Ausübung von Zivilcourage als Menschenrecht gesetzlich zu verankern.27 So könnte erreicht werden, dass die Gleichbehandlung und damit die Sicherung des Rechts aller Menschen auf freie Berufsausbildung und gesunde Lebensführung beachtet werden. Denn gemäß der allgemeinen Menschenrechtserklärung darf niemand aufgrund seiner Tätigkeit zum Sonderwesen, zum Sklaven oder zum Kranken degradiert werden. Mit der juristischen Legitimierung der Ausübung von Zivilcourage sollten die Bürger dazu ermutigt werden, für den Schutz ihrer Würde noch selbstbewusster aufzutreten. Dies wäre nicht zuletzt eine notwendige Maßnahme, um toxischen Schädigungen am Arbeitsplatz, die aus Furcht der Beschäftigten nicht gemeldet werden, zu vermeiden oder zumindest deutlich zu verringern.

Summary The German term Zivilcourage correlates to the French courage civique and refers to a mature citizen’s ability to exercise his or her rights and duties by implementing his or her freedom of expression or volition without fearing potential negative consequences to his or her life. Civic courage therefore is both an expression 25 Nach der Charta der Vereinten Nationen umfassen die Menschenrechte alle jedem Menschen zukommenden, allgemein zu achtenden und national sowie international per Gesetz geregelten oder zu regelnden Rechte. Siehe Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, hrsgg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl., Bonn 1995, Nachdruck 1996; Charles R. Beitz, The Idea of Human Rights, Oxford 2009; Wichard Woyke (Hrsg.), Menschenrechte. Idee, Universalität, nationale und internationale Entwicklungen, Schwalbach / Taunus 2010. 26 Allgemein bezeichnet das Grundrecht ein System von Gesetzen, die das Privatrecht der Mitglieder einer Gesellschaft untereinander sowie ihr Verhältnis zu ihrem Staat regeln. Vgl. Robert Alley, Theorie der Grundrechte, 4. Aufl., Frankfurt / M. 1994. 27 In den USA und Großbritannien gibt es immerhin einen gesetzlichen Schutz für Whistleblower, d. h. couragierte Bürger, die Menschenrechtsverletzungen aller Art am Arbeitsplatz publik machen. In Deutschland wurde bereits ein Gesetzentwurf sowohl der Grünen als auch der Sozialdemokratischen Partei (SPD) zum Schutz von Whistleblowern dem Bundestag zur Debatte und Abstimmung vorgelegt.

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and manifestation of civic commitment as well as of the self-awareness of every person who is committed to public order and who not only observes domestic laws, but also bears the deliberate intention of diligently fulfilling his or her civic duties. This article asserts that civic courage is to be recognized on both international and national levels as a basic human right to which every mature citizen can refer in order to oppose arbitrary powers and unjust laws. Civil courage is not only sought after in authoritarian regimes without independent jurisdiction that primarily establish power on the predominance of political and religious ideologies, but also in purportedly liberal democracies whose laws verge on arbitrariness and thus prohibit any deliberate actions against them. In fact, modern democracies have scarcely succeeded in setting standards for the rule of law that make injustice, inequity, and abuse of power impossible for national institutions. The rule of law here includes not only the formal primacy of the law in the equality of the judicial, legislative, and executive branches, both also the substantive guarantee of legal security for all through (a) protection of basic rights, e.g. guaranteeing citizens’ rights of defense against political power; (b) regard for human dignity through securing rights to a free life as well as physical wellbeing. This article is devoted to the question of corruption in the workplace as a specific human rights violation that can only be effectively prevented in a democratic constitutional state through the use of civic courage.

Literatur Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, 2. Aufl., Frankfurt / Main 2006. Aristoteles: Nikomachische Ethik, in: Philosophische Schriften, nach der Übers. von Eugen Rolfes, Bd. 3, Hamburg 1995. Baisch, Dieter: Zivilcourage, 3. überarbeitete Aufl., Münster 2001. Beitz, Charles R.: The Idea of Human Rights, Oxford 2009. Bellanger, Hélène: Le civisme, vertu privée d’utilité publique, Paris 2009. Blühdorn, Jürgen (Hrsg.): Das Gewissen in der Diskussion, Darmstadt 1976. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: ders.: Staat, Gesellschaft und Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt / M. 1976, S. 233 – 317. Braun, Walter: Vom Gewissen zum Bewusstsein, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 28 (1996), S. 95 – 112. Brunkhorst, Hauke / Köhler, Wolfgang R. / Lutz-Bachmann, Matthias (Hrsg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrecht, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt / M. 1999. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl., Bonn 1995, Nachdruck 1996.

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Byrd, B. Sharon / Hruschka, Joachim / Joerden, Jan C. (Hrsg.): Rechtsstaat und Menschenrecht – Human Rights and the Rule of Law, Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Bd. 3, Berlin 1995. Compa, Lance: Unfair Advantage Workers: Freedom of Association in the United States under International Rights Standards, New York 2004. Conn, Walter E.: Conscience-development and self-transcendence, Birmingham 1981. Daunderer, Max: Gifte im Alltag. Wo sie herkommen, wie sie wirken, wie man sich dagegen schützt, München 2005. Desquenes, Jacky: Education civique. Droits, devoirs et responsabilités du citoyen dans la République Française, Paris 2006. Ebeling, Hans: Gewalt und Gewissen. Das verborgene Eine, Würzburg 1999. Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen, in: Sämtliche Werke, Band 2, Berlin 1845 / 1846. Fleury, Cynthia: La fin du courage. La conquête d’une vertu démocratique, Paris 2010. Förster (von), Heinz: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, hrsg. Von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt / Main 1997. Frohloff, Stefan: Gesicht zeigen! Handbuch für Zivilcourage, Frankfurt / M. 2001. Gosepath, Stefan / Lohmann, Georg (Hrsg.): Die Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt / M. 1998. Guibal, Francis: Le courage de la raison. La philosophie d’Eric Weil, Paris 2009. Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen – Die Erinnerungen 1914 – 1933, Stuttgart / München 2000. Heuer, Wolfgang: Couragiertes Handeln, Lüneburg 2002. Honnefelder, Ludger: Was soll ich tun, wer will ich sein? Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld, Berlin 2007. Hughes, Phil / Ferret, Ed: Introduction to Health and Safety at Work, 4. Aufl., Oxford 2009. Kleinschmidt, Carola / Unger, Hans-Peter: Bevor der Job krank macht, München 2006. Landmann, Todd: Protecting Human Rights: A Comparative Study, Washington 2005. Lemerck, Franck / Duclos, Jean-Pierre / Broussois, Frédéric / Broux, Jean-Marc: Droits et devoirs civiques, Lyon 1997. Luhmann, Niklas: Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, in: E.-W. Böckenförde / F. Böckler (Hrsg.): Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 223 – 243. Nickel, James W.: Making Sense of Human Rights, 2. Aufl., Oxford 2007. Platon: Phaidon, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1958. Sartre, Jean-Paul: Bewusstsein und Selbsterkenntnis, Reinbek 1973. Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Hauptwerke, Band 2: Zur Erkenntnistheorie, Ethik, Logik und Religion, hrsg. von Alexander Ulfig, Köln 2000.

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Thiel, Markus (Hrsg.): Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, 1. Aufl. Tübingen 2003. Woyke, Wichard (Hrsg.): Menschenrechte. Idee, Universalität, nationale und internationale Entwicklungen, Schwalbach / Taunus 2010.

Die Akteursrelativität als Meta-Norm des Rechtsstaats Markus Rothhaar I. Akteursrelativität und Rechtsstaatlichkeit Betrachtet man die Rechtssysteme derjenigen Staaten der Gegenwart wie der Vergangenheit, über deren Einordnung als Rechtsstaat weitgehender Konsens besteht, so wird man selbst mit einem oberflächlichen Blick feststellen, dass das Strafrecht praktisch aller dieser Staaten ein gemeinsames Charakteristikum aufweist: das Charakteristikum nämlich, dass die jeweiligen Strafrechtssysteme bei allen sonstigen Unterschieden ihrer Grundstruktur nach und in ihrem Kernbereich das Handeln der Rechtssubjekte auf eine deontologische oder wenigstens regel-konsequenzialistische, nicht aber auf eine akt-konsequenzialistische Weise normieren. Dieser Umstand ist für die meisten Menschen derart selbstverständlich und geläufig, dass er üblicherweise gar nicht mehr gesehen wird. Um ihn explizit zu machen, ist es zunächst erforderlich, kurz auf die gängige – wie sich freilich zeigen wird, noch nicht ganz hinreichende – Bestimmung der Differenz zwischen akt-konsequenzialistischen und deontologischen Ethikansätzen einzugehen. Nach dieser Differenzierung hängt die moralische Beurteilung einer Handlung im Rahmen einer deontologischen Ethik von intrinsischen Charakteristika der zu beurteilenden Handlung selbst oder der sie prägenden Handlungsintention ab. Das bedeutet wiederum, dass deontologische Ethiken in erster Linie darauf abstellen, welche Art bzw. Klasse von Handlungen – z. B. Mord, Lüge oder Hilfe in Not – und / oder welche Intention durch die in Rede stehende Handlung realisiert wird. Demgegenüber gilt als das wesentliche Merkmal akt-konsequenzialistischer Ethikmodelle üblicherweise, dass bei ihnen die moralische Beurteilung einer Handlung daran festgemacht werde, welche Folgen die Handlung für die Realisierung bestimmter Güter hat. Die Güter werden dabei in der Regel in einer evaluativen Hierarchie (z. B. Leben über Eigentum) angeordnet. Charakteristisch ist für den Konsequenzialismus in diesem Zusammenhang, dass bei ihm nicht nur unmittelbare oder mit der Handlung irgendwie „innerlich“ verknüpfte Wirkungen, sondern alle absehbaren Folgen der normativen Beurteilung der Handlung zugrunde gelegt und mittels einer Abwägung der betroffenen Güter in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Geht man von dieser vorläufigen Abgrenzung aus, so wird die deontologische, anti-konsequenzialistische Grundstruktur des Rechts unmittelbar deutlich. Sie drückt sich zum einen in dem Umstand aus, dass das Recht sich nicht auf Handlungsfolgen, sondern auf Typen oder Klassen von Handlungen – wie z. B. Dieb-

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stahl, Mord, Körperverletzung, unterlassene Hilfeleistung, Betrug etc. – bezieht und diese sanktioniert. Tatbestände werden so in der Regel in Form von Handlungstypen (objektiver Tatbestand / actus reus) und damit verknüpften Handlungsintentionen (subjektiver Tatbestand / mens rea) beschrieben. Zum anderen zeigt sich die deontologische Grundausrichtung des Strafrechts darin, dass praktisch kein Strafrechtssystem eines beliebigen Rechtsstaats es erlaubt, die von den einzelnen Rechten geschützten Rechtsgüter der verschiedenen Individuen quantitativ zu aggregieren und miteinander zu verrechnen. Kein rechtsstaatlich verfasstes Strafrechtssystem, das den Namen verdient, gestattet es beispielsweise, einen Unschuldigen1 zu ermorden, um mit seinen Organen die Leben mehrerer anderer Menschen zu retten. Und selbst bei Rechten, die keineswegs „höchste Güter“ wie das Leben betreffen, gilt ein solches, mit dem Akt-Konsequenzialismus eigentlich unvereinbares Aggregationsverbot. So dürfte es kaum ein Strafrechtssystem geben, das es einer Person P erlauben würde, einen Diebstahl d1 zu begehen, wenn durch das Begehen von Diebstahl d1 verhindert werden kann, dass mehrere andere Personen Q, R und S mehrere andere Diebstähle d2, d3 und d4 begehen.2 Gerade wenn es aber der Fall ist, dass die normative Logik des Strafrechts in Rechtsstaaten im Kern deontologisch oder zumindest regel-konsequenzialistisch strukturiert ist, taucht eine Schwierigkeit auf, die bislang weder in Diskussionen um die rechtsphilosophischen Grundlagen des Strafrechts, noch in der zeitgenössischen, seit den späten 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts geführten Debatte zwischen „Konsequentialisten“ und „Deontologen“ hinreichend beachtet wurde. Einer der wesentlichen Fortschritte, den diese Debatte mit sich gebracht hat, besteht nämlich darin, gezeigt zu haben, dass deontologische Ethikmodelle durch die – darum oben auch als „vorläufig“ eingeführte – Bestimmung, dass bei ihnen auf die intrinsischen

1 Der Begriff wird hier als Kürzel verwendet, um den möglichen Rechtfertigungsgrund der Notwehr bzw. Nothilfe auszuschließen. Er soll mithin abkürzend stehen für: „eine Person, von der kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff ausgeht“. 2 Allenfalls ließe sich gegen die Feststellung einer deontologischen Grundstruktur des Strafrechts auf die Rechtsfigur des „rechtfertigenden Notstands“ verweisen, wie sie im deutschen Recht in §34 StGB verankert ist. Dieser Verweis ist insofern richtig, als diese Rechtsfigur tatsächlich einen konsequenzialistischen Charakter aufweist. Allerdings handelt es sich hierbei zum einen um eine sehr spezielle, nicht-aggregative Form des Konsequenzialismus. Zum zweiten ist der „rechtfertigende Notstand“ klar als eine Ausnahme von der ansonsten geltenden deontologischen Grundausrichtung des Strafrechts erkennbar – als eine Ausnahme zudem, die wie Michael Pawlik überzeugend gezeigt hat, noch von den Prämissen einer deontologischen Rechtsethik selbst her begründbar ist (Vgl. Pawlik, Michael: Der rechtfertigende Notstand. Zugleich ein Beitrag zum Problem strafrechtlicher Solidaritätspflichten, Berlin: De Gruyter, 2002). Drittens schließlich greift der „rechtfertigende Notstand“ nur da, wo das deontologischen Grundprinzips des Strafrechts mit einem extremen Ungleichgewicht der betroffenen Güter konfrontiert ist. Nicht zuletzt zeigt auch der Umstand, dass selbst in dem mit dem deutschen Recht so verwandten österreichischen Strafrecht der „rechtfertigende Notstand“ nicht gesetzlich geregelt ist und er auch in das deutsche Strafrecht erst sehr spät expliziten Eingang gefunden hat, dass er seitens der Rechtswissenschaften und der Rechtsphilosophie weithin als etwas empfunden wird, das dem Strafrecht im Grunde wesensfremd ist.

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Charakteristika der Handlung und / oder der Handlungsintention abgehoben werde, gar nicht hinreichend definieren lassen. Es muss vielmehr noch das Moment der sogenannten „Akteursrelativität“, das im Anschluss noch näher zu erläutern sein wird, hinzugedacht werden, um dasjenige theoretisch einzuholen, was unter einer „deontologischen Ethik“ üblicherweise verstanden wird und was sich so offenkundig in der normativen Logik des Strafrechts niedergeschlagen hat. Ausgangspunkt der Debatte um „Akteursrelativität“ und „Akteursneutralität“ war ein von Robert Nozick in Anarchy, the State and Utopia skizziertes Problem3, das später mit dem griffigen Namen „Paradox der Deontologie“ belegt wurde. Dieses Paradox hat die folgende Form: Geht man davon aus, dass eine deontologische Ethik dadurch gekennzeichnet ist, dass nach ihr der Maßstab für die Bewertung einer Handlung nicht darin besteht, welche Folgen die Handlung hat, sondern welcher Handlungstypus – also z. B. Mord, Diebstahl etc. – mit ihr realisiert wird, so ist nicht verständlich zu machen, warum eine Handlung, durch die der Handelnde einen Fall eines als moralisch falsch bewerteten Handlungstypus realisiert, zugleich aber mehrere Fälle desselben Handlungstypus, die von anderen Akteuren vollzogen würden, verhindert, nicht sollte durchgeführt werden dürfen bzw. sogar müssen.4 Etwa gleichzeitig mit Nozick hat Bernard Williams ein ähnliches Szenario in Form eines Gedankenexperiments entworfen, das wir Williams schon alleine aufgrund der literarischen Qualitäten seines Textes selbst schildern lassen wollen: „Jim finds himself in the central square of a small South American town. Tied up against the wall are a row of twenty Indians, most terrified, a few defiant, in front of them several armed men in uniform. A heavy man in a sweat-stained khaki shirt turns out to be the captain in charge and, after a good deal of questioning of Jim which establishes that he got there by accident while on a botanical expedition, explains that the Indians are a random group of the inhabitants who, after recent acts of protest against the government, are just about to be killed to remind other possible protestors of the advantages of not protesting. However, since Jim is an honoured visitor from another land, the captain is happy to offer him a guest’s privilege of killing one of the Indians himself. If Jim accepts, then as a special mark of the occasion, the other Indians will be let off. Of course, if Jim refuses, then there is 3 Vgl. zum Folgenden die Ausführungen in Nozick, Robert: Anarchy, the State and Utopia, New York: Basic Books, 1974, S. 26–53 (Part I, Chapter 3: „Moral Constraints and the State“). 4 Die Konstellation mag konstruiert erscheinen. Sie verdeutlicht aber zum einen in Form eines Gedankenexperiments ein grundlegendes Problem deontologischer Ethik, zum anderen ist das Beispiel aber auch nicht so weit hergeholt, wie man vermuten möchte. Erinnert sei hier nur an die Diskussion über das Luftsicherheitsgesetz oder an die Problematik des britischen „morale bombing“ im 2. Weltkrieg, bei dem genau diese Konstellation gegeben war: der Versuch, durch den gezielten Massenmord an der Zivilbevölkerung ein Regime zur Aufgabe zu zwingen, das im Begriff war, einen Völkermord zu verüben. Ähnlich liegt der Fall bei den Vernichtungsangriffen gegen japanische Städte einschließlich der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki. Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, dass sich aus den hier entwickelten Überlegungen die kategorische Unzulässigkeit solcher Vorgehensweisen ergibt.

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no special occasion, and Pedro here will do what he was about to do when Jim arrived, and kill them all. Jim, with some desperate recollection of schoolboy fiction, wonders whether if he got hold of a gun, he could hold the captain, Pedro and the rest of the soldiers to threat, but it is quite clear from the set-up that nothing of the sort is going to work: any attempt at that sort of thing will mean that all the Indians will be killed, and himself. The men against the wall, and the other villagers understand the situation, and are obviously begging him to accept. What should he do?“5 Die möglichen Antworten auf die Frage, was Jim tun sollte, spiegeln sich in den beiden verschiedenen Möglichkeiten, die es auf der theoretischen Ebene gibt, auf die Herausforderung durch das „Paradox der Deontologie“ zu antworten. Einmal könnte man es in der Tat für irrational erklären, eine Handlung eines moralisch unzulässigen Handlungstyps X nicht zu vollziehen, wenn dadurch verhindert werden kann, dass eine größere Anzahl von Handlungen des Typs X von anderen Akteuren vollzogen wird. Der Mord, der Jim angetragen wird, wäre bei dieser Lösung nicht nur moralisch zulässig, sondern geradezu geboten. Eine solche Reaktion auf das „Paradox der Deontologie“ käme freilich einer Kapitulation des deontologischen Ethikmodells vor dem konsequenzialistischen gleich. Folgt man dem nicht, so bleibt nur noch, deontologische Ethik im Ausgang vom Prinzip der sogenannten „Akteursrelativität“6 neu zu bestimmen und für diese Neubestimmung eine rationale Begründung zu liefern. „Akteursrelativ“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine moralisch unzulässige Handlung nicht einfach nur als moralisch falsch bewertet wird, unabhängig davon, wer sie begeht, sondern dass jeder einzelne Akteur die moralische Pflicht hat, sie nicht zu begehen. Deontologische Ethik wäre entsprechend dieser Neubestimmung nicht nur dadurch ausgezeichnet, dass Handlungen statt Handlungsfolgen den Bezugspunkt für die moralische Bewertung von Handlungen abgeben, sondern zusätzlich dadurch, dass im Rahmen einer deontologischen Ethik Handlungen akteursrelativ normiert sind. Der adäquate sprachliche Ausdruck z. B. des Tötungsverbots im Rahmen einer akteursrelativen deontologischen Ethik wäre dann nicht: „Töten ist moralisch falsch, und deshalb sollte niemand getötet werden“, sondern: „Du sollst nicht töten“, wobei das „Du“ zwar jeden möglichen Akteur meint, zugleich aber als Ausdruck der Akteursrelativität deontologisch verstandener Normen irreduzibel ist. Obwohl beide Formulierungen auf den ersten Blick äquivalent erscheinen mögen, zeigen die von Williams und Nozick skizzierten Fallkonstellationen, dass sie keineswegs äquivalent sind.7 5 Williams, Bernard: „A Critique of Utilitarianism“, S. 98 f., in: Smart, John J. C. / Williams, Bernard: Utilitarianism For and Against, Cambridge: Cambridge University Press, 1973, S. 77 – 150. 6 Der Begriff selbst wurde von Thomas Nagel geprägt, der in „The View from Nowhere“ ebenfalls ein Szenario diskutiert, in dem Pflichten gegenüber bestimmten Personen nur durch die Verletzung von Pflichten einer anderen Person gegenüber erfüllt werden können (vgl. Nagel, Thomas: The View from Nowhere, New York: Oxford University Press, 1986, S. 175 ff.). 7 Es gilt in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Fallkonstellationen, die im „Paradox der Deontologie“ beschrieben werden, sicherlich nur einen kleinen Bereich derjenigen

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Geht man nun freilich von dieser um den Gedanken der Akteursrelativität ergänzten Bestimmung deontologischer Ethikansätze aus, so scheint eine Übertragung der deontologischen Normativitätslogik auf das Recht, insbesondere das Strafrecht, ausgesprochen erläuterungs- und begründungsbedürftig. Handelt es sich doch bei der Akteursrelativität offensichtlich um ein individualethisches Prinzip, bei dem es darum geht, dass der Einzelne in der zweiten Person, als Adressat einer Pflicht, angesprochen wird. Eine bestimmte Pflicht, z. B. diejenige, keinen Unschuldigen zu töten, mögen zwar alle denkbaren Akteure haben. Es ist aber nicht klar, ob und, wenn ja, warum der Staat bzw. der Gesetzgeber darauf verpflichtet sein sollte, das Strafrecht akteursrelativ zu normieren. Alternativ könnte man sich auch vorstellen, dass der Staat in seinem gesetzgeberischen Handeln auf eine akteursneutrale Weise ethisch gebunden wäre. Ein solcher „akteursneutraler Gesetzgeber“ wäre dazu verpflichtet, das Strafrecht so auszugestalten, dass die Zahl der Tötungen Unschuldiger insgesamt minimiert wird, nicht aber dazu, jedem Einzelnen ein Zuwiderhandeln gegen bestimmte Pflichten zu verbieten. Auf den ersten Blick mag diese Differenzierung als in praktischer Hinsicht irrelevant erscheinen. Denn immerhin könnte man argumentieren, dass der beste Weg, die Zahl rechtsverletzender Handlungen insgesamt zu minimieren darin bestünde, sie jedem Einzelnen zu verbieten. In praktischer Hinsicht wäre der Unterschied zwischen akteursrelativer und akteursneutraler Normierung dann für die Meta-Ebene rechtssetzenden Handelns irrelevant. Dass dem freilich nicht so ist, zeigt sich daran, dass aus der Perspektive eines „akteursneutralen“ Gesetzgebers nichts dagegen spräche, die Ermordung eines Unschuldigen durch einen Akteur A genau dann zu gestatten, wenn durch diesen einen Mord verhindert werden kann, dass andere Akteure eine insgesamt größere Zahl von Morden begehen. Ja, mehr noch, ein „akteursneutral“ ausgerichteter Gesetzgeber wäre geradezu verpflichtet, das Strafrecht so auszugestalten, dass es Akteur A in diesem Fall das Begehen eines Mordes gestattet. Wie eingangs gezeigt wurde, ist das Strafrecht in Rechtsstaaten aber gerade dezidiert nicht so strukturiert. Vielmehr normiert es offenbar „akteursrelativ“, indem es jedem Einzelnen die Verletzung der Rechte anderer untersagt, und zwar auch dann, wenn dadurch die Zahl der begangenen Rechtsverletzungen insgesamt minimiert werden könnte. Diese in praktisch allen Rechtsstaaten feststellbare akteursrelative Tiefenstruktur des Strafrechts scheint nun allerdings mit dem Umstand in Konflikt zu stehen, dass der Staat in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber insofern einen „akteursneutralen“ Akteur par excellence darstellt, als er auf die Rechte aller Fälle abdecken, in denen es zwischen einem deontologischen und einem konsequenzialistischen Paradigma von Normativität zu einem Konflikt kommen kann. In der Regel werden konsequenzialistische und deontologische Ethiker sich eher über diejenigen Fälle streiten, in denen durch einen Verstoß gegen eine Pflicht bzw. durch die Verletzung eines Rechts eines Menschen ein insgesamt optimaleres Ergebnis für die auf dem Spiel stehenden Güter erreicht werden kann, als dies ohne jene Pflicht- bzw. Rechteverletzung der Fall ist. Gleichwohl ist das „Paradox der Deontologie“ insofern von größter metaethischer Bedeutung, als es eben die Akteursrelativität zum Vorschein bringt, die im deontologischen Ethikmodell notwendig am Werk ist, in den meisten „Standardfällen“ aber verborgen bleibt.

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in ihm lebenden Rechtssubjekte verpflichtet ist. Es stellt sich also die Frage, ob es überhaupt gerechtfertigt werden kann, dass ein Rechtsstaat, obwohl er verpflichtet ist dafür zu sorgen, dass die Rechte möglichst aller Rechtssubjekte in möglichst umfassender Weise geachtet werden, dennoch Rechteverletzungen als unzulässig setzt, die zur Folge hätten, dass die Zahl der Verletzungen des gleichen Rechts insgesamt minimiert würde. Die These, die im folgenden vertreten wird, wird über eine positive Beantwortung des „ob“ insofern freilich noch hinausgehen, als gezeigt werden soll, dass Rechtsstaaten dies nicht nur legitimerweise dürfen, sondern dass sie aufgrund ihres spezifischen Charakters als institutionell verfasste Gemeinschaft sich anerkennender Rechtssubjekte sogar dazu verpflichtet sind, das Strafrecht akteursrelativ auszugestalten. Das impliziert nicht zuletzt aufzuzeigen, dass es noch eine andere Art und Weise der Verbindlichkeit des Prinzips der Akteursrelativität geben kann als diejenige, die für individuelle Akteure gilt. Gelingt dies, so wirft das nicht zuletzt ein neues Licht auf die Differenz und den Zusammenhang zwischen akteursrelativen und akteursneutralen Normativitätsmodellen überhaupt. Zunächst soll nun vor diesem Hintergrund auf die – vorwiegend im angelsächsischen Raum geführte – Diskussion über den Grund der Akteursrelativität eingegangen werden. In einem zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, dass dieser Grund nur angegeben werden kann, wenn man auf eine anerkennungstheoretische Grundlegung rechtlicher und moralischer Normativität rekurriert wie sie exemplarisch in der Rechtsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes zu finden ist. Im dritten und letzten Schritt wird dann aufgezeigt, dass eine solche Grundlegung impliziert, dass auch das gesetzgeberische Meta-Handeln der Handlungsnormierung an das Prinzip der Akteursrelativität gebunden bleibt.

II. Der Grund der Akteursrelativität Betrachtet man nun entsprechend dem ersten Schritt die vor allem im angelsächsischen Sprachraum geführte Debatte um die Akteursrelativität, so wird man feststellen, dass deren Proponenten zumeist aus der Defensive heraus gegen den Einwand argumentieren müssen, dem Gedanken akteursrelativer Pflichten fehle ein rational nachvollziehbarer Grund. Diesen Verdacht der Irrationalität referiert exemplarisch Samuel Scheffler, wenn er schreibt: „how can it be rational to forbid the performance of a morally objectionable action that would have the effect of minimizing the total number of comparably objectionable actions that were performed and would have no other morally relevant consequences?“8 Unter den Strategien, jenem Einwand zu begegnen, sind eine verantwortungstheoretische, eine im weitesten Sinn tugendethische und eine im weitesten Sinn „rechte-zentrierte“ Strategie die 8 Scheffler, Samuel: The Rejection of Consequentialism, Oxford: Clarendon Press, 19942, S. 133 f.

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wichtigsten.9 Sie sollen hier kurz angesprochen werden, um zu zeigen, dass keine dieser Strategien wirklich erfolgversprechend ist. Die verantwortungstheoretische Strategie versucht akteursrelative Normierungen dadurch zu begründen, dass eine unaufhebbare Differenz zwischen der Verantwortung für die Wirkungen des eigenen Handelns und der Verantwortung für die Wirkungen des Handelns Anderer postuliert wird, wobei die Verantwortung für das eigene Handeln stets Vorrang vor der Verantwortung für das Handeln Anderer habe. Letztlich scheint diese Antwort aber keine Begründung des Prinzips der Akteursrelativität zu bieten, sondern dieses Prinzips seinerseits als Grund zu bedürfen. Das wird sofort deutlich, wenn man sich die konsequenzialistische Gegenposition verdeutlicht, die eben gerade davon ausgeht, dass es zwischen den Folgen der eigenen Handlungen und den Folgen der Handlungen Anderer genau dann keinen Unterschied hinsichtlich der Verantwortungszuschreibung gibt, wenn man das Handeln Anderer nachhaltig beeinflussen kann. Da etwa „Jim“ durch sein Handeln den Tod der zwanzig Indios verhindern könnte, wäre er nach dieser Verantwortungstheorie für den Tod der zwanzig Indios auch verantwortlich, und dies eben in keiner anderen Weise, als er für den Tod desjenigen Indios verantwortlich wäre, den er selbst erschießen würde, wenn er sich denn in der Situation dafür entscheiden würde. Nur wenn man das Prinzip der Akteursrelativität also bereits voraussetzt, kann man überhaupt jenen Unterschied in der Verantwortungszuschreibung behaupten, der für die verantwortungstheoretische Lösung kennzeichnend ist. Die tugendethische Lösungsstrategie hat eine ähnliche Stoßrichtung wie die verantwortungstheoretische, wenn sie betont, dass es im Handeln zunächst darauf ankomme, den eigenen Willen im Guten zu halten, und dann erst für „möglichst gute Weltzustände“ zu sorgen.10 Ein Konsequenzialist kann dem allerdings entgegenhalten, dass das Prinzip der Akteursrelativität auch dann bereits vorausgesetzt sei, wenn man die Frage, was das Gute bzw. Richtige jeweils sei, nicht über eine Abwägung der Handlungsfolgen entscheide. So sei es in dem skizzierten Fall aus konsequenzialistischer Perspektive keineswegs klar, dass es moralisch falsch oder schlecht sei, den einen Mord nicht zu begehen, wenn dadurch fünf Morde verhindert werden könnten.11 Bestimme man das richtige Handeln nämlich über eine Güterabwägung im Hinblick darauf, welche Folgen welches Handeln hat, so sei es gerade die richtige Handlung, den Mord zu begehen, und die schlechte, ihn nicht zu begehen. Wer das Richtige anders verstehe, begründe das Prinzip der Akteursrelativität also nicht, sondern setze es bereits voraus. Eine Variante der tugendethischen

9 Zu diesen Strategien und der konsequenzialistischen Kritik daran vgl. die ausführliche Diskussion bei Kagan, Shelly: The Limits of Morality, New York: Oxford University Press, 1989, S. 83 – 182. 10 Eine solche Argumentationsstrategie verfolgt neuerdings etwa Martin Rhonheimer (Rhonheimer, Martin: Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Berlin: Akademie-Verlag, 2001; hier insbesondere S. 329 – 357). 11 Vgl. für eine solche Argumentation Kagan, ebd., S. 29 f.

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Argumentation findet sich bei Williams, der gegen den Konsequenzialismus vorbringt, jeder Akteur habe das Recht, seine persönliche moralische Integrität gegen die Zumutungen eines Konsequenzialismus zu bewahren, der ihn z. B. im Gedankenexperiment „Jim und die Indios“ moralisch dazu verpflichten wolle, einen Mord zu begehen. Williams fasst das in die Worte: „It is absurd to demand of such a man, when the sums come in from the utility network which the projects of others have in part determined, that he should just step aside from his own project and decision and acknowledge the decision which utilitarian calculation requires. It is to alienate him in a real sense from his actions and the source of his action in his own convictions. It is to make him into a channel between the input of everyone’s projects, including his own, and an output of optimific decision; but this is to neglect the extent to which his actions and his decisions have to be seen as the actions and decisions which flow from the projects and attitudes with which he is most closely identified. It is thus, in the most literal sense, an attack on his integrity.“12 Williams’ Rückgriff auf die „persönliche Integrität“ nun ist freilich in gewisser Weise noch schwächer als der tugendethische Ansatz, da er lediglich von einem subjektiven Willen des Handelnden zur Wahrung der eigenen moralischen Integrität getragen ist. Geht man davon aus, so wird allenfalls eine Option begründet, den Mord nicht zu begehen, wenn man ihn um seiner persönlichen Integrität willen nicht begehen will, weil dies den „Projekten und Haltungen“ widerspräche, die die eigene persönliche Identität ausmachen. Das Prinzip der Akteursrelativität hat aber den stärkeren Anspruch, dass es unabhängig davon, was man persönlich will und welche persönliche empirische Identität man hat, verboten sei, ihn zu begehen. Und genau diesen stärkeren Anspruch kann eine auf den subjektiven Willen zur persönlichen Integrität und empirischen Identität des Handelnden abzielende Theorie offenkundig nicht begründen. Er muss aber begründet werden, wenn die Gegebenheit unbedingter Pflichten und unantastbarer Rechte theoretisch gerechtfertigt werden soll. In aller Deutlichkeit wird dies wieder von Scheffler ausgesprochen, der in seiner Studie „The Rejection of Consequentialism“ die Auffassung vertritt, dass man zwar eine „agent-centered prerogative“ begründen könne, nach der man auch durch konsequenzialistische Überlegungen nicht moralisch verpflichtet werden könne, jemandem Leid zuzufügen, wenn man dies nicht wolle. Die stärkere Behauptung einer „agent-centered restriction“, die besagt, man dürfe dies auf keinen Fall, sei dagegen nicht rational begründbar (was Scheffler allerdings zumindest für beunruhigend hält): „For the prerogative, unlike the restrictions, appears to have an independent principled rationale; it represents one rational response to the natural independence

12 Williams, ebd., S. 117. Dasselbe Argument findet sich auch bei Charles Fried, der das deontologische Ethikmodell geradezu auf den Anspruch des Einzelnen aufbaut, seine persönliche Integrität zu wahren: „If deontology, the theory of right and wrong, is solicitous of the individual, it is primarily solicitous of his claim to preserve his moral integrity.“ (Fried, Charles: Right and Wrong, Cambridge (MA): Harvard University Press 1978, S. 2)

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of the personal point of view. […] But, at the same time, I hope these readers will also agree that there are reasons to be worried about agent-centered restrictions, and feel challenged to identify that rationale for the restrictions which has so far eluded our grasp.“13 Ein erster Hinweis darauf, wo der von Scheffler eingeforderte Grund akteursrelativer Pflichten aufzusuchen sein könnte, findet sich auf eine durchaus bemerkenswerte Weise bei Robert Nozick selbst. Nozick greift nämlich auf die zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs, die Menschheitsformel zurück, um die Idee unbedingt geltender negativer Rechtspflichten – bei ihm side constraints genannt – zu begründen. Jede Person, so sein Ausgangspunkt, habe bestimmte grundlegende Rechte, darunter das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Eigentum. Auf dieser Grundlage formuliert Nozick nun eine Antwort auf das „Paradox der Deontologie“, die man eine „patientenrelativ-rechtezentrierte“ nennen könnte. Unbedingte Verbotsnormen sollen sich demnach aus fundamentalen Rechten der potentiellen Opfer von Rechtsverletzungen ergeben, nicht aus der persönlichen Integrität der potentiellen Täter oder Ähnlichem.14 Grundsätzlich löst die Verschiebung des Fokus auf den „Patienten“, d. h. auf den von einer Handlung Betroffenen und dessen Rechte, freilich auch nach Nozicks Auffassung das Paradox nicht. Denn wenn das, was an einer rechteverletzenden Handlung falsch wäre, der Umstand wäre, dass dadurch die Rechte des Opfers verletzt werden, so wäre nicht einzusehen, warum eine Handlung, die ein Recht R eines Opfers verletzt, aber dazu führt, dass dasselbe Recht R mehrerer anderer potentieller Opfer nicht verletzt wird, nicht sollte durchgeführt werden dürfen. Hebt also man in einer einfachen Weise auf Rechte ab, so kommt man gerade nicht zu unbedingten negativen Pflichten. Es muss daher, so offenbar Nozicks Überlegung, eine Norm geben, die die Art und Weise der Beachtung von Rechten festlegt, und die als solches der Beachtung der Rechte jedes einzelnen Rechtssubjekts einen unbedingten Vorrang vor der Abwägung mit den Rechten anderer Rechtssubjekte einräumt. Eine solche Norm findet Nozick in der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs ausgedrückt.15 Sie fungiert mithin in Nozicks Konzeption als eine Art Meta-Recht, das den Umgang mit und die Anwendung von Rechten regelt, indem es bestimmt, dass mit Rechten nicht konsequenzialistisch-akteursneutral, sondern deontologisch-akteursrelativ umzugehen ist. Gleichwohl löst Nozicks Rückgriff auf den Kategorischen Imperativ das „Paradox der Deontologie“ noch nicht vollständig auf. Das Prinzip der Akteursrelativität wird nämlich selbst in Nozicks Vorschlag letztlich nicht begründet, sondern einfach nur vorausgesetzt. Zum einen, insofern er für die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs keine eigenständige Begründung entwickelt – was angesichts der Tatsache, dass Nozick die transzendentalphilosophischen Prämissen der kantischen 13 14 15

Scheffler, ebd., S. 114. Vgl. Nozick, ebd., S. 29. Vgl. Nozick, ebd., S. 30 ff.

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Philosophie und damit die kantische Begründung des Kategorischen Imperativs offenkundig nicht teilt, aber notwendig wäre. Zum anderen, da selbst die Menschheitsformel rein theoretisch auch akteursneutral verstanden werden könnte, so dass das Prinzip der Akteursrelativität sogar hier noch zumindest als Grundsatz zur Auslegung der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs vorausgesetzt werden muss. Das zeigt sich deutlich, wenn man es probehalber aus Nozicks Vorschlag wegdenkt. Dann nämlich taucht sofort wieder die Frage auf, warum die Verhinderung von mehreren Verletzungen der Menschheitsformel nicht eine Verletzung der Menschheitsformel sollte erlauben können.

III. Anerkennung als Grund der Akteursrelativität Der Ansatz Nozicks zeigt freilich trotz der noch vorhandenen Defizite die Richtung an, in der die tatsächliche Lösung des Problems akteursrelativer Pflichten zu suchen wäre. Weder eine einseitige Fokussierung auf den Handelnden noch eine einseitige Fokussierung auf die von der Handlung Betroffenen kann solche Pflichten offenbar theoretisch einholen. Anders sieht dies jedoch aus, wenn man Akteur und Betroffenen nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern bei der Relation zwischen beiden ansetzt. Eine Theorie, die ebendies zu leisten vermag, findet sich in der nicht zufälligerweise an Kant anschließenden Rechtsphilosophie Fichtes, ja überhaupt bei denjenigen Theorien der Normativität, die üblicherweise „Anerkennungstheorien“ genannt werden. Der Kerngedanke solcher Theorien ist, dass die Achtung, die ein vernünftiges Wesen A einem anderen vernünftigen Wesen B schuldet, reflexiv darin begründet ist, dass B wiederum fähig ist, Vernunftwesen A als Vernunftwesen zu achten und entsprechend zu behandeln. Der kantische Autonomiebegriff weist die konstitutiven Elemente einer solchen Anerkennungstheorie in rudimentärer Form bereits auf, erst in Fichtes Grundlagen des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre16 findet er aber seine explizite Entfaltung. Wesentlich für Fichtes Ansatz, dessen Umrisse hier nur grob angedeutet werden können, ist der Umstand, dass er bereits die Konstitution von individuellem Selbstbewusstsein als intersubjektiven Prozess denkt. Als individuelles und endliches Ich kann sich ein Wesen, das wesentlich Bewusstsein seiner selbst ist, so Fichte, nur erfahren, indem es sich als freies erfährt. Um sich als frei erfahren zu können, bedarf es aber nach Fichtes transzendentalphilosophischer Analyse des Begriffs eines „endlichen Ich“ einer Aufforderung zur Freiheit durch ein anderes freies, selbstbewusstes Ich, da Freiheit prinzipiell nur im Bezug auf einen von mehreren Subjekten konstituierten Handlungs- und Möglichkeitsraum denkbar und erfahrbar ist. Im Moment der Konstitution seiner selbst als selbstbewusstes individuelles Subjekt ist sich 16 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, (Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band III), Berlin: de Gruyter, 1971 (ND), S. 17 – 55: „Erstes Hauptstück: Deduktion des Begriffs vom Rechte“.

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das jeweilige Subjekt daher immer schon zugleich der Existenz anderer individueller Subjekte bewusst, die es einerseits als von ihm unterschieden erfährt, andererseits aber auch insofern als gleich, als sie ebenfalls ihrer selbst bewusst und frei sind. Das Bewusstsein der eigenen Freiheit und Subjekthaftigkeit ist für Fichte daher gleichursprünglich immer auch das Bewusstsein der Freiheit und Subjekthaftigkeit der Anderen.17 Da sodann nicht alle freien Wesen gleichzeitig in unbegrenztem Maß frei sein können, ist nach dieser Konzeption mit der Existenz anderer freier Wesen als man selbst, zugleich die Eingeschränktheit der eigenen Freiheit und der Freiheit aller anderen endlichen, vernünftigen Subjekte immer schon mitgesetzt. Insofern nämlich die Freiheit der Anderen die Voraussetzung für die Konstitution meiner selbst als freies selbstbewusstes Individuum ist, kann ich auch meine eigene Freiheit von vorneherein je nur als eingeschränkte Freiheit denken, da ich sonst die Freiheit der Anderen nicht denken könnte, die wiederum die Voraussetzung meiner Freiheit und demnach auch meiner Existenz als Subjekt überhaupt ist. Freiheit ist daher immer nur als eingeschränkt durch die Freiheit der Anderen überhaupt denkbar, die ihrerseits nur als eingeschränkt durch meine Freiheit denkbar ist. Indem die endlichen Subjekte sich dieser Reflexionsbewegung bewusst werden, ergibt sich an sie schließlich die Forderung, ihre Beziehungen untereinander in die Form des Rechts zu bringen, d. h. in ein System praktischer Regeln, das so gestaltet ist, dass es jedem Rechtssubjekt eine gleiche Sphäre von im Hinblick auf die Freiheitssphären aller anderen Rechtssubjekte eingeschränkter Freiheit zuerkennt.18 Eine andere Person als Rechtssubjekt anerkennen bedeutet demnach, sie als ein Wesen anzuerkennen, das von jedem anderen Rechtssubjekt beanspruchen kann, ihm eine exklusive Sphäre der Ausübung seiner Freiheit zuzugestehen – eine Sphäre also, von der es die Freiheitsausübung jedes anderen Subjekts legitimerweise ausschließen darf. Entscheidend ist dabei, dass die im Sinn solcher Ansprüche verstandenen Rechte des einzelnen Subjekts nicht primär unbestimmte Anrechte auf diejenigen Güter – wie etwa Leben, Eigentum oder Meinungsfreiheit – sind, die von dem jeweiligen Recht geschützt werden. Vielmehr sind sie Ansprüche, die gegenüber jedem anderen Subjekt dahingehend bestehen, dass das andere Sub-

17 Fichte fasst die transzendentalphilosophische Analyse, die ihn zu dieser Einsicht führt, prägnant folgendermaßen zusammen: „Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er gar nichts anderes seyn kann denn ein Mensch, und gar nicht seyn würde, wenn er dies nicht wäre – sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn. Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherige Erfahrung oder auf andere Wahrscheinlichkeitsgründe aufgebaute Meinung, sondern es ist eine aus dem Begriff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken eines einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht der Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.“ (Fichte, ebd., S. 39) 18 „Das endliche Vernunftwesen“, so Fichte, „kann nicht noch andere Vernunftwesen außer sich annehmen, ohne sich zu setzen, als stehend mit denselben in einem bestimmten Verhältnisse, welches man das Rechtsverhältnis nennt.“ (Fichte, ebd., S. 41)

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jekt nicht durch eine in Freiheit verursachte Einwirkung auf den Rechtsträger in dessen legitime Freiheitssphäre eingreift. Dieser Anspruch auf die Unverfügbarkeit der eigenen legitimen Freiheitssphäre für Andere ist der grundlegende normative Gehalt der Anerkennungsbeziehung. Die Anerkennungsbeziehung adressiert also jedes einzelne Subjekt als ein Wesen, das die Fähigkeit hat, aus freier Entscheidung auf andere Subjekte einzuwirken, das zugleich aber nicht das Recht hat, in einer Weise auf andere Subjekte einzuwirken, die dem Rechtsprinzip widersprechen würde. Wie nun leicht zu sehen ist, ist genau dies der normative Gehalt des Prinzips der Akteursrelativität, das ebenso jeden einzelnen Akteur in der zweiten Person als ein Subjekt adressiert, das die Unverfügbarkeit der Freiheitssphären aller anderen Subjekte kategorisch zu beachten hat. Die Anerkennungsrelation ist also der von Scheffler und anderen analytischen Philosophen eingeforderte rationale Grund der Akteursrelativität von Rechtspflichten. Denkt man Rechte und Rechtspflichten also von der Anerkennungsrelation her, so wird unmittelbar deutlich, dass und warum es nicht möglich ist, Rechte, Pflichten und Rechtsansprüche miteinander quantitativ oder qualitativ zu verrechnen. Denn jegliche Verletzung einer Pflicht, die gegenüber einem anderen Subjekt besteht, ist dann gleichbedeutend mit einer Negation des Anerkennungsverhältnisses selbst. Die Meta-Norm aller Normen überhaupt ist aber diese, das in der Gesamtheit der einzelnen Normen artikulierte Anerkennungsverhältnis nicht zu verletzen. Eine Normverletzung ist daher prinzipiell nicht dadurch rechtfertigbar, dass sie Mittel zum Zweck der Erfüllung einer durch die Normverletzung bedingten Erfüllung einer Norm ist. Eine solche Rechtfertigung nämlich würde einen Standpunkt jenseits der wechselseitigen Anerkennungsrelation voraussetzen, die den Raum der Normativität aber allererst konstituiert. Das lässt sich nicht zuletzt in Form einer Art „Gegenprobe“ zeigen: Würde man nämlich analog zum „Paradox der Deontologie“ behaupten, dass es doch besser wäre, eine von einem Akteur A qua Rechteverletzung vollzogene praktische Nichtanerkennung von B in Kauf zu nehmen, wenn dadurch mehrere Nichtanerkennungen anderer Subjekte durch andere Akteure verhindert werden könnten, so zeigt sich unmittelbar, dass eine solche Behauptung keinen Sinn ergibt. Denn mit der Verletzung des Anerkennungsprinzips würde der Normativität selbst ihre Grundlage entzogen: A würde sich gewissermaßen außerhalb des Raums der Normativität stellen, so dass dann überhaupt nicht mehr angebbar wäre, warum er eigentlich Anerkennungsverletzungen, die von anderen Akteuren vollzogen werden, sollte verhindern wollen. In dem Moment, in dem A es also überhaupt als normativ unzulässig bewertet, dass andere Akteure die Anerkennungsbeziehung verletzen, hat er sich selbst darauf verpflichtet, die Anerkennungsrelation zu achten, die es ihm verbietet, die Rechte eines anderen Subjekts zu verletzen. Denkt man ein deontologisches Modell der Normativität mithin vom Anerkennungsprinzip her, so verschwindet das vermeintliche „Paradox der Deontologie“ sofort. Vielmehr gilt, dass nur eine Person, die gänzlich jenseits der Anerkennungsrelationen stünde, sich der fundamentalen Verpflichtung entziehen könnte, die sie gegenüber jeder anderen Person hat, diese als Subjekt von Rechten und Gegenüber von Pflichten anzuerken-

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nen, und zwar durch die Beachtung dieser Rechte und Pflichten. Wer aber dergestalt außerhalb der Anerkennungsrelation stünde, demgegenüber bestünden selbst keine Pflichten mehr und der hätte keine Rechte, ja er wäre nicht einmal als Rechtssubjekt anerkennbar. Sein Standpunkt wäre der außerhalb des durch die Anerkennung erst konstituierten Raums des Normativen und damit ein Standpunkt, der für moralfähige Wesen unmöglich ist. IV. Die akteursrelative Verpflichtung des Staates Damit ist gezeigt, dass für die Akteursrelativität entgegen der Vermutung Schefflers und anderer Autoren in der Tat ein rationaler Grund angegeben werden kann. Es ist darüber hinaus freilich noch viel mehr gezeigt: nämlich dass diejenigen Pflichten, die vernünftige Subjekte gegeneinander haben, angemessen überhaupt nur deontologisch-akteursrelativ gedacht werden können, während der Konsequenzialismus das Proprium intersubjektiver Normativität geradezu verfehlt. Geht man von diesem Zwischenergebnis aus, so zeichnet sich endlich auch der Grund dafür ab, dass der Staat, obgleich er – eben wegen des Anerkennungsprinzips – auf die Sicherung der Rechte aller Individuen verpflichtet ist, zugleich darauf verpflichtet ist, das Strafrecht der Grundstruktur deontologisch-akteursrelativ auszugestalten. Um diesen Grund zu verstehen, muss allerdings noch einmal auf das logische Verhältnis der Pflichten, die die einzelnen Subjekte gegeneinander haben, zur Sphäre des Rechts eingegangen werden. Rein als Pflichten betrachtet, d. h. vor der Konstitution einer Rechtssphäre, binden akteursrelative Normen zunächst tatsächlich nur Individuen. Wie wir freilich im Zuge der Rekonstruktion von Fichtes rechtlicher Anerkennungstheorie gesehen haben, impliziert die Anerkennung der fremden Subjektivität als Subjektivität die Rücknahme der eigenen Freiheitsbetätigung zugunsten der Ermöglichung der Freiheit aller Subjekte. Mit der reflexiven Einsicht in die Notwendigkeit einer gleichen Zuteilung von Freiheitssphären nach allgemeinen Regeln resultiert genau aus dieser Pflicht aber bereits dasjenige, was man gemeinhin ein „subjektives Recht“ nennt, d. h. ein Anspruch auf die Nichtverletzung der eigenen legitimen Freiheitssphäre, der gegenüber allen anderen Subjekten der Anerkennungsgemeinschaft geltend gemacht werden kann. In Staat und Recht konstituiert sich damit die Gemeinschaft sich wechselseitig anerkennender Personen selbst als eine Instanz, die dazu verpflichtet ist, die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft als Subjekte und damit als Träger von Rechten anzuerkennen. Der Staat ist insofern überhaupt nichts anderes als die sich – in der Form des Rechtsstaats – als Anerkennungsgemeinschaft konstituierende Gemeinschaft freier Subjekte. Sich als Anerkennungsgemeinschaft zu konstituieren bedeutet aber genau, sich als eine Gemeinschaft zu konstituieren, in der kein einziges Mitglied legitimiert werden kann, die subjektiven Rechte eines anderen Mitglieds zu verletzen. Der Begriff des „subjektiven Rechts“ ist mithin das Ergebnis einer von vorneherein unhintergehbar akteursrelativen Reflexion und bleibt so auch immer an das Prinzip der Akteursrelativität rückgebunden. Der Sinn eines subjektiven Rechts be-

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steht dementsprechend nicht darin, den Rechtssubjekten Ansprüche auf bestimmte Güter zu garantieren – etwa das Leben, die Meinungsfreiheit oder einen konkreten Eigentumstitel –, sondern darin, ihnen ihren jeweiligen Anspruch auf ausschließliche Verfügung über bestimmte Güter, den sie gegenüber allen anderen Rechtssubjekten geltend machen können, zu gewährleisten. Daher kann auch nur derjenige, der fälschlicherweise meint, bei Rechten handele es sich unmittelbar um Ansprüche auf Güter, zu der „akteursneutralen“ Auffassung gelangen, fundamentale Rechte wie das Lebensrecht könnten quantitativ gegeneinander abgewogen werden. Versteht man ein Recht dagegen richtig als einen Anspruch eines Subjektes darauf, dass alle anderen Rechtssubjekte es unterlassen, über ein bestimmtes Gut zu verfügen, so wird deutlich, dass und warum die in diesem Sinn verstandenen „subjektiven Rechte“ nicht „akteursneutral“ normierbar sind. Würde es der Staat nämlich in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber zulassen, dass ein Recht x1 eines Rechtssubjekts P durch ein Rechtssubjekt Q verletzt wird, um zu verhindern, dass die gleichartigen Rechte x2, x3 und x4 der Rechtssubjekte A, B und C durch ein anderes Rechtssubjekt D verletzt werden, so würde damit der Status von P als Mitglied einer Gemeinschaft sich wechselseitig als Rechtssubjekte anerkennender freier Vernunftwesen insgesamt aufgehoben: denn P würde dann seitens der Rechtsgemeinschaft nicht mehr als ein Träger von Rechten behandelt. Ein Wesen nicht als Träger von Rechten zu behandeln, bedeutet aber, es nicht als Subjekt anzuerkennen. Damit wäre P gegenüber das Anerkennungsprinzip selbst außer Kraft gesetzt, was in einem Rechtsstaat aber insofern denkunmöglich ist, als es die unhintergehbare Grundlage des Staates als einer Rechtsgemeinschaft überhaupt bildet. Anders gesagt: würde die Anerkennungsgemeinschaft in ihrer Eigenschaft als Gesetzgeber ein Gesetz erlassen, das es – in Form des Verzichts auf Strafandrohung und Strafvollzug – einigen Individuen erlauben würde, die Rechte anderer Individuen unter bestimmten Umständen zu verletzen, so würde der Gesetzgeber ein „Recht auf Rechtsverletzung“ setzen. Ein „Recht auf Rechtsverletzung“ ist aber in sich widersprüchlich und widerspricht der Selbstkonstitution des Staates als Anerkennungsgemeinschaft. Dementsprechend ist der Staat in seiner Rolle als Gesetzgeber des Strafrechts zunächst nur darauf verpflichtet, jedes einzelne Rechtssubjekt vor Übergriffen anderer Rechtssubjekte auf dessen Rechtssphäre zu schützen bzw. verletzte Anerkennungsverhältnisse durch den Vollzug einer Strafe zu restituieren. Dieser Schutz vollzieht sich im Fall der Rechtssubjekte A, B und C, die von einem Übergriff durch D bedroht sind, indem D dieser potentielle Übergriff vom Gesetzgeber strafbewehrt untersagt wird, ebenso wie Q vom Gesetzgeber der Übergriff auf die Rechtssphäre von P strafbewehrt untersagt wird. Das rechtsfundierende Prinzip der wechselseitigen Anerkennung freier Subjekte fordert mithin nicht nur vom Einzelnen, sich an der Akteursrelativität zu orientieren, sondern auch vom Gesetzgeber des Strafrechts, dieses akteursrelativ-deontologisch auszugestalten. Indem der Gesetzgeber es in dieser Weise jedem Subjekt strafbewehrt untersagt, die legitimen Rechtssphären aller anderen Rechtssubjekte zu beeinträchtigen, hat er denn auch die Pflichten, die ihm – in der hier relevanten strafrechtlichen Hinsicht – als Instanz

Die Akteursrelativität als Meta-Norm des Rechtsstaats

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der durch die wechselseitige Anerkennung der freien Subjekte konstituierten rechtlichen Anerkennungsgemeinschaft aufgegeben sind, bereits vollständig erfüllt. Für eine eventuell von D, in Verletzung des strafrechtlichen Verbots, begangene Rechtsverletzung ist dann alleine D verantwortlich, nicht aber der Gesetzgeber und erst recht nicht Q, den wir hier mit Bernard Williams auch „Jim“ nennen könnten.19

Summary The debate about deontological and consequentialist approaches in ethics that has taken place during the last 30 years has brought about one important insight in the nature of deontological ethics: the insight that the kind of normativity which is at work here is essentially agent-relative. As the debate has evolved, this insight, however, only was applied to individual ethics. Nonetheless, a closer look at the penal law in those states that can be considered „Rechtsstaaten“ reveals that it usually has an agent-relative deep structure. In this article I want to show that this is anything but coincidental, i.e. I will show that the agent-relative form of normativity not only applies to individual ethics, but also constitutes an essential feature of „Rechtsstaatlichkeit“. In order to do so I will first consider the debate on the rationale of agentrelativity, relating this debate to Fichte’s discussion of the foundation of natural law. In the second step I will show that Fichte’s principle of „Anerkennung“ not only provides an appropriate rationale for agent-relativity, but also explains that and why „Rechtsstaatlichkeit“ requires an essentially agent-relative penal law.

Literatur Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, (Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band III), Berlin: De Gruyter, 1971 (ND). Fried, Charles: Right and Wrong, Cambridge (MA): Harvard University Press, 1978. Kagan, Shelly: The Limits of Morality, New York: Oxford University Press, 1989. Nagel, Thomas: The View from Nowhere, New York: Oxford University Press. 1986. Nozick, Robert: Anarchy, the State and Utopia, New York: Basic Books, 1974. Pawlik, Michael: Der rechtfertigende Notstand. Zugleich ein Beitrag zum Problem strafrechtlicher Solidaritätspflichten, Berlin: De Gruyter, 2002. Rhonheimer, Martin: Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Berlin: Akademie-Verlag, 2001. Scheffler, Samuel: The Rejection of Consequentialism, Oxford: Clarendon Press, 19942. 19 Diese Überlegungen zeigen im Übrigen auch, dass sich die Frage, welcher Akteur wofür verantwortlich ist, nicht primär von der Handlungstheorie her ergibt, sondern aus der Logik und Struktur des Anerkennungsverhältnisses resultiert.

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Williams, Bernard: „A Critique of Utilitarianism“, in: Smart, John J. C. / Williams, Bernard: Utilitarianism For and Against, Cambridge: Cambridge University Press 1973, S. 77 – 150.

Beiträge zu Kants Metaphysik der Sitten – Contributions on Kant’s Metaphysics of Morals

War as Means to Peace? Kant on International Right Alyssa R. Bernstein

Immanuel Kant argues in his philosophy of right that disputes should be resolved by law instead of by lawless violence, and that rights can be secure only in a rightful condition. He distinguishes three rightful conditions, corresponding to civil law, international law, and cosmopolitan law, which together constitute a system. And he explains that bringing them all into being and thus “establishing universal and lasting peace constitutes … the entire final end of the doctrine of right within the limits of mere reason.” (VI:355).1 Kant declares that since rights cannot be secure while there is war, “morally practical reason pronounces in us its irresistible veto: there is to be no war …” (VI:354). Here he refers to fighting between individuals as well as the use of military forces: “… there is to be no war, neither war between you and me in the state of nature nor war between us as states …” (VI:354). This passage may be understood in more than one way: it may mean, for example, that war is always wrong, or else that reason requires striving to eliminate war (which may be permissible as a means to that end). Some interpreters favor this latter interpretation in view of the fact that central to Kant’s philosophy of right is the argument that individuals in the state of nature have a duty to exit this condition and may use force in order to do so. B. Sharon Byrd and Joachim Hruschka2 (henceforth “B&H”) interpret Kant as arguing both that individuals in a state of nature may use force in order to replace their lawless condition with a juridical state, and that states in a state of nature may use force for an analogous purpose. They contend that Kant held that “states have a right in the state of nature to coerce their neighboring states to enter a juridical state

1 Immanuel Kant, The Metaphysics of Morals, cited according to the Academy Edition (Kant’s Gesammelte Schriften, commonly referred to as Akademie-Ausgabe). Unless otherwise indicated, I rely for English translation on Paul Guyer / Allen Wood, eds.: The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, Cambridge: Cambridge University Press, 1996; the texts here quoted were translated and edited by Mary J. Gregor. Regarding this and other sources, I do not add a final ellipsis when quoting part of a sentence, except within a quoted passage, unless omitting the ellipsis would distort the meaning of the quoted text; and unless otherwise indicated, italics are in the quoted texts. 2 B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Right: A Commentary, Cambridge: Cambridge University Press, 2010, henceforth “B&H.” Unless otherwise indicated, page numbers henceforth refer to B&H.

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of states,” and even to “wage war to coerce the neighbors to do so” if they are unwilling. (195). B&H acknowledge that on their interpretation, Kant’s “Doctrine of Right” (1797) (henceforth “DR”) conflicts on several important points with his “Toward Perpetual Peace” (1795) (henceforth “TPP”), but they argue that these conflicts do not constitute grounds for rejecting their interpretation; they contend that Kant later corrected his earlier views. B&H note that in TPP Kant “denies any authority one state might have to coerce another,” yet they interpret DR as saying both that “establishing a juridical state of states is a permissible reason to wage war” and that a state may permissibly, on grounds of preventive defense, attack a more powerful state that has not actively injured any other state but is becoming much more powerful (a “potentia tremenda”). (14 – 15). B&H argue that Kant changed his position on these issues as he developed his philosophical system “to perfection” and applied the “fully developed idea of a juridical state … not only to individual persons, but equally to states in their relations to each other.” (15). Here I argue against interpreting Kant as holding that states have a right in the state of nature to wage war in order to coerce other states to enter a juridical state of states. I offer both textual and non-textual arguments. Among the non-textual arguments is that ascribing to states such a right to wage war conflicts with Kant’s goal of perpetual peace. The textual arguments include a critical examination of the textual bases of B&H’s position and a case for a different understanding of DR. In my analysis of Kant’s texts, DR does not conflict with TPP on the topic of war, and in DR Kant argues against the idea that every state has a general right to go to war. As B&H construe Kant, an individual in the interpersonal3 state of nature is to be presumed evil until the opposite is proved, according to a rule of prudence that they call “the presumption of badness.” They infer that this presumption applies also to a state in the international state of nature. I dispute this inference, and partly on this basis I dispute B&H’s construal of the analogy drawn by Kant between the interpersonal and international states of nature. B&H’s case for the right to wage war is based on this analogy. Their construal of the analogy depends on their interpretations of the concepts of a state of nature and a rightful condition. Below I offer some reasons for rejecting their interpretations of these concepts.

I. Byrd & Hruschka’s case for the right to wage war B&H contend that, according to Kant, while states are in the international state of nature they have a right to wage a defensive war because there is no other way for a state to assert its rights when it believes itself to have been injured by another state. If there were a court, a state could assert its rights through a court proceeding, but a 3 I use the term “interpersonal state of nature” to refer to a state of nature among individual human beings, and the term “international state of nature” to refer to a state of nature among states.

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state of nature is by definition a condition in which this is not possible. (194). “In certain cases there must be a ‘right to wage war’ because otherwise the states, as individual persons in the state of nature, would be left helplessly lost by (natural) law in their relations to their evil neighbors.” (195). Not only injury but also threat or fear of injury is a justification for war, according to B&H. As regards the case of a potentia tremenda, i.e., the case of “a state endangered by a neighboring state whose power is growing to tremendous capacity,” B&H understand Kant’s view as follows: “According to the presumption of badness, [the endangered state] must assume that the tremendous power is evil and intends to attack us as the weaker state.” (195).4 B&H further contend that states in the international state of nature have the right to coerce their neighboring states, including those that have neither attacked them nor threatened to attack them, to enter a juridical condition, namely, a state of nation states. They further assert that all states have the right to wage war with the aim of establishing a juridical state, since all states are required to leave the state of nature and enter a juridical state, and “everything valid for the individual human beings in their interrelations concerning their right to use force to coerce others to enter a juridical state is likewise valid for states.” (195). B&H’s interpretation of Kant’s view may be analyzed as an argument with the following structure. (1)

The interpersonal state of nature is a condition of war.

(2)

The presumption of badness applies to individuals in the interpersonal state of nature. (A person in the interpersonal state of nature is to be presumed evil until the opposite is proved.)

(3)

In the interpersonal state of nature, individuals have a right to use force to defend their rights.

(4)

Therefore (from 1, 2, and 3), in the interpersonal state of nature, individuals have a right of self-defense to coerce others into a rightful condition (a juridical state).

(5)

The international state of nature is a condition of war.

(6)

The presumption of badness applies to states in the international state of nature. (A state in the international state of nature is to be presumed evil until the opposite is proved.)

4 There is disagreement about what larger point Kant may be making by means of his discussions, in both DR and TPP, of the case of the potentia tremenda. See, for example, Howard Williams, Kant and the End of War: A Critique of Just War Theory, New York: Palgrave Macmillan, 2012, 99 – 102. Williams provides some historical and contextual as well as some textual grounds for an alternative reading of the passages in which Kant speaks of the potentia tremenda. Below I provide an analysis of DR that is largely consistent with the argument Williams presents in the aforementioned book, although I do not here take a position on his dispute with Byrd & Hruschka regarding whether DR or TPP presents Kant’s most mature views about war and international right.

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(7)

The international state of nature is fully analogous to the interpersonal state of nature.

(8)

In the international state of nature, states have a right to use force to defend their rights.

(9)

Therefore (from 4, 5, 6, 7, 8), in the international state of nature, states have a right of self-defense to coerce unwilling neighboring states into a rightful condition (a juridical state).

(10) Therefore (from 9) in the international state of nature, states have a right to wage war as a means of coercing unwilling neighboring states into a rightful condition (a juridical state). The conclusion of this argument is not adequately supported by its premises. Here I argue that there are reasons to regard premises (6) and (7) as inaccurate statements of Kant’s views; and that for these and other reasons, one should not ascribe to Kant the view that states have a right in the state of nature to wage war in order to coerce other states to enter a juridical state of states. I begin by examining premise (6) of B&H’s argument.

1. Preventive defense According to B&H’s understanding of Kant’s view, in the interpersonal state of nature individuals have a right of self-defense that authorizes not only using force in reaction to an attack and preventively attacking others who pose threats, but also coercing others (including those who have neither attacked nor threatened to attack) to enter a juridical state. On the basis of their interpretation of Kant’s analogy between the two states of nature, they argue that states in the international state of nature have corresponding rights of self-defense, including the right to go to war to coerce other states to enter a juridical condition. B&H cite the passage in which Kant says that among the elements of the right of nations is that the nonrightful5 condition among states is “a condition of war (the right of the stronger), even if it is not a condition of actual war and actual attacks being constantly made (hostilities).” (VI:344). They explain that in the international state of nature each state must make its own judgment “about the dangerous situation in which it believes it finds itself” and “whether defense is required,” since there is no court. (195). Individuals in the interpersonal state of nature have no choice but to make such judgments themselves, and “[t]he same is true of states in the state of nature.” (195).

5 The term “nonrightful,” which sounds somewhat odd, is used several times by Gregor in Guyer / Wood, eds. (op. cit. fn. 1).

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2. The presumption of badness B&H believe Kant grounds the right of individuals in the interpersonal state of nature to coerce others to enter a juridical state on a presumption that he calls a “rule of prudence.”6 As previously noted, they refer to it as “the presumption of badness,” and they argue: [The prudential rule that everyone is to be presumed evil until the opposite is proved] provides the foundation for a proposition of law and, although located outside the system of legal propositions, is nonetheless properly included in a doctrine of right. The proposition of law is that we may interfere with another’s possessions to defend our rights, if the other poses a danger of attack. Presuming others are evil, we can further assume that others might attack us in the state of nature. Consequently, we need ‘not wait’ until we learn of another’s evil disposition through a ‘sad experience.’ We are authorized to use force against another who ‘by his very nature’ threatens us with force. (193; B&H cite VI:307).

B&H assert that “[a] state, just as the individual person, is to be presumed evil until the opposite is proved” and that there is “no reason to distinguish the states from individual persons in this regard.” (195). However, it is not clear on what textual or other basis they assert that a state is to be presumed evil. Kant nowhere speaks of states as evil or says that states are to be presumed evil, as far as I know. Nor do B&H claim that he does. They explain that the presumption of badness refers to human character (unlike the presumption of innocence, which refers to external actions); specifically, it refers to the human propensity to make choices that conflict with moral law. (192). And they refer to a passage in which Kant speaks of an individual human being in the state of nature threatening another with coercion: No one is bound to refrain from encroaching on what another possesses if the other gives him no equal assurance that he will observe the same restraint toward him. No one, therefore, need wait until he has learned by bitter experience of the other’s contrary disposition; for what should bind him to wait till he has suffered a loss before he becomes prudent, when he can quite well perceive within himself the inclination of human beings generally to lord it over others as their master (not to respect the superiority of the rights of others when they feel superior to them in strength or cunning)? And it is not necessary to wait for actual hostility; one is authorized to use coercion against someone who already, by his nature, threatens him with coercion. (Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.) (VI: 307).7

In the above-quoted passage, which belongs to the section of DR on private right,8 Kant speaks only about individual human beings. He does not here speak of 6 B&H cite, on p. 192 of their book, Gottfried Achenwall’s notes on Kant’s lectures on natural law of the summer semester of 1784, AA XXVII.2,2, p. 1354, ll. 29 – 30. 7 B&H’s translation of this Latin sentence is: “Everyone is presumed to be evil until he provides security for the opposite.” (190). Their translation differs from that given in The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, which is: “He is presumed evil who threatens the safety of his opposite.” 8 “[R]ight in a state of nature is called private right.” (VI:242).

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the conduct or tendencies of states, but instead of an “inclination of human beings generally,” which everyone “can quite well perceive within himself,” to “lord it over others as their master” and to “[encroach] on what another possesses.” (VI:307). Therefore this passage does not provide sufficient basis for the inference that Kant makes the same presumption about states. Neither DR nor TPP provides much direct textual support for the claim made by B&H that, according to Kant, a state is to be presumed evil until it proves, or provides security for, the opposite. In TPP Kant says that the malevolence rooted in human nature,9 which “the external relation of states to one another”10 makes obvious, “is veiled by the coercion of civil laws,” and that “all the evil standing in [the way of perpetual peace]11 arises from the fact that the political moralist” subordinates moral principles to his ends. (VIII:375 – 376, including footnote). This passage of text might initially seem to support B&H’s application of the presumption of badness to states; however, Kant’s point is that the moral politician does not subordinate moral principles to his ends, but instead takes the principles of political prudence in such a way as to “[bring] politics into agreement with morals.” (VIII:376). Kant also argues in TPP that republics will tend to prefer peace over war, in contrast to despotic states. (VIII:350). Although it is quite clear that Kant thinks there is reason to assume that individual human beings in the (original) interpersonal state of nature would tend not to respect other people’s rights when feeling superior to others in strength or cunning, it is not clear that he thinks there is reason to assume that all states, regardless of the kind of internal constitution they have, would tend not to respect other states’ rights; for he offers reasons to expect that the citizens of a republic would tend to oppose initiation of war by their own state, and that therefore a well ordered republican state would typically conduct itself differently from a despotic state in which the subjects have little freedom and the rulers pay little heed to the requirements of right. In the original interpersonal state of nature, prior to the establishment of any state, no one has grown up in a society with a good state constitution, and no one has learned by experience what the rule of law is like nor has come to appreciate its value.12 Therefore in this state of nature there is little reason to expect the kind of con9 “Given a multitude of rational beings all of whom need universal laws for their preservation but each of whom is inclined covertly to exempt himself from them,” establishing a state requires solving the problem of how “to order this multitude and establish their constitution” so that “although in their private dispositions they strive against one another, these yet so check one another that in their public conduct the result is the same as if they had no such evil dispositions.” (VIII:366, italics added). 10 Here I take Kant to mean not necessary, but then-current, international relations. 11 Here I take Kant to mean standing in the way not necessarily but contingently. 12 As Jeppe von Platz has pointed out (in personal correspondence), this is true only because of the qualifier “original”; therefore it offers an objection to the presumption of evil for individuals, since it is valid only for original states of nature and not for those where a civil condition has fallen apart.

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duct that would be typical of morally well educated people who had grown up under a good state constitution. Instead there is reason to expect merely self-seeking behavior. However, self-seeking behavior can, according to Kant, lead to establishment of a state, and “the conflict of [the] un-peaceable dispositions within a people” can be arranged in such a way “that they themselves have to constrain one another to submit to coercive law and so bring about a condition of peace in which laws have force.” (VIII:366). Furthermore, Kant says, “the good moral education [Bildung] of a people is to be expected from a good state constitution.” (VIII:366). Kant writes that the states actually existing in his day, although “still very imperfectly organized,” are “already closely approaching in external conduct what the idea of right prescribes.” (VIII:366). Furthermore, “the spirit of commerce,” which “sooner or later takes hold of every nation,” unites nations by means of their mutual self-interest and works against war. (VIII:368). Due to the power of money, “states find themselves compelled (admittedly not through incentives of morality) to promote honorable peace and, whenever war threatens to break out anywhere in the world, to prevent it by mediation, just as if they were in a permanent league for this purpose.” (VIII:368). Kant offers these observations in support of his argument that since nature, through the mechanism of human inclinations, makes perpetual peace sufficiently likely for practical purposes, we have a duty to work toward it. (VIII,368). Unlike individual human beings, states are organized groups of persons, and some kinds of states can function so as to constrain some inclinations and generate others in their members, including their leaders. Moreover, as Arthur Ripstein explains, “[t]he public nature of the state limits the purposes for which it can act to those that are properly public, that is, sustaining its own character as a rightful condition.” (AR, 229).13 States have moral powers that individuals lack (e.g., to make criminal law and imprison people), and (most) states have non-moral powers that (most) individuals lack. (AR, 145 – 146). Furthermore, states lack moral powers that individuals have (e.g., to get married).14 Therefore the behavioral capacities of states (and of state officials) differ from those of individuals, and we cannot learn the behavioral tendencies of states by reflecting upon what we can “quite well perceive within” ourselves (VI:307). Despite the differences between states, on the one hand, and individual human beings, on the other, Kant speaks of states as “moral persons” (VI:343) and draws 13 Arthur Ripstein, Force and Freedom, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2009 (abbreviated “AR”). 14 More controversially, Ripstein contends that “as Kant understands states, they do not have external objects of choice” and cannot acquire rights. (AR, 228). Louis-Philippe Hodgson suggests reason to doubt Ripstein’s interpretation on this point in “Realizing external freedom: The Kantian argument for a world state,” in: Elisabeth Ellis, ed.: Kant’s Political Theory: Interpretations and Applications, University Park, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press, 2012, pp. 116, 131 n.28.

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an analogy between the interpersonal state of nature and the international state of nature (VI:350). Therefore, B&H argue, if we take Kant to hold that individuals in the interpersonal state of nature are to be presumed evil until they prove the opposite, then we should take him to hold that the same is true of states in the international state of nature. B&H’s case for the right to wage war depends on their construal of the analogy between the interpersonal and international states of nature; thus it depends on their interpretations of the concepts of a state of nature and a rightful condition. Above I have raised objections to B&H’s application of the presumption of badness to states. Next I turn to the concepts of a state of nature and a rightful condition.

II. A state of nature, a rightful condition Kant defines a state of nature by contrasting it to a condition in which rights are secured by public laws: “A condition that is not rightful … is called a state of nature.” (VI:306). The interpersonal state of nature “is not opposed to a social but to a civil condition, since there can certainly be society in a state of nature, but no civil society (which secures what is mine or yours by public laws).” (VI:242). Essential to the concept of a state of nature is “that before a public lawful condition is established … each [individual human being, state, and people] has its own right to do what seems right and good to it and not to be dependent upon another’s opinion about this.” (VI:312). This means that as long as people follow their own judgment about what is right, conflicts will arise and none can be secure from violence; and this will not be due to any particular dispositions that any of them may have.15 Given these features of the concept of the state of nature, it seems that when Kant analogizes the international state of nature to the interpersonal, he must mean not that states have the same kinds of dispositions as individual human beings, but instead that in the state of nature each individual human being, state, and people has the right to follow its own judgment about what is right, and all lack rights determined by public laws. And it seems that this must be what Kant has in mind when he says that, for the purpose of specifying the rights of states, it is “necessary to consider only such features as can be readily inferred from the concept of a state of nature.” (VI:344).

15 Ripstein emphasizes that violent conflicts between human beings in the interpersonal state of nature would be possible even if no one were motivated to attack or threaten others, simply due to the structure of this situation, which can be changed by establishing civil government with legislative, executive, and judicial institutions. Kant’s argument for establishing a rightful condition that would unite the multitude into a people under the rule of law does not, Ripstein contends, depend on any empirical premise (such as an assumption that human beings are evil); and since Kant argues similarly that violent conflicts between states in the international state of nature are possible due to the structure of this situation, the case for establishing a rightful international condition does not depend on any empirical premise (such as an assumption that states are evil) (AR, 163, 227).

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Since the concept of a rightful condition is normative, any realization of the ideal of a rightful condition may be to some degree imperfect. However, once we are in a rightful condition of any kind, we are no longer in a state of nature. Kant does not say that people fully retain the right to follow their own judgment about what is right and good as long as their state (constitution) remains imperfect; instead, he denies this.16 His construals of the concepts of a rightful condition and a state of nature partly determine his positions on the (im)permissibility of revolution and on the (im)permissibility of interstate violence for the purpose of more closely approaching a rightful condition. His discussions of these questions provide insight into how he understands the concepts of a state of nature and of a rightful condition. III. Kant on violent revolution17 Kant argues that it is always wrong for people under any state government to revolt, no matter how imperfect the state’s institutions may be and no matter how bad the abuse of power by the state’s rulers may be, because revolution returns the people to the state of nature.18 The only alternative is peaceful reform of state institutions.19 Yet Kant regards political obligation as limited. Many scholars seem to attribute to Kant the view that political obligation has no limits; for before, or without, discussing his views about the basis of governmental authority or the nature of the state, they assert, e.g., that according to Kant’s “Hobbesian absolute prohibition against revolution,” no person has the right to attempt to overthrow a head of state, “regardless how tyrannical” he may be;20 or else that Kant holds that “sovereignty is absolute,”21 or that “all governments should be 16 “For a people to be authorized to resist, there would have to be a public law permitting it to resist, that is, the highest legislation would have to contain a provision that it is not the highest and that makes the people, as subject, by one and the same judgment sovereign over him to whom it is subject. This is self-contradictory, and the contradiction is evident as soon as one asks who is to be the judge in this dispute between people and sovereign (for, considered in terms of rights, these are always two distinct moral persons). For it is then apparent that the people wants to be the judge in its own suit.” (VI:320). 17 This section is adapted from Alyssa R. Bernstein, “Kant on Rights and Coercion in International Law: Implications for Humanitarian Military Intervention,” 16 Jahrbuch für Recht und Ethik 2008, pp. 57 – 100. 18 “The reason a people has a duty to put up with even what is held to be an unbearable abuse of supreme authority is that its resistance to the highest legislation can never be regarded as other than contrary to law, and indeed as abolishing the entire legal constitution.” (VI:320). See also VI:340. 19 “[E]ven if the organ of the sovereign, the ruler, proceeds contrary to law … subjects may indeed oppose this injustice by complaints (gravamina) but not by resistance.” See also VI:340. 20 Thomas E. Hill, Jr., “Questions About Kant’s Opposition to Revolution,” 36 Journal of Value Inquiry 2002, pp. 283 – 284.

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taken to be legitimate.”22 Some scholars note that Kant sets a limit to political obligation in terms of morally wrong actions: the requirement to obey the ruler’s laws or commands holds only “as long as these laws and commands do not require you to do something that is in itself morally wrong.”23 However, Kant sets a further limit to political obligation, as his arguments against a right to revolution make evident. These arguments presuppose that there is a legal order, though it may be gravely deficient, and also assume that not only the subjects but also the ruler(s) have, or believe they have, respect for law and rights.24 Consider Howard Williams’ summary of these arguments. It is wrong to disregard, disrespect, or destroy legal order; therefore, “revolution or rebellion under a lawful constitution is at all times wrong.”25 We must “obey the sovereign authority even when we think it acts mistakenly or illegitimately, otherwise it is not a sovereign authority,” and in order to have rule of law we require a sovereign authority.26 Moreover, in attempting to improve a legal order, it is wrong to destroy the old one instead of reforming it legally. Wherever “the rule of law (however tenuously) is to be found,” improvement cannot be ruled out; “it should be possible for reform to take place under any legal constitution.”27 “A complete and drastic break with the existing political system, if it has an effective legal system, is out of the question.”28 Kant considers the question of how to improve a legal order, noting that only a representative system makes possible a republican form of government, and that without a representative system a government is “despotic and violent (whatever 21 Robert Pippin, “Mine and Thine? The Kantian State,” in: Paul Guyer, ed.: The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 2006, p. 416. 22 Christine M. Korsgaard, “Taking the Law into Our Own Hands: Kant on the Right to Revolution,” in: Andrews Reath / Barbara Herman / Christine M. Korsgaard, eds.: Reclaiming the History of Ethics: Essays for John Rawls, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, pp. 303 – 304. 23 Allen Wood, Kant, Malden: Blackwell, 2005, p. 176. 24 Kenneth R. Westphal contends that Kant’s argument against revolution in “On the common saying: That may be correct in theory, but it is of no use in practice” (1793), at 8:299, is fallacious and would be valid only if restricted to legitimate governments; thus it can ground only a prohibition against active resistance to legitimate law. (Westphal, “Kant on the State, Law, and Obedience to Authority in the Alleged ‘Anti-Revolutionary’ Writings,” 17 Journal of Philosophical Research 1992, fn. 6, p. 388). An implication is that if Kant does not distinguish between a legitimate government and a perfectly rightful government (if he holds not only that a perfectly rightful government must be republican but also that only republican governments can be legitimate), then his argument prohibits revolution only in republics. 25 Howard Williams, Kant’s Critique of Hobbes, Cardiff: University of Wales Press, 2003, p. 35. 26 Ibid., p. 186. 27 Ibid., p. 180. 28 Ibid., p. 186.

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the constitution29 may be).” (VIII:353).30 He does not address the question of what may permissibly be done to resist power-wielders who disrespect and destroy law and cannot be seen as trying to secure the people’s rights. His doctrine of the wrongness of revolution is premised on the assumption that the power-wielders rule the people by law in a bona fide state. In actual conditions it may be difficult to judge whether we have a right to use force in an effort to secure our rights, because it may be hard to judge whether a state exists (whether the rule of law has or has not yet been successfully established, on the one hand, or whether it has or has not yet degenerated entirely). How we should make these judgments depends partly on how we should construe the concepts of a state, the rule of law, and a juridical condition. IV. B&H on a juridical state, a state of nature, and violent revolution According to B&H, “Kant’s prohibition against revolution only applies in a state that is truly a juridical state.” (90 – 91). They distinguish “the state in the idea” from the juridical state, by which they mean “the concrete situation” in which we can “in fact ‘enjoy’ our rights,” and they explain that we can enjoy our rights “if we can actually exercise them because the state secures them, making them peremptory.”(143 – 144). According to B&H, the formal criteria for the juridical state are the three forms of public justice: protective, mutually acquiring, and distributive justice. These are “the public institutions without which individual rights cannot be secured,” namely, public lawgiving, the public market, and the judiciary. (24). There is also a single substantive criterion for the juridical state, which is that “public justice accords with the idea of a universal legislating will.” (24). Fulfillment of these criteria is “sufficient for constituting the juridical state,” say B&H; apparently they regard fulfillment of all of these criteria as also necessary. B&H construe Kant as saying that only in a state meeting all of the above criteria is there a prohibition against revolution. They infer that the prohibition “does not apply in a despotic state;” apparently they hold that it applies only in a republican state. (90 – 91,184). Thus B&H appear to identify a rightful condition with a republican state, and also appear to regard all other conditions (including all non-republican states) as belonging to the category of the state of nature: [I]t is prohibited to leave the juridical state once we are in it and to return to the state of nature. Decisive to this line of reasoning is that I really find myself in a juridical state. If I am 29 There are three possible forms of sovereignty (autocracy, aristocracy, and democracy), and two forms of government, republican or despotic. “[T]he form of government … has to do with the way a state, on the basis of its civil constitution (the act of the general will by which a multitude becomes a people), makes use of its plenary power.” (VIII: 352). 30 “A change in a (defective) constitution, which may certainly be necessary at times, can … be carried out only through reform by the sovereign itself, but not … by revolution.” (VI:321 – 322). See also VI:340.

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not in a juridical state, then I am in the state of nature. In the state of nature, resistance is permitted. (91).

One objection to this interpretation of Kant is that he speaks of despotic states and distinguishes them not only from republican states but also from anarchy and barbarism. As Jan Joerden points out, Kant distinguishes barbarism from despotism on the basis that barbarism lacks, but despotism has, law.31 B&H apparently do not distinguish despotism from barbarism. Moreover, Kant says that whether a state is despotic or republican depends on how it makes use of its plenary power on the basis of its civil constitution. (VIII:352). Kant’s view appears to be that establishment of a civil constitution puts an end to the state of nature, and that revolution is prohibited under a despotic as well as a republican constitution, because an implication of the postulate of public right32 is that once we have left the state of nature we are forbidden to return to it. B&H word the implication as follows: “it is prohibited to leave the juridical state once we are in it and to return to the state of nature.” (91). They understand the juridical state as a state with a republican government, and they infer that revolution is prohibited only in such a state. However, if this were Kant’s view, then he could not be understood as arguing against revolution as a means of reforming a non-republican state.

V. B&H on a juridical state, a state of nature, and the right to wage war 1. The right to coerce in the interpersonal state of nature The permission to coerce other individuals in the interpersonal state of nature to join oneself in a juridical state is based, as B&H note, on “the legal possibility to have intelligible possession of external objects of our choice.” (189). As they construe the permission, we may “interfere with another’s possessions to defend our rights, if the other poses a danger of attack,” because otherwise it would not be “legally possible to have an external object as one’s own,” that is, one could not have any acquired rights; and acquired rights, like all other rights, whether provisional or not, authorize enforcement. (189, 193). As B&H construe Kant’s concept of a right, it is a moral faculty to obligate others, and one has a right against someone else if one has a claim that one can assert. (3). “The decisive characteristic of a right is that 31 Jan Joerden, “From Anarchy to Republic: Kant’s History of State Constitutions,” in Hoke Robinson, ed.: Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Milwaukee: Marquette University Press, 1995, vol. 1 / 1. 32 “From private right in the state of nature there proceeds the postulate of public right: when you cannot avoid living side by side with all others, you ought to leave the state of nature and proceed with them into a rightful condition, that is, a condition of distributive justice.” (VI:307). According to B&H, Kant uses the term “distributive justice” to refer to the institution of the judiciary. (39, 76).

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‘another can require me to act according to the law as a matter of his right’.” (3, footnote 5, quoting AA VI:390 – 391). The authority to defend a right by coercing (to the extent necessary for defending the right) someone who infringes on it is part of the concept of a right, and in the state of nature the “right to defend” is “very broad.” (190). Although we do not have the authority to attack another, we do have a right to use coercion to enforce our right against our neighbor, since he has a legal duty to move with us to a juridical state. (189).33 B&H regard the right to coerce as conditional on the danger of attack. However, since people are evil (or so one should assume, according to the presumption of badness), we have a “right to take preventive measures against others.” (193). And the danger need not be imminent, but can derive from the other’s “very nature.” (193). Here arises the question of the nature of a state. Above I have argued against applying the presumption of badness to states. B&H think that the presumption of badness remains (prudentially) rational only until a state with coercive law is established. It ceases to be rational “if the juridical state in fact guarantees our freedom and our (intelligible) possessions.” (194). However, even after a state has been established, it remains rational to assume that anyone who has not entered the juridical state continues to pose a threat. To enter it is to “provide security” that one “will not interfere with anyone’s possessions” and that one is not evil: “Everyone is presumed to be evil until he provides security for the opposite.” (190, 193). B&H argue that, according to Kant, “in order to dispel the presumption of badness,” it is not necessary “to live a virtuous life to the end;” instead one can enter a juridical state. By giving security that one will not interfere with anyone else’s possessions, one “cancels the right to exercise preventive defense.” (193). Since “we cannot require a change in another’s attitudes (we have reason to presume he has),” it is sufficient as well as necessary “that we mutually guarantee security through a certain act,” namely, entering the juridical state. (193). Until then, we have the right to take self-defensive measures, which include preventive attack, according to B&H. Note that the parallel claim about states ascribes to them a very broad right to wage war.

2. The right to wage war in the international state of nature B&H distinguish three types of juridical state: the nation state under civil law, the state of nation states under international law, and the state of peoples in their

33 It is not clear exactly how this can and should work in practice; Kant does not, to my knowledge, say much about it. He remarks that the historical beginnings of actual states are often obscure. (VI:318). And in discussing post-war right, he mentions the imposition by the victor of conditions of peace (VI:348). Perhaps these conditions could include a demand for agreement to abide by an international court’s decisions. If so, then it seems that the victor in a defensive war could rightly coerce another state into a rightful condition, without initiating war or attacking. See footnote 45, below.

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relation to each other under cosmopolitan law. (24, footnote 2). They construe Kant as holding that “[u]ntil we secure the rights of individuals in their relations to nation states and of nation states in their relations to each other, as well as the rights of whole peoples in their mutual trading relations, all rights remain provisional, even rights within our own juridical states.” (B&H, 188). Since they construe the state of nature as “the state outside the required order,” and contend that the required international order is a state of nation states, they infer that until a state of nation states is established states remain in a state of nature. B&H argue that therefore states have a right to wage war: “[a] war waged in order ‘to establish a state approaching a juridical state’ must be permitted if and because states are required to leave the state of nature and enter a juridical state.” (195). The implication seems to be that even though Kant says that a pacific league (VIII:356) or a permanent congress of states (VI:350) must be established in order to approach perpetual peace, states remain in the state of nature and the right to wage war is not canceled until a state of nation states exists. I find this interpretation of Kant implausible. Below I offer my own interpretation of DR in the form of a summary including quotations and paraphrases. VI. The “Doctrine of Right”: against the right to wage war Kant begins his discussion of international right in DR34 by introducing and clarifying the issues he will discuss. He says that the “problem” that “we have to consider under the title the right of nations” is that of determining the rights of states by drawing inferences from the concept of a state of nature (VI:343 – 344). The categories of the rights of states in the state of nature include their right to go to war, their right in war, and their right after war to constrain each other to leave the condition of war. (VI:343). In specifying these rights of states it is necessary to keep in mind that there are multiple relations: not only relations between states considered as wholes, but also relations of individual persons (those of one state toward those of another and toward another state as a whole). (VI:343 – 344). States that are “in the condition of natural freedom” in their external relations to each other are in a “nonrightful” condition, which is “a condition of war (of the right of the stronger), even if it is not a condition of actual war and actual attacks being constantly made (hostilities).” (VI:344). The condition of war is “wrong in the highest degree.” (VI:344). Neighboring states are obligated to leave it in order to enter a lawful condition. (VI:344, 350). They must form a league of nations in accordance with the idea of an original social contract, in order to protect against attacks from without, and this league must be a voluntary alliance (renounceable and renewed periodically), with no sovereign authority, since states have a right to avoid getting involved in a state of actual war among the other members. (VI:344). In the next four subsections 34 It includes subsections 53 – 61. Its title is “Public right. Section II. The right of nations.” (VI:343 – 351).

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(#s 55 – 58) Kant critically examines each of the major categories of the right of nations: states’ rights to go to war (#s 55 – 56), in war (# 57), and after war (# 58).35 In subsection #55 Kant argues that a state’s right to go to war must be derived from the sovereign’s duty to the people, not the reverse (VI:346). However, he does not provide any such derivation for a general right to go to war, nor does he assert that states have such a right; he merely takes up the topic in order to consider whether the purported right can be “proved.” (VI:344). In this subsection he does not discuss self-defensive or punitive war, which are topics he will take up in the next two subsections; instead he discusses a different purported justification for war, that of establishing “a condition more closely approximating a rightful condition.” (VI:344).36 Regarding war for such a purpose, Kant says: the first question that arises is: what right has a state against its own subjects to use them for war against other states, to expend their goods and even their lives in it, or to put them at risk, in such a way that whether they shall go to war does not depend on their own judgment, but they may be sent into it by the supreme command of the sovereign? (VI:344).

The next two paragraphs present a “deduction” of the right, “as a mere jurist would draw it up,” and in the subsequent two paragraphs Kant forcefully rejects it. While such an argument for this right (which may well be present obscurely in the monarch’s mind) holds with regard to animals, which can be one’s property, it simply cannot be applied to human beings, especially as citizens of a state. For they must always be regarded as colegislating members of a state (not merely as means, but also as ends in themselves) … (VI:345).

In this subsection (# 55) Kant is arguing against the idea that every state has a general right to go to war and can therefore rightfully direct its people “to serve in a way full of danger to them.” (VI:346). He does so by first arguing against the idea that a monarch or other despot has such a right and then arguing that a non-despotic state cannot rightfully wage war unless the people “give their free assent, through their representatives, not only to waging war in general but also to each particular declaration of war.” (VI:345 – 346).37 In the next subsection (# 56) Kant takes up the topic of self-defensive war. He first considers threats (which include a state’s merely becoming stronger, as well as 35 As Williams explains, these were the major categories of the right of nations at the time Kant wrote DR. See Williams (op. cit., fn. 4), pp. 91 – 98. 36 Here Kant may have been rebutting Anacharsis Cloots, a Jacobin in revolutionary France and president of its committee on foreign affairs, who argued for a world republic in several books published in the early 1790s. See Pauline Kleingeld, Kant and Cosmopolitanism: The Philosophical Ideal of World Citizenship, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, pp. 40 – 44. 37 A state may have alternatives to war even after it gets attacked. These may include building up defenses, imposing economic sanctions, and taking diplomatic steps. Any of these courses of action may be taken in coordination with other states.

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its undertaking preparations for war), then turns to active violations. Regarding threats, Kant says: “in the state of nature an attack by the lesser power” against a superior power, “before any deed on its part,” is “indeed legitimate.” (VI:346). Here I take him to be condemning the state of nature and presenting yet another reason for leaving it to enter a rightful condition. The state of nature is devoid of justice. Since states in the state of nature “[deal] with one another only in terms of the degree of force each has,” they treat each other unjustly. (VIII:312). This “condition of war (of the right of the stronger)” is nonrightful, indeed “wrong in the highest degree.” (VI:344).38 I take Kant’s view to be that instead of attacking preventively, a state that believes itself to be threatened should try to form or join in a defensive alliance. When Kant turns to the topic of active violations as grounds for war, he considers only acts of retaliation. He criticizes them as similar to starting a war without first declaring it and obtaining the other party’s acceptance of the proposal that both states renounce peace and “seek their right in this way.” (VI:346). Without “something analogous to a contract,” there is no right in a condition of war (a state of nature); therefore acts of retaliation, which are based neither on any contract nor on anything analogous to a contract, are not right. (VI:346). In the next subsection (# 57) Kant turns to the topic of right during a war. He says that this is “the greatest difficulty in the right of nations,” since even forming a concept of right during a war or thinking of “law in this lawless state” is difficult to do without self-contradiction. (VI:347). Here Kant expands upon the topic of an act of retaliation by saying that “[n]o war of independent states against each other can be a punitive war” because “punishment occurs only with the relation of a superior … to those subject to him …, and states do not stand in that relation to each other.” (VI:347). Right in war must depend on legitimate purposes (which do not include punishment, retaliation, subjugation, or extermination), and the war must be waged “in accordance with principles that always leave open the possibility of leaving the state of nature … and entering a rightful condition.” (VI:347). Therefore, it is forbidden to use means of defense that would “destroy the trust requisite to establishing a lasting peace in the future,” and although supplies and contributions may permissibly be exacted from a defeated enemy, the people must not be plundered. (VI:348). In the next subsection (# 58) Kant discusses the right of a state after war, mainly by drawing inferences from the impermissibility of punitive war and from the obligation to leave the state of nature in order to establish a lasting peace. He says that the right of a state “at the time of the peace treaty and with a view to its consequences” consists in the victor’s laying down the conditions for agreement with the

38 Compare TPP, in which Kant says that winning a war cannot constitute proof that one is right and one’s opponent is wrong: “right cannot be decided by war and its favorable outcome, victory.” (VIII:355). See also VIII:356.

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vanquished on negotiations for concluding peace. Next Kant adds a category: the right to peace (# 59).39 After discussing the categories of rights of states in relation to war and peace, Kant reiterates that a state of nature is a condition of injustice (#60). He says that it is obligatory for states in an international state of nature to unite against an “unjust enemy” (i.e., a state that refuses to regard itself as bound by moral constraints forbidding coercion of other states) and, if they defeat it, to give it a new constitution.40 However, Kant casts doubt on the concept of an unjust enemy by pointing out that both “enemy” and “unjust” refer to violation of the moral constraint forbidding coercion, and says that the concept of a “just enemy” makes little sense: “A just enemy would be one that I would be doing wrong by resisting; but then he would also not be my enemy.” (VI:350).41 In the concluding subsection (# 61) Kant returns to the topic of an association of states and argues that although perpetual peace is unachievable, the right of human beings and of states requires entering defensive alliances in order to preserve peace and enable states to decide their disputes in accordance with the idea of a public right of nations instead of by war.

VII. The concept of an international state of nature Both “a state” and “a rightful condition” are terms that refer to complex ideals, the realization of which can be quite imperfect,42 and the concept of a state of nature must be understood accordingly. Once a congress of states or a pacific league has been established, the member states are no longer in a state of nature (relative to each other). And war by the league for the purpose of coercing other states into it could set back progress toward the ideal international order.43 War between states that are outside of any league, too, can set back progress toward the ideal international order, since it can harm or destroy the civil societies that (albeit imperfectly) secure rights. Thus war between states in an international state of nature is importantly different from fighting in an interpersonal state of nature: in the latter, the rule 39 Kant is widely cited in connection with this category of rights of states, but I do not know whether he was the first to introduce it. For the current status of the idea of a right to peace, see the website of the United Nations: http: // www.ohchr.org / EN / HRBodies / HRC / AdvisoryCommittee / Pages / RightToPeace.aspx. 40 Kant does not say that other states may initiate war against an unjust enemy. I understand him as saying instead that states must unite defensively and may (if necessary) fight a defensive war. 41 See Williams’ discussion of subsection 60 of DR, in Williams (op. cit., fn. 4), pp. 102 – 107. 42 See VI:340 – 341. 43 Kant emphasizes that the league’s aims must be only defensive (VIII:383, VI:344). If the league does not make clear to non-member states, in its deeds as well as its words, that its purposes are only defensive and peaceful (not aggressive, expansionist, or interventionist), it may provoke suspicion, mistrust, and hostility.

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of law does not exist, so the attempt to coerce others into a rightful condition cannot damage or destroy institutions necessary for securing anyone’s rights.44 I understand Kant as denying that it is permissible for any state to initiate war, but not denying that it may be permissible for a state to engage in defensive war; and also as holding that the victor in a war can permissibly coerce another state into a rightful condition by means of demands made as conditions for a peace treaty.45

VIII. The ideal international juridical condition B&H contend that a global state of states is necessary for securing rights, and that a voluntary league or congress of states would be inadequate. They argue for an international court and for the enforcement of its verdicts, although they do not specify the character (structure and components) of the executive power, nor permissible means of enforcement; nor do they argue specifically for a global legislature. They refer half a dozen times to Kant’s use (in VIII:356 – 357) of the phrases “public coercive laws” and “public laws and coercive force under them,” emphasizing the following passage of TPP: In accordance with reason there is only one way that states in relation with one another can leave the lawless condition, which involves nothing but war; it is that, like individual human beings, they give up their savage (lawless) freedom, accommodate themselves to public coercive laws, and so form an (always growing) state of nations (civitas gentium) that would finally encompass all the nations of the earth. (VIII:357, italics at the beginning of the citation added).

According to B&H, “Kant means the same in the Doctrine of Right when he attaches the analogy to the way a people become a state to the universal union of states.” (201 – 202). However, the text of DR provides little support for this assertion. In his discussion of the right of nations in DR, Kant does not use such phrases (“public coercive laws” and “public laws and coercive force under them”), nor does he argue for an international executive power, nor does he speak of a state of states, to my knowledge. What he says in this text is that the following are the final two of the four elements of the right of nations. 3) A league of nations in accordance with the idea of an original social contract is necessary, not in order to meddle in one another’s internal dissensions but to protect against attacks from without. 4) This alliance must, however, involve no sovereign authority (as in a civil constitution), but only an association (federation); it must be an alliance that can be renounced at any time and so must be renewed from time to time. This is a right in subsidium of another and original right, to avoid getting involved in a state of actual war among the other members (foedus Amphictyonum). (VI:344).

44 Pauline Kleingeld rightly emphasizes the importance of the existence of the rule of law within each of the states. I discuss her view below, in Part IX. 45 See footnote 33, above.

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The passage quoted above does not seem to support but instead to undermine B&H’s position, regarding both the right to wage war and the ideal international order. Kant concludes his discussion of the right of nations, in DR, as follows: Only in a universal association of states (analogous to that by which a people becomes a state) can rights come to hold conclusively and a true condition of peace come about. But if such a state made up of nations were to extend too far over vast regions, governing it and so too protecting each of its members would finally have to become impossible,46 while several such corporations would again bring on a state of war. So perpetual peace, the ultimate goal of the whole right of nations, is indeed an unachievable idea. Still, the political principles directed toward perpetual peace, of entering into such alliances of states, which serve for continual approximation to it, are not unachievable. Instead, since continual approximation to it is a task based on duty and therefore on the right of human beings and of states, this can certainly be achieved. [Paragraph break.] Such an association of several states to preserve peace can be called a permanent congress of states, which each neighboring state is at liberty to join. … Only by such a congress can the idea of a public right of nations be realized, one to be established for deciding their disputes in a civil way, as if by a lawsuit, rather than in a barbaric way (the way of savages), namely by war. (VI:350 – 351).

This passage of text only partially and ambiguously supports B&H’s position. In view of the fact that B&H argue that the “Doctrine of Right” (1797) “unfolds Kant’s most mature thoughts on the peace project,” (B&H, 1), it is surprising and puzzling that they give precedence to “Toward Perpetual Peace” (1795) on the topic of the ideal international condition. B&H contend that the state of states is Kant’s ideal. However, while it is arguably his ideal in the sense of a coherently conceivable juridical condition securing rights, which is unattainable in reality, the term “ideal” can also be used to mean that the imagined legal order is not only coherently conceivable but also a realistic utopia (to use John Rawls’s term).47 Arguably the state of states is Kant’s ideal in the former sense, while his ideal in the latter sense is a system of international public law in the form of a universally inclusive, voluntary league for peace, all members of which are republican states that continually work to maintain a global condition of right and peace. However, even if B&H are right that Kant does not change his mind between 1795 and 1797 regarding “the ideal arrangement” (BH, 199) but continues to believe that it is a federative world state with coercive public laws, nevertheless Kant can consistently also believe that if a voluntary league for peace could become universal and successfully stave off war, it would be impermissible to use war or other forms of coercion as means of establishing such a world state.

46 47

Here I interpret Kant to mean: it would fail to prevent war. John Rawls, The Law of Peoples (Harvard University Press, 1999), pp. 4 – 7, 11 – 12.

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IX. International law, peacefully established48 Pauline Kleingeld sees an important disanalogy between the interpersonal state of nature and the international state of nature, which concerns the existence of the rule of law. She argues that while individual human beings are in the interpersonal state of nature, the rule of law does not exist, but in an international state of nature (prior to establishment of an international legal order), the rule of law already exists within each state. As Kleingeld reads Kant, although the only form of state compatible with each individual’s fundamental right to freedom is a republican state in which citizens give themselves laws through their representatives, the people of any kind of state should be recognized as politically autonomous and respected as such, since every state embodies the rule of law, even if very imperfectly. On this basis she contends that coercing a state into a federation would be wrong because paternalistic, and that a hegemonic, despotic federation would quash rights secured within the individual states. These arguments, together with Kant’s arguments against a universal monarchy, lead her to conclude that advancement toward a condition in which all rights would be secure and peace would be perpetual requires establishing a federation non-coercively. (PK, 48, 54, 56). Kleingeld’s position is that although Kant advocates the establishment of a “federative republic of republics” with coercive authority, which would itself be “state-like,” the disanalogy between the interpersonal state of nature and the international state of nature leads him to advocate the establishment of a voluntary league without coercive powers as the proper way to leave the international state of nature and the “first step on the road toward a state-like international federation of states.” (PK, 43 – 44, 69, 188). B&H assert, contrary to Kleingeld’s view, that in DR “Kant abandons his position in TPP that states have ‘outgrown’ the force needed to enter a juridical state, because they ‘already have a juridical constitution internally’.” (195). Without discussing the question of what Kant meant and why he took that position in TPP, B&H dismiss it as an error: “This position is beside the point anyway, since logically an internal constitution cannot unilaterally govern the state’s external relations to other states.” (15, 196). Unlike B&H and like Kleingeld, I regard the fact that a state has an internal constitution (public law) as important in relation to international right, despite the fact that an internal constitution cannot unilaterally govern a state’s external relations with other states. However, unlike Kleingeld,49 I think more needs to be said in order to rebut B&H’s position. I thank Frank I. Michelman for valuable comments on a draft of this section. Also unlike myself at an earlier time; here I revise what I wrote about Kleingeld’s argument in Bernstein, “Kant on Rights and Coercion,” op. cit. fn. 17, pp. 76 – 77, 87. My thinking about this question has benefitted from correspondence with David G. Sussman as well as from his and other audience members’ participation in discussion after the presentations by Kleingeld and Helga Varden (my fellow panelists, who also have improved my thinking about this question) at the Author-Meets-Critics session on Kleingeld’s book, Kant and Cosmopolitanism, at the March, 2013 meeting of the Pacific Division of the American Philosophical Association. 48 49

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Kleingeld argues that a hegemonic, despotic federation would quash the rights of human individuals that had been secured by each state internally, and that therefore coercing a state into a federation would be wrong. However, this argument leaves open the possibility that a non-despotic federation would not quash individuals’ rights but instead, by maintaining peace, would better secure them within well ordered republican states and would facilitate reform within other states. In view of this possibility, further argumentation is needed. Kleingeld also argues that coercing any state is paternalistic. However, B&H claim that the right of a state to coerce another state into a juridical condition is a right of self-defense, and argue that this right of self-defense is analogous to human beings’ right of self-defense in the interpersonal state of nature, and that in both cases, coercion is authorized because necessary for securing rights, i.e., hindering a hindrance to freedom. This argument is not adequately rebutted by Kleingeld’s argument that coercing a state is paternalistic. Above I have offered a different rebuttal to B&H’s argument. Kleingeld contends that a loose league of republics (a voluntary association providing non-enforceable arbitration) would have “no real mechanism to settle disputes” among them. (PK, 189). What she seems to mean by this is that there would be no way to impose an international court’s judgment on one or more parties to a dispute, or more precisely, that if there were a federation with a legitimate and effective executive institution tasked with enforcing a legitimate international court’s judgments, then the judgments could be imposed, but in the absence of this, there would be no (legitimate) way to enforce them. However, although this seems correct, it is worth considering more than one possible way to impose a court’s judgments. Assume that in a league of republics a recalcitrant state rejects one of the court’s judgments (without rejecting the legitimacy of the court), and that either this state is not the most powerful or the other states can ally themselves together to pose to it a credible threat or to impose (non-violent) sanctions sufficient to induce compliance with the court’s judgment. If the states do so, and if such responses to such recalcitrance (by any state) happen regularly, then over time there can develop a kind of customary international law. According to Ripstein, states do not have external objects of choice; therefore, there is no need for international legislative and executive institutions and no justification for using coercive force in order to establish them. (AR, 228 – 230). For these reasons, Kant argues for an association or federation of states with neither a legislature nor an executive institution but only a court-like institution that enables the states to settle their disputes peacefully (AR, 28 – 29, 230). A permanent congress of states, for which Kant argues, would be “a partial analog of a civil condition, but not a civil condition as such.” (AR, 229). It would realize “the idea of ‘a public right of nations’ through which nations establish a procedure ‘for deciding their disputes in a civil way, as if by a lawsuit, rather than in a barbaric way (the way of savages), namely by war.’” (AR, 229, citing Kant, VI:351). Since the congress of states would have a court but neither legislature nor executive, states would be able to resolve

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their disputes peacefully only if they accepted the court’s authority and regarded themselves as bound by its decisions (which they would all do if they all willed to avoid war). And since each state would have the right to avoid getting involved in war, each state could reserve the right to withdraw from the alliance at any time. In Ripstein’s reading of Kant, such a congress of states is the only rightful forum for establishing peace. (AR, 229 – 230). Would a voluntary association of this kind following customary law be unable to preserve peace? Ripstein says that although such an association cannot guarantee its own preservation (since it has no entitlement to perpetuate itself by enforcing its own laws and securing the conditions of a united will), it can last forever. (AR, 230). Possibly customary law together with treaties involving guarantees or security arrangements would be sufficient to bring about this result.50 In view of this possibility, an argument for establishing a world state with executive power must address the question of whether the risks it might pose (in non-ideal cases) could be greater than the risks faced by members of a voluntary association of states. The justification for a coercive institution must show that it could be effective for securing rights and is necessary. If all states were well-ordered republics, all of which willed to maintain peace by following the judgments of an international court, and if everyone were a citizen of some republic, then everyone’s rights would be secure under state law as long as peace continued. If there were a world republic of states, then everyone’s rights would be secure as long as the world government as well as states’ governments remained uncorrupted and no state(s) rebelled. In both cases, everyone’s rights would be secure as long as the international institutional arrangement remained (close enough to its) ideal. If one rejects Ripstein’s view that states cannot acquire rights, one may hold that it is necessary to establish a world state in order to secure states’ acquired rights, which otherwise remain provisional.51 If this is right, then the members of a peaceful voluntary association of states ought to establish a world state. Since this cannot be done until there is peace (even if not perfect), the first goal for states in an international state of nature must be to establish a peaceful voluntary association of states.52

B&H discuss such contracts on pp. 256 – 258. Hodgson (op. cit. fn. 14) holds this view. 52 As previously noted, Kleingeld argues that Kant advocates establishment of a “federative republic of republics” with coercive authority, which would itself be “state-like,” and also advocates establishment of a voluntary league without coercive powers as the proper way to leave the international state of nature and the “first step on the road toward a state-like international federation of states.” (Kleingeld, op. cit. fn. 36, pp. 43 – 44, 69, 188). Although Kleingeld argues against Ripstein’s interpretation of Kant on international right, she does not specifically address his view that states cannot acquire rights. (Ibid., p. 52, n. 20). 50 51

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X. Conclusion Kant’s position on interstate violence is that once the rudiments of international law get established (which can be done peacefully by republican states agreeing to form an association for peace), then constant reform is required, and the reform must be peaceful. Since war restores the state of nature, it is counterproductive to undertake war for the purpose of reforming international law. And since peaceful reform is possible, interstate violence for the purpose of reform is impermissible. One apparent basis for objection to this interpretation is that Kant argues that in the state of nature, coercion for the purpose of creating a state is permissible. Furthermore, he warns against questioning the legitimacy of a government on the grounds that the state was established violently (VI:318 – 319). These facts may be taken to imply that Kant thinks, regarding the goal of creating a rightful condition, that the end justifies the means. Above I have argued against this interpretation. Kant’s position on governmental legitimacy is that the rule of law (if it exists, regardless of how it came into existence) is a condition that is morally better than the state of nature. This explains both what he says about revolution and his warning against questioning the legitimacy of a government because it may have been established violently. Regarding coercion in the interpersonal and international states of nature, Kant’s position is that if securing lasting peace under the rule of law requires using violence, then violence may permissibly be used, but only for the purpose of achieving that goal, and only to the extent and in the ways necessary for effectiveness, and only by persons authorized to do so (which includes every individual human being but not every state); and if interpersonal or interstate violence is not necessary to that end, then it is not permissible. Kant also holds that securing lasting peace under the rule of law does not require interstate violence, since republics can choose to create an association for peace, and once the rudiments of international law are thus established, peaceful reform is possible. When discussing Kant’s republicanism, B&H explain that he regards coercion as impermissible unless required for protecting individual freedom, and holds that while it is necessary to reform non-republican states, “the object of reform is to find a way and means of governing the people that is compatible in its effect with the sole lawful constitution.” (185). Here they cite DR: “[The state’s constituting authority] is under obligation to change the kind of government gradually and continually so that it harmonizes in its effect with the only constitution that accords with right, that of a pure republic …” (VI:340). Kant’s contention is that all rulers, even in a despotic state, have the obligation to govern justly, as if the state were a republic, and to reform the state in such a way that it can become a well ordered republic. By parallel reasoning, in light of the reasons presented above, I conclude that Kant’s view is that whoever has power to reform the international order so that it will accord with right has a duty to do so, and if it is possible to reform it without resorting to war, then using war as a means for that purpose is impermissible.53

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Zusammenfassung Kant hat erklärt: „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein“ (VI:354). B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka (nachfolgend: „B&H“) vertreten die These, nach Kant hätten „Staaten im Naturzustand ein Recht, ihre Nachbarstaaten dazu zu zwingen, in einen Rechtszustand zwischen den Staaten einzutreten“ und sogar „Krieg zu führen, um ihre Nachbarn zu zwingen, dies zu tun“, wenn sie nicht freiwillig dazu bereit sind. Ich spreche mich in diesem Beitrag dagegen aus, Kant so zu verstehen, als spreche er sich dafür aus, Staaten im Naturzustand ein Recht einzuräumen, Krieg zu führen, um andere Staaten dazu zu zwingen, in den Rechtszustand zwischen Staaten einzutreten. Die Argumentation von B&H für ein solches Recht zur Kriegsführung beruht auf einer von Kant angeblich gebildeten Analogie zwischen interpersonalem und internationalem Naturzustand. Ich bestreite indes die Konstruktion dieser Analogiebildung. So wie B&H Kant interpretieren, müsse von einem Individuum im Naturzustand angenommen werden, dass es bösartig gesinnt sei, bis das Gegenteil bewiesen werde, und zwar nach einer Klugheitsregel, die B&H als „Vermutung der Bösartigkeit“ bezeichnen. Sie leiten daraus ab, dass diese Vermutung auch auf einen Staat im internationalen Naturzustand anwendbar sei. Ich bestreite diese Ableitung. Ich bestreite darüber hinaus B&H’s Interpretationen der Konzepte des Naturzustandes und des Rechtszustandes, soweit diese Implikationen mit Relevanz sowohl für die (Un-)Erlaubtheit von Revolutionen als auch für die (Un-)Erlaubtheit von zwischenstaatlicher Gewaltanwendung zum Zwecke einer weiteren Annäherung an einen Rechtszustand haben. B&H räumen ein, dass es nach ihrer Interpretation Konflikte zwischen Kants Rechtslehre (1797) und seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) hinsichtlich des Themas der Kriegsführung gebe, aber sie bestreiten, dass diese Konflikte Gründe dafür liefern, ihre Interpretation zu verwerfen; sie nehmen vielmehr an, dass Kant seine früheren Ansichten später korrigiert habe. Ich gehe demgegenüber davon aus, dass Kant in seiner Rechtslehre gegen die Idee argumentiert, jeder Staat habe ein generelles Recht, einen Krieg anzufangen, und ich bestreite, dass dieser Text Kants mit seiner Friedensschrift hinsichtlich des Problems der Kriegsführung konfligiert.

53 For helpful comments on a draft of this article I thank Louis-Philippe Hodgson, Frank I. Michelman, David G. Sussman (whom I thank also for thought-provoking conversation and correspondence), and Jeppe von Platz (whom I thank especially for his valuable analytic comments on an early draft).

Kant ein Pythagoreer? Reflexionen zu Form und Inhalt der Rechtslehre (1797) Reinhard Brandt

Der Leser der folgenden Zeilen wird um Geduld und Leichtsinn gebeten. Als captatio benevolentiae, auf die ich angewiesen bin, steht hier am Anfang eine Analyse der Abfolge der Kapitel im dritten Hauptstück des Privatrechts, das den leicht bizarren Titel trägt: „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“ (296,13 – 14)1. Man bemerke: Wir befinden uns noch im Privatrecht, das dritte und letzte Hauptstück soll jedoch von der „öffentlichen Gerichtsbarkeit“ handeln, sich also schon aus dem Privatrecht ins Öffentliche Recht hinüber begeben haben. Das Kapitel handelt von der Notwendigkeit dieses Übergangs. An der vierten Stelle des dritten Hauptstücks steht nach drei anderen, inhaltlich besetzten Rechtsfiguren der Eid (ohne eigenen Inhalt); schon Pythagoras reklamierte für den Eid die vierte Position – ein Zufall? Danach wenden wir uns II. dem Übergang vom Privat- zum Öffentlichen Recht selbst zu. Das Privatrecht umfasst drei Teile, viertens folgt das Postulat des Öffentlichen Rechts. Aber was hat der Eid mit dem Postulat zu tun? Unsere These: Die Komposition des dritten Hauptstücks und der Rechtslehre insgesamt erfolgt nach derselben Matrix 1, 2, 3 / 4; in ihr haben der Eid und das Postulat (Modalität) die identische Funktion, die betreffenden Inhalte in die Wirklichkeit zu überführen.2 I. „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“ Der einleitende § 36 kündigt vier Themen des III. Hauptstücks an, den Schenkungs- und den Leihvertrag, die Wiedererlangung und die Vereidigung. Die Vierzahl wird nicht näher begründet, es heißt nur: „Und da giebt es vier Fälle, […].“ (297,13 – 14) Die drei ersten Fälle stehen unverbunden nebeneinander, auch die spä1 Bloße Seiten- und Zeilenangabe beziehen sich hier und im Folgenden auf Band VI der Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, Berlin 1900 ff. 2 Einen derartigen Versuch unternehme ich in dem Sammelband Die Macht des Vierten, Hamburg (Meiner-Verlag) im Erscheinen. Die hier entwickelten Überlegungen setzen die dortigen Interpretationen fort und benutzen stückweise auch den Text.

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teren Ausführungen geben keine Begründung für ihre Auswahl und eventuelle innere Verbindung.3 Anders beim vierten: „Von Erwerbung der Sicherheit durch Eidesablegung.“ (303,27) Diese gesuchte Sicherheit bezieht sich auf alle drei vorhergehenden Fälle und betrifft nur den Zivilzustand; sie hat ihrerseits keinen getrennten Inhalt. Mit Hobbes: „Oath addes nothing to the Obligation.“4 Nun wird man sagen können: Je weniger die drei ersten Positionen in einer notwendigen Ordnung stehen, desto auffälliger ist die Tatsache, dass Kant sie ohne nähere Begründung auswählt und für keine weiteren Fälle öffnet.5 Man wird vermuten dürfen, dass die formale Matrix des 1, 2, 3 / 4 federführend ist und Kant auf sie den größten Wert legt; die materiale Auffüllung der ersten drei Fälle kann gegenüber dem formalen Gerüst zur „cura posterior“ werden. Wir werden sehen, dass auf diese Weise im dritten Abschnitt die Struktur der zweiteiligen Rechtslehre im Ganzen abgebildet wird. Wir thematisieren zuerst die Gesichtspunkte, die durchgängig für die vier Fälle gelten (sollen) und kommen dann zur besonderen Rolle des Vierten. Die verschiedenen Themen werden unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten exponiert. Einmal dem des Privatrechts oder Naturzustandes, zum anderen des Zivilzustandes; zum ersteren gehört die „iustitia commutativa“, zum zweiten die „iustitia distributiva“; desgleichen das persönliche Recht und das Sachenrecht, weiter: wie die Menschen für sich und privat urteilen und wie sie „nach der Idee des öffentlichen Rechts“ (297,17) urteilen, hier „was ist an sich recht“ (297,11), dort „was ist Rechtens?“ (297,13), nämlich vor einem öffentlichen Gericht. Kant stellt die Gesichtspunkte einander antinomisch gegenüber und verzeichnet Nutzen und Nachteil von beiden, auch die positiven Aspekte der Rousseau-Seite, die jedoch am Ende nicht zur Geltung kommen, denn der Staat muss aus Rechtsgründen das letzte Wort haben. So steht im Narrativ der Rechtsgeschichte das Privatrecht am Anfang, ihm folgt nach dem postulierten Übergang das Öffentliche Recht mit seinen Institutionen, die rechtlich notwendig sind; aber das subjektive Urteil der Gegenseite wird nicht verstaatlicht, sondern bleibt in seiner freien Reflexion erhalten, wenn es auch nicht werktätig gegen die staatlichen Institutionen aufbegehren kann. Wer den Überschritt nicht vollzieht, sondern an seinem natürlichen Rechtsurteil im Fall des Leihvertrags im Handeln festhält, wird zum Michael Kohlhaas (1808 und 1810)6.

3 Einen Versuch, die Gedankenfolge aufzuweisen, bietet Falcioni 1999, 166. Aber könnten nicht weitere Fälle folgen? Skeptisch gegenüber jeder Ordnung der vier Fälle Kiefner 1991. 4 Hobbes 2003, 100 – Leviathan XIV Ende. Zu dem Gesamtkomplex vgl. die gründliche Studie von Marcus Twellmann, dem aber der Clou der vier Fälle ebenso wie den anderen Interpreten entgangen ist. 5 So Kiefner 1991, 150: „[…] weitere Fälle bleiben offen.“ 6 Eine Anregung Kleists durch die Kantische Rechtslehre ist in der Forschung vermutlich nicht diskutiert worden, vgl. Breuer (Hrsg.) 2009.

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Die Seite des Öffentlichen Rechts führt als Zusatzbedingung der drei inhaltlich unterschiedenen Fälle an, dass der Rechtsfall leicht und sicher abgeurteilt werden und der Bürger rasch zur Rechtssicherheit gelangen muss (u. a. 303,9 – 25). Hiermit ist das Thema der vierten Position angesprochen, des Eides. Durch den Eid wird gewährleistet, dass der Ausspruch der Gerichtsbarkeit in der „iustitia distributiva“ nicht chimärisch bleibt, sondern durch eine überirdische Sanktion seine sichere Wirklichkeit findet.7 Hier gipfelt jedoch auch der Konflikt zwischen der Seite des natürlichen Privatrechts und des Öffentlichen Rechts: Um zu seinem Staatsziel der Sicherheit zu gelangen, wendet der Staat ein Mittel an, das „an sich“ rechtswidrig ist, den Eid, die „tortura spiritualis“ (304,33 – 34). Kommen wir von den Inhalten zur formalen Struktur der vier Fälle, die Kant anführt. Sie ordnen sich gemäß der Matrix 1, 2, 3 / 4, die Kant seit der Urteilstafel von 1781 immer wieder verwendet: Drei Fälle mit unterschiedlichen Themen oder Gebieten, während der vierte sich ohne neuen Inhalt auf die vorhergehenden drei bezieht und ihre Wirklichkeit auf der Seite des Öffentlichen Rechts gewährleistet. Wir erinnern uns: „Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt, (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte,) sondern nur den Wert der Copula auf das Denken überhaupt angeht.“ (KrV A 74)8 Der Eid steht an vierter Stelle, er hat keinen eigenen Inhalt – die dirigierende Instanz der Isomorphie muss die Urteilstafel sein! Nun könnte es jedoch noch eine andere Verbindung des Eides mit der formalen 1, 2, 3 / 4-Strukur geben. In den Texten der pythagoreischen Schule werden Eid und Vierheit verbunden. „Unter ihnen sind auch Philosophen, die die Tetraktys ihren größten Schwur nennen.“9 Und: „Deshalb verlautbarten auch die Pythagoreer, daß das Vierte der größte Eid sei.“10 Wie immer die Tradition von Pythagoras bis zu Kant ausgesehen hat, schon in der Zwischenzeit wird für den Eid reklamiert, was auch für die Modalität gelten soll: Sie führen keinen eigenen Inhalt an. Wir sahen dies schon oben bei Hobbes, und Daniela Falcioni zitiert Moses Mendelssohn: „Eidschwüre erzeugen keine neue Pflicht.“11 Kant ein Pythagoreer? Dass der Eid als Vierter keinen eigenen Inhalt bei sich führt, finden wir bei Pythagoras nicht, so dass die Rückdatierung Kants zu den Vorsokratikern hier keinen Rückhalt findet. Wir werden die Lage so entwirren müssen, dass die Gleichheit der vierten Position des Eides bei Pythagoras und Kant eher S. Pufendorf 1994, 101 – 104. Hinweis Philipp-Alexander Hirsch, Göttingen. In der Ebene dieser klaren Trennung dürfen sich die Momente der Relation und Modalität kaum „verfilzen“, wie Reich 1932, 53 und Wolff 1995, 141 („[…] daß die Funktionen der Modalität (und nur sie) mit den Funktionen der Relation verflochten sind, […].“) meinen. 9 Diels-Kranz 1956, I 400, 14 – 15. 10 Diels-Kranz 1956, I 455, 7. 11 Falcioni 1999, 166. 7 8

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eine historische Kuriosität bleibt,12 die eigene Inhaltslosigkeit des Eides auch einem Kind auffallen kann, und als wirkliches Ergebnis dann die Isomorphie von Urteilstafel und III. Kapitel der Rechtslehre bleibt. Eine Beobachtung, die zeigen kann, wie Kants Überlegungen in der Rechtslehre dirigiert werden von den fundamentalen Bestimmungen der Urteils- und Kategorientafel von 1781: Die inhaltsleere Modalität wird dort überführt in die Position eines Postulats, so in der Modalität der Grundsätze des reinen Verstandes: „Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ (KrV A 218)13. An den entscheidenden Einsätzen der Modalität begegnet der Begriff des Postulats, so in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ (V 122,3 u. ö.) und im Übergang vom „Privatrecht“ zum „Öffentlichen Recht“ in der Metaphysik der Sitten, wie wir sehen werden. Nun erscheint das Postulat auch in dem Resümee der drei ersten Rechtsbeziehungen im dritten Hauptstück der Rechtslehre (also 302,24 – 303,25), mit dem wir uns hier befassen. Gesucht werde ein Übergang von der kommutativen zur distributiven Gerechtigkeit, von den Gründen, „die an sich nur ein persönliches Recht begründen“ (302,31) zum sachlichen Recht; es wird „als hinreichend postuliert […], und ein an sich persönliches Recht, vor einen Gerichtshof gezogen, als ein Sachenrecht gilt, […].“ (302,34 – 35) Die Magie des Postulats, das aus einem nur subjektiven Recht im Naturzustand das Sachenrecht der Staatsgesellschaft macht. Der Interpret steht wieder vor der Frage, ob die Isomorphie von Urteils- und Rechtslehre auf Zufall beruht, oder ob Kant sich in der Strategie seines Systems derselben Matrix gezielt bedient. Wer für Zufall plädiert, steht für die immer wiederkehrende Figuration blind da und kann allenfalls wie der Mathematiker nach der Homer-Lektüre fragen: „Und was beweist das?“ „Et qu‘est ce que cela prouve?“ Wenn wir dagegen ernsthaft erwägen, dieselbe Matrix 1, 2, 3 / 4 in beiden Systemstellen am Werk zu sehen, müssen wir zugestehen, dass die Identität der Struktur sich nur auf die numerische Identität der Vierzahl bezieht, auf den Bruch bei gleichzeitiger Kontinuität zwischen 3 und 4 und die Behauptung der Vollständigkeit – es kann jetzt nicht mehr in gleicher Weise fortgehen.

II. Privatrecht und öffentliches Recht Die These, dass Kant auch hier dieselbe Matrix wie im dritten Hauptstück zugrunde legt, ist ambitionierter als dort; wenn sie zutrifft, legt Kant bei der Komposition der Rechtslehre die Struktur zugrunde, die ihn bei der Urteilstafel 1781 geleitet

12 Dies, nachdem mir Vittorio Hösle zu einer früheren Fassung, in der Pythagoras eine größere Rolle spielte, schrieb: „Doch nagt bei mir der Zweifel, ob nicht die Uebereinstimmung durchaus Zufall ist; denn gerade der Parallelismus zur Modalitaet in der Kategorientafel erklaert die Kantische Vierzahl. Braucht man dann noch eine andere Erklaerung?“ Also: Zufall. 13 Vgl. dazu die gründliche Studie von Giuseppe Motta 2012, der ich nichts hinzuzufügen habe außer dem generellen Bezug der Kantischen Postulate zum Vierten.

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hatte. Als Indizien sollen gelten: Die stabile Dreiheit des Ausgangs, die Wende zu einer neuen Reflexionsebene, die z. B. durch ein Postulat eingeführt wird, und die vierte, abschließende Position, die die Wirklichkeit und Vollständigkeit gewährleistet. Das „Privatrecht“ der Rechtslehre von 1797 zerfällt in drei Hauptstücke, in denen erstens das Haben und zweitens das Erwerben eines äußeren Mein und Dein vorgestellt werden; drittens folgt „Von der subjectiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“ (296,13 – 14). Und dann an vierter Stelle: „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst im Verhältniß eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit übergehen.“ (307,8 – 12) An der vierten Stelle steht also das Postulat des Öffentlichen Rechts, durch das allererst das „Privatrecht“ zur Wirklichkeit kommen kann. „Eine austheilende Gerechtigkeit“ – hier nicht als dritte Relationskategorie, sondern als das „suum cuique tribue“ der dritten Ulpianschen Formel. Der Staat ist die „iustitia distributiva“ (307,111), das Postulat der Modalität fordert den Übergang vom Naturzustand des bloß ideierten Rechts zum wirklichen Recht, so wie das Postulat in der KpV (V 122,3; 22; 124,5; 132,7 ff.) von der vielleicht noch chimärischen Sittlichkeit zur realen im Reich der Zwecke, dem Pendant zum Staat. Das „Privatrecht“ der Rechtslehre entwickelt sich in einer triadischen Struktur. Am Anfang steht die substantielle Bestimmung des Habens (in seinen drei Möglichkeiten der gegenständlichen Bestimmung, 247,17 – 248,29), sodann die kausale Bestimmung der Handlung des Erwerbens und drittens die Lehre von der subjektivbedingten Erwerbung vor einer Gerichtsbarkeit als Antizipation des „suum cuique“, der Kategorie der Wechselwirkung. Ich denke, die Folie der „Relation“ macht besonders klar, warum nicht das Erwerben vor dem Haben steht, wie doch die natürliche Abfolge nahelegt, und auch, wie es zu der höchst künstlichen dritten Position eines antizipierten „suum cuique“ kommt. Das Postulat des „exeundum est e statu naturali“ bildet systematisch die „Widerlegung des Idealismus“ in der theoretischen Philosophie; ohne dieses zu den vorhergehenden drei Grundbestimmungen hinzutretende Vierte könnten die Rechtssätze chimärisch bleiben. „Von der subjectiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“ (296,13 – 14) lautete der Titel des dritten Hauptstücks. Die vierte Position, die Vereidigung, enthält das Gebot, auf den vorher aufgeführten Gebieten möglichst alle juristischen Hindernisse zu beseitigen, um einen problemlosen raschen Rechtsverkehr zu ermöglichen.14 Allein der vierte Titel bezieht sich nicht auf einen inhaltlich bestimmten Rechtsvorgang, sondern auf die Sicherung von Rechts14 Vgl. bes. Falcioni 1999. Daniela Falcioni zitiert S. 166 Moses Mendelssohn: „Eidschwüre erzeugen keine neue Pflicht.“ Durch die Koinzidenz mit der Modalität in der Kantischen Urteils- und Kategorientafel ist damit die Position an vierter Stelle natürlich vorgegeben: Die Modalität bringt keinen neuen Inhalt!

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beziehungen überhaupt durch die Obhut unter dem Eid, etwas gröber: „tortura spiritualis“ (304,33 – 34) genannt. Durch den Eid wird gewährleistet, dass der Austausch unter den drei Titeln nicht, wie wir sagen könnten, zum „commercium chimaericum“ wird, sondern durch Eidessanktion seine Wirklichkeit findet.15 Der Eid besiegelt die drei Typen in einer neuen Ebene, indem er sie mit einer Ewigkeitssanktion verbindet. Auch hier entwirft Kant seine Rechtstafel am Reißbrett der vierteiligen Urteilslogik, denn der Eid fungiert als Modalität und als Postulat der Wirklichkeit. Sodann folgt die nähere Bestimmung des „Staats in der Idee“ (313,14) durch die dreifache Gewaltenteilung, die das Kernstück der Republik ausmacht. „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem practischen Vernunftschluß: dem des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“ (313,10 – 27) Der Staat in der Idee ist vorausgesetzt, so dass die syllogistische „divisio metaphysica“ ihre substantielle Grundlage hat, nämlich das einheitliche Vierte, das die „trias politica“ allererst ermöglicht. Im Ewigen Frieden (1795) stand schon im Hinblick auf die neue Rechtsorganisation: „Diese Eintheilung ist nicht willkürlich, sondern nothwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden.“ (VIII 349,33 – 35) Die gleiche strukturelle Einteilung der Staats-Idee führt also in der Rechtslehre zur Gewaltenteilung. Sie hat den großen Vorteil, dass Kant die Dualität von Vereinigungs- und Unterwerfungsvertrag umgeht, mit der z. B. Anselm Feuerbach16 immer noch kämpft. Mit der Staatsidee, die als solche durch die reine praktische Vernunft einen Imperativ darstellt, ist die Unterwerfung jedes Menschen als eines Bürgers unter die drei Gewalten gegeben, er braucht sich dem Regenten nicht in einem gesonderten Vertrag zu unterwerfen. Ähnlich ist das Strafrecht ein kategorischer Imperativ (331,31 – 32), der den Bürger davon befreit, für die mögliche eigene Todesstrafe zu stimmen. Nun wird man die vierte Position in der Lehre von den drei Gewalten noch für etwas anderes reklamieren. Im philosophischen Entwurf soll die „trias politica“ gewährleistet sein, der Autor Kant steht für die Richtigkeit seiner praktischen Theorie ein. Die Gewaltenteilung soll jedoch zur wirklichen Institution werden und sich erhalten, und hier kann nicht an den „Staat in der Idee“ appelliert werden. Es bedarf einer Verfassunggebenden Versammlung und eines Verfassungsgerichts, die die 15 16

S. Pufendorf 1994, 104. Feuerbach 1967, 23 ff.

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theoriegemäße Einrichtung der Republik vornehmen und dann auf Dauer stellen. Die drei Gewalten bedürfen eines Vierten, um aus dem Gedanken in die Modalität der Wirklichkeit überzugehen und in ihr zu bestehen. Dies hätte Kant problemlos ausführen können. Aber es folgt eine weitere Besetzung der vierten Position; nach der praktischen Kontrolle der drei und nur drei Gewalten durch eine überlegene Institution bedarf es einer Institution, die die Republikfähigkeit der Bürger gewährleistet und somit die eigenen Vorbedingungen erzeugt; es soll sich nicht nur um eine rechtliche Staatsidee handeln, sondern um eine tatsächliche, wirkliche Institution im Prozess der Geschichte. Kant selbst hat das Konzept der Universität entworfen, auf die die Republik nach seiner eigenen Darstellung notwendig angewiesen ist. Seltsamerweise lässt das Naturrecht und Kants nachfolgende, durch die Urteilstafel gelenkte Darstellung keinen Platz für die Institution, die in anderen Zusammenhängen als notwendig erklärt wird: Ohne die moderne Universität ist eine Republik nicht möglich. Kant selbst hat diesen Gedanken zwar angeregt, aber nicht mehr ausgeführt.17 Die Fundierung des Öffentlichen Rechts im Privatrecht schützt Kant davor, den Staat als einen unabhängigen Herrschaftsapparat zu konzipieren, er dient nur und hält keine Selbst-Paraden ab. Umgekehrt ist der Staat ein Gebilde „sui generis“, das sich nicht im Aggregat des äußeren Mein und Dein seiner Bürger erschöpft und deren bilateralen Streitigkeiten schlichtet. Er muss sich als neue Sphäre gegenüber dem Privatrecht durch eine besondere integrierende Kultur ermöglichen, so wie es Kant in seiner Universitätsschrift von 1798 exemplarisch zeigt. Resümieren wir noch einmal den systematischen Aufbau der Rechtslehre, allen Ungläubigen zum Trotz. Das „Privatrecht“ enthält drei Teile, die sich in ihrer Abfolge nach der dritten Kategorie der Relation ordnen könnten, wie wir sahen. Der Übergang zum „Öffentlichen Recht“ wird durch das Postulat der Modalität vollzogen; mit ihm werden die vorher explizierten Inhalte in ihrer notwendigen Wirklichkeit demonstriert, es ist der „status civilis“, der Zustand der Gerechtigkeit. Die damit systematisch erreichte Staatsidee enthält die drei Gewalten, aufgefasst einmal als „divisio metaphysica“, zum anderen jedoch in Form eines dreiteiligen praktischen Syllogismus (313,17 – 27). Wenn es heißt, der Staat sei die Gerechtigkeit (306,14), dann wiederholt sich diese Gesamtgerechtigkeit, die in der vierten Position realisiert wird, im Gerichtsverfahren; in ihm steht am Anfang das Gesetz, dann folgt die Subsumtion eines Falles unter das Gesetz, und drittens die Exekution des Richterspruchs.

Schluss Natürlich war Kant kein Pythagoreer, der Leser war gewarnt. Auf der anderen Seite sträubt sich die Wahrheit auch vor Gedanken aus der Feder des Pythagoras 17

Vgl. dazu Brandt 2011, 63 – 68.

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nicht, und so könnte es ihr, der Wahrheit, willkommen sein, dass ein pythagorisierendes Muster in den Gebirgsadern der kritischen Philosophie entdeckt wird. Entscheidend ist jedoch die Präsenz des systemnotwendigen Abschlusses oder der Vollständigkeit nach der Vorgabe der gesicherten Logik. Die vierte Position ist die letzte Setzung, die zugleich der Garant der Vollständigkeit ist und kein „Weiter so“ kennt. In einer syllogistischen Ordnung lässt sich die jeweilige Konklusion als erste Prämisse in einer pro- oder episyllogistischen Reihe verwenden, so dass wir aus ihr keine apriorische Erkenntnis eines Abschlusses gewinnen. Ein mathematischer Beweis dürfte ebenfalls nicht möglich sein. Vielleicht ist dies der Grund für das auffällige Phänomen, dass sich Institutionen und Individuen der Struktur bedienen, ohne dafür einen expliziten Grund anzugeben, seit Homer und seit Christus, dem Vierten und König der Könige. Summary Kant – a Pythagorean? Of course not. It is only strange that Pythagoras and Kant both place the oath at the fourth position; as Kant does in the III. Chapter of the Private Law. But this position can be explained differently. In Kant’s school of thought, the oath has the same function within the structure of legal relationships as modality has within the table of judgments. The oath seals the deal on an agreement without adding new contents to it. From this functional point of view, modality can also be considered a postulate, as this has already been done in the Critique of Pure Reason, in particular in the “Refutation of Idealism”. With this concept, one can happily recognize that the three pieces on Private Law are followed by the postulate of Public Law in fourth position; thus, the overall composition is also predetermined by the table of judgments. In the Critique of Practical Reason, the tripartite analytics was analogously followed by dialectics and the doctrine of postulates, which disproves the suspicion that morals are, in the end, chimeric. From this perspective, however, the supernatural and the State become astonishingly proximate to one another. Literatur Brandt, Reinhard (2011): Wozu noch Universitäten? Ein Essay, Hamburg. – (2013): Die Macht des Vierten. Eine Ordnung der europäischen Kultur, Hamburg (im Erscheinen). Brünneck, Wilhelm von (1876): Über Kant’s Theorie vom Eigenthumserwerb an Sachen, die ein Nichteigenthümer veräußert, in: Altpreußische Monatsschrift XIII, 587 – 599. Diels, Hermann / Kranz, Walter (1956): Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin. Falcioni, Daniela (1999): Fragen der Gerechtigkeit bei Kant: Was ist an sich recht? Was ist Rechtens? In: Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis. Tagung aus Anlass des 60. Geburtstags von Reinhard Brandt, hrsg. von Heiner F. Klemme u. a., Würzburg, 153 – 170.

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Feuerbach, Paul Johann Anselm (1967): Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und Zwangsrechte der Bürger gegen den Oberherrn (1797), Darmstadt. Hobbes, Thomas (2003): Leviathan, ed. by Richard Tuck, Cambridge. Hüning, Dieter (2009): Unrechtmäßiger Geisteszwang oder zulässiges Erpressungsmittel der Wahrheit? Die Rolle des Eides in Kants Rechtslehre, in: Peter Friedrich / Manfred Schneider (Hrsg.), Fatale Sprache. Fluch und Eid in Literatur- und Rechtsgeschichte, München, 227 – 251. Kiefner, Hans (1991): § 39 der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre Kants, in: Michael Stolleis (Hrsg.): Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér, München, 133 – 152. Ludwig, Bernd (1988): Kants Rechtslehre (Kant-Forschungen Bd. 2), Hamburg. Motta, Giuseppe (2012): Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt. KrV A 218 – 235 / B 265 – 287. Ein kritischer Kommentar. (Kantstudien-Ergänzungshefte), Berlin. Reich, Klaus (1932): Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, Berlin. Schwab, Johann Christoph (1797): Bemerkungen über den Kantischen Begriff von dem gerichtlichen Eyd in der metaphysischen Rechtslehre, Frankfurt und Leipzig. Twellmann, Marcus (2010): „Ueber die Eide“. Zucht und Kritik im Preußen der Aufklärung, München. Wolff, Michael (1995): Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt am Main.

„Positive und negative Freiheit“ bei Kant? – Wie begriffliche Konfusion auf philosophi(ehistori)sche Abwege führt Bernd Ludwig „Indem sie sich unterwirft, erweitert die Willkür ihre negative Freiheit um eine positive. Diese erwächst ihr aus der Unterwerfung unter ihre eigene idealisierte Natur als rein vernünftigen Willen.“

Wenn man in der deutschen Übersetzung von Lewis White Becks verdienstvollem Kommentar zu Kants Kritik der praktischen Vernunft auf Seite 172 auf diese Passage (oder auf S. 180 der Originalausgabe auf ihr englisches Pendant) stößt, wird man in der Regel weniger über die Bedeutung der einzelnen Ausdrücke, als vielmehr über die sachliche Angemessenheit der Sätze ins Nachdenken kommen. Wem es daher nicht sogleich vor Augen steht, warum der erste Satz (zumindest im Kontext einer Kant-Kommentierung) des Nachdenkens letzten Endes doch nicht weiter wert ist, weil er weder wahr noch falsch sein kann, sondern schlicht Ausdruck einer begrifflichen Konfusion ist, der kann sich fürs Erste auf die Sprünge helfen, indem er den Terminus „Freiheit“ versuchsweise durch „Gott“ und / oder „Seele“ ersetzt, jene Ausdrücke, die die beiden anderen jener drei transzendentalen Ideen bezeichnen, von denen die traditionelle (und auch Kants) metaphysica specialis handelt: Von einem negativen Gott im Unterschied zum positiven zu lesen, dürfte, ganz gleich, was uns im Einzelnen dann über diese beiden Götter kundgetan wird, nicht weniger befremden, als die Rede von zwei Seelen, einer negativen und einer positiven – und dass es dergleichen bei Kant gebe, hat m. W. auch noch niemand ernsthaft behauptet. Die Auffassung hingegen, Kant kenne gleichwohl eine ‚positive Freiheit‘ und eine ‚negative Freiheit‘ ist durchaus geläufig. Sie scheint bis heute keinen erwähnenswerten Anstoß zu erregen, mitunter sogar einen so geringen, dass in der jüngeren Vergangenheit noch ein Aufsatz mit dem Titel „Positive und negative Freiheit bei Kant“ erscheinen konnte.1

1 Baum 2008. Dass der Titel kein bloßer Lapsus ist, sondern die im Folgenden zu analysierende begriffliche Konfusion ankündigt, zeigt sich u. a. an der unreflektierten durchgängigen Verwendung der fraglichen Ausdrücke. – Auch der Autor vorliegenden Artikels hat bereits leichtfertig von ‚Kants positiver Freiheit‘ gesprochen (s. etwa auf S. 443 desselben Zeitschriftenbandes).

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Bereits ein kurzer Blick in die gängigen Indices belehrt indes, dass in den uns von Kant überlieferten Texten an keiner einzigen Stelle von negativer und positiver Freiheit die Rede ist.2 Bei Kant gibt es negative Begriffe von Freiheit (s. u.), Gott (etwa 28:1248, 22:58, 28:1169)3 und Seele (A 799, 5:460) – von der Freiheit gibt es auch positive Begriffe (s. u.): Zumindest von dieser ist also bei Kant tatsächlich „im positiven“ wie „im negativen Verstande“ (u. ä.) die Rede. ‚Positive Freiheit‘ hingegen gibt es ausschließlich in der Sekundärliteratur, einen positiven Gott und eine positive Seele m. W. nicht einmal dort – und für die negativen Gegenstücke gilt durchweg dasselbe. Kurz: die Unterscheidung „positiv“ vs. „negativ“ wird von Kant im Kontext seiner transzendentalen Ideen ausschließlich auf Begriffe angewandt, d. i., als eine Unterscheidung auf zweiter Stufe. Niemals jedoch stehen „positiv“ und „negativ“ dort für Prädikate von (möglichen) Gegenständen erster Stufe.4 Bevor wir uns exemplarisch einer der gravierenden Folgen der achtlosen Einebnung dieses Unterschieds widmen, ist die Frage zu klären, worin die Bedeutsamkeit der Unterscheidung von positiven und negativen Begriffen für Kants Metaphysik liegt. Es wird sich zeigen, dass die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik sich für Kant letztendlich in Gestalt der Frage nach der Möglichkeit positiver Begriffe von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit stellt.

I. Die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Begriffen lässt sich sehr einfach explizieren, wenn man sie jeweils in ihrer Anwendung auf Kants Begriffe sowohl der transzendentalen als auch der praktischen Freiheit betrachtet (und dabei diese beiden Unterscheidungen nicht durcheinanderwirft!). Da Kant nur in Bezug auf den Begriff der transzendentalen Freiheit explizit Gebrauch von den Begriffsprädikaten „positiv“ und „negativ“ macht, bietet es sich an, damit auch den Anfang zu machen.

2 Das gilt sogar von den Vorlesungsnachschriften – mit m. W. derzeit nur einer Ausnahme: In der Anthropologie-Nachschrift Dohna (p. 249) ist die Rede von der „bloß negative[n] Freiheit“ eines mittellos entlassenen „Erbunterthanen“, der nicht das Vermögen hat, etwas zu erwerben (vgl. dazu die gedruckte Nachschrift Parow, wo an derselben Stelle einfach „Freyheit“ steht; 25:418.1). Für die nachfolgenden Überlegungen ist diese Stelle jedenfalls nicht einschlägig. 3 Kants Schriften werden zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff. ([Band]:[Seitenzahl]) – mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, diese wird nach den Seiten der ersten (A [Seite]) und zweiten (B [Seite]) Auflage zitiert. 4 Die beiden Ausdrücke ‚positive Freiheit‘ und ‚negative Freiheit‘ erregen derzeit vermutlich allein deshalb weniger Anstoß als die vier übrigen, weil sie seit Isaiah Berlins Two Concepts of Liberty von 1958 in der politischen Theorie wohl etabliert sind – wo sie tatsächlich Begriffe von unterschiedlichen Gegenständen bezeichnen.

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1. Erstmals formuliert die Kritik der praktischen Vernunft 1787 / 88 den Unterschied geradeheraus: Jene Unabhängigkeit [sc. von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte)] aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. (5:33)

Die deutlichste Erklärung liefert dann 1797 die Metaphysik der Sitten: Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze. (6:214, Herv. B. L.; vgl. 27:494)

Fassen wir die Begriffsbestimmungen zusammen, so ergibt sich: Der negative Begriff der transzendentalen Freiheit (der Willkür) ist der einer unbedingten Kausalität, d. h., einer Kausalität die ihrerseits insbesondere von allen sinnlichen Antrieben unabhängig ist. Der positive Begriff derselben ist der des Vermögens einer Bestimmung (der Willkür) durch die reine praktische Vernunft allein.

Der negative Begriff wird hier gebildet, indem man bei einem als objektiv eingesehenen Begriff (also dem Begriff eines zugestandenermaßen möglichen – oder gar wirklichen – Gegenstandes, hier: der Willkür als einer praktischen Kausalität) mindestens ein Merkmal (hier: die sinnliche Bedingtheit) negiert, womit sich einen neuer Begriff ergibt, dessen Objektivität zunächst einmal fraglich ist.5 Ein solcher negativer Begriff reicht mitunter bereits für die Suche nach einem möglichen Gegenstand des Begriffs hin, denn man kann im Erfolgsfalle schließlich erkennen, dass man einen möglichen Gegenstand dieses Begriffs gefunden hat. Aber erst ein positiver Begriff kann durch die (nichttriviale) Bezeichnung eines einschlägigen „Vermögens“ auch ohne das Gegebensein des Gegenstandes selbst (etwa in der Anschauung) sicherstellen, dass es sich bei dem mit dem negativen Begriff angezielten Gegenstand nicht um ein bloßes Gedankending (ens rationis, ens imaginarium), vulgo: Hirngespinst, handelt. Es geht dabei, technisch gesprochen (vgl. dazu A 72f. und 16:637), darum, von einem negativen Begriff, der zunächst nur durch ein verneinendes Urteil expliziert werden kann (‚Die fragliche Kausalität / ist nicht / sinnlich-bedingt‘) zu einem solchen Begriff überzugehen, der durch das korrespondierende unendliche Urteil (‚Die fragliche Kausalität / ist / nicht-sinnlich-bedingt‘) explizierbar ist. Das führt aber nur 5 „Alle negativen Begriffe sind derivativ.“ (28:778, vgl. 1244) – Der Extremfall läge vor, wenn ein Begriff durch die Negation eines seiner Prädikate selbst widersprüchlich würde: Ein Begriff von „Nichts (nihil negativum)“, siehe A 291f.

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dann zu einer („bejahenden“) Bestimmung des Begriffs, wenn es gelingt, das bloßnegative ‚Prädikat‘ (das de facto gar kein Prädikat, sondern zunächst nur das Komplement eines Prädikats innerhalb der „unendlichen Sphäre des Möglichen“ ist) durch ein ‚echtes‘, positives Prädikat zu substituieren und damit bei einem (echten) bejahenden Urteil als Explikation eines dann positiven Begriffs anzukommen (‚Die fragliche Kausalität / ist / durch die reine praktische Vernunft bedingt‘). Grundsätzlich ist dann, wenn der positive Begriff Objektivität besitzt, er also der Begriff eines möglichen Gegenstandes ist, die Extension dieses positiven Begriffs Teilmenge der Extension des negativen.6 Der positive Begriff ist dafür im Gegenzug an Bestimmungen „reicher und fruchtbarer“ (4:446). In keinem Fall aber ‚gibt‘ es bei Kant eine Freiheit, die ausschließlich unter deren negativen Begriff fiele, aber unter keinen positiven (und dann freilich mit gewissem Recht ‚negative Freiheit‘ genannt werden könnte): Eine solche wäre vielmehr mangels hinreichender Bestimmtheit ein „Unding“ (ebd.), ein non ens (also noch nicht einmal „Nichts“ im Sinne eines ens imaginarium, vgl. 23:80).7 Behauptungen der Art, dass etwa für bestimmte praktische Zwecke eine ‚negative Freiheit‘ zureiche oder dass einem Wesen (bzw. dessen Willkür) eine solche (zumindest im Prinzip) auch ohne ‚positive Freiheit‘ zukommen könne, sind daher im Kantischen Kontext schlicht unverstehbar; durch eine etwas weitherzigere Auslegung können sie dann allenfalls noch falsch werden: Freiheit als bloße „Unabhängigkeit von“ ist laut Kant ja noch nicht einmal 6 Der negative und ein gegebener positiver Begriff desselben Gegenstandes müssen allerdings nicht koextensiv sein, denn es können zu einem negativen Begriff durchaus mehrere positive Begriffe gehören. Gerade beim Begriff einer unbedingten Kausalität soll die menschliche Willenskausalität ausdrücklich nur eine der beiden für uns bedeutsamen Exemplifikationen sein (siehe A 450). Unter welchen positiven Begriff die andere unbedingte Kausalität (die im engeren Sinne kosmologische, nicht menschliche) möglicherweise fällt, bleibt für uns allerdings unerkennbar, wir wissen nur, dass es eine solche gibt (s. u.). 7 Negative und positive Begriffe im hier explizierten Sinne sind keine metaphysische Idiosynkrasie, sondern bestimmen idealtypisch auch z. B. jede anwendungsorientierte Forschung: Der negative Begriff definiert das Problem, der positive weist den Weg zur Lösung. – Der negative Begriff etwa der Telegraphie (Nachrichtenübermittlung unabhängig vom Transport eines materiellen Trägers) stellt(e) die Ingenieure vor die Aufgabe, (mindestens, s. o. Anm. 6) einen positiven Begriff zu ersinnen, aus dem dann die Möglichkeit des Gegenstandes erkannt wird (etwa: [1] Nachrichtenübermittlung vermöge elektrischer Impulse in Leitern, oder auch [2] Nachrichtenübermittlung vermöge elektromagnetischer Wellen). – Die Möglichkeit hingegen von Teleportation (Ortswechsel makroskopischer Körper ohne deren Transport durch den dazwischenliegenden Raum) und von Telepathie (Übermittlung mentaler Gehalte unabhängig von den bekannten sinnlichen Kanälen), ist mangels positiver Begriffe (noch?) offen: Teleportation ‚gibt‘ es derzeit nur in der science fiction („Scotty, beam us up!“); und ohne einen (zumindest heuristischen) positiven Begriff geben auch die vermuteten Telepathie-Phänomene zunächst nur ganz gewöhnliche (wenn auch möglicherweise außergewöhnlich hartnäckige) sinnesphysiologische Erklärungs-Rätsel auf. – Wiederum anders gelagert (und später als Analogie hilfreich, s. u.) ist der Fall beim (makroskopischen) perpetuum-mobile: Davon haben wir zwar einen widerspruchsfreien negativen Begriff (etwa: Maschine, die sich – möglicherweise sogar unter Energieabgabe – selbst bewegt); dieser steht jedoch mit den Erhaltungssätzen unserer bewährten naturwissenschaftlichen Theorien in Widerspruch, woraus folgt, dass es für uns (derzeit) keinen positiven Begriff geben kann.

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ein Hirngespinst; gar zu behaupten, sie sei irgendwo exemplifiziert, wäre definitiv Unfug – und wir werden gleich noch etwas besser erkennen, warum das so ist. 2. Ganz analog lässt sich nun nämlich auch der Begriff der praktischen Freiheit negativ und positiv bestimmen, ausgehend von der einschlägigen Passage im Kanon der Kritik der reinen Vernunft: Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden [… Die Vernunft] gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind, [… die praktische Freiheit ist] eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens (A 802f.).

Aufgelöst in den negativen und den positiven Begriff heißt das: Der negative Begriff der praktischen Freiheit (der Willkür) ist der einer Kausalität die von den unmittelbaren sinnlichen Affektion unabhängig ist (sie gar „überwinden“ kann). Der positive Begriff derselben ist der des Vermögens einer Bestimmung (der Willkür) durch Gesetze der Vernunft.

Beim negativen Begriff der praktischen Freiheit wird der Unterschied zum negativen Begriff der transzendentalen Freiheit durch das „unmittelbaren“ (statt „allen“; vgl. A 803) und beim positiven Begriff durch den Bezug auf Gesetze der Vernunft schlechthin (im Unterschied zum Bezug in specie auf das Sittengesetz, d. i. das Gesetz der reinen praktischen Vernunft) markiert. Ein Wesen, welches praktisch frei ist, kann sich über „das, was reizt“ hinwegsetzen, was ein bloßes Sinnenwesen, „immediate determinatum per stimulos“ (15:547), gerade nicht kann. Und da die Sinnlichkeit wesentlich „unmittelbar“ wirkt, kann dasjenige einschlägige „Vermögen“, welches uns vermittels desjenigen bestimmt, „was selbst auf entfernete Art nützlich oder schädlich ist“, nur unsere Vernunft sein, von der diese abwesenden Bewegursachen vorgestellt werden (tertium non datur). Die Objektivität des Begriffs der praktischen Freiheit kann – so Kant – „durch Erfahrung bewiesen werden“ (A 802), denn der Mensch als animal rationale verfügt de facto über ein Vermögen, welches ihn von den jeweils aktuellen sinnlichen Bestimmungsgründen unabhängig macht. Praktisch frei bin ich demnach, weil ich z. B. um der auch für die Zukunft ersehnten („entfernete[n]“) Gesundheit willen den „unmittelbaren“ Widerwillen gegen die als zweckdienlich angesehene Einnahme einer bitteren Arznei zu „überwinden“ vermag und darin die Kausalität meiner Vernunft erfahre (in der Grundlegung heißt eine solche Kausalität dann „das Vermögen[!], nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln“, 04:412, vgl. 427). Die

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Fragen, ob auch mein Streben nach zukünftiger Gesundheit letzten Endes wiederum sinnlich bedingt ist (wie meine unmittelbare Abneigung gegenüber Bitterem) und woher meine (möglicherweise auch unzutreffende) Vorstellung von einer gesetzmäßigen Wirksamkeit des infrage stehenden Medikaments (ohne die ich mich zur Einnahme nicht bestimmen würde) letztendlich stammt, müssen im Zuge einer solchen Erfahrung ganz offenkundig nicht zum Thema werden (dazu gleich mehr!). Wer praktisch frei „im positiven Verstande“ ist, muss es (s. o.) auch „im negativen Verstande“ sein, und das ist hier allzu offensichtlich der Fall: Weil und insofern der Mensch sich vermöge seiner Vernunft durch die Vorstellung von „entferneten“ Gütern (und Übeln) zu bestimmen vermag (bejahendes Urteil), ist er von Nicht-Unmittelbar-Sinnlichem bestimmbar (unendliches Urteil) und damit nicht allein von seinen unmittelbaren sinnlichen Affektionen bestimmbar (verneinendes Urteil). Wer sich hingegen eine praktische Freiheit ausschließlich im negativen Verstande glaubt beilegen zu können, also definitiv kein Vermögen kennt, durch das er sich bestimmt, wenn er gerade nicht von seinen unmittelbaren sinnlichen Affektionen bestimmt wird, erkennt sich dadurch nicht etwa als in beschränktem Maße (etwa: ‚in bloß-negativem Sinne‘) praktisch frei. Vielmehr sieht er sich zunächst nur mit der höchst beunruhigenden Vorstellung konfrontiert, dass er selbst in diesen Momenten möglicherweise überhaupt keine Kontrolle über ‚sein‘ Verhalten hat. Analoges gilt selbstredend und a fortiori in Bezug auf die transzendentale Freiheit: Eine ‚bloß-negative‘ Freiheit (ganz gleich ob praktisch oder transzendental) wäre somit allein deshalb ein „Unding“ (s. o.), weil sie überhaupt kein Subjekt hätte: […] Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein) (A 553).8

Weil der Mensch seine praktische Freiheit bereits durch die Erfahrung beweist, indem er sich überhaupt Regeln der Vernunft (seien diese nun problematisch, pragmatisch oder moralisch, vgl. 29:605) gemäß bestimmen kann (A 802f.), ist sie genauso wenig ein Gegenstand der Transzendentalphilosophie, wie etwa die das Wachs schmelzende Kausalität der Sonne (vgl. A 766). Sie wird daher in der psychologia empirica abgehandelt,9 welche bei Kant 1781 nicht (mehr) zur Metaphy8 Genaugenommen hat man es also erst dann überhaupt mit einem Begriff von Freiheit als Kausalität zu tun, wenn man diesen zumindest mit einem unendlichen Urteil (und nicht allein mit einem negativen; s. o.) expliziert – sonst liegt bloße Unbestimmtheit vor (ich danke Philipp Hirsch für diesen Hinweis). – Damit hängt dann auch Kants Zurückweisung der Indifferenzlehre zusammen: „… eine völlige subjective Gesetzlosigkeit derselben [sc. Willkür] (indifferentia arbitrii)[,] Unabhängigkeit von allen[!] Bestimmungsgründen derselben[,] woraus gar keine Handlung entspringen kann“ (21:470; vgl. bereits 1755 Kants Polemik gegen die Indifferenz in 01:406f.). 9 „Die praktische oder psychologische Freiheit war die Independenz der Willkühr von der Necessitation [!] der stimulorum. Diese ist in der empirischen Psychologie abgehandelt, und dieser Begriff der Freiheit war auch zur Moralität [lies: Verbindlichkeit, s. u.; B. L.] hinreichend genug“ (28:257; vgl. 28:269 und 17:689).

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sik, sondern zur Anthropologie gehören soll (A 849). Dies dürfte z. T. erklären, warum Kant sich nicht dazu bemüßigt gefühlt hat, sie detailliert mit Hilfe ihres negativen und positiven Begriffs zu explizieren (einen weiteren Grund werden wir später noch kennenlernen): Bei empirischen Begriffen ist die Frage, ob ihr Gegenstand möglich sei, naturgemäß immer schon beantwortet, und man kann mit Blick auf einen einschlägigen Gegenstand daher mit dem reicheren, positiven Begriff einsteigen. Kants Begriff der praktischen Freiheit deckt somit im Wesentlichen das ab, was z. B. bereits Hobbes (s. etwa Leviathan Kap. VI) als den Kern der Handlungsfreiheit des Menschen als einem animal rationale freigelegt hatte: Die Bestimmung der Handlung weder durch äußere „impediments“ allein, noch bloß durch die jeweils aktuellen inneren „appetites“ und „aversions“ (wie bei einem arbitrium sensitivum brutum), sondern durch ein vermittels „reason“ ermitteltes „apparent good“, was sich aus der Gewichtung der Zu- und Abneigungen in Gegenwart und Zukunft, sowie dem Wissen um die nomologischen Abhängigkeiten der Bedingungen ihrer Befriedigung ergibt (arbitrium sensitivum liberum). Ein in diesem Wortsinne freies Wesen bedarf daher grundsätzlich gewisser Triebfedern, die ihm von Objecten der Neigung herkommen, um seine Willkür zu bestimmen; [wendet] hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft [an] (06: 26).

Die oben bereits angerissene Frage, ob eine solche praktische „Kausalität der Vernunft“ am Ende wiederum durch die Natur bestimmt ist, oder von dieser auch gänzlich unabhängig sein kann, hätte ein Autor wie Hobbes als Absurdität zurückgewiesen. Sie wird auch von Kant im praktischen Begriff (bzw. in der praktischen „Idee“, s. Anm. 10) der Freiheit ganz ausdrücklich nicht thematisiert, das heißt: Die Frage, ob die praktische Freiheit im Einzelfall mit einer transzendentalen Freiheit einhergeht, ist für Kant definitiv keine ihrerseits praktische (oder gar empirische), sondern allenfalls eine metaphysische (bzw. transzendentale) Frage. Im Kanon der Kritik der reinen Vernunft heißt es: Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entferneter wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an (A 803, Herv. B. L.; vgl. A 535).

Diese Frage wird im Anschluss dann nicht nur als eine „bloß-spekulative“ (d. i., eine theoretische) bezeichnet, sondern Kant betont darüber hinaus, dass er sie als für die praktischen Aufgaben des Kanon (die der „transzendentalen Philosophie fremd“ sind, A 801), d. i., für die Erörterung der Bedingungen der Verbindlichkeit des Sittengesetzes („ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ A 803) „als ganz gleichgültig beiseite setzen“ kann. Die Frage nach der transzendentalen Freiheit betrifft 1781 nämlich nicht die Möglichkeit von Verpflichtung („Vorschriften“), sondern

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ausschließlich die Fragen der persönlichen Zurechenbarkeit von Handlungen, der „Imputabilität derselben“,10 den „eigentliche[n] Stein des Anstoßes für die Philosophie, welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art von unbedingter Kausalität einzuräumen“ (A 448). Deshalb musste (und wollte) etwa ein Autor wie Hobbes, der an der Zurechnung kein eigenständiges Interesse nahm, ihr auch keine besondere Aufmerksamkeit widmen: Er kam bereits mit der bloßen Zuschreibung von Handlungen aus, u. a., weil für ihn Belohnungen und Strafen ausschließlich Maßnahmen der Erzeugung von Gesetzesgehorsam sind.11

II. Hier kommt nun ein möglicher Grund dafür ins Spiel, dass die bislang explizierten – eigentlich recht durchsichtigen und zudem philosophiehistorisch gänzlich unspektakulären – begrifflichen Verhältnisse mitunter nicht durchschaut werden: Kant beantwortet genannte Frage nach einem möglichen Zusammenhang von praktischer und transzendentaler Freiheit nämlich von den ersten uns bekannten Äußerungen der 1760er Jahre bis hin zur Grundlegung zunächst einmal anders, als er sie dann von der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft an bis in die letzten Aufzeichnungen des opus postumum beantwortet – ohne seine Leser eigens über diesen Wechsel zu unterrichten.12

10 Die praktische Freiheit ist folglich die Bedingung bereits der Zuschreibung von Handlungen, die transzendentale die erst der Zurechnung: Mein Verhalten ist im praktischen Sinne bereits meines, insofern es mir nicht nur (wie die unmittelbare Reaktion auf das „was reizt“) widerfährt, sondern auch von meinen gerade aktuellen Überzeugungen, Erwartungen, Wünschen &c. (worauf auch immer diese am Ende zurückzuführen sind) abhängt und deshalb auch z. B. vermittels an mich adressierter „Vorschriften“ beeinflusst werden kann: „Der praktische Begriff der Freiheit hat in der That mit dem speculativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts [!] zu thun. Denn woher mir ursprünglich [!] der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun [!] zu thun habe, und da ist die Freiheit eine nothwendige praktische [sc. keine speculative] Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann.“ (08:13, vgl. A 328 und 28:1280). Siehe auch unten Anm. 18. 11 Siehe etwa Leviathan. Kap. XV, Abs. 3 und XXVII, Abs. 5. – Erhellend ist hier der damalige Stand der Debatte über die willenstheoretischen Voraussetzungen der Straflehre, wie ihn etwa bereits Leibniz’ Auseinandersetzung mit Hobbes in den Essais de Théodicée (s. §§ 65 ff. und den zweiten Appendice) dokumentiert: Eine ernstzunehmende philosophische Herausforderung bietet nach Leibniz allein „cette justice punitive qui est proprement vindicative“ (ebd. § 73), die Belohnungen und Strafen also retributiv nach Verdienst und Schuld austeilen will. Eine bloß präventive, allein am möglichen Gesetzesgehorsam interessierte Sanktionslehre (die Lehre von der öffentlichen Austeilung von Wertschätzung eingeschlossen), ist auch für Leibniz mit dem Hobbesschen Determinismus nicht nur vereinbar, sondern setzt ihn sogar voraus. – Mit dieser letzten Einsicht, die in obigem Zitat ihr Echo findet, wurde Kant spätestens im Zuge seiner Hume-Lektüren konfrontiert. – Für die Diskussion dieser Fragen in den Strafrechtslehren der Folgezeit siehe Hüning 2008. 12 Dazu ausführlich und mit Belegen Ludwig 2010 und Ludwig 2012.

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Für unsere Fragestellung genügt hier zunächst die einfache Feststellung, dass Kant in der ersten Phase, bis 1785, der (nach seiner Auffassung schulphilosophischen, s. u.) Annahme folgt, dass der sich seiner selbst bewusste Handelnde sich selbst als der Zurechnung fähig ansehen muss,13 und somit die transzendentale Freiheit seines Willens notwendig vorausgesetzt wird. Die so als spekulativ einzuordnende Frage nach der Freiheit des Willens wurde, wie Kant selbst uns retrospektiv noch einmal versichert (A 804), in der „Antinomie der reinen Vernunft“ bereits beantwortet und dort hieß es entsprechend: Man sieht leicht, daß, wenn alle Causalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach nothwendigen Gesetzen bestimmt sein; und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg nothwendig machen müßten, so würde die Aufhebung der transscendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. (A 534, Herv. B. L.)

In der Grundlegung steht das sogar in einer programmatischen Zwischenüberschrift des Dritten Abschnitts: Freiheit14 muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden. (4:447; Herv. B. L.)

In der zweiten Phase, ab 1787, ist es ausdrücklich nicht mehr die mögliche Vernunftbedingtheit des Handelns (bzw. der „Ich“-Gedanke), die die Voraussetzung einer (nicht-sinnlichen) transzendentalen Freiheit beim selbstbewusst handelnden Menschen notwendig macht. Die negative Behauptung finden wir am Deutlichsten in einer Vorlesung von 1793 artikuliert: Man nimmt zwar ferner an, z. E. Wolf sowie Baumgarten, daß der handelnde Mensch von aller [!] Naturnothwendigkeit unabhängig sey, insofern seine Handlungen durch motiven 13 Von meinem Pferd muss ich folglich absteigen, sobald ich entdecke, dass es den Ich-Gedanken fassen kann, denn „das Ich macht den Menschen zur Person“. (25:859; vgl. zuvor 28:268f.). 14 Bei Kant bezeichnet der Ausdruck „Freiheit“ grundsätzlich die transzendentale bzw. intelligible, es sei denn, es wird ausdrücklich durch ein Adjektiv (oder den unmittelbaren Kontext) klargestellt, dass es sich (ausnahmsweise) um die praktische bzw. psychologische Freiheit handelt (das gilt auch für die nachfolgenden Erörterungen). – Dass gerade an der genannten Stelle nicht (nur) die praktische, sondern (auch und wesentlich) die transzendentale Freiheit, d. i., eine unbedingte Kausalität nicht nur gemeint ist, sondern auch gemeint sein muss, ergibt sich nicht nur daraus, dass die praktische Freiheit als solche ja als ein empirisches Faktum ohnehin völlig unkontrovers ist, sondern a fortiori aus der Schlussbemerkung der Sektion: Die Vernunft „muß sich selbst als Urheberin[!] ihrer Principien ansehen unabhängig von fremden [!] Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener [!] Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.“ Wer einen eigenen Willen hat, d. i. sich selbst nach der Vorstellung von ‚selbstgemachten‘ „Principien“ bestimmen kann, ist als frei im transzendentalen Sinne anzusehen (die Grundlegung verwendet hier genauso wenig wie andernorts die technische Terminologie der Transzendentalphilosophie). Nur aus dieser intelligiblen Freiheit kann dann am Ende auch die „Moralität“ gewonnen werden (4:453).

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geleitet, mithin durch Verstand und Vernunft determinirt würden; dies ist aber falsch. Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo befreit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus [!] des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur … (27:503).

Die praktische Freiheit des Menschen allein erlaubt uns also keinen Schluss mehr auf dessen transzendentale Freiheit (weil jene auch ohne diese möglich ist). Dazu bedarf es nun zusätzlich des Bewusstseins der Nötigung durch das Sittengesetz. Hier sei nur die bekannteste Stelle aus der Kritik der praktischen Vernunft, das Galgenbeispiel, angeführt: Wer sich der Versuchung ausgesetzt sieht, zum Zwecke der Abwendung einer Verurteilung zum Tode pflichtwidrig ein falsches Zeugnis abzulegen, urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. (5:30; Herv. B. L.)

Seit 1787 / 88 ist für Kant das Sittengesetz die exklusive „ratio cognoscendi der Freiheit“ (5:4). Eine tiefere, subtile Textexegese ist in Bezug auf die hier angesprochene Kantischen Revision seiner Lehre vom (moralischen) Personstatus um 1786 nicht nur entbehrlich, sie ist, wenn man die Frage nur richtig stellt, bereits im strikten Wortsinne gegenstandslos: Denn uns liegt aus der Zeit bis 1785 kein einziges Zeugnis vor, welches auch nur im Ansatz darauf hinwiese, dass Kant Zweifel an der – letztendlich Cartesischen15 – These „Wolff[s] sowie Baumgarten[s]“ hegen könnte, dass das für die praktische Urteilstätigkeit vorauszusetzende Ich-Bewusstsein von einer Teilhabe an einer nicht-sinnlichen, intelligiblen Welt zeuge und damit die gleichsam hinreichende (metaphysische) Bedingung der Selbstzuschreibung transzendentaler Freiheit – und folglich der Imputabilität – sei. In den seit 1787 verfassten16 Schriften (oder vorgetragen Texten) dagegen ist ein solcher Zweifel geradezu Programm, und es ist uns aus dieser Zeit dementsprechend dann auch keine einzige Textstelle überliefert, die einen theoretischen Zugang zur intelligiblen Existenz des Menschen (und damit zu seiner transzendentalen Frei15 Vgl. die vierte der Meditationen (‚de vero et falso‘): Der Urteilsakt enthält neben der Verstandes- eine Willenskomponente, wodurch er dem Urteilenden zugerechnet werden kann – und der Schöpfer dadurch von der Verantwortung für die menschlichen Irrtümer freigesprochen. 16 Diese Formulierung stellt die Tatsache in Rechnung, dass Kant viele seiner Schriften ohne Rücksicht darauf, ob sie noch den aktuellen Einsichten entsprechen, immer wieder unverändert nachdrucken lässt (nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen). Selbstredend findet sich daher in der 1787 völlig unüberarbeitet wieder in Druck gegebenen zweiten Hälfte der Kritik der reinen Vernunft nicht nur weiterhin der bereits mit dem Autonomiekonzept der Grundlegung nicht mehr vereinbare Kanon (s. A 813), sondern auch die 1787 obsolete Position von 1781 – etwa in A 546 –, welche allerdings wenige Seiten zuvor, d. i., in den letzten fünf Absätzen der Überarbeitung (B 428ff.) nachdrücklich zurückgewiesen wurde (vgl. auch bereits B XXVIII, 158, 306, 407, 411). Siehe dazu ausführlich Ludwig 2012, 179 ff.

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heit) als erwägenswerte Option behandelt (oder auch nur als mit dem Transzendentalen Idealismus vereinbar erscheinen lässt): Ausschließlich das Bewusstsein des Sittengesetzes bietet uns Menschen die „herrliche Eröffnung“ (5:15) der übersinnlichen Welt (vgl. 5:162). Vor dem Hintergrund solcher Textbefunde, ist es ein Gebot hermeneutischer Klugheit, bei der Untersuchung von Kants positivem Begriff der transzendentalen Freiheit zunächst einmal diachron zu differenzieren. III. Aus der Zeit vor 1787 findet man nur eine direkte Äußerung, die uns die Richtung weist, die allerdings zunächst nicht ganz so prägnant ist, wie die eingangs zitierten aus Kritik der praktischen Vernunft und Metaphysik der Sitten: Am Anfang des Dritten Abschnittes der Grundlegung heißt es: Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser [Willens-]Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann […] Die angeführte Erklärung der Freiheit ist negativ und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, [… muß der freie Wille, B. L.] eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. […] was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? […] Dies [Gesetz] ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.

Hier entwickelt Kant den positiven Begriff der Freiheit im Ausgang von dem (schon oben so bestimmten) negativen Begriff „derselben“, und gewinnt das für den positiven Begriff geforderte Vermögen aufgrund der zusätzlichen Einsicht, dass ein von fremder Bestimmung unabhängiger Wille als eine Kausalität (a) ein eigenes Gesetz haben muss, und dieses Gesetz (b) bei einem freien Willen kein Naturgesetz sein kann. Also lässt sich ein freier Wille tatsächlich „auch positiv bezeichnen durch ein Vermögen“ (A 455), das Vermögen nämlich (c) der Bestimmung durch die Vorstellung des einzig möglichen Nicht-Natur-Gesetzes, des rein formalen Sittengesetzes. Für unsere Zwecke reicht diese sehr grobe Skizze zunächst einmal aus, denn sie führt über den zuletzt gerade zitierten Ausdruck (A 455) in die Kritik der reinen Vernunft zurück, in der Kant den Zusammenhang von Freiheit und (Sitten-)Gesetz definitiv noch nicht für die Gewinnung eines positiven Begriffs der (transzendentalen) Freiheit in Anschlag bringen konnte: Von einem „Gesetz der Freiheit“ (mit einem genitivus subjectivus!) ist nach Auskunft unserer Überlieferung bei Kant nämlich vor 1783 / 84 noch nirgendwo die Rede.17 17 Auch wenn es nur in der Antithesis der 3. Antinomie steht (die allerdings, wie die Thesis, „wahr“ sein soll, A 532), so muss es aus der Perspektive von 1785 gleichwohl irritieren, dass

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Welches ist dann aber das in A 455 genannte „Vermögen eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“, wodurch die Freiheit von Kant im Jahre 1781 „positiv bezeichnet“ wird? Kant gibt keine direkte Antwort auf diese Frage, aber wenn man seine Begründung für die Verknüpfung der praktischen mit der transzendentalen Freiheit einbezieht, ist seine Antwort im Jahre 1781 trotzdem unmissverständlich. Der oben aus A 534 zitierte Text geht nämlich weiter: Denn diese [sc. die praktische Freiheit] setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Causalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen (Herv. B. L.).

Ohne Annahme einer transzendentalen Freiheit wäre demzufolge das beim Menschen mit seiner praktischen Freiheit verbundene Phänomen des subjektiven „Sollens“ unverständlich. Wenig später heißt es: Daß diese [sc. „von allen empirischen Kräften unterschiedene“] Vernunft nun Causalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen[!] klar, welche wir[!] in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. (A 547, Herv. B. L.)

Erst an diesem Bewusstsein des Sollens18, und zwar – das wird im Folgenden noch wichtig werden – ganz ausdrücklich an dem des Sollens überhaupt, nicht nur Kant 1781 ohne jeden Vorbehalt schreibt: „Denn man kann nicht sagen, daß anstatt der Gesetze der Natur Gesetze der Freiheit in die Causalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, so wäre sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur. Natur also und transscendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit [sic!].“ (A 447; vgl. A 301 und 569: „… in Ansehung des Princips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt“). – Der Gedanke, dass das Sittengesetz (im Singular!) das „Gesetz der Freiheit“ (hier: genitivus subjectivus) sein könnte, ist Kant in der KrV 1781 noch völlig fremd (die nicht-natürliche „Regel und Ordnung“ der Freiheit verdankt sich dort stattdessen noch einem unergründlichen „intelligiblen Charakter“, A 550ff.); vielmehr sollen ‚Gesetze der Freiheit‘ (hier: genitivus objectivus) der Gesetzlosigkeit der Freiheit Schranken setzen (A 447, vgl. A 802). – Für uns deutet sich die Innovation erstmals in den Vorlesungen von 1783 / 84 an (so etwa 29:629; 27:1331); und auf der ersten Seite der Grundlegung stehen die Gesetze der Freiheit (mit dem fortan ambiguen Genitiv) dann Seite an Seite mit denen der Natur – als wäre es niemals anders gewesen. 18 Ganz offensichtlich schließt weder der negative noch der positive Begriff der praktischen Freiheit bereits ein solches subjektives Bewusstsein des Sollens ein: Der Einfluss der von der Vernunft vorgestellten „entferneten“ Güter und Übel könnte schließlich genauso gut auch unmittelbar das Wollen verändern (indem vernünftige Einsichten alle partiell entgegenstehenden aktuellen Reize restlos neutralisierten – wie man sich das beim Ideal des stoischen Weisen vorstellen kann). Im Falle des sinnlich-affizierten Menschen allerdings treten die Vernunftgesetze subjektiv als Imperative auf (vgl. 4:412ff.). Und erst dieses, speziell beim Menschen mit dessen praktischer Freiheit einhergehende Bewusstsein einer Nötigung (ebd.) – und nicht bereits eine praktische Freiheit als solche – macht Kant zufolge, wie seine obige Argumentation zeigt, die

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an dem des (sittlichen) kategorischen Sollens zeigt sich die transzendentale Freiheit: Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein: so giebt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen; sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Causalität haben könne; denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten. (A 548, Herv. B. L.)

Hier nun wird das Vermögen sichtbar, das 1781 für Kant die Freiheit „positiv […] bezeichnen“ kann, weil es den Menschen in die Lage versetzt, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“ (A 554): Es ist das für unser Selbstverständnis als von Imperativen adressierten Handelnden notwendig anzunehmende Vermögen, einer „mit völliger [!] Spontaneität“ gemachten, eigenen Ordnung nach Ideen (und zwar einer Ordnung des Guten und / oder des Angenehmen) eine „Causalität“ auf die Handlungen zu verschaffen. Kurz: Es ist das Bewusstsein der nötigenden Kraft unserer Ideen (vgl. A 550f.): Wir können erkennen [!], dass sie [sc. die intelligible Ursache der menschlichen Handlungen] frei, d. i. von der Sinnlichkeit unabhängig bestimmt, und, auf solche Art, die sinnlichunbedingte Bedingung der Erscheinungen sein könne. (A 557)

Aber wie hängt dieser positive Begriff der transzendentalen Freiheit von 1781 nun mit dem zuvor erörterten – und auf den ersten Blick davon höchst unterschiedlichen – positiven Begriff aus der Grundlegung von 1785 zusammen? Annahme auch einer transzendentalen Freiheit notwendig. – Wenn man dies außer Acht lässt, dann wird aus der bloßen Irritation darüber, dass Kant die Frage nach der Abhängigkeit der praktischen Freiheit von der transzendentalen im Kanon negativ beantwortet, nachdem er sie der Antinomie zuvor in einem prima facie Gegensatz dazu positiv beantwortet hatte, das sogenannte „Kanonproblem“ (s. dazu Schönecker 2005, 1 ff.). Dieses ist aber ein reines Interpretationsartefakt, das nur entsteht, wenn man den eigentlichen Sinn der Abhängigkeits-Behauptung in der Antinomie nur an deren unmittelbaren Wortlaut in A 534 (s. o.) und damit unabhängig vom Inhalt der nachfolgenden Begründung festmacht. – Die beim Menschen mit der praktischen Freiheit notwendig verbundene Idee der transzendentalen Freiheit ist im Zusammenhang mit jener (gänzlich traditionellen) Lehre drohungs- und verheißungskonstituierter Verbindlichkeit, wie Kant sie 1781 im Kanon vertritt (s. A 634 und 811 – 813), naturgemäß irrelevant: Hier geht es (wie Kant A 801 – 804 ausführlich darlegt) allein darum, dass sich das objektive moralische Sollen (A 807) bei einem Wesen, das ‚erfahrungsgemäß‘ über praktische Freiheit verfügt, durch Beigesellung von göttlichen Sanktionen in ein subjektives rationales Wollen überführen lässt, denn ohne ein solches blieben die moralischen Gesetze für Kant (im Jahre 1781!) „leere Hirngespinste“ (A 811) „ohne verbindende[] Kraft“ (A 634). In diesem Kontext spielt ein möglicherweise mit der praktischen Freiheit verbundenes Sollensbewusstsein definitiv keine Rolle, und somit wird die transzendentale Freiheit (des Menschen) von Kant 1781 in der Verbindlichkeitslehre des Kanon völlig zu Recht „beiseite“ gesetzt (A 803) und ausschließlich in der Zurechnungslehre der Antinomie zum Thema – 1785 wird sich das allerdings geändert haben (s. dazu Ludwig 2013b).

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Wenn man die eben bereits angedeutete Weiterentwicklung des Kantischen Denkens zwischen diesen Jahren in Rechnung stellt, dann liegt die Antwort auf der Hand: Wer seine eigene Ordnung nach Ideen mit „völliger Spontaneität“ schafft, und dessen Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht, (4:452)

der muss sich auch als Urheber der Prinzipien dieser Ordnung begreifen, weil er die eigene „Vernunft als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen [muss], unabhängig von fremden Einflüssen“ (4:448). Und wer „Urheber“ (der Verbindlichkeit) der „Prinzipien“ seiner eigenen Ordnung ist, ist sich selbst der Gesetzgeber, ist also autonom (4:446; vgl. 6:227). Bis hier überschreitet Kant 1785 der Sache nach noch nicht wesentlich den Rahmen von 1781. Nehmen wir nun aber die bereits erwähnte Innovation der Grundlegung gegenüber der Kritik der reinen Vernunft hinzu, die dreifache Einsicht nämlich, dass es ein besonderes Gesetz der Kausalität einer transzendentalen Freiheit geben muss, dass dieses Gesetz kein Naturgesetz sein darf und somit für einen Willen nur das formale Sittengesetz sein kann, dann ist der positive Begriff der Willensfreiheit aus der Kritik der reinen Vernunft vermittels der neuen Lehre von der Autonomie in den der Grundlegung überführt: Das Vermögen, einer eigenen Ordnung nach Ideen „Causalität“ zu verschaffen, kann dann nur noch das Vermögen des Willens sein, sich selbst ein formales Gesetz zu geben: „Also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“. (4:447) – Dass dieser Geniestreich nicht ganz unproblematisch war, sollte Kant erst ein gutes Jahr später bemerken (s. u.).

IV. Wir hatten schon gesehen, dass Kant 1781 in der Kritik der reinen Vernunft behauptet, die Frage der transzendentalen Freiheit habe von ihm in der Antinomie „hinreichende Erörterung“ erfahren, konnte dort also als eine spekulative Frage bereits „abgethan“ (A 801f.) werden. Das hat sich als eine korrekte Selbstauslegung erwiesen, denn sowohl der negative als auch der positive Begriff der transzendentalen Freiheit konnten dort in der Tat expliziert werden, und das für den letzteren erforderte „Vermögen“ wurde durch das Phänomen des „Sollens“ aufgedeckt – und zwar ohne einen Rückgriff auf das Sittengesetz: Die „Causalität“ der ‚völlig spontan‘ erzeugten Ideen „ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem [!] Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben“. Die Grundlegung übernimmt diesen Gedanken vier Jahre später ganz ausdrücklich (s. o. 4:452) und betont dann abermals, dass die Spekulation die Freiheitsfrage abschließend behandelt habe, und dass bei dieser noch gar nicht die Grenze der praktischen Philosophie anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der speculativen [!] Vernunft, daß diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende [!] bringe, damit

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praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten (4:456).

Was die Grundlegung 1785 über die Kritik der reinen Vernunft von 1781 hinausführte, war ‚nur‘ die – allerdings revolutionäre – Einsicht in die Verbindung einer Kausalität aus Freiheit mit dem Sittengesetz, die es Kant erstmals erlaubte, von der Freiheit des Willens auf die „Sittlichkeit samt ihrem Princip […] durch bloße Zergliederung ihres [sc. der Freiheit] Begriffs“ zu schließen (4:447). Dass wir dabei die Freiheit ihrerseits tatsächlich voraussetzen dürfen, galt also auch noch 1785 ausdrücklich als durch die spekulative Philosophie gesichert – und das musste auch so sein, dann andernfalls wäre ein solches Vorgehen ganz offensichtlich zirkulär gewesen. Nimmt man diese Kantischen Behauptungen über den systematischen Ort der „hinreichenden Erörterung“ der Freiheitsfrage aus den Jahren 1781 und 1785 ernst, dann muss es zunächst zutiefst irritieren, wenn es 1787 / 88 in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft heißt: Die praktische Vernunft [verschafft] jetzt für sich selbst, und ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt. (5:6; Herv. B. L .)

Genanntes „Factum“ ist das Faktum der reinen praktischen Vernunft, das Faktum, dass reine Vernunft „wirklich praktisch ist“ (5:3), indem sie im kategorischen Imperativ ein sittliches Sollen ausspricht und demnach (ultra posse nemo obligatur!) eine kategorische Willensbestimmung ausüben kann, die als eine kategorische naturgemäß von aller sinnlichen Bestimmung unabhängig ist. Das Faktum sichert somit die Realität des Begriffs der Freiheit, indem es jenes bloß-intelligible Vermögen vorstellt, durch das die Freiheit positiv bezeichnet wird (vgl. A 554) – und welches die Spekulation 1787 / 88 angeblich nicht gekannt haben soll. Doch ein ebensolches Vermögen war der Spekulation – wie wir sahen – 1781 / 85 durchaus wohlbekannt, und es wurde von ihr seinerzeit auch nicht „bloß gedacht“. Zumindest wurde es nicht mehr und nicht weniger „bloß gedacht“, als es das Vermögen von 1787 / 88 wird, denn es war gleichermaßen (nur) „aus […] Imperativen klar“: Allerdings war das einschlägige Vermögen dort eben noch ein anderes, und zwar ein umfassenderes: Es war das generelle Vermögen, einer „mit völliger Spontaneität“ hervorgebrachten „eigenen Ordnung nach Ideen“ „Causalität“ in der Erfahrung zu verschaffen, und zwar einer Ordnung nicht nur des Guten, sondern auch des Angenehmen. Und dieses Vermögen zeigte sich in „allem [!] Praktischen“. Auf das Sittengesetz in specie, so betont Kant 1781 in Disziplin und im Kanon mehrfach (A 741f., 803, 811ff.), muss man nämlich erst dann zurückgreifen, wenn man auch noch den beiden anderen transzendentalen Ideen, der von Gott und der von der Unsterblichkeit Realität verschaffen möchte, indem man sie „praktisch postulier[t]“ (A 634). Und weil man dafür das Sittengesetz heranziehen muss, gehören diese bei-

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den Fragen, im Unterschied zur Freiheitsfrage, nicht mehr zur Spekulation, bzw. Transzendentalphilosophie (A 14f., A 801). Und nur weil die „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen [!] praktischen Vernunft“ (4:447) von 1781 / 85 nicht auf das Sittengesetz in specie zurückgreift, ist es für Kant dann auch keine petitio, wenn er 1785 von der Voraussetzung der Freiheit auf das „allgemeine Prinzip der Sittlichkeit“ (4:452) schließt.19 Es stehen sich hier somit in der Sache zwei Behauptungen diametral entgegen, eine von 1781 / 85: Die Freiheitsfrage erfährt von der reinen „speculativen Vernunft“, d. h., in einer Kritik der reinen Vernunft, „hinreichende Erörterung“ (A 803f.), und eine von 1787 / 88: Die Freiheitsfrage wird erst von der „reinen praktischen Vernunft“ endgültig gelöst, die sich, „ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben“, in der Kausalität des Sittengesetzes zeigt. Und um dies aufzudecken, bedarf es nun über die „Kritik der speculativen Vernunft“ (5:8) hinaus noch einer zweiten Vernunftkritik, die erst einmal das „ganze praktische Vermögen“ kritisiert: Einer Kritik der praktischen Vernunft. An dieser Stelle steht der Leser erneut (s. o. Abschnitt II.) vor der Alternative, sich entweder auf den Versuch einzulassen, diese beiden, in der bei Kant vorgefundenen Gestalt zunächst einmal unvereinbaren, Behauptungskomplexe durch subtile hermeneutische Operationen miteinander kompatibel zu machen – oder sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass Immanuel Kant auch im Alter von 63 Jahren noch über die intellektuelle Energie und Größe verfügte, seine Auffassung erneut radikal (wenn auch, wie immer, stillschweigend, bzw. jeden Revisionsbedarf dementierend, s. B XXXVII) zu ändern – weil er in zwei Rezensionen vom Mai 1786 auf eine Inkonsequenz seiner spekulativen Freiheitslehre aufmerksam gemacht wurde. Ich werde hier weder dagegen argumentieren, den erstgenannten Versuch zu unternehmen (die Aufgabe dürfte, wenn man die bislang herangezogenen Textstellen auch nur ansatzweise ernst nimmt, fürs Erste abschreckend genug erscheinen), noch werde ich den äußeren Anlass sowie die systematischen Gründe für die Verwerfung der spekulativen Freiheitslehre im Jahre 1786 hier thematisieren, denn das habe ich, wie bereits erwähnt, andernorts ausführlich getan. Zur hier anstehenden Erörterung der systematischen Verortung des positiven Begriffs der transzendentalen Freiheit reichen nun ohnehin wenige Bemerkungen. In den neu formulierten Passagen der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft und in der (kurz nach deren Erscheinen bereits im Manuskript abgeschlossenen) Kritik der praktischen Vernunft sowie in der Kritik der Urteilskraft schränkt Kant die Rolle der spekulativen Vernunft darauf ein, gegen die „Empiristen“ die Möglichkeit der Freiheit durch die kritische Auflösung der Dritten Antinomie zu sichern. Und das tut sie, indem sie den Nachweis liefert, dass der negative (sic!) 19 Man könnte im Rückblick also von einem „Faktum der reinen praktischen Vernunft“ bereits in der KrV sprechen – wobei die ‚Reinheit‘ dann allerdings bis 1785 ‚theoretisch‘ an einem nicht-sinnlichen Bestimmungsanspruch durch Ideen festgemacht wird, ab 1787 hingegen ‚praktisch‘ an der nicht-sinnlichen Nötigung durch das Sittengesetz.

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Begriff der Freiheit keinen Widerspruch mit der allgemeinen Naturnotwendigkeit enthält (5:42f., 474), also tatsächlich „gedacht“ werden kann. Damit wird nämlich der reinen praktischen Vernunft ein „leere[r] Platz“ (5:49; vgl. KrV B XXI) für die Willensfreiheit offen gehalten, den sie (und allein sie!) hernach mit einem positiven Begriff der Freiheit besetzen kann. Das Sittengesetz bestimmt also das, was speculative Philosophie unbestimmt lassen musste [!], nämlich das Gesetz für eine Causalität, deren Begriff in der letzteren nur negativ war, und verschafft diesem also zuerst objective Realität. (5:47)

Für den Menschen eröffnet sich fortan erst durch das „Faktum der reinen praktischen Vernunft“ (und nicht mehr bereits durch das theoretische Ideenbewusstsein, wie ausdrücklich noch z. B. A 546 oder 4:452 zufolge), jene „herrliche“, intelligible Welt, als deren Glied er sich selbst begreifen kann und muss und welche die theoretische Vernunft zuvor als den einzig möglichen ‚metaphysischen Ort‘ für das „Unbedingte“ gesichert hatte (s. 5:49; vgl. 5:15 und 5:43). Allein die Freiheit einer wirkenden Ursache, vornehmlich in der Sinnenwelt, kann ihrer Möglichkeit nach keinesweges eingesehen werden; glücklich! wenn wir nur, daß kein Beweis ihrer Unmöglichkeit20 stattfindet, hinreichend versichert werden können [in der KrV von 1781] und nun [in der KpV von 1787 / 88], durchs moralische Gesetz, welches dieselbe postulirt, genöthigt, eben dadurch auch berechtigt werden, sie anzunehmen. (5:94; Herv. B. L.)

Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft ist es hierbei – und das war auch bereits im Selbstverständnis von 1781 ihre zentrale transzendentalphilosophische Aufgabe (vgl. A 558) – die Frage zu klären, ob [!] ein Vermögen angenommen werden müsse [!], eine Reihe […] von selbst anzufangen. Wie21 ein solches möglich sei, ist nicht eben so nothwendig beantworten zu können, da wir uns eben sowohl bei der Causalität nach Naturgesetzen damit begnügen müssen, a priori zu erkennen, dass eine solche vorausgesetzt werden müsse, ob wir gleich die Möglichkeit, wie durch ein gewisses Dasein das Dasein eines andern gesetzt werde, auf keine Weise begreifen und uns desfalls lediglich an die Erfahrung halten müssen. (A 448) 20 Ein solcher Beweis der Unmöglichkeit der transzendentalen Freiheit könnte nur in dem Nachweis bestehen, dass bereits ihr negativer Begriff nicht ohne Widerspruch mit der Naturordnung gedacht werden könnte, denn allein dadurch ließe sich beweisen dass von ihr überhaupt kein positiver Begriff möglich ist (vgl. oben in Anm. 7 den analogen Fall, dass der negative Begriff eines perpetuum-mobile mit den naturwissenschaftlichen Theorien in Widerspruch steht). 21 Diese Abtrennung der Entscheidungsfrage „ob möglich?“ von der erklärungsverlangenden Frage „wie möglich?“ ist für Kant der Schlüssel für die kritische Lösung der Freiheitsfrage. Der substantivische Ausdruck „Möglichkeit der Freiheit“ ist folglich stets zweideutig, und muss daher vom Leser jedes Mal disambiguiert werden: Das gilt nicht nur für „Möglichkeit“ im vorigen Zitat aus 5:94 (sc. „wie möglich?“). In A 558 verschafft sogar erst der Vergleich mit A 448 die Gewissheit, dass Kant hier nicht etwa (in direktem Widerspruch zu A 801ff.) die abschließende Behandlung der ‚Ob-Frage‘ auf spätere Schriften vertagt, sondern vielmehr noch einmal darlegt (wie auch später immer wieder, z. B. 4:456 – 461 und 5:133), warum die ‚Wie-Frage‘ unbeantwortet bleiben kann und muss.

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Da ein solches „Vermögen“ aus kosmologischen Gründen angenommen werden muss – so der auch für den kritischen Philosophen „wahre“ (A 532) Kern der Thesis der 3. Antinomie –, müssen wir a fortiori voraussetzen, dass der negative Begriff, der einer nicht-sinnlich bedingten Kausalität, nicht nur logisch-möglich ist (was ohnehin niemand bezweifelt, denn andernfalls könnten wir ihn ja nicht einmal denken), sondern auch real möglich ist (6:382). Und nur dank des Transzendentalen Idealismus können wir seit 1781 tatsächlich einsehen, dass er – in Konformität mit der ebenfalls wahren Antihesis der 3. Antinomie – auch ohne Widerspruch mit dem „allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“ (A 538) zusammen bestehen kann (dazu A 535, 4:455, 5:48). Absolute Spontaneität ist demnach – gegen die skeptischen Zweifel der „Empiristen“ – im „Inbegriffe aller Möglichkeiten“ sehr wohl enthalten (B XXVII), auch wenn wir unmöglich einsehen können, wie sie im Einzelfall möglich ist: Von der kosmologisch-notwendigen absoluten Spontaneität haben wir noch nicht einmal einen positiven Begriff. Weil aber dadurch [sc. durch den Beweis der Thesis] doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt [!], mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen der Causalität nach von selbst anfangen zu lassen und den Substanzen derselben ein Vermögen [!] beizulegen, aus Freiheit zu handeln. (A 448; Herv. B. L.)

1781 war Kant, wie wir sahen, noch der Auffassung, dass bereits die spekulative Vernunft im Falle des menschlichen Willens über die transzendentalphilosophische Sicherung der Denkbarkeit seiner Freiheit im Zusammenhang mit der Naturkausalität hinaus (dem: „was dort bloß gedacht wurde“ der KpV zum Trotz; s. o.) auch noch jenes „Vermögen“ der „Substanzen“22 ausfindig machen könne, welches zu einem positiven Begriff der Willensfreiheit gehört: Es war das Vermögen, einer völlig spontanen „Ordnung nach Ideen“ des Angenehmen und Guten Kausalität auf das Handeln zu verleihen. Und es war 1781 in der Tat die spekulative Vernunft, die auch dieses aufzeigte, weil sie dabei ohne jeden besonderen Rekurs auf in specie das Sittengesetz auskam. Dementsprechend konnte auch schon exemplarisch die „Entschließung“ zum „völlig frei[en]“ Aufstehen vom Stuhl „in Ansehung der Kausalität ein schlechthin erster Anfang einer Reihe der Erscheinungen genannt werden“ (A 450). Den detaillierten Aufweis des „Vermögens“ soll später im Buch dann die spezielle – und dem Anspruch nach kritische – Willensabhandlung (A 532 – 558) in dem Abschnitt über die „Auflösung der kosmologischen Idee“ liefern. Und diese wird zu Beginn des Kanon noch einmal resümiert (A 800 – 804), um dort mit Verweis auf deren spekulativen Charakter zu begründen, warum es im praktischen Kanon nicht mehr um die transzendentale Freiheit, sondern nur noch um die anderen beiden transzendentalen Ideen, die von Gott und Seelenunsterblichkeit gehen kann und muss. 22 Dem Paralogismus der A-Auflage gemäß bezeichnet das „Ich“ im „Ich denke“ noch eine (intelligible) Substanz (etwa A 400 mit A 546; dieser vorkritische Restbestand wird erst in der B-Auflage endgültig eliminiert, etwa B 407 mit B 157 Fn.; dazu ausführlich Ludwig 2012).

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Vier Jahre später, 1785, erweist dann die neu entdeckte Autonomielehre die unbedingte, nur als eine intelligible zu denkende, Kausalität des Willens als analytisch mit einem formalen Gesetz, dem Sittengesetz verbunden, so dass der spekulativgesicherte positive Begriff der Freiheit sich nun so unerwartet wie paradox als der einer Kausalität nach dem Sittengesetz entpuppt: Eine spekulative (!) „Deduktion“ (4:463) der „Sittlichkeit sammt ihrem Prinzip“ (4:447) – das war am Ende dann allerdings doch zu schön, um wahr zu sein!23 Schon 1787 ist dieses Paradoxon wieder verschwunden, denn die reine speculative Vernunft soll sich fortan ganz mit der Aufgabe bescheiden, den negativen Begriff einer absoluten Spontaneität, den einer Kausalität die ihrerseits von allen sinnlichen Bestimmungen unabhängig ist, gegen alle skeptischen Einwände der „Empiristen“ zu verteidigen. Den positiven Begriff einer absoluten Spontaneität des Willens, bzw. der Freiheit der Willkür, kann sie nicht (mehr) selbst begründen, sondern muss dies fortan einer reinen praktischen Vernunft überlassen (5:48; vgl. 6:221), die erst im Zuge einer kritischen Untersuchung des gesamten praktischen Vermögens, d. i., in einer zweiten Kritik, herausgearbeitet wird.24 In den späten 80er Jahren notiert Kant, es gehe der kritischen Transzendentalphilosophie darum, den Gebrauch von Sinnlichkeit und Verstand auf die Erfahrung einzuschränken, zugleich aber der Vernunft Freyheit zu geben, sich noch etwas über die Erfahrung hinaus zu denken, was aber zwar zur Vollendung unseres Verstandesgebrauchs nöthig ist, nimals aber durch theoretische Begriffe anders als negativ, durch moralische allein positiv gedacht werden kan und die Totalität der Bedingungen zu allem enthält. (26:297)

Diese positive Erweiterung gelingt unserer Vernunft als einem (auch) reinen praktischen Vermögen, wie wir nun sehen, im Falle der Freiheit durch ihr Faktum unmittelbar. 23 Durch die Identifizierung des Gesetzes der Kausalität freier Handlungen mit dem Sittengesetz wird freilich die Zurechenbarkeit böser Handlungen prinzipiell unmöglich (was Kant zunächst offenbar entgangen war, nicht aber z. B. Carl Leonard Reinhold). In der KpV ist dieses Problem dann bereits 1787 / 88 durch eine Modalisierung wieder überwunden (was wiederum Reinhold entgangen ist, dessen Kritik bei ihrem Erscheinen 1792 somit bereits obsolet war): Eine Willkür ist nicht erst dann frei, wenn das Gesetz ihrer Kausalität das Sittengesetz ist (so noch 4:446), sondern bereits dann, wenn sie sich auch durch das Sittengesetz allein (d. i., auch ohne einschlägige sinnliche Antriebe) bestimmen kann. Und genau ein solches (für die Zurechnung hinreichendes) Können – aber eben auch nicht mehr! – lässt sich, so Kant seit 1787 / 88, vermittels ultra posse nemo obligatur aus dem unleugbaren Faktum eines kategorischen Sollens erkennen. Das wird allerdings erst mit der (durch Reinholds Missverständnis der KpV veranlassten) terminologischen Unterscheidung zwischen einem (gesetzgebenden) Willen und einer (von diesem bestimmbaren, freien) Willkür in der MdS von 1797 vollends transparent; dazu ausführlich Ludwig 2013b. 24 Allein schon der Brief an Kiesewetter vom 20. 4. 1790 (10:154f.; vgl. B XXVIIIf. und 5:15) verschafft uns die Gewissheit, dass Kant mit dem Erscheinen der KpV erkennt, dass eine Willensabhandlung in der spekulativen KrV grundsätzlich fehlplaziert ist (vgl. 23:50 [E52]!): A 561 – 557 sind damit obsolet und werden durch die Analytik der KpV ersetzt; den bereits seit der Grundlegung überholten (praktischen) Kanon (A 795 – 831) wiederum ersetzt 1787 / 88 die Dialektik der KpV (dazu ausführlicher Ludwig 2012, Abschnitt VIII).

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Anders verhält es sich allerdings bei den beiden andern transzendentalen Ideen, denen von Gott und Seelenunsterblichkeit: Deren Realität können wir zwar (wie auch schon 1781)25 praktisch postulieren (5:122), aber über positive Begriffe, anhand deren wir uns ebenfalls unmittelbar der Realität ihrer Gegenstände versichern könnten, verfügen wir auch 1787 nicht (5:460) – genauso wenig übrigens, wie im Falle jener absoluten kosmologischen Spontaneität, die wir um der Abwendung des drohenden Regresses der Kausalketten annehmen mussten (und dank des transzendentalen Idealismus erstmals auch denken konnten, ohne mit der „Naturnothwendigkeit im Widerspruch zu stehen“, 4:455). Doch solange der (Dialektik der) Kritik der reinen [bzw. speculativen] Vernunft zufolge auch die negativen Begriffe von Gott und Unsterblichkeit zumindest nicht widersprechend sind (vgl. A 633, A 383 und 5:120f.), kann die (Dialektik der) Kritik der praktischen Vernunft (wie vormals der Kanon) deren praktische Realität postulieren – und wir dürfen sie für die notwendigen praktische Zwecke (aber auch „Nur für diese Absicht“, 9:93) hernach sogar mit positiven Prädikaten ausstatten (5:137, 5:444). Mit einer solchen „praktischdogmatischen Metaphysik“ (20:293ff.), gestützt auf ein „Primat der reinen praktischen Vernunft“ (5:119) sitzen wir aber nur deshalb keinen bloßen Hirngespinsten auf, weil wir zumindest von unserer Freiheit, dem „Schlussstein“ (5:03) im Gebäude der Ideen, einen positiven Begriff haben (5:133f., 5:474), dessen „Gegenstand Tatsache ist und unter die scibilia gerechnet werden kann“ (5:469): Die praktische Philosophie trägt der Theologie die Fackel voran.

V. Bevor ich im letzten Abschnitt exemplarisch auf eine folgenreiche Verwirrung aufgrund des achtlosen Umgangs mit den vier bis dato erörterten Begriffen der Freiheit eingehe, noch ein Resümee und ein dadurch eröffneter Blick auf Kants Ordnung der „Weltwesen“, d. i.: der körperlichen Geschöpfe. Positive und negative Begriffe gibt es sowohl von der transzendentalen als auch von der praktischen Freiheit. Der negative Begriff der transzendentalen Freiheit in specie des Willens ist der einer Unabhängigkeit desselben von der Bestimmung durch die Sinnlichkeit, und die reale Möglichkeit eines solchen negativen Begriffes überhaupt ist seit 1781 durch eine Kritik der reinen Vernunft gegen die Einwände des Empirismus gesichert. Der positive Begriff der (transzendentalen) Freiheit des Willens ist 1781 der einer Kausalität gemäß einer mit „völliger Spontaneität“ hervorgebrachten Ordnung nach Ideen. In der Grundlegung wird er 1785 dann (mittels einer neu hinzukommenden Lehre über den Zusammenhang von intelligibler Freiheit und Gesetz) in den einer

25 Wenn nun auch aus beschränkten Gründen: 1781 waren sie (auch) noch Bedingungen der verbindenden Kraft des Gesetzes (A 634), seit der Autonomie-Lehre der Grundlegung dürfen sie freilich nur noch Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes sein.

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Kausalität in specie gemäß dem Sittengesetz überführt. Die Freiheitsepistemologie bleibt dabei aber ausdrücklich die speculative. Auch wenn der positive Begriff der (transzendentalen) Freiheit sich nach 1785 dann nicht mehr grundsätzlich (s. dazu aber oben Anm. 23) ändert, so kehrt sich 1787 jedoch die epistemische Abhängigkeit von Sittengesetz und Freiheit um: Das Sittengesetz wird fortan nicht mehr „durch bloße Zergliederung“ („analytisch“) aus dem positiven Begriff einer spekulativ gesicherten intelligiblen Freiheit gewonnen (so 5:31 direkt gegen 4:446), sondern die Freiheit wird nun – umgekehrt – erst aus dem „Faktum“ erkannt, dass reine Vernunft praktisch wird, indem sie durch das Sittengesetz ein unabweisbares kategorisches Sollen vorstellt. Diese Umkehrung der epistemischen Prioritäten war für Kant unausweichlich, weil er im Frühjahr 1786 einsehen musste, dass ein entscheidendes Theoriestück seiner spekulativen Freiheitsepistemologie von 1781 / 85 ein dogmatisches, d. i., mit dem Transzendentalen Idealismus unvereinbares, Überbleibsel seiner 1781 noch inkonsequenten Kritik der rationalem Psychologie war.26 Mit dieser Umkehrung verliert auch die „durch Erfahrung bewiesen[e]“ (A 802), praktische Freiheit bei Kant seit dem Jahre 1787 jedes philosophische Interesse: Von dem empirischen Begriff der praktischen Freiheit gibt es nun nämlich keinen Weg mehr zu dem intelligiblen Begriff der transzendentalen Freiheit (dazu 5:96f.): Diese Freiheit erkennt man ausschließlich in dem über die empirisch verbürgte Möglichkeit „technisch-praktischen“ (5:171ff.) Handelns (mit seinen stets nur hypothetischen Imperativen) sowie das psychologische Selbstbewusstsein hinausweisenden Faktum eines kategorischen Sollens – und dieses wiederum ist und bleibt für den Menschen ein unableitbares datum (s. KrV B XXII), welches man folglich bei denjenigen vernünftigen Wesen, welchen es nicht gegeben ist, eben auch nicht durch „Vernunft herausklügeln oder der Willkür aufschwatzen“ kann (5:26). Reichte die Willensfreiheit mangels „Faktum“ nicht über die praktische Freiheit eines automaton spirituale, das „durch Vorstellungen betrieben wird“, hinaus (etwa die psychologische und comparative,27 nicht transscendentale, d.i. absolute, zugleich) […], so würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet. (5:96)

Ein bloß-vernünftiges Tier, ein animal rationale ohne das gewisse „Faktum“, wäre als ein automaton spirituale zwar praktisch frei,28 aber damit eben noch kein 26 Dazu ausführlich Ludwig 2012. – Das Neue an der Faktum-Lehre ist nicht, dass wir einen eigenständigen epistemischen Zugang zum Sittengesetz haben (das gilt bei Kant auch schon in den 1760er Jahren), sondern nur, dass dieser zur alleinigen Grundlage unserer Freiheitserkenntnis erklärt wird. 27 „Psychologisch“ ist die praktische Freiheit, weil ihre Kausalität durch die „innere Verkettung der Vorstellungen der Seele“ bestimmt ist, und bloß „comparativ“ ist sie, weil ihre Kausalität durch die Vorstellungen der Vergangenheit praedeterminiert ist (5:96f.). 28 Der Ausdruck „praktische Freiheit“ verschwindet also nicht etwa „seltsamerweise“ (so Baum 2005, 37) aus den Kantischen Schriften ab 1787 (von seiner Abschiedsvorstellung in

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animal morale, keine „Person“ (6:26 Fn.) und bliebe demnach eine „Sache“ (vgl. 6:222) – tertium non datur. Kants Ordnung der „Weltwesen“ gliedert sich somit seit der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in insgesamt fünf Reiche: Das der Mineralien (vgl. 9:366), das der Pflanzen, das des Viehs ([animalia] bruta), das der bloßvernünftigen Wesen (animalia rationalia) und das der Vernunftwesen (vgl. 6:418) (animalia moralia). Die ersten vier machen den Inbegriff der Sachen aus, allein das fünfte den der Personen. Die Unterscheidung zwischen dem vierten und dem fünften Reich war noch bis zur Grundlegung eine bloß-begriffliche, denn die praktische Freiheit setzte seinerzeit die transzendentale Freiheit voraus29 (vice versa): Die Klasse der vernünftigen Tiere und die der Personen fielen somit (metaphysisch-)notwendig zusammen (bzw.: die der bloß-vernünftigen Tiere war leer). Seit 1787 ist der Zusammenhang von Rationalität und Personalität (metaphysisch) kontingent, denn zum Inbegriff aller Möglichkeiten zählt nun auch jenes „allervernünftigste Weltwesen“, bei dem sich eine reine praktische Vernunft nicht als eine oberste Triebfeder ankündigt, das demnach zwar unter den Imperativen einer technisch-praktischen, nicht aber unter 5:93 abgesehen): Es gibt überhaupt keinen Grund, ihn dort weiterhin zu erwarten, denn er hat dank der Faktum-Lehre seine systematische Funktion für die Theorie der transzendentalen Freiheit (und damit jedes philosophische Interesse) eingebüßt. – Es war eben zu keiner Zeit Kants Ziel, die Möglichkeit der praktischen Freiheit durch Nachweis der transzendentalen Freiheit „gegen Einwände der theoretischen Philosophie vollends zu sichern“ (so Baum ebd.; vgl. auch Baum 2008, 45ff.). Genau umgekehrt (vgl. o. Anm. 10): 1781 sollte noch von dem beim Menschen mit seiner (völlig unkontroversen) praktischen Freiheit einhergehenden „Sollen“ auf die transzendentale Freiheit geschlossen werden (s. o.). Die bei Baum unterstellte, umgekehrte ‚Sicherungsstrategie‘ liefe unter anderem darauf hinaus, dass man etwas, das „durch die Erfahrung bewiesen“ (sic!) ist, durch skeptische Einwände der Vernunft rechtens noch einmal infrage stellen könne, und man dann u. a. die Kritische Philosophie heranziehen muss, um derartige Einwände wieder auszuräumen. Das hieße letztendlich, dass man den Transzendentalen Idealismus nebst Faktum-Lehre und transzendentaler Freiheit benötigte, um sich der eigenen „Freiheit eines Bratenwenders“ zu versichern. Unter einer solchen ‚kopfstehenden‘ Deutung degeneriert das Projekt der Kantischen Freiheitslehre zu einer (philosophiehistorisch ortlosen, vgl. dazu oben Anm. 11) philosophischen Schrulle. – Die Schwierigkeiten, die Beziehung zwischen dem praktischen und dem transzendentalen Begriff der Freiheit richtig zu bestimmen, wenn man die Unterschiedlichkeit der Konzeptionen vor und nach 1786 nicht erkennt und berücksichtigt, zeigen sich auch in dem sonst vieles zurechtrückenden Beitrag von Tretter 1997; s. besonders S. 226: „Praktische Freiheit (als unbedingt vernünftige Selbstbestimmung eines vernünftigen Begehrungsvermögens zur Handlung) ist folglich nur eine Spezies der transzendentalen Freiheit, d. i. von Selbstursprünglichkeit.“ Weil praktische Freiheit als solche aber gerade keine Selbstursprünglichkeit (s. o. Anm. 10 und 18), somit keine unbedingte, d. i. absolute Spontaneität, sondern nur eine respektive (s. 21:470) ist und als eine solche auch bereits „empirisch“ erkannt werden kann, muss diese Behauptung falsch sein. Vielmehr machen – gerade umgekehrt – die „Vernunftwesen“ begrifflich eine Teilklasse der „vernünftigen Wesen“ aus. 29 „Freiheit muss als Eigenschaft aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden.“ (4:447) – Das gilt zumindest, wenn die praktische Vernunft mit dem Phänomen des Sollens einhergeht (s. o.), was man bei Kants „Weltwesen“ durchweg voraussetzen wird, die – im Unterschied zu „heiligen Wesen“ – sinnlich affiziert sind, womit alle ihre Gesetze Imperativ-Charakter haben.

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dem einer moralisch-praktischen Vernunft steht, somit nicht am Intelligiblen teilhat und damit der Persönlichkeit ermangelt (6:26). Als ein bloßes animal rationale geht es – zumindest nach menschlichem Ermessen – vollständig in der Natur auf, denn die Vernunft [könnte] nach ihrem theoretischen [!] Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen [!] Wesens sein (6:418).30

In der Metaphysik der Sitten sieht es in der Tat danach aus, dass Kant die Möglichkeit, wenn er sie auch nicht explizit einräumt, so doch nicht mehr grundsätzlich auszuschließen vermag, dass Menschen vom Status des „Vernunftwesens“ (ebd.) auf den von „bloß-vernünftigen“ Wesen hinabsinken, indem sich ihr „moralisches Gefühl“, ihr „Bewusstsein der Pflicht“ bzw. ihre „Achtung vor dem Gesetz“ (6:464) verliert. Eher im Modus einer Beschwörung denn einer Beschreibung heißt es dort: Ohne alles moralische Gefühl ist [!] kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich todt, und wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Thierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden. (6:400)

Und 1793 wurde das bereits von der anderen Seite her beleuchtet: Der Mensch muß es wenigstens dahin bringen [!], daß er Achtung für das moralische Gesetz gewinnt, wenngleich das Gesetz zu lieben ein Grad der Neigung ist, der wegen der menschlichen Begierden unerreichbar ist … (27:656)

Kurz: Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen, das des Status‘ eines Vernunftwesens zumindest fähig – und in der Regel auch teilhaftig – ist. Sucht man nach einem Kantischen Beispiel für vernünftige Wesen, die praktische Freiheit haben, ohne dass sie aber Achtung für das moralische Gesetz besitzen, d. h., ohne dass eine „sittliche Lebenskraft“ Reiz auf ihr Gefühl bewirkt, so wird man u. a.31 in der Friedensschrift von 1793 fündig: Jenen Regenten, die mit Verweis auf die moralische Inferiorität ihrer Bürger Reformen verweigern, hält Kant entgegen, dass seine republikanische Regierungsart nicht nur für Engel tauge (wie es ihm die Fürstenfreunde Gentz und Rehberg vorgeworfen hatten), sondern dass ein Staat „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ möglich wäre (8:366): Für eine Lenkung des äußeren Verhaltens mit Hilfe von bei Regelverstößen 30 Diese endgültige (dezidiert anti-Cartesische) Klärung hat sich vermutlich erst zwischen KpV und Religionsschrift vollzogen, denn Kant ist in der ersten noch der Auffassung, dass man im Faktum erkennen könne, dass „alle[!] vernünftigen Wesen sofern sie überhaupt einen Willen haben“, frei sind (5:32; vgl. 5:15) – offenkundig ein mit u. a. (6:26) definitiv unverträgliches Grundlegungs-Relikt (vgl. dort: 4:461). 31 Siehe auch etwa auf der Ebene ganzer Völker in der Anthropologie: „Das Merkmal roher barbarischer Völker ist, wenn sie keine Achtung für[s] Gesetz haben. Sie suchen ihr Heil in der Gesetzlosigkeit und wähnen sich frei, wenn ohne ihre Bewilligung sie von Steuern frei sind …“ (Anthropologie-VL ~1792; Dohna p. 348).

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in Aussicht gestellten Sanktionen reicht die praktische Freiheit allein nämlich schon hin:32 Die reaktionären Fürsten müssten nur den ihnen von der Vorsehung in die Hände gegebenen „Mechanism der Natur[!]“, d. i., die Lenkung durch Neigungen und Abneigungen, durch effiziente Sanktionsinstitutionen zielgerichtet „benutzen“, dann handelten selbst verständige Teufel unter ihren Bürgern äußerlich so, „als ob sie keine böse Gesinnung hätten“ (ebd.).33 Im Kontext der Grundlegung wären solche bloß-verständigen „Teufel“ freilich noch ein „nihil negativum“ gewesen, denn für deren praktische Freiheit (zumindest sofern diese imperativisch aufträte, s. o.) müsste die transzendentale vorausgesetzt werden, und aus dieser wiederum folgte analytisch die „Moralität samt ihrem Prinzip“. Seit der Kritik der praktischen Vernunft kennt Kants Transzendentaler Idealismus einen systematischen Ort auch für vernünftige Weltwesen ohne jedes Bewusstsein der Verbindlichkeit nach dem Sittengesetz; kurz: für vernünftige „Sachen“. Wenn man solchen begegnete, könnte man mit ihnen zwar äußerlich weitgehend so umgehen, wie man es grundsätzlich auch mit ruchlosen Personen tun kann. Man dürfte sie jedoch genauso behandeln wie die übrigen Sachen, weil auch sie „keiner Zurechnung fähig“ (ebd.) sind.34 In einer Metaphysik der Sitten, d. h., in Rechtsund Tugendlehre kämen sie als Subjekte gleichwohl nicht vor, denn sie hätten, ganz gleich, wie weit sie uns Menschen technisch-praktisch gleichkämen oder gar überlegen wären, weder Pflichten noch Rechte: Das Sittengesetz sichert uns also eine bloß dem Menschen eigenthümliche und ihn von allen übrigen Naturtheilen unterscheidende Eigenschaft, die Moralität, vermöge welcher wir unabhängige und freie Wesen sind, und die selbst wieder durch diese Freiheit begründet ist. – Diese Moralität und nicht der Verstand ist es also, was den Menschen erst zum Menschen macht. (7:73)

32 Vgl. o. Anm. 11. – Selbstredend bedarf es dafür – technisch gesprochen – nicht nur des Verstandes als Urteilsvermögen, sondern auch der Vernunft als Schlussvermögen. Seit 1790 stehen allerdings „Verstand“ und „Vernunft“ vermehrt stellvertretend für die Gesetzgebungen der Natur und der Freiheit (auch wenn die bloß „technisch-praktische Vernunft[!]“ zur Naturlehre gehört; s. 5:174f., 456). – Vgl. auch die Gegenüberstellung von Moralität und Verstand im nachfolgenden Zitat (7:73). 33 Vorangehende Deutung der Stelle wird durch den polemischen und den argumentativen Kontext gleichermaßen vorgegeben, denn die beiden denkbaren Alternativdeutungen, Kant wolle hier behaupten, ein Volk von Teufeln brauche einen Staat, oder einem Volk von Teufeln sei es möglich, sich selbst in einem Staat organisieren, sind allenfalls prima facie möglich. Nicht nur beraubten sie die Teufelspassage am Ende jeglicher Funktion für die unübersehbar intendierte Kritik an jenen, denen die „gute Organisation des Staats“ obliegt: Es finden sich bei Kant noch nicht einmal Andeutungen von Begründungsversuchen für derart abenteuerliche Behauptungen (dazu Ludwig 1995). 34 Eine solche Haltung nehmen wir zunehmend im Umgang mit Computern ein, indem wir diese mitunter etwas ‚fragen‘ – und danach ungefragt abschalten.

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VI. Eine seit geraumer Zeit immer wieder in unterschiedlichen Nuancen vorgetragene Interpretationshypothese bezüglich Kants Rechtslehre besagt, dass diese – im Unterschied zur Tugendlehre – von Kants Lehre der transzendentalen Freiheit (und damit dann auch von dem notorisch akzeptanzdefizitgeplagten Transzendentalen Idealismus) unabhängig sei.35 Eine solche These ist vor der Folie einer adäquaten Explikation des einschlägigen Gevierts der Kantischen Freiheitsbegriffe bestenfalls unverständlich (und verstellt somit, wenn man sie annimmt, den Zugang zu Kants Freiheitslehre). Doch zumindest einer ihrer Ursprünge lässt sich nach den obigen Erörterungen nun deutlich vor Augen stellen: Er liegt in jenem achtlosen Umgang mit der kantischen Begrifflichkeit, der uns bereits oben im einleitenden Abschnitt begegnet ist und der exemplarisch in einer gleichsam schulbildenden (sc. ‚Ebbinghaus-These‘) Passage seine Funktion erfüllt: Die dabei [sc. beim Recht] von ihm [sc. Kant] in Anspruch genommene Freiheit ist diejenige Freiheit, die jeder Mensch bei sich selber voraussetzt, wenn er sich mit Bezug auf gewisse Zwecke […] zur Begehung oder Unterlassung irgend welcher Handlungen bestimmt. […] Daraus ergibt sich der Begriff der praktischen Freiheit des Menschen als der ‚negative Begriff‘ der ‚Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit‘ (Kr. D. r. V. B 562). […] Was aber die ‚sittliche Freiheit‘ anlangt, deren Gesetz das der Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft sein müßte, so ist deren Möglichkeit in keiner Weise die Voraussetzung für die Gültigkeit des von Kants Rechtslehre vorausgesetzten negativen Freiheitsbegriffs. […] so bedeutet die Eingeschränktheit der kantischen Rechtslehre auf den negativen Begriff der Freiheit der menschlichen Willkür zugleich die Unabhängigkeit dieser Rechtslehre von der kritischen Philosophie überhaupt und ihrem transzendentalen Idealismus. (Ebbinghaus 1968, 296 f.; vgl. bereits ders. 1954, 167 ff.)

Die Unterstellung, (1) Kants negativer Begriff der Freiheit falle mit dem Begriff der praktischen Freiheit zusammen, dementiert geradeheraus die einschlägigen semantischen Beziehungen bei Kant und ist daher schlechtweg falsch. Dieser Fehler ermöglicht es dann allerdings, (2) praktische und transzendentale Freiheit gleichsam als eine ‚negative Freiheit‘ und eine ‚positive Freiheit‘ gegenüberzustellen36 und dann aus dem (unkontroversen) Sachverhalt, dass (3) allein die transzendentale

35 Im angelsächsischen Sprachraum prominent vertreten etwa von A. Wood (Wood 2002); im deutschen u. a. von G. Geismann (Geismann 2006). Sie ist auch bis in die Einführungsliteratur vorgedrungen (Höffe 2007, 218); statt weiterer Referenzen siehe für die neuere Diskussion übersichtlich: Hirsch 2012, 37 ff. 36 So formuliert es konsequent dann etwa Baum 2005, 55: „We can empirically be aware of our independence of natural motives and desires in choosing our maxims (liberum arbitrium) as a negative kind [!] of freedom of our will, but our positive freedom [!] as an absolute spontaneity […] is incompatible with the law of causation in nature“. Eine ähnliche Auffassung liegt auch in der eingangs aufgeführten Passage L. W. Becks zugrunde. Die eng verwandte Auffassung, eine negative Definition ‚der Freiheit‘ definiere das, was man die praktische, eine positive das, was man die transzendentale Freiheit nenne, ist ebenfalls geläufig; s. exemplarisch Engstrom 2002, 294 f.

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Freiheit durch das besondere Vermögen der Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft (positiv) bezeichnet ist, unter Voraussetzung (4) der (hier unerwähnten) Annahme, dass diese Selbstgesetzgebung die der ethischen Gesetzgebung sei, im Umkehrschluss zu folgern, dass (5) eine rechtliche Gesetzgebung, wenn sie denn von der ethischen unterschieden sein soll, allein die (negative) Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit voraussetzen könne (tertium non detur), d. i., (6) die praktische Freiheit. Unerachtet aller Probleme, die diese Argumentation auch im Detail aufwirft (u. a. weil sie unter [4] Autonomie mit Autokratie, d. i., Legislation mit Exekution, in eins setzen muss), scheitert sie am Beginn und am Ende an der schlichten Tatsache, dass bei Kant auch die praktische Freiheit nicht nur („negativ“) eine bloße „Unabhängigkeit von“ ist, sondern notwendig auch („positiv“) ein „Vermögen“ sein muss, wenn sie überhaupt irgendetwas (und nicht ein „Unding“) sein soll. Doch dieses Vermögen allein, das Vermögen, vermittels der Vorstellung zukünftiger Güter und Übel aktuelle „Reize“ zu überwinden, macht aus einem „verstandeslose[n] Vieh“ (7:397) zwar ein „vernünftiges Thier“ (8:414), aber noch keine Person. Und somit verwechselt die sog. Unabhängigkeitsthese am Ende die technische Aufgabe, die äußere praktische Freiheit von bloß-vernünftigen Wesen (wie z. B. den klugen Teufeln der Friedenschrift) in einem System wechselseitigen Zwanges möglichst effizient zu organisieren, mit der für eine Rechtslehre konstitutiven philosophischen Herausforderung, das Recht als eine Zwangsordnung von und für Personen zu fassen, d. h., für Wesen, die der Zurechnung fähig sind, mit ihrer transzendentalen Freiheit am Intelligiblen Teil haben und damit der Pflichten und Rechte (als intelligibler Bestimmungen) teilhaftig sind. Demgemäß heißt es mit aller wünschenswerten Deutlichkeit im § E der Einleitung in die Rechtslehre: Ein strictes (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere nennen. Dieses gründet sich nun zwar auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die Willkür darnach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses Bewußtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fußt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann. (6:232, Herv. B. L.)

Ohne Bewusstsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetz37, also ohne das Faktum der reinen praktischen Vernunft hätten wir es bei Kant nämlich nicht mit Personen (sondern stattdessen mit Sachen, 6:223) zu tun und somit a fortiori auch nicht mit dem Inbegriff der äußeren, praktischen Verhältnisse von Personen gegeneinander – was dem § B der ‚Einleitung in die Rechtslehre‘ (6:229f.) zufolge aber ausdrücklich und ausschließlich das Thema der Rechtslehre sein soll. Damit man Weltwesen durch Androhung von Sanktionen unter Rechtsgesetze (oder belie-

37 Dass hiermit das Sittengesetz gemeint ist, geht – sofern sich das nicht ohnehin von selbst versteht (6:222) – im Text selbst unmittelbar daraus hervor, dass es gerade „dieses Bewusstsein“ des Gesetzes ist, welches in der ethischen Gesetzgebung jene Triebfeder bildet, an deren Stelle beim „strikten“ Recht der Zwang tritt.

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bige andere Regeln) zwingen kann, müssen diese (zumindest) praktisch freie Wesen sein, die sich über das, „was reizt“, vermöge vernünftiger Überlegung im Interesse zukünftiger Sanktionsvermeidung hinwegsetzen können. Damit diejenigen Weltwesen, die allein überhaupt Pflichten haben können, d. i.: Personen, insbesondere die Pflicht haben, die ihnen möglichen Zwangshandlungen anderen Wesen gegenüber auf ein durch das Rechtsgesetz bestimmtes Maß zu beschränken (was nichts anderes bedeutet, als dass diese anderen dann jeweils ‚korrespondierende‘ [§ B] Rechte haben; vgl. 6:239), müssen diese anderen Wesen nicht nur vernünftig, sondern ebenfalls Personen sein, also frei auch im transzendentalen Verstande. Und die ratio cognoscendi dieser dezidiert nicht-natürlichen Eigenschaft ist exklusiv das Faktum, dass auch deren reine Vernunft praktisch ist, indem diese mit der „Pflicht“ einen „kategorischen Imperativ“ vorstellt (6:239): den „oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre“ (6:226).38 Dessen Formel, sofern diese nur auf die im von allen Personen geteilten Raum auftretenden „äußeren Willkür[en]“ Bezug nehmen soll (und nicht auch, wie die Formel des allgemeinen Sittengesetzes, auf die wechselseitig unzugänglichen, subjektiven Maximen), ist „das allgemeine Rechtsgesetz“ (§ C; 6:231 – siehe dazu unten den Anhang). Dass die Zwangsbefugnis von Personen ausschließlich gegenüber anderen Personen eine rechtliche Grenze in deren durch dieses Rechtsgesetz bestimmten äußeren Freiheit findet, zeigt sich dann auch darin, dass die Zwangsbefugnis von Personen gegenüber Sachen, d. i., den Dingen, die der transzendentalen Freiheit ermangeln, prinzipiell grenzenlos ist, denn „es läßt sich kein Recht einer Sache gegen eine Person denken“ (6:358) – seien diese Sachen nun vernünftige Teufel, vernunftloses 38 Hierin zeigt sich, dass der (öffentliche) Anspruch, von anderen Personen als eine Person behandelt zu werden, notwendig die (öffentliche) Zubilligung einschließt, dass man auch selbst dem Sittengesetz unterworfen ist (sc. das „Bewusstsein der Verbindlichkeit“ hat, § E). Dieses Junktim ist zwar seit Kants Grundlegung geläufig, es ist aber alles andere als trivial oder gar selbstverständlich. Kant zufolge ist es erstmals unter Voraussetzung des Transzendentalen Idealismus begründbar (oder gar verständlich): Nur in dessen Rahmen lässt sich jene absolute Spontaneität überhaupt denken, die der Mensch durch seinen Freiheitsanspruch reklamiert, die ihn in eine nicht-natürliche, d. i., intelligible, Ordnung versetzt und deren Gesetz wegen ebendieser Intelligibilität nur das (formale) Sittengesetz sein kann. – Die Frage, ob ein einzelner Mensch ‚privat‘ tatsächlich (psychologisch) ein Bewusstsein der Verbindlichkeit hat, ist naturgemäß kein möglicher Gegenstand öffentlicher Beurteilung und kann daher ausschließlich für Fragen individueller Tugend von Bedeutung sein. Das verleiht der Unabhängigkeitsthese möglicherweise eine vordergründige Plausibilität, ändert aber dennoch nichts daran, dass Kants Rechtslehre nur von Personen handelt. Angesichts der kognitiven Beschränkungen von uns Menschen (die wir keine „Herzenskündiger“ sind, 6:439) muss allerdings bereits der Anspruch jedes anderen vernünftigen Wesens (unerachtet dessen physischer Konstitution) auf eine Personalität wie unsere jeweils eigene bereits ausreichen: Nur so lässt sich ausschließen, dass wir Unrecht tun, indem wir Personen als Sachen behandeln. – Ob wir darüber hinaus auch denjenigen Exemplaren der (biologischen) Menschengattung, die ausdrücklich und kalten Blutes jedes sittliche Bewusstsein leugnen, das Privileg des Personenstatus zubilligen (oder sie stattdessen einfach zur „Masse anderer Naturwesen“ rechnen, 6:400) sollten, ist hingegen keine Rechtsfrage, ja überhaupt keine Frage der Moral (denn das würde auf einen moralischen Speciecismus hinauslaufen); es ist eine Frage der Kultur.

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Vieh, Pflanzen oder Mineralien. Jede Handlungsbeschränkung, die sich Personen individuell oder kollektiv gegenüber solchen bloß-sinnlichen Weltwesen auferlegen können, unterliegt allein einem Kalkül von Geschicklichkeit und Klugheit: Rechte und Pflichten können nach Kant ausschließlich den der Moralität fähigen Wesen zukommen, weil nur diese am Intelligiblen, dem metaphysisch von je her umstrittenen Sitz der entia moralia, teilhaben – auch wenn es sich dabei seit 1787 nur noch um eine Teilhabe bloß in „practischer Rücksicht“ (5:105) handelt. Und eine solche Beschränkung aufs Praktische ist erstmals, so Kants Selbstverständnis (vgl. 20:335), im Rahmen der kritischen Philosophie des Transzendentalen Idealismus möglich: Moral, d. i. Recht und Ethik ohne die Zumutungen einer spekulativ-dogmatischen Metaphysik. Noch weniger Metaphysik geht vermutlich nicht – aber möglicherweise ja doch irgendwann eine andere. Anhang: Was muss Kant in seiner ‚Einleitung in die Rechtslehre‘ zeigen, wenn diese Bestandteil seiner ‚Metaphysik der Sitten‘ ist? Die Aufgabe der ‚Einleitung in die Rechtslehre‘ besteht im Wesentlichen darin, unter allen jenen Pflichten, die das allgemeine Sittengesetz den (Kantischen) Personen um ihres Personenstaus willen auferlegt (s. o.), speziell diejenigen Pflichten als Rechtspflichten auszuzeichnen, für welche die öffentliche Zwangsbewehrung seitens einer äußeren Gesetzgebung „möglich ist“ (im Unterschied zu den Tugendpflichten, bei denen eine solche „nicht möglich ist“, 6:239) und im positiven Recht dann ggf. „wirklich“39 wird. Diese Auszeichnung geschieht (nach einigen einführenden Begriffsklärungen in § A) im § B und resultiert in einer Definition des Rechts sowie der auf äußere Handlungen mit „Einfluss“ auf andere zugeschnittenen Formel des „obersten Grundsatzes der Sittenlehre (6:225 und 226): Dem „allgemeine[n] Rechtsgesetz“ in § C. Die Formeln von Sitten- und Rechtsgesetz stellen beide einen Handlungsimperativ vor („Handle so, dass …!“), unterscheiden sich aber augenscheinlich in drei Formulierungs-Aspekten, an denen die eben genannte Relation unmittelbar abgelesen werden kann: Der erste Unterschied besteht darin, dass das Kriterium der Beurteilung der einschlägigen Handlungsweisen beim allgemeinen Sittengesetz die subjektiven Maximen der adressierten Handelnden mit umfasst, während beim Rechtsgesetz nur die äußeren Handlungen (bzw. deren Maximen) thematisch sind. Wenn nun mit einer gebotenen subjektiven Maxime bestimmte äußere Handlungsweisen unverträglich sind (was nicht bei jeder subjektiven Maxime der Fall sein muss, z. B. nicht bei denen der Wohltätigkeit), dann schließt ein kategorisches Maximengebot des Sittengesetzes unausweichlich auch kategorische Handlungsverbote ein, denn andernfalls wäre jenes leer: Wenn etwa Kants prominentes Gebot des Han-

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‚Möglich‘ steht zuvor also für das modale, nicht für das deontische (sc. ‚erlaubt‘) Prädi-

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delns nach einer subjektiven Maxime der unbedingten Vertragstreue nicht das bestimmte Verbot derjenigen äußeren Handlungen einschlösse, die im Einzelfall als Vertragsbruch gelten müssen, dann geböte es schließlich überhaupt nichts. Dies ist freilich nicht der Fall, denn (auch) jede äußere Handlung muss als aus irgendeiner Maxime der handelnden Person hervorgehend gedacht werden: Andernfalls könnte sie unmöglich unter dem Sittengesetz stehen, wäre also gar keine „Tat“ und damit als ein bloßes Naturereignis a fortiori nicht zurechenbar (6:223, vgl. 6:320). Ein Vertragsbruch kann nun aber unmöglich als aus irgendeiner Maxime hervorgehend gedacht werden, die der Forderung des kategorischen Imperativs genügt. Er ist folglich (anders als etwa ein unterlassener Akt der Wohltätigkeit) unter keiner der dabei denkbaren subjektiven Maximen des Handelnden pflichtgemäß – und, als eine äußere Handlung mit Einfluss auf andere, damit unmöglich „recht“: Sofern nur die Handlung als ein Vertragsbruch gilt, spielt also die besondere subjektive Maxime des Handelnden keine Rolle.40 Aber auch im Falle der Vertragseinhaltung interessieren die tatsächlichen subjektiven Maximen bei einer rechtlichen Beurteilung nicht, denn welche es auch immer sein mögen: Sie können der äußeren Freiheit anderer „nicht Eintrag“ (§ C) tun.41 Entsprechend betont Kant, dass ich zwar zur Unterlassung bestimmter äußerer Handlungen verbunden sein kann, das Rechtsgesetz „aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, dass ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit […] selbst einschränken solle“ (§ C), denn schränkte ich mich um der Verbindlichkeit willen selbst ein, dann wäre es bereits aufgrund meiner subjektiven Maxime verdienstlich.42 So erwartet und fordert ja z. B. auch 40 Daher Kants Entgegensetzung der gleichsam unpersönlichen (bloß gedachten) ‚Maxime der Handlung[!]‘ im Rechtsprinzip des § C gegen das ‚mir etwas zur Maxime machen‘ (ebd.), d. i., zur sonst dominanten Bedeutung von ‚Maxime‘ als einem Prinzip aktueller persönlicher Willensbestimmung: Die „Regel des Handelnden[!], die er sich selbst aus subjectiven Gründen zum Princip macht“ (6:225). 41 Demgemäß heißt es bei Kant auch, dass „pacta sunt servanda“ zum „Jus“, d. h., zur rechtlichen Gesetzgebung gehöre (6:220). Diese Feststellung bezieht sich ganz ausdrücklich nicht auf eine besondere Art der Pflicht (ebd.), sondern ausschließlich auf den Sachverhalt, dass dieser einen Verbindlichkeit(!) nicht nur bereits um der Pflicht willen nachzukommen ist (was nur ein anderer Ausdruck der Kategorizität ist), sondern dass sie sich zusätzlich mit einer äußeren Triebfeder verbinden lässt: Sie ermöglicht daher zwei Arten der Verpflichtung(!), die rechtliche und die ethische (ebd.). Wenn man beim Recht allerdings von allem Ethischen (also insbesondere vom Bewusstsein der Verbindlichkeit als Triebfeder) abstrahiert, bleibt das „strikte Recht“ übrig (§ E), das sich dann in der gemäß § D mit dem Recht verbundenen Befugnis zu zwingen erschöpft (dazu Ludwig 2013a). 42 Vgl. 6:390. – Es drückt also ein einfaches Missverständnis aus, wenn M. Willaschek anlässlich des obigen Zitats schreibt: „I find this passage puzzling: How can a prescriptive rule like Kant’s universal law of Right not ‚expect, far less demand‘ that its addressees ought to act accordingly?“ (Willaschek 2002, 66), denn es fehlt in dieser Paraphrase gerade das entscheidende (in dem kurz zuvor gegebenen Kant-Zitat noch enthaltene) „just for the sake of this obigation“. Und bei Auslassung dieser Qualifikation ist die Passage nicht bloß „puzzling“: Sie steht dann vielmehr zum – unmittelbar zuvor bekundeten – Imperativcharakter des Rechtsgesetzes („Handle äußerlich so…!“) schlicht und einfach im geraden Widerspruch (den Willaschek in der Folge dann so unnötig wie vergeblich wegzudiskutieren versucht).

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der Räuber nicht, dass ich mein Geld ‚ganz um seiner Aufforderung willen‘ herausrücke. Ich soll es zwar tun (genau das gibt mir seine Auforderung zu verstehen), aber ich werde seine Erwartungen sicherlich nicht enttäuschen, wenn ich es allein um meines Lebens willen tue, d. h., seinem imperativischen ‚Geld oder Leben!‘ einen gewissen prognostischen Gehalt zubillige – denn andernfalls wäre seine Drohung geradeheraus zweckwidrig. Analoges gilt Kant zufolge also auch für die Rechtsimperative: Selbst wenn Personen hierbei voraussetzungsgemäß ein „Bewusstsein der Verbindlichkeit nach dem Gesetz“ haben (wodurch sich die rechtlichen Forderungen als moralische von räuberischen abheben), so reicht dieses Bewusstsein bei den menschlichen Personen angesichts widerstrebender Neigungen mitunter als Triebfeder nicht aus – und dem trägt die rechtliche Gesetzgebung mit der angedrohten Ausübung ihrer Zwangsbefugnis (s. u.) Rechnung (vgl. § E). Somit umfasst das Sittengesetz das Rechtsgesetz (genauer: die Pflichten aus dem Rechtsgesetz sind Pflichten aus dem Sittengesetz), auch wenn jenes durch die Bewertung der tatsächlichen subjektiven Maximen und damit durch besondere Tugendpflichten über die bloß-äußerlichen Handlungsforderungen des Rechtsgesetzes hinausgeht. Deshalb muss die Metaphysik der Sitten der Lehre von der rechtlichen Gesetzgebung eine von der ethischen an die Seite stellen, die den übrigen Aspekten der Forderung des Sittengesetzes genüge tut und insbesondere auch die im Recht vollständig ausgeblendete Frage des von den tatsächlichen subjektiven Maximen abhängigen (positiven) moralischen Wertes der Handlungen (d. i., deren „Moralität“; 6:219) einzubeziehen erlaubt.43 Der zweite Unterschied zwischen den Gesetzesformeln („als Gesetz gelten“ vs. „nach einem Gesetz zusammenbestehen“) ist eine unmittelbare Folge des ersten, denn Maximen können gesetzesförmig sein, Handlungen nur gesetzeskonform. Hinzukommt, drittens, dass das „zugleich“ der Sittengesetzformel in dem räumlichen „zusammenbestehen“ der Rechtsgesetzformel aufgehoben ist. – Damit wären alle relevanten Unterschiede zwischen den Formeln auf die beiden in § B genannten Specifica rechtlicher Verbindlichkeit zurückgeführt: Äußerlichkeit und Reziprozität.44 Dass pflichtwidrige Handlungen immer dann, wenn ihre Verhinderung durch äußeren Zwang de facto möglich ist (d. h. die Handlungen also in specie rechts-widrige sind), mit solch einem Zwang auch verhindert werden dürfen, soll im Rahmen der Kantischen Begrifflichkeit dann bereits nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch folgen (§ D). Das ist unter der Voraussetzung der transzendentalphilosophischen Freiheitslehre tatsächlich wenig spektakulär: Kants Personen sind autonom, d. h. sie sind durch Siehe dazu Mohr 2011, 22 ff. Siehe dazu auch Ludwig 2013a. – Damit stellt sich der Zusammenhang von Sittengesetz und Rechtsgesetz noch direkter dar, als etwa bei Seel 2009, der am Ende zu ähnlichen Resultaten kommt. 43 44

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den kategorischen Imperativ ihrer reinen praktischen Vernunft45 zu einer allgemeingesetzlichen Beschränkung aller ihrer Handlungen verpflichtet. Diese allgemeingesetzliche Beschränkung kann insbesondere die (ohne einen solchen Imperativ e suppositione normativ-unbeschränkte) Ausübung von Zwangshandlungen von vernünftigen Weltwesen gegeneinander unter verpflichtende Restriktionen stellen. Und – umgekehrt – besteht ein Recht auf Unabhängigkeit von Fremdzwang „nachher“46 in nichts anderem als im Inbegriff der „korrespondierende[n]“ (§ B) Zwangsenthaltungspflichten aller anderen Personen (denn Sachen haben keine solchen Pflichten): Die äußere (Zwangs-)Freiheit einer jeden Person ist also „in der Idee“ (§ C) durch die Zwangsbefugnisse aller anderen Personen eingeschränkt, sie ist die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigenden Willkür, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (6:237, Herv. B. L.). Wo die allgemeingesetzliche Beschränkung nicht zu Restriktionen fremder Zwangsbefugnisse führt, bleiben die (natürlichen) Zwangs-Befugnisse auch unter Personen bestehen (denn für jede weitergehende Zwangsrestriktion bedürfte es einer zusätzlichen – und damit voraussetzungsgemäß heteronomen – Gesetzgebung). Dass dies insbesondere bei der Verhinderung einer rechts-widrigen Handlung der Fall ist, erkennt man bei Einsetzung der Definition von „recht“ (§ C) unmittelbar „nach dem Satze des Widerspruchs“ (§ D).47 45 Aufgabe des nachfolgenden Haupttextes der Rechtslehre ist es dann u. a., aufzuzeigen, dass die prima-facie-Fremdverpflichtungen (durch positive Gesetze) letztlich Selbstverpflichtungen vermittels einer (durch ein natürliches Gesetz begründeten) Autorisierung sind (6:224; vgl. 6:255f. [§ 8]). 46 Normenlogisch gehen bei Kant (seit 1787 / 88 notwendig) die Pflichten den Rechten voraus: „Recht“ ist damit (im Rahmen der Rechtslehre) immer nur eine Art Kurzbezeichnung für das Bündel der korrespondierenden Pflichten (Robinson hat vor der Ankunft von Freitag zwar Pflichten, darf selbstredend alles Pflichtgemäße tun, hat dabei aber mangels Gegenüber kein einziges Recht im Sinne des „moralische[n] Begriff[s] desselben“, § B). Das ist für Kant einerseits traditionskonform (sc. Cicero) und zudem eine notwendige Folge seiner Lehre vom Faktum: Wir kennen unsere Freiheit nur aus dem pflichtgebietenden kategorischen Imperativ woraus „nachher“ der Begriff des Rechts gewonnen wird (6:239). 47 Anders jüngst M. Willaschek: „Coercion, as such, is morally problematic. As a rule, it’s morally wrong to coerce others into doing something they don’t want to do. This can be argued for, if an argument is needed, on the basis of the ‚formula of humanity,‘ which requires us to respect every person’s ‚humanity‘, which means that we should treat others only in ways to which they can rationally consent. (cf. 4:429 f.).“ (Willaschek 2012, 558). Ich nehme an, dass nur wenige Leser ohne ein wirklich sehr starkes Argument eine „rule“ akzeptieren würden, der zufolge es „morally wrong“ ist, z. B. einen Selbstmordattentäter auch dann gewaltsam an seinem Tun zu hindern, wenn er dies nicht will. Die genannte Grundlegungs-Stelle zumindest kann eine solche Regel grundsätzlich nicht stützen, denn im dortigen Beispiel geht es definitiv nicht um den Nachweis, dass der erörterten Zweck-Formel ausschließlich dadurch genüge getan werden kann, dass der jeweils andere das Aufgezwungene auch wollen (sc. „want“) könnte: Die Frage, was etwa zu tun ist, wenn dieser andere im Begriff ist, pflichtwidrig zu handeln (also der Fall des möglicherweise auszuübenden Rechtszwanges), hat Kant dort überhaupt nicht im Blick, und die Annahme, ich würde z. B. einen Mörder, wenn ich ihn ohne sein Einverständnis am Morden hinderte, zum bloßen Mittel – zu welchem / wessen Zweck denn? – machen, versteht sich sicherlich auch nicht von selbst. Kurz: Wenn sich der

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Wer also mit jenen philosophisch-reflektierten Begriffen von Freiheit, Pflicht, Person, Tat, Sache &c., die Kant in der ‚Einleitung in die Metaphysik der Sitten‘ kurz zuvor noch seinen Lesern zum Gebrauch ausdrücklich „in ihren beiden [!] Theilen“ mit auf den Weg gegeben hat (6:222f.), in die ‚Einleitung in die Rechtslehre‘ hineingeht, kommt nach wenigen, überschaubaren Schritten mit Kants objektiv-praktischen Begriffen des Rechts, der Rechtspflicht, der Rechte, des Rechtsgesetzes und des Rechtszwanges wieder heraus48 – und mit der zusätzlichen Überzeugung, dass Kant hier eine auf das Wesentliche komprimierte Darlegung gelungen ist, die für seine Leser dann auch eine philosophische Herausforderung darstellen kann, denn nur bei einem inferentiell transparenten Text lässt sich die Frage nach der Gültigkeit der philosophischen Einsicht stellen. Eine Interpretation, die dagegen auf die systematische Unabhängigkeit der „Metaphysische[n] Anfangsgründe der Rechtslehre“ von denjenigen Systemstücken (und Texten) setzt, welche den Pflichtbegriff und die Personalität des Menschen transzendentalphilosophisch explizieren und sichern sollen, wird gleichwohl nicht ernsthaft unterstellen können, Kant wolle uns in der Einleitung bloß mit einigen semantischen Regeln vertraut machen (etwa: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten [!] also einerlei“, § E), die sich mittels des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch aus irgendwelchen Unterscheidungen und Nominaldefinitionen (sc. „Das Recht ist …“, § B; „Eine jede Handlung ist recht, die …“ § C) herausziehen lassen: Zumindest das im „Handle so …!“ des „allgemeine[n] Rechtsgesetz[es]“ ausgesprochene ‚Sollen‘ sowie die Betonung, dass ich „von anderen auch thätlich eingeschränkt werden dürfe“ (§ C), zeigen allzu deutlich, dass es Kant hier nicht nur darum ging, begriffliche und terminologische Fragen zu klären. Dann aber muss man den Finger auf jenen Punkt im Text legen können, an dem tatsächlich mehr als das – aber gerade nicht die Freiheitslehre des Transzendentalen Idealismus – ins Spiel kommt. Was aber könnte das sein? und: Zwischen welchen Zeilen sollten jene einschlägigen – aber nirgendwo explizit herausgestellten – Einnotorisch ambigue Ausdruck „can rationally consent“ bei Willaschek nur auf die technische Rationalität des Wollens erstreckt, ist die genannte „rule“ schlicht absurd: Wir dürften am Ende den Selbstmordattentäter dann und nur dann am Zünden der Bombe hindern, wenn wir es ihm damit ermöglichten, sein Vorhaben zu einem späteren Zeitpunkt noch wirkungsvoller umzusetzen (denn ihn zu hindern, bloß weil er nach unserer Auffassung falsche Vorstellungen von seinem Glück hat, steht uns nicht zu). Wenn der ‚rational consent‘ hingegen auch moralische Restriktionen in Rechnung stellt, ist die „rule“ als solche wenig informativ und reformuliert in etwa Kants Aussage im § D (mit der redundanten Ergänzung, dass man durch freie Zustimmung des Anderen neue Zwangsrechte gegen diesen erwerben kann). 48 Die den heutigen Lesern möglicherweise fehlenden, traditionskonformen Zwischenschritte liefern ggf. auch die etwas detaillierteren Ausführungen in den einschlägigen Vorlesungen seit 1784 / 85 nach. – Zwar identifiziert Kant 1785 noch das animal rationale mit dem animal morale (s. o.), doch von dieser, bei ihm allein die Freiheitsepistemologie betreffenden Differenz, sowie von einigen Ausdifferenzierungen und terminologischen Details einmal abgesehen, steht die Konzeption der Einbindung des Rechts in die Moralphilosophie seit der Zeit der Grundlegung fest (siehe dazu jetzt ausführlich Hirsch 2012).

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sichten sich denn verborgen halten, die uns über bloße Begriffsexplikationen hinausführen?49 Kants Rechtslehre wird also durch ihre Abtrennung von der transzendentalphilosophischen Freiheitslehre unausweichlich zu einem – jeder philosophischen Kritik entzogenen – enigmatischen Text. Und wenn man sie zu einem solchen macht, dann steht sie tatsächlich im falschen50 Buch.

49 Alan Woods Bemerkung anlässlich 6:396: „The analyticity of the principle [of right] … renders redundant any derivation of the principle from the law of morality since it would be nonsensical to think we need to derive an analytic proposition from a synthetic one“ (Wood 2002, 6), ist allerdings selbst nicht minder ‚nonsensical‘, denn Kant bezeichnet an der genannten Stelle mit „analytisch“ den Sachverhalt, dass das Rechtsprinzip (genauer: die mit diesem verbundene Zwangsbefugnis) im Unterschied zum Zweckprinzip der Tugendlehre bereits im Begriff der Freiheit enthalten ist. Sofern es sich dabei nicht um eine bloße Namenklärung handeln soll, ist vorausgesetzt, dass der Begriff der Freiheit praktische Objektivität hat – und alle praktische Objektivität verdankt sich allein (das ist die Kernaussage von Kants praktischer Philosophie in deren ‚final form‘) dem synthetischen Sittengesetz: Wenn hier überhaupt von „analyticity“ die Rede sein soll, dann sind Rechtsgesetz und Zwangsbefugnis also analytisch im Sittengesetz enthalten (s. o.). – Treibt man der Kantischen Rechtsphilosophie den Transzendentalen Idealismus – und damit dem Recht das Intelligible – ersatzlos aus, dann drischt man am Ende nur noch auf das leere Stroh der praktischen Begriffe ein: „Der Grund der objektiven Notwendigkeit, in Übereinstimmung mit dem Rechtsgesetz zu handeln, liegt allein in der durch die juridische Vernunft erkannten Richtigkeit solchen Handelns mit Bezug auf äußere Freiheit; so wie der Grund der objektiven Notwendigkeit, in Übereinstimmung mit einer mathematischen Regel zu rechnen, in der durch die mathematische Vernunft erkannten Richtigkeit solchen Rechnens liegt.“ (Geismann 2006, S. 68; ähnlich bereits Ebbinghaus 1954, 167) Die hier suggerierte Analogie ist freilich überhaupt keine: Mathematische Regeln sind konstitutiv für das Rechnen (d. h.: wer sich nicht positiv an ihnen orientiert, schreibt möglicherweise Zahlen aufs Papier, rechnet aber nicht) und beziehen daraus ihre Normativität; das Rechtsgesetz hingegen ist definitiv nicht konstitutiv für das menschliche Handeln (es sei denn, hinter dem vagen Ausdruck „mit Bezug auf äußere Freiheit“ verbirgt sich dann eben doch eine – ungeschriebene – Metaphysik freien Handelns; vgl. o. Anm. 38); es ist nicht einmal konstitutiv für das rechtmäßige Handeln (denn selbst das gelingt in weiten Teilen auch in völliger Unkenntnis des Rechtsgesetzes) – und selbst wenn es dafür konstitutiv wäre, so käme man damit letztendlich über Einsichten vom Typ ‚Skat kann man nur spielen, indem man die Skatregeln befolgt‘ nicht hinaus. Auf diese Art zumindest lässt sich sicherlich nicht zeigen, dass in irgendeinem philosophisch bedeutsamen Sinn von „validity“ “[t]he validity of the doctrine of right is independent of any transcendental assumptions” (ebd. 107, Summary), denn ohne Transzendentalphilosophie bleiben (zumindest für Kant) alle nicht-empirischen Begriffe – und damit eben auch alle Rechtsbegriffe – notwendig bloße Hirngespinste: Eine spezielle „juridische Vernunft“ „allein“ kann die objektive Realität des Rechts daher so wenig verbürgen, wie eine ‚theologische‘ die Existenz Gottes oder eine ‚medizinische‘ die Heilwirkung des Handauflegens. 50 So etwa M. Willaschek: Die Rechtslehre „does not fit into the official architectonic of the book called Metaphysics of Morals“ (Willaschek 2012, 563).

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Summary In his theory of transcendental ideas (freedom, God, and the immortality of the soul), Kant distinguishes between positive and negative concepts of the possible objects of these ideas. The common confusion of this (semantic) second level distinction with a first level distinction, i.e. with the distinction between positive and negative objects (and in particular in the form of a distinction – totally foreign to Kant – between “positive” freedom and “negative” freedom) not only distorts access to Kant’s theory of freedom and to the architectonic of Kant’s metaphysics as a whole, but also particularly hides Kant’s conception of morals as an integral system of law and ethics within the framework of transcendental idealism.

Literatur Für die Anthropologie-Nachschrift Dohna s. http: //www.online.uni-marburg.de/kant/webseitn/ gt_ho304.htm. Baum, Manfred: „Freiheit und Verbindlichkeit in Kants Moralphilosophie.“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 13 (2005), 31 – 43. – „Positive und negative Freiheit bei Kant.“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 16 (2008), 43 – 56. Beck, Lewis White: Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Ein Kommentar, Übersetzt von Karl-Heinz Ilting, (engl. Original Chicago 1960) Wilhelm Fink Verlag, München 1974. Ebbinghaus, Julius: „Kant und das 20. Jahrhundert.“, in: G. Geismann / H. Oberer (Hrsg.): Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften Bd. III, Bonn: Bouvier 1990, 151 – 174 (urspr. abgedr. in: Studium Generale, VII, 1954 H. 9, 513 – 524). – „Die Strafe für die Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit.“, in: G. Geismann / H. Oberer (Hrsg.): Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften Bd. II, Bonn: Bouvier 1988, 283 – 380 (urspr. Kantstudien, Ergänzungsheft 94, Bonn 1968). Engstrom, Stephen: „The Inner Freedom of Virtue.“, in: Timmons, Mark (Hrsg.): Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays, Oxford: Oxford University Press, 2002, 298 – 315. Geismann, Georg: „Recht und Moral in der Philosophie Kants.“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 14 (2006), 3 – 124 (zitiert nach: http: //www.kiesewetter.be/geismann/50rechtundmo ral.pdf; 8. 4. 2013). Hirsch, Philipp-Alexander: Kants Einleitung in die Rechtslehre von 1784. Immanuel Kants Rechtsbegriff in der Moralvorlesung ‚Mrongovius II‘ und der Naturrechtsvorlesung ‚Feyerabend‘ von 1784 sowie in der Metaphysik der Sitten von 1797, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 2012. Höffe, Otfried: Immanuel Kant, München: Beck, 72007. Hüning, Dieter: „Die Debatte um das Verhältnis von Willensfreiheit und Strafrecht in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung.“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 16 (2008), 401 – 430.

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Virtue and Prudence in a Footnote of the Metaphysics of Morals (MS VI: 433n) Alice Pinheiro Walla I. Realizing moral ends and latitude for choice1 If the law can prescribe only the maxim of actions, not actions themselves, this is a sign that it leaves a leeway (latitudo)2 for free choice (freie Willkür) in following (complying with) the law, that is, that the law cannot specify precisely in what way one is to act and how much one is to do by the action for an end that is also a duty” (MS VI: 390).

Kant scholars have long disagreed about how to understand the latitude for choice characteristic of imperfect duties.3 This is not least due to seemingly contradictory statements Kant makes about imperfect duties. While in certain passages

1 Kant’s writings are cited according to the volume: page number of the Prussian Academy Edition of Kant’s Complete Works (1900-, Gesammelte Schriften, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Walter de Gruyter). Unless otherwise stated, all translations have been taken from the Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, edited by Paul Guyer and Allen W. Wood (Cambridge University Press, 1992). I use the following abbreviations for the individual works cited: – MS Die Metaphysik der Sitten (The Metaphysics of Morals). – ReL Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Religion within the Limits of Reason Alone). – KrV Kritik der reinen Vernunft (Critique of Pure Reason), – KpV Kritik der praktischen Vernunft (Critique of Practical Reason). Briefwechsel (Kant’s correspondence). Edited and translated by HYPERLINK “http: // www.press.uchicago.edu/ucp/books/author/Z/A/au5842669.html“ Arnulf Zweig, The University of Chicago Press, 1986. Logik Vorlesungen über Logik (Lectures on Logic) 2 I have opted for “latitude” or “leeway” as a translation of Spielraum (latitudo). I have thus replaced Gregor’s translation of Spielraum as “playroom”. 3 The notion of latitude has been a controversial issue in Kant scholarship. For accounts of the latitude of imperfect duties see for instance H. J. Paton, The Categorical Imperative. A study in Kant’s Moral Philosophy, Mary Gregor, Laws of Freedom, Blackwell, 1963, Thomas E. Hill’s seminal article “Kant on imperfect duty and supererogation.” Kant Studien, 62 Vo. 1, 1971 and his more recent “Meeting Needs and Doing Favours” in: Human Welfare and Moral Worth, Kantian Perspectives, Oxford University Press, 2002. Jens Timmermann, “Good but Not Required? Assessing the Demands of Kantian Ethics”. Journal of Moral Philosophy 2.1, 2005 and Marcia Baron, Kantian Ethics almost without Apology. Cornell University Press, 1995 provide a more rigoristic interpretation of the latitude of imperfect duties.

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Kant suggests that unlike perfect duties, imperfect duties allow exceptions for the sake of inclination (GMS IV: 421n; see also MS VI: 233), somewhere else he claims that imperfect duties can only be limited by other maxims of imperfect duties and never allow exceptions from the maxim of duty (MS VI: 390). As the discussion in the secondary literature shows, this gives us two very different readings of how much discretion there is for moral agents to decide how and how much to discharge their imperfect duties. According to Kant, perfect duties “give laws for actions” in which they provide more or less clear instructions as to what is morally required: I must either omit or perform a certain action. Perfect duties are strict requirements to refrain from or to perform certain acts. All act tokens falling under the description of the duty are binding duties: they should either be performed or refrained from. If one has a perfect duty not to wrong others, one must refrain from performing all the act tokens matching the description “wronging others” or perform all those act tokens whose non-performance would imply harming others. Thus, it is not up to the agent to choose whether or not to perform a strictly required act token without violating duty. Imperfect duty, in contrast, may leave some latitude for choice. Latitude arises from the fact that imperfect duties command the furtherance of moral ends such as beneficence and one’s own perfection. Because moral ends can in principle be promoted ad infinitum, we can never “be done” with the duty by doing a certain amount of obligatory acts (not even by doing the best we can our whole life long).4 This means that an unlimited amount of act tokens A1, A2, A3 … may fall under the duty of beneficence, but doing a specific act instead of others does not imply a violation of duty, but only, to use Kant’s own expression, “lack of merit” (demeritum, MS VI: 390) in regard to the act tokens which were not performed. As Kant observes, the German Tugend comes from taugen (to be fit for some function); Untugend, however, means not vice (Laster) but lack of fitness (zu nichts taugen). As long as the agent remains committed to the moral end prescribed by imperfect duty, she has not violated duty when she fails to perform a possible action falling under the description of imperfect duty. Only imperfect duties are, accordingly, duties of virtue (die unvollkommenen Pflichten sind allein Tugendpflichten). Fulfillment of them is merit (meritum) = +a; but failure to fulfill them is not in itself culpability (demeritum) = -a but rather mere deficiency in moral worth = 0, unless the subject should make it his principle not to comply with such duties. (MS VI: 390)5 4 Contra Hill, who assumed that by doing a certain amount of beneficent acts, the agent would accumulate a kind of moral “bonus” after which certain acts falling under the duty of beneficence would be considered supererogatory (although in a weak sense). The problem I see with this view is the assumption that one can reach the point of “having done enough”, even if temporarily. Thomas E. Hill, “Kant on imperfect duty and supererogation.” Kant Studien, 62 Vo. 1, 1971. 5 How does the fact that failing to fulfil imperfect duty implies only “demerit” relate to Kant’s claim that one can only limit one’s maxim of imperfect duty by another imperfect duty?

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In this paper, I offer an interpretation of the latitude of imperfect duties by focusing on an illuminating footnote of the Doctrine of Virtue of 1797, which has so far received little attention in Kant scholarship. In this footnote (MS VI: 433n), Kant reinterprets Horace’s adage insani sapiens nomen habeat; aequus iniqui – ultra quam satis est virtutem si petat ipsam (“the wise man has the name of being a fool, the just man of being iniquitous, if he seeks virtue beyond what is sufficient”), and argues that while one can never be too virtuous, one can nevertheless “go beyond what is sufficient.” As Kant’s criticism of the Aristotelian doctrine of the mean equally shows, attempts to identify vice with “doing too little” or “too much” conflate the moral perspective, which has to do with the quality of one’s maxims, and the perspective of one’s permissible prudential interests, which may be given “more” or “less” consideration within one’s commitment to the moral principle (section II). While virtue can never be excessive, Kant admits that it can nevertheless be imprudent to do more than sufficient for complying with the principle of imperfect duties, when it would have been morally permissible to do less. This point is illustrated by Kant’s letter to Maria von Herbert, in which he differentiates lying from reticence and on passages of the Religion and Metaphysics of Morals (section III). I conclude by drawing attention to the parallel Kant draws between the sage (sapiens) and the prudens, the prudent person, who does not neglect her permissible prudential interests for the sake of some unrealistic conception of human virtue.

II. Too much of the good? Kant on virtue and excess Is it possible to do too much of a moral thing, that is, to be too virtuous? Kant considers this question in his criticism of the Aristotelian doctrine of the mean (MS VI: 404 note, 409 and 433 note). In Aristotle’s account (as Kant reads it), virtue and vice are matters of degree. While virtue means “hitting” the right measure in one’s actions, vice is either doing too much or too little. Kant argues that Aristotle’s doctrine of the mean is superficial and cannot provide us with any determinate guidelines for action.6 The difference between vice and virtue lies not in the degree Is Kant tacitly assuming that failure to comply with the duty is due to the compliance with another imperfect duty? However, it seems strange to assign “deficiency in moral worth” to an agent who is complying with some duty or other (since she cannot discharge all her imperfect duties at once). 6 Although Aristotle talks of the right decision as being a mean between extremes, what one should do according to Aristotle is determined by the orthos logos (the correct reasoning or decision), i.e., what the wise (phronimos) would do in a given situation (see Aristotle, Nichomachean Ethics, II.6, 1136b). If so, the fact that the right ethical decision is a “mean” between two extremes seems to be secondary in Aristotle’s account. Ursula Wolf tried to make sense of the doctrine of the mean by arguing that the mean Aristotle has in mind refers to the agent’s affects and not to the practical judgment concerning what one should do in a given situation (Wolf, “Über den Sinn der Aristotelischen Mesotheslehre” in: O. Höffe, Nikoma-

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or quantity but in the quality of the agent’s maxims. Avarice (a vice) and thrift (a virtue) are based on different maxims. It is not that “avarice carries thrift too far” (MS VI: 404, note). It is therefore the relation of a specific maxim to the moral law and not the reference to some quantitative standard of excellence that determines virtue and vice. A similar misunderstanding of virtue as defined by a quantitative standard is expressed by Horace’s maxim “insani sapiens nomen habeat; aequus iniqui – ultra quam satis est virtutem si petat ipsam” (“The wise man has the name of being a fool, the just man of being iniquitous, if he seeks virtue beyond what is sufficient”).7 It is noteworthy that Horace’s maxim is quoted three times in the Metaphysics of Morals (MS VI: 404n, 409 and VI: 433n). According to Kant, if Horace’s verse were taken literally, it would be “utterly false” (MS VI: 433, note), for going “beyond what is sufficient” would mean that one could be “too just” or “too virtuous.” Claiming that virtue or justice can be excessive would be just as absurd as “making a circle too round or a straight line too straight” (MS VI: 433, note). However, Kant is often not content with showing only that his moral theory is superior to its alternatives; he is also keen to incorporate what is useful in the rejected alternatives into his own theory.8 Although Kant rejects a quantitative understanding of virtue, he offers an interpretation of Horace’s maxim compatible with his moral theory. Let us now turn our attention to the long footnote in MS VI: 433, which I quote below in full: “The proposition, one ought not to do too much or too little of anything, says in effect nothing, since it is a tautology. What does it mean “to do too much“? Answer: to do more than is good. What does it mean “to do too little“? Answer: to do less than is good. What does it mean to say “I ought (to do or to refrain from something)“? Answer: that it is not good (that it is contrary to duty) to do more or less than is good. If that is the wisdom in search of which we should go back to the ancients (Aristotle), as to those who were nearer the fountainhead – virtus consistit in medio, medium tenuere beati, est modus in rebus, sunt certi denique fines, quos citraque nequit consistere rectum9– then we have made a bad choice in turning to its oracle. chische Ethik, Akademie Verlag, Berlin 2010). Despite Kant’s criticism of Aristotle’s doctrine of the mean, he equally stresses the need for moderation in matters of virtue. Moderation, however, does not consist in finding the “right measure” between two vices but applies to one’s affects. As Kant explains, a feverish person transforms sympathy for the good into an affect. Virtue, in contrast, consists of the firm resolution to put the moral law into practice. Moderation refers thus not to virtue itself but affects which can lead to enthusiasm (MS VI: 408-9). Kant therefore opposes a specific interpretation of Aristotle’s Mesothes doctrine. 7 The emphasis is Kant’s. I use Mary Gregor’s translation. 8 For instance, Kant also tries to accommodate the heteronomous theories he rejects in Groundwork II within his theory of autonomy. See Lewis White Beck, A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason. University of Chicago Press, 1960, p. 107. 9 Virtue consists in the middle / blessed are those who keep the mean / There is a certain measure in our affairs and finally fixed limits, beyond which or short of which there is no place for right (Horace Satires 1.1.105-06).

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Between truthfulness and lying (which are contradictorie oppositis) there is no mean; but there is indeed a mean between candor and reticence (which are contrarie oppositis), since one who declares his thoughts can say only what is true without telling the whole truth. Now it is quite natural to ask the teacher of virtue to point out this mean to me. But this he cannot do; for both duties of virtue have a latitude in their application (latitudinem), and judgment can decide what is to be done only in accordance with rules of prudence (pragmatic rules), not in accordance with rules of morality (moral rules). In other words, what is to be done cannot be decided after the manner of narrow duty (officium strictum), but after the manner of wide duty (officium latum). Hence one who complies with the basic principles of virtue can, it is true, commit a fault (peccatum) in putting these principles into practice, by doing more or less than prudence prescribes. But insofar as he adheres strictly to these basic principles he cannot practice a vice (vitium), and Horace’s verse, insani sapiens nomen habeat aequus iniqui, ultra quam satis est virtutem si petat ipsam10, is utterly false, if taken literally. In fact, sapiens here means only a judicious man (prudens), who does not think fantastically of virtue in its perfection. This is an ideal which requires one to approximate to this end but not to attain it completely, since the latter requirement surpasses man’s powers and introduces a lack of sense (fantasy) into the principle of virtue. For really to be too virtuous – that is, to be too attached to one’s duty – would be almost equivalent to making a circle too round or a straight line too straight.” (MS VI: 433 n.)

That one cannot do too much in matters of strict duty is not hard to grasp. One’s maxim can only be either permissible or impermissible; if an action is morally required or forbidden, compliance with the strict duty entails either performing or omitting the action. Doing more or less than required would amount to falling short of the requirement altogether. Consider the duty not to make false promises. How could one do more or less without falling short of the duty? Of course one could perform additional actions which are not prescribed by the duty (for instance, if I not only avoid making a false promise to you but also offer you some money). One might consider this additional action excessive or unnecessary, but the point is that the action is independent from the strict duty. Virtue (Tugend), on the other hand, implies the adoption of a maxim of ends fit to be universalised: decisive is the relation of the agent’s maxim to the moral law. Having different “degrees” of morality in this case is not an option either, although one can do more or less in compliance with the duty. This idea might sound strange at first when considering that virtue involves merit and thus seems to “add up” to compliance with strict moral requirements. But Kant’s point is that virtue itself is not defined by the degree of merit of the agent (which is not fixed and can greatly vary), but by the quality of her maxim or principle of action. In other words: an agent either has adopted a virtuous maxim or she has not (tertium non datur). If agent A devotes more time to helping others, she has greater merit than B, who spends less time and effort.11 However, insofar as both agents sincerely adopted a 10 The wise man has the name of being a fool, the just man of being iniquitous, if he seeks virtue beyond what is sufficient. Horace, Epistles, i.6.15. 11 One could argue that if B invests less time and effort than A in complying with her imperfect duties, but does it considerably more efficiently than A, B would have greater moral

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maxim of beneficence, they are equally committed to a virtuous end. The alternative would therefore be an agent who completely falls short of sincerely adopting the moral end. It follows from Kant’s account that one cannot do too much when it comes to virtue. One is either virtuous or falls short of it. Therefore, if the wise and just are virtuous agents and if there is something the wise and the just can be said to do in excess, this cannot be their commitment to virtue. We can thus conclude that there is something in one’s compliance with duty that allows a degree, although this is not the commitment to virtue itself. As Kant notes, one cannot be too attached to duty, but one can commit a fault (peccatum) in its application. A peccatum is not a vice, but a kind of excess that needs to be qualified in a non-moral way. To explain what can be “excessive” in the application of the moral principle, Kant introduces the distinction between contradictory (contradictorie oppositis) and contrary maxims (contrarie oppositis). While truthfulness (Wahrhaftigkeit) and lying (Lüge) are based on contradictory maxims and do not allow a “more or less”, candour (Offenherzigkeit) and reticence (Zurückhaltung) are merely contrary maxims and allow a variation in degree. Consider the difference between telling a lie and being reticent. Reticence is the ability to communicate only what is true while not telling everything. At first, it does not seem to be a virtue but only a prudential measure, which can nevertheless, to a certain degree, be reconciled with a genuine commitment to truthfulness. For this, the agent’s maxim of action must be permissible: she must have a permissible (prudential?) reason not to disclose certain details, while refraining from lying in her account of the events. In contrast, assuming that she is acting on a permissible maxim, an agent who tells the whole truth without reserve will be just as committed to truthfulness as the reticent person, but she may be going against her interests or the interests of someone else by revealing all the details of a circumstance, when it would have been permissible for her to be silent about certain information.12

merit. I find this idea intuitive, but would object that B’s merit would lie not in the better consequences of her actions as such, but on her maxim to help efficiently (provided her greater success is not based only on lucky circumstances, but also on her firm intent to help efficiently). As long as A is sincere in her commitment to the moral principle and her lesser or lack of efficiency is not due to her failure to carefully consider the best options available to discharge her duties, her merit remains intact. It is however important to note that we need not worry about comparing “interpersonal merit”, since finding such a metric for comparison is not relevant for Kant’s moral theory. What counts is the agent’s maxim. My point with the comparison is to stress that virtue is defined by the sincere commitment to the moral end, which entails some amount of action by the agent (and not only “wishing”), but no specific amount of it. 12 When I say “without telling the whole truth” I do not mean refraining from telling irrelevant true details (which would not only cost too much time and render the narrative pointless) but from telling possible relevant ones.

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III. Lying and reticence Kant’s considerations about lying and reticence seem to have been inspired by a peculiar letter he received from a young Austrian noblewoman in 1791. Maria von Herbert was only 20 years old when she wrote to the 70 year old philosopher, seeking moral guidance. Her brother, Baron Franz Paul von Herbert, was the owner of a lead factory in Klagenfurt and an ardent follower of Kant’s philosophy. Despite general opposition to Kant’s critical philosophy in conservative Austria, von Herbert’s house became a centre for the discussion of Kant’s philosophy.13 Maria was also acquainted with Kant’s theory. In her letter she raises interesting philosophical issues, namely, whether retaining information would amount to lying and if one can be reproached for being reticent to a beloved person. Great Kant, As a believer calls to his God, I call upon you for help, for solace, or for counsel to prepare me for death. The reasons you gave in your books were sufficient to convince me of a future existence – that is why I have recourse to you – only I found nothing, nothing at all for this life, nothing that could replace the good I have lost. For I loved an object that seemed to me to encompass everything within itself, so that I lived only for him. (…) Well, I have offended this person, because of a protracted lie (langwierige lug), which I have now disclosed to him though there was nothing unfavorable to my character in it – I had no viciousness in my life that needed hiding. The lie was enough, though, and his love has vanished. He is an honorable man, and so he doesn’t refuse me friendship and loyalty. But that inner feeling that once unbidden led us to each other, it is no more. O my heart splits into a thousand pieces. (…) Now put yourself in my place and either damn me or give me solace. (Briefwechsel, Letter 614 from Maria von Herbert to Immanuel Kant, 1971)

The letter seems to have touched Kant. He wrote a very sensitive reply in “sermon form” to Maria’s first letter, which was sent to Austria in the Spring of 1792. In this letter, Kant argues that we must differentiate moral from prudential failure. Although we have a duty to abstain from lying, we are not morally required to reveal details which could harm us from a prudential point of view.14 The problem is thus the following: while ideal love and friendship require complete openness and are incompatible with distrustful reticence,

13 While Kant’s philosophy became widely popular under Joseph II, his writings were banned from Austrian schools and Universities from 1798 until 1861. Wilhelm Berger / Thomas Macho (ed.) Kant als Liebesratgeber. Eine Klagenfurter Episode. Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen gesellschaften Österreichs, 1989, p. 6. 14 In her article „Duty and Desolation“, Philosophy 67, No. 262, 1992, Rae Langton sees Kant as reproaching Maria von Herbert for deceiving her lover while she “may have had a duty to lie” in order to save her relationship (p. 504). Langton argues that Kant sees no principled distinction between lying and reticence (p. 491), which is clearly a wrong interpretation of the point Kant is making in his reply. For a criticism of Langton’s article and an account of the distinction between lying and reticence in Kant’s reply to Maria von Herbert, see James Edwin Mahon, “Kant and Maria von Herbert: Reticence vs. Deception”, Philosophy 81, 2006.

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“… there is in man an element of improbity (Unlauterkeit), which puts a limit on such candor, in some men more than in others. Even the sages of old complained of this obstacle to the mutual outpouring of the heart, this secret distrust and reticence, which makes a man keep some part of his thoughts locked within himself, even when he is most intimate with his confidant: “My dear friends, there is no such thing as a friend!” (…) This reticence, however, this want of candor – a candor that, taking mankind en masse, we cannot expect of people, since everyone fears that to reveal himself completely would make him despised by others – is still very different from that lack of sincerity that consists in dishonesty in the actual expression of our thoughts. (Briefwechsel, Letter 510 from Kant to Maria von Herbert, 1792, my emphasis)

As Kant explains in his reply, reticence “does not corrupt one’s character,” but merely limits the full expression of one’s commitment to truth. Lying, in contrast, is a sign of corruption in one’s attitude to morality and a positive evil. A lie can be harmless, but it is nevertheless a violation of a duty to oneself, whereas reticence takes into account the imperfection of human nature with view to the protection of one’s integrity in regard to others. Kant suggests to the young woman that she ask herself whether her feelings of regret are due to her moral failure (i.e. a lie) or mere lack of prudence (i.e. disclosing more than morally required and suffering the consequences). While in the case of a moral failure the beloved’s reaction would be justified, the second, Kant argues, would only prove that the nature of his love “was more physical than moral” and thus would have ended soon by itself. Candour and reticence are not opposed to each other as a maxim of truthfulness is opposed to a maxim of deceit; they are both consistent with a commitment to truthfulness. However, they are not just different degrees of truthfulness (since truthfulness itself does not allow degrees) but variations in the degree of disclosure consistent with a sincere commitment to truthfulness. Candour and reticence are contrary maxims, while truthfulness and deceit are contradictory maxims. Kant is drawing on the traditional square of opposition. While contradictory opposites are mutually exclusive, contrary opposites are mutually inconsistent but not mutually exhaustive.15 As Aristotle puts it in the Metaphysics, “nothing exists between two contradictories, but something may exist between contraries” (1055b2).16 15 See Laurence R. Horn, “Contradiction”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2012 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = . 16 The characterization of virtue and vice as contradictory opposites in VI: 433n seems to be at odds with Kant’s statement in VI: 385 that virtue and vice are contraries or real opposites (contrarie s. realiter oppositum). If one considers virtue and vice not as specific principles or maxims, but as mere forces or degrees of strength of the will, virtue and vice can be seen as what Kant defined in 1763 as negative magnitudes. Negative magnitudes are defined not by logical oppositions (based the law of contradiction) but on real oppositions, that is, on differences in quantity (“Versuch den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen”, II: 171). Negative magnitudes are thus intensive magnitudes and can vary in degree. This presupposes a common “metric”, on which differ-

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An agent who is committed to truthfulness can, to a certain extent, determine how much to disclose in her account of the events without violating duty. At first, reticence and candour seem to be defined merely with reference to prudence, as a (permissible) prudential measure or lack thereof. However, it is interesting that Kant takes reticence and candour to be virtues themselves. As he writes in the passage “both duties of virtue have a latitude in their application” (beide Tugendpflichten haben einen Spielraum der Anwendung). ‘Both duties of virtue’ in this case must refer to candour and reticence, as those duties of virtue “who allow a middle.” That candour is a virtue is not difficult to see: telling the whole truth without reserve requires great moral fortitude, which needs to be acquired (Rel. VI: 190) and is therefore an expression of courage (Tapferkeit, fortitudo moralis, MS VI: 405). However, it is harder to see how reticence can be a virtue as opposed to a mere permissible prudential measure, unless the incentive for keeping some information is a moral one. In the Religion, Kant draws the distinction between uprightness (Aufrichtigkeit) and open heartedness (Offenherzigkeit).17 Although uprightness is like “Astreia, who fled earth to the heavens”, it is something we can require from human beings, namely, that everything we say is said with truthfulness. Complete open-heartedness, in contrast, is to reveal the whole truth one is aware of, without reserve. But this, Kant argues, requires great moral strength, since an open-hearted moral agent will be more exposed to temptations and forced to make sacrifices (aber jene verlangte Gemüthseigenschaft ist eine solche, die vielen Versuchungen ausgesetzt ist ences in degree can be drawn. If regarded as mere forces, virtue (+a) and moral and vice (-a) are not contradictories (logical opposites) but contraries (real opposites). As Kant stresses, the force in question is not strength of affect but strength of the soul (Stärke der Seele or Vorsatz) in the pursuit of one’s moral maxims (MS VI: 385). I thank Anita Leirfall for making me aware of Kant’s use of the notion of negative magnitudes in his moral philosophy and for very insightful discussions on the topic. 17 O Aufrichtigkeit! du Asträa, die du von der Erde zum Himmel entflohen bist, wie zieht man dich (die Grundlage des Gewissens, mithin aller inneren Religion) von da zu uns wieder herab? Ich kann es einräumen, wiewohl es sehr zu bedauren ist, daß Offenherzigkeit (die ganze Wahrheit, die man weiß, zu sagen) in der menschlichen Natur nicht angetroffen wird. Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei) muß man von jedem Menschen fordern können, und wenn auch selbst dazu keine Anlage in unserer Natur wäre, deren Cultur nur vernachlässigt wird, so würde die Menschenrasse in ihren eigenen Augen ein Gegenstand der tiefsten Verachtung sein müssen. Aber jene verlangte Gemüthseigenschaft ist eine solche, die vielen Versuchungen ausgesetzt ist und manche Aufopferung kostet, daher auch moralische Stärke, d. i. Tugend (die erworben werden muß), fordert, die aber früher als jede andere bewacht und cultivirt werden muß, weil der entgegengesetzte Hang, wenn man ihn hat einwurzeln lassen, am schwersten auszurotten ist. – Nun vergleiche man damit unsere Erziehungsart, vornehmlich im Punkte der Religion, oder besser der Glaubenslehren, wo die Treue des Gedächtnisses in Beantwortung der sie betreffenden Fragen, ohne auf die Treue des Bekenntnisses zu sehen (worüber nie eine Prüfung angestellt wird), schon für hinreichend angenommen wird, einen Gläubigen zu machen, der das, was er heilig betheuert, nicht einmal versteht, und man wird sich über den Mangel der Aufrichtigkeit, der lauter innere Heuchler macht, nicht mehr wundern. (ReL IV: 190)

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und manche Aufopferung kostet, daher auch moralische Stärke, d. i. Tugend (die erworben werden muß), fordert, Rel. VI: 190). Absolute Offenherzigkeit is thus the moral ideal we ought to realize in ideal circumstances. However, given the human tendency to manipulate and even to despise open hearted agents, open heartedness would make agents vulnerable to the malice and contempt of others. This is why Kant says that what we can demand from human beings is not complete open heartedness, but merely uprightness. Kant is thus taking into consideration the non-ideal conditions under which finite rational agents find themselves. Although uprightness is only “the second best option” to absolute open-heartedness, it is rare and difficult enough (it seems to have “fled the earth to the heavens”). Therefore, as long as it is guided by a commitment to truthfulness, reticence (Zurückhaltung) can thus be identified with uprightness (Aufrichtigkeit) as the ability to communicate only what is true without disclosing everything one knows. However, how can a maxim of reticence be a duty of virtue instead of a mere permissible, prudential maxim? If we assume that the agent’s motivation for being reticent instead of completely open-hearted (offenherzig) is a moral one, understanding how reticence can be a virtue poses no major difficulty. For instance, if I am careful not to mention the sensitive details of a certain event, insofar as morally permissible, in order to protect a friend’s privacy, it seems that my reticence is not only consistent with a maxim of truthfulness but has moral worth itself. However, the question is whether reticence would be an independent virtue or just one way to comply with my duty of love to others (after all, I am helping my friend). Even if we grant Kant that my reticence would be a virtue in itself, would it still be a virtue if my motivation were the protection of my own reputation against the malice and prejudice of others, that is, a seeming prudential motive, as in Maria von Herbert’s case? If we follow Kant’s own definition of what a duty of virtue amounts to, the answer is clearly no: only internal coercion, that is, moral motivation can account for virtuous action (MS VI: 383). Let us look closer at the footnote in MS VI: 433. As Kant stresses “both duties of virtue (candour and reticence) have a latitude in their application (latitudinem), and judgment can decide what is to be done only in accordance with rules of prudence (pragmatic rules), not in accordance with rules of morality (moral rules). In other words, what is to be done cannot be decided after the manner of narrow duty (officium strictum), but after the manner of wide duty (officium latum).” A person who is committed to truthfulness and protects her privacy by being silent about some events (and would be doing so for prudential reasons) would be making use of the latitude allowed by uprightness (Aufrichtigkeit) in order to protect herself against possible abuse or manipulation by others. The latitude consists not in being more or less upright, but in the degree of disclosure compatible with a maxim of truthfulness. Being reticent in this case is also compatible with the right of humanity in one’s person, that is, the duty not to let oneself become a mere tool for other people and to maintain one’s own integrity. In the Doctrine of Right, Kant associates this duty with the first Ulpian formula honeste vive (sei ein rechtlicher Mensch, MS VI: 236 ll. 24).

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If we assume that honeste vive or the duty of rightful honour is an internal juridical duty, that is, a non-coercible duty of right because it lacks the relation to the rights of other agents,18 the agent’s incentive for avoiding making herself a tool for others does not have to be the motive of duty; her fear of the social consequences of exposing herself to others, for instance, would equally satisfy the requirement to maintain rightful honour as long as she de facto avoids vulnerability to others. However, as a juridical duty, honeste vive is also an indirectly ethical duty and also allows ethical motivation (MS VI: 221). Since complete open heartedness is not always compatible with honeste vive in a world of manipulation and social conventions detrimental to women, reticence, as a form of uprightness (Aufrichtigkeit), is the “second best” option for human beings, Thus, if the agent is genuinely committed to a maxim of truthfulness, her prudential considerations may be morally permitted to shape her compliance with the duty of truthfulness and leading her to be reticent instead of candid. In other words, prudence may lead to reticence but not to mendacity or insincerity. When reticence is motivated by mere prudential reasons but is nevertheless required for maintaining rightful honour and does not violate any other strict duty to others (neminem laede! MS VI: 236), it nevertheless satisfies the requirement to maintain one’s rightful honour. This is because juridical duties allow but do not require virtuous motivation. Doing whatever is necessary for complying with the duty is sufficient, even if one’s motive is a prudential one. However, when reticence is done from the awareness that it is a duty to maintain rightful honour, it acquires moral worth and becomes a virtue proper: the agent is making the right of humanity in her person also the motive of her conduct (and positively adopting a moral end). Reticence is therefore a virtue when the agent is aware of the fact that maintaining her integrity is also something she owes herself morally, and not merely fears losing due to its social consequences. It remains an open question whether Maria von Herbert’s motive for being initially reticent to her beloved was a merely prudential or also ethical. In both cases, however, her reticence can be seen as required by honeste vive. In a letter, Johann Benjamin Erhard told Kant that Maria von Herbert had “thrown herself in the arms of a gentlemen” for the sake of realizing “idealistic love.” This person, however, “misused her” (Briefwechsel, Letter 557, from Johann Benjamin Erhard, 1793). This might be what she later confessed to her later beloved, after being initially silent about it. Taking into account that such an incident

18 See Bernd Ludwig, “Die Einteilung der Metaphysik der Sitten im Allgemeinen und die der Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre im Besonderen.” In: Andreas Trampota / Oliver Sensen / Jens Timmermann (eds.), Kant’s Tugendlehre. A Comprehensive Commentary, De Gruyter Verlag, 2013. As Ludwig observes, Kant does not maintain the distinction between internal duties of right and duties of virtue in the body of the Metaphysics of Morals. While the Doctrine of Right restricts itself to externally enforceable duties to others, the Doctrine of Virtue covers internal duties to the self and all other internal duties.

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would have a devastating impact on the life of a young woman, as Maria’s rejection by her second beloved confirms, Kant’s conclusion that being reticent would be permissible in her case also reflects sensitivity to the condition of women in the 18th century.19

IV. Prudence and fantastic virtue Duties of virtue have to do with our moral perfection and not with what is strictly due to other persons. Because duties of virtue involve the realization of moral ends, they do not prescribe an upper limit for compliance: it is always possible to do more and become more perfect than we are. At first sight, this seems to imply a maximisation requirement (to do as much as we can). Kant however explicitly rejects such a requirement to maximise virtue. The reason is that perfection is an unachievable task for the finite beings we are. Kant believes that our commitment to morality requires recognizing the possibility (or at least the “non-impossibility”)20 of completely fulfilling moral requirements (the achievement of moral perfection). This is because adopting an end requires committing oneself to its realization, but one cannot commit oneself to something one believes impossible. Since the achievement of moral perfection would require an infinite amount of time for finite rational beings, practical reason allows us to 19 Walter Benjamin called Kant’s letter to Maria von Herbert “the most shocking philosopher’s letter of all times,” on the one hand for its “monumental clarity,” on the other for its “complete naivety concerning the relations between the sexes.” As Benjamin scornfully adds, even “Frau Christine” from a German evening newspaper was more apt in giving advice than the great Immanuel Kant. Walter Benjamin, “Kant als Liebesratgeber”. In: Wilhelm Berger / Thomas Macho (ed.), Kant als Liebesratgeber. Eine Klagenfurter Episode. Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen gesellschaften Österreichs, 1989. I disagree with Benjamin. The gentle tone of Kant’s letter and the rare display of understanding for the condition of women have been blatantly overlooked by Kant’s critics, especially in German speaking Kant scholarship. Maria von Herbert’s correspondence is also taken with some disdain. In his Kant biography, Wolfgang Ritzel describes how Maria in her “alteration and anguish bangs down an entire page without punctuation” and addresses the great Kant in the second person singular. Ritzel, Immanuel Kant: Eine Biographie, de Gruyter, 1985. In contrast, Kant’s behavior in regard to Maria von Herbert’s second and third letters was indeed disrespectful. Although it is understandable why Kant did not reply to Herbert’s two subsequent letters (her tone became increasingly inappropriate to the 70 year old Kant. She also announced her intention to visit him in Königsberg), Kant ended up sending Maria von Herbert’s complete correspondence to Elisabeth Motherby, the daughter of an English friend, as a “warning” against the confusions of a sublimated imagination (Verwirrungen einer sublimierten Phantasie, AA XI, Briefwechsel 1793, 411). In 1803, nine years after her last letter to Kant, Maria von Herbert committed suicide by drowning herself in the Drau river. In 1806 her brother, Baron von Herbert, also took his life. After the French revolution, von Herbert’s household and philosophical circle in Klagenfurt had been under constant police surveillance, as Kant’s philosophy was considered subversive in conservative Austria. 20 When a positive proof for a certain claim cannot be provided, it is enough to show that the claim is not impossible, that is, that nothing rules it out as eventually the case.

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postulate the immortality of the soul as the condition for the realization of moral perfection and consequently of the coherence of our commitment to morality (KpV V: 5:122). Only if we assume that we can continue to improve morally beyond this life, can we make sense of the requirement that we ought to strive for perfection. However, to strive to achieve perfection in this finite life at all costs is not only vain, but can also be morally reprehensible. Virtue for human beings means a continuous approximation of the moral ideal, which shall never be achieved. Achieving moral perfection would be holiness and no longer human virtue (KpV V: 8, 122). The sage (sapiens) personifies the continuous approximation to virtue, with the awareness that it shall never be achieved in this life (MS VI: 383). In fact, sapiens here means only a judicious (gescheuten) man (prudens), who does not think fantastically of virtue in its perfection. This is an ideal which requires one to approximate to this end but not to attain it completely, since the latter requirement surpasses man’s powers and introduces a lack of sense (fantasy) into the principle of virtue. (MS VI: 433, note)

It is noteworthy that Kant identifies the sapiens with the prudens (Gescheuten)21. This might seem peculiar. Why is the person who does not think fantastically of virtue also a prudens? Is one imprudent if she attempts to achieve moral perfection at all costs? I will argue that Kant identified at least two ways agents may vainly attempt to achieve moral perfection in this life: they can either moralize the amoral and / or wilfully disregard the latitude of imperfect duties, when it would be otherwise permissible to make use of latitude. Both ways, I will argue, are attempts to maximize virtue. Although not obvious in the passage, I take the first kind of attitude to be Kant’s main point when he writes about the fantastically virtuous in the Doctrine of Virtue: The human being can be called fantastically virtuous who allows nothing to be morally indifferent (adiaphora) and strews all his steps withduties, as with mantraps; it is not indifferent to him whether I eat meat or fish, drink beer or wine, supposing that both agree with me. Fantastic virtue is a concern with petty details (Mikrologie) which, were it admitted into the doctrine of virtue, would turn the government of virtue into tyranny. (MS VI: 409, my emphasis)

At first, it seems that the problem with the “fantastically virtuous” is only one of wrong judgment: the agent takes situations to be morally relevant when they are not. We could simply shake our heads at such a person for being silly, but harmless. The passage however, suggests more. Although it is true that the fantastically virtuous treats morally irrelevant situations (adiaphora) as being relevant, it is important to note that admitting the concern with petty details into the doctrine of virtue would “turn the government of virtue into tyranny.”Although the fantastically virtuous is creating “pseudo-duties”, what is reprehensible about his attitude is something that 21 Gescheut (gescheidt) is a synonym for klug (clever, provident, prudent). Prudence in German is Klugheit. Adelung Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, bd. 2, Sp. 605.

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goes beyond mere misjudgement. His attitude seems to be reproachable from the perspective of virtue. But why exactly? Kant accuses the fantastically virtuous person not precisely of misjudgement but of “micrology” (Mikrologie), a term which Mary Gregor translates as “a concern with petty details”. In other passages, Kant associates micrology with “useless precision” (unnütze Genauigkeit, Logik IX: 046), “subtlety in the smallest details” (Subtilität im Kleinen, Logik IX: 049) or also “hair-splitting” (Kleinigkeitskrämerei, MS VI: 440). Above all, micrology is a form of pedantry (Pedantarei, Cf. Logik IX: 046). I interpret the fantastically virtuous’ attitude as an attempt to create opportunities for virtue artificially, when there is no occasion for doing so. What is reprehensible about her attitude is not so much misjudgement of the circumstances but her pedantry in moral matters. The fantastically virtuous person attempts to maximize virtue by treating all her decisions as matters of strict duty even when it would be morally permissible for her to act on the basis of her inclinations and to further her happiness (e.g. when choosing to eat fish or meat, drink beer or wine, since Kant assumes that these options are morally indifferent). According to this interpretation, the “fantastically virtuous” agent does not simply lack judgment22 but is a pedant, who turns human virtue into tyranny and allows for no adiaphora. A parallel can be made in regard to the tendency to moralize the permissible (the licitum instead of the adiaphoron): an agent who constantly disregards her nonmoral interests even when taking these considerations into account would be morally permissible, may also be attempting to maximize virtue in an unrealistic manner. In the casuistic questions at MS VI: 426, Kant asks us when treating wide obligation in a strict manner would amount to purism, i.e. “a pedantry regarding the fulfillment of duty.” Characteristic of purism or pedantry in the fulfillment of duty is the denial of some latitude to one’s animal inclinations, even when giving leeway to these inclinations would not endanger one’s moral integrity. As in all other casuistical questions, Kant does not give us a precise answer, since an answer presupposes judgment of the circumstances and cannot be settled a priori. While bringing wide duty closer to narrow duty is a virtue in some circumstances (see for instance MS VI: 390),23 completely disregarding one’s happiness for the sake of maximizing virtue unrealistically would be to introduce a fantastic idea of virtue, unfit to be applied to rational beings as finite beings with needs. Prudence, which is also a normative standard for human beings (although only conditionally), is thus “permitted” to dictate limits to our compliance with moral ends, insofar as these limits imply neither a violation of moral requirements nor an abdication of the 22 As Kant observes in the Critique of pure Reason, lack of judgment is what we call “stupidity” and cannot be remedied (KrV A 097 / B132). 23 “The wider the duty, therefore, the more imperfect is a man’s obligation to action; as he, nevertheless, brings closer to narrow duty (duties of right) the maxim of complying with wide duty (in his disposition), so much the more perfect is his virtuous action” (MS VI: 360).

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moral end. Since for Kant there are certain maxims or ends we are morally required to adopt (ends which are also duties, MS VI: 380-1), insofar as we remain committed to realize the moral end, it is nevertheless possible to reconcile our practice of virtue with the requirements of prudence. Therefore, when one is said to “do too much” in moral matters, this can only be the case from the perspective of permissible prudential considerations, that is, when one sacrifices one’s happiness beyond what is strictly morally required. However, one can never do too much from the perspective of virtue itself (since this would amount to falling short of virtue and not to an excess of virtue proper). Kant reinterprets Horace’s adage and uses it to account for the intuition that one can indeed do too much in matters of virtue. However, the excess in question lies not in moral goodness itself. At MS VI: 406n, Kant quotes the adage again, now referring specifically to moderation.24 The injunction for moderation applies to one’s affects and not to virtue itself. One can therefore be too enthusiastic (to give too much leeway to one’s affects), but this is not an excess of virtue, but of the leeway one may give to one’s affects in support to one’s commitment to the moral principle. To cultivate a feeling or attitude is to give them a certain leeway in influencing our conduct, ideally after some deliberation that it is morally desirable to do so.25 In the casuistic question at MS VI: 437, Kant suggests that we can cultivate the feeling of self-esteem. But since the line between self-esteem and self-conceit is a very subtle one (MS VI: 437), the question is whether it is not wiser to cultivate humility instead of self-esteem (MS VI: 437). Humility can be problematic since it tends to turn into self-abnegation (Selbstverläugnung, ll. 10) and leads to a violation of a duty to the self. Kant therefore leaves open whether one should cultivate self-esteem or humility (or both). Presumably, deciding between cultivating humility or self-esteem would be a matter of personal discernment according to whether one is prone to self-conceit or self-denial. Passages as these suggest that latitude may allow us to take into account other features of human nature such as one’s affects or certain attitudes and to integrate 24 “Only the apparent strength of someone feverish lets a lively sympathy even for what is good rise into an affect, or rather degenerate into it. An affect of this kind is called enthusiasm, and the moderation that is usually recommended even for the practice of virtue is to be interpreted as referring to it (insani sapiens nomen habeat [;] aequus iniqui ultra quam satis est virtutem si petat ipsam. Horat.) for otherwise it is absurd to suppose that one could be too wise, too virtuous. An affect always belongs to sensibility, no matter by what kind of object it is aroused. The true strength of virtue is a tranquil mind with a considered and firm resolution to put the law of virtue into practice.” 25 The cultivation of certain feelings and attitudes falls under Kant’s account of indirect duties. Unfortunately, entering into a discussion of Kant’s complex account of indirect duties goes beyond the scope of this paper. I shall restrict myself to pointing out the relation between cultivating certain natural dispositions and feelings and latitude for choice. For a discussion of Kant’s understanding of imperfect duties, see Alix Cohen, Kant and the Human Sciences. Biology, Anthropology and History. Palgrave Macmillan, 2009, especially chapter four.

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these with our commitment to morality. This integration will require careful practical judgment from the agent’s side, since the commitment to the moral principle has normative priority. In the paper, I have focused on one’s prudential interests as rational being with needs and how imperfect duty allows us to integrate these concerns within our sincere commitment to morality. While one can never be too virtuous one may fail to give enough consideration to one’s permissible prudential interests and needs. Kant therefore reminds us that what is open to us is human virtue. Although human virtue may be demanding enough under the circumstances, it is no tyranny over human nature.

Zusammenfassung In diesem Aufsatz stelle ich eine Interpretation des Spielraumes (latitudo) von weiten Pflichten vor, indem ich Kants Neuinterpretation des Horaz’schen Spruchs “insani sapiens nomen habeat; aequus iniqui – ultra quam satis est virtutem si petat ipsam” und seiner Kritik an Aristoteles’ MESOTES-Lehre analysiere. Um meine Thesen zu unterstützen, untersuche ich auch Kants Unterscheidungen zwischen Lüge und Zurückhaltung in seiner Korrespondenz mit Maria von Herbert und zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung in seiner Religionsschrift. Ich vertrete dabei die Auffassung, dass es moralisch erlaubt sein kann, Klugheitsüberlegungen in die Entscheidung darüber einzubeziehen, wie weite Pflichten erfüllt werden, weil es keine obere Grenze dafür gibt, inwieweit wir moralische Zwecke verfolgen dürfen. Im Gegensatz dazu kann die bewusste Missachtung moralisch erlaubter prudentieller Interessen das darstellen, was Kant als phantastisches Konzept der Tugend bezeichnet, demzufolge Handlungssubjekte vergeblich glauben, dass sie Tugend in diesem Leben vollständig erreichen könnten. Ich lenke dabei die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass für Kant der Weise (sapiens) zugleich auch klug (prudens) ist, d. h. eine Person, die in Sachen der Tugend nicht phantastisch denkt und also nicht bestrebt ist, auf Kosten der eigenen moralisch akzeptablen Klugheitsinteressen als endliches Wesen “Tugendmaximierung” zu betreiben.

Tagungsbericht – Conference Report

Tagungsbericht 1927 – Die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895 – 1953)* Internationale Wissenschaftler(innen) aus Medizin, Theologie, Philosophie sowie der Rechtswissenschaft trafen sich vom 28. bis 29. November 2012 in Halle (Saale), um auf Einladung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Florian Steger), der Europa-Universität Viadrina (Jan C. Joerden) und der Uniwersytet Łódzki (Andrzej M. Kaniowski) über die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) zu diskutieren. Der protestantische Theologe Fritz Jahr hatte in den 1920er Jahren den Begriff und das Konzept von Bioethik in einem weiten Sinn definiert, und zwar als Lehre von den sittlichen Verpflichtungen nicht nur gegen den Menschen, sondern gegen alle Lebewesen. Der von Jahr formulierte bioethische Imperativ lautet: „Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen!“ Vor diesem Hintergrund wurden die Arbeiten von Jahr aus der Perspektive einzelner Bereichsethiken diskutiert und hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf ethische Fragen der Gegenwart untersucht. Den Auftakt bildete Florian Steger (Halle-Wittenberg) mit einer biografischen Rekonstruktion des Lebens von Jahr, wobei er immer wieder auf die Genese des Begriffs und Konzepts der Bioethik Bezug nahm. Steger konnte anhand neuer Quellenfunde darlegen, dass Jahr den Begriff Bio-Ethik verbunden mit seinem bioethischen Imperativ bereits 1926 in der Zeitschrift Die Mittelschule formulierte. Bisher war man in der Forschung davon ausgegangen, dass Jahr den Begriff Bioethik und seine bio-ethische Forderung erst 1927 in der Zeitschrift Kosmos einführte und den bio-ethischen Imperativ 1928 in der Zeitschrift Ethik. Sexual- und Gesellschaftsethik formulierte. Steger würdigte auch Jahrs gesellschaftliches und politisches Wirken in beiden deutschen Diktaturen. Man könne davon ausgehen, so der Referent, dass Jahr ein Mitläufer war. Der Gedanke von Steger, Jahrs Wirken und Werk auch im Kontext seines körperlichen Leidensdrucks zu lesen, wurde von Rita Kielstein (Magdeburg) aufgegriffen. Zugespitzt formulierte sie, dass nur mit diesem Zugang eine angemessene Kontex* Dieser Tagungsbericht erschien erstmals im Internet unter: „1927 – Die Geburt der Bioethik in Halle (Saale) durch den protestantischen Theologen Fritz Jahr (1895 – 1953). 28. 11. 2012 – 29. 11. 2012, Halle“, in: H-Soz-u-Kult, 02. 05. 2013, http: //hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4785.

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Tagungsbericht

tualisierung durchführbar sei. Entlang von Jahrs anhaltender Krankheitsgeschichte rekonstruierte Kielstein die somatische wie psychische Konstitution von Jahr und setzte sie mit dessen Werk in Verbindung. Dabei orientierte sie sich an der Frage, welchen Anteil der starke Konsum bromhaltiger Medikamente an Jahrs Wirklichkeitsauffassung hatte. Den naturwissenschaftlichen und philosophischen Bezügen im Werk von Fritz Jahr ging Eve-Marie Engels (Tübingen) nach. Sie konnte einerseits den engen Zusammenhang zwischen Jahrs Konzept der Bioethik und der zeitgenössischen Rezeption von Darwins (1809 – 1882) Lehren im deutschen Sprachraum zeigen. Andererseits arbeitete sie den starken Einfluss verschiedener philosophischer Traditionen heraus – etwa von Nietzsche (1844 – 1900) oder Schopenhauer (1788 – 1860). Besonders deutlich wurde diese Tradition am Beispiel Kants (1724 – 1804), dessen Kategorischen Imperativ Jahr auf alle Lebewesen erweiterte. Beide Einflusssphären versuchte der „Biozentriker“ Jahr, so Engels, mit seiner theologischen Weltanschauung zu verbinden. Die Nähe Fritz Jahrs zu einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, wie sie Albert Schweitzer (1875 – 1965) vertrat, diskutierte Andrzej M. Kaniowski (Łódź). Als gemeinsames Element von Jahr und Schweitzer identifizierte er den Begriff des Mitleids. Während für Schweitzer das Mitleid ein konstitutives Element für dessen Theorie sei, das jedoch erworben werde, würde Jahr das Mitleid als etwas Gegebenes, als eine dem Menschen innewohnende natürliche Regung ansehen. Angewandt auf die Ehrfurcht vor dem Leben würde Jahr nicht die Religion, sondern naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Beobachtungen vom wissenschaftlichen Fortschritt zum Ausgangspunkt seiner bioethischen Betrachtungen wählen. Jahrs Konzept einer Bioethik verglich Paweł Łuków (Warszawa) mit dem des Onkologen Van Rensselaer Potter (1911 – 2001), der bisweilen als Begründer des Bioethikbegriffs in den USA der 1970er Jahre angeführt werde. Jahr habe sich stark an einer klassischen Philosophie orientiert, vor allem an der Kants, und konnte noch von relativ einheitlichen Wertauffassungen in der Bevölkerung ausgehen. Potter hingegen ginge von einem moralischen Pluralismus aus und verstünde seine Bioethik als Antwort auf die gegenwärtige Technikkrise: Wie gehen Forscher mit dem wachsenden Verfügungswissen um? Während es Potter darum ging, der Menschheit ein Überleben zu ermöglichen, habe Jahr eine Theorie für das ganze gesellschaftliche Feld aufzustellen versucht. In seinem Abendvortrag fokussierte Hans-Martin Sass (Bochum / Washington) das Neuartige an Jahrs ganzer Konzeption einer Bioethik. Mit Kant gesprochen, so Sass, zielte Jahr auf eine „Revolutionierung der Denkungsart“. Die Grundannahme Jahrs, die er aus den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Evidenzen ableitete, sei die Nichtunterscheidbarkeit von Tier und Mensch auf Grundlage biologischer Kriterien gewesen. Die Ethik Jahrs sei also keine Frage der Betroffenheit, aber auch keine Frage der Deontologie, sondern eine Frage des praktischen Handelns. Der Wert der Bioethik Jahrs ergäbe sich daraus, dass er von einem Zusammenspiel des

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Menschen mit seinen legitimen Bedürfnissen und Bestimmungen sowie den Bedürfnissen der Tiere ausgehe. Die Bedürfnisse letzterer seien aber nicht gleichrangig zu menschlichen Bedürfnissen. Die Bioethik Jahrs verlange daher nach einer kontextuellen Abwägung von Bedürfnis- und Bestimmungsgründen. Unter einer rechtsphilosophischen Perspektive näherte sich Jan C. Joerden (Frankfurt (Oder)) Jahrs Bioethik. Ausgehend von der kantischen Zweckformel erörterte er die Übertragbarkeit von Rechtstiteln auf alle lebendigen Organismen. Hier stelle sich wegen der Reziprozitätsformel für den Juristen ein Dilemma ein: Einerseits können Tiere und Pflanzen keine Adressaten von Rechten sein, da sie nicht in der Lage sind, Pflichten zu übernehmen. Andererseits würde man auch Mitgliedern menschlicher Gruppen Rechte einräumen, die keine möglichen Pflichtadressaten sind. Im Folgenden bot Joerden durch die Argumentationsfigur von Freiheitsräumen eine Möglichkeit an, dieses juristische Dilemma zu lösen, ohne in einen Rechtsrelativismus abzugleiten. Ausgehend von einem Jahr-Text von 1930 zum Gesinnungsunterricht prüfte Nikolaus Knoepffler (Jena) die Anwendbarkeit von Jahrs Bioethik in der Praxis. Anhand verschiedener Textbeispiele und Videosequenzen aus jüngeren bioethischen Diskussionen verdeutlichte er, wie in (medizin-)ethischen Debatten gesinnungsorientiert argumentiert und damit einer liberalen, d. h. den Gegenargumenten Raum bietenden Diskussion keine Chance gegeben werde. Damit machte Knoepffler deutlich, dass die Bioethik Jahrs keine reine Bereichsethik sei, sondern ein größeres Potential habe, als nur für einen bestimmten Handlungsbereich moralische Aussagen treffen zu können. Ein weiteres Anwendungsfeld präsentierte Joanna Miksa (Łódź) am Beispiel der Forschungsethik. Ausgangspunkt ihrer Argumentation bildeten Jahrs Texte zum bioethischen Imperativ und zur Ethik der Sexualität. Diese prüfte sie hinsichtlich der Fragen, ob sich hieraus ethische Normen in Bezug auf Tier- und Humanexperimente ableiten lassen und wie sie dann angewandt werden könnten. Anschließend diskutierte sie ihre Ergebnisse an verschiedenen historischen Beispielen von Humanexperimenten – beispielsweise dem Milgram-Experiment von 1961. Die Aktualität dieser Fragestellung zeigte Miksa an einer Adaption dieses Experiments auf, die im französischen Fernsehen unter dem Titel The Game of Death wiederholt wurde. Ausgehend von aktuellen bioethischen Diskussionen in Polen diagnostizierte Leszek Koczanowicz (Wrocław) eine tiefe Krise. Vor diesem Hintergrund schlug er einen Rückgriff auf die Theorie Richard Shustermans vor, der in der Tradition des Pragmatismus steht. Dabei betonte Koczanowicz, dass die Pragmatische Tradition Shustermans ein möglicher Verbindungspunkt zu Jahr wäre. Mit dessen Theorie der Somästhetik, also der Rekonstitutionalisierung des Körpers und der Körpererfahrung als Gegenstand philosophischer Erkenntnisse, könne man Fragen der Bioethik neu beantworten. Über den Zugang des Körpers ließen sich wie bei Jahr Tierrechte formulieren.

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Tagungsbericht

Welchen Anteil die protestantische Ethik an Jahrs Konzept habe, fragte Magdalena Ziętek (Aachen). Hierfür stellte sie Jahrs Bioethik den Thesen des katholisch argumentierenden Philosophen Tadeusz Ślipko gegenüber, der eine theozentrische Ethik vertritt. Während der Katholizismus deutlich hierarchischer denkt, würde die protestantische Ethik, und hier auch Jahr, deutlich flachere Hierarchien vertreten, was sich im bioethischen Imperativ zeige. Doch aufgrund seines Weltbildes, das christliche, buddhistische und pantheistische Einflüsse habe, könne Jahr weder dem Biozentrismus noch einer theozentrischen Ethik zugeordnet werden. Diese Uneinheitlichkeit führte die Referentin vor allem auf ein Begründungsdefizit bei Jahr zurück. Geni Maria Hoss (Heidelberg / Curitiba) identifizierte in ihrem Vortrag Aspekte der Bioethik Jahrs mit Teilen des geltenden katholischen Katechismus. Die heute gängige theologische Auffassung in der katholischen Kirche räume der Pflanzenund Tierwelt einen ähnlich hohen Stellenwert ein, wie dies Jahr tat. So sei es in der katholischen Theologie eine mittlerweile übliche theologische Praxis, Tiere in das fünfte Gebot miteinzubeziehen. Diese Entwicklung verdeutliche, dass man in der katholischen Glaubens- und Sittenlehre von einem anthropozentrischen Weltbild abgerückt sei und biozentristische Perspektiven stärker in den Vordergrund rückten. Mit der Fragestellung, ob es eine moralische Pflicht zur Selbsterhaltung gebe, diskutierte Matthias Kaufmann (Halle / Saale) am Beispiel von Jahrs Bioethik eine alte und doch hoch aktuelle moralphilosophische Frage nach dem guten Leben: Wie weit geht die Autonomie des Menschen über sich selbst? Darf der Mensch auch sich selbst gegenüber unethisch handeln – bis hin zum Hand-an-sich-Legen? Im Verlauf seines Vortrags trug Kaufmann zuerst die verschiedenen philosophischen Begründungstraditionen für und gegen eine Pflicht zur Selbsterhaltung vor. Anschließend begründete er mit Jahr die moralische Pflicht zur Selbsterhaltung. In seinem wissenschaftshistorischen Vortrag rekonstruierte Amir Muzur (Rijeka) auf drei Ebenen die Entwicklung der Bioethik Jahrs. Dabei ging er (1) auf die epistemologischen Grundlagen Jahrs selbst ein (Bibel, Pietismus, Kant, Schleiermacher), arbeitete (2) die Entwicklung des Bioethikbegriffs im englischsprachigen Diskurs heraus (Van Rensselaer Potter, Andre Helleger [1928 – 1979]) und stellte (3) ein Tableau auf, das den Vorgang der Wiederentdeckung Jahrs seit Mitte der 1990er Jahre aufzeigte. Dem angloamerikanischen Begriff von Bioethik, der Medizinethik meint, setzte er den von Jahr gegenüber und leitete hiervon eine junge europäische Bioethik-Tradition ab. Bereits in ihren Eröffnungsreden hatten die drei Kooperationspartner des Arbeitskreises, Steger, Kaniowski und Joerden, auf dessen Brückenfunktion zwischen Deutschland und Polen gerade im Hinblick auf aktuelle bioethische Fragen hingewiesen und eine internationale Bedeutung Jahrs betont. Dementsprechend war die Tagung auch der Auftakt für eine weitere deutsch-polnische Zusammenarbeit im Bereich der Medizinethik. Mit Fritz Jahrs Werk konnte ein „lokalhistorischer Goldschatz“ (Steger) und reicher Fundus an konzeptionellen Entwürfen für eine bioethi-

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sche Debatte im internationalen Kontext freigelegt werden. Dank der finanziellen Förderung der Tagung durch die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung (DPWS) und der finanziellen Unterstützung des Abendvortrags durch Die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina konnten Jahrs Texte wiederentdeckt, analysiert und auf gegenwärtige bioethische Fragestellungen angewandt werden. Die von Jahr aufgestellten Thesen gilt es auch künftig weiterzudenken, so auch innerhalb des 2013 erscheinenden Tagungsbandes. Der Tagung ist es mit Hilfe des interdisziplinären Ansatzes gelungen, einen wichtigen Impuls für die Wiederentdeckung des Vaters der Bioethik und seiner Arbeiten zu bioethischen Fragen, die in vielen unterschiedlichen Organen erschienen sind, zu geben. So setzten sich die internationalen Vertreter(innen) verschiedener Bereichsethiken einerseits direkt mit Fritz Jahrs Texten auseinander und verdeutlichten die Vielseitigkeit seines bioethischen Ansatzes. Andererseits wendeten sie die Überlegungen Fritz Jahrs – beispielsweise zur Tierethik – auf gegenwärtige Debatten an und konnten mit einer jeweils disziplinspezifischen Perspektive aktuelle bioethische Fragestellungen aufgreifen. Resümierend bleibt festzuhalten, dass das Werk von Fritz Jahr, das nicht nur auf medizinethische Fragestellungen anzuwenden ist, sondern auch Potential für andere Bereichsethiken bietet, bisher zu Unrecht weitgehend ignoriert wurde. Maximilian Schochow / Jonas Grygier

Rezension – Recension

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Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz, mentis, Paderborn 2010, 137 S., ISBN 978- 3-89785-719-3 Kants Rechtslehre hat eine eigentümliche Wirkungsgeschichte. Nach einem hoffnungsvollen Start (um das Jahr 1800 gibt es etliche Kommentare zur Rechtslehre) hat das Buch in den nächsten anderthalb Jahrhunderten kaum jemanden gefunden, der es wirklich gelesen hat. Es ist praktisch nur als Steinbruch benutzt worden, und das (gemessen an anderen Werken Kants) auch nur eher selten. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich eine Reihe von Philosophieprofessoren des Buches angenommen. Den Philosophieprofessoren sind dann die Juristen gefolgt. Aber auch heute machen sich wenige Juristen die Mühe, das Buch als ganzes zu lesen, obwohl gerade auch Juristen brauchbare Beiträge zu seinem Verständnis liefern könnten. (Es ist schließlich so, daß Kant in dem Buch juristische Themen behandelt!) Das hier angezeigte Werk – der Verfasser ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Bremen – hat schon deshalb seine Verdienste, weil es sich mit einem schwierigen, sperrigen Text befaßt, vor dem so mancher zurückschreckt. Der Autor bemüht sich, Kants Rechtslehre um der Rechtslehre willen zu verstehen, und der Rezensent weiß sich mit ihm darin einig, daß für die Interpretation der Rechtslehre das maßgeblich ist, was Kant tatsächlich geschrieben hat (und nicht das, was Kant nach Meinung so mancher Interpreten lieber hätte schreiben sollen). Dies vorausgeschickt, kann der Rezensent doch mit einiger Kritik nicht zurückhalten. Die Haupt-These des Buches richtet sich gegen den „Besitzindividualismus“ der „bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Eigentumsordnung“ (vgl. S. 77). Sie lautet, Kant suche „nach einem Rechtsbegriff, der fundamentaler ist als der für die bürgerliche Eigentümergesellschaft spezifische Begriff des Privateigentums.“ Der Verfasser trägt vor, Kant habe diesen Begriff in dem Begriff des intelligibelen Besitzes gefunden (S. 70). Nun kann zwar kein Zweifel sein, daß intelligibeler Besitz nicht dasselbe ist wie Eigentum. Denn ich bin nicht Eigentümer der Willkür meines Schuldners, ich bin auch nicht Eigentümer meiner Ehefrau oder meines Kindes, und beide Fallgruppen werden vom Begriff des intelligibelen Besitzes erfaßt (§ 4 der Rechtslehre). Der Verfasser behauptet aber außerdem, daß der intelligibele Besitz einer Sache nicht dasselbe sei wie das Eigentum an dieser Sache. Damit stellt sich die Frage, was intelligibeler Besitz einer Sache denn sein soll, wenn er nicht dasselbe ist wie Eigentum. Eine Begriffsbestimmung gibt der Verfasser nicht. Statt dessen arbeitet er mit einem Beispiel, mit dem Pflug auf dem Felde, der noch im Besitz des Bauern ist, auch wenn der Bauer sich von dem Feld weit entfernt hat (S. 71-75). Leser, die sich an ihr Jura-Studium erinnern, erkennen das wieder. Im deutschen Zivilrecht gibt es die berühmte „Verrechtlichung“ des Besitzbegriffs, nach der der Bauer den Pflug immer noch „besitzt“, auch wenn er sich in weiter Entfernung von dem Pflug befindet und der Pflug dem Zugriff von jedermann ausgeliefert ist, der Bauer also die für den „Besitz“ eigentlich erforderliche „tatsächliche Gewalt“ über den Pflug (§ 854 BGB) längst aufgegeben hat. Der Verfasser geht auf die juristische Diskussion über die „Verrechtlichung“ des Besitzbegriffs nicht ein, aber der „verrechtlichte“ Besitz der deutschen Zivilrechtler und Kants intelligibeler Besitz, so wie der Autor ihn versteht, sehen sich in hohem Maße ähnlich. Hat Kant die Verrechtlichung des Besitzbegriffs vorweggenommen, die deutschen Juristen dann gut hundert Jahre später (wieder?) eingefallen ist? Nun ist der Interpretationsvorschlag, den der Verfasser macht, zwar vielleicht interessant, aber der Verfasser hätte auch zeigen müssen, daß Kant tatsächlich von diesem und nicht von einem anderen Begriff des intelligibelen Besitzes ausgeht. Der Autor führt zwar sehr allgemeine Gründe dafür an, warum der von ihm vorgeschlagene Besitzbegriff vorzugswürdig sei (etwa: der Begriff sei „grundlegend für eine jede Rechtsordnung überhaupt“ – S. 70). Aber aus der Quelle selbst (sprich: aus der Rechtslehre selbst) heraus argumentiert der Verfasser

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nicht. Die Quelle selbst sagt sogar durchaus etwas anderes als der Verfasser. Nach § 4 der Rechtslehre gibt es drei Gruppen von „äußeren Gegenständen meiner Willkür,“ die „das rechtlich Meine“ (6:245,9 = Akad.-Ausgabe Bd. 6 S. 245 Z. 9) sein, also in meinem intelligibelen Besitz sein können. Die erste Gruppe ist die der „(körperlichen) Sachen außer mir,“ und § 4 charakterisiert diese Gruppe durch die Kategorie der „Substanz“ (im Unterschied zu den Kategorien der „Kausalität“ und der „Gemeinschaft“, durch die die beiden anderen Gruppen charakterisiert werden). Auf diese Stelle bezieht sich die Schlußbemerkung zu § 17 der Rechtslehre (6:270,10 ff.), wo es heißt, daß „der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemandem ist, … dessen Eigentum (dominium)“ sei. Deutlicher kann man kaum sagen, daß der intelligibele Besitz einer Sache dasselbe ist wie das Eigentum an dieser Sache. Zwar erwähnt der Autor die Schlußbemerkung zu § 17 als eine „beiläufige Anmerkung“ (S. 70), aber er setzt sich inhaltlich nicht mit ihr auseinander. Das einzige Argument, das er bringt, ist vielmehr dies, daß das Wort „Eigentum“ in den §§ 1 – 9 der Rechtslehre überhaupt nicht, sondern zum ersten Male in der Schlußbemerkung zu § 17 vorkomme. Doch ist das kein besonders gutes Argument, vor allem deswegen, weil sich die Tatsache (daß das Wort „Eigentum“ in den §§ 1 – 9 nicht vorkommt) allzu leicht damit erklären läßt und auch damit erklärt werden muß, daß es Kant in den §§ 1 – 9 ganz allgemein um den intelligibelen Besitz und damit auch um den intelligibelen Besitz der Willkür meines Schuldners und den intelligibelen Besitz meiner Ehefrau oder meines Kindes geht, also um Formen des (intelligibelen) Besitzes, die man eben nicht „Eigentum“ nennen kann. Sieht man also genauer hin, dann wird es im Endeffekt wohl so sein, daß Kants Begriff des intelligibelen Besitzes einer Sache mit dem „für die bürgerliche Eigentümergesellschaft spezifischen Begriff des Privateigentums“ identisch ist. In der „Allgemeinen Anmerkung B“ macht Kant denn auch einige eindringliche Bemerkungen zum Eigentum am Boden. Vor allem kann der „Obereigentümer“, d.i. der Souverän, sei die „Staatsform“ nun „autokratisch oder aristokratisch oder demokratisch“ (6:338,34 – 35), „kein Privateigentum an irgend einem Boden haben (denn sonst machte er sich zu einer Privatperson).“ Vielmehr gehört der Boden „nur dem Volk (und zwar nicht kollektiv, sondern distributiv genommen)“, was heißen soll, daß nicht nur Staatseigentum, sondern auch „Volkseigentum“ ausgeschlossen ist und nur einzelne Personen Privateigentum am Boden haben können. Denn wäre das nicht so, „so würde der Staat Gefahr laufen, alles Eigentum des Bodens in den Händen der Regierung zu sehen, und alle Untertanen als grunduntertänig (glebae adscripti) und Besitzer von dem, was immer nur Eigentum eines anderen ist, folglich aller Freiheit beraubt (servi) zu sehen“ (6:324,2 – 14). „Glebae adscripti“ sind Menschen (Bauern), die an die Scholle gebunden sind, „servi“ sind Sklaven. Danach ist die Möglichkeit von Privateigentum (am Boden und an anderen Sachen) eine notwendige Bedingung für die Freiheit der Menschen. Leider geht der Verfasser auf die „Allgemeine Anmerkung B“ nicht ein. Auch sonst sind die Opfer erheblich, die der Autor für seine These bringt, Kants intelligibeler Besitz einer Sache sei nicht Eigentum an dieser Sache. Verloren gehen beispielsweise die Differenzierungen, die Kant ganz allgemein zum Besitz macht. Kant unterscheidet den „physischen“ oder „sinnlichen Besitz“ (6:245,16 – 21) von 1) dem „empirischen Besitz“ (der auch „Inhabung“ heißt) einerseits und 2) dem „reinen Verstandesbegriff eines Besitzes“ (dem „Haben“, nämlich daß etwas „als in meiner Gewalt gedacht werde“) andererseits (6:253,6 – 12), wobei „physischer Besitz“ („sinnlicher Besitz“) der Gattungsbegriff zu den Artbegriffen „empirischer Besitz“ und „reiner Verstandesbegriff des Besitzes“ ist. Dem „physischen Besitz“ in seinen beiden Arten steht dann der „Rechtsbegriff“ des Besitzes, „der bloß in der Vernunft liegt,“ gegenüber (6:253,4 – 5), der auch „intelligibeler Besitz“ heißt. Dabei ist klar, daß der

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Vernunftbegriff des Besitzes vom Verstandesbegriff des Besitzes zu unterscheiden ist (etwa 6:268,12 – 20). Das alles kann in § 1, § 7 und § 17 der Rechtslehre nachgelesen werden. Dieser relativ hohen Ausdifferenzierung des Besitzbegriffs wird die bloße Gegenüberstellung von „physischem Besitz“ (den Rühl mit dem „empirischen Besitz“ gleichsetzt!) und „intelligibelem Besitz“ (S. 71 f.) nicht gerecht. Die Reduktion der Besitzlehre auf zwei Begriffe läuft darauf hinaus, daß das, was Rühl „intelligibelen Besitz“ nennt, zum größeren Teil eigentlich Kants „reiner Verstandesbegriff des Besitzes“ ist, und der reine Vernunftbegriff des Besitzes, d.i. das, woran Kant interessiert ist, kommt dabei zu kurz. Ein Verlust ist es auch, daß der Autor nicht auf den Unterschied zwischen dem „bloßen physischen Besitz“ eines Bodens, der auch „possessio“ heißt, und dem „Sitz (sedes)“ (§ 6 und § 13 der Rechtslehre) eingeht. Der erstere, der bloße physische Besitz eines Bodens ist „noch nicht hinreichend, ihn als das Meine anzusehen“ (6:251,23 – 25), während der Verfasser meint (S. 87), der physische Besitz „gehöre“ „zum angeborenen Freiheitsrecht (dem inneren Meinen)“! Die Simplifizierung der Besitzlehre führt denn auch zu anderen unannehmbaren Positionen des Autors. Bekanntlich führt Kant, etwa in § 13 der Rechtslehre, den Begriff des „ursprünglichen Gesamtbesitzes“ ein, um den ursprünglichen Erwerb von Sachen, insbesondere von Teilen des Erdbodens, durch einen einseitigen Bemächtigungsakt zu rechtfertigen. Rühl fragt, „in welcher der zwei Bedeutungen des Besitzbegriffs (physisch, intelligibel) der Begriff des Gesamtbesitzes hier zu verstehen sein soll“, und er kommt zu dem Ergebnis, in Betracht komme nur ein „gedachter, intelligibeler Gesamtbesitz“ (S. 98 f.). Vor diesem Hintergrund kritisiert der Autor den § 13 als in sich widersprüchlich. „Denn wenn sich der Boden vernunftrechtlich in einem ursprünglichen Gesamtbesitz der Menschheit befindet, dann ist er nicht herrenlos.“ [Ich ergänze: Kant setzt aber die Herrenlosigkeit des Stücks des Erdbodens voraus, dessen ich mich zum Zwecke der Aneignung bemächtige, anderenfalls der Akt des Sich-Bemächtigens und die Aneignung rechtswidrig wären.] „Und dann ist der Bodenerwerb nicht mehr ursprünglich, sondern von der ursprünglichen Gemeinschaft abgeleitet.“ (S. 106) An dieser Stelle wäre besondere Vorsicht geboten gewesen. Kant eines Selbstwiderspruchs zu bezichtigen, ist zwar eine verbreitete Sportart. Aber ist es nicht vielleicht so, daß der Widerspruch nicht bei Kant, sondern bei der Interpretation liegt? Tatsächlich ist der ursprüngliche Gesamtbesitz ein „physischer Besitz“, der aber mit einem Recht verbunden ist (vgl. 6:251,23 – 25), nämlich mit einem Recht auf einen Platz auf dieser Erde, das jeder gegen jeden anderen hat. Wir Menschen (alle Menschen) bilden mit Blick auf dieses Recht eine „Gemeinschaft“, aber nicht etwa eine Eigentümergemeinschaft oder eine Gebrauchsgemeinschaft (so Kant ausdrücklich, etwa in 6:352,15 – 17), sondern eine Gemeinschaft von Anspruchsinhabern. Um unsere Ansprüche zu realisieren, bedarf es einer Partikularisierung des Bodens, die notwendigerweise vor der Gründung eines rechtlichen Zustandes geschieht. Kant spricht das Problem in § 16 der Rechtslehre an, worauf der Autor jedoch nicht eingeht (S. 107 f.). Dem „Gemeinbesitze des Erdbodens“ „entspricht“ (6:250,19 – 22) ein „a priori vereinigter (d.i. durch die Vereinigung der Willkür aller, die in ein praktisches Verhältnis gegeneinander kommen können) absolut gebietender Wille“, der „nicht zufällig, sondern a priori, mithin notwendig vereinigt und darum gesetzgebend“ ist (6:263,20 – 27). Dieser Wille ist das eigentliche Kernstück der Lehre vom ursprünglichen Gesamtbesitz. Von ihm gehen die Gesetze aus, die im Naturzustand gelten. Der Autor verstellt sich den Blick auf die Bedeutung dieses ursprünglich und a priori vereinigten Willens durch die (von ihm nicht begründete) These, daß es „im Naturzustand“ „noch keinen vereinigten Willen“ gebe (S. 100; S. 107). Es gibt in dem Buch einige Passagen, bei denen ich dem Verfasser überhaupt nicht mehr folgen kann. So behauptet der Autor, daß die Überschrift zu § 10 („Allgemeines Prinzip der

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äußeren Erwerbung“) nicht halte, was sie verspricht, weil sich das Prinzip auf alle drei Gruppen äußerer Gegenstände meiner Willkür beziehen müßte, § 10 aber genau das nicht leiste, „weil die ‚drei Momente (attendenda) der ursprünglichen Erwerbung‘ nur für das Sachenrecht gelten; denn nur Sachen können ursprünglich erworben werden“ (S. 95 – 96). Lese ich aber 6:258,22 – 27, dann finde ich dort „das Prinzip der äußeren Erwerbung“ formuliert, und zwar gültig für alle drei Gruppen äußerer Gegenstände meiner Willkür. Der folgende Absatz 6:258,28 – 259,4 betrifft zwar nur ursprüngliche Erwerbungen und damit nur die Erwerbung von Sachen, aber er ist deutlich die Anwendung des voranstehenden Prinzips der äußeren Erwerbung auf ursprüngliche Erwerbungen. In dieser Gliederung des § 10 kann ich keinen Fehler (Kants) erkennen, auch nicht im Hinblick auf die Überschrift. Zum Schluß noch einige Bemerkungen zum Inhalt des Rechts auf äußere Freiheit. Die Meinungsäußerungsfreiheit wird von Kant ausdrücklich erwähnt. Sie ist die Befugnis, anderen „bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig oder unwahr und unaufrichtig …, weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht“ (6:238,5 – 9). Der Verfasser zeigt sich überrascht, „daß auch unwahre und unaufrichtige Mitteilungen vernunftrechtlich erlaubt sein sollen,“ weil dies „überhaupt nicht zu Kants üblichem Rigorismus in Sachen Lügenverbot paßt“ (S. 59). Darauf wird man antworten müssen, daß mehr als für ein ethisches Verbot zu lügen Kant für die Freiheit eintritt. Wäre das Mitteilungsrecht auf korrekte Mitteilungen eingeschränkt, dann könnte jeder, dem inkorrekte Mitteilungen zu Ohren kommen, gegen diese Mitteilungen einschreiten, notfalls mit Gewalt. Es ist eine Sache, ob mir mein Gewissen verbietet, die Unwahrheit zu sagen (das ist die ethische Seite). Es ist eine andere Sache, ob andere Leute darüber wachen, daß ich immer die Wahrheit sage, weil ich kein Recht habe, die Unwahrheit zu sagen. Wenn jeder einschreiten darf, wenn ich inkorrekte Mitteilungen mache, ist der Weg in die Diktatur offen. Was den Kernbereich des Freiheitsrechts angeht, hat sich der Verfasser von der Sekundärliteratur irreführen lassen. Er konstatiert, daß Kant im Zusammenhang mit dem Freiheitsrecht nicht die (Grund)-Rechte nenne, die ein moderner Leser erwarten würde (S. 58; vgl. auch S. 61). Ich nehme an, daß der Autor damit u. a. das Recht auf Leben und das auf körperliche Unversehrtheit meint, die von Kant in 6:237,27 – 238,11 nicht besonders erwähnt werden. Rühl diskutiert u. a. die These von der „Anthropologiefreiheit“ der Rechtslehre (S. 62 – 65). Aber die an sich sehr einfache Lösung des Problems findet er nicht. Die Lösung liegt in der Definition der äußeren Freiheit, die zwar in der Sekundärliteratur überall wiedergegeben, aber nicht ernstlich analysiert wird. Freiheit ist (nach Kant) die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (6:237,29). Das entscheidende Wort, das die Lösung enthält, ist das Wort „nötigend“, durch das die Willkür des (nötigenden) anderen gekennzeichnet wird. Nötigung ist in ALR II 20 § 1077 (nicht viel anders als im heutigen § 240 StGB) u. a. durch die Anwendung von Gewalt definiert. Außerdem steht fest, daß Kant sich mit dem ALR von 1794 befaßt hat. Danach ist Nötigung durch die Willkür eines Menschen auch bei Kant das In-Not-Bringen eines (anderen) Menschen durch Gewalt. „Freiheit“ bedeutet deshalb, daß ich von anderer Leute Gewaltanwendung unabhängig bin. Die Tötung eines Menschen ist ein Fall von Gewaltanwendung. Dasselbe gilt für eine Körperverletzung. Tötung oder Körperverletzung verletzen damit das Freiheitsrecht des Opfers. Oder mit anderen Worten: Das Recht auf Leben und das auf körperliche Unversehrtheit gehören zum Kernbereich des Rechts auf äußere Freiheit. Deshalb werden sie nicht besonders erwähnt. Der „moderne Leser“ erwartet einen Katalog von heterogenen Grundrechten, weil er an solche Kataloge gewöhnt ist. Kant geht es, in der Rechtslehre wie auch anderswo, um die logische Einheit und Einfachheit seiner Gedanken. Joachim Hruschka

Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Contributors and Editors Babo, Markus, Prof. Dr., Katholische Stiftungsfachhochschule München, Preysingstraße 83, D-81667 München E-Mail: [email protected] Bernstein, Alyssa R., Prof. Dr., Department of Philosophy, Ohio University, Ellis Hall, Room 220D, Athens, OH 45701 USA E-Mail: [email protected] Brandt, Reinhard, Prof. em. Dr., Universität Marburg, Institut für Philosophie, Augustinergasse 2, D-35037 Marburg E-Mail: [email protected] Byrd, B. Sharon, Prof. Dr., Law & Language Center, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Carl-Zeiss-Straße 3, D-07743 Jena E-Mail: [email protected] Calliess, Christian, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Lehrstuhl für öffentliches Recht und Europarecht, Boltzmannstraße 3, D-14195 Berlin E-Mail: [email protected] Campagna, Norbert, Prof. Dr., professeur-associé an der Université du Luxembourg, Privatanschrift: 3, allée des Marronniers, F-54560 Serrouville E-Mail: [email protected] Consani, Cristina F., Rua Hélio Galvão, 140, Picasso Flat, Ponta Negra, 59090-070 Natal / RN, Brasil E-Mail: [email protected] Dietrich, Frank, Prof. Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Philosophie, Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Universitätsstraße 1, D-40225 Düsseldorf E-Mail: [email protected] Grygier, Jonas, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Magdeburger Straße 8, D-06112 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Hruschka, Joachim, Prof. Dr., Universität Erlangen, Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Schillerstraße 1, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected]

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Contributors and Editors

Kirste, Stephan, Univ.-Prof. Dr., Universität Salzburg, Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Bereich Rechts- und Sozialphilosophie, Churfürststraße 1, A-5020 Salzburg E-Mail: [email protected] Körtner, Ulrich H. J., Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Wien, Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Spitalgasse 2-4, A-1090 Wien E-Mail: [email protected] Lauth, Hans-Joachim, Prof. Dr., Universität Würzburg, Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre, Wittelsbacherplatz 1, D-97074 Würzburg E-Mail: [email protected] Leisner-Egensperger, Anna, Prof. Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Steuerrecht und Öffentliches Recht, Carl-Zeiss-Straße 3, D-07743 Jena E-Mail: [email protected] Ludwig, Bernd, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Philosophisches Seminar, Humboldtallee 19, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Mabe, Jacob Emmanuel, Dr. Dr. Dr. habil., visiting professor, Bishop Barham University College, Kabale, Uganda; Privatdozent, Freie Universität Berlin, Frankreichzentrum, Rheinbabenallee 49, D-14199 Berlin E-Mail: [email protected] Pinheiro Walla, Alice Dr., Trinity College, Department of Philosophy, Arts Building, Dublin 2, Ireland E-Mail: [email protected] Rothhaar, Markus, Prof. Dr., Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Lehrstuhl für Bioethik, Ostenstr. 26, D-85071 Eichstätt E-Mail: [email protected] Pinzani, Alessandro, Prof. Dr., Departamento de Filosofia do CFH / UFSC, Campus Universitário Trindade, 88040-900 Florianópolis / SC, Brasil E-Mail: [email protected] Schochow, Maximilian, Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Magdeburger Straße 8, D-06112 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Taekema, Sanne, Prof. Dr., Erasmus University Rotterdam, Erasmus School of Law, Postbus 1738, NL-3000 DR Rotterdam E-Mail: [email protected]

Personenverzeichnis / Index of Names Aegidius Romanus 27 Archenholz, Johann Wilhelm 37 Aristoteles (Aristotle) 207, 309, 314, 322 Arnold, August 40 Baron, Marcia 307 Barth, Karl 67, 70 Baumgarten, Alexander Gottlieb 279 f. Beck, Lewis White 310 Becker, Michael 91 Benjamin, Walter 318 Berlin, Isaiah 272 Blackstone, William 28 f., 48, 51 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 63 ff., 68, 82 Bodin, Jean 4, 154 Bracton, Henry of 26 ff., 31, 39, 46, 48 f. Brandt, Reinhard 267 Buchanan, Allen 187, 189, 193 ff. Burke, Edmund 28 Byrd, B. Sharon 237, 238 ff., 260 Campenhausen, Axel von 81 Cartwright, John 112 Cohen, Alix 321 Coke, Edward 27 f., 31, 37 Condorcet, Marquis de 111, 121 ff. Dahl, Robert A. 87, 89 ff., 94f. Darwin, Charles 326 Descartes, René 280 Dicey, Albert Venn 29, 135 Dworkin, Ronald 36, 88, 91, 135 Erhard, Johann Benjamin 317 Falcioni, Daniela 263, 265 Fallon, Richard 33 Feuerbach, Anselm 266 Fichte, Johann Gottlieb 224, 228 f., 231, 233

Fried, Charles 226 Fuller, Lon 32, 36, 133 f., 139 ff., 143, 145 f. Gehlen, Arnold 68 Gneist, Rudolf von 25, 44 ff., 49, 51 ff., 56 Gregor, Mary 307, 310, 320 Habermas, Jürgen 66 f., 91 f., 129 Hart, H. L. A. 138 Hayek, Friedrich August von 23, 113, 134 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 38, 65, 102 Helleger, Andre 328 Herbert, Franz Paul von 313 Herbert, Maria von 309, 313 f., 316 f., 322 Herms, Eilert 68 Herrfahrdt, Heinrich 54 Hesse, Konrad 105 Hill, Thomas E., Jr. 245, 307, 308 Hirsch, Philipp Alexander 263, 276 Hobbes, Thomas 4, 27, 49, 118, 170 f., 245, 262 f., 277 f. Hodgson, Louis-Philippe 243, 258, 260 Höffe, Otfried 183 f. Holmes, Oliver Wendell, Sr. 32, 38 Holmes, Steven 88, 96, 113, 116, 120 Honecker, Martin 66 Horace 309 ff., 321 Horn, Laurence R. 314 Hösle, Vittorio 264 Hruschka, Joachim 237, 238 ff., 260 Huber, Wolfgang 68 f. Humboldt, Wilhelm von 19, 37 Jahr, Fritz 325 ff. Jefferson, Thomas 111 ff. Jellinek, Georg 25, 47 ff., 56 Jennings, Ivor 32 Joerden, Jan C. 248, 325, 327 f. Jonas, Hans 13 Joseph II. 313

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Personenverzeichnis / Index of Names

Kagan, Shelly 225 Kahn, Paul W. 30, 36 Kaniowski, Andrzej M. 325 f., 328 Kant, Immanuel 37, 42, 47, 65, 91, 173, 183, 228, 237 ff., 261 ff., 271 ff., 307 ff., 326, 328, 333 ff. Kantorowicz, Ernst H. 26 Kay, Richard S. 116 f. Kelsen, Hans 25, 66, 94, 191 Kiefner, Hans 262 Kleingeld, Pauline 251, 254, 256 f. Kleist, Heinrich von 262 Korsgaard, Christine 246 Kreß, Hartmut 68 Kriele, Martin 23, 89 Langton, Rae 313 Leibniz, Gottfried Wilhelm 278 Lieber, Franz 44 Lijphart, Arend 94 Locke, John 35, 49 f., 91, 118 Ludwig XIV. 102 Ludwig, Bernd 317 Luther, Martin 68, 70, 74 MacCormick, Neil 34 Madison, James 111 ff. Mahon, James Edwin 313 Maus, Ingeborg 89 ff. McCarthy, Leonard 185 Mendelssohn, Moses 263 Michelman, Frank I. 256, 260 Mittermeier, Carl Joseph Anton 40 Mohl, Robert von 25, 36, 41 ff., 52 f., 56 Montesquieu, Charles de 30, 50, 53, 171 Motherby, Elisabeth 318 Motta, Guiseppe 264 Murhard, Friedrich 39 f. Nagel, Thomas 222 Naticchia, Chris 187, 197 Neumann, Franz 93 Nietzsche, Friedrich 326 Nozick, Robert 221 f., 227 f. Paine, Thomas 30, 111 f., 120, 122 Pannenberg, Wolfhart 68 Paton, Herbert James 307

Pawlik, Michael 220 Pippin, Robert 246 Platon 206, 212 f. Platz, Jeppe von 242, 260 Potter, Van Rensselaer 326, 328 Pound, Roscoe 31 Pufendorf, Samuel von 263 Radbruch, Gustav 53, 66 Rawls, John 172, 255 Raz, Josef 33, 135, 140 f. Reich, Klaus 263 Reuter, Hans-Richard 68 Rhonheimer, Martin 225 Ripstein, Arthur 243 f., 257 f. Ritzel, Wolfgang 318 Rosenfeld, Jonathan 35 Rousseau, Jean-Jacques 50, 91, 106, 115, 127, 262 Rühl, Ulli F. H. 333 ff. Rüttimann, Johann Jakob 45 Scheffler, Samuel 224, 226 f., 230 f. Schleiermacher, Friedrich 78, 328 Schmitt, Carl 65 Schopenhauer, Arthur 326 Schweitzer, Albert 326 Shusterman, Richard 327 Ślipko, Tadeusz 328 Steger, Florian 325, 328 Stein, Lorenz von 38 Sussman, David G. 256, 260 Tamanaha, Brian Z. 23, 33, 134, 141 Theodosius II. 152 Thoma, Richard 25 Timmermann, Jens 307, 317 Twellmann, Marcus 262 Unger, Roberto Mangabeira 32 Vallespín, Fernando 68, 92 Waldron, Jeremy 117 ff., 133 ff., 172 f. Walzer, Michael 187 Weber, Max 4, 29, 116 Wendeborn, Gebhard Friedrich August 37

Personenverzeichnis / Index of Names Westphal, Kenneth R. 246 Williams, Bernard 221 f., 226, 233 Williams, Howard 239, 246, 251, 253 Wolf, Ernst 68 f.

Wolf, Ursula 309 Wolff, Christian 280 Wolff, Michael 263 Wood, Allen 246

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Sachverzeichnis / Index of Subjects Agency 133 ff. Akteursneutralität 221, 223 f., 227 f., 232 Akteursrelativität 219 ff. Anerkennungsprinzip 230 ff. Asyl 149 ff., 160 ff. Asylverfahren 159, 161, 163 Aufrichtigkeit (Uprightness) 315 ff. Auslieferung 153, 155 Austria (Österreich) 77, 313, 318 Auswanderungsfreiheit 154 ff. Autonomie 91, 94, 211, 228, 281, 284, 289, 296, 328 Avarice (Habgier) 310 Barbarism 248 Barmer Theologische Erklärung 74 Basale Rechte 91 ff. Beteiligung 16 f. Beweislastumkehr 13 ff., 17 f. Bioethischer Imperativ 325, 327 f. Candour; s. a. open heartedness 312, 314 ff. Character 313 f. Concept of law 133, 138, 141 Constitutionalism 85, 87, 96, 98, 111 Constitutive theory 191, 193 Critical Legal Studies 31 Declaratory theory 191, 193 Demokratie 32 f., 46, 54 f., 63 ff., 83 ff., 99, 102 f., 106, 108 f., 130, 162, 205 Deontologie 219 ff., 227, 230 ff. Despotism 248 Diakonie 81 Dignity (Würde) 52, 55, 69, 71, 80, 82, 94, 133 ff., 170, 172 f., 180, 184, 186, 206, 209, 212 ff. Doctrine of right 237, 241, 247, 250 ff., 255, 316 f. Doctrine of the Man 309

Duties 307 ff., 315 ff., 318 ff. Duties, imperfect 307 ff., 319 Duties, perfect 308 Education (political / civic) 123 f., 126, 128 f. Eid 261 ff. End(s) 307, 311 f., 318 f., 321 End(s), moral 307 ff., 312, 317 f., 320 f. Ethik – Bioethik 325 ff. – Forschungsethik 327 – Katholische Ethik 328 – Medizinethik 328 – Protestantische Ethik 328 – Rechtsethik 65, 68, 107 f. – Theozentrische Ethik 328 Evil 238 f., 241 f., 244, 249, 314 Excess 309 ff., 321 Experiment – Humanexperiment 327 – Milgram-Experiment 327 – Tierexperiment 327 f. Faktum der reinen praktischen Vernunft 285, 287, 296, 305 Fault (Peccatum) 311 f. Federalists 31 Fehde 152 f. Flüchtlinge 150 ff. Folgerichtigkeit 104 Formal rule of law 31, 33, 134 ff., 139 f., 143 f. Formaler Rechtsstaat 34, 64, 83 ff., 87, 90, 97 f. Freedom, s. a. Freiheit 19 f., 55, 82, 112, 126, 134, 136, 138 f., 188, 194, 215, 242, 249 f., 256 f., 259, 304 Freiheit; s. a. freedom 228 ff., passim Freiheit, negativer Begriff 271 ff. Freiheit, postitiver Begriff 271 ff.

Sachverzeichnis / Index of Subjects Freiheit, praktische 272, 275 ff., 282 f., 290 ff. Freiheit, transzendentale 272 f., 276 ff., 282 ff., 286 ff., 290 ff. Frieden (peace) 71, 154, 170, 197, 209, 237 ff., 260, 266 Gefahrenabwehr 3, 8, 9 f., 12, 17 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 75 f., 80 General Jurisprudence 137 Gerechtigkeit 162, 178 ff., 185, passim Gewaltenteilung 4, 24, 34, 50, 63, 71 f., 79, 84, 102, 266 Gewaltmonopol 3 ff., 19 Gewissen 156, 162, 209, 210 ff., 336 Gnade 156, 158, 181, 183 Grundrechte 102, 108, passim Haftungsrecht 8 f. Hikesie 150 f., 154 Human rights 82, 141, 143 f., 164, passim Immunität 153, 176 Imperativ, bioethischer 325, 327 f. Imperativ, kategorischer 227 f., 266, 281, 285, 291, 297, 299, 301, 326 Interactionism 133, 140 International law 133, 142 ff., 187 ff., 191 ff., 237, 249, 256 ff. Interzession 151, 153 f. Ius gentium 134, 142, 144 ff. Juridical (condition, state) 237 ff., 247 ff., 254 ff. Kategorischer Imperativ 227 f., 266, 281, 285, 291, 297, 299, 301, 326 Kirche, evangelische 64, 69 ff., 80 f. Kirche, römisch-katholische 64, 76, 80 f., 154, 328 Kirchenasyl 149 ff., 160 ff. Kirchenordnung / Kirchenverfassung 75 ff. Konkordanz, praktische 105 Konsensdemokratie 94 Konsequenzialismus 219 f., 222 f., 225 ff., 231 Konstitutionalismus 24, 32, 36, 55, 78, 83, 86, 95 f., 101, 109, 130

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Krankheit 326 Krieg (war) 237 ff. Laster (vice) 308 f., 310 ff. Latitude 307 ff., 311, 315 f., 319 ff. Law, international 133, 142 ff., 187 ff., 191 ff., 237, 249, 256 ff. Law, supremacy of 29, 31 Law, transnational 142, 144 f. Legal consciousness 138 Legal philosophy 135 f., 138, 145 Legalität 65, 101, 105 ff., 109, 186 Love, ideal 313 Lying 309, 311 f., 313 ff. Marbury v. Madison 31, 40, 50 Materieller Rechtsstaat 6, 33, 83, 85, 88, 90, 93 f., 96 f., 102, 161, 205 Maxim(s) 307 ff., 314 ff. Maxim(s), contradictory 312, 314 Maxim(s), contrary 312, 314 Mehrheitsdemokratie 94 f. Menschenrechte 63, 69 ff., 79, 81, 157, 160, 162 ff., passim Menschenwürde; s. a. Würde 4, 55, 63, 67, 71 f., 79, 108, 160, 205, 212, 214 Micrology (Mikrologie) 320 Montevideo Convention 190, 193 Moral 65 ff., 235 ff., 307 ff., passim Naturrecht 23, 26 ff., 30 f., 35, 45, 51, 53, 64, 67 f., 228, 267 Open heartedness (Offenherzigkeit); s. a. candour 315 ff. Österreich (Austria) 77, 313, 318 Paradox der Deontologie 221 f., 227, 230 Participation 122, 124 ff., 129, 136 Peace (Frieden) 71, 154, 170, 197, 209, 237 ff., 260, 266 People 111, 114 ff., 120 ff., 130, passim Person 292 ff., 296 f., passim Pietismus 328 Potentia tremenda 238 f. praktische Konkordanz 105 Presumption of badness 238 f., 241 ff., 249

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Sachverzeichnis / Index of Subjects

Primary political rights 87, 89 f. Privatrecht 8 f., 261 ff., 264 ff. Procedural rule of law 133 ff., 143 Prozeduralisten 83, 86 f., 89 f., 90, 92, 96 f. Prudence 238, 241 f., 307 ff. Quasi-state 188 f., 192, 196, 199 Rache 179, 181 f. Realistic utopia 255 Recht 63 ff., passim Rechte, basale 91 ff. Rechtsbewusstsein 168 Rechtsbindung der Staatlichkeit 103 ff. Rechtsethik 65, 68, 107 f. Rechtsgesetz 297 ff., 302 f. Rechtsklarheit 104 Rechtsstaat; s. a. rule of law 3 ff., 83 ff., 99 ff., 104, 106, 141, 160, 162, 167 ff., passim Rechtsstaat, formaler 34, 64, 83 ff., 87, 90, 97 f. Rechtsstaat, materieller 6, 33, 83, 85, 88, 90, 93 f., 96 f., 102, 161, 205 Rechtsstaatsprinzip 19, 23 f., 33 ff., 52, 63 ff., 84, 210 Rechtstechnizität 105, 109 Rechtstheologie 67 Rechtswegestaat 100 Reformation 65, 69, 75, 77 Religion 63 ff., 309, 315, 326 Religionsfreiheit 52, 79 ff., 90, 154 Reticence 309, 311 f., 313 ff. Revolution 24, 45, 53, 106, 121, 155, 245 ff., 247 f., 259 f. Reziprozitätsformel 327 Right of nations 240, 250 ff., 257 Right to wage war 238 ff., 248 ff., 250 ff., 255 Risiko 10, 12 f., 15, 18 Rückwirkungsbeschränkungen 104 f. Rule of Law; s. a. Rechtsstaat 19, 23 ff., 82, 93, 98, 101, 105 ff., 109 f., 133 ff., 186, 216, 242, 246 f., 256, 259 Säkularisierung 66, 69 Selbstbewusstsein 205, 228, 291 Selbsterhaltung 328

Selbstrespekt 182 f. Self-Determination 192, 199 ff. Somästhetik 327 Souveränität 24, 70, 102, 154, 156 ff., 266 State (juridical condition) 187 ff., 237 ff. State of nature (international) 237 ff., 244 f., 248 ff., 252 f., 256 ff. State recognition 187 ff. Strafe 152, 168, 170, 172, 175, 232 Straftat, politische 153, 155 Subjektives Recht 34 f., 47 ff., 231 f., 264 Substantive rule of law 133 ff., 136, 143 f. Tetraktys 263 Teufel 293 f., 296 f. Tortura spiritualis 263, 266 Transnational law 142, 144 f. Transparenz 15, 16, 72, 84 Truthfulness 311 f., 314 ff. Tugend (virtue) 114, 307 ff. Ungerechtigkeit 151, 161, 163, 169, 171, 179, 202, 205, 207 f., 212, 214 Uprightness (Aufrichtigkeit) 315 ff. Verantwortung 6 f., 13 Verfahren 5, 16 ff. Verfassung 266, passim Verfassungsstaat 71 ff., 83, 85, 94 ff. Verfolgung, politische 156 ff., 163 Verjährung 170, 173 ff., 176 Vernunftwesen 213, 228, 232, 292 f. Vertrauensschutz 63, 104, 109 Vice (Laster) 308 f., 310 ff. Virtue (Tugend) 114, 307 ff. Volkssouveränität 40, 78, 86, 90, 93 ff., 108 Volkssouveränität (Grenzen) 96 f. Vorsorgeprinzip 10 ff. War (Krieg) 237 ff. War, right to wage 238 ff., 248 ff., 250 ff., 255 Widerstand 73, 154, 162, 208, 212 Will 120 ff., passim Würde (dignity) 52, 55, 69, 71, 80, 82, 94, 133 ff., 170, 172 f., 180, 184, 186, 206, 209, 212 ff.

Sachverzeichnis / Index of Subjects Zivilcourage 205 ff. Zurechnung 278 f., 283, 289, 294, 296 Zwangsbefugnis 297, 300 f.

Zweckformel 327 Zwei-Reiche-Lehre 69 f.

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Hinweise für Autoren Manuskripte sollten mit 1 1 / 2-fachem Zeilenabstand einseitig auf DIN A 4 Bogen geschrieben sein (36 Zeilen à 60 Anschläge = 3 / 4 Druckseite), sowie zusätzlich als Word oder Word Perfect-Datei auf einer IBM-kompatibel formatierten Diskette eingereicht werden. Fußnoten (nicht Endnoten) sollten in der Word oder Word Perfect-Version enthalten und in einer zusätzlichen Datei abgespeichert sein. Es müssen jeweils zwei Kopien der Manuskripte eingereicht werden, von denen eines den Namen des Autors nicht wieder gibt. Eingesandt werden können nur Originalbeiträge, die keinem Copyright anderer Herausgeber oder Verlage unterliegen. Mit der Einsendung des Manuskripts erklärt der Verfasser zugleich, im Falle der Annahme des Manuskripts zur Veröffentlichung sämtliche Rechte an dem Beitrag auf den Verlag zu übertragen; der Verfasser ist bis zur Entscheidung über die Annahme seines Beitrages an diese Erklärung gebunden. Beitragstitel und – falls vorhanden – Untertitel sind deutlich voneinander abzusetzen. Die Überschriften sind im Text in der Abstufung I., 1., a) usw. zu bezeichnen. Falls keine Überschriften vorgesehen sind, kann diese Bezeichnungsfolge auch für die Textgliederung (sog. Absatznumerierung) verwendet werden. Absätze im Text, insbesondere bei Seitenübergängen, müssen im Manuskript durch 1 1 / 2-fachen Zeilenabstand und Einrücken der ersten Zeile um drei Leerzeichen gekennzeichnet werden. Nachträgliche Änderungen (Teilung eines Absatzes in zwei Absätze oder Zusammenziehen mehrerer Absätze zu einem Absatz) sind kostspielig und werden dem Autor ggf. in Rechnung gestellt. Im Kleindruck (Petit) zu setzende Textteile, Aufzählungen und Übersichten sind seitlich mit farbigem Strich zu markieren. Hervorhebungen sind durch Unterstreichung für Kursivsatz (Schrägdruck) kenntlich zu machen und möglichst zusätzlich farbig zu markieren. Im Text sollen Namen in Normalschrift, zitierte Titel in Kursivschrift erscheinen; bei Literaturangaben in den Fußnoten wird der Autorenname kursiv hervorgehoben. Titel von Artikeln und Überschriften von Buchabschnitten sollen sowohl im Text als auch in den Fußnoten in Anführungszeichen gesetzt werden. Bei der Zitierweise ist zu beachten, daß die Zitate den Namen des Autors, den Titel des Buches oder Artikels (gefolgt von dem Titel des Buches, in dem der Artikel erschienen ist), den Ort der Veröffentlichung (bei mehr als einem Ort zwischen den Orten einen Schrägstrich): den Verlag, das Jahr und die Seitenangabe (S.) aufweisen. Wenn Artikel aus Sammelwerken zitiert werden, sollte(n) der (die) Name(n) des (der) Herausgeber(s) (in Normalschrift) nach einem vorangestellten „in:“ und gefolgt von „(Hrsg.)“ angegeben werden. Zwischen zwei oder mehr Herausgebernamen sollte jeweils ein Schrägstrich ( / ) eingefügt werden. Sofern ein Buch nur unter dem (den) Namen des (der) Herausgeber(s) zitiert wird, sollte(n) der (die) Name(n) kursiv hervorgehoben sein.

Hinweise für Autoren

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Beispiele: Name, Buchtitel, Ort / Ort: Verlag, Jahr, Seitenzahl. bzw.

Name, „Titel des Artikels“, in: Name / Name (Hrsg.), Buchtitel, Ort: Verlag, Jahr, Seitenzahl. Sofern ein Werk zum zweiten oder wiederholten Male zitiert wird, sollte die Abkürzung „Ebd.“ oder „Ibid.“ verwendet werden, wenn der Nachweis sich auf eine unmittelbar vorausgehende Zitierung bezieht, und nach einem Komma die Seitenangabe folgen. Wenn auf eine weiter zurückliegende Zitierung Bezug genommen werden soll, sollte der Name des Autors (kursiv gesetzt) wiederholt und in Klammern auf die Fußnote, die die erste Zitierung des Werkes aufweist, hingewiesen werden: Name (Fn. *), Seitenzahl. Seitenhinweise auf die eigene Arbeit sind aus Kostengründen zu vermeiden und durch Gliederungshinweise zu ersetzen. Von dem gesetzten Manuskript erhält der Autor nur einen Korrekturabzug. Korrekturen müssen dabei auf das Notwendige beschränkt bleiben; Kosten für nachträgliche Änderungen gehen zu Lasten des Autors. Autoren erhalten ein Belegexemplar des betreffenden Bandes des Jahrbuchs und jeweils 15 Sonderdrucke ihres Beitrages kostenlos. Die Autoren können weitere Exemplare mit einem Nachlaß von 25 % vom Ladenpreis und weitere Sonderdrucke zu einem Seitenpreis von 0,15 € beim Verlag beziehen. Das Manuskript bitte an folgende Anschrift einsenden: Jahrbuch für Recht und Ethik Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie Schillerstr. 1 D-91054 Erlangen Tel.: 0 91 31 / 8 52 69 33 email: [email protected] oder:

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