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German Pages 548 [549] Year 2011
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 19 (2011) Herausgegeben von B. Sharon Byrd Joachim Hruschka Jan C. Joerden
Duncker & Humblot · Berlin
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 19
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Herausgegeben von B. S h a r o n B y r d · J o a c h i m H r u s c h k a · J a n C. J o e r d e n
Band 19
Duncker & Humblot · Berlin
Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 19 (2011) Themenschwerpunkt:
Politische Ethik Political Ethics Herausgegeben von B. Sharon Byrd Joachim Hruschka Jan C. Joerden
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Empfohlene Abkürzung: JRE Recommended Abbreviation: JRE Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-4610 ISBN 978-3-428-13715-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞
Internet: http://www.duncker-humblot.de
V orwort Das Jahrbuch für Recht und Ethik widmet sich im Schwerpunkt dieses Bandes ausgewählten Problemen der Politischen Ethik. Hierzu werden zunächst in einem ersten Teil Grundfragen der Politischen Ethik behandelt. Danach geht es im zweiten Teil um die wechselseitige Begründungsrelation zwischen Politischer Ethik einerseits sowie Menschenwürde und Menschenrechten andererseits. Das Spannungsverhältnis zwischen Politischer Ethik und dem (positiven) Recht steht im Mittelpunkt des dritten Teils des vorliegenden Bandes, während der vierte Teil Antworten auf einige spezielle Anwendungsprobleme der Politischen Ethik zusammenfasst. Dem schließen sich in zwei weiteren Teilen des Jahrbuchs Beiträge zur Zuschreibung von Verantwortlichkeit und zur Medizinethik an. Der Band wird – wie üblich – abgeschlossen durch das Diskussionsforum und Rezensionen. Für ihre Mitwirkung bei der Herstellung der Druckvorlagen ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Susen Pönitzsch, Carola Uhlig, Johannes Bochmann, Christiane Herzog und Maximilian Silm zu danken. Carola Uhlig danken wir zudem für die sorgfältige Erstellung der Register. Last, but not least gebührt wiederum Lars Hartmann (Berlin) Dank für die umsichtige Betreuung der Drucklegung im Verlag Duncker & Humblot. Hingewiesen sei schließlich auf die Internet-Seiten des Jahrbuchs für Recht und Ethik: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html Dort sind auch weitere Informationen, insbesondere die englische und deutsche Zusammenfassung der Artikel und Bestellinformationen, zum Jahrbuch erhältlich. Die Herausgeber
Preface This volume of the Annual Review of Law and Ethics focusses mainly on selected problems from the area of political ethics. In this process, the first part deals with basic problems of political ethics. Subsequently, the second part deals with the reciprocal argumentative relationship between political ethics on the one hand, and human dignity and human rights on the other. The area of tension between political ethics and (positive) law lies in the centre of the third part of the present volume, while the fourth part summarizes answers to selected specific problems of political ethics. This is followed by articles on the ascription of responsibility and on medical ethics in two further parts of this Review. As usual, the volume is completed by the discussion forum and book reviews. Our gratitude goes to Susen Pönitzsch, Carola Uhlig, Johannes Bochmann, Christiane Herzog and Maximilian Silm, members of the Chair for Criminal Law and Legal Philosophy at the European University Viadrina Frankfurt (Oder) for their support in preparing the manuscripts for publication. We also appreciate Carola Uhlig’s contribution in preparing the indices. Last, but not least, we would like to thank Lars Hartmann at Duncker & Humblot (Berlin) for his comprehensive assistance in printing the volume. We would also like to draw the readers’ attention to our website: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html where they will find further information on the Annual Review of Law and Ethics, including English and German summaries of the articles it contains and purchasing procedures. The Editors
Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Grundfragen der Politischen Ethik – Basic Problems of Political Ethics Matthias Kaufmann: Moderne Demokratie zwischen Institution und Instruktion . . . . . . . .
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Ulrich H.J. Körtner: Politische Ethik und politische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Neuhäuser: Politische Ethik zwischen kritischer Theorie und angewandter Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Julian Nida-Rümelin / Elif Özmen: Zur Normativität des Politischen in der säkularen, liberalen und sozialen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Mönter / Walter Reese-Schäfer: Funktionen und Funktionalisierungen des Gewissens in politisch-ethischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Politische Ethik, Menschenwürde und Menschenrechte – Political Ethics, Human Dignity, and Human Rights Angelika Dörfler-Dierken: Rituale und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felix Ekardt: Klimawandel, Menschenrechte und neues Freiheitsverständnis – Herausforderungen der politischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Georg Lohmann: Demokratie und Menschenrechte, Menschenrechte und Demokratie . . 145 Peter Schaber: Menschenrechte und Grundbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Politische Ethik und Recht – Political Ethics and the Law Frank Dietrich: Haben wir eine Fairnesspflicht zum Rechtsgehorsam? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Dietmar Hübner: Ethische Oszillationen: Über rechtsphilosophische Abwägungen, reduzierte Betroffenheitstiefen und moralische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Jan C. Joerden: WikiLeaks, Kants „Princip der Publicität“, Whistleblowing und „illegale Geheimnisse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Stephan Kirste: Eine deskriptive Rechtsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Joachim Renzikowski: Decent Work – rechtsphilosophische Anmerkungen zur Mindestlohndebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Anwendungsprobleme Politischer Ethik – Problems in Applying Political Ethics
Karlfriedrich Herb / Kathrin Morgenstern / Magdalena Scherl: Im Schatten der Öffentlichkeit. Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt . . . . . 275 Otfried Höffe: Leisten lokale Demokratiebewegungen einen Beitrag für die globale Krisensteuerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Seumas Miller: The Ethics of Assassination and Targeted Killing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Zur Zuschreibung von Verantwortlichkeit – On the Ascription of Responsibility Alexander Aichele: Zurechnungsmetaphysik? Samuel Pufendorfs Begriff der imputatio als Realitätsgrund von Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Karin Michel: Personalität und Stellvertretung. Ethik und Recht stellvertretender Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Tatjana Schönwälder-Kuntze: Auf wen oder was antwortet ‚Verantwortung‘? Zur Genealogie (und Pathologie) des Verantwortungsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Héctor Wittwer: Muss die Willensfreiheit bewiesen werden, damit sich das Schuldprinzip rechtfertigen lässt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Zur Medizinethik – On Medical Ethics Roger Brownsword: Human Dignity and Nanotechnologies: Two Frames, Many Ethics . . 429 Sebastian Gasde: Die Medizinethik und das Placebophänomen. Psychosoziale Einflussfaktoren auf biologische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Diskussionsforum – Discussion Forum Hans-Ulrich Hoche: Die Universalisierte Goldene Regel als Grundlage einer kulturübergreifenden Moral und Moralerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Rezensionen – Reviews Norbert Campagna, Alfarabi – Denker zwischen Orient und Okzident. Eine Einführung in seine politische Philosophie (Alexander Aichele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Mathis Bader: Organmangel und Organverteilung (Anna Johanna Gethmann) . . . . . . . . . . 505 Frank Dietrich, Sezession und Demokratie. Eine philosophische Untersuchung (Jan C. Joerden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Andreas von Hirsch, Ulfrid Neumann, Kurt Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht: Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten (Stefan Seiterle) . . . . . . 514
Inhaltsverzeichnis – Table of Contents
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis / Index of Contributors and Editors . . . . . . . . . 521 Personenverzeichnis / Index of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Sachverzeichnis / Index of Subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Hinweise für Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Information for Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Grundfragen der Politischen Ethik – Basic Problems of Political Ethics
Moderne Demokratie zwischen Institution und Instruktion Matthias Kaufmann „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar“.1 Dieser Satz Immanuel Kants aus seiner kleinen Schrift Zum ewigen Frieden ist vielfach zitiert und allgemein bekannt. Wir können uns freilich auch in etwa vorstellen, was Machiavelli darauf geantwortet hätte: „Das mag ja für die Teufel richtig sein, bei den Menschen haben wir das Problem, dass ihnen der Verstand fehlt, genauer gesagt, dass ihr Verstand zumeist von den Leidenschaften, insbesondere vom verderblichen Ehrgeiz beherrscht und in die falsche Richtung gelenkt wird. Dies geht so weit, dass sie nicht einmal fähig sind, ihren eigenen langfristigen Vorteil wahrzunehmen.“ Er betont in den Discorsi (III 43), dass die Menschen stets die gleichen Leidenschaften haben, dies sei der Grund, aus dem es sich lohnt, die Geschichte zu studieren.2 Im Kapitel 17 des Principe schließlich lässt er uns wissen, dass die Menschen im Normalfall „undankbar, unbeständig, heuchlerisch, furchtsam und eigennützig“ sind.3 Für den Kontext dieser Arbeit wird Machiavelli allerdings aus einem anderen Grunde interessant als durch diesen desillusionierten Blick auf die Menschen. Es wurde nämlich sehr bewusst gesagt, die Menschen seien zumeist von Leidenschaften in fataler Weise beherrscht und es seien normalerweise diese problematischen Eigenschaften, die sie leiten: Machiavelli lässt uns an anderer Stelle wissen, dass das Verhalten der Menschen sich in erheblichem Maße ändern kann, je nach ihren Lebensbedingungen. Gewiss, einige grundlegende Leidenschaften bleiben kontinuierlich dieselben. Doch gibt es sehr wohl die Möglichkeit, dass Menschen sich aufgrund guter Sitten, wörtlich „guter Gewohnheiten“ – buone consuetudine –, in tugendhafter Weise verhalten (D I 3).4 Daraus erklärt sich der trotz der Kontinuität in den menschlichen Leidenschaften feststellbare dramatische Unterschied zwischen Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 366. Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, in: id. Tutte le opere, Firenze 1992, 250 f. 3 Niccolò Machiavelli, Der Fürst (Il Principe), in: ders., Politische Schriften, hrsg. von Herfried Münkler, Frankfurt a. M. 1990, 94 f. 4 Machiavelli, Discorsi (Fn. 2), 82. 1 2
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der frühen römischen Republik, dem Musterbild individueller und kollektiver Tugend und Tatkraft, und dem Italien des frühen sechzehnten Jahrhunderts in seiner Agonie des tiefsten Verfalls. Was wir von Machiavelli heute für die politische Theorie lernen können sind also weniger seine düster-alarmistischen, teilweise mit sardonischer Freude ausgemalten Beschwörungen der menschlichen Bosheit und seine inzwischen in zahllosen Managerseminaren durchgekämmten Tipps zum Erhalt zufällig gewonnener Macht, als vielmehr das Wissen darum, dass es im Umgang mit politischen Theorien einer komplexeren Anthropologie bedarf als der Entscheidung zwischen der inclinatio naturalis hominis ad bonum bei Thomas von Aquin und der Ansicht des Thomas Hobbes, der festhält: „I put for a generall inclination of all mankind, a perpetuall and restlesse desire of Power after power, that ceaseth only in death“.5 Fast fünfhundert Jahre, nachdem Machiavelli seinen Principe und seine Discorsi verfasste und mehr als zweihundert Jahre nachdem Kant Zum ewigen Frieden schrieb, wendet sich Amartya Sen gegen den angeblich „transzendentalen“ Ansatz von John Rawls. Eines seiner zentralen Argumente ist, dass es nicht ausreicht, sich auf die allgemeinen Prinzipien gesellschaftlicher Regelung und Entwicklung zu konzentrieren, auf nach apriorischen Idealvorstellungen konstruierte Institutionen, wenn man nicht das tatsächliche Verhalten der betroffenen Menschen berücksichtigt.6 Eine in vieler Hinsicht parallele, zumindest eng mit Sens Reflexionen verbundene Form der Kritik an Rawls, die sich mehr oder minder explizit in eine fundamentale Kritik an Kant – auch an Kants Ethik – weiterentwickelt, oftmals „den Liberalismus“ als Ganzen gleich mit-meint, formuliert Sens zeitweilige Lebensabschnittsgefährtin Martha Nussbaum.7 Auch bei Nussbaum findet sich eine Wendung gegen Rawls’ Ausrichtung am „Rechten“, also an universellen Verteilungsprinzipien, die nur sehr knappe und generelle Orientierungen im Bereich des „Guten“, will sagen bezüglich der Auffassungen über ein richtig gelebtes menschliches Leben, zulässt. Gemeinsam ist beiden angesichts der Rolle des Guten für die Gerechtigkeit die Aufhebung einer strikten Trennung von Moral und Recht, von moralischen und rechtlichen Normen, ferner der sogenannte Befähigungs-Ansatz, häufig auch in deutschen Texten als capability approach bezeichnet: Politische Theorie und politische Praxis, jede Vorstellung von Gerechtigkeit kann sich nicht primär an den Gütermengen ausrichten, die die Menschen erhalten, geschweige denn an Zahlenwerten wie dem Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung, sondern ausschließlich am Wohlergehen (flourishing) der Menschen, daran, dass es ihnen gut geht.8 Dabei kommt es nicht nur darauf an, ob Thomas Hobbes, Leviathan (1651), London 1985, 161. Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010, 94 ff. 7 Martha Nussbaum, Der aristotelische Sozialdemokratismus, in: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a. M. 1999, 24 – 85. 8 Martha Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability. Nationality. Species Membership, Cambridge (Mass.) / London 2006, 72 f.; Sen (Fn. 6), 253 f., 300 f. 5 6
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sie sich subjektiv wohl fühlen, sondern auch darauf, ob sie die Möglichkeiten, die ein menschliches Leben bieten sollte, in etwa ausfüllen können. Nussbaum entwickelt daher eine „vage starke Theorie des Guten“9 um Kriterien zur Verfügung zu stellen, mit denen man dieses Wohlergehen zu bestimmen vermag. Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass Sens Forderung nach Rücksichtnahme auf die tatsächlichen Fähigkeiten und das tatsächliche Verhalten von Menschen in konkreten Situationen berechtigt und sein Plädoyer für ein anderes Beurteilungskriterium als das von Rawls gewählte zumindest im Sinne einer Ergänzung plausibel ist. Nussbaum und Sen können unter Rückgriff auf den capability approach durchaus einige, teils gravierende Probleme bei Rawls und seinen philosophischen „Hintermännern“, vor allem natürlich Kant, namhaft machen. Dies gilt insbesondere, wenn man einige Interpretationen der italienischen Philosophin Vanna Gessa aufgreift. Sen vermag dem Modell deliberativer Demokratie eine interessante Wendung zu geben, nur wird nicht klar, wie man bei der Umsetzung des von ihm propagierten methodischen Vorhabens auf ein nach allgemeinen Prinzipien konstruiertes Modell als Kriterium verzichten kann. Nussbaums starke vage Konzeption des Guten bringt eine wichtige Perspektive für die ethische und rechtliche Beurteilung politischer Handlungen und Strukturen ein, doch lassen sich dabei angesprochenen Punkte ohne übergroße Anstrengung als Grundgüter im rawlsschen Sinne deuten. Dass die Verschmelzung moralischer und rechtlicher Perspektiven auch ihre Tücken hat, zeigt sich m. E. bei der Behandlung der Menschenrechte. Die teils explizite, teils implizite Kritik beider Autoren an Kant wirft bei entsprechender Interpretation Probleme für manche Lesarten der Kantischen Ethik auf und deutet manche der grundlegenden Probleme unserer Ethikkonzeptionen an, ohne dieser Ethik indessen jede Plausibilität nehmen zu können. Am Ende bleiben damit in kritischer Hinsicht eher Hinweise auf Probleme bestimmter Formulierungen als eine Überwindung ganzer theoretischer Positionen. Positiv gewendet: Sen und Nussbaum zeigen, dass Demokratie als öffentlicher Gebrauch der Vernunft sich nicht auf die Existenz von Institutionen reduzieren lässt, sondern kontinuierlicher Anstrengung auch darin bedarf, die Bürgerinnen und Bürger dazu zu befähigen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. I. Rawls – zur Erinnerung Wir erinnern uns: Um zu bestimmen, wie eine gerechte Gesellschaft aussieht, bedient sich Rawls in seinem Hauptwerk, der Theory of Justice, eines hypothetischen „Urzustandes“ (original position), aus welchem heraus die Menschen über die gerechte Ordnung einer Gesellschaft entscheiden, ohne zu wissen, welchen Platz sie in der eingerichteten Gesellschaft einnehmen werden. Sie wissen nichts über ihren sozialen Status, nichts über ihren Besitz, aber auch nichts über ihre Fähigkeiten, ihre Vorlieben, ihre besonderen Bedürfnisse. Sie besitzen im Urzustand alle etwa 9
Nussbaum (Fn. 7), 49 ff.
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dieselben rationalen Fähigkeiten und sind am Schicksal ihrer Mitmenschen weitgehend desinteressiert (§ 4, §§ 20 – 30).10 Gerecht sind nach Rawls Verhältnisse, die jedes Mitglied der Gesellschaft hinter diesem Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance) – ohne Kenntnis des eigenen Standorts – aus vernünftigem Egoismus akzeptieren kann, so dass es einem entsprechenden Gesellschaftsvertrag zuzustimmen vermag (§§ 24 f.).11 Durch die gleiche Rationalität und das Desinteresse sollen Täuschungsmanöver und Neid- oder Missgunstentscheidungen ausgeschlossen werden. Rawls nennt zwei Prinzipien, durch welche die Gerechtigkeit einer politischen Ordnung gewährleistet werden kann. Erstens muss jeder und jede die größtmögliche Freiheit haben, die sich mit der Freiheit der anderen vereinbaren lässt (§ 11). Zweitens können ungleiche Güterverteilungen nur insofern akzeptiert werden, wie sie auch diejenigen, die dabei am schlechtesten wegkommen, absolut gesehen besser stellen, als es ihnen bei einer Gleichverteilung ginge, die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu politischen Ämtern müssen stets gewährleistet bleiben (ebd.).12 Trotz einer geradezu plakativen Abkehr vom Utilitarismus unternimmt Rawls hier eine Verbindung kantischer und utilitaristischer Grundsätze. Im fünften Kapitel von Mills Utilitarismusschrift findet sich etwa der Gedanke, Abweichungen von der Gleichheit seien nur akzeptabel, wenn sie dem Allgemeinwohl dienen.13 Bei Rawls wird er in einer Weise formuliert, die sicherstellt, dass beim „größten Glück der größten Zahl" nicht einzelne benachteiligt werden, um das Glück der anderen zu sichern. Sein Modell wird häufig mit dem Titel des ersten Kapitels seines Hauptwerkes, der zugleich Titel eines späteren Buches ist, charakterisiert: Gerechtigkeit als Fairneß.14 Rawls nimmt keine genaue Differenzierung der Güter und der individuellen Neigungen zu ihnen vor, sondern geht von einem gewissen Grundbestand an Dingen aus, bei denen im Normalfall jede und jeder den Besitz dem Nicht-Besitz vorzieht, wie etwa das Leben, die Gesundheit, die Selbstachtung etc (§ 15).15 Eine genauere Wahl dessen, was man sich für ein gelungenes Leben an Gütern wünscht, überlässt Rawls in guter liberaler Tradition der Entscheidung der Individuen, die dies natürlich gemäß ihrer Auffassung vom Guten tun, also in Habermasscher Diktion in etwa gemäß ihrem Ethos. Insofern ist es konsequent, wenn in einigen der genannten Texte Rawls, in anderen Rawls und Kant in wieder anderen „der Liberalismus“ schlechthin Ziel der Kritik ist, wobei die Argumente in etwa dieselben bleiben. Rawls wendet sich später ausdrücklich gegen eine „Globalisierung“ seiner Konzeption und schlägt statt dessen in seinem Spätwerk The Law of Peoples einen zwei10 11 12 13 14 15
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, 34 ff., 140 ff. Ebd., 159 ff. Ebd., 8 ff. John Stuart Mill, Utilitarianism/ Der Utilitarismus (1861), Stuttgart 2006, 188 / 189. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, Frankfurt a. M. 2003. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Fn. 10), 111 ff.
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stufigen Urzustand vor: In einer ersten Stufe bewegt man sich innerhalb der Völker – Rawls zieht aus diversen Gründen die Rede von Völkern derselben von Staaten vor – um danach in einer zweiten Stufe Repräsentanten dieser Völker mit den selben Rationalitätskriterien über die gemeinsamen Fragen und Probleme verhandeln zu lassen.16
II. Sen, Rawls und die deliberative Demokratie Der Begriff der deliberativen Demokratie scheint von dem argentinischen Philosophen Santiago Nino zu stammen,17 wird derzeit jedoch von zahlreichen Autoren wie Habermas, Forst, Benhabib, Rawls und Sen verwendet, um darauf hinzuweisen, dass sich Demokratie nicht auf das Vorhandensein von formalen Wahlverfahren und parlamentarischen Prozeduren reduzieren lässt. Ihr wesentliches Element ist vielmehr der öffentliche Gebrauch der Vernunft, die „öffentliche Vernunft“. Sen weist immer wieder darauf hin, dass sich dieser öffentliche Gebrauch der Vernunft in vielen Kulturen der Welt findet, namentlich in Indien, und zwar in einigen Ausprägungen früher als in Europa.18 Einer der Kernpunkte in Sens Kritik an Rawls besteht in dem Vorwurf, jener entwerfe abstrakte Institutionen unabhängig von der konkreten Situation der Menschen – beinahe für Kants Volk von Teufeln mit Verstand, nur dass Rawls den Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens bekanntlich gewisse gemeinsame moralische Überzeugungen zuspricht – während es das tatsächliche Verhalten der Betroffenen zu beachten gelte: „In Rawls’ Denkmodell garantiert der Gesellschaftsvertrag Fairness nur dadurch, dass durch ‚Übereinkunft über Grundsätze …, die die Institutionen der Grundstruktur einer Gesellschaft selbst in der Gegenwart und in der Zukunft ordnen sollen‘, gerechte Institutionen bestimmt werden. … Selbst wenn wir akzeptieren, dass sich aus einer einstimmig getroffenen Entscheidung über grundlegende soziale Institutionen eine gewisse Bestimmung eines ‚vernünftigen‘ (oder gerechten) Verhaltens ergeben würde, bleibt doch die große Frage, wie die gewählten Institutionen in einer Welt funktionieren würden, in der das tatsächliche Verhalten jeder Person nicht selbstverständlich, sondern nur vielleicht, vielleicht aber auch nicht, ganz und gar auf einer Linie mit dem als vernünftig bestimmten Verhalten ist.“19 Dies wirkt sich auch auf die Verteilungsgerechtigkeit aus, auf den Umgang mit Ressourcen: es geht nicht nur darum, Grundgüter zur Verfügung zu stellen, sondern auch um die „Fähigkeiten, Grundgüter in gutes Leben zu konvertieren“.20 Hier ha16 John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge (Mass.) / London 1999, 30 ff. dt. Das Recht der Völker, Berlin 2002, 33 ff. 17 C. Santiago Nino, The Ethics of Human Rights, Oxford 1991. 18 Sen (Fn. 6), 14 f., 348 ff., 355. 19 Ebd., 95 f. 20 Ebd., 94.
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ben wir also eine der Parallelen zu Nussbaum: Damit Menschen nicht nur mit für sie nutzlosen Gütern versorgt werden, muss man ihnen die Fähigkeiten vermitteln, genauer ihre prinzipiell vorhandenen Befähigungen ausbilden, diese Güter zu nutzen. Gerechtigkeit wird damit für Sen nicht, jedenfalls nicht wie bei Rawls, zu einer Qualität von Institutionen, jedenfalls nicht ausschließlich, sondern zu einer Frage der menschlichen Verhaltensweisen, sowohl der politisch Mächtigen wie derer, die in den Genuss der diversen Zuwendungen kommen. Somit stellt sich auch die Frage nach dem geeigneten Maßstab der Gerechtigkeit. Mehrfach stellt Sen den „transzendentalen“ Ansatz der kantischen Tradition, zu der Rawls gehört und der sich im abstrakten Entwerfen apriorischer Institutionenstrukturen ergeht, dem komparativen Vorgehen gegenüber, das er auf Adam Smith zurückführt und das mit dem Vergleich konkreter bzw. alternativ konzipierter Situationen arbeitet.21 Wir brauchen, so Sen, nicht jedes Mal ein Idealbild, dem wir uns annähern, wenn wir zwischen konkreten Situationen in ihren unzähligen verschiedenen Aspekten entscheiden sollen. Zum einen lässt sich der Abstand zwischen konkreten, zur Wahl stehenden Szenarien und diesem Ideal schwerlich messen, zumal divergierende Präferenzen ins Spiel kommen können, was eher ein Abwägen als ein Messen erforderlich macht.22 Zum anderen kann dieses Bild sich sogar schädlich auswirken, wenn etwa notwendige, aber unvollkommene Verbesserungen einzelner Elemente nicht vorgenommen werden, weil man auf die eine große Wandlung setzt.23 Gewiss trifft zu, dass die von Rawls vorgenommenen Idealisierungen, etwa die Bedingung, dass seine Theorie der Gerechtigkeit in fast gerechten Gesellschaften mit relativ homogenen Überzeugungsstrukturen und wechselseitigem Desinteresse der Individuen ihren Platz finde,24 und eine gewisse Unklarheit über die Konkretisierungsmöglichkeiten die unmittelbare Anwendbarkeit seiner Theorie auf konkrete Situationen in hoch komplexen, oft genug multikulturellen Gesellschaften stark beeinträchtigen. Umgekehrt ist allerdings ebensowenig selbstverständlich, wie man einen Vergleich zwischen zwei möglicherweise sogar nur hypothetischen Situationen im Hinblick auf mehr oder weniger Gerechtigkeit, nicht nur bezogen auf individuelle Präferenzordnungen, wie sie etwa in den von Sen aufgegriffenen Arbeiten von Kenneth Arrow und verwandten Ansätzen zum Tragen kommen,25 ohne jeden abstrahierenden Maßstab durchführen will. Dies gilt um so mehr, als Sen seine Konzeption rationaler Wahl sehr bestimmt von der Tradition der „Rational Choice“Theorie abzusetzen bemüht ist.26 Wenn man sich nicht auf Modelle, wie sie von Kant, Rawls, Bentham oder anderen geliefert wurden, berufen mag, greift man eben 21 22 23 24 25 26
Ebd., 44 f., 124. Ebd., 127 ff. Ebd.,133. John Rawls (wie Fn. 10), 30. Sen (Fn. 6), 119 ff., 306 ff. Ebd., 206 ff.
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auf seine Intuitionen zurück. Nichts anderes als der Versuch, derartige Intuitionen auf den Punkt zu bringen sind schließlich die diversen ethischen und rechtlichen Prinzipien. Wenn es bisher noch nicht gelungen ist, die eine allseits akzeptierte Formulierung solcher Intuitionen zu finden, bedeutet dies nicht, dass sie nicht – vielleicht in je verschiedenen Teilbereichen – von Nutzen sein können. Zum anderen wird man ebenso wenig auf partielle Verbesserungen verzichten müssen, weil das Ideal nicht erreichbar ist, wie man aufhörte, Tische, Böden etc. glatt zu schleifen, als man wusste, dass man die ideale geometrische Ebene nie erreichen können würde. Wichtiger als dieser komparative Ansatz scheint daher ein anderer Gesichtspunkt aus Sens Bezugnahme auf Adam Smith: Anstelle der Wahl von Prinzipien durch die am Sozialkontrakt Beteiligten hinter dem Schleier des Nichtwissens schlägt Sen im Anschluss an Smith den Rückgriff auf einen unparteiischen und wohlwollenden Beobachter vor.27 Folgende Probleme in Rawls’ Ansatz lassen sich nach Sen durch einen angemessenen Rückgriff auf das von Adam Smith vorgelegte Konzept, welches seinerseits von Rawls völlig irreführend wiedergegeben werde, vermeiden: Erstens die ausschließende Nichtbeachtung. Indem Unparteilichkeit nur innerhalb einer geschlossenen Gruppe relevant ist, übersieht man leicht die Auswirkung der Entscheidungen der Gruppe auf die Außenstehenden. Dies ist insbesondere im Kontext globaler Gerechtigkeit fatal. Zweitens gibt es die Inkohärenz innerhalb einer Gruppe, die allein schon dadurch virulent wird, dass in vielen Fällen keineswegs klar ist, wer genau zur Gruppe der Entscheidenden gehört. Dagegen sei „Smiths ‚abstrakter, idealer Beobachter‘ … ‚Zuschauer‘ und nicht ‚Partner‘ eines Gruppenvertrags“.28 Drittens der „prozedurale Provinzialismus“ (parochialism), der nur die Ansichten innerhalb einer geschlossenen Gruppe anerkennt und damit leicht von kontingenten Vorurteilen und Einseitigkeiten gelenkt werden kann, während „der unparteiische Zuschauer Gewinn aus der Ansicht Fernstehender wie Nahestehender ziehen könnte“.29 Generell ist man auf diese Weise also bei der Beurteilungen sozialer Strukturen und Situationen nicht auf die Meinung der im engen Sinne Beteiligten eingeschränkt, sondern kann im Sinne offener Unparteilichkeit immer wieder die Perspektive von außen wählen. Den möglichen Ausweg, sämtliche Menschen hinter den Schleier des Nichtwissens zu holen, verschließt sich Rawls ausdrücklich selbst. Schließlich will er gerade keine Globalisierung seiner original position und stellt seinen „Law of peoples“-Ansatz dem kosmopolitischen Ansatz von Beitz und Pogge entgegen.30 Insofern kann man die Konstruktion des unparteiischen Beobachters tatsächlich als Schutz vor Gruppenegoismus und vor einer Verengung des Blickwinkels begrüßen. Allerdings wird der idealisierte unparteiische Beobachter, um den es hier geht, gemeinsam mit Rawls die Menschen als frei und gleich voraussetzen müssen: Allzu leicht dürften sich „unparteiische“ Beobachter aus vielen Tei27 28 29 30
Ebd., 73, 166 –180. Ebd., 73, 176. Ebd., 73, 179. John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge (Mass.) / London 1999, 119 f.
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len der Welt finden, die z. B. die Gleichberechtigung von Mann und Frau für unannehmbar erklären. Geht es hier, bei der Frage, ob eher eine kosmopolitische Variante des Urzustandes oder der unparteiische Beobachter leistungsfähiger wären und bei Rawls’ Ablehnung gegenüber beiden noch um eine spezifische und gewissermaßen kontingente Entscheidung, die Rawls relativ spät getroffen hat, so wendet sich Sen auch gegen grundsätzliche Komponenten der Rawlsschen Vertragstheorie. Sen bestreitet etwa, dass es ein universell verbindliches Gerechtigkeitsprinzip, oder auch nur einen „lexikographisch“ klar geordneten Kanon derartiger Prinzipien geben kann. So denkt er, dass Freiheit nicht in allen Situationen unbedingten Vorrang besitzt, wie Rawls annehme. Hier würde ihm wohl für bestimmte Notfallsituationen niemand widersprechen, und als Dauereinrichtung, etwa zur Beseitigung des Hungers würde Sen selbst die Abschaffung der Freiheit nicht akzeptieren wollen, da er die Überlegenheit der Demokratie bei der Bekämpfung des Hungers hervorhebt. Allerdings behauptet er, es gebe wechselseitig irreduzible Gerechtigkeitsprinzipien, die jeweils gleichermaßen legitim sind und innerhalb deren unparteiisch geurteilt werden könne, während zwischen ihnen nur ein Abwägen möglich sei. Sein Lieblingsbeispiel ist das einer Flöte, die von drei Kindern beansprucht wird: Eines, weil es sie gemacht hat, eines weil es allein darauf spielen kann, eines, weil es bedürftig ist.31 Auch hier lässt sich zugeben, dass die Prinzipien nicht wechselseitig aufeinander rückführbar sind. Allerdings bleibt es Sens Geheimnis, was daran irreduzibel „pluralistisch“ sein soll: Wir diskutieren spätestens seitdem Locke die Arbeitstheorie des Eigentums begründete, ob die Tatsache, dass man etwas gemacht oder etwa ein Stück Land bebaut hat, ein Recht darauf begründen könnte, was dafür, was dagegen spricht und welche Grenzen man im positiven Fall ziehen müsste,32 spätestens seit dem Mittelalter, wann Bedürftigkeit ein Recht begründet – und wann nicht.33 Die Auffassung, die Fähigkeit zum Gebrauch eines Dinges schaffe ein Recht auf das selbe, könnte als exzentrisch gelten, wird jedoch z. B. in Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ verfochten: „… dass da gehören soll, was da ist / Denen, die für es gut sind“.34 Hier ließe sich diskutieren, ob mit „gehören“ nun Nießbrauch, Besitz oder Eigentum gemeint sein sollte. Es bleibt von Sens Paradebeispiel für die Pluralität der Werte also übrig, dass in solchen Fragen verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, wobei man Rawls’ Differenzprinzip als Vorschlag deuten kann, wie der erste und der dritte der genannten Ansprüche – also Arbeitstheorie vs. Bedürftigkeit – gegeneinander abzuwägen sind und die Vorrangstellung der Freiheit als Hinweis darauf, dass solche Fragen konkret in demokratischer Weise, eben im Sinne der deliberativen Demokratie, zu diskutieren sind, was auch Sen nicht bestreitet. Sen Idee (Fn. 6). Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie, Darmstadt 1992. 33 Vgl. z. B. Brian Tierney, The Idea of Natural Rights, Grand Rapids 2001, 73 ff. 34 Bertolt Brecht, Der kaukasische Kreidekreis, in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Frankfurt a. M. 1997, 669. 31 32
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Über den bereits von Thomas Pogge35 und anderen formulierten Kritikpunkt, dass Rawls’ Recht der Völker zu stark in nationalstaatlichen Strukturen verhaftet bleibt – Rawls greift obendrein auf einen befremdlich essentialistischen Volksbegriff zurück –, ist somit der Hinweis, dass Institutionen nur begrenzten Nutzen besitzen, solange die konkreten Menschen sie nicht in angemessener Weise nutzen können und dass das entscheidende Kriterium für das Gelingen politischer Maßnahmen nicht die verteilte Gütermenge, sondern das Wohlergehen der Einzelnen ist, der bleibende Punkt in Sens Kritik an Rawls. Gewiss kann das Wohlergehen nicht in Verwaltungsakten, sondern muss im tatsächlichen Verhalten der Menschen wurzeln, zu dem man dieselben verschiedentlich erst anleiten muss. Will man dies erfolgreich und „nachhaltig“ tun, so wird man diese Ausbildung indessen nicht einzelnen wohlmeinenden Initiativen überlassen können, sondern man wird sie institutionalisieren müssen. Dass hier dennoch ein sehr grundsätzliches Problem in Rawls’ philosophischem Ansatz zur Sprache kommt, wird m. E. etwas deutlicher, wenn man sich mit Martha Nussbaums Kritik an ihm bzw. mit diversen Interpretationen dieser Kritik befasst. III. Nussbaums „aristotelischer Sozialdemokratismus“ Martha Nussbaum hält es für nicht akzeptabel, sich auf eine Theorie des Rechten zurückzuziehen, eben weil nicht alle Menschen in angemessener Weise von den fair verteilten Mitteln Gebrauch machen können. Sie nennt mehrfach das Beispiel des von Marx in den Pariser Manuskripten von 1844 angesprochenen Arbeiters, der aufgrund seiner harten entfremdeten Tätigkeit nicht in der Lage ist, authentischen Gebrauch von der Nahrung zu machen, die ihm zur Verfügung steht, noch von seinen Sinnen im Allgemeinen. Um menschliches Wohlergehen (flourishing) in zutreffender Weise beurteilen zu können, benötige man eine „starke vage Konzeption des Guten“.36 Für diese sei es hilfreich, sich die grundlegenden Eigenschaften und Befähigungen (capabilities) anzusehen, die sich bei allen Menschen in etwa feststellen lassen. Nussbaum nennt in einer ersten Näherung Sterblichkeit, Grundbedürfnisse Empfindung, Wahrnehmung, die Schutzbedürftigkeit in der frühkindlichen Phase, aber auch die Praktische Vernunft und die Sozialität, also insgesamt in etwa die aristotelische Definition des Menschen. Nimmt man noch die Fähigkeit zu Humor und Spiel hinzu, die in der aristotelischen Tradition nicht als Wesensbestimmung, sondern als proprium des Menschen angesehen wurde, da eben die Menschen und nur die Menschen des Lachens fähig – risibilis – sind, und verzichtet auf aristotelische Wesensmetaphysik, so hat man eine traditionelle Beschreibung menschlicher Eigenschaften vorliegen, von denen wir manche mit den Tieren teilen, während uns an35 36
Thomas Pogge, Human Rights and World Poverty, Oxford 2002, 105 f. Nussbaum, Sozialdemokratismus (Fn. 7), 49 ff.
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dere von denselben unterscheiden, also in der Tat die aristotelische Rede vom zoon logon echon und zoon politikon eingeholt.37 Zwei weitere Eigenschaften erscheinen weniger typisch für die aristotelische Tradition, sind evtl. auf Nussbaums intensive Beschäftigung mit der griechischen Tragödie zurückzuführen und haben heute einen beinahe existenzialistischen Klang. Diese sind das Getrenntsein, da trotz aller Gemeinschaft mit Anderen der Mensch am Ende nur einer bleibt und von der Geburt bis zum Tode eine unabhängige Existenz in der Welt zu führen hat, und das starke Getrenntsein: Infolge des Getrenntseins der menschlichen Leben hat eine Jede und ein Jeder die eigene besondere Umgebung, die persönlichen Gegenstände, Erlebnisse, Freundschaften, sexuellen Bindungen, die von allen anderen verschieden sind und gewisser Weise die Identität bilden. Eher Wunschdenken Nussbaums scheint freilich die Annahme, es gebe in allen Kulturen eine Verbundenheit mit anderen Arten und mit der Natur. Entsprechend diesen Fähigkeiten, die eine „starke vage Konzeption des Guten“ umschreiben und in irgendeiner Form alle zu berücksichtigen sind, wenn Menschen sich politisch organisieren, ergeben sich bestimmte Vorgaben für diese politischen Ordnungen: „Das von Aristoteles formulierte Ziel sollte als ein institutionelles, nicht als ein residuelles Wohlfahrtssystem verstanden werden. Das heißt, dass die Politik nicht einfach abwartet und schaut, wer zu den Zukurzgekommenen gehört… Statt dessen besteht ihr Ziel darin, ein umfassendes Unterstützungssystem zu schaffen, das allen Bürgern ein Leben lang eine gute Lebensführung ermöglicht.“38 Folgerungen, die sich laut Nussbaum aus dieser Konzeption des Guten ergeben sind etwa, dass bestimmte Formen der Arbeit mit einem guten Leben unvereinbar sind, dass es kein absolutes Recht auf Eigentum gibt und die Möglichkeit politischer Partizipation bestehen muss. Ferner plädiert sie für eine Erziehung, die private und öffentliche Elemente verbindet.39 Bis hierher würde ihr wohl kaum jemand in der Rawlsschen Tradition widersprechen, jedenfalls nicht, wenn man die von Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit geforderte „demokratische Gleichheit“ berücksichtigt, zu der ja gerade der Ausgleich sozialer Benachteiligungen ebenso gehört wie die Förderung derer, die in der „Lotterie der Natur“ schlechte Ausgangsbedingungen erhalten haben.40 Zur Konfrontation kommt es unter anderem, weil Nussbaum ihre Konzeption des Guten zu einem Teil der Bemühung um Gerechtigkeit machen will und in diesem Zusammenhang die Wahl des Guten nicht generell den Individuen zu überlassen gedenkt. Wir können, so Nussbaum nicht immer nur von dem ausgehen, was die Betroffenen de facto sagen, können ihnen nicht immer die Wahl des für sie Guten, ihre 37 38 39 40
Aristoteles, Politik I 2, 1253 a1 – a18. Nussbaum, Sozialdemokratismus (Fn. 7), 62. Nussbaum, Sozialdemokratismus (Fn. 7), 66 –71; Nussbaum Frontiers (Fn. 8), 76 ff. John Rawls (wie Fn. 10), 94 f.
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Suche nach Glück alleine überlassen, da sie nicht immer Kenntnis von dem haben, was für sie an Möglichkeiten offen steht. Sie erwähnt immer wieder das von Marx genannte Beispiel des entfremdeten Arbeiters, der in seinen von ihm erkannten Bedürfnissen auf Elementares reduziert ist, weil ihm etwa die Möglichkeit fehlt, „menschliche Form der Speise“ von der rohesten Form der Nahrung zu unterscheiden,41 aber auch Frauen in Bangladesh, die sich in Unkenntnis ihrer damit verbundenen Möglichkeiten zunächst nicht mit einem Bildungsprogramm anfreunden konnten und erst durch entsprechende, ihren besonderen Bedingungen angepasste Ausbildungsformen in den Genuss der mit besserer Ausbildung verbundenen Vorteile kamen. Dem Vorwurf des Paternalismus begegnet Nussbaum, indem sie auf die Notwendigkeit großer Sensibilität der Aristoteliker hinweist und darauf, dass es ja nur darum gehe, die Fähigkeiten der Menschen zu entwickeln, was sie dann damit machten, sei ihre freie Entscheidung.42 Ob Rawls sich der institutionalisierten Entfaltung der menschlichen Befähigungen widersetzt hätte, scheint nicht sicher, Nussbaum kritisiert ihn auch eher dafür, dass er sie nicht aktiv vorantreibt.43 Generell werden also Punkte namhaft gemacht, die in üblichen Präsentationen liberaler politischer Theorie mitunter zu kurz kommen, doch stellen diese berechtigten Kritikpunkte keine wirkliche Abkehr vom Liberalismus dar. Nussbaum gesteht in einem späteren Werk auch durchaus zu, dass es sich bei ihren Reflexionen eher um eine Ergänzung zu Rawls handelt als um einen vollständigen Gegenentwurf und sieht die Differenz auch darin, dass es dem Kontraktualismus um das optimale Verfahren gehe, beim capability approach hingegen um das optimale Ergebnis.44 Andererseits treibt sie gerade hier die Kritik weiter, hin zu Rawls’ philosophischen Gewährsleuten, will sagen Hume und Kant. Die Kritik konzentriert sich darauf, dass man mit dem Vertragsmodell drei unlösbaren, oder jedenfalls schwer lösbaren Problemen gegenüberstehe, die Rawls quasi geerbt habe, nämlich der Nicht-Berücksichtigung der Behinderten, insbesondere der geistig Behinderten, der Unmöglichkeit, nationale Grenzen in der angemessenen Form zu überspringen und der Nicht-Berücksichtigung der Tiere.45 Da die Problematik globaler Gerechtigkeit bereits kurz angesprochen wurde und die Rolle der Tiere hier, wo durchgängig die anthropologische Fragestellung ins Spiel kommt, eher weniger relevant ist, seien Gedanken zur Problematik körperlicher und geistiger Behinderung eingefügt, die allerdings notwendig abstrakt und allgemein bleiben. Der erste Punkt lässt sich durch die These zusammenfassen, die liberale Annahme, Gerechtigkeit bestehe zum gegenseitigen Nutzen Freier, Gleicher und Unabhängiger, die Rawls mehr oder minder klar von Hume übernommen habe, benach41 Nussbaum Sozialdemokratismus (Fn. 7), 60; Nussbaum Frontiers (Fn. 8), 74, 87; Karl Marx, Philosophisch-ökonomische Manuskripte, 3. Manuskript, MEW Ergänzungsband 1, 542. 42 Nussbaum, Sozialdemokratismus (Fn. 7), 75 –77. 43 Ebd. 61. 44 Nussbaum, Frontiers (Fn. 8) 83, 95. 45 Nussbaum, Frontiers, 14 – 24.
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teilige diejenigen, die nicht gleich und unabhängig sind und daher vermeintlich keinen Nutzen einbringen können. Dies gelte jedenfalls, solange die Gleichheit an natürlichen Befähigungen festgemacht, nicht allein als moralische Norm beachtet wird und der wechselseitige Nutzen, aber auch die Situation der am Stärksten Benachteiligten in primär ökonomischen Termini gemessen wird.46 Hier sei erstens daran erinnert, dass für Rawls „die Selbstachtung vielleicht das wichtigste Grundgut ist“,47 also keineswegs Einkommen oder andere materiellen Maßstäbe. Zweitens folgt daraus, dass man die Grundkonzeption einer politischen Theorie an der ungefähren Gleichheit der meisten Menschen festmacht, an ihrer Schwäche einerseits, an ihrem Schädigungspotential andererseits, um die Ablehnung sexistischer, rassistischer und anderer Diskriminierung nicht allein als Credo einer relativ jungen moralischen Position, die mitunter auch als „Aufklärungsmoral“ bezeichnet wird, im Raum stehen zu lassen, sondern ihr ein fundamentum in re zu geben, keineswegs, dass man diejenigen, die durch einen unglücklichen Zufall dieser Gleichheit nicht teilhaftig sind, aus der Betrachtung ausschließt. Dies würde wohl sämtlichen Fairnessvorstellungen widersprechen. Es bedeutet lediglich, dass man ihre Berücksichtigung „technisch“ in einen anderen Zusammenhang stellt. Der zweite Vorwurf Nussbaums lautet ungefähr so: Die einseitige Bezugnahme Kants auf die Vernunft als Kriterium der Moralität, da Vernunftwesen autonome Gesetzgeber im Reich der Zwecke sind, zugleich auch die Verpflichteten und die Berücksichtigungsfähigen, schließt diejenigen aus der moralischen Berücksichtigung aus, denen die entsprechende Fähigkeit fehlt, also auch die geistig Behinderten und sogar die noch nicht vernünftigen Kinder. Geschützt wird einzig das Vernünftige im Menschen. Nussbaum schließt dies daraus, dass Kant die Tiere nicht direkt in die Berücksichtigung aufnimmt, was bedeute, dass auch menschliche Wesen, die in ihren Fähigkeiten nicht weiter entwickelt seien als Tiere, nicht zu den moralisch relevanten Wesen zählten.48 Hier scheint ein tiefergehendes Missverständnis vorzuliegen: Wer die moralische Berücksichtigung auf Vernunftwesen beschränkt, hat damit in der Tat zunächst die Tiere ausgeschlossen, muss sich indessen keineswegs auf diejenigen beschränken, die sich aktual im Besitz der Vernunftfähigkeit befinden. Diese Deutung geht wohl auf das Personenverständnis des englischen Empirismus zurück, möglicherweise auch auf verkürzende Interpretationen desselben, wie sie sich in der gegenwärtigen Debatte zur medizinischen Ethik u. a. bei Peter Singer finden.49 Doch wurde bereits deutlich vor Locke geltend gemacht, dass z. B. der Ausschluss von Kindern und Ebd., 24 – 35, 113 – 127. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 479. 48 Ebd., 131. 49 Vgl. Joachim Hruschka, Utilitarismus in der Variante von Peter Singer, in: Deutsche Juristenzeitung 56 (2001), 256 – 271; Matthias Kaufmann, Potentialität und Wahrscheinlichkeit. Zum moralischen und rechtlichen Status überzähliger Embryonen, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 10 (2002), 99 –111. 46 47
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geistig Behinderten von Besitzrechten auch dazu führen müsste, Schlafende auszuschließen,50 ein Argument, welches auch gegen Singer vorgebracht wurde. Es geht somit nicht um die Frage, ob die einzelne Person gerade vernunftfähig ist, sondern ob sie zum Kreis der Wesen gehört, denen dies normalerweise zukommt, auch wenn sie diese Fähigkeit noch nicht, nicht mehr oder aufgrund eines kontingenten Ereignisses gar nicht bzw. nur sehr eingeschränkt ausüben kann. Für Kant haben „Kinder als Personen … ein ursprünglich-angeborenes … Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern“, welches er mit dem „Act der Zeugung“ beginnen lässt.51 Somit ist es das Eine, den – grundsätzlichen – Besitz von Vernunftfähigkeit zum Kriterium besonderer moralischer Berücksichtigung zu machen – etwa im Vergleich zu Tieren. Es ist etwas Anderes zu fragen, welche Ansprüche der Betroffenen damit verbunden sind, und dies ist natürlich nicht nur der Schutz der Vernunft, sondern eine Optimierung der gesamten Lebensbedingungen, um die entsprechende Entwicklung der Fähigkeiten zu ermöglichen. Wenn Nussbaum eine generelle moralische Gleichheit der Menschen behauptet, die sie für die geistig Behinderten einklagt und nicht an politischen Grenzen halt machen lassen will, so bewegt sie sich sehr eindeutig in liberaler Tradition und weniger im Gefolge des Aristoteles und des Aristotelismus. In der Antike kommen eher stoische und epikuräische Wurzeln in Frage, in der Neuzeit kann man auf Hobbes verweisen, auf Rousseau – und auf Kant. Allerdings sollte man den besonderen Wert in Nussbaums und Sens Beitrag zur politischen Philosophie und politischen und ökonomischen Theorie nicht auf diese ergänzenden und erhellenden Erweiterungen eines Standardmodells der politischen Philosophie beschränken. Ebenso wichtig erscheint der Hinweis auf die moralische und zumindest auf Umwegen auch rechtliche und politische Bedeutung des Menschen in der Gesamtheit seines Erlebens und Handelns gegenüber seiner Reduktion auf einen irgendwie wollenden und handelnden Homunculus.
IV. Von Menschen und Rechten „Ich glaube, dass Martha Nussbaums These richtig ist, wonach am Grunde der Schwierigkeiten, die der Feminismus mit der Rhetorik der Menschenrechte hat, die Tatsache liegt, dass das Bild des liberalen Bürgers, auf dem sich die Theorie der Rechte konstituiert, zu kantianisch ist.“52 So beginnt die italienische Philosophin Vanna Gessa-Kurotschka einen Text über die Menschenrechte und das tatsächliche 50 Luis de Molina, De iustitia et iure, Mainz 1659, Bd. I, Sp. 35: « …aliquem propter amentiam, somnum, vel infantiam non posse disponere de re sua, non tollit, quin sit illius dominus ». 51 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 28, AA VI 280 f. 52 Vanna Gessa-Kurotschka, Diritti umani e vita. Il pensiero delle donne e la retorica dei diritti umani, in: Francesca Brezzi / Marisa Ferrari Occhionero / Elisabetta Strickland (a cura di), Pari opportunità e diritti umani, Bari 2009, 15 – 22, 15.
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Leben, insbesondere das Leben der Frauen. Der Vorwurf, den sie mit Nussbaum gegen Rawls und eigentlich eben gegen Kant erhebt, lautet, dass sowohl Ethik, als auch Rechtsphilosophie für diese Autoren nur Vernunftwesen beachten, keine natürlichen Wesen mit ihren Schwächen und Gefühlen, wie sich schon daran zeige, dass die Menschenwürde an der moralischen Fähigkeit fest gemacht werde und damit eine radikale Trennung des moralischen Wesens von der natürlichen Welt erfolge. Für das Denken der Frauen seien aber Theorien der Gerechtigkeit inakzeptabel, die „sich nicht um die Identität von Wesen kümmern, deren Wohl großenteils von der Liebe, der Freundschaft und der Solidarität der anderen abhängt“.53 Eine Lösung sieht sie im Rückgriff auf Amartya Sens Konzeption der Menschenrechte, die die menschliche Identität in ihrer Gesamtheit berücksichtige, also nicht nur die moralischen Fähigkeiten verteidige, sondern Menschen mit ihren Fähigkeiten zu fühlen, Mitleid und Furcht ebenso wie Solidarität mit anderen, aber auch Schwäche zu beweisen.54 Sehen wir uns Sens Deutung der Menschenrechte als „starke Behauptungen über ethische Gebote“,55 als „ethische Ansprüche, die sich konstitutiv mit der Wichtigkeit menschlicher Freiheit verbinden“, deren Stichhaltigkeit jeweils durch die öffentliche Vernunft überprüft wird,56 näher an, so stoßen wir auf eine interessante Zusammenstellung: Die Freiheit nicht überfallen zu werden zählt ebenso dazu wie die Freiheit nicht von unsympathischen Nachbarn belästigt zu werden, die Freiheit „bei einem ernsten Gesundheitsproblem auf medizinische Grundversorgung zählen zu können“ ebenso wie die Freiheit „Gelassenheit zu erreichen“ und die „Freiheit“ des Stotterers, in einem Gespräch oder einer öffentlichen Versammlung nicht verlacht zu werden.57 Es scheint äußerst fraglich, ob Sen damit der Geschichte und der Funktion der Menschenrechte auch nur im Entferntesten gerecht wird. Nur so viel: Der Erfolg der Menschenrechte in den letzten Jahrhunderten, namentlich den letzten Jahrzehnten beruht wohl nicht zuletzt auf ihrer Fähigkeit, die überall üblichen Unterscheidungen zwischen guter und schlechter Herrschaft auf den Punkt zu bringen. Ihre Funktion bestand und besteht darin, die Menschen vor staatlicher Willkür zu schützen, wozu gehört, das der Staat seine Aufgabe, sie vor Überfällen zu schützen, in rechtsstaatlicher Weise ausübt, ihnen politische Mitsprache und sozial-politisch eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern, wozu durchaus das Recht auf medizinische Versorgung gehört.58 Selbst wenn wir die strikte Trennung von Politik und Gesellschaft aufheben wollen, so bleibt es ein Unterschied, ob wir uns gegen Missbrauch öffentlicher Gewalt schützen, an öffentlichen Entscheidungen teilhaben und öffentliche Mittel für 53 54 55 56 57 58
Ebd. Ebd. 17. Sen, Idee (Fn. 6), 384. Ebd. 393. Ebd. 394, 392. Matthias Kaufmann, Diritti umani, Napoli 2009.
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etwas einsetzen, oder ob wir es mit den moralischen Forderungen und Höflichkeitsregeln zu tun haben, deren Einhaltung wir uns gegenseitig auf privater Ebene schuldig sind. Gewiss hindert uns nichts daran, auch in diesen Kontexten von Rechten zu sprechen, etwa vom Recht des Stotterers auf Rücksichtnahme. Wenn wir sie jedoch Menschenrechte nennen, so bleibt der Kern des Menschenrechtsgedankens – als Kampf gegen die Willkür politisch Mächtiger – auf der Strecke. Dass als Ziel dieses Kampfes nicht allein der Schutz der menschlichen Vernunft, sondern der gesamten menschlichen Sphäre gehört, die deren Gebrauch erst möglich macht, wurde bereits angemerkt. Scheint es daher auf der einen Seite eher unglücklich, die Menschenrechte in der von Sen vorgeschlagenen Weise unkenntlich zu machen, so muss man Nussbaum, Sen und Gessa auf der anderen Seite zugestehen, dass die kantische Ethik-Konstruktion deutliche Schwächen bei der Vermittlung mit dem tatsächlichen Leben der Menschen aufweist, die sich in die damit verbundenen rechtlichen und politischen Theorien fortpflanzen. Das fängt, um es plakativ zu sagen, beim Kriterium des guten Willens an und setzt sich bis zu Rawls’ Schleier des Nichtwissens fort. Was den guten Willen angeht, bekanntlich das Einzige zu denken Mögliche, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden“,59 so legt Kant größten Wert darauf, dass er frei von jeder Neigung zu sein habe. Bei sämtlichen Menschen indessen, die sich pflichtgemäß verhalten „stößt man allenthalben auf das liebe Selbst“.60 Ferner hebt er hervor, dass im Hinblick auf den kategorischen Imperativ „es durch kein Bespiel, mithin empirisch, auszumachen sei, ob es überall irgend einen dergleichen Imperativ gebe“.61 Entweder es handelt sich also um meinen Willen, der wie der Wille aller anderen Menschen stets irgendwie „pathologisch-afficirt“62 ist, oder es handelt sich um einen guten Willen, der zur Autonomie des Vernunftwesens gehört. Zwischen dem Leben mit Liebe, Freundschaft, aber auch Zorn und Antipathie, welches wir führen, und der Sphäre unserer autonomen Vernunft klafft somit ein unüberwindbarer Hiatus, der die feministische Kritik an dieser Art Ethik verständlich werden lässt. Ohne hier in die intensive und teilweise erbitterte Debatte darüber eingreifen zu können, inwieweit Kants Ethik und Rechtslehre miteinander verknüpft oder voneinander zu trennen sind, lässt sich doch festhalten, dass Kant die gesamte Metaphysik der Sitten a priori abzuhandeln gedenkt.63 Insofern ist auch das Unbehagen nachvollziehbar, wenn Kommentatorinnen und Kommentatoren den Eindruck gewinnen, es werde in diesem Kontext die Ansicht oder die Vielzahl der Ansichten aus unterschiedlichen sozialen Strukturen und Umgebungen zugunsten einer einsam 59 60 61 62 63
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 393. Ebd., 407. Ebd., 419. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 19. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI 215.
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in der Gelehrtenstube gewonnenen Auffassung über den Inhalt der Vernunft in den Hintergrund gedrängt, ähnlich wie Sens Vielzahl möglicher unparteiischer Beobachter durch Rawls’ Auffassung darüber, was die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden würden, beiseite gedrängt wurde. Das Unbehagen über den Rückgriff auf „Schattenmenschen“ hinter dem Schleier des Nichtwissens, welcher auch einige unserer Intuitionen zur Gerechtigkeit ausblendet, findet sich auch bei Robert Schnepf, der ebenfalls dafür plädiert, die widersprüchlichen menschlichen Intuitionen so einzubeziehen, dass die entstehenden Gerechtigkeitsprinzipien für die tatsächlich lebenden Menschen akzeptabel sind.64 Dies scheint auch die zentrale Botschaft, die Nussbaum, Sen, Gessa, aber auch viele andere Autorinnen und Autoren wie z. B. Seyla Benhabib gegenüber Rawls und Kant geltend machen: Die Bereitstellung vernünftiger politischer und rechtlicher Institutionen ist unverzichtbar für eine demokratische Entwicklung, doch bedarf es ebenfalls des lebendigen Diskurses unter den tatsächlich lebenden Menschen.
Summary In his work Toward Perpetual Peace Kant states the famous contention: “The problem of establishing a state … is soluble even for a nation of devils (if only they have understanding) …”. Since we are dealing with human beings we have to ask whether they have enough understanding for building a state – perhaps even a just state. The article states that this depends partially also on local customs and the capacities of men to use the different political institutions. Therefore it takes up parts of the criticisms which the two main protagonists of the capability approach toward justice uttered against Rawls’ institutionalist conception of justice, stating that both authors give more something like a completion and necessary “amendments” of the approach given by Rawls instead of a new and alternative view of justice. Nevertheless, the capability approach offers a way to involve actually living people more immediately and directly into political, legal an moral discourse than a purely Kantian – and also a purely Rawlsian – approach can do.
64 Robert Schnepf, Armut ohne Bedürftigkeit ist ein Gut. Autonomie in einer Welt von Gütern, in: Ursula Renz / Barbara Bleisch (Hrsg.), Zu wenig. Dimensionen der Armut, Zürich: Seismos Verlag, 110 – 135, 118.
Politische Ethik und politische Theologie Ulrich H. J. Körtner
I. Politische Ethik im theologischen Kontext Politische Ethik, wie der Begriff hier gebraucht wird, ist nicht mit politisierender Ethik zu verwechseln. Sie ist auch nicht selbst eine Form der Politik, wie Peter Fischer behauptet, der die politische Ethik als Angewandte Ethik charakterisiert und im Anschluß an Max Weber ein verantwortungsethisches Konzept vertritt, das sich selbst als politische Praxis versteht, nämliche als „ein Konzept verantwortungsethischer Politik auf demokratischer Grundlage“1. Abgesehen von der Mehrdeutigkeit des Politikbegriffs, der es erfordert, zwischen der institutionellen rechtlichen Ordnung (englisch „polity“), den Zielen und Inhalten politischen Handelns (englisch „policy“) sowie auch der politischen Entscheidungsfindung (englisch „politics“) zu unterscheiden, besteht auch zwischen Ethos, Moral und Ethik ein grundlegender Unterschied. Ethik ist Theorie der Moral bzw. des Ethos, wenn auch im Unterschied zur Soziologie der Moral eine moralhaltige, d.h. keineswegs nur deskriptiv-hermeneutische, sondern auch eine normative Theorie der Moral. Politische Ethik ist dementsprechend eine Ethik des Politischen in all seinen genannten Facetten. Sie beschränkt sich weder, wie es in klassischen Konzeptionen der Fall ist, auf eine ethische Theorie politischer Institutionen, noch handelt es sich lediglich um eine Berufsethik für Politiker, die sich mit dem von Immanuel Kant beschriebenen Unterschied zwischen moralischen Politikern und politische Moralisten befaßt.2 Eine zeitgemäße politische Ethik gründet auf einer politische Theorie, die nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft, Öffentlichkeit und Privatsphäre unterscheidet, sondern dem Entstehen einer modernen Zivilgesellschaft Rechnung trägt, Zivilgesellschaft freilich „im Sinne einer civic society, einer Bürgergesellschaft, nicht der civil society, der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne von Rechts- und Staatswesen“3. Politische Ethik wird im Folgenden auch nicht als Angewandte Ethik bestimmt, weil der Begriff der Angewandten Ethik – im Englischen „applied ethics“ – als Peter Fischer, Politische Ethik (UTB 2762), München: W. Fink, 2006, S. 28. Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke in 6 Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1983, S. 191 – 251, hier S. 233. 3 Ottfried Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München: C.H. Beck, 2004, S. 10. 1 2
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solcher mit erheblichen Theorieproblemen belastet ist. Er suggeriert die Vorstellung einer allgemeinen ethischen Theorie oder allgemeiner ethischer Prinzipien und Kriterien, die jeweils auf konkrete Handlungsfelder oder einzelne Handlungssituationen „angewandt“ werden. Sofern nicht nur die kasuistische (d. h. Einzelfall-)Anwendung ethischer Prinzipien, sondern die umfassende ethische Reflexion konkreter Handlungsweisen und Entscheidungsabläufe gemeint sein soll, erscheint der Begriff der „Anwendung“ äußerst vieldeutig und unklar. Wer oder was wird hier von wem worauf angewendet? Wer ist das Subjekt der Anwendung? Wer sind die Adressaten? Und bedeutet „Angewandte Ethik“, daß die ethische Reflexion vor dem Handeln steht, oder meint sie die nachträgliche Rechenschaft, z. B. für konkretes politisches oder wirtschaftliches Handeln? Unklar ist auch, was eigentlich in der so genannten Angewandten Ethik zur Anwendung kommt: Prinzipien, Kriterien und Normen oder Modelle, Paradigmen, Beispiele und Erfahrungen, also das, was man gemeinhin „Topik“ nennt? Topoi, „Örter“, lateinisch loci, sind in der antiken Rhetorik, vor allem bei Aristoteles und Cicero, allgemeinste Kategorien, in denen ein Redner plausible Argumente aufsucht.4 Wir sprechen auch heute noch von „Gemeinplätzen“ (lateinisch loci communes). Das Ziel der Topik ist die situative Angemessenheit von Argumentationsstrategien. Unklar ist ferner, auf welche Art und Weise die vermeintliche Anwendung geschehen soll. Heißt „anwenden“ soviel wie Ableitung von einer allgemeinen Norm, d.h. ein Urteilsentscheid, der strikt zu befolgen ist, oder ist nondirektive Beratung oder praktische Lebenshilfe gemeint? Wenn man Angewandte Ethik im Sinne der Topik versteht, kann jedenfalls nicht von der kasuistischen Anwendung einer ethischen Theorie gesprochen werden. Zwischen theoretischer und angewandter Ethik besteht nämlich eine Diskrepanz, wie Julian Nida-Rümelin mit Recht feststellt. Die Vorstellung, alle ethische Urteilsbildung in praktischen Fragen lasse sich auf ein Grundprinzip zurückführen, scheitert nicht nur an der Komplexität der Wirklichkeit, sondern auch an der Vielzahl konkurrierender Ethikansätze. Die klassische Topik aber „beschränkt sich auf ein gewisses Maß an Systematisierung unserer moralischen Alltagsüberzeugungen, ohne den reduktionistischen Ansprüchen der ‚reinen´ Theorie nachzugeben“5. Treffender als durch den Begriff der Angewandten Ethik werden Aufgaben und Gegenstand einer auf ein bestimmtes Handlungsfeld bezogenen Ethik durch den von Julian Nida-Rümelin eingeführten Begriff der Bereichsethik charakterisiert. Dieser setzt voraus, daß uns unterschiedliche Praxisfelder „mit unterschiedlichen Arten von Problemen konfrontieren, die unterschiedliche Arten der ethischen Reflexion erfordern“6. 4 Vgl. Johannes Zachhuber, Art. Topik, in: RGG4 VIII, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, Sp. 475 – 476. 5 Julian Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik. Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: ders. (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart: Kröner 1996, S. 42.
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Der Begriff „Bereichsethik“ trägt außerdem der Dynamik der Entwicklung auf den jeweiligen Handlungsfeldern besser Rechnung als der Begriff der Angewandten Ethik. Wie der Sachstand der Probleme, so ist auch die Moral einem geschichtlichen Wandel unterworfen, was aber nicht bedeutet, daß es keine moralischen Grundüberzeugungen gibt, die über lange Zeiträume Bestand haben. So wenig es darum gehen kann, die Moral bzw. das Ethos den vermeintlichen „Sachzwängen“ der unterschiedlichen Praxisbereiche anzupassen, so wenig kann das Ziel ethischer Reflexion darin bestehen, „den moralischen Status quo festzuschreiben und zu fixieren. Vielmehr ist sie genötigt, moralische Standards des tradierten Ethos ständig kritisch zu überprüfen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche und individuelle Praxis zu untersuchen“7. Bereichsethiken sind konkrete Formen topischer Ethik. Der Begriff des Topischen ist wiederum anschlußfähig gegenüber einer verantwortungsethischen Konzeption.8 An den konkreten ethischen Fragen wird deutlich, daß die unterschiedlichen Bereiche, auf die sich das bereichsethische Denken einzulassen hat, nicht als autarke Gebiete voneinander separiert sind, sondern sich überlagern. Topische Ethik ist keine statische, sondern eine dynamische Ethik, die ihr besonderes Augenmerk auf die Schnittstellen der verschiedenen Lebensbereiche richtet. Die Orte des Ethischen (Klaus Tanner)9 müssen immer wieder neu bestimmt werden, weil sich die Topographie des vielfältigen Lebens fortlaufend wandelt. Ethik, auch eine Ethik des Politischen fragt nicht, was immer und überall, sondern was hier und jetzt richtig ist. Seit den Anfängen des Christentums gehört die Politische Ethik zum Themenbereich der Theologie. Traditionell gesprochen ging und geht es um die Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt bzw. Kirche und staatlicher Obrigkeit, modern gesprochen um das Verhältnis von Kirche und Staat einerseits und dasjenige von Kirche und Gesellschaft andererseits. Die grundlegenden Veränderungen staatlicher Ordnung und ihrer rechtlichen Legitimation – vereinfacht gesagt das Ende feudaler Herrschaft und das Entstehen der modernen Demokratie – haben auch die Theologie und die Kirchen seit der Aufklärung zu einer grundlegende Neubestimmung ihrer Sicht der Sphäre des Politischen genötigt. Die Kirche von heute hat ihren Ort nicht in der Dyade von Staat und Kirche, sondern, wie Wolfgang Huber richtig feststellt, „im triadischen Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft“ 6 Johannes Fischer, Medizin- und bioethische Perspektiven. Beiträge zur Urteilsbildung im Bereich von Medizin und Biologie, Zürich: TVZ, 2002, S. 34. 7 Martin Honecker, Von der Dreiständelehre zur Bereichsethik. Zu den Grundlagen der Sozialethik, in: ZEE 43, 1999, S. 262 – 276, hier S. 272. 8 Vgl. dazu Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder (UTB 2107), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 22008. 9 Vgl. Klaus Tanner, Vom Mysterium des Menschen. Ethische Urteilsbildung im Schnittfeld von Biologie, Rechtswissenschaft und Theologie, in: Reiner Anselm / Ulrich H. J. Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 135 – 151, hier S. 135.
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wahrzunehmen.10 Dabei verstehen sich die Kirchen heutzutage einerseits als Teil der Zivilgesellschaft, andererseits sind die Kirchen staatlich anerkannte Institutionen. In Deutschland haben die großen Kirchen die Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die römisch-katholische Kirche ist sogar ein Völkerrechtssubjekt. Es wäre daher unzureichend, die Kirchen lediglich als Teil der Zivilgesellschaft zu interpretieren. Innerhalb der Kirchen können außerdem zwischen ihren zivilgesellschaftlichen Entscheidungsformen und ihren amtskirchlich-institutionellen Strukturen Spannungen aufbrechen, wie die die innerkatholischen Auseinandersetzungen um eine grundlegende Kirchenreform und die Konflikte zwischen Initiativen wie dem Kirchenvolksbegehren und dem Episkopat veranschaulichen. Politische Ethik im theologischen Kontext beschränkt sich jedoch nicht auf die ethische Reflexion der Rolle der Kirche und des kirchlichen Handelns in der modernen Gesellschaft, sondern sie entwickelt eine umfassende Theorie des Politischen und des Ökonomischen auf theologischer Grundlage. Im engeren Sinne ist politische Ethik als ethische Theorie staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen ein Teil der theologischen Sozialethik. In einem weiteren Sinne kann die Sozialethik insgesamt als politische Ethik verstanden werden.
II. Politische Theologie Nun ist die Sphäre des Politischen nicht nur ein Gegenstand theologischer Ethik, sondern auch der Dogmatik. Für eine theologische Theorie des Politischen ist im 20. Jahrhundert die Bezeichnung „politische Theologie“ aufgekommen. Der Begriff reicht bis in die Antike zurück. Die Stoa unterschied zwischen mythischer Theologie, einer physischen oder natürlichen Theologie (Naturphilosophie) sowie der politischen Theologie. Letztere dient der Absicherung politischer Herrschaft und dem Bestand der gesellschaftlichen Ordnung, der durch die Staatsreligion und seinen Kult gewährleistet werden soll. Augustin hat diese Konzeption einer christlich-theologischen Kritik unterzogen. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff von Carl Schmitt wieder aufgegriffen. Seine Schrift Politische Theologie. 4 Kapitel zur Lehre von der Souveränität deutet alle Begriffe der modernen Staatslehre als säkularisierte theologische Begriffe und schreibt dem Katholizismus eine staatsbegründende Funktion zu.11 Nach dieser Theorie setzen alle juristischen Grundbegriffe wie derjenige der Souveränität eine politische Metaphysik oder Theologie voraus. Der Theorie Schmitts hat der zum katholischen Glauben konvertierte ehemalige evangelische Theologie Erik Peterson widersprochen.12 Aus einer Relektüre Augustins leitet er die These ab, alle politi10 Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1998, S. 269. 11 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. 4 Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Nachdruck der 2. Auflage von 1934, Berlin: Duncker & Humblot, 51990.
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sche Theologie sei ihrem Wesen nach häretisch, wobei für ihn Euseb v. Caesarea, Hoftheologe Konstantins des Großen, Inbegriff des politisch-theologischen Häretikers ist. Nach Augustin scheitere die Gleichsetzung der Pax Augustana mit dem göttlichen Frieden an der christlichen Eschatologie, welche die Gleichsetzung von römischem Imperium und Reich Gottes, aber auch die platonisierende Deutung des Imperiums als irdisches Abbild des Himmelreichs verunmögliche. Ohne der politischen Theologie Schmitts und seiner Auffassung vom Staat das Wort reden zu wollen, die einer grundlegenden theologischen Kritik zu unterziehen ist, kann doch Petersons These von dem seinem Wesen nach unpolitischen Christentum nicht überzeugen. „Deshalb ist zwischen Begriff und Sache in der Politischen Theologie zu unterscheiden.“13 Insofern lassen sich auch Augustins Sicht des Staates und seine geschichtstheologische Konzeption in seinem Werk De civitate Dei als eine Form von politischer Theologie bezeichnen. Gerade der eschatologische Vorbehalt gegenüber der eusebianischen Identifikation des Imperium Romanum als Abbild des Reiches Gottes ist eine eminent politische Aussage, weil sie mit theologischen Gründen eine Begrenzung weltlicher Macht fordert. Das klassische protestantische Modell politischer Theologie ist die Zwei-ReicheLehre oder Zwei-Regimenten-Lehre Luthers. Demnach regiert Gott die Welt auf zweifache Weise. Das Regiment zur Linken besteht in der weltlichen Obrigkeit, ihrer staatlichen Gewalt und Gerichtsbarkeit. Das Regiment zur Rechten besteht in der Verkündigung des Evangeliums, die der Kirche aufgetragen ist und allein durch das Wort, ohne äußere Gewalt, geschehen soll.14 Die Stoßkraft der Zwei-ReicheLehre Luthers zielt auf die Entklerikalisierung von Staat und Gesellschaft. Die Weltlichkeit der Welt ist freilich nicht im modernen Sinne säkular, sondern theonom gedacht. Beruf und Familie, die durch Luther und das protestantische Arbeitsethos eine enorme Aufwertung erfahren haben, sind Gottesdienst im Alltag der Welt. Die Rezeption der Zwei-Reiche-Lehre hat freilich im Neuluthertum zu einer Trennung der beiden Bereiche von Welt und Reich Gottes und zur Idee der Eigengesetzlichkeit weltlicher Ordnungen geführt. Teile des Luthertums konnten auf dieser theologischen Grundlage selbst Hitler und seinen Führerstaat als von Gott eingesetzte Obrigkeit anerkennen. Dagegen wandte sich die im wesentlichen von Karl Barth verfaßte Barmer Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche von 1934. Zwar wird die Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung theologisch grundsätzlich anerkannt. Verworfen wird aber die Auffassung, „als solle und könne der Staat über seine besonderen Aufgaben hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen 12 Vgl. Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935. Zur Diskussion um die Thesen von Schmitt und Peterson vgl. auch Alfred Schindler (Hrsg.), Monotheismus als politisches Problem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1978. 13 So richtig Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin: de Gruyter 1995, S. 42. 14 Confessio Augustana (1530), Art. 28, 21: „sine vi humana, sed verbo“ (BSLK 124,9).
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Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“ Im gleichen Atemzug wird auch die Lehre verworfen, „als solle und können sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“15 Gegen eine Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre, die zwischen frommer Innerlichkeit des religiösen Individuums und der Eigengesetzlichkeit politischer und gesellschaftlicher Lebensbereiche unterscheidet, wendet sich das Verwerfungsurteil, „als gebe es Bereich unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften“16. Innerhalb der Bekennenden Kirche entstand die Formel von der Königsherrschaft Christi, die nach 1945 als explizites Gegenmodell zur lutherischen Zwei-ReicheLehre interpretiert wurde. Schon 1938 hatte Karl Barth einen „politischen Gottesdienst“ der Christen gefordert17 und seine Vorstellungen zum Verhältnis von Politik und christlichem Glauben später in seiner Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946) präzisiert.18 Der Gegensatz zwischen Zwei-Reiche-Lehre und der Lehre von der Königsherrschaft Christi sollte dann für Jahrzehnte die evangelischen Debatten zur politischen Ethik bestimmen.19 Der Begriff der Politischen Theologie wurde nach 1960 zunächst von dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz und sodann von den evangelischen Theologen Jürgen Moltmann und Dorothee Sölle wieder aufgegriffen. Das Anliegen von Metz war eine Kritik moderner Privatisierungstendenzen im Christentum. Die Theologie solle die Christen wie auch die Kirche als Ganze zum gesellschaftlichen Engagement motivieren. Zugleich ging es Metz darum, die neutestamentliche Botschaft vom Reich Gottes unten den Bedingungen der modernen Welt, d. h. unter den Vorzeichen von Aufklärung, Säkularisierung und Autonomie neu zu formulieren und aus ihr ein gesellschaftspolitisches Programm abzuleiten.20 Seine neue politische Theologie, die sich dezidiert von den Vorstellungen Carl Schmitts abgrenzt, ist jedoch nicht als bloße Sozialethik, sondern in erster Linie als Fundamentaltheologie konzipiert. Politische Theologie bei Metz zielt gerade nicht auf die Legitimation bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, sie ist vielmehr Gesellschaftskritik, aber auch Kirchenkritik. Auf evangelischer Seite fand Metz in Moltmann und Sölle
Barmer Theologische Erklärung, These 5. Barmer Theologische Erklärung, These 2. 17 Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon: TVZ, 1938, S. 203ff. Vgl. auch ders., Rechtfertigung und Recht (ThSt [B] 1), Zollikon: TVZ, 1938. 18 Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (ThSt [B] 20), Zollikon: TVZ, 1946. 19 Vgl. dazu Honecker (Fn. 13), S. 14 ff. 20 Vgl. Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz: Matthias Grünewald / München: Chr. Kaiser, 1968. Zur von Metz ausgelösten Diskussion siehe Helmut Peukert (Hrsg.), Diskussion zur politischen Theologie, Mainz: Matthias Grünewald, 1969. 15 16
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einflußreiche Mitstreiter. Moltmann, dessen frühes Hauptwerk Theologie der Hoffnung (1964)21 ein intensives Gespräch mit Ernst Bloch führt, hat sich nicht nur mit Erik Peterson eingehend auseinandergesetzt, sondern auch den amerikanischen Begriff der civil religion als Ausdruck von Systemkonformität kritisiert. Theologie ist für Moltmann Veränderungswissenschaft, die Gott nicht – wie die Dialektische Theologie des frühen Karl Barth – lediglich als den Ganz Anderen, sondern als den „ganz Ändernden“ zur Sprache bringt. Dorothee Sölle wiederum hat ihr Programm einer politischen Theologie in Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmanns Theologie der existentialen Interpretation des Neuen Testaments entworfen.22 Einerseits kritisiert Sölle die vermeintlich unpolitische Engführung existentialer Interpretation bei Bultmann, andererseits will sie aber auf Bultmanns Hermeneutik aufbauen und sein Entmythologisierungsprogramm zur theologisch motivierten Ideologiekritik erweitern. Als besonders wirkmächtige Form politischer Theologie nach 1960 ist die in Lateinamerika entstandene Theologie der Befreiung in den Blick zu nehmen, die den Anstoß für weitere politisch motivierte kontextuelle Theologien wie beispielsweise die feministische Theologie gegeben hat. Dabei spielt in all diesen politischtheologischen Diskursen der Dialog zwischen Christentum und Marxismus eine Schlüsselrolle, ohne daß die Befreiungstheologie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen allein auf die Marxismusrezeption zu reduzieren wäre. Insbesondere die Offenheit für das Gespräch mit dem Marxismus hat der neuen politischen Theologie viel Kritik eingebracht. Kritische Bedenken wurden auch gegen die theologischen Grundlagen geäußert. Exemplarisch seien einige Anfragen des evangelischen Sozialethikers Martin Honecker zitiert: „Schließt das Schlagwort ‚politische Theologie‘ nicht von vornherein solche theologischen Sachverhalte aus, die gesellschaftlich und politisch unverfügbar sind? […] Die Reduktion und Beschränkung von Theologie auf politische und gesellschaftliche Fragen und Problemstellungen würde deren totale Funktionalisierung zur Folge haben und müßte den Anspruch der Theologie disqualifizieren, als Theorie Besinnung auf das Reden von Gott zu sein.“23 Dennoch hält Honecker einige Grundanliegen der neuen politischen Theologie für berechtigt. Da der christliche Glaube wesenhaft einen Bezug zur Welt als Schöpfung Gottes habe, sei er zur Übernahme von Weltverantwortung gefordert. Daraus folge nicht nur die Mitverantwortung der Kirche und der einzelnen Christen für gesellschaftliche und politische Probleme, sondern auch die Aufgabe, „kritisch politische Implikationen, Voraussetzungen, unausgesprochene Interessen und Prämissen sowie öffentliche Folgen von Theologie zu bedenken“24. 21 Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh: Chr. Kaiser, 131997. 22 Vgl. Dorothee Sölle, Politische Theologie, erw. Neuaufl., Stuttgart: Kreuz, 1982 (1. Aufl. 1971). 23 Honecker (Fn. 13), S. 49 f. 24 Honecker (Fn. 13), S. 49.
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Ein a-politisches Verständnis von Theologie und Christentum widerspricht in der Tat dem biblischen Zeugnis. Problematisch sind darum auch heutige Spielarten eines kirchlichen Kommunitarismus, die auf eine reine Gegenüberstellung von Kirche und Welt bzw. Gesellschaft hinauslaufen. Besonders prominent ist die Konzeption des methodistischen Theologen Stanley Hauerwas aus den USA. Seine häufig zitierte These lautet, die Kirche habe nicht eine Sozialethik, sondern sie sei eine Sozialethik, nämlich als organisierte Form der Geschichte Jesu: Jesus schafft das Gemeinwesen der Kirche und prägt seine Gestalt.25 Als Kontrastgemeinschaft bildet die Kirche eine Alternative zur politischen Kultur der sie umgebenden Gesellschaft. Ihre Aufgabe in der Welt und an der Welt nehme die Kirche gerade so wahr, daß sie nichts anderes als Kirche sein will. Politik und politische Kultur einer säkularen Gesellschaft sind aber für Hauerwas kein unmittelbarer Gegenstand theologischer Ethik. Moltmann hat die sich als „postliberal“ bezeichnende Theologie von Hauerwas und Theologen, die ähnlich wie er denken,26 als Theologie des gesellschaftlichen Rückzugs der Kirche jüngst kritisiert. Zwar fordere Hauerwas die christliche Ethik zu Recht auf, sich auf ihre christliche Identität zu besinnen, überlasse „jedoch zu Unrecht die öffentliche Relevanz Gott, bzw. der liberalen Demokratie in ihrer postmodernen Beliebigkeit“27. Moltmann berechtigter Einwand lautet, daß Hauerwas mit seinem „scharfen Antagonismus von ‚Kirche‘ und ‚Welt‘ die Welt gar nicht mit dem Evangelium konfrontiert und sie auch nicht stört oder gar in Frage stellt“28. Die einseitig antagonistischen Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft begünstigt Tendenzen zur Selbstimmunisierung der Kirche gegenüber kritischen Anfragen von außen. Die Folge ist eine binnenkirchliche Reduktion ethischer Urteils- und Konsensbildung auf Bekenntnissätze. Kritiker halten Hauerwas m. E. zu Recht vor, seine Ethik erschöpfe sich in prinzipiellen Postulaten, die letztlich in einen ethischen Fundamentalismus und Biblizismus münden.29 Wohl ist die Kirche ausdrücklich zum Thema nicht nur der Dogmatik, sondern auch der Ethik, zumal der Sozialethik zu machen. Doch gilt es die theologische Differenz zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche ebenso zu beachten, wie die neuzeitliche Differenz zwischen den Kirchen und der Christenheit bzw. dem Christentum. Denn die eine Kirche, zu der sich der Glaube im Credo bekennt, manifestiert sich unaufhebbar in der Vielfalt der Konfessionen, deren Verhältnis nicht durch das letztlich ideologische Modell einer irgendwann erreichbaren sichtbaren Einheit, sondern durch eine differenztheoretische Ekklesiologie beschrieben werden 25 Stanley Hauerwas, A community of character. Toward a constructive Christian social ethics, Notre Dame: University Press, 1981. 26 Genannt seien George A. Lindbeck, John H. Yoder und John Milbank. 27 Jürgen Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010, 51. 28 Ebd. 29 Vgl. Jean-Pierre Wils / Dietmar Mieth, Grundbegriffe der christlichen Ethik (UTB 1648), Paderborn: Schöningh, 1992, S. 192.
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muß.30 Eine „kirchliche Ethik“ droht demgegenüber die Komplexität der konfessionellen Vielfalt und der realen ökumenischen Situation auf einen abstrakten Kirchenbegriff oder aber auf die binnenkirchliche Identität einer Einzeldenomination zu reduzieren.31 III. Öffentliche Theologie Die weitere Entwicklung der durch Metz, Moltmann und Sölle begründeten neuen politischen Theologie kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Generell ist zu sagen, daß die geschichtlichen und politischen Veränderungen nach 1989 auch die politische Theologie einschneidend verändert haben. Die utopische Vision einer neuen gesellschaftlichen, sozialistischen Ordnung sollte sich nicht erfüllen. Stattdessen erlebte die Theologie der Befreiung aufgrund der neuen weltpolitischen Entwicklungen eine große Enttäuschung, die eine Neuorientierung unausweichlich machte. Nach Ansicht des in Brasilien lehrenden evangelischen Theologen Rudolf von Sinner wäre es allerdings falsch, von einem Ende der Befreiungstheologie zu sprechen. Er beobachtet statt dessen eine Rekontextualisierung der Befreiungstheologie.32 Nachdem südamerikanische Staaten von der Diktatur zur Demokratie gefunden haben, sei die Theologie der Befreiung zu einer Theologie der „cidadania“, d. h. der „citizenship“ oder „citoyenneté“ weiterzuentwickeln. In einer Situation sozialer Apartheid, die weiterhin in Ländern wie Brasilien anzutreffen ist, bestehe die größte Herausforderung zunächst darin, daß alle Menschen erkennen, daß sie Bürger und Bürgerinnen sind, die im Staat, in Wirtschaft und Gesellschaft Rechte haben. Durch die kontinuierliche Anpassung und Ausweitung der Teilhabe marginalisierter Menschen und Gruppen am sozialen und politischen Leben soll der Antagonismus zwischen politischer Klasse und übriger Bevölkerung überwunden werden, so daß sich die Menschen als Subjekte der Geschichte begreifen können. Theologen 30 Vgl. ausführlich Ulrich H. J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologie im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld: Lutherverlag, 1996, S. 9 ff; ders., Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, S. 13 ff. – Zu beachten ist allerdings, daß der Kommunitarismus selbst eine erhebliche Bandbreite von Positionen aufweist. Manche kommunitaristischen Konzeptionen werden von ihren Autoren als Alternative zum Liberalismus verstanden, andere, wie Martha Nussbaum oder Amitai Etzioni verorten ihre Position jenseits der Alternative zwischen Liberalismus und Konservativismus. Siehe auch Peter Dabrock, Zugehörigkeit und Öffnung. Zum Verhältnis von kultureller Praxis und transpartikularer Geltung, in: GuL 16, 2001, S. 53 – 65. Für eine stärkere Berücksichtigung der Konzeption Etzionis in der theologischen Sozialethik plädiert Georg Plasger, Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft, in: KuD 51, 2005, S. 126 – 156, bes. S. 138 ff. 31 Vgl. auch Martin Honecker, Themen und Tendenzen der Ethik, in: ThR 63, 1998, S. 74 – 133, hier S. 88 f; Edmund Arens, Kirchlicher Kommunitarismus, in: ThRv 94, 1998, Sp. 487 – 500. 32 Vgl. Rudolf von Sinner, Eine Theologie der cidadania als öffentliche Theologie in Brasilien, in: ZEE 54, 2010, S. 263 – 276.
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in Lateinamerika entwickeln Konzepte einer Pastoral der Bürgerrechte, die, wie der Methodist Clovis Pinto de Castro erklärt, zur „öffentlichen Dimension der Kirche“ werden soll.33 Von Sinner versteht die brasilianische Theologie der Cidadania als konkretes Beispiel einer öffentlichen Theologie, über die seit geraumer Zeit international diskutiert wird. Inzwischen ist ein internationales Netzwerk Öffentliche Theologie entstanden, und seit 2007 erscheint das International Journal of Public Theology. Der Begriff Öffentliche Theologie oder public theology ist in den USA von Ronald Thiemann, Max Stackhouse, Don Browning und David Tracy in die Diskussion eingeführt worden, in Großbritannien von Duncan Forrester und Will Storrar, in Südafrika von John de Gruchy und Dirkie Smit, in Deutschland von Wolfgang Huber und Jürgen Moltmann.34 Auch wenn die konkrete Ausformung öffentlicher Theologie in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten sehr verschieden sein kann, besteht doch eine Gemeinsamkeit in der Überzeugung, daß Kirche und Theologie einen Öffentlichkeitsauftrag haben,35 der im Unterschied zu den bereits erwähnten Positionen eines kirchlichen Kommunitarismus sehr wohl die Gesellschaft und keineswegs nur die Kirche als Adressaten christlicher Ethik begreift. Was die lutherische Tradition in Confessio Augustana 14 vom Auftrag der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums sagt (publice docere)36, gilt demnach sinngemäß auch für die Soziallehre der Kirchen wie für die von dieser nochmals zu unterscheidende akademische Sozialethik. Wolfgang Vögele definiert Öffentliche Theologie als „die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in der Öffentlichkeit in die Gesellschaft hinein“. Sie ist für Vögele sowohl „die Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an den öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden“37. Wie Heinrich Vgl. v. Sinner (Fn. 32), S. 271. Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft, in: Ingeborg Gabriel (Hrsg.), Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Theologie, Ostfildern: Matthias Grünewald, 2008, S. 340 – 366, hier S. 344. Siehe u. a. Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, München: Chr. Kaiser, 21991; Max L. Stackhouse, Public theology and political economy: Christian stewardship in modern society, Grand Rapids (Mich.): Eerdmans, 1987; Deirdre King Hainsworth / Scott R. Paeth (Hrsg.), Public theology for a global society. Essays in honor of Max L. Stackhouse, Grand Rapids (Mich.): Eerdmans, 2010; Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh: Chr. Kaiser, 1997. 35 Vgl. Christine Lienemann-Perrin / Wolfgang Lienemann (Hrsg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart: Kohlhammer 2006. 36 BSLK 69,3. 37 Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie (Öffentliche Theologie 14), Gü33 34
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Bedford-Strohm erläutert, muß öffentliche Theologie einerseits in der christlichen Tradition gegründet sein, andererseits aber „zweisprachig“ agieren können: „Öffentliche Theologie hat über ihre eigenen biblischen und theologischen Quellen Aufschluß zu geben, aber sie muss auch eine Sprache sprechen, die von der Öffentlichkeit als Ganzer verstanden werden kann“38, d. h. sie muß zwischen biblischer Begründung und Vernunftbegründung hermeneutisch und argumentativ vermitteln können. Bedford-Strohm unterscheidet freilich nicht zwischen öffentlicher Theologie und dem Reden der Kirche. Demgegenüber plädiere ich für eine deutliche Unterscheidung zwischen kirchlicher Verkündigung und wissenschaftlicher Theologie, auch wenn die Grenzen zwischen einer kirchlichen, d. h. innerhalb der Kirche entwickelten Theologie und der wissenschaftlich-akademischen Theologie fließend sein können. Entsprechend ist nach meinem Dafürhalten auch klarer als bei Bedford-Strohm zwischen der Soziallehre der Kirchen, die sich in öffentlichen Stellungnahmen und Dokumenten wie z. B. Denkschriften findet, und wissenschaftlichtheologischer Sozialethik zu unterscheiden, welche die Soziallehren der Kirchen zum Gegenstand ihrer Theorie hat. Ein zentraler Begriff der unterschiedlichen Konzeptionen von öffentlicher Theologie ist derjenige der Zivilgesellschaft. Das verbindet den theologischen Diskurs mit dem gegenwärtigen Diskurs zu politischen Ethik. Die Zivilgesellschaft ist freilich weder mit der Demokratie noch mit der Gesellschaft insgesamt gleichzusetzen, sondern meint ein bestimmtes Element von Demokratie und einen konkreten Modus von Vergesellschaftung, wobei die Bürgerinnen und Bürger nicht als Bourgeois, sondern als Citoyen mit ihren bürgerlichen Freiheitsrechten, ihren politischen Teilhaberechten und ihren sozialen Rechten in Erscheinung treten. Die bisherige Diskussion über Begriff und Konzeptionen der Zivilgesellschaft zeigt allerdings, daß diese keine Alternative zu staatlichen oder rechtlichen Institutionen darstellt, sondern nur innerhalb einer politischen Verfassung und ihrer Institutionen ein sinnvolles Konzept sein kann. Voraussetzung des politischen Pluralismus ist zunächst die Anerkennung der politischen Ordnung und der Verfahrensregeln politischer Diskurse und Entscheidungsprozesse. Problematisch ist auch die Verengung des Bürgerbegriffs auf den des Citoyen, wie Ottfried Höffe zu Recht kritisiert: „Eine vielerorts verbreitete Aversion gegen eine zweite, auf den Erwerb konzentrierte Bürgerrolle, den Bourgeois, ‚vergißt‘ die materiellen und finanziellen Voraussetzungen: daß die Amtsinhaber alimentiert sein wollen, daß die bürgerschaftlich engagierten Citoyens, wenn sie nicht selber zu Amtsinhaber degenerieren, ehrenamtlich tätig sind, folglich sich selber zu ernähren haben; nicht zuletzt müssen sie jenen finanziellen Mehrwert ‚produzieren‘, der als Steuer öffentliche Ausgaben finanziert.“39 Daß der Bürger nach Höffe nicht nur als Staatsbürger, sondern auch als Wirtschaftstersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, S. 23 f. Vgl. schon ders., Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland (Öffentliche Theologie 5), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1994, S. 418 ff. 38 Bedford-Strohm (Fn. 34), S. 349. 39 Höffe (Fn. 3), S. 11.
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und als Weltbürger in den Blick zu nehmen ist, ist eine Einsicht, die in der ökumenischen Ausrichtung öffentlicher Theologie ihre Entsprechung findet. Der globale Horizont ist ein charakteristisches Merkmal öffentlicher Theologie und einer ökumenischen Sozialethik.40 Ein wichtiges Thema öffentlicher Theologie wie auch der gegenwärtigen zivilgesellschaftliche Diskurse ist die Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft. Nach einer vielzitierten Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes lebt der „freiheitliche, säkularisierte“ – und das heißt eben pluralistisch verfaßte – Staat „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“41. „Als freiheitlicher Staat kann er“, wie Böckenförde ausführt, „nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“42, ohne diese Regulierungskräfte durch rechtliche Sanktionen erzwingen zu können. Böckenförde deutet die Situation des modernen Staates freilich noch mittels des Säkularisierungsbegriffs und unterstellt eine Homogenität, die stillschweigend aus der mehrheitlichen Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Christentum abgeleitet wird.43 Doch eben dies versteht sich in der multikulturellen und multireligiösen Situation heutiger Gesellschaften nicht mehr von selbst, wie z. B. die Diskussion in Deutschland um den Begriff einer Leitkultur zeigt. Ob die pluralistische Demokratie oder auch das Konzept einer Zivilgesellschaft in jedem Fall auf irgendeine Form von Religion, d. h. eine Form der Zivilreligion angewiesen bleibt, ist aber umstritten.44 Umgekehrt stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig die Religionen sind, d. h. in welchem Maße sie in der Lage sind, sich der Moderne zu öffnen, ohne ihre Substanz preiszugeben und ihre Kritikfähigkeit einzubüßen. Das gilt insbesondere für die monotheistischen Religionen, deren Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott traditionellerweise zur Behauptung eines exklusiven Geltungsanspruchs für die eigene Religion führt. Die Religionen sind deshalb herausgefordert, sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche und ihrer grundsätzlichen Relativierung in modernen pluralistischen Gesellschaften auseinandersetzen. Zur Pluralismusfähigkeit der Religionen gehört in jedem Fall die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die Religionen selbst – d. h. aber auch die Anerkennung des Rechts auf Religionsübertritt und der Abkehr von jeder Religion überhaupt! – Vgl. Bedford-Strohm (Fn. 34), S. 351. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (stw 914), S. 92 – 114, hier S. 112 (im Orig. kursiv). 42 Ebd. 43 Vgl. Böckenförde (Fn. 41), S. 115 f. 44 Vgl. dazu Hans Diekmann, Religion – eine Überlebensbedingung freiheitlicher Demokratie?, in: Alfred E. Hierold / Ernst J. Nagel (Hrsg.), Kirchlicher Auftrag und politische Friedensgestaltung (FS Ernst Niermann), Stuttgart: Kohlhammer, 1995, S. 35 – 48. 40 41
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sowie die Bejahung der repräsentativen Demokratie, des weltanschaulich neutralen Rechtsstaats und damit der Trennung von Staat und Religion. Wollen sich Theologie und Kirche am gesellschaftlichen und politischen Diskurs beteiligen, können sie weder für die von ihnen vertretenen ethischen Grundhaltungen, noch für materialethische Handlungsempfehlungen einen Monopolanspruch erheben. In politischen Fragen können sie ebenso irren wie andere gesellschaftliche Kräfte. Auch wenn die Beteiligung von Theologie und Kirche an gesellschaftlichen Prozessen der Meinungsbildung erwünscht ist, wird ihnen doch längst nicht mehr die Rolle einer letzten Entscheidungsinstanz zugewiesen. So kann ein theologischer Standpunkt im politischen Bereich auch nur als einer neben anderen vertreten werden. Das entbindet Theologie und Kirche freilich nicht von der Aufgabe, die Verbindlichkeit des Glaubens für das individuelle Leben und die Gestaltung der Gesellschaft ernstzunehmen, besteht doch andernfalls die Gefahr der „Selbstsäkularisierung“45. „Nur eine evangelische Kirche, die ihres eigenen Auftrags neu gewiß wird, kann auch ihren Ort in der Gesellschaft überzeugend wahrnehmen.“46 Das innerkirchliche Bemühen um eine größere Verbindlichkeit des Glaubens auf dem Gebiet der Lebensführung darf freilich nicht gegen die Autonomie des Gewissens der Kirchenmitglieder ausgespielt werden. Die Unterscheidbarkeit der Kirche von anderen Institutionen und Gruppen in der pluralen Gesellschaft, die heute unter dem Stichwort der Profilierung diskutiert wird47, ist kein Selbstzweck, sollte aber in einer nachkirchlichen Gesellschaft auch nicht gescheut werden. Die Kirche kann ihrem historischen Ursprung und ihrem Wesen nach durchaus als „Kontrastgesellschaft“ verstanden werden.48 Sie muß sich deshalb aber nicht im Konkreten zu jeder denkbaren Gesellschaftsform im permanenten Dauerkonflikt befinden. Unter volkskirchlichen Bedingungen ist die Kirche, bzw. sind die Einzelkirchen immer auch ein Segment bzw. ein Teilsystem der Gesellschaft, wobei die verschiedenen Gesellschaftssysteme wechselseitig von den anderen als ihre jeweilige Umwelt wahrgenommen werden. Die Menschen, die in einer funktional ausdifferenzierten und pluralistischen Gesellschaft leben, nehmen aber an den Interaktionen und der Kommunikation nicht nur eines, sondern einer ganzen Reihe von Systemen teil. So kommt es auch zwischen der Kirche und anderen sozialen Systemen zu vielfältigen Überschneidungen. Die pauschale Gegenüberstellung von Kirche und Welt bzw. Gesellschaft ist daher soziologisch wie theologisch unterkomplex. Huber (Fn. 10), S. 10. Huber (Fn. 10), S. 312. 47 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Zur Lehre vom Heiligen Geist und der Kirche, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1999, S. 29 ff. 48 Der Ausdruck stammt von Gerhard Lohfink. Siehe Gerhard Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Zur gesellschaftlichen Dimension des christlichen Glaubens, Freiburg / Basel / Wien: Herder, 71987; ders., Wem gilt die Bergpredigt? Beiträge zu einer christlichen Ethik, Freiburg / Basel / Wien: Herder, 1988. 45 46
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Innerkirchliche Verständigungsprozesse müssen einerseits den Grund des Glaubens, andererseits aber den im Glaubensgrund selbst begründeten und keineswegs nur von außen in die Kirche hineingetragenen Pluralismus reflektieren. Theologisch gesprochen handelt es sich um die durch den Heiligen Geist gewirkte Vielfalt von Geistesgaben und Aneignungsmöglichkeiten der biblischen Botschaft. Ebenso müssen kirchliche Binnenperspektiven und Außenperspektiven gesellschaftlicher Diskurse zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Das aber bedeutet, daß eine theologische Ethik, verstanden zunächst als binnenkirchliche Verständigung über den Grund, die Normen und Ziele christlichen Handelns, sich zu einer Art von „integrativer Ethik“ entwickeln muß.49 Im Kontrast zu jener Vorstellung von politischer Theologie, wie sie Carl Schmitt vertreten hat, begreift öffentliche Theologie den Pluralismus nicht als Verhängnis, sondern als Frucht des Christentums. Zumindest für den Protestantismus kann man vom Pluralismus als „Markenzeichen“ sprechen.50 Wie Christofer Frey klarstellt, kann die Aussage, der Protestantismus sei seinem Wesen nach pluralistisch, „ohne Selbstwiderspruch nicht auf jener grundsätzlichen Ebene gelten, die Voraussetzung jeglichen humanen Pluralismus ist und deshalb die Anerkennung des anderen, den Zuspruch der Menschenwürde und den Schutz menschlichen Lebens begründen will. Ein Pluralismus gilt aber angesichts der Frage, welche empirischen Identifikatoren, gegebenenfalls mit Nachhilfe philosophischer Interpretation, zur Identifikation herangezogen werden können, um zu bestimmen, wann und wie der Schutz menschlichen Lebens oder die Konsequenz des Zuspruchs der Menschenwürde relevant werden.“51 Nicht im Bereich der ethischen Grundlegung, wohl aber „im Bereich der pragmatischen Umsetzung in Problembereiche, die empirische Sachverhalte und hermeneutische Perspektiven in einem umfassen, ist ein Pluralismus der Anwendung prinzipieller Einsichten in Grenzen zu vertreten.“52 Politische Theologie und Ethik im Sinne des Programms einer öffentlichen Theologie ist als Absage an alle Versuche zu verstehen, mittels staatlicher Gewalt oder mit Hilfe des Rechts einer bestimmten ethischen Orientierung oder partikularen Gruppenmoral allgemeine gesellschaftliche Verbindlichkeit zu verschaffen. Das 49 Der Begriff stammt von dem Philosophen Hans Krämer, Integrative Ethik (stw 1204), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995. Siehe dazu auch Martin Endreß (Hrsg.), Zur Grundlegung einer integrativen Ethik (stw 1205), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995. Zur theologischen Konzeption einer integrativen Ethik siehe Körtner (Fn. 8), S. 20 ff. 50 Vgl. Reiner Anselm / Johannes Fischer / Christofer Frey / Ulrich H. J. Körtner / Hartmut Kreß / Trutz Rendtorff / Dietrich Rössler / Christian Schwarke / Klaus Tanner, Pluralismus als Markenzeichen. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung, FAZ, 23. Januar 2002, Nr. 19, S. 8. Der vollständige Text trägt den Titel „Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung“ und ist abgedruckt in: Anselm / Körtner (Fn. 9), S. 197 – 208. 51 Christofer Frey, Pluralismus und Ethik. und Ethik. Evangelische Perspektiven, in: Anselm / Körtner (Fn. 9), S. 161 – 178, hier S. 173. 52 Frey (Fn. 51), S. 174.
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Ziel einer politischen Theologie bzw. einer politischen Ethik im theologischen Kontext, wie sie im vorliegenden Beitrag skizziert wurde, ist vielmehr „ein konsequent pluralistischer Gesamtzustand […] des Gemeinwesens“53. Die Selbstbegrenzung des eigenen Geltungsanspruchs ist recht verstanden kein Mangel an eigener Glaubensüberzeugung, sondern im Gegenteil seine Konsequenz. Man kann darin eine zeitgemäße Reformulierung der Zwei-Reiche-Lehre sehen, die wie schon die Reformation auf die Entklerikalisierung des Politischen zielt und die Kirchen davor bewahrt, den christlichen Glauben und seine partikularen Ausdrucksformen auf dämonische Weise mit Gott als seinem Grund zu verwechseln.
Summary This essay analyses the change in Political Theology from its beginnings to current conceptions of Public Theology. Political Ethics in a theological context is not confined to an ethical reflection of the role of the church and of church-related action in contemporary society, thus developing an extensive theory of the political and economical on a theological basis. The term “Political Theology” appeared for a theological theory of political matters in the 20th century. In distancing himself from Carl Schmitt and Erik Peterson, the Roman Catholic theologian Johann Baptist Metz and subsequently the Protestant theologians Jürgen Moltmann and Dorothee Sölle revived the term after 1960. Latin American Liberation Theology as a form of Political Theology with a particularly high impact requires special consideration. In recent times, conceptions of Public Theology that deal with the relation of Church, Christian Social Ethics and civil society with one another have surfaced. Unlike older models of Political Theology, Public Theology does not criticise Pluralism in contemporary societies as disastrous, understanding Pluralism as fruit of Christianity instead. The essay supports a model of Pluralist Theology that understands itself as an alternative to ecclesiastical Communitarianism.
53 Martin Schuck, Art. Politische Theologie, RGG4 VI, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, Sp. 1471 – 1474, hier Sp. 1474.
Politische Ethik zwischen kritischer Theorie und angewandter Ethik Christian Neuhäuser
Politik und Ethik hängen eng zusammen. Zugleich ist es nicht einfach, das Verhältnis von Politik und Ethik zu bestimmen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Ethik für politische Zwecke instrumentalisiert werden kann und sich deswegen nicht einfach ein klarer Vorrang eines neutralen ethischen Standpunktes zur Bewertung politischen Handelns und politischer Strukturen behaupten lässt. Eine politische Instrumentalisierung geschieht immer dann, wenn moralische Argumente bemüht werden, um bereits etablierte Positionen, etwa zur Abtreibung oder zur freien Marktwirtschaft, nur noch rhetorisch zu unterfüttern. In diesem Fall wird die Moraltheorie tatsächlich bloß als Mittel zu einem anderen Zweck verwendet. Die moralischen Argumente sollen nur überreden, aber müssen nicht überzeugen, weil es darauf aus dieser politischen Sicht gar nicht ankommt. Davon lässt sich eine politische Ethik unterscheiden, die um Moral bemüht ist und deren Anhänger tatsächlich glauben, politische Prozesse von einem moralischen Standpunkt aus bewerten und kritisieren zu können. Genau in dieser Hinsicht unterscheidet sich der politische Realismus von einer angewandten Ethik und einer kritischen Theorie. Mir geht es hier bloß um die beiden Ansätze, die um einen moralischen Standpunkt, also eine politische Ethik im Sinne einer ethischen Bewertung und Kritik des Politischen bemüht sind. Sie möchte ich miteinander vergleichen. Auf den ersten Blick haben angewandte Ethik und kritische Theorie nicht viel miteinander gemeinsam. In dem einen Theorieansatz geht es um eine grundsätzliche Erneuerung der Gesellschaft und in dem anderen bloß um eine moralische Beratung parlamentarischer Gesetzgebung. So ließe sich der Gegensatz vielleicht zuspitzen. Doch auf den zweiten Blick sind die beiden Ansätze gar nicht so verschieden voneinander. Zwar ist eine kritische Theorie nicht einfach eine spezifische angewandte Ethik, obwohl sie eine normative und praxisbezogene Theorie ist. Ebenso ist eine angewandte Ethik nicht einfach eine bestimmte Form von kritischer Theorie, obwohl auch sie für sich beanspruchen kann, bestehende Verhältnisse normativ zu kritisieren. Dennoch sind beide Theorieansätze hinreichend ähnlich, wie ich zeigen möchte, so dass eine Verbindung möglich wird. Dazu werde ich die beiden Ansätze in vier Hinsichten vergleichen: bezüglich der normativen Grundlagen, der Modi gesellschaftlicher Veränderung, der Adressaten der Theorie und der methodologischen Grundlagen. Abschließend werde ich dann einen eigenen Ansatz vorstellen, der ge-
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wissermaßen eine Melange aus beiden Strömungen bildet und den ich gerne als kritischen Humanismus bezeichnen möchte.1
I. Angewandte Ethik und kritische Theorie: Vier Strukturmerkmale im Vergleich Der Vergleich zwischen angewandter Ethik und kritischer Theorie wird hier nur in groben Zügen erfolgen. Weder ist es möglich, einzelne Autoren und ihr spezifisches Verständnis des jeweiligen Theorieansatzes zu diskutieren, noch können die vielen feinen Linien der jeweiligen Theorieentwicklung und -modifikation nachgezeichnet werden.2 Es geht also eher darum, die beiden Theorieansätze einander in idealtypischer Form gegenüberzustellen und dies hat einigermaßen experimentellen Charakter. Das ist einerseits natürlich ein Mangel, weil viele wichtige Details unberücksichtigt bleiben. Zugleich wird gerade durch diese grobe Brille aber auch gut sichtbar, was die beiden Theorieansätze gemeinsam haben, was sie unterscheidet und wie sie sich verbinden lassen. Zudem sind die vier Strukturmerkmale, die miteinander vergleichen werden, nicht zufällig gewählt, sondern betreffen zentrale Grundelemente der beiden Theorieansätze in dem Sinne, dass sie den spezifischen Charakter des jeweiligen Theorieansatzes wesentlich bestimmen.
1. Normative Grundlagen Der Unterschied zwischen angewandter Ethik und kritischer Theorie in normativer Hinsicht lässt sich leicht in plakativer Weise auf den Punkt bringen. Die angewandte Ethik hat ihre Wurzeln im Liberalismus, die kritische Theorie hingegen im Marxismus. Bei der kritischen Theorie steht außer Frage, dass am Anfang der Theorietradition und bei Autoren wie Horkheimer, Adorno, Marcuse und Fromm ein klares Bekenntnis zum nicht dogmatisch verstandenen Marxismus stand, das mit der Hoffnung verbunden war, die kapitalistische durch eine andere Gesellschaft zu ersetzen.3 Auf die angewandte Ethik hingegen hat der Marxismus kaum einen Einfluss gehabt. Dies liegt sicher nicht zuletzt daran, dass sich die angewandte Ethik zumindest in Deutschland als Medizinethik und nicht als Wirtschaftsethik ent1 Ich danke Robin Celikates für (im doppelten Sinne) kritische und sehr hilfreiche Kommentare. 2 Dies gilt insbesondere für die kritische Theorie und ihre zahlreichen Verästelungen. Vgl. dazu Raymond Geuss, Die Idee einer kritischen Theorie, Königstein: Hain, 1983; Helmut Dubiel, Kritische Theorie der Gesellschaft, Weinheim: Juventa, 1992; Axel Honneth, Pathologien der Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. 3 Theodor W. Adorno, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, in: ders., Gesammelte Schriften 8, 2003, S. 354 – 370; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Max Horkheimer, „Traditionelle und kritische Theorie“, in: ders., Gesammelte Schriften 4, Frankfurt a. M.: Fischer, 1992, S. 162 – 225; Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, München: dtv, 1994, S. 236 – 257.
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wickelt hat.4 In der gegenwärtigen Medizinethik jedenfalls geht es vornehmlich um gesetzliche Regelungen und insbesondere Verbote bestimmter medizintechnischer Eingriffe. Daher bietet sich der Liberalismus als Ausgangspunkt für eine normative Auseinandersetzung mit der Praxis solcher Gesetzgebungsverfahren an. Obwohl die Zuordnung in dieser plakativen Form kaum zu bestreiten ist, ergeben sich im Detail natürlich Probleme. Ich möchte nur jeweils ein Problem pro Theorieansatz diskutieren, weil dadurch das eigentliche Ziel der Gegenüberstellung besser sichtbar wird. Denn in normativer Hinsicht sind kritische Theorie und angewandte Ethik nicht so weit voneinander entfernt, wie es zunächst vielleicht den Anschein hat. Am Ende gibt es sogar überhaupt keine kategorialen, sondern allenfalls graduelle Unterschiede. Zuvor jedoch zu den beiden Problemen: Das erste besteht in dem Einwand, dass die kritische Theorie überhaupt keine normative Theorie sei. Das zweite besteht in dem Hinweis, dass die angewandte Ethik keinesfalls auf einen Liberalismus festgelegt und praktisch nicht einmal von ihm dominiert sei. Der Einwand, dass die kritische Theorie keine normative Theorie sei, ist natürlich der Überzeugung geschuldet, dass auch der Marxismus keine normative Theorie ist.5 Das ist jedoch falsch. Zwar stimmt es, dass Marx gegen Ethik und Gerechtigkeit polemisiert hat. Doch es ist ziemlich offensichtlich, dass er damit die Moralund Gerechtigkeitsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit gemeint hat. Es stimmt ebenfalls, dass er selbst keine eigene Theorie der Moral bzw. Gerechtigkeit entwickelt hat, weil er davon überzeugt war, dass sich die kommunistische Gesellschaft mit Notwendigkeit in einem historischen Kampf aus der kapitalistischen entwickeln wird. Dafür bedarf es nach Marx keiner positiven normativen Theorien, sondern nur eine kritische Aufklärung der Arbeiter darüber, dass sie ausgebeutet werden. Doch schon am Begriff der Ausbeutung zeigt sich, dass Marx mit normativen Konzepten gearbeitet hat. Zwar hat er vornehmlich negative Konzepte verwendet, wie Ausbeutung, Entfremdung, Verelendung und Demütigung. Dennoch zeigt sich hier, dass der Marxismus durchaus einen normativen Maßstab kennt, allerdings in Form einer negativen Utopie, wie man vielleicht sagen könnte. Diese Utopie ist negativ durch die Abwesenheit von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung, Armut etc. bestimmt.6 An diesem negativ bestimmten normativen Ideal einer marxistischen Gesellschaft orientieren sich auch die Autoren der kritischen Theorie.7 Auf den ersten Blick 4 Vgl. dazu Marcus Düwell, Bioethik, Stuttgart: Metzler, 2007, S. 1 – 25; Andreas Vieth, Angewandte Ethik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, S. 19 – 32. Für die angewandte Ethik von zentraler Bedeutung und vielleicht noch wichtiger als die Position von John Rawls ist der Liberalismus von Feinberg: Vgl. Joel Feinberg, Harm to Others, Oxford: Oxford University Press, 1984. 5 Vgl. Marco Iorio, Karl Marx, Berlin: de Gruyter, 2003, S. 282 – 289. 6 Vgl. dazu Emil Angehrn, Georg Lohmann (Hrsg.), Ethik und Marx, Königstein: Hain, 1986; Allen Wood, Karl Marx, London: Routledge, 2004, S. 151 –162. 7 Eine übliche Strategie ist es hier, im aristotelischen Sinne die kategoriale Unterscheidung zwischen Deskriptivität und Normativität selbst anzuzweifeln. Vgl. Max Horkheimer (Fn. 2);
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könnte hier ein wesentlicher Unterschied zur angewandten Ethik gesehen werden. Diese bestimmt, so scheint es, ihren normativen Maßstab positiv, beispielsweise in den liberalen Grundrechten oder den Menschenrechten und der Menschenwürde. Doch das muss nicht so sein. Liberale Grundrechte lassen sich negativ als Abwehrrechte bestimmen – das ist sogar die klassische Variante. Und selbst die Menschenwürde kann negativ über die Abwesenheit von Demütigungen bestimmt werden.8 Demgegenüber tritt ein anderer Unterschied der beiden Theorieansätze in den Vordergrund. Die kritische Theorie ist fest auf einen marxistisch orientierten normativen Standpunkt eingeschworen, zumindest in ihrer klassischen Prägung. Die Verbindung von angewandter Ethik und Liberalismus hingegen erscheint viel weniger stabil, sondern fast ein wenig zufällig. Hinzu kommt, dass insbesondere in der Medizinethik, aber beispielsweise auch der Wirtschaftsethik christliche Positionen eine wesentliche Rolle spielen, die zumindest traditionell nicht als liberal im philosophischen Sinne bezeichnet werden können. Diese Einwände sind einerseits richtig, andererseits missverstehen sie die Rolle christlich orientierter Autoren innerhalb philosophischer Diskussionen zu Themen der angewandten Ethik. Dort müssen sie ihre Positionen nämlich mit Argumenten verteidigen, die ihre normative Kraft aus liberalen Grundsätzen und nicht aus dem christlichen Glauben schöpfen.9 Daher lässt sich die These, in der angewandten Ethik herrsche trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Hintergründe der beteiligten Theoretiker ein liberales Paradigma, aufrecht erhalten. Insofern bliebe auch der entsprechende normative Gegensatz zwischen angewandter Ethik und kritischer Theorie bestehen. Doch dieser Gegensatz ist eigentlich gar nicht besonders groß und nimmt sogar ab. Dies liegt schlicht daran, dass sich liberale und marxistisch orientierte Positionen in normativer Hinsicht zunehmend annähern. Besonders deutlich wird dies in Gerechtigkeitsfragen. Dort unterscheiden sich der Liberalismus von John Rawls und der Sozialismus von Gerald Cohen nur noch in sehr abstrakter Hinsicht, nicht mehr so sehr aber in praktischen Forderungen, wie einer massiven Umverteilung zugunsten der am meisten Benachteiligten unter Wahrung fundamentaler Freiheitsrechte.10 Das gilt auch für gegenwärtige Vertreter der kritischen Theorie wie Jürgen Habermas oder Axel Honneth, die klar sozialdemokratisch orientiert Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, Kap. I.1. und S. 85 – 88. 8 Vgl. dazu Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge (MA): Harvard University Press, 1996, S. 100 –112; Paulus Kaufmann u. a. (Hrsg.), Humiliation, Degradation, Dehumanization, Dordrecht: Springer, 2010. 9 Ein gutes Beispiel dafür ist die Position von Robert Spaemann, Personen, Stuttgart: KlettCotta, 1996. 10 Dies gesteht auch Cohen zu. Vgl. Gerald A. Cohen, If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich?, Cambridge (MA): Harvard University Press, 2000, S. 134 –147. Vgl. für einen guten Vergleich der Positionen: Will Kymlicka, Politische Philosophie heute, Frankfurt a. M.: Campus, 1997, Kap. 3 und 5.
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sind.11 Während liberale Autoren die Bedeutung soziökonomischer Rechte kaum noch bestreiten, akzeptieren kritische Theoretiker den Vorrang grundlegender Freiheitsrechte. Daher ließe sich die kritische Theorie in normativer Hinsicht geradezu als angewandte Ethik besonderer Prägung bezeichnen, nämlich deutlich marxistisch bzw. sozialdemokratisch orientiert. Dies wäre durchaus als Bereicherung der angewandten Ethik zu begrüßen, da solche Positionen dort in vielen Fragen kaum Gehör finden, selbst in dem Bereich, der als politische Ethik bezeichnet werden kann. Dies gilt insbesondere für einen Punkt der in der kritischen Theorie sehr wichtig ist, in der angewandten Ethik hingegen gern vornehm vernachlässigt wird. Normative Positionen müssen zumeist in einem politischen Kampf durchgesetzt werden, damit sie realpolitisch wirkungsmächtig werden. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments allein, wie ironischerweise Habermas es formuliert, reicht in der Praxis allzu oft nicht.12 Die normative Annäherung sozialistischer und liberaler Positionen spricht dennoch dafür, dass ein produktiver Austausch der beiden bisher noch getrennt gedachten Theorieansätze nicht unmöglich ist. Zugleich scheinen andere Gesichtpunkte dem im Wege zu stehen, insbesondere die unterschiedlichen Modi gesellschaftlicher Veränderungen, die in den beiden Theorieansätzen maßgeblich sind. Dies ist Thema des nächsten Abschnitts.
2. Modi gesellschaftlicher Veränderung Wie die kritische Theorie ist auch die angewandte Ethik durchaus auf gesellschaftliche Veränderung und nicht nur eine normative Rechtfertigung bestehender Verhältnisse ausgerichtet. Dies liegt in der Natur der Sache, denn mit einer Diskrepanz zwischen tatsächlichen und richtigen Regeln und Zuständen ist aus jeder reflexiven normativen Perspektive zu rechnen. Relativ festgelegt ist die angewandte Ethik allerdings in ihrem Verständnis davon, wie eine gesellschaftliche Veränderung vom tatsächlichen zum gesollten Zustand zu geschehen hat. Der angemessene Weg dazu sind Reformen und insbesondere rechtliche Reformen innerhalb des vorgegebenen Rahmens der liberalen Verfassung.13 Ganz anders ist dies in der kritischen Theorie. Hier ist es klassisch die Revolution, durch die der Sprung von der kapitalistischen zur kommunistischen oder sozialistischen Gesellschaft vollzogen 11 Vgl. Jürgen Habermas, „Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 65 – 94. Nancy Frazer, Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. 12 Besonders Iris M. Young hat diesen Punkt aus kritischer Perspektive stark gemacht. Vgl. Iris M. Young, Inclusion and Democracy, Oxford: Oxford University Press, 2002, S. 77 – 80. Vgl. auch Habermas selbst: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978, S. 37 ff. 13 Die reformorientierte Perspektive der angewandten Ethik zeigt sich gut in ihrer Nähe zum Deutschen Ethikrat. Vgl. auch Dieter Birnbacher, „Wofür ist der ,Ethik-Experte‘ Experte?“, in: Bernward Gesang (Hrsg.), Biomedizinische Ethik, Paderborn: Mentis, 2002, S. 97 – 114.
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wird.14 Dieser Gegensatz erscheint unüberbrückbar. Wenn ein Theorieansatz darauf beruht, dass normativ geforderte gesellschaftliche Veränderungen nur durch eine Revolution erreicht werden können, und der andere darauf beharrt, dass sie durch Reformen möglich sind, dann wirken die beiden Ansätze unvereinbar und stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dennoch ist eine Annäherung möglich. Eine angewandte Ethik muss nicht verneinen, dass eine Revolution erlaubt oder sogar gefordert sein kann, beispielsweise wenn die politischen Verhältnisse totalitär sind. So kann sie die amerikanische oder französische Revolution und auch die gegenwärtigen Ereignisse in Nordafrika durchaus positiv beurteilen. Eine kritische Theorie hingegen kann zugestehen, dass Reformen immer dann vorzuziehen sind, wenn sie Erfolg versprechen. Trotzdem bleibt eine deutliche Spannung bestehen. Dies liegt einfach daran, dass ein liberaler Kapitalismus für eine angewandte Ethik grundsätzlich richtig ist und nur partikularer Reformen bedarf, beispielsweise in Bezug auf demokratische Beteiligung, Arbeitnehmerrechte und Besteuerung. Für die klassische kritische Theorie hingegen ist diese Gesellschaftsform grundfalsch und muss daher auch grundlegend gewandelt werden. Selbst wenn solch ein grundlegender Wandel durch Reformen möglich wäre, müssten diese Reformen also viel weiter gehen, als für die liberal orientierte angewandte Ethik. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich zwei Gründe dafür anzuführen, warum der reformorientierten Perspektive der angewandten Ethik ein systematischer Vorrang vor der revolutionären Perspektive der kritischen Theorie zugesprochen werden sollte. Erstens haben die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass Revolutionen sehr ungewiss in ihrem Ausgang sind. Es ist alles andere als ausgemacht, dass selbst erfolgreiche Revolutionen zu der gewünschten positiven Veränderung führen. Oft münden sie in totalitären Regimes, die nur grausam und demütigend sind.15 Dies sollte eigentlich nicht verwunderlich sein. Denn Revolutionen sind chaotische politische Zustände, in denen charismatische Führerpersönlichkeiten eine wichtige Rolle spielen. Die eignen sich in ihrer Egomanie jedoch kaum für die Umsetzung sozialistischer Ideale und einer radikal demokratischen Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die marxistische Utopie nur negativ bestimmt ist, wie wir im vorhergehenden Abschnitt gesehen haben. Auf dieser Grundlage lässt sich überhaupt nichts konkret darüber sagen, wie eine bessere Gesellschaft nach der Revolution aussehen sollte und entsprechend auch nicht wie und ob dieses unbestimmte Ziel zu erreichen ist. Dem willkürlichen Missbrauch und Abgleiten in eine totalitäre Politik steht dann wenig im Wege. 14 Vgl. beispielsweise: Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989; Herbert Marcuse, „Konterrevolution und Revolte“, in: ders., Schriften 9, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 7 – 128. 15 Vgl. Avishai Margalit, On Compromise and Rotten Compromise, Princeton: Princeton University Press, 2010, S. 2 f., 12 f.. Eine sehr eindeutige Position bezieht das kontroverse Schwarzbuch Kommunismus: Stephane Courtois u. a. (Hrsg.), Schwarzbuch Kommunismus, München: Piper, 2004.
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Zweitens zeigt die im vorhergehenden Abschnitt angesprochene Annäherung von Liberalismus und Sozialdemokratie in normativer Hinsicht, dass eine Grundannahme der revolutionär orientierten kritischen Theorie falsch ist. Diese Annahme bestand darin, dass sich substantielle gesellschaftliche Veränderungen nur durch radikale Maßnahmen erreichen lassen. Tatsächlich haben sich liberale Gesellschaften jedoch als stärker flexibel erwiesen und waren in der Lage neben den klassischen Freiheitsrechten auch Teilhaberechte und sogar recht weitreichende sozioökonomische Rechte umzusetzen.16 Diese Reformfähigkeit zeigt sich in der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft – das praktische Gegenstück zur theoretischen Annäherung von Liberalismus und Sozialismus. Zwar haben sich in letzter Zeit aufgrund der ökonomischen Globalisierung viele Industriestaaten wieder ein gutes Stück weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zu einer stärker libertären Marktordnung entwickelt. Aber da diese Staaten in der Vergangenheit bereits Reformfähigkeit in die andere Richtung unter Beweis gestellt hatten, ist auch diesmal zumindest nicht ausgeschlossen, dass die soziale Marktwirtschaft durch abermalige und vielleicht stärker regionale Reformen wieder erstarkt. Die praktisch erwiesene Reformfähigkeit liberale Gesellschaften und vor allem die katastrophalen Erfahrungen mit den sozialistischen Revolutionen des 20ten Jahrhunderts stützen die These von dem systematischen Vorrang der Reformorientierung vor allen revolutionären Tendenzen. Dies ist auch innerhalb der gegenwärtigen kritischen Theorie relativ anerkannt, was schon allein daran zu sehen ist, dass ihre Diskussion inzwischen eher um das Thema ziviler Ungehorsam im Gegensatz zu bewaffnetem Widerstand kreist.17 Dennoch bleibt von der stärker kämpferischen Ausrichtung der frühen kritischen Theoretiker etwas übrig. Diese richteten ihre theoretischen Bemühungen nämlich an individuelle Bürger als potentiell revolutionäre Subjekte und nicht an etablierte politische Institutionen, wie in der angewandten Ethik üblich. Dieser zentrale Unterschied in der Adressatengruppe der Theorieansätze ist Thema des nächsten Abschnitts.
3. Adressaten der Theorie Die kritische Theorie adressiert tendenziell Bürger als politische Subjekte.18 Die angewandte Ethik adressiert tendenziell politische Institutionen, die an der Gesetzgebung beteiligt sind, und versucht auf parlamentarische Entscheidungen Einfluss 16 Vgl. zu dieser Darstellung: Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a. M.: Campus, 1992. 17 Vgl. dazu: Jürgen Habermas, „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 79 – 99; Robin Celikates, „Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie – konstituierende vs. konstituierte Macht?”, in: Thomas Bedorf, Kurt Röttgers (Hrsg.): Die Politik und das Politische, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2010, 274 – 300. 18 Vgl. Raymond Geuss (Fn. 2), S. 67.
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zu nehmen.19 Dies ist natürlich nicht zwingend so. Beispielsweise können auch kritische Theoretiker versuchen, auf Prozesse der Gesetzgebung und parlamentarische Entscheidungen Einfluss zu nehmen und tun dies hin und wieder auch.20 Ebenso könnten angewandte Ethiker Bürger als politische Akteure adressieren, was tatsächlich allerdings nur sehr selten geschieht. Die Gründe für diese Ausrichtung sind wieder in den Traditionen der beiden Theorierichtungen zu finden. Der Liberalismus befindet sich mit der repräsentativen Demokratie im Einklang und versteht die Parlamente und Parteien als die zentralen Orte des politischen Geschehens. Daher wendet sich die liberal orientierte angewandte Ethik mit ihren Reformbemühungen an diese Institutionen. Für den Marxismus hingegen liegt in der repräsentativen Demokratie selbst ein Problem. Der klassische Vorwurf lag darin, dass diese Form von Demokratie bloß zur Legitimation und Stabilisierung der kapitalistischen Marktwirtschaft dient. Bei Marx selbst ist nicht ganz klar, welches politische System in einer kommunistischen Gesellschaft herrscht, allerdings wird manchmal von einer radikalen Demokratie gesprochen.21 Jedenfalls konnten in der klassischen Variante der kritischen Theorie deswegen nicht die politischen Institutionen und Funktionsträger adressiert werden, denn die galt es ja zu überwinden. Als Adressat blieben dann die Bürger als politische Akteure und potentiell revolutionäre Subjekte. Durch die zunehmende Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft ist allerdings auch die Radikalopposition zur repräsentativen Demokratie verloren gegangen. Geblieben ist jedoch die Ausrichtung auf die Zivilgesellschaft und die politischen Bürger als Adressaten der theoretischen Bemühungen. Dies drückt sich in einer stärker republikanischen Vorstellung von Demokratie aus.22 An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von liberaler und republikanischer Demokratie einzuschätzen ist und ob die Zuordnung der ersten Demokratieform zur angewandten Ethik und der zweiten zur kritischen Theorie zwingend ist. Im liberalen Verständnis findet Demokratie in der professionellen Politik statt und die einzige demokratische Aufgabe der Bürger besteht darin, zur Wahl zu gehen. Dieses ökonomische Effizienzmodell der Demokratie wird noch durch eine Verfassung bzw. in Deutschland das Grundgesetz ergänzt, das jeder politischen Meinungsbildung vorausgeht und ihr enthoben ist. Diese externe Kontrollinstanz des professionellen politischen Betriebs ist nötig, um zu verhindern, dass die politischen Eliten ihre Macht missbrauchen. Die Bürger können solch eine Kontrollfunk19 Viele Stellungnahmen zur angewandten Ethik lesen sich daher wie Empfehlungen für politische Entscheidungsträger. Vgl. dazu die Darstellungen der Bereichsethiken in Ralf Stoecker u. a., Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart: Metzler, im Erscheinen. 20 Dies gilt beispielsweise für die Äußerungen von Habermas zu bioethischen Fragen: Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001. 21 Vgl. die Diskussion von Held: David Held, Models of Democracy, Cambridge: Polity, Kap. 4. 22 Vgl. für einen Überblick über die beiden Demokratiemodelle: ebd., Kap. 2 und 3.
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tion in diesem Modell kaum wahrnehmen, da sie nur in wiederkehrenden Wahlen zwischen verschiedenen Parteien entscheiden, die ohnehin alle zu derselben politischen Elite dazu gehören.23 In der republikanischen Tradition hingegen steht der urdemokratische Gedanke im Mittelpunkt, dass die Bürger kollektiv den Souverän bilden.24 Aus diesem Grund geht es in dieser Tradition auch primär darum zu etablieren, dass die Bürger so viel direkten politischen Einfluss nehmen können, wie möglich. Dazu gehören beispielsweise Volksabstimmungen, Direktwahlen wichtiger politischer Ämter und eine stärkere Einbindung in die politische Machtausübung auf kommunaler Ebene. Die Forderung nach politischer Selbstbestimmung geht soweit, dass aus klassisch republikanischer Sicht auch die Verfassung bzw. in Deutschland das Grundgesetz nicht dem politischen Prozess enthoben, sondern in regelmäßigen Abständen den Bürgern zur Abstimmung vorliegen sollte.25 Auf den ersten Blick erscheinen das liberale und das republikanische Modell der Demokratie also tatsächlich als sehr unterschiedlich. Die wechselseitige Kritik zeigt jedoch, dass beide Modelle Defizite haben und der Gegensatz so nicht stehen bleiben kann. Der liberalen Kritik am Republikanismus, dass sich eine direkte Demokratie in großen „Massendemokratien“ einfach nicht realisieren lässt, ist sicher zuzustimmen.26 Zu bedenken ist außerdem, dass für politische Freiheit dasselbe gilt wie für alle anderen Freiheiten. Sie muss gegen andere Freiheiten und Grundgüter abgewogen werden. Daher kann es nicht um eine einfache Maximierung politischer Beteiligung gehen, auch wenn es einen unbedingten Vorrang politischer Grundfreiheiten vor anderen Gütern gibt. Andererseits trifft auch die republikanische Kritik an der liberalen Demokratie einen sehr wichtigen Punkt. Politische Prozesse und Entscheidungen müssen legitimiert sein und ein Bekenntnis zur Demokratie beinhaltet, dass ihre letzte Legitimationsinstanz die Bürger sind. Wenn eine liberale Demokratie allzu sehr auf im ökonomischen Sinne effizientes Regieren abstellt, dann verliert sie diesen Bezug und letztlich ihre Legitimation als Demokratie. Aufgrund der wechselseitigen Kritik bietet sich eine Mischform an, die der Devise folgt, soviel politische Beteiligung wie möglich und soviel Repräsentation und 23 Dies hat neutral bis zustimmend bereits Schumpeter herausgestellt: Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart: UTB, 2005, Kap. 22. Stärker in kritischer Absicht kommt Crouch zu ähnlichen Ergebnissen: Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S. 123 –132. 24 Dies geht natürlich auf die Demokratievorstellung von Rousseau zurück. Vgl. dazu insbesondere: Crawford B. Macpherson, Nachruf auf die liberale Demokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 110 – 115; aber auch: Benjamin Barber, Starke Demokratie, Hamburg: Rotbuch, 2000, S. 146 – 153. 25 Für einen Vorrang der Demokratie vor einem liberalen Konstitutionalismus argumentiert eindrücklich: Jeremy Waldron, Law and Disagreement, Oxford: Oxford University Press, 1999, S. 294 – 300. 26 Vgl. Andrew Kuper, Democracy Beyond Borders, Oxford: Oxford University Press, 2004, S. 50 – 61.
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rechtliche Kontrolle wie nötig. Dann bleibt natürlich viel Raum für inhaltliche Auseinandersetzungen, beispielsweise zur Frage der Volksabstimmung oder dem Status des Grundgesetzes. Das sollte für die formale Bestimmung einer politischen Ethik jedoch kein Problem sein, sondern Gegenstand der normativen Diskussion innerhalb dieses Paradigmas. Demgegenüber liegt der für die gegenwärtige Frage wesentliche Punkt darin, dass sich auch diesmal der Gegensatz zwischen kritischer Theorie und angewandter Ethik als nicht besonders groß erweist. Allerdings ergibt sich in diesem Fall stärker für die angewandte Ethik als für die kritische Theorie die Notwendigkeit einer systematischen Erweiterung. Denn die kritische Theorie hat sich im Verlauf ihrer Entwicklung schon damit arrangiert, dass bestimmte Elemente der liberalen Demokratie einfach den Bedingungen der modernen Massengesellschaft geschuldet sind. Daher hat sie ihre Bemühungen in den letzten Jahren auch darauf gerichtet das liberale Modell um republikanische Elemente zu erweitern. Diese Mischform wird als deliberative Demokratie bezeichnet.27 Für die angewandte Ethik hingegen folgt, dass sie sich von ihrer Konzentration auf politische Eliten und Institutionen lösen muss. Aufgabe einer politischen Ethik ist es auch und vielleicht sogar bevorzugt, die Bürger als politische Subjekte zu adressieren.28 Politische Ethik ist dann eine Art Dienstleistung: Sie formuliert wohlbegründete Positionen als Angebot für diese politischen Bürger. Solch eine politische Ethik steht nicht jenseits und insbesondere nicht über politischen Prozessen, sondern ist Teil von ihnen. Sie zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass sie im Modus des rationalen Überzeugens auf diese politischen Prozesse Einfluss nimmt und gerade dadurch die Bürger als politische Subjekte respektiert. Dazu passt übrigens auch, dass verschiedene Ethiker zum Teil sehr verschiedene Positionen vertreten, weil eine Letztbegründung normativer Positionen bisher noch nie gelungen ist.29 Daher können sie den politischen Bürgern auch immer nur mehr oder weniger gut begründete Positionen anbieten. Diese politische Öffnung der angewandten Ethik bringt allerdings ebenfalls die Notwendigkeit einer methodologischen Erweiterung mit sich. Dies ist das Thema des nächsten Abschnitts.
4. Methodologische Grundlagen Weil die kritische Theorie von Beginn an Bürger als Agenten einer politischen Veränderung adressiert hat, musste sie sich stets als nichtideale Theorie in dem Sinne 27 Vgl. Jürgen Habermas, „Drei normative Modelle der Demokratie“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996, S. 277 – 292. 28 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1962, S. 154 – 159. 29 Diese Perspektive auf die Aufgabe der angewandten Ethik haben beispielsweise stark gemacht: Albert R. Jonsen, Stephen Toulmin, The Abuse of Casuistry, Berkeley: The University of California Press, 1988, S. 23 – 46 und Tom L. Beauchamp, „The Nature of Applied Ethics“, in: Raymond G. Frey, Christopher H. Wellman (Hrsg.), A Companion to Applied Ethics, Malden (MA): Blackwell, 2003, S. 1–19.
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verstehen, dass es um Fragen der Verbesserung von ganz und gar nicht idealen gesellschaftlichen Bedingungen ging.30 Dies hat es nötig erscheinen lassen, die soziale und sozialpsychologische Lage der Menschen in den theoretischen Bemühungen zu berücksichtigen. In der sozialtheoretischen Seite des Marxismus und einem sozialpsychologischen Verständnis der Psychoanalyse hat die kritische Theorie dafür die nötigen theoretischen Ressourcen gefunden.31 Ganz anders steht es in dieser Hinsicht um die angewandte Ethik. In ihrer Ausrichtung auf politische Eliten und Institutionen sowie deren Entscheidungsprozesse hat sie kein besonderes Verhältnis zu einer Sozialtheorie entwickelt. Die Sozialwissenschaften sind aus dieser Perspektive bloß ein Instrument zur empirischen Identifikation sozialer Zustände, die dann von der angewandten Ethik als mehr oder weniger defizitär beschrieben werden. Über Gesetzesänderungen werden diese Zustände dann verbessert. Vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis eine als normative Theorie verstandene politische Ethik zu den Sozialwissenschaften eigentlich steht. Liefern die Sozialwissenschaften bloß das empirische Material zur normativen Bewertung? Oder bedarf es einer Verschränkung der normativen Theorie mit sozialtheoretischen Elementen, um zu den richtigen normativen Positionen kommen zu können? Das Ergebnis des letzten Abschnitts legt die Notwendigkeit einer Verschränkung nahe, weil es eines sozialtheoretischen Verständnisses der Bürger als in gesellschaftlichen Strukturen handelnder Akteure bedarf, um sie normativ als politische Akteure adressieren zu können. Es ist jedoch wichtig zu sehen, warum dies der Fall ist. Dafür bietet es sich an, einen kurzen Blick auf die Rolle der marxistischen Sozialtheorie und der Psychoanalyse in der kritischen Theorie zu werfen. Auf diese Weise wird deutlich, wie in einer politischen Ethik normative und sozialtheoretische Elemente zusammenhängen. Zugleich wird aber auch deutlich, warum solch eine politische Ethik sich nicht am Marxismus und der Psychoanalyse orientieren muss, sondern ein größerer sozialtheoretischer Pluralismus möglich und vielleicht auch angemessen ist. Es geht an dieser Stelle natürlich nicht darum, die marxistische Sozialtheorie oder die sozialpsychologische Seite der Psychoanalyse zu rekonstruieren. Es geht nicht einmal darum, die Rolle dieser beiden so bedeutenden theoretischen Strömungen in der kritischen Theorie nachzuzeichnen. Vielmehr soll nur schematisch aufgezeigt werden, warum eine politische Ethik derartiger sozialtheoretischer Methoden bedarf. Die marxistische Sozialtheorie ist für die kritische Theorie besonders wichtig, weil sie dabei hilft zu verstehen, inwiefern die Perspektive auf gesellschaftliche Zustände von der eigenen sozialen Lage abhängt. Reale Akteure sind mit epistemischen und evaluativen Einschränkungen konfrontiert. Dies heißt nicht, dass sie 30 Adorno zumindest war allerdings skeptisch, dass dies überhaupt möglich ist, jedenfalls nicht Stück für Stück: Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 42. 31 Vgl. beispielsweise Max Horkheimer, „Geschichte und Psychologie“, in: ders., Gesammelte Schriften 3, Frankfurt a. M.: Fischer, 1988, S. 48 – 69.
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irrational, unmoralisch oder keine frei handelnden Akteure, sondern bloß funktionale Rollenträger sind. Es bedeutet bloß, dass ihnen beschränkte Ressourcen zur Verfügung stehen. Weil sie so stark in die alltägliche Praxis ihrer spezifischen Lebensführung eingebunden sind, können sie sich nur in sehr eingeschränktem Maße den Luxus leisten, sich auf einen distanzierten und reflexiven Standpunkt zurückzuziehen, um über die Gesellschaft und ihren Platz darin zu räsonieren. Dies kostet einfach zu viel Zeit und zieht zu viele mentale Ressourcen auf sich.32 Daher ist es Aufgabe der kritischen Theoretiker, den so beschränkten Bürgern zur Seite zu stehen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen klärt sie insbesondere sozial benachteiligte Gruppen über ihre Lage auf. Zum anderen analysiert sie, wie Sozialstrukturen verändert werden müssen, damit die Menschen mehr Raum haben, ihre soziale Lage innerhalb der Gesellschaft eigenständig zu erfassen und zu evaluieren.33 An dieser Stelle kommt die Psychoanalyse ins Spiel. Diese wird in der kritischen Theorie nicht auf individuelle psychische Leiden ganz bestimmter Menschen bezogen. In Anlehnung an die späten kulturkritischen Schriften von Freud, wird sie viel stärker als Theorie über den Einfluss sozialer Prozesse auf das Bewusstsein der allermeisten Menschen verstanden. Beispielsweise die Medien und insbesondere die Werbung beeinflussen, wie Menschen die gesellschaftliche Wirklichkeit wahrnehmen und sogar welche Wünsche und Ziele sie sich selbst zuschreiben. Dabei hilft ihnen der Umstand, dass Menschen dazu neigen, ihre schlechte Lage, an der sie allein nur wenig ändern können, zu verdrängen. An dieser Stelle gilt es aus kritischer Perspektive, das Bewusstsein der Menschen von jenen manipulativen und schädlichen Einflüssen zu befreien und ihnen die Augen zu öffnen.34 Es zeigt sich, dass eine politische Ethik einer sozialtheoretischen Ergänzung bedarf, wenn sie die Bürger als politische Akteure in komplexen Sozialstrukturen adressieren will. Denn dafür ist es nötig, die Beschränkungen und Möglichkeiten ihres sozialen Handelns zu bestimmen. Gleichzeitig bedarf solch eine Ethik in ihrer Ausrichtung auf politische Reformen der Hilfe einer empirischen Sozialforschung, um eine kritische Bewertung bestehender Verhältnisse und eine Analyse der Aussichten bestimmter Reformvorschläge vornehmen zu können. Insofern sind sogar die normativen Grundlagen der politischen Ethik eng mit sozialtheoretischen Überlegungen verbunden, denn es geht nicht bloß um die Festlegung sehr abstrakter normativer Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit. Vielmehr geht es in einer politischen Ethik um die politische Realisierung dieser Prinzipien für konkrete Menschen zu ganz bestimmten Zeiten in ganz bestimmten Gesellschaften. Allerdings sollte sich eine politische Ethik nicht auf die marxistische Sozialtheorie und psychoanalytische Sozialpsychologie beschränken. Dafür gibt es zwei ge32
Vgl. Robin Celikates, Kritik als soziale Praxis, Frankfurt a. M.: Campus, 2009, S. 116 –
136. 33 34
Ebd., S. 225 – 240. Vgl. Raymond Geuss (Fn. 2), S. 70 ff.
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wichtige Gründe. Erstens stehen beide Ansätze stark in der Kritik und es gibt ein großes Angebot konkurrierender und wohlerwogener theoretischer Bemühungen.35 Das sollte eine politische Ethik zur Kenntnis nehmen und sich daraufhin öffnen. Zweitens kam es in der kritischen Theorie immer wieder zu Brüchen zwischen einem Kern an Theoretikern, die an einer orthodoxen Lesart der marxistischen Sozialtheorie und der psychoanalytischen Sozialpsychologie festgehalten haben und solchen Theoretikern, die um eine Weiterentwicklung bemüht waren. Dies hat zu einer gewissen Lähmung, ja sogar Verkrustung der kritischen Theorie, manchmal über viele Jahre hinweg geführt.36 Durch eine pluralistische Öffnung kann eine politische Ethik diese Beschränkung von vornherein vermeiden. In diesem Artikel kann ich nicht diskutieren, entlang welcher Ansätze die sozialtheoretischen Erweiterungen einer politischen Ethik verlaufen könnten und welche Rolle der Marxismus und die Psychoanalyse möglicherweise dabei spielen; deren Relevanz sollte natürlich auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Vielmehr stellt es meiner Einschätzung nach eine der großen gegenwärtigen Aufgaben für die politische Ethik dar, sich einerseits die Nähe der kritischen Theorie zur Sozialtheorie zum Vorbild zu nehmen und andererseits einen Weg zu finden, in diesem Bereich einen größeren Pluralismus zuzulassen, der allerdings zugleich nicht in Beliebigkeit abgleiten darf. Trotz dieser Annäherung besteht eine bleibende Differenz der beiden hier diskutierten Theorieansätze wohl darin, dass sich für die angewandte Ethik verschiedene Probleme einzeln und unabhängig von einander lösen lassen.37 Für die kritische Theorie hingegen, haben die Verstrickungen der Sozialstruktur und Kultur zur Folge, dass nur eine Gesamtkur des Sozialen erfolgreich sein kann und sei es als große Sozialreform.38 Aus diesem Grund ist trotz aller Gemeinsamkeiten eine kritische Theorie auch nicht einfach als angewandte Ethik zu verstehen und umgekehrt.
35 Vgl. die Übersicht in Hans Joas, Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie: Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004. 36 Vgl. Dubiel (Fn. 2), Axel Honneth, „Eine soziale Pathologie der Vernunft“, in: ders., Pathologien der Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 28 – 58. So wurde beispielsweise das vielschichtige Werk und insbesondere die hervorragende Arbeit „Die Furcht vor der Freiheit“ von Erich Fromm nach seiner Trennung von der Frankfurter Schule in der kritischen Theorie kaum reflektiert. 37 Dies zeigt sich sehr deutlich in: Peter Singer, One World, New Haven: Yale University Press, 2004. 38 Vgl. Theodor W. Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: ders., Gesammelte Schriften 10, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 11– 30; Max Horkheimer, „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben des Instituts für Sozialforschung“, in: ders., Gesammelte Schriften 3, Frankfurt a. M.: Fischer, 1988, S. 20 – 35. Vgl. auch Rahel Jaeggi, „Was ist Ideologiekritik?“, in: dies. und Tilo Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 266 – 298.
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II. Politische Ethik als kritischer Humanismus Es hat sich gezeigt, dass ich die kritische Theorie und die angewandte Ethik durchaus nicht für zwei völlig unterschiedliche und unvereinbare Theorieansätze halte, sondern viele gemeinsame Linien sehe. Aus einer Verbindung der beiden Theorietraditionen ergibt sich daher entlang der vier besprochenen Gesichtspunkte eine eigene Form politischer Ethik, die ich gern als kritischen Humanismus bezeichnen möchte. Die normativen Grundlagen und der Modus gesellschaftlicher Veränderung machen dabei den humanistischen Teil aus und die bevorzugten Adressaten und die methodologische Basis den kritischen Teil. Die Grundlinien dieser Position möchte ich abschließend in einem kurzen Abriss darstellen. In seinen normativen Grundlagen stützt sich der kritische Humanismus sowohl auf liberale als auch auf marxistische Traditionen. Es geht dann darum, eine angemessene Verbindung von Gleichheit und Freiheit zu suchen. Der Begriff der Menschenwürde leistet solch eine Verbindung in einer Weise, die ich für attraktiv halte. Alle Menschen haben eine Würde und insofern einen fundamental gleichen Status. Daraus ergeben sich gleiche Grundfreiheiten, aber auch gleiche Ansprüche auf diejenigen Güter, die nötig sind, um in einer bestimmten Gesellschaft in Würde leben zu können.39 An solch einer normativen Grundlage orientiert, kann der kritische Humanismus als politische Ethik den Zustand von Gesellschaften bzw. Staaten bewerten und danach fragen, ob sie in dem Sinne fair sind, dass sie grundsätzlich allen Menschen ein Leben in Würde gewährleisten, soweit dies in ihrer Macht steht.40 Wenn dies nicht der Fall ist, dann empfehlen sich aus Sicht eines kritischen Humanismus als Modus der gesellschaftlichen Veränderung mehr oder weniger einschneidende Reformen dieser politischen Gemeinschaften. Reformen sind so lange nötig, bis eine Gesellschaft alles leistet, was in ihrer Macht steht, um den Mitgliedern dieser Gesellschaft ein Leben in Würde zu ermöglichen. Darüber hinaus sind Reformen auch dann nötig, wenn solch eine Gesellschaft nicht alles leistet, was von ihr zu Recht gefordert werden kann, um den Mitgliedern anderer Gesellschaften ein Leben in Würde zu ermöglichen.41 Je weiter eine Gesellschaft von solchen Forderungen entfernt ist, desto dringlicher muss die Aufforderung zu Reformen sein und kann beispielsweise Methoden des zivilen Ungehorsams beinhalten. Nur dann allerdings ist eine Revolution als Modus der gesellschaftlichen Veränderung erlaubt und 39 Vgl. Christian Neuhäuser, Zwei Formen der Entwürdigung: Relative und absolute Armut, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96 / 4, 2010, S. 542 – 556. 40 Margalit stellt klar heraus, dass eine faire oder anständige Gesellschaft darum bemüht ist, ihre Mitglieder und andere Menschen nicht zu demütigen. Sie kann jedoch nicht sicherstellen, dass die Menschen auch in Würde leben. Dafür ist auch eine Eigenleistung der Würdeträger nötig. Vgl. Avishai Margalit (Fn. 8), S. 123 – 126. 41 Für diese Notwendigkeit von Reformen, allerdings ohne direkten Bezug auf die Menschenwürde, sondern nur auf die Menschenrechte, argumentiert: Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, Cambridge: Polity, 2002, S. 112 – 117.
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vielleicht sogar gefordert, wenn eine politische Gemeinschaft systematisch grausam und demütigend ist, also die Würde der Menschen massiv verletzt.42 Die Reformvorschläge richten sich nicht nur und oft nicht einmal primär an die politischen Institutionen und Eliten. Manchmal entstehen aus dem kritischen Humanismus begründete Vorschläge für Reformen, die sich als Angebot für ihre politische Positionierung an die Bürger als politische Akteure der Zivilgesellschaft richten. Es ist dann Sache dieser Bürger solche Angebote an Reformvorschlägen aufzugreifen und im demokratischen Kampf politisch durchzusetzen. Politische Ethiker können sich als Bürger natürlich an diesem demokratischen Kampf beteiligen.43 Damit orientiert sich der kritische Humanismus als politische Ethik an einem Demokratieverständnis, das liberal-repräsentative und republikanisch-direkte Elemente miteinander zu verbinden sucht. Dies ist einerseits der Überzeugung geschuldet, dass die Bürger die letzte Legitimationsinstanz der Demokratie sind und sie daher weitreichende politische Teilhaberechte eingeräumt bekommen müssen und insbesondere in die Lage versetzt werden sollte, von ihrer politischen Kritikfähigkeit Gebrauch zu machen. Gleichzeitig sind repräsentative Elemente nötig, um die Handlungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit der Demokratie aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus bedarf es geeigneter Schutzmechanismen für politische Minderheiten.44 Aus drei Gründen muss solch ein kritischer Humanismus über eine pluralistisch angelegte Sozialtheorie verfügen. Erstens bedarf es eines Verständnisses der Menschen als soziale Akteure, um feststellen zu können, was in spezifischen Gesellschaften als Würdeverletzungen zu gelten hat.45 Zweitens betreffen die Reformvorschläge immerhin die politische Grundstruktur, ihre Institutionen und deren Wirkung auf die soziale Struktur einer Gesellschaft. Drittens verschafft eine pluralistisch orientierte Sozialtheorie Aufklärung über die Hindernisse, denen Bürger als Adressaten der Theorie gegenüberstehen. Sie hilft zugleich auch dabei zu bestimmen, welche Möglichkeiten Bürger zum politischen und reformorientierten Handeln und insbesondere zum kollektiven Handeln als Protagonisten der Zivilgesellschaft besitzen.46 Meiner Einschätzung nach stellt ein so verstandener kritischer Humanismus eine politische Ethik dar, die Elemente der Theorietraditionen der kritischen Theorie und der angewandten Ethik auf fruchtbare Weise miteinander verbindet.
Vgl. Avishai Margalit (Fn. 15), S. 104 f. Dafür plädiert beispielsweise Iris M. Young (Fn. 12), S. 180 –195. 44 Dies ist ein starkes Argument für eine zumindest relative starke Fixierung der Grundrechte als dem politischen Alltag enthoben. Für solch einen Liberalismus steht paradigmatisch die Position von Rawls: John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 19 – 40; vgl. beispielsweise auch Will Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie, Hamburg: Rotbuch, 1999, S. 61 f. 45 Dies liegt daran, dass Würde auf die persönliche Identität der Menschen und nicht nur ihre personalen Identität bezogen ist. Vgl. Avishai Margalit (Fn. 8), S. 134. 46 Vgl. Iris M. Young (Fn. 12), S. 157 – 167. 42 43
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Summary On the face of it, Critical Theory and Applied Ethics do not seem to have much in common. But when they are understood as theoretically diverse approaches to political ethics many similarities become visible, although some stark differences remain. In this article, the similarities are highlighted by looking at four crucial elements of both theories. The first element is the normative basis in marxism or liberalism. The second element is the proposed method of social change via revolution or reform. The third element is the main addressees of the theories, in one case the political institutions and in the other all citizens as political agents. The fourth element is the methodological stance of the theories as rooted in philosophy alone or in philosophy plus social theory and social science. The article ends with the argument that there are enough similarities to combine elements of both theories into one position, which could be called Critical Humanism.
Zur Normativität des Politischen in der säkularen, liberalen und sozialen Demokratie Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen
I. Demokratie und Pluralismus Die politische Moderne beginnt mit der Erkenntnis der Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Diese Erkenntnis eines normativen Sachverhaltes motiviert – unabhängig von den involvierten Interessenlagen – den Kampf gegen die feudale und klerikale Herrschaft und mündet schließlich in die moderne, rechtsstaatlich verfasste, repräsentative, säkulare, liberale und soziale Demokratie. Ohne dieses normative Fundament gleicher Freiheit verlöre die moderne Demokratie ihre normative Substanz, verkäme zu einem bloßen Spiel der Interessen. Dieses wird im günstigsten Fall aufrechterhalten durch ein Gleichgewicht der sozialen und ökonomischen Kräfte, im ungünstigsten Falle hingegen ersetzt durch oligarchische oder plutokratische Herrschaftsformen. Wie aber kann das normative Postulat gleicher Freiheit unter modernitätsspezifischen Bedingungen interpretiert werden? Ein weit verbreiteter demokratischer Subjektivismus antwortet mit einer epistemisch und ethisch „dünnen“ Konzeption, derzufolge eine moderne, d. h. pluralistische, multikulturelle, postmetaphysische Demokratie generell nur möglich sei, wenn normative Wahrheitsansprüche aufgegeben würden, indem man in der Politischen Theorie wie auch der politischen Praxis Abstand davon nimmt, bestimmte Normen des Zusammenlebens für wahrheitsfähig zu halten.1 Als philosophischer Gewährsmann gilt John Rawls, dessen Werk in seiner Bedeutung für die politische Philosophie der Gegenwart gar nicht überschätzt werden kann. Sowohl die 1971 erschienene Theory of Justice wie auch das Spätwerk Political Liberalism von 1993 formulieren Fragen und Probleme politischer Gerechtigkeit, die über die letzten Jahrzehnte die thematischen und methodischen Schwerpunkte, aber auch die kritischen Debatten vor allem der angloamerikanischen Politischen Theorie prägen. Dabei wird eine stringente Lesart des Gesamtwerkes von Rawls zwar immer wieder versucht, aber ein Bruch zwischen den genannten Hauptwerken ist jedenfalls in Hinsicht auf den Geltungsanspruch der Theorie offensichtlich.2 1 Zur Charakterisierung des demokratischen Subjektivismus siehe Julian Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München: Beck, 2006, S. 63 ff. 2 John Rawls selbst spricht lediglich von „Umformulierungen“ und „Umwandlungen“, etwa in: Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 40 f. und 71. Für einen kohä-
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Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen
Der frühe Rawls verbindet mit der kohärentistischen Rekonstruktion der Vertragstheorie einen Anspruch auf rationale Akzeptabilität. So geht es in der Theorie der Gerechtigkeit um das Gerechtigkeitskriterium, das „freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden.“3 Dieser freiwillige Akt der Übereinstimmung dient nicht nur der Befriedung interpersoneller Interessenskonflikte, sondern er hat eine genuin moralische Dimension. Somit sind auch die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit, auf die sich laut Rawls freie und gleiche Menschen einigen würden aus Gründen, die jedem Einzelnen einsichtig sind, nicht bloß rationale Strategien für Kooperationsprobleme, sondern sie konstituieren die zwar minimalen, aber im Prinzip universellen Normen gerechter politischer Ordnungen.4 Diese Neufassung des kontraktualistischen Arguments begründete nach der langen Abstinenz der analytischen Philosophie hinsichtlich normativer Fragen eine Renaissance der normativen politischen Philosophie, zu der neben Schulbildungen (etwa des New Contractarianism) auch kritische Debatten gehören, insbesondere der Liberalismus-Kommunitarismus-Streit.5 In dem Bemühen, den kritischen Einwänden zu begegnen, beginnt Rawls ab den 1980er Jahren mit der allmählichen, letztlich aber radikalen Umarbeitung der ursprünglichen Theorie, die er rückblickend in zwei Hinsichten als defizitär betrachtet. Zum einen gehe ihr begründungstheoretischer Anspruch zu weit: Rationale Akzeptabilität könne nur auf der Grundlage einer umfassenden philosophischen Lehre (vor allem einer kantisch-moralischen Theorie der Person) erlangt werden, die ihrerseits nicht unumstritten sei. Zum anderen gehe die Begründung nicht weit genug: Eine Gerechtigkeitstheorie sei auch auf ihre Verwirklichung, d. h. nicht nur auf rationale Akzeptabilität, sondern auf faktische Akzeptanz angewiesen, damit die Gesellschaft nicht nur wohlgeordnet, sondern auch stabil ist. Daher genüge die philorenten Zusammenhang von frühem und späterem Werk argumentieren Thomas Pogge, John Rawls, München: Beck, 1994, und Leif Wenar, „The Unity of Rawls’s Work“, in: Journal of Moral Philosophy 1, 2004, S. 265 – 275; für einen Bruch hingegen Brian Barry, „John Rawls and the Search for Stability“, in: Ethics 105, 1995, S. 874 – 915, und Wolfgang Kersting, Gerechtigkeit und öffentliche Vernunft. Über John Rawls’ politischen Liberalismus, Paderborn: Mentis, 2006. 3 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 28. Zum Kontraktualismus in der politischen Philosophie der Gegenwart siehe Julian Nida-Rümelin, Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999. 4 Für eine exemplarische Interpretation siehe Julian Nida-Rümelin / Elif Özmen, „John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit“, in: Manfred Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 651 – 666, mit einem Schwerpunkt auf den beiden Grundsätzen der Gerechtigkeit Elif Özmen, „Freiheit als Interesse höchster Stufe. John Rawls über politische und soziale Rechte im Konflikt“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 125, 2010, S. 51 – 68. 5 Zu den New Contractarians zählen neben Rawls auch Robert Nozick, David Gauthier, James Buchanan und Thomas Scanlon; aber auch dezidierte Kritiker des universalistischen Liberalismus tragen gewichtige Namen, wie etwa Alasdair MacIntyre, Michael Sandel oder Amitai Etzioni.
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sophische Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien nicht mehr, sondern es müssten vom Stabilitätsproblem ausgehend auch die Verwirklichungsbedingungen einer gerechten politischen Ordnung erörtert werden. Zu diesen ist in modernen, postmetaphysischen und heterogenen Gesellschaften vor allem das Faktum des Pluralismus zu zählen, das das Stabilitätsproblem noch verschärft, denn: „Wie können einander zutiefst entgegengesetzte, aber vernünftige umfassende Lehren zusammen bestehen und alle dieselbe politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejahen? Wie müssen Struktur und Inhalt einer politischen Konzeption beschaffen sein, damit diese die Unterstützung eines übergreifenden Konsenses für sich gewinnen kann?“6
Diese Frage ist zentral, weil gerade liberale Demokratien mit ihren pluralistischen Gemeinschaften nachdrücklich auf eine gemeinsame Gerechtigkeitskonzeption im Sinne eines normativen Minimalkonsenses angewiesen sind, da ansonsten bestenfalls ein modus vivendi, schlechtenfalls aber eine fragmentierte, zusammenhangsund orientierungslose Vereinigung von Menschen bestünde. Zugleich gestaltet sich die Beantwortung der durch den Pluralismus aufgeworfenen Frage eben wegen des Pluralismus als überaus schwierig. In diesem Spannungsfeld entwickelt John Rawls eine Theorie der liberalen und säkularen Demokratie, die genuin politisch und nicht metaphysisch ist, d. h. eine Theorie, deren politisches Ethos unabhängig ist von weltanschaulichen, insbesondere religiösen und ethischen Lehren (II). Auch dieser neue, genuin politische Liberalismus hat einen normativen Kern, der sich allerdings nicht mehr aus der universalistischen Konzeption eines rationalen Minimalkonsenses speist, sondern auf einen überlappenden Konsens der Überzeugungen verwiesen ist, der sich in liberalen Demokratien westlichen Typs trotz eines Pluralismus umfassender Lehren wahrscheinlich ergeben wird (III). Ist aber diese philosophische Artikulation „unserer“ vorherrschenden, d.h. mit den kontingenten historischen und kulturellen Kontexten von westlichen liberalen Demokratien verknüpften Gerechtigkeitsvorstellungen überhaupt noch als eine normative Theorie der Gerechtigkeit zu betrachten? Und ist die Abkoppelung der Normativität politischer Praxis von den Partikularitäten moralisch verfasster Gemeinschaften für eine freiheitlich-demokratische Ordnung wirklich unverzichtbar? (IV).
II. Was heißt: politisch, nicht metaphysisch? Freiheitlich-demokratische Gesellschaften sind pluralistisch. Ihre politische Kultur ist „stets durch eine Vielfalt gegensätzlicher und einander ausschließender religiöser, philosophischer und moralischer Lehren gekennzeichnet“;7 ihre politischen und rechtlichen Institutionen verhalten sich gegenüber dieser Vielfalt tolerant. Das Toleranzprinzip gründet auf der – historisch im Laufe von verlustreichen Bürger6 7
Rawls (Fn. 1), S. 14. Ebd., S. 67.
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Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen
kriegen bitter gewonnenen – Einsicht, dass sich die Differenzen um die Wahrheit solcher Lehren nicht politisch, d. h. nicht mit Gewalt und Zwang, auflösen lassen. Wendet man das Toleranzprinzip nunmehr auf die politische Philosophie selbst an, dann gilt auch hier, dass über die Wahrheit von Weltanschauungen und anderen Konzeptionen des Guten mit den Mitteln und auf dem Feld des Politischen nicht entschieden werden kann. Eine Theorie der Gerechtigkeit ist also politisch – und nicht metaphysisch im Sinne umfassender Lehren (comprehensive doctrines) –, wenn sie im Bewusstsein des Faktums des Pluralismus alle strittigen, inkommensurablen und konfliktträchtigen Lehren meidet. Die methodische Vermeidung von Weltanschauungs- und Wahrheitsfragen erfolgt jedoch nicht, „weil diese unwichtig wären oder wir sie für gleichgültig hielten, sondern weil wir sie für zu wichtig halten und erkennen, daß sie unmöglich politisch gelöst werden können.“8 Daher sei es „unvernünftig, unsere eigene umfassende Lehre, die wir natürlich notwendigerweise bejahen und für vernünftig oder wahr halten, mit Gewalt durchzusetzen.“9 Diese Zurückhaltung bezüglich der Überzeugungen, die nur vor dem Hintergrund der je eigenen umfassenden Lehre begründet erscheinen, ist die Voraussetzung für eine Übereinkunft auf der Ebene fundamentaler Gerechtigkeitsfragen, die trotz aller Uneinigkeit auf der Ebene umfassender Lehren gelingen soll. Daher sind Fragen der Politik von Fragen des Guten zu trennen, die Grenze nicht nur zwischen Politik und Religion, sondern auch zwischen Politik und Ethik scharf zu ziehen, und zwar mittels einer Gerechtigkeitskonzeption, die freistehend, normativ und vernünftig ist. „Freistehend“ (freestanding) bezeichnet für Rawls die Unabhängigkeit der Gerechtigkeitskonzeption von umfassenden philosophischen Lehren, vor allem von „Konzeptionen darüber, was im menschlichen Leben von Wert ist, und Ideale des persönlichen Charakters ebenso einschließt wie Ideale der Freundschaft und der familiären und gemeinschaftlichen Beziehungen sowie vieles andere mehr, das unser Handeln (im Grenzfall unser ganzes Leben) bestimmt.“10
Dadurch, dass die Gerechtigkeitskonzeption ohne Rückgriff auf erkenntnistheoretische, ethische und moralische Theorien des Guten und Richtigen auskommt, ist sie überhaupt konsensfähig. Denn sie kann, eben weil sie freistehend ist, mit einer Vielzahl umfassender Lehren in Übereinstimmung gebracht, begründet oder zumindest als nicht unvereinbar vorgestellt werden. Und so kann sie die bürgerschaftliche Bejahung erfahren, die die Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung der Gerechtigkeitstheorie und damit auch die Voraussetzung für die Stabilität der Gesellschaft ist. Auch wenn die Gerechtigkeitskonzeption freistehend ist, ist sie doch normativ. Sie enthält zwar moralische Ideale, die aber keine umfassenden Lehren begründen, 8 John Rawls, „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“, in: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 255 – 292, hier S. 264. 9 Rawls (Fn. 1), S. 225. 10 Ebd., S. 78 / 79.
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sondern von einem auf das Politische begrenzten Gesichtspunkt aus umgewandelt werden zu politisch-moralischen und somit mutmaßlich unstrittigen Idealen. Dieser begrenzte, Wahrheitsfragen ausschließende und sich nur auf eine Übereinkunft bezüglich grundlegender Gerechtigkeitsfragen beziehende Gesichtspunkt rückt den citoyen ins Zentrum der weiteren Überlegungen. Nicht die metaphysische Lehre der moralischen Autonomie, wie wir sie etwa in Kants praktischer Philosophie exemplifiziert finden, sondern politische Autonomie als die rechtliche Unabhängigkeit und gleiche politische Partizipationsmöglichkeit kennzeichnet die „Beziehungen zwischen freien und gleichen Bürgern, die als Kollektiv letztinstanzliche Macht übereinander ausüben.“11 Politische Autonomie ist aber eine normative Konzeption, die auf die moralische Bereitschaft der Bürger verweist, unter der Voraussetzung der Wechselseitigkeit faire Kooperationsbedingungen vorzuschlagen und zu akzeptieren. Von dieser Idee der Reziprozität aus entwickelt Rawls die schon aus dem Frühwerk bekannte Konzeption einer Gesellschaft als eines fairen, d. h. für alle akzeptablen Systems der Kooperation freier und gleicher Bürger. Diese Kooperation wird aber nicht mehr nur als das Rationale für die einzelnen Akteure, die ihre Zwecke und Interessen möglichst effektiv umsetzen wollen, verstanden, sondern zugleich als das „Vernünftige“ (reasonable). Bürger, die sich einander als Freie und Gleiche begegnen, sind nicht ausschließlich an ihren individuellen, gleichsam privaten Vorteilen interessiert, sondern sie haben den Wunsch, „sich an fairer Kooperation als solcher zu beteiligen, und zwar unter Bedingungen, die vernünftigerweise erwarten lassen, daß andere ihnen ebenfalls zustimmen.“12 Die Vernünftigkeit der Bürger drückt sich in ihrer Bereitschaft aus, nur solche Kooperationsregeln vorzuschlagen, von denen sie allgemeine Akzeptanz erwarten und die sie selbst zu berücksichtigen bereit sind. Die Vernünftigkeit einer Gerechtigkeitskonzeption bestätigt sich, wenn sie als Ergebnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs der Bürgerinnen und Bürger einen allgemeinen Konsens erwarten lässt. Das bedeutet aber, dass der Inhalt der Gerechtigkeitskonzeption „in Begriffen gewisser grundlegender Ideen ausgedrückt“ werden muss, die „als Bestandteil der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden.“13
III. Anerkennung ohne Wahrheitsanspruch Grundlegende Ideen der Freiheitlichkeit und der Demokratie sind Bestandteil der politischen Kultur einer Gesellschaft, wenn diese die „Institutionen einer verfassungsgemäßen Ordnung und die öffentlichen Traditionen ihrer Interpretation (unter anderem durch Gerichte) ebenso ein[schließt] wie allgemein bekannte historische 11 Ebd., S. 43. Rawls betrachtet das als die Umwandlung der Idee der Person als „moralische Persönlichkeit“ hin zu der als „Bürger“, S. 41 ff. 12 Ebd., S. 123. 13 Ebd., S. 79.
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Texte und Dokumente.“14 In den politischen Ordnungen des Westens mit ihrer langen Geschichte der Bürger- und Menschenrechte, der Rechts- und Verfassungsprinzipien und des Konstitutionalismus ist das der Fall – und hier kann der öffentliche Vernunftgebrauch der Bürger eine faktische Akzeptanz jener grundlegenden Ideen offenlegen.15 Denn wer unter gerechten Institutionen aufwächst, so die sozial-psychologische These von Rawls, wird normalerweise einen „für deren Stabilität hinreichenden Gerechtigkeitssinn und ein begründetes Zugehörigkeitsgefühl zu ihnen entwickeln.“16 Das gilt auch dann, wenn in Bezug auf weltanschauliche und die individuelle Lebensführung betreffende Fragen weiterhin mit unauflösbaren Differenzen zu rechnen ist. Soziale Einheit trotz Pluralismus – das ist das Spannungsfeld, in dem sich der genuin politische, nicht metaphysische Liberalismus zu bewähren hat. Hierbei ist der Rückgriff auf umfassende Lehren und ihre doktrinären Wahrheitsansprüche zwar zu vermeiden, aber ein „Konsens derjenigen vernünftigen umfassenden Lehren, die innerhalb einer gerechten Grundstruktur (…) wahrscheinlich über längere Zeit hinweg bestehen bleiben“,17 dennoch zu erwarten. Rawls beschränkt seine Konsenserwartung deswegen auf vernünftige, d. h. mit den Grundideen der Gerechtigkeitskonzeption kommensurable Lehren, weil trivialerweise nur diese für einen Konsens über die Gerechtigkeitskonzeption in Frage kommen. Was wie eine petitio principii anmutet, ist die Fortführung der aus der Theorie der Gerechtigkeit bekannten Methode des Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium) unter politischen, auf Verwirklichung durch faktische Akzeptanz ausgerichteten Vorzeichen. Daher ist der Konsens auch nicht umfassend, sondern überlappend (overlapping consensus), insofern er idealiter eine nicht leere Schnittmenge der umfassenden Lehren sein wird, denen ein großer Teil der Bürger anhängt, eine Art Modul, das sich in die unterschiedlichsten Weltanschauungen und Überzeugungssysteme einzufügen vermag. Der übergreifende Konsens kann die Zustimmung der Bürger finden, weil er erstens keine Wahrheitsansprüche stellt, zweitens nur zu einer politischen, d. h. begrenzten Gerechtigkeitskonzeption gehört und drittens nur im öffentlichen Vernunftgebrauch der Bürger seine Rechtfertigung findet. Gerade dadurch, dass „Gerechtigkeit als Fairneß, philosophisch gesprochen, an der Oberfläche“18 bleibt, ist die tiefer gehende innere Zustimmung der Bürger überhaupt möglich. Die Bürger Ebd., S. 79. „Wir sind die Nutznießer von drei Jahrhunderten demokratischen Denkens und der Entwicklung einer konstitutionellen Praxis. Wir können nicht nur von einem öffentlichen Verständnis demokratischer Werte und Ideale ausgehen, sondern auch von einer gewissen Loyalität ihnen gegenüber, wie sie in den bestehenden politischen Institutionen verwirklicht sind“, John Rawls, „Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses“, in: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 293 – 332, hier S. 295. 16 Rawls (Fn. 1), S. 230. 17 Ebd., S. 228. 18 Rawls (Fn. 7), S. 264. 14 15
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haben nämlich, abhängig von ihren Überzeugungssystemen und Weltanschauungen, je eigene Gründe für den Konsens, denn, so Rawls, „jede umfassende Lehre wird von ihrem eigenen Standpunkt aus dahin geführt, die in Gerechtigkeit als Fairneß angegebenen öffentlichen Gründe der Gerechtigkeit zu akzeptieren.“19 Hinsichtlich dieser Begründungen, Ableitungen, Einbettungen und Interpretationen im Lichte umfassender Lehren besteht zwar Uneinigkeit, aber die Methode der öffentlichen Vermeidung dieser strittigen Lehren bringt einen gemeinsamen Kern hervor, hinsichtlich der Konsens möglich ist. Genauer müsste man sagen: hinsichtlich der bereits Konsens herrscht, da der Inhalt des Konsenses Bestandteil der umfassenden vernünftigen Lehren ist und seine normative Kraft aus den Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger, die diesen Lehren anhängen, gewinnt. Man kann hier treffend von einer Paradoxie der Verbindlichkeit ohne Wahrheit sprechen,20 da die eigentliche Begründungsleistung nunmehr den einzelnen Bürgern überlassen bleibt. Ihre jeweiligen „Wahrheiten“, ihre unterschiedlichen, aber nicht geteilten Gründe für den Konsens, stellen den Begründungs-, Verbindlichkeits- und Verwirklichungskontext des selbst keinen Wahrheitswert beanspruchenden, eben bloß vernünftigen politischen Liberalismus dar. So verstanden kommt der politischen Philosophie aber nur noch eine hermeneutische Aufgabe zu.21 IV. Politik ohne Ethik? Kritische Reflexionen Das philosophische Selbstverständnis des späten Rawls hat eine regelrechte Flut von Sekundärbeiträgen ausgelöst, die neben interpretatorischen Problemen die methodischen und geltungstheoretischen Annahmen eines genuin politischen Liberalismus betreffen.22 Wir konzentrieren uns bei den folgenden kritischen Reflexionen Ebd., S. 287. So Kersting (Fn. 1), S. 18: „Rawls versucht diese Paradoxie der Verbindlichkeit ohne Wahrheit kontextualistisch aufzulösen. Der moralische Gehalt der Gerechtigkeitstheorie wird hermeneutisch verbürgt. Die politische Philosophie ist der Anwalt der zwischen die konkurrierenden Großtheorien und divergierenden Konzeptionen des Guten tretenden öffentlichen Mitte.“ 21 Diese Interpretation teilen auch Kersting (Fn. 1), S. 19 ff., Birger Priddat, „Stabilität, Konsens und Kontingenz: John Rawls’ neuere Arbeiten“, in: Ingo Pies / Martin Leschke (Hrsg.), John Rawls’ politischer Liberalismus, Tübingen: Mohr, 1995, S. 195 – 218, hier S. 200 ff., und Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 617. 22 Als Auswahl von Sekundärbeiträgen zum späten Rawls seien neben Kersting (Fn. 1) und Pies / Leschke (Fn. 19) genannt Wilfried Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, Samuel Freeman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge: Cambridge University Press, 2003, Victoria Davion / Clark Wolf (Hrsg.), The Idea of a Political Liberalism: Essays on Rawls, Lanham: Rowman and Littlefield, 2000, Gerald Gaus, Contemporary Theories of Liberalism: Public Reason as a Post-Enlightenment Project, London / Thousand Oaks / Neu Delhi: Sage 2003, Stephen de Wijze, Political Liberalism: A Defense, New York: Routledge, 2009, sowie Elif 19 20
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auf die Aspekte, die für das normative Fundament der freiheitlichen, säkularen und sozialen Demokratie entscheidend sind. Zunächst: die – politisch motivierte – Rücknahme philosophischer Begründungsansprüche in Politischer Liberalismus im Vergleich zur Theorie der Gerechtigkeit ist sympathisch und befreit Rawls aus einigen Aporien der ursprünglichen Konzeption. Zu diesen Aporien gehört die rationalitätstheoretische Grundlegung der beiden Gerechtigkeitsprinzipien. Wie kann es sein, dass die fundamentale Differenz zwischen Rawls’scher Gerechtigkeitstheorie und Utilitarismus am seidenen Faden der Wahl des Rationalitätskriteriums im Urzustand hängt? Und ist es nicht ohnehin abwegig anzunehmen, dass rationale Individuen, die ausschließlich an ihrem eigenen Wohl interessiert sind, zu derart weitreichenden Festlegungen – einem System maximaler gleicher Freiheiten und dem sozialstaatlichen Prinzip der prioritären Förderung der am schlechtesten gestellten Personengruppen – bereit sind? Geht nicht in die rationaltheoretische Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien eine ganz spezifische, an die westlich-liberale Kultur gebundene Anthropologie ein?23 Aus diesen und anderen Aporien der Theorie der Gerechtigkeit befreit die Konzeption des politischen Liberalismus, in dem sie den öffentlichen Vernunftgebrauch und den vernünftigen politischen Konsens über alle weltanschaulichen Differenzen hinweg ins Zentrum rückt. Das Ergebnis ist ein dünner, politischer Liberalismus, ein alllzu dünner, um unseren Einwand vorwegzunehmen. Dieser Liberalismus wird der normativen Substanz demokratischer Verfassungsnormen nicht gerecht, und er würde sich gegenüber seinen Gegnern nicht behaupten können. Ein Liberalismus, der mit der Strategie der Wahrheitsvermeidung auch seinen universellen und objektiven Geltungsanspruch aufgegeben hat, ist in seiner Normativität begrenzt auf Gesellschaften, die bereits über freiheitlich-demokratische Traditionen verfügen. Was hat dieser Liberalismus Gesellschaften, zu deren öffentlicher politischer Kultur seine Grundideen nicht bereits gehören, eigentlich zu bieten? Recht wenig, insofern es in ihm nicht länger um die Rekonstruktion eines minimalen normativen Konsenses über Gerechtigkeitsgrundsätze geht, an dem alle freien und gleichen Menschen vernünftigerweise zur Bestimmung ihrer politischen und sozialen Verhältnisse teilhaben würden. Der Anspruch, politisch, nicht metaphysisch zu sein, lässt letztlich nur noch eine Artikulation der mit den kontingenten Kontexten von westlichen liberalen Demokratien verknüpften vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen zu. Der überlappende Konsens bestätigt somit die Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich in „unseren“ umfassenden philosophischen, ethischen und religiösen Überzeugungssystemen auffinden oder sich aus diesen ableiten lassen. Damit ist wohlmöglich die soziale Geltung, die faktische Akzeptanz dieser Gerechtigkeitskonzeption demonstriert: Das Özmen, Truth matters! Zu den begründungstheoretischen Grundlagen des politischen Liberalismus (Habilitationsschrift, in Vorbereitung für die Buchpublikation). 23 Siehe auch Julian Nida-Rümelin, „Die beiden zentralen Intentionen der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß von John Rawls“, in: Nida-Rümelin (Fn. 3), S. 43 – 58.
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politische Ethos wird gewissermaßen aufgefächert auf vielfältige weltanschauliche Stützen. Aber ist damit die eigentlich philosophische Frage nach der normativen Geltung, also nicht der Akzeptanz, sondern der Akzeptabilität der Gerechtigkeitstheorie berührt? Auch wenn eine normative Theorie der Gerechtigkeit nicht unabhängig von empirischen, d.h. eben auch psycho-sozialen und kulturellen Bestimmungen überzeugen kann, unterscheidet sie sich doch von der Beschreibung oder hermeneutischen Selbstvergewisserung dessen, was in einer bestimmten politischen Kultur als akzeptabel gilt. Das normative Postulat gleicher Freiheit kann nicht als überlappender Konsens verbreiteter Weltanschauungen und Lebensformen interpretiert werden. Die Befreiung der US-amerikanischen Sklaven und der langwierige Kampf um die rechtliche, politische, soziale und kulturelle Gleichstellung der Frau waren nicht Ausdruck eines überlappenden Konsenses unterschiedlicher Lebensformen und Weltanschauungen, sondern Ergebnis der normativen Einsicht in die Ungerechtigkeit von Diskriminierungen aufgrund von Rasse oder Geschlecht. Ohne den normativen Wahrheitsanspruch gleicher Freiheit wäre die Sklaverei in den USA nicht abgeschafft worden und die Gleichstellung der Frauen nicht auf den Weg gebracht worden. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde gegen den Vorschlag der vier weiblichen Mitglieder, die Gleichberechtigung als Grundrecht zu berücksichtigen, vorgebracht, dass dies mit einem christlichen Menschenbild, mit der etablierten Praxis innerfamiliärer Rollenverteilung, mit der Natur der Frau und mit dem geltenden Familien- und Sozialrecht nicht vereinbar sei.24 In der Tat hat erst das zweite Vatikanische Konzil (1965) die Katholische Kirche mit der Idee der Menschenrechte, der Gleichstellung von Mann und Frau und der Demokratie versöhnt. Zuvor galten Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter und Demokratie laut der offiziellen katholischen Lehrmeinung als unchristlich, als Folgen einer liberalistischen Verirrung der Moderne. Das harmonistische Bild von liberaler Demokratie und politischem Liberalismus, das Rawls zeichnet, ist weder mit der historischen Genese verträglich, noch wird es den heutigen politischen Problemlagen gerecht, vor allem aber ist es philosophisch unhaltbar. Dazu möchten wir fünf Gedanken – thesenartig – zum Abschluß zur Diskussion stellen. 1. In philosophischer Hinsicht vermag Rawls‘ konsensuale Wende von „Wahrheit“ zu „Vernünftigkeit“ nicht zu überzeugen. Wenn gelten soll, „(w)elche Urteile alles in allem wahr sind, ist für den politischen Liberalismus ohne Bedeutung, da er alle Probleme unter seinen eigenen, begrenzteren Gesichtspunkten betrachtet,“25 dann ist dem „Vernünftigen“ der epistemische Gehalt abhanden gekommen. Denn auch umfassende Lehren, die nicht wahr sind, müssen demzufolge als vernünftig betrachtet werden, insofern sie kompatibel sind mit den Grundideen der Gerechtigkeit. Damit aber beraubt Rawls sich, wie Jürgen Habermas 24 Vgl. Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Boppard am Rhein: Boldt, 1981. 25 Rawls (Fn. 1), S. 17.
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ausführt, „der Möglichkeit, dem Ausdruck ‚vernünftig‘ die epistemischen Konnotationen zu belassen, die er als Attribut seiner eigenen Gerechtigkeitskonzeption behalten muß, wenn diese in irgendeinem Sinne normative Verbindlichkeit soll beanspruchen können.“26 Denn warum sollen die Bürger einem überlappenden Konsens normative Geltung zusprechen, der überhaupt nur unter der Bedingung epistemischer und ethischer Abstinenz zustande kommen kann? Nur rationale Akzeptabilität, nicht aber Akzeptanz kann die Quelle der normativen Verbindlichkeit sein, die kraftvoll genug ist, das Stabilitätsproblem zu lösen. Dann erscheint es aber weder möglich, noch nötig, die Gültigkeit einer Gerechtigkeitskonzeption von ihrer sozialen Geltung, d. h. von einem übergreifenden Konsens abhängig zu machen. Normative Gültigkeit, die auf epistemischen und ethischen Grundlagen aufruht, und soziale Geltung sind getrennte Fragen. Erstere gehört zu dem Geschäft der Philosophie, letztere verweist auf eine im besten Sinne interdisziplinäre und praktische Aufgabe, die zum Brückenschlag zu anderen Disziplinen, etwa der Politikwissenschaft, Soziologie, Bildungswissenschaft und Sozialpsychologie ermuntert. 2. Der politische Liberalismus von Rawls bedarf einer pragmatistischen Korrektur. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass für das Gros der Bürgerschaft umfassende moralische, theologische oder weltanschauliche Lehren für die politische Beurteilung ausschlaggebend seien. Vielmehr ist es ja gerade der Erfolg der Aufklärung, dass theologische und weltanschauliche Doktrinen nicht nur in der politischen Sphäre, sondern auch lebensweltlich ihre Relevanz in der pluralistischen Demokratie weitgehend eingebüßt haben. Die Alltagspraxis der Menschen beruht auf einer geteilten Praxis, die die Art und Weise und den Inhalt praktischer und theoretischer Gründe einschließt. So wie die Bibel nicht mehr Wissensquelle im Biologieunterricht ist, so ist der Katechismus nicht mehr Maßstab des Sexuallebens. Die verfügbaren soziologischen Daten sprechen hier eine klare Sprache. Auf der Grundlage einer weithin geteilten Anthropologie, zu der die Einsicht in die grundsätzliche gleiche Freiheit Aller gehört, werden die Alltagsbeziehungen in zahlreichen Varianten geregelt und über politische Gerechtigkeitsfragen geurteilt. Dabei gibt es ein beständiges Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaftszugehörigkeit und Ansprüchen der Universalität und Nicht-Diskriminierung. Letztere begrenzen die ethische und politische Akzeptabilität von Gemeinschaftswerten und -normen. So ist eine Erziehung von Mädchen zur Unselbstständigkeit und Unterwerfung gegenüber männlichen Familienmitgliedern unverträglich mit der normativen Substanz der liberalen Demokratie. 3. Einerseits erscheint die Abkoppelung der Normativität politischer Praxis von den Partikularitäten pluralistischer Gemeinschaften für eine säkulare und liberale Demokratie unverzichtbar. Andererseits gibt es eine unbestreitbare Wechselwirkung zwischen der freiheitlich-demokratischen Ordnung und einer politischen 26 Jürgen Habermas, „Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch“, in: Hinsch (Fn. 21), S. 169 – 195, hier S. 186.
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Kultur der Freiheit und der Toleranz.27 Das Gelingen und Prosperieren der Demokratie und ihrer Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren hängt von einer bereitwilligen aktiven Bürgerschaft ab, deren Loyalität dadurch zu sichern ist und darin zum Ausdruck kommt, dass jeder Einzelne öffentlich und vernünftigerweise nur solche Gründe für eine Gerechtigkeitskonzeption vorbringt, von denen er oder sie ernsthaft überzeugt ist, dass diese auch von Dritten als vernünftige Gründe anerkannt werden können. Der öffentliche Vernunftgebrauch ruht also auf ethischen und epistemischen Grundlagen auf, ohne die diese Bürde – die wechselseitige Anerkennung als Freie und Gleiche, das gemeinsame Ringen um das empirisch und normativ Richtige, die Toleranz gegenüber anderen Meinungen – gar nicht dauerhaft zu praktizieren wäre. Diese Bürde ist Teil des politischen Ethos, das somit durch das Diktum der ethischen oder epistemischen Abstinenz nicht erfasst werden kann: hier ist die These von der Getrenntheit von Politik und Ethik bzw. von Politik und Wahrheit durchaus mit Vorsicht zu genießen. Aber zugleich gilt, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“28 Dieses unablässig wiederholte, aber selten in seinem historischen Kontext richtig verstandene Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes29 ist der Fingerzeig auf die vorpolitischen Grundlagen der liberalen Demokratie. Aber diese Grundlagen können um der freiheitlichen Demokratie willen, die sich unter den Bedingungen des Pluralismus bewähren muss, nicht sittlichreligiös-weltanschaulich gefüllt werden: „Das ist das große Wagnis, das [der freiheitliche, säkularisierte Staat] um der Freiheit willen, eingegangen ist.“30 4. Freiheit und Gleichheit, in ihrer Verkoppelung als gleiche Freiheit, gleicher Respekt, gleiche Anerkennung tragen nicht nur die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und in den seitdem etablierten Kodifizierungen niedergelegt sind, sondern auch die Grundrechte der demokratischen Verfassungsordnungen. Wie im zweiten Menschenrechtspakt, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966 kodifiziert und in allen demokratischen Staaten anerkannt, implizieren diese Grund27 Hierzu noch immer aufschlussreich John Dewey, Freiheit und Kultur, Zürich: Pestalozzianum, 2003. 28 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 92 – 114, hier S. 71. 29 Böckenförde plädiert in diesem Text von 1967 – der Zeit des zweiten Vatikanischen Konzils – keineswegs für eine neuerliche Fundierung des Staates in der Religion, wie ihm häufig unterstellt wird. Sondern er mahnt, ganz im Geiste des Konzils, an, „daß die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.“ Ebd., S. 72. 30 Ebd., S. 71. Das Zitat lautet weiter: „Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, d. h. mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.“
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rechte neben negativen Rechten (Abwehrrechten) des Einzelnen gegenüber staatlichen Institutionen und Dritten auch Anspruchsrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat, denen dieser in Gestalt öffentlicher Bildungsangebote, öffentlicher Infrastruktur, öffentlicher Daseinsvorsorge und der Etablierung sozialstaatlicher Garantien gerecht zu werden sucht. Ohne das normative Fundament gleicher Freiheit wäre diese Praxis, die oft genug gegen die ökonomisch und kulturell mächtigen Bevölkerungsteile durchgesetzt werden muss, nicht zu rechtfertigen. Jedenfalls kann man diese Praxis nicht lediglich als einen overlapping consensus unterschiedlicher comprehensive moral doctrines verstehen, da war die Theorie der Gerechtigkeit mit ihrem rationalitätstheoretisch begründeten Differenzprinzip weiter. Die normative Begründung der sozialstaatlichen Verfassung einer jeden modernen Demokratie beruht auf den positiven Rechten, die sich aus dem Prinzip gleicher Freiheit und der Garantenstellung staatlicher Ordnung ableiten lassen. 5. Der Staat ist in der Demokratie gegenüber der Bürgerschaft als ganzer (distributiv) zu legitimieren. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass diese Legitimation lediglich auf das aufgeklärte Eigeninteresse der Einzelnen zu rekurrieren braucht, wie der Kontraktualismus Hobbesianischen Typs annimmt. Normative Überzeugungen sind für einen gehaltvollen Kontraktualismus unverzichtbar.31 Für diese gilt, wie für alle anderen unserer Überzeugungen, das principle of charity,32 wonach eine gelungene Verständigung, unsere alltägliche Kommunikation, voraussetzt, dass die meisten dieser Überzeugungen wahr sind. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte macht offenkundig Wahrheitsansprüche geltend, zum Beispiel, dass die Diskrimierung aufgrund der Hautfarbe oder des Geschlechts, um bei unserem Beispiel zu bleiben, objektiv ein Unrecht darstellt. Der Kampf gegen den Kolonialismus in der Nachkriegszeit berief sich zu Recht auf dieses Diskrimierungsverbot und interpretierte es nicht fälschlich als Ausdruck eines kooperativen Arrangements oder eines überlappenden Konsenses der wichtigsten Weltanschauungen und Lebensformen, sondern als eine normative Einsicht. Diese Einsicht, der sich niemand entziehen kann, hat die politische Konsequenz, dass kulturell etablierte Praktiken und politische Ordnungen, die auf Diskriminierung und Unrecht beruhen, beseitigt werden sollten. Eine Demokratie, die die Verbindung zur Tradition der Menschenrechte kappt, die sich als kooperatives Arrangement versteht oder lediglich einem inhaltlich ausgedünnten öffentlichen Vernunftgebrauch vertraut, die ihre anthopologischen und normativen Fundamente, die Anerkennung gleicher Freiheit und die Idee einer autonomen Lebensform aus Sorge um konkurrierende Wahrheitsansprüche verdeckt oder gar aufgibt, wird sich gegen ihre fundamentalistischen Gegner nicht behaupten können.
31 Hierzu ausführlich Julian Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München: Beck, 2006, besonders Kap. I und IV. 32 Vgl. Donald Davidson, „Radikale Interpretation“, in: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 183 – 203.
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Summary Modern democracies are pluralistic insofar as they accept a plurality of conceptions of the good affirmed by their citizens. At the same time they depend on a public conception of justice and sustaining practices that are compatible with the fact of pluralism. Democracy without a shared normative idea of justice degenerates into an accidental association of disengaged individuals. But how can we justify the normative core of the liberal, secular and social democracy without falling back into monistic, universalistic or even ideological claims? The problem of compatibility of democracy and pluralism is shortly sketched (I). Then a well-known and broadly accepted solution known as political liberalism is presented with respect to the work of John Rawls. For Rawls, a public conception of justice that might be supported by an overlapping consensus even in pluralistic democracies is to be ‘political, and not metaphysical’ (II) and also ‘reasonable, but not true’ (III). A discussion of this political liberalism, which is neither metaphysical nor ethical, follows. Eventually, five arguments against this ‘thin’ conception of liberalism are presented.
Funktionen und Funktionalisierungen des Gewissens in politisch-ethischen Kontexten Christian Mönter und Walter Reese-Schäfer
I. Die Berufung auf das Gewissen in politischen Kontexten mutet eher prä-säkular an und hat doch eine relevante politische Funktion, nämlich dem einzelnen Abgeordneten einen gewissen Autonomiespielraum gegenüber seiner Partei zu sichern. Die empirische Politikwissenschaft weiß, dass vom Artikel 38 GG und den entsprechenden Artikeln in den Länderverfassungen nur sehr selten Gebrauch gemacht wird. Dennoch stärkt die bloße Möglichkeit, sich auf diesen Artikel zu berufen, schon das Selbstbewusstsein und in der Folge auch das Ansehen der Abgeordneten. Diese Funktionalität wird dadurch auf nicht unproblematische Weise konterkariert, dass die Gewissensanrufung, wie Niklas Luhmann sagen würde, im Kern polemogen, also streiterzeugend wirkt.1 Sozialwissenschaftlich gesprochen, treten „Gewissensprobleme, wenn überhaupt, in einzelnen Rollen“2 auf. Jedoch: da das Gewissen immer der Gesamtpersönlichkeit zuzuordnen ist, übertragen sich die dadurch verursachten Erschütterungen auch auf andere Rollensysteme, in denen diese Einzelperson Mitglied ist.3 Es ist deshalb nicht möglich, „aus bestimmten Rollen auf Grund von Gewissensentscheidungen oder sonstigen persönlichen Idiosynkrasien einfach auszusteigen, ohne andere Rollenzusammenhänge in unverantwortlicher Weise zu stören.“4 Im Grunde scheint es, als ob der Gewissensbegriff ein vor den sozialen Differenzierungsprozessen der modernen Gesellschaft liegendes, quasi archaisches Erbe mit sich transportiert. Es gibt, angeregt durch eine kluge Schrift Carl Schmitts, eine umfangreiche Diskussion über die Frage, ob nicht alle prägnanten politischen Grundbegriffe auf säkularisierte Theologeme zurückzuführen seien.5 Hier haben wir es mit einer umgekehrten Situation zu tun. Der Gewissensbegriff ist bis heute in seiner praktisch1 Niklas Luhmann, Paradigm Lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 27. 2 Niklas Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in ders.: Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 326 – 359, hier S. 343. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Carl Schmitt, Politische Theologie, 4. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1985, S. 49.
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politischen Verwendung nicht konsequent säkularisiert. Das Gewissen erscheint in dieser Perspektive dann als ein vordemokratischer, prä-säkularer Überhang. Niklas Luhmann hat daran erinnert, dass noch in der Weimarer Verfassung die Gewissensfreiheit als Grundrecht allein vom religiösen Gewissen her interpretiert wurde.6 Das Gewissen wurde dadurch so etwas wie ein „Gegenstand achtungsvoller Verehrung“, das man, wie alle religiösen Äußerungen, besser nicht so genau hinterfragt.7 Die stark religiöse Konnotation des Gewissensbegriffs wurde in der Bundesrepublik z. B. deutlich, als nach der Einführung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen dafür eine tribunalartige Gewissensprüfung für erforderlich gehalten wurde und dabei vor allem religiöse Gründe auf fraglose Anerkennung rechnen konnten, während konsequent säkular argumentierende Verweigerer mit Ablehnungen zu rechnen hatten. Die Spruchpraxis wurde immer mehr verfeinert und der sich weiter säkularisierenden Gesellschaft zunehmend angepasst, im Grunde hat aber erst die Abschaffung der als peinlich empfundenen Gewissensprüfung und deren Ersetzung durch eine einfache Erklärung des Wehrpflichtigen hier Abhilfe geschaffen. Ob dieses Thema mit dem Ende der Wehrpflicht erledigt ist, wird sich erst zeigen müssen, denn das Aufkommen von Gewissensbedenken bei Soldaten ist zumindest in Einzelfällen jederzeit möglich. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns ermöglicht den Blick auf Techniken, die Einbindung der Gesamtpersönlichkeit in die aus Gewissensanrufungen folgenden Erschütterungen oder neurotischen Übersteuerungen8 zu vermeiden oder wenigstens abzumildern, indem durch Institutionalisierungsprozesse teils unpersönliche Handlungsweisen etabliert oder gerade durch die Konzedierung von „Gewissensfreiheit“ Zuspitzungen vermieden werden können.9 Dazu gehört dann auch, dass allzu getragenes und leeres Wertpathos abgebaut wird.10 Zusammenfassend postuliert Luhmann: „Die differenzierte Sozialordnung braucht individuelle Persönlichkeiten, die sich in hohem Maße selbst identifizieren können. Sie muss aber die Last erleichtern, die sie dem Menschen mit der Kontinuität eines scharf bewussten Selbstverständnisses aufbürdet – wenn nicht um seiner selbst willen, dann um der sozialen Rollenverflechtungen willen, die unter Gewissensstößen zusammenbrechen können. Diese Rollenverflechtungen lassen sich dadurch schützen, dass der Einzelne an seinem Gewissen normalerweise vorbeigeleitet wird, ohne dass ihm indes die Möglichkeit einer auf das Gewissen abstrahierten Persönlichkeitssteuerung genommen wird.“11
Jedoch, in der politischen Wirklichkeit hat sich das freie Mandat des einzelnen Abgeordneten behaupten können. Hier geht es nicht um die Entlastung des indiviLuhmann (Fn. 2), S. 326. Ebd., S. 327. 8 Ebd., S. 339. 9 Ebd., S. 344. 10 Ebd., S. 349. 11 Ebd., S. 350. 6 7
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duellen Parlamentariers von Gewissenskonflikten, sondern umgekehrt um die gelegentliche Durchbrechung parteienstaatlichen Machtdurchgriffs.12 II. Die Diskursfigur „Gewissen“ gewinnt ihre gegenwärtige Brisanz aus der zunehmend ins Bewusstsein tretenden Bedeutung des Problems der sozialen Kontingenz. Die Möglichkeit des Rückzugs auf Projektionsflächen der normativen Unhintergehbarkeit (zum Beispiel: Gott, Naturrecht bzw. Geschichte, Natur) wird zunehmend brüchiger. Die Erkenntnis, die sich im Zeitalter der Aufklärung ankündigte, aber im Zeichen metaphysischer Abwehrversuche verschleiert wurde – nämlich das Zurückgeworfensein des Menschen auf sich selber – prägt bereits zahlreiche Manifestationen der Alltagswelt. Die Diskurse über das Gewissen sind stets eingelagert in bestimmte Weltbilder und sind zumeist prä-säkularer Natur – die gegenwärtige Situation steht im Zeichen eines Umbruchs: die hegemonialen Gewissenskonzeptionen sind immer noch gekennzeichnet durch die anthropologischen Prämissen eines humanistischen Weltbildes, dessen Funktionsbedingungen indes im Zuge der Technisierung zunehmend ausgehöhlt werden. Die gängige Vorstellung einer „inneren Stimme“ ist durch zwei konträre bzw. komplementäre Vereinseitigungen gekennzeichnet: einerseits wird darauf insistiert, es handle sich um eine transzendente Instanz, deren unberechenbare Willkürfreiheit eine gesellschaftliche Bedrohung darstelle, andererseits wird postuliert, das Gewissen sei ein genuin soziales Produkt, das sich auf dem Wege der Internalisierung sozialer Normvorgaben bilde. Diese paradoxe Ausgangseinschätzung spiegelt sich wieder in der gleichzeitigen Überbzw. Unterschätzung dieser Selbstregulationsinstanz im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Relevanz (Gegenmacht mit Absolutheitsanspruch versus verlängerten Arm der Macht). Tatsächlich sind diese reduktionistischen Konzeptualisierungen nicht (mehr) geeignet, die komplizierten Selbststeuerungsaufgaben des Subjekts in einer hochkomplexen Umwelt angemessen zu beschreiben: auch die sozialwissenschaftliche Vorstellung eines „Gewissen“ ist komplexer zu gestalten, wenn sie zu einer Aufklärung über das Verhältnis Subjektivität und politische Institutionalität etwas beisteuern soll. Der „Angriff“ der Soziologen auf die Gewissenskonzepte der Philosophen versandet allzu leicht in der Annahme einer gänzlich erfolgreichen Sozialdisziplinierung: aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist auf die Limitionalität einer solchen Bewegung hinzuweisen – ohne dass dies eine Rückkehr zur Dignität philosophischer (naturrechtlich basierter) Unantastbarkeitspostulate impliziert. Ein differenzierter Diskurs des Gewissens hat beides aufzuweisen: Anschlussfähigkeit für 12 Ein entschiedener Gegner des freien Mandats war Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe: Müller, 3. Aufl. 1967. Kritisch dazu Josef Isensee, Fraktionsdisziplin und Amtsgewissen: Verfassungsrechtliche Garantie der Freiheit des Mandats im politischen Prozeß, in: Werner Patzelt u. a. (Hrsg.), Res publica semper reformanda, Wiesbaden: VS Verlag 2007, S. 254 – 267.
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den sozialen sowie nicht-sozialen (nämlich „eigensinnigen“) Gehalt der Höchstkontrollinstanz des personalen Systems. Einen Beitrag zu einer solchermaßen konturierten Problematik der Freiheit des Subjekts im Verhältnis zur politisch-sozialen Ordnung zu leisten, soll eines der Ziele dieser Überlegungen sein. Kurzum: Es soll das Gewissen als politikwissenschaftlicher Begriff näher beleuchtet werden. In einem engen Begriffsverständnis der Gewissensproblematik signalisiert das Involviertsein des Gewissens in personale Regulierungsprozesse eine dramatische Verunsicherung der Selbststeuerung; darüber hinausgehend kann man als Gewissensfragen aber auch solche betrachten, bei denen eine mitlaufende Prüfung im Hinblick darauf erfolgt, inwieweit die anstehenden Entscheidungen solche des Gewissens seien – auch wenn die Antwort im Ergebnis negativ ausfallen sollte.13 Normen sind sozialwissenschaftlich betrachtet „Formeln für kontrafaktisches Erwarten“ – Sollens-Postulate beanspruchen ein „Recht zur Lernverweigerung“.14 Wird etwas zur Gewissenssache erklärt, so signalisiert diese Zuordnung das Tangieren eines „inviolate level“, das heißt einer Tiefenlage der Normfixierung, die einem „Reflexionsstop“ gleichkommt.15 Der Mensch als das „interpretative Tier“ ist darauf verwiesen, gewisse Interpretationen (zeitweise) zu fixieren bzw. auszuschließen, um die Kontingenz der Umgebung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Eine differenziertere Betrachtungsweise des Gewissensphänomens auf dem Hintergrund (spät-)moderner Interpretationen erweist, dass die normative Selbstregulationsinstanz sich weder abrupt umpolen lässt noch invariante Bestandteile aufweist, die gegen zeitbedingte Einflüsse absolut gefeit sind. Wenn man die Individuen als Akteure „ernst nimmt“, impliziert dies letztlich auch, dass die normative Problematik auf das Individuum als Quelle des Anstoßens von Normbildungsprozessen zurückbezogen wird. Es mögen sich von hier ausgehend partiale Konsense in der Gesellschaft bilden – jenseits dessen ist die moderne Gesellschaft nicht auf die Vorstellung eines übergreifenden Wertzusammenhangs16 angewiesen. Wo die normative Übereinstimmung endet, können politische Mechanismen ihre ordnende Wirkung entfalten: kontingente Mehrheiten anstelle expertokratisch bestimmter „Vernünftigkeiten“. Die Pluralisierung der Moralen ohne die fortdauernde Behauptung eines von allen gemeinsam geteilten „vernünftigen“ Normensockels würde Konflikte gerade entschärfen: wer abweicht, wird dann nicht mehr als „unvernünftig“ stigmatisiert, sondern gilt als jemand, der eine andere politische Meinung vertritt. Der Verweis 13 Diese Konzeption leitet sich her von Luhmanns (1984) Beschreibung des Staates als Funktionsanleitung des Politischen – analog wäre das Gewissen die Selbstbeschreibungsmatrix des personalen Systems. 14 Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, Heidelberg: C.F. Müller, 1993, S. 5. 15 Vgl. ebd., S. 19. 16 Das hartnäckige Festhalten an diesem Postulat erinnert an die Situation im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert – damals herrschte die Befürchtung vor, eine Pluralisierung der Religionen würde den sozialen Frieden nachhaltig gefährden. Der Angriff der Philosophen auf die Theologen konnte seinerzeit nicht abgewehrt werden – ohne dass dies, wie sich historisch gezeigt hat, die erwarteten Erosionstendenzen im Politischen nach sich gezogen hätte.
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auf die Limitierung der Reichweite moralisch-ethischer Verständigungen wäre in diesem Sinne eine Aufgabe von politischer Ethik. Implizit mitlaufende politische Diskurse explizit als solche transparent zu machen, kann als eine Forderung politikwissenschaftlicher Aufklärung gelten. III. Das „Ypsilanti-Jahr“ 2008 in Hessen war ein Jahr des Gewissens und stellt geradezu ein Lehrstück dar, an dem die Politik des Gewissens diskutiert werden kann. Der Analyse- und Unterhaltungswert dieser hessischen Ereignisse hatte zweifellos seinen Grund in ihren tragischen Zügen, denn beide Seiten steuerten mit recht unerbittlicher Konsequenz auf die gemeinsame Katastrophe zu. Vor der Hessenwahl im Januar war die sozialdemokratische Standardantwort auf die Frage, ob eine Koalition mit der Linkspartei möglich sei, eine klare Ablehnung gewesen. Nach der Wahl strebte die maßgebliche Gruppe der hessischen Parteiführung entschlossen diese Koalition an. Zunächst stellte sich eine einzelne SPD-Abgeordnete dagegen, Dagmar Metzger. Sie wurde unter massiven Druck gesetzt und in der tribunalartigen Atmosphäre einer Parteiversammlung zur Rede gestellt. Sie blieb aber bei ihrer Position, bei einer Ministerpräsidentenwahl nicht für ihre Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti stimmen zu wollen, wenn diese auf die Stimmen der Linkspartei angewiesen sei. Dagmar Metzger sah dies als Gewissensfrage an. Dabei kam es zu interessanten Debatten darüber, ob Gewissensfragen nicht auf bestimmte besonders herausgehobene ethische Probleme, wie z. B. Abstimmungen über die Abtreibungsfrage, die Kriegsdienstverweigerung oder vergleichbare, oftmals religiös aufgeladene Fragen beschränkt werden müssten oder sogar immer schon beschränkt gewesen seien. In solchen Fragen herrsche oft ein Konsens der Parteiführungen, den sogenannten „Fraktionszwang“ aufzuheben und den Abgeordneten die Abstimmung freizustellen. Bei einer normalen Ministerpräsidentenwahl aber könne und dürfe das Gewissen keine Rolle spielen. Der Wortlaut des Grundgesetzes und der hessischen Verfassung lautet aber anders, denn jede Frage kann zur Gewissensfrage werden, wenn sie nur in die entsprechende Zuspitzung gebracht wird. In diesem Fall war sie mit einem fundamentalen moralischen Akt, nämlich mit einem Versprechen verbunden. Dagmar Metzger hatte im Wahlkampf ein ausdrückliches und vielfach besiegeltes Versprechen abgegeben. Wie sieht eine Bewertung dieses spektakulären Falles aus der Perspektive politischer Ethik aus? Es ist nicht so einfach, wie es scheint. Das Wahlgeheimnis, sowohl für Abgeordnete als auch für den Normalwähler, hat aus gutem Grund Verfassungsrang, denn nur so kann eine unbeeinflusste Stimmabgabe garantiert werden. Ohne dieses Geheimnis hätten wir ein imperatives Mandat. Die Abgeordneten wären nur Marionetten ihrer Partei. Das Wahlgeheimnis ist ein hohes Gut, denn auch wenn behauptet wird, jeder könne in unserer freien Gesellschaft jederzeit frei seine Meinung sagen, zeigen die Alltagserfahrung, aber auch gerade dieser Fall, wie schwierig es sein kann und mit wie schweren persönlichen Konsequenzen es verbunden
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sein kann, in einer Entscheidungssituation, in der es auf jede Stimme ankommt, nachhaltige Bedenken zu äußern und Einwendungen zu machen. Unter dem Gesichtspunkt politischer Ethik ist der Bruch einer vor der Wahl gegebenen Zusage, jedenfalls wenn es sich um eine unter mehreren handelt, die, wie sich hinterher herausstellt, sich gegenseitig ausschließen, keineswegs von vornherein zu verurteilen. Andrea Ypsilanti wies darauf hin, sie habe die Ablösung der Regierung Roland Koch als Hauptparole im Wahlkampf vertreten und hätte schon deshalb nicht eine Koalitionsregierung unter dessen Führung ernsthaft in Erwägung ziehen können. Wenn die Erfüllung dieses Wahlversprechens nunmehr nur unter Bruch des anderen Versprechens, nicht mit der Linkspartei zusammenzugehen, möglich war, dann hätte dies eben in Kauf genommen werden müssen. Darüber hinaus war an eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei nicht gedacht, sondern nur an ein Tolerierungsabkommen, das ermöglicht hätte, die Ministerposten allein zwischen SPD und Grünen aufzuteilen. Die Berufung auf ein Gewissen, das dieses nicht zulassen würde, bringt dagegen die Gefahr, genau dieses ausgleichende Kernelement der parlamentarischen Demokratie unter Bedingungen des Verhältniswahlrechts zu gefährden. Wenn man sich erst einmal zu einer quälenden Gewissensentscheidung durchgerungen hat, sind keine Kompromisse mehr möglich. Wenn ein Teilnehmer des politischen Spiels eine Frage als Gewissensfrage deklariert, ist damit impliziert, dass er unabhängig von den Veränderungen äußerer Konstellationen auf jeden Fall an seiner Position festhalten muss, wenn er oder sie glaubwürdig bleiben will. Das Gewissen kann dann von einem minoritätsschützenden und Offenheit garantierenden Element der Verfassung zu einem vordemokratischen Moment des absoluten Richtigkeitsanspruchs werden. Das Festhalten daran macht die nötigen Adjustierungen, die immer mit Kompromissen verbunden sind, schwierig bis unmöglich, und schafft im Grunde eine vorbürgerkriegsartige Situation. Wenn vorhin die Schärfe der konsenserzwingenden Polemik kritisiert wurde, dann ist aus dieser neuen Perspektive nunmehr die Inflexibilität der Gewissensposition zu kritisieren. Die politische Ethik in der Demokratie ist deshalb wesentlich eine Ethik des Kompromisses. Der beißende, scheinbar überlegene Spott, den Kurt Tucholsky in der Weimarer Republik über deren Kompromisssucht ausgegossen hat, hat sicherlich seinen Teil zur Delegitimierung dieser Republik bei den linken Intellektuellen beigetragen. Kompromissunfähigkeit kann jedoch zur tödlichen Gefahr für die Demokratie werden. Gebietsabkommen können nicht abgeschlossen werden, wenn jeder Zentimeter als „heiliger Boden“ erklärt wird, wie dies im Nahostkonflikt der Fall ist. Dann bleibt nur der durch Waffenstillstände vorübergehend aufgehaltene und unterbrochene Kampf bis zur Entscheidung. Betrachten wir die Abstimmungen des Deutschen Bundestages, bei denen die Fraktionen nach Art. 38 GG die Abstimmung ausdrücklich vom „Fraktionszwang“ befreit hatten, lassen sich hier ähnliche Feststellungen machen. Zunächst war es vor allem die religiös motivierte Abtreibungsfrage und ähnliche Entscheidungen, bei denen klar war, dass die Fraktionsführungen sich nicht über die religiöse Bindung
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der Abgeordneten hätten hinwegsetzen können. Später allerdings wurden auch ganz praktische Abstimmungen wie die über die Verlegung der Hauptstadtfunktion von Bonn nach Berlin „freigegeben“, die mit Gewissensfragen nichts mehr zu tun hatten, wohl aber mit persönlichen und Wahlkreisbindungen, gegen welche die Bindung an die Fraktion nur sehr schwer durchzusetzen gewesen wäre. An dieser Stelle ist noch einmal ein genauerer Blick auf den Wortlaut des Art. 38 GG angebracht, denn die bisherige Diskussion könnte den Anschein erwecken, als sei das Recht eines Abgeordneten, von der vorgegebenen Partei- oder Fraktionslinie abzuweichen, daran gebunden, dass er Gewissensgründe hierfür geltend machen kann. Das ist zwar bei der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 12a GG in der Tat der Fall, nicht aber in Art. 38 GG, denn dort heißt es lediglich, Abgeordnete seien an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Sie können also ihre Entscheidungen nach den Kriterien treffen, die ihnen gut dünken. Wenn es weiter heißt, sie seien „nur ihrem Gewissen unterworfen“, ist damit ganz offensichtlich nicht gemeint, dass ihre Entscheidungen auf Gewissensgründen basieren müssten. Sie können durchaus auf pragmatischen Rücksichten, auf Gewohnheit oder was auch immer gründen. Es wird lediglich verlangt, dass sie ihrem Gewissen nicht zuwider handeln, d.h. nichts tun, was sie vor ihrem Gewissen nicht vertreten können. Das Gewissen ist nicht die leitende Instanz, sondern vielmehr ein letztes, individuelles und von außen nicht überprüfbares Kontrollinstrument der praktischen Entscheidung. Die meisten politischen Entscheidungen, die ein Abgeordneter zu treffen hat, werden sein Gewissen nicht berühren. Es könnte allerdings dann berührt sein, wenn er sich in einer ansonsten belanglosen Entscheidung durch Interessenten kaufen ließe, was darüber hinaus inzwischen auch strafrechtlich sanktioniert werden kann. Die Erinnerung an das Gewissen ist zu lesen als eine Ermahnung an die Abgeordneten, von ihrer Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit, also ihrer Freiheit, von den Vorgaben ihrer politischen Organisationen abzuweichen, in verantwortungsvoller Weise Gebrauch zu machen. Die Formulierung, sie seien „nur“ ihrem Gewissen unterworfen, impliziert auch, dass sie im Ernstfall eine Entscheidung durchaus allein mit sich selbst und mit niemandem anders ausmachen können. Im Artikel 12a GG über die Kriegsdienstverweigerung liegen die Dinge anders. Hier ist in der Tat eine Verweigerung nur aus Gewissensgründen, also nicht aus pragmatischen Gründen möglich. Im Unterschied zu früher brauchen diese Gründe allerdings nicht mehr vor einem Ausschuss glaubhaft gemacht zu werden. Dieser Punkt wirft ein weiteres Licht auf das Gewissen: es ist von außen nur schwer bis gar nicht überprüfbar. Es wirkt im finsteren Inneren des Selbst, also im Sinne einer Art von Black Box. Da darüber hinaus jede Entscheidung, wenn sie nur hinreichend zugespitzt wird, zu einer Gewissensfrage werden kann, ist diese Black Box mit beliebigen Inhalten füllbar. Im Ergebnis zeigt sich: die Zuspitzung dieses Konflikts auf einige wenige Abweichler und letztlich auf eine Gewissensfrage hängt auch damit zusammen, dass die institutionellen Mechanismen im Vorwege eine Entfremdung, eine Einkapselung, einen parteiinternen Sonderdiskurs hervorgebracht haben, der z. T. sogar sek-
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tenhafte Züge angenommen hat. Hier ist eine innerparteiliche Diskussion schon über einen länger zurückreichenden Zeitraum aus dem Ruder gelaufen. Die Berufung auf das Gewissen stand hier nicht am Anfang des Prozesses, sondern war das Ergebnis eines Prozesses, das allerdings an den meisten Peripetien dieser Entwicklung durch kluges Agieren noch hätte abgewendet werden können. Dies war ein eklatanter Fall mit realtragischen Zügen. In anderen Politikfeldern dagegen dient die offizielle oder offiziöse Freigabe der Gewissensentscheidung gerade zur Entlastung der Abgeordneten vom zentralen Druck, von den daraus folgenden möglicherweise spektakulären Diskussionen, zur Vermeidung von Parteiaustritten, Ausschlüssen oder Fraktionswechseln. Die Delegation der Einzelentscheidung an das Gewissen der Abgeordneten könnte zunächst verstanden werden als eine Entlastung der Entscheidungsfindung durch Entpolitisierung, d. h. ihre Befreiung von den üblichen Parteigrenzen, Rechts-Links-Differenzierungen oder der Gegenüberstellung von Regierung und Opposition. Renate Martinsen hat jedoch in einer bahnbrechenden Studie darauf hingewiesen, dass insbesondere im Feld der Bioethik, also der versuchten Steuerung neuer biologischer Forschungsprozesse durch ethische Bedenken, geradezu eine Art Re-Politisierung der Gewissensdiskurse stattfindet.17 Hatten wir oben die ausnahmsweise Option der Gewissensanrufung funktional als Stärkung der Abgeordnetenrolle begriffen, zeigt sich nunmehr, dass bei bestimmten Themen der Versuch unternommen wird, von einer Rhetorik der Parteienkonfrontation umzuschalten auf eine Rhetorik der ernsthaften Sorge mit gewissensmoralischem Unterton. Eine Art wertbezogene Gewissenspolitik entsteht damit als neues Diskussionsfeld neben dem Feld der normalen Politik der Parteienkonkurrenz und Interessendurchsetzung.
IV. In Bezug auf die sozialwissenschaftliche Thematisierung von Gewissenskonzeptualisierungen erfordert das Aufklärungspostulat, solche Ansätze aufzuspüren, die „quer“ liegen zu den dominanten reduktionistisch-humanistischen Erklärungsversuchen. Polykontextuelle Beschreibungen der Gedankenfigur des Gewissens finden sich eingelagert in post-humanistische Gesellschaftstheorien18 (wie Systemtheorie, Theorien der Postmoderne bzw. des Poststrukturalismus). Heinz Bude bietet in einem Beitrag, der sich der Erforschung der Fragestellung „Auflösung des Sozialen? Die Verflüssigung des soziologischen Gegenstandes im Fortgang der soziologischen Theorie“19 widmet, ein dreiteiliges Strukturierungsprinzip des Sozialen an, das jeweils gewisse Ethikkonzeptionen präjudiziert. Die vorgeschlagene Untergliederung 17 Renate Martinsen, Gewissen ohne Geländer? Normative Selbstregulation als politisches Phänomen, in: Zeitschrift für politische Theorie: Jg. 1, H. 1, 2010, S. 25 – 49, hier S. 26. 18 Die Bezeichnung „antihumanistisch“ hingegen kennzeichnet eine Distanzierungssemantik aus der Perspektive humanistischer Weltanschauung. 19 Heinz Bude, in: Soziale Welt, Jg. 39, H. 1, 1988, S. 5 – 14.
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Budes korreliert offensichtlich weitgehend mit der Luhmannschen Rubrizierung der Aufklärung in drei Kategorien (Vernunft-, entlarvende, soziologische Aufklärung):20 (1) Das Soziale als „externe Struktur“ (das heißt als konstitutiv und repressiv für das Selbst in einem) impliziert eine „Ethik der Selbstverwirklichung“;21 (2) das Soziale als „interne Struktur“ (die den soziologischen Blick vom subjektiven Sinn zum Sinn des Subjektes wendet) legt eine „Ethik der Selbstaufgabe“ nahe;22 (3) erst das Soziale als „serielle Struktur“ ermöglicht Beschreibungen in einer fluktuierenden Welt: hier erfolgt die Wendung zu einer „Ethik der Selbsterfindung“.23 Diese Strukturierung vermag auch Erhellendes zur Gewissensproblematik beizutragen: die ersten beiden Stufen kennzeichnen die gegenwärtig hegemonialen (konträr ausgerichteten) Konzeptionen des Gewissens in ihrem Verhältnis zur politischsozialen Ordnung (als autonome Gegenkraft einerseits bzw. als durch und durch sozial imprägnierte Instanz andererseits) – während schließlich die Vorstellung einer Setzung der Gewissensinstanz im Sinne schöpferischen Tätigseins eine posthumanistische Signatur aufweist. Wenn Aufklärung über die Aufklärung darüber hinaus sich darin zu erweisen hat, dass das Problem (der sozialen Kontingenz) selbst in die Theoriebildung einbezogen wird, so impliziert dieses Postulat ein Komplexitätserfordernis auf einer zweiten Ebene: es genügt nicht, eine komplex gebaute Darstellung des Gegenstandes herauszuarbeiten – vielmehr bedarf es einer Perspektivenoptik sich gegenseitig relativierender und erhellender Deutungsvorschläge. Denn jede Gesellschaftstheorie kann die Leitunterscheidung, mit der sie in ihrer Theoriebildung beginnt, selbst nicht mehr reflektieren: sie weist einen „blinden Fleck“ auf, der sich theorietechnisch nicht vermeiden lässt: „Jede Unterscheidung schafft ein tertium non datur. Das ausgeschlossene Dritte muss für die Unterscheidung aber selbst latent bleiben, da sonst die Unterscheidung selbst in Frage gestellt wird. Jedes System als rekursive Verkettung von Unterscheidungen beruht auf einem Mangel: auf der Gewaltsamkeit der ersten Unterscheidung, die seine Einheit konstituiert. Der Mangel ist demnach gar kein Mangel, sondern ein Vorzug; ohne ihn wäre keine Konstruktion möglich. Das impliziert Verzicht auf Perfektion. Das Auge, das alles sieht, erlischt.“24
20 Allenfalls lässt sich bei der dritten Stufe nachfragen, ob sie zu spezifisch auf die französischen Poststrukturalisten zugeschnitten ist – eine systemtheoretisch akzentuierte Ergänzung könnte etwa lauten: das Soziale als autopoietische Struktur ermöglicht Selbstbeschreibungen in einer komplexen Welt. Impliziert wird nun eher eine „Ethik der Selbsterhaltung“, die gleichwohl um die (riskanten) Selbsterfindungsmöglichkeiten weiß. 21 Ebd., S. 12. 22 Ebd., S. 13. 23 Ebd. 24 Gunther Teubner, Im blinden Fleck der Systeme. Die Hybridisierung des Vertrages, in: Soziale Systeme, Jg. 3, H. 2, 1997, S. 313 – 326, hier S. 318.
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Gunther Teubner verweist darauf, dass bloßer Theorienpluralismus nicht weiterhelfe; um einen analytischen Mehrwert zu generieren, müsste vielmehr ein Theoriearrangement gewählt werden, das solche Deutungsansätze miteinander konfrontiert, welche die Bedingung der Supplementarität erfüllen, das heißt die geeignet erscheinen, wechselseitig ihre blinden Flecken zu erhellen. Eine solche „negative Theoriesymbiose“25 würde auf zwei gleichberechtigten, nicht aufeinander reduzierbaren Konkurrenztheorien beruhen – ohne dass für die erzeugte Widersprüchlichkeit eine übergreifende Integrationslösung herbeigeführt wird. Vielmehr munitioniert ein ständiges „Switchen zwischen orthogonalen Perspektiven“ die Eigendynamik einer imperfekten Ordnung: gerade der Streit zwischen den Theorien ist die „Lösung“.26 Theoretisch konsequent fordert Teubner „strenge Supplementarität“27: „Die Systemtheorie – wie jede gut gebaute Theorie – hat einen Anspruch auf ihr höchsteigenes Supplement“.28 Solange das vorfindbare Theoriespektrum indes keine eigens komplementär zur Systemtheorie konstruierten Deutungsangebote aufweist, wird man auf eine gemäßigtere Variante von Supplementarität zurückgreifen müssen. Das heißt: gefragt werden muss nach existierenden Theorien, die – erstens – eine (gegenüber den traditionellen Deutungen) komplexere Interpretation des Gewissensphänomens anbieten, und – zweitens – geeignet erscheinen, in der dynamischen Zusammenschau ihrer jeweiligen Perspektivierungen ihre blinden Flecken gegenseitig (teilweise) auszuleuchten. Das von Peter Sloterdijk diagnostizierte Gegenwarts-Phänomen des Ausbreitens eines zynischen Bewusstseins unter Intellektuellen hat seine Wurzeln nicht zuletzt in der „eklatanten Erschöpfung der Ideologiekritik“29 – diese klassische Gedankenfigur, wie sie auch in der marxistischen Tradition wohlbekannt ist, geht davon aus, dass die Kritik des Bestehenden mit Grundsätzen beginnt, die dem Bestehenden innewohnen – indem man etwa Widersprüche aufzeigt zwischen den proklamierten Moralprinzipien und den Sozialpraktiken, gewinnt man Einbruchschneisen für Kritik: denn die Ideologie partikularer Interessen ist als Funktionsvoraussetzung darauf angewiesen, sich als universalistisch zu stilisieren. Allerdings beruhte die Dynamik dieser kritischen Stoßrichtung auf einer geschichtsteleologischen Konstruktion: dem Glauben an eine historische Zuspitzung der Widersprüche, die schließlich zu grundlegenden Gesellschaftstransformationen führen soll. Die gegenwärtigen Demokratiediagnosen hingegen haben „das Vertrauen in das kreative Moment der Zuspitzung verloren“30 – so Hubertus Buchstein, der in diesem Zusammenhang die Ebd., S. 320. Vgl. ebd., S. 320 – 322. 27 Ebd., S. 320. 28 Ebd., S. 322. 29 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S. 33. 30 Hubertus Buchstein, Demokratietheorien – Sammelbesprechungen, in: Politische Vierteljahrsschrift, Jg. 37, H. 3, 1996, S. 129 – 148, hier S. 146. 25 26
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Vermutung äußert, die „(n)ormative(n) Suchbewegungen“ könnten unterkomplex angelegt sein.31 Auch Klaus von Beyme kann im Kontext seiner Überlegungen zur normativen Theorie nur noch „homöopathische Dosen der Erneuerung“ ausmachen.32 Erst jetzt in der „postmodernen Ära der Transformation, in der die liberale Demokratie konkurrenzlos zurückblieb“ sei eingetreten, was „Linke“ bereits früher geargwöhnt hätten: „daß selbst die normative Theorie nur die phantasiearme Duplizierung einer tristen sozialen und politischen Realität sei“.33 Wenn das aber so ist: woher können dann Perspektivpunkte einer normativen Kritik genommen werden? Traditionell wird danach im Innern des auf diese Weise rasch überlasteten Subjekts gesucht. Es bedarf einer methodologischen Umorientierung, die im Sinne politikwissenschaftlicher Aufklärung eher bei Funktionen und Funktionalitäten ansetzt und auf diese Weise einen Politikbegriff grundiert, der das Mögliche hervorkehrt. Die Konturen einer derartigen Aufklärung sollen den Horizont erschließen, in dem sich eine ambitionierte politikwissenschaftliche Erforschung von Gewissen, Moral und Ethik aus dieser Persepktive verorten könnte. Im Folgenden soll der Blick auf eine Diskussion gelenkt werden, die den Bedarf einer aufklärerischen Forschungsanstrengung verdeutlicht: die Bioethik-Debatte hat den epistemologischen Korridor, der durch die klassischen Ethik-Pole des deutschen Idealismus (Kant-Hegel) vorgezeichnet war, nicht zu transzendieren vermocht – obwohl (bzw. vielleicht sogar gerade weil) die Entwicklungen im humanmedizinischen Bereich und die damit einhergehende Infragestellung der jahrhundertealten Grenzziehung zwischen Natur und Kultur Ethikkontroversen in besonderer Weise herausgefordert haben. Für die politisch durchaus wirksame angewandte Ethik ist festzuhalten, dass sie die Gefahr birgt, „die Standards wissenschaftlicher Rationalität und damit das Ansehen der Wissenschaft selbst zu gefährden“34: „Der schlechte Ruf der angewandten Ethik hängt auch damit zusammen, dass auf diesem Sektor viele tätig sind, die alles immer schon zu wissen vorgeben. Anwendung heißt dort schlicht Anwendung von vorgegebenen Prinzipien, nicht deren reflexive Prüfung.“35 Man könnte sogar soweit gehen und von „voraufklärerische(n) Züge(n)“36 in dieser Ethiksparte sprechen – es scheint in der Tat schwer von der Hand zu weisen, dass sich die meisten der wissenschaftlichen Analysen in diesem Gebiet eine Steigerung des Reflexivitätsniveaus nicht zu einem vorrangigen Ziel gesetzt haben. Wir Vgl. ebd., S. 135 – 140. Klaus von Beyme, Zur Funktion normativer Theorien in der politikwissenschaftlichen Forschung, in: Greven / Schmalz-Bruns (Hg.), Politische Theorie – heute. Ansätze und Perspektiven, Baden-Baden: Nomos 1999, S. 81 – 99, hier: S. 88. 33 Ebd., S. 93. 34 Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäischamerikanische Diskurs zur politischen Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 658. 35 Ebd., S. 659. 36 Ebd. 31 32
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verwenden in diesem Zusammenhang den Terminus Ethikpolitik, um darauf hinzuweisen, dass hier politische Fragen unter der Hand in eine ethische Semantik übersetzt werden. Somit müsste eine aufklärerische Fragestellung im Bereich Bioethik überhaupt erst einmal auf den Weg gebracht werden.
V. Unter machtstrategischen Vorzeichen mag das jeweilige Beharren auf einem sinnstiftenden „Wahrheitsspiel“ (M. Foucault), das reklamiert, die einzig universalistisch gültige Morallehre zu formulieren, seine Plausibilität besitzen – unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten kann die Inkonsequenz, mit welcher der Disziplinenwechsel der Moral von der Philosophie zu den Sozialwissenschaften betrieben wird, nicht befriedigen: die Bioethikkonzeptionen tendieren dazu, den Charakter von normativ-empirischen Zwitter-Ethiken aufzuweisen, die dazu beitragen, die radikale Pluralisierung von Moralen in der Moderne zu verdecken. Auch die Konstanz gewisser bioethischer Argumentationsfiguren im Zeitverlauf sowie der – häufig bemerkte – Umstand, dass sich in der Bioethikdiskussion keine Annäherung zwischen den Positionen abzeichne37, hat hier bisher zu keiner nachhaltigen wissenschaftlichen Irritation geführt. Mit anderen Worten: In der bioethischen Literatur findet sich ganz überwiegend nicht eine Konturierung und Reflexion der empirisch vorfindbaren Normpostulate im Feld Humanbiomedizin; vielmehr werden bestimmte Urteilsbildungen „philosophisch aufgeladen“, das heißt als überhistorisch, konsensuell geteilte Vernunftwahrheiten formuliert – es wird somit ein Deutungsmonopol behauptet, das als Teil eines politischen Kampfes um die Durchsetzung von (partikular gültigen) Wahrheiten seine politikwissenschaftliche Verortung findet.38 Es erscheint naheliegend, dass ein wesentlicher Grund für das hartnäckige wissenschaftliche Festhalten an der Position des ethischen Universalismus mit der weit verbreiteten Befürchtung zusammenhängt, dass die Aufgabe des Universalismusanspruchs quasi das „Ende der Moral“ einläute, weil dann die ethischen Entscheidungen dem beliebigen Willkürspruch preisgegeben würden. Den epistemologischen Hintergrund der (Bio-)Ethikdiskussion bildet nämlich das semantische Framing der dichotomisch konzipierten Opposition „Universalismus-Relativismus“. Lassen sich politische Ethiken, das heißt Ethiken, die in Rechnung stellen, dass „auch 37 Vgl. etwa Kurt Bayertz / Christa Runtenberg, Gen und Ethik: Zur Struktur des moralischen Diskurses über die Gentechnologie, in: Marcus Elstner (Hrsg.), Gentechnik, Ethik und Gesellschaft, Berlin u. a.: Springer, 1997, S. 107 – 121. 38 Bioethikpolitiken haben somit ihre Legitimität im Feld der Politikberatung – die Ethikkommission bezeichnet dann die institutionell angemessene Verkörperung solcher mit Durchsetzungsintentionen vorgetragenen, inhaltlich konturierten Bioethikpositionen. Problematisiert wird hier aus wissenschaftlicher Sicht die unreflektierte Vermengung von ethischen und politischen Kommunikationen, wie sie im Feld Bioethik und ihrer konstitutiv hybriden Art der Wissensbildung die Regel darstellt.
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die private Lebensführung nur unter politischen Konditionen möglich ist“39, konzeptualisieren, die substantialistische Setzungen vermeiden – ohne in einen relativistischen Diskurs einzumünden? Als Ansatzpunkt für einen solchermaßen intendierten Übergang von Ethikpolitik zu politischer Ethik wird hier vorgeschlagen, die Figur des Gewissens aufzugreifen: Denn die Brisanz der bioethischen Debatte wird dadurch bedingt, dass hier Fragen zur Disposition stehen, die für die Gewissensproblematik charakteristisch sind. Wenn jede Ordnung eines politischen Gemeinwesens zwangsläufig durch „Unvollkommenheit“ gekennzeichnet ist, weil der politisch-juridische Instanzenzug irgendwann abbrechen muss, ist davon auszugehen, dass bei gesellschaftlichen Entwicklungen, die die Regelung des Erwartbaren überschreiten, diese System-Leerstelle virulent wird: es beginnen sich unterschiedliche Vorstellungen auszubilden, wie die lückenhafte Ordnung zu ergänzen ist – die Frage der Letztinstanzlichkeit wird aufgeworfen. Gerade unter dem Vorzeichen eines fulminanten gesellschaftlichen Wandels und damit einhergehender veränderter Handlungsoptionen ist verstärkt mit Konflikten zu rechnen, „die vor keinen Gerichtshof gezogen werden können, der von beiden Parteien anerkannt wird. Ja, man muss noch einen Schritt weitergehen. Es ist – die Geschichte des Abendlandes zeigt es in einer langen Reihe von Prozessen; denn was in Frage steht, ist immer Gegenstand eines Gerichtsverfahrens – durchaus möglich, dass die beiden sich bekämpfenden Parteien sich bei der Verteidigung und Rechtfertigung ihrer Sache auf ein und dieselbe Instanz beziehen und dennoch zu verschiedenen, sich ausschließenden Entscheidungen gelangen … . Das will heißen: die Interpretation selbst ist die Materie der Auseinandersetzung. Man kann auch so fragen: wem kommt, wenn es um eine letzte Bestimmung des Wahren und Gerechten, des unbedingt Verpflichtenden geht, Letztinstanzlichkeit zu?“40
Wem kommt Letztinstanzlichkeit zu, wenn die Hierarchie der Rechte und Normen nicht weiterhilft, weil gerade die Rangordnung der höchsten Werte strittig ist? Die so beschriebene Situation kennzeichnet nun nicht eine vorübergehende historische Phase, sondern sie trägt vielmehr das Signum der fortgeschrittenen Moderne. Damit soll nicht behauptet werden, dass die modernen westlichen Staaten unausweichlich einem Prozess der gesellschaftlichen Desintegration ausgesetzt sind – aber der gesellschaftliche Zusammenhalt kann nicht mehr überzeugend unter Verweis auf konsensuell geteilte, universalistische Moralnormen reklamiert werden. Ein Festhalten an dieser überlieferten Sichtweise hieße die Problematik der sozialen Kontingenz im Übergang am Beginn des Jahrtausends zu unterschätzen. Die bioethischen Fragen können letztlich nicht mehr expertokratisch für alle überzeugend „gelöst“ werden, denn die ethische Debatte im biomedizinischen Feld wurzelt in unterschiedlichen Setzungen des Höchstwertes, die zwar „begründet“ werden können – aber eben nicht mehr mit universellem Geltungsanspruch, sondern nur noch 39 Volker Gerhardt, Lebensführung und Politik, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Politik und Ethik, Stuttgart: Reclam, 1996, S. 9 – 39, hier S. 36. 40 Hans Barth, Staat und Gewissen im Zeitalter der Säkularismus, in: Klaus Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmut Plessner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1957, S. 195 – 214, hier: S. 210.
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mit limitierter sozialer Reichweite plausibilisierbar sind, das heißt nur für diejenigen Überzeugungskraft besitzen, welche die jeweilige letztinstanzliche Normsetzung teilen. Dass der bioethische Streit an Gewissensfragen rührt, ist nicht unbemerkt geblieben: der Verweis auf eine „innere Stimme“ erfolgt von ganz unterschiedlichen Seiten und mit unterschiedlicher Intention: privatisierende Ausgrenzung bzw. kollektivierende Vereinnahmung bezeichnen die beiden zentralen Paradigmen der (bio-)ethischen Zugriffsweise auf das Gewissensphänomen. Während etwa die Position des ethischen Konventionalismus, welche „die Politik des moralischen Kompromisses“41 als Tugend preist, im bioethischen Gewissensspruch einen fundamentalistischen Einspruch befürchtet, den es als Privatmoral auszugrenzen gilt, berufen sich die moralinnovatorischen Positionen bevorzugt auf das Gewissen zur Bekräftigung ihrer jeweiligen Gesellschaftsanalyse und Werttheorie: so macht etwa Hans Jonas geltend, es gehe bei Humanexperimenten um „letzte Fragen persönlicher Sakrosanktheit“, um mit dieser Etikettierung seine Thesen für eine „Verlangsamung des medizinischen Fortschritts zu legitimieren“42, während Ernst-Ludwig Winnacker aus der analogen Ausgangseinschätzung eine konträre Handlungsoption ableiten möchte – den Gegnern einer embryonalen Stammzellforschung gibt er zu bedenken: „Können sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren, diese Forschung völlig abzulehnen?“43 Lenk wiederum appelliert an die selbstzugeschriebene Verantwortlichkeit angesichts erhöhter Bedrohungspotentiale der Weltlage – da ihm dieser Weg aufgrund der unberechenbaren Wahlfreiheit des Individuums indes zu riskant erscheint, plädiert er schließlich für das politisch angeleitete und sozial umhegte Gewissen.44 Aber auch wo der Gewissensbezug des Bioethikthemas nicht explizit erwähnt wird, ist er als interpretative Hintergrundfolie präsent: nichts beleuchtet dies schlaglichtartiger als der Umstand, dass Immanuel Kant (der Gewissenstheoretiker par excellence) als Paradephilosoph der Bioethikdebatte geradezu omnipräsent ist: Zitate von und Verweise auf Kant durchziehen wie ein roter Faden die Kontroverse. Für die Bioethik- und Embryonendebatte gilt Kant als „der einschlägige Denker“.45 Im Hinblick auf die Kant-Referenzen lässt sich wiederum ein Paradoxon konstatieren: ausgerechnet der klassische Antipode aller angewandten Ethiken gilt unangefochten als die Autorität einer akademischen Disziplin, die im Zentrum der angewandten Ethiken firmiert. Der Problemhorizont, der in den bioethischen Konzep41 Wolfgang van den Daele, Bioethik – Versuchungen und Fundamentalismus, in: Kursbuch 128: Lebensfragen, 1997, S. 85 – 100, hier S. 100. 42 Hans Jonas, Humanexperimente, in: Hans-Martin Sass (Hrsg.), Medizin und Ethik, Stuttgart: Reclam, 1994, S. 232 / 253. 43 Ernst-Ludwig Winnacker, Im Zweifel ohne Bundestag. Der Streit um den Import embryonaler Stammzellen spitzt sich zu. Ein Gespräch mit Ernst-Ludwig Winnacker, in: Die Zeit, 2001, Nr. 48, S. 37. 44 Hans Lenk, Einführung in die angewandte Ethik. Verantwortlichkeit und Gewissen, Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1997. 45 Ottfried Höffe, Wessen Menschwürde? Der Streit um das therapeutische Klonen: Das Programm für die Entwicklung des Menschen ist von Anfang gegeben, in: Die Zeit, 2001, Nr. 6, S. 43.
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tualisierungen aufgespannt wird, manifestiert sich philosophiehistorisch mustergültig in der spannungsvollen Paradigmenrivalität, wie sie durch die Kantische Moraltheorie einerseits und die Hegelsche Sittlichkeitslehre andererseits ausformuliert wurde. In diesen klassischen Selbstverständigungsversuchen der Moderne steht Kant für den Typus einer „unverbundenen“ (kontexttranszendierenden) Philosophie, während Hegel den Typus einer „gebundenen“46 (kontextualistischen) Philosophie repräsentiert. Der erstgenannte Ansatz rekurriert auf einen unbedingten kritischen Moral-Standpunkt „jenseits“ der Gesellschaft,47 steht jedoch im Verdacht, keine gesellschaftspolitische Wirksamkeit zu zeitigen und in bloßen abstrakten Sollenspostulaten zu regredieren. Das zweite Theoriemodell kann zwar für sich reklamieren, die soziale Realität in Rechnung zu stellen, sieht sich aber mit dem Vorwurf konfrontiert, soziale Praktiken und moralische Pflichten tendenziell kurzzuschließen und damit den kritischen Maßstab einzubüßen. Diese inhärenten komplementären Problematiken der beiden paradigmatischen Ethikentwürfe des „Deutschen Idealismus“ wurden indes durch die philosophische Einbettung in geschichtsteleologische Rahmenkonstruktionen entschärft, das heißt sie konnten in ihrer Zeit eine Plausibilität reklamieren, die nach dem Verfall der metaphysischen Weltorientierungen im 20. Jahrhundert in der ursprünglichen Form nicht mehr besteht. Dass die Bioethiken die klassischen Moralantworten unter radikal veränderten Weltverhältnissen fortzuschreiben versuchen, kann als Hauptgrund dafür betrachtet werden, dass sich die Kontroversen fortwährend in Paradoxien verfangen. Paul Konrad Liessmann vermutet, dass in der gegenwärtig technisch-säkularen Welt die angewandte Ethik den „letzten Zufluchtsort der Metaphysik“48 bildet – diese Disziplin wäre mit anderen Worten: „ein ziemlich kompliziertes Verfahren, um den Menschen zu erklären, warum die Frage, was in ihrer Macht steht, keine Machtfrage, sondern ein Problem der angewandten Ethik ist“.49 Die unausgewiesene Vermengung von Macht- und Moralfragen aufgrund der Grundierung der Debatte durch die unhaltbar gewordene Annahme universalistischer Moralnormen, die expertokratisch unter der Flagge einer von allen gleichermaßen geteilten Vernunft aus der verknäulten biomedizinischen Problematik herausdestilliert werden sollen, vermag keinen Ethik-Raum zu eröffnen, der sich wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit befindet. 46 In der Sprache der Spinnerschen Phänomenologie heißt es „freischwebende“ sowie „eingebundene“ bzw. „gefesselte“ Ethik (»gefesselt« wäre eine Sittlichkeitslehre, bei der die gesellschaftliche Einbindung in einer Instrumentalisierung der Ethik durch die Politik resultiert); vgl. Helmut F. Spinner, Wissensordnung, Ethik, Wissensethik; in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart: Kröner, 1996, S. 718 – 749. 1996, hier S. 727 – 728. 47 Hierzu zählen gegenwärtig insbesondere auch moralphilosophische Versuche mittels verfahrenstechnischer Kunstgriffe, einen externen Standpunkt (Ursituation) zu fingieren (vgl. hierzu Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin: Rotbuch 1993, S. 19 – 25). 48 Paul Konrad Liessmann, Angewandte Ethik. Von realer Ohnmacht und imaginierter Freiheit, in: Kursbuch 136, Schluß mit der Moral, 1999, S. 121 – 129, hier S. 127. 49 Ebd., S. 128.
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Um die vorfindbaren klassischen Ethikentwürfe kreativ weiterzuentwickeln, muss der herkömmliche Rahmen transzendiert werden: jenseits der Bipolarität „Universalismus“ und „Relativismus“ besteht die Aussicht, einen Theorie-Boden zu gewinnen, der es ermöglicht, eine komplexere Ethik zu konzeptualisieren, die der Gesamtlage von ausdifferenzierten Gesellschaften angemessen erscheint. In diesem Sinne muss auch das Konzept des Gewissens reformuliert werden – denn es ist im Zuge der historischen Entstehung der (Spät-)Moderne auszugehen von einer KoEvolution von sozialer Ausdifferenzierung und der Herausbildung „neue(r) Formen der Mikrodiversität auf der Ebene der Individuen“.50 Mit dem (schwerpunktmäßigen) Wechsel von stratifikatorischen zu funktionalen Differenzierungsformen einher geht ein Verlust an externer Bestimmtheit des Sozialen: die sich selbst organisierenden Funktionssysteme benötigen für ihren Ressourcenaufbau eine – sich aus der Differenz des Individuums zu anderen Individuen herleitende – Mikrodiversität: „Über Individuen wird eine andere Art von Unruhe ins System gebracht als durch die eigene Dynamik der Selbstorganisation – etwa Wahldemokratie oder Marktwirtschaft. Der moderne Verfassungsstaat gilt zeitgenössischen Beobachtern als fixierte Unruhe“.51 Auch die zentrale normative Selbstregulationsinstanz des Individuums kann nicht mehr im herkömmlichen Sinne als „innere Stimme“ (das heißt als vollkommen autonome Wertungsäußerung eines Individuums bzw. als bloße Internalisierung sozialer Normen) adäquat beschrieben werden – solche reduktionistischen Normkonstruktionen verfehlen die eigentümliche Dynamik der Normbildungsprozesse in der Gegenwart und fallen hinter den strukturellen Reichtum der normativen Gegenwartsverfasstheit zurück. Summary Political ethics of democracy is essentially an ethic of compromise. Conscience is not the executive authority but rather a final, individual and verifiable means of control unrelated to practical decision-making. Polycontextual descriptions of conscience are embedded in post-humanist theories of society (such as systems theory, theories of postmodernism and post-structuralism). The central normative self-regulatory body of the individual cannot be adequately described in the traditional sense as an “inner voice” (that is, as an entirely autonomous rating utterance of an individual or as a mere internalisation of social norms) theoretical conception. Such reductionist standard designs miss the peculiar dynamics of norm-making processes in the present, and fall short of the structural richness of the normative constitution of presence.The outlines of a ‘political enlightenment’ might serve as new frame in which conscience, morality and ethics can be analysed by the methods of political science. Is it possible to concep50 Niklas Luhmann, Selbstorganisation und Mikrodiversität: Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus, in: Soziale Systeme, 1997, Jg. 3, H. 1, S. 23 – 32, hier S. 23. 51 Ebd., S. 31.
Funktionen und Funktionalisierungen des Gewissens in politisch-ethischen Kontexten 81
tualize ethics that take into account that even private lives are always affected by political conditions and at the same time avoid to postulate substantialist assertions as well as to make contributions to relativist discourses? As a starting point for such an intellectual transition form ethics policy to political ethics, it is proposed here to take up the figure of conscience. Only that term is capable to capture the explosiveness that is characteristic of many bioethical discourses or debates on “life issues”, as they are termed in this paper.
Politische Ethik, Menschenwürde und Menschenrechte – Political Ethics, Human Dignity, and Human Rights
Rituale und Menschenwürde Angelika Dörfler-Dierken
Anfang des Jahres 2011 wurde bekannt, in den einschlägigen Medien skandalisiert und in der Öffentlichkeit breit diskutiert, dass in der Bundeswehr Rituale praktiziert werden, welche Scham- und Ekelgrenzen der Beteiligten verletzen. Dieser Aufsatz erläutert vor dem Hintergrund von Konzepten der neueren Ritualforschung zwei Thesen: – Wer Rituale rechtfertigt, muss unterscheiden zwischen solchen, die förderlich auf Menschen wirken und anderen, die Menschen erniedrigen. Mit Hinweis auf Ritualpraktiken anderer Organisationen oder einschlägiger Fernsehunterhaltungen dürfen Scham- und Ekelrituale nicht bagatellisiert oder gerechtfertigt werden. Und: – Eine auf die Menschenwürde gegründete und zu deren Verteidigung eingesetzte Armee muss peinlich genau darauf achten, dass Soldatinnen und Soldaten auch bei nichtöffentlichen und außer Dienst praktizierten Ritualen die Scham- und Ekelgrenzen der beteiligten ‚Staatsbürger in Uniform‘ ebenso wenig verletzen wie diejenigen unbeteiligter Bürger. Zur Erläuterung dieser beiden Thesen werden einleitend problematische Rituale knapp vorgestellt. Dann werden Wesensmerkmale und Begriffe von Ritualen genauer bestimmt, ein kurzer Einblick in die Geschichte der Erforschung von Ritualen gegeben, religiöse von säkularen Ritualen unterschieden und abschließend Überlegungen zur Verletzung der Menschenwürde durch Scham- und Ekelrituale vorgetragen. I. Rituale in der Bundeswehr Im Unterschied zu aus dem christlichen Raum bekannten kirchlich-religiösen Ritualen (Taufe, Abendmahl, Beerdigung, Sonntagsgottesdienst etc.), den in der Bundeswehr von Soldatenseelsorgern durchgeführten Ritualen (Andacht vor Eid und Gelöbnis, Gottesdienste etc.) oder solchen, die von militärischen Vorgesetzten geleitet werden (Eid und Gelöbnis, 20. Juli, Kranzniederlegungen, Zapfenstreich etc.) wirken manche der von Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten durchgeführten Rituale nicht positiv und stärkend auf die an ihnen Teilnehmenden, sondern beschämend und sie können sogar die Menschenwürde der Beteiligten verletzen. Man nennt solche Handlungen Scham- oder Ekelrituale. Anfang des Jahres 2011 gingen
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Meldungen durch die Presse, die eine abschreckende Fülle von solchen Ritualen bei der Bundeswehr bezeugten. Unter der Überschrift „die Ekel-Rituale bei der Bundeswehr!“1 wurden Bekenntnisse von Soldaten mit vielen schmutzigen Details veröffentlicht. Das veranlasste den damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg dazu, den Generalinspekteur mit einer Überprüfung aller Teilstreitkräfte hinsichtlich der jeweils üblichen Rituale zu beauftragen. Auch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr wurde mit entsprechenden Untersuchungen beauftragt.2 Die populistische Tageszeitung BILD hat „die schlimmsten Rituale der Truppe“ aufgelistet und jeweils mit eigenen Namen versehen. Demnach wird unterschieden zwischen beispielsweise folgenden Handlungen: „ • FUXTEST: Rekruten müssen bis zum Erbrechen Rollmöpse, Frischhefe und rohe Schweineleber essen, dazu Alkohol trinken. • JUKEBOX: Ein Soldat wird im Spind eingeschlossen und umhergestoßen, muss dabei Lieder singen. • ANPIMMELN: Soldaten schlagen einem Kameraden mit ihren nackten Penissen ins Gesicht. • ROTARSCH: Eine elektrische Bohnermaschine wird einem Rekruten so lange an den nackten Hintern gehalten, bis er rot gescheuert ist. • ÄQUATORTAUFE: Soldaten müssen einem Kameraden Fischgedärme, faule Eier, Wagenschmiere u. a. von den Zehen ablecken.“3 Auch die Wochenzeitung Der Spiegel berichtete, dass „fragwürdige Rituale“ und „menschenverachtende Bräuche (…) bei der Truppe keine Seltenheit“ seien.4 Der ministerielle Auftrag, der ausdrücklich auf alle Teilstreitkräfte zielte, musste den Eindruck erwecken, dass solche und ähnliche Praktiken in der Bundeswehr weit verbreitet sind. Tatsächlich wurde schon früher und wird immer wieder in den Berichten des Wehrbeauftragten5 über entsprechende Rituale Klage geführt, ohne dass bisher derart breit angelegte Gegenmaßnahmen ergriffen worden wären. Aller1 http:// www.bild.de/politik/2011/bundeswehr/drill-exzesse-sauf-spiele-sex-attacken-15664 154.bild.html (letzter Zugriff: 26. April 2011). 2 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen liegen dem Führungsstab der Streitkräfte vor. Sie sind bisher nicht veröffentlicht worden und also auch der wissenschaftlichen Diskussion nicht zugänglich. 3 http://www.bild.de/politik/2011/bundeswehr/drill-exzesse-sauf-spiele-sex-attacken-15664 154.bild.html (letzter Zugriff: 26. April 2011). 4 http://nachrichten.t-online.de/rituale-in-der-bundeswehr-spindsaufen-schweineleber-strom schlaege/id_44155596/index (letzter Zugriff: 26. April 2011). 5 Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2009 (veröffentlicht 2010) abzurufen unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/044/1704400.pdf (letzter Zugriff: 26. April 2011), für das Jahr 2010 (veröffentlicht 2011) abzurufen unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/ 044/1704400.pdf (letzter Zugriff: 26. April 2011).
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dings wurden schon in vergangenen Jahren entsprechende Vorfälle, wenn sie justiziabel waren, als Verstöße gegen die Innere Führung oder die Menschenwürde innerhalb der Bundeswehr verfolgt und gegebenenfalls vor Gericht verhandelt. Im Falle einer Verurteilung konnten bzw. können die Verantwortlichen aus der Bundeswehr entlassen werden. Nur die Scham- und Ekelrituale interessieren den Wehrbeauftragten, die Politik und die Öffentlichkeit. Bei der Definition solcher Rituale kommt es nicht darauf an, dass die Beteiligten deren Durchführung aus freiem Willen zustimmen. Es kommt nicht darauf an, dass sie angeben, ihnen persönlich habe das nichts ausgemacht, sich entsprechenden Handlungen zu unterwerfen. Es kommt auch nicht darauf an, ob in anderen gesellschaftlichen Bereichen ähnliche Rituale praktiziert worden sind. Es geht allein um die Frage, ob solche Rituale die Menschenwürde verletzen. Mehr als andere Rituale haben Scham- und Ekelrituale einen sozial disziplinierenden und normierenden Charakter. Jeweils soll das Ritual aus einer Gruppe von Individuen eine Gemeinschaft von Kameraden mit hoher Kohäsion machen. Vereint ist diese Kameradschaft durch miteinander geteilte Pein oder auch durch die Empfindung von Schuld, durch die Erfahrung der Selbstüberwindung oder des überwunden Werdens. Häufig zeichnet gerade Scham- und Ekelrituale ein rebellierendes Moment aus: Neben die offiziellen Rituale, die durch eine Hierarchie zwischen dem Vorgesetzten und dem Initianden bzw. Untergebenen gekennzeichnet sind, soll ein Ritual ‚von unten‘ treten, denn ‚einer von uns‘ ist der Neue erst dann, wenn man eine besondere Erfahrung mit ihm teilt. Die peer group der Soldatinnen und Soldaten einer bestimmten Dienstgradgruppe kann auf diese Weise gegebenenfalls gegen die ‚dominante‘ Leitkultur, wie sie in der ZDv 10 / 1 Innere Führung (2008)6 und im Traditionserlass (1982)7 niedergelegt sind, rebellieren. Diese Rituale werden durch informelle Führer in der militärischen Subkultur angeleitet. Wer sie anzeigt, zeigt fast immer zugleich sich selbst als Mitbeteiligten oder als einen an, der wider besseres Wissen und Empfinden nicht eingeschritten ist. Deshalb wird ein jeder Teilnehmende an einem solchen Ritual dessen ‚Normalität‘ beschwören. 6 Bundesministerium der Verteidigung, Führungsstab der Streitkräfte I 4: Zentrale Dienstvorschrift 10 / 1 Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr. Norden: SKN Druck 2008. Auch im Internet abrufbar unter http://www.innerefuehrung.bundes wehr.de/portal/a/zinfue oder unter http://www.geopowers.com/Machte/Deutschland/doc_ger/ ZdV_Innere_F_hrung_2008.pdf (letzter Zugriff: 26. April 2011). 7 Veröffentlicht im Anhang zu Bundesministerium der Verteidigung 2008: S. 54 – 61. Hier heißt es: „Nicht jede Einzelheit militärischen Brauchtums, das sich aus früheren Zeiten herleitet, muss demokratisch legitimiert sein. Militärisches Brauchtum darf aber den vom Grundgesetz vorgegebenen Werten und Normen nicht entgegenstehen.“ Ebd. (1982): Nr. 10, S. 56. An diesen Satz sei erinnert, um das Argument, ‚früher‘ habe es doch auch entsprechende Rituale in den Streitkräften gegeben und die gegenwärtigen seien deshalb als normales militärisches Brauchtum einzuschätzen, zu entkräften.
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Vergleichbar mit den aus dem Raum der Bundeswehr heraus bekannt gewordenen spezifischen Ritualen, die darauf zielen, dass die Probanden bzw. Initianden ihre eigenen Scham- und Ekelgrenzen überwinden, sind die Rituale in manchen Firmen und etwa auch bei Polizei und Feuerwehr. Der Hinweis auf die Verbreitung solcher Rituale hat für die Bundeswehr keinerlei entlastende Bedeutung, denn die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind als Träger des staatlichen Gewaltmonopols nach außen in besonderer Weise an die Verantwortung für Menschenwürde gebunden. Dass die Mitglieder der militärischen Organisation achtungsvoll mit der Menschenwürde ihrer Kameraden umgehen, ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sie achtungsvoll mit fremden Kameraden und Zivilisten, mit Deutschen und mit Einheimischen in den Einsatzgebieten umgehen. Nur wer Achtung vor sich selbst haben kann, wird auch Achtung vor anderen haben. Deshalb tragen insbesondere die Vorgesetzten in der Bundeswehr eine hohe Verantwortung für ihre Untergebenen bzw. Unterstellten. Sie haben alles zu unterlassen, was diese in ihrer Menschenwürde kränken oder verletzen könnte, und sie haben zu einer Dienst- und Freizeitgestaltung anzuleiten bzw. anzuregen, die jene nicht dazu verleitet, sich ihrerseits gegen einander menschenverachtend zu verhalten. Sensibilität gegenüber allzu starkem Alkoholkonsum, gegenüber Situationen der Enthemmung und Entgrenzung, gegenüber Spielen und Spielchen mit sexistischen Tendenzen ist vonnöten.
II. Wesensmerkmale von Ritualen Rituale lassen sich von nichtritualisierten Handlungen dadurch unterscheiden, dass sie in Verbindung stehen mit einer räumlichen oder zeitlichen Veränderung, einem lebenszyklischen oder biologisch-körperlichen Wechsel oder einem sonstigen Wandel. Normalerweise kommt es nach Vollzug des Rituals zu einer deutlich wahrnehmbaren Veränderung in Zustand, Status, Kompetenz oder Ort der Beteiligten. Erkennbar sind Rituale auch daran, dass die „Ritualarena“ festlich geschmückt wird, dass die Körper der Beteiligten in irgendeiner Weise besonders präpariert werden, und dass ein sprachlich formulierter Beschluss zur vorsätzlichen und bewussten Durchführung des Rituals gefasst wird. Die bevorstehende Veränderung muss ins Bewusstsein treten. „Rituelle Handlungen erfüllen drei formale Kriterien, die in ihrer unterschiedlichen Gewichtung den Ritualtyp ausmachen: Förmlichkeit, Öffentlichkeit und Unwiderruflichkeit. Rituelle Handlungen sind also nicht spontan, privat, widerrufbar, singulär und beliebig [sondern…, ADD] förmlich, stereotyp, rigide und repetitiv [d. h. prinzipiell nachahmbar, ADD]“.8 „Rituale folgen einem Skript oder Kodifizierungen bzw. Codes des kommunikativen und interaktiven Handelns“,9 zeigen aber gleichzeitig eine gewisse Performanz, die sie vor Stereo8 Axel Michaels: Ritual. In: Christoph Auffarth, Hans G. Kippenberg, Axel Michaels (Hrsg.): Wörterbuch der Religionen. Stuttgart: Kröner 2006, Sp. 450b – 453a, hier Sp. 451b. 9 Michaels 2006: Sp. 451b.
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typie bewahrt. Rituale wirken ihrer Idee nach unabhängig davon, ob die Beteiligten daran ‚glauben‘,10 insbesondere unabhängig davon, ob die Person, die das Ritual durchführt, daran glaubt. Um Rituale rückgängig zu machen, würde es theoretisch eines neuen Rituals bedürfen.11
III. Zur Begrifflichkeit Der Ritualbegriff ist in den Sozialwissenschaften und der Religionswissenschaft äußerlich konzipiert.12 Es kommt nicht auf den Inhalt an, der mit der Durchführung des Rituals transportiert wird, sondern lediglich auf den Akt der Durchführung selbst. Eine Kamera würde das Rituelle des Verhaltens einer Gruppe von Menschen aufzeichnen können. Der Begriff ‚Ritual‘ in diesem – modernen – Verständnis ist erst im 18. Jahrhundert, also in der Aufklärungszeit, entstanden.13 Gemeint war damit ein von außen kommender Blick auf eine Handlung, die ein von den Versammelten unterschiedener Würdenträger (möglicherweise ausgesondert durch das Ritual der Weihe) in einer Gruppe vollzieht. Dann wanderte der Ritualbegriff in die Ethnologie aus. Seit etwa 1975 wird der Begriff für alle möglichen Alltagshandlungen verwendet. Um diese Rituale von den religiösen zu unterscheiden, wird dafür manchmal die Wendung „säkulare Rituale“ gebraucht.14 Die neueste Forschung betont, dass Ritualen ein über den Alltag hinaus weisender Kern und Sinn zugeschrieben wird, dass es zu irgendeinem Gefühl der Selbst10 Glauben ist hier zu verstehen im Sinne eines allgemeinen ‚für wahr Haltens‘, ‚einer Erwartung von etwas‘. Gemeint ist nicht der speziell christlich-religiöse Sinn von ‚glauben‘. Allerdings ‚wirkt‘ sowohl im katholischen Kontext wie auch im allgemein rituellen Zusammenhang das Ritual (z. B. Taufe, Abendmahl, s. u.) ‚ex opere operato‘, d. h. der Vollzug wirkt unabhängig von der Einsicht oder Zustimmung der Beteiligten zum Ritual. 11 Michaels 2006: Sp. 452a. 12 Vgl. Carsten Colpe: Ritus 1. Religionsgeschichtlich. In: EKL, 3. Aufl., Bd. 3, 1992, Sp. 1660 f. Manfred Hutter: Ritus / Ritual I. Religionswissenschaftlich 1. Zum Begriff. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 5, 2004, Sp. 547 f. betont, dass komplexe Handlungssequenzen zum ‚cultus‘ gehören, wenn Kult „als Überbegriff für das gesamte rituelle Leben einer konkreten Religion verstanden wird, d. h. innerhalb einer Religion findet man sowohl einzelne Riten als auch komplexere Rituale nebeneinander.“ Vgl. die Verwendung des Stichwortes „Ritus“ in zwei Auflagen desselben Lexikons mit mehr als 40 Jahren Abstand bei W. E. Mühlmann: Ritus. In: RGG, 3. Aufl., 1961, Bd. 5, Sp. 1127 f. und Michael Strausberg: Ritus / Ritual I. Religionswissenschaftlich 2. Ritualtheorien. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 7, 2004, Sp. 548 f. Andere (neuere) Autoren unterscheiden zwischen der einzelnen Handlung, die sie „Ritus“ nennen und dem Handlungszusammenhang bzw. der Handlungssequenz, den sie als „Ritual“ bezeichnen. Michaels 2006: 450b, hält diese Unterscheidung nicht für sinnvoll. 13 Michaels 2006: Sp. 450b. Strausberg 2004: Sp. 548b, sieht den Ritualdiskurs mit W. R. Smith 1889 entstehen. 14 Strausberg 2004: Sp. 548. Säkulare Rituale werden aufgewiesen in sprachlicher Kommunikation, in der Literatur und in allen Feldern sozialer Interaktion.
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überschreitung kommt. „Rituale im engeren Sinne sind im Unterschied zu Ritualisierungen oder neurotischen Zwangshandlungen alltagstranszendierend, deswegen aber nicht nur religiös.“15 Schon nach dem französischen Soziologen Émile Durkheim (1858 – 1917), der zur Bedeutung der Religion für die soziale Integration forschte, und dem polnischen Anthropologen Bronislaw Malinowski (1884 – 1942) gibt es kein Ritual ohne Glauben, zumindest ohne solemnis intentio, also ohne feierliche Absicht bzw. förmliche Absprache, die aus einer Alltagshandlung eine rituelle Handlung macht.16 Durkheim stellte die These auf, dass die Erde sich im Himmel spiegele, dass also die religiösen Rituale einer Gesellschaft die Menschen für die Gesellschaft erziehen und sie in die Gesellschaft einbinden.17 Wie man den Begriff Ritual etymologisch herleitet, ist nicht ganz deutlich. Schon in indogermanischer Zeit kannte man die Wurzel *ar für fügen, in Griechenland ARITHMOS für Zahl und im Altindischen riá für angemessen, recht, heiliger Brauch. Die Lateiner sprachen von ‚ritus‘, wenn sie „die hergebrachte Weise in der Religionsübung“ bezeichnen wollten. Sie kannten aber auch eine juristisch-zivilrechtlich vorgeschriebene Form des ‚ritus‘, beispielsweise bei der Eheschließung. Die Adverbien ‚rite‘ (nach rechtem und gehörigem Religionsgebrauch, entsprechend den vorgeschriebenen Zeremonien, aber auch: auf herkömmliche und gewöhnliche Weise) und ‚ritualis‘ (den religiösen Brauch, die Zeremonien betreffend) machen deutlich, dass es jeweils um Handlungsweisen geht, die in Verbindung stehen mit ‚cultus‘ und ‚ius‘, also mit religiösen und juristisch-öffentlichen Vollzügen.18 Daneben taucht in der Literatur der Begriff „Ritualisierung“ auf. Er wird beispielsweise von Paul Tillich (1886 – 1965)19 verwendet für die angeblich spezifisch katholische Form der „Profanisierung des Heiligen“, also als antikatholischer Kampfbegriff.20 Tillich bezeichnete damit eine Teilnahme am Gottesdienst ohne innere Überzeugung.21 Entsprechend kann der Begriff den äußerlichen Vollzug eines rituellen Aktes bezeichnen. Aus der Perspektive der Psychologie und der Ethnologie bezeichnet „Ritualisierung“ die psychische und soziale Bedeutung von Ritualen, Michaels 2006: Sp. 450b. Michaels 2006: Sp. 452a. 17 Vgl. die einschlägige Literatur zu Durkheim. Vgl. a. Volker Drehsen: Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft. In: W. Dahm, V. Drehsen, G. Kehrer: Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im sozialwissenschaftlichen Prozess. München: Claudius 1975, 57 – 88. 18 Karl Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. 8. Aufl. Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1913. Nachdruck: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, ius und cultus. 19 Erdmann Sturm: Tillich. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 8, 2005, Sp. 410 – 412. Tillich gilt als derjenige evangelische Theologe, der höchst produktiv die Anregungen aus Soziologie, Psychologie und Ethnologie aufgenommen hat und insbesondere das Symbol und den Mythos rehabilitiert hat. 20 Paul Tillich: Systematische Theologie. Bd. 3: Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes. 4. Aufl., Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1984, S. 429 – 433. 21 Martin Weeber: Ritualismus. I. Ethisch. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 7, 2004, Sp. 543 f. 15 16
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die den Menschen der unbegrenzten Möglichkeiten zur Realisierung seiner Freiheit einerseits berauben, ihm andererseits aber Struktur und Sicherheit geben.22 Ritualforschung ist inzwischen als kulturwissenschaftliches Konzept etabliert.23 Betont wird immer wieder, dass säkulare Rituale „kein kognitives, sondern [ein] von Machtbeziehungen durchtränktes praktisches (Handlungs-)Wissen bereitstellen.“24 Rituale in der Bundeswehr ‚funktionieren‘ grundsätzlich genauso wie Rituale in anderen soziokulturellen Zusammenhängen. Gerade die für Machtbeziehungen sensibilisierte Forschung wird das Konzept der Rituale und die Ergebnisse der Ritualforschung dankbar aufgreifen.
IV. Wissenschaftliche Erforschung menschlicher25 Rituale Die Forschung zu Ritualen ist gegenwärtig sehr breit und in unterschiedlichen Wissenschaftskulturen angesiedelt. Inzwischen wird sogar ein einfacher Kinobesuch, die Teilnahme an einem Event wie der Loveparade oder auch der Besuch eines Fußballspiels als ein „modernes Ritual“ gezeichnet,26 das so beschrieben werden kann, dass Parallelen mit dem religiösen, theologisch spezifisch gedeuteten Ritus des Abendmahls in einer der christlichen Konfessionen aufzuweisen sind. Da der Ritus- bzw. Ritualbegriff offenbar aus der Theologie ausgezogen ist in die moderne Welt, verwundert es nicht, dass Theologen ihrerseits versuchen, Verhaltensweisen moderner Menschen als in ihrem letzten Kern religiöse Aktivitäten, „als die sichtbar werdenden Formen einer eher verdeckt bleibenden modernen Religiosität […], die um eine Letztrelevanz von Subjektivität und Expressivität und um Bedürfnisse des Überschreitens eines transzendenzverriegelten Alltags kreist“27 zu deuten. Als Autoren werden genannt Erving Goffman, Mary Douglas und Erik H. Erikson. Strausberg 2004: Sp. 548. Dieses Konzept gilt als spezifisch westeuropäisch, weil nur einige Sprachen die Möglichkeit bieten, terminologisch zwischen den Regeln für den Ritus und der Theorie des Rituals zu unterscheiden. 24 Strausberg 2004: Sp. 548. Geht so weit, die Brauchbarkeit des Konzepts zu bezweifeln, weil es zu unspezifisch ist. 25 Um die Beschäftigung mit Ritualen in der Tierwelt auszuschließen, wurde das Adjektiv ‚menschlich‘ in den Titel des Abschnitts eingeführt. Die Verhaltensforschung beobachtete im Tierreich Kampf-, Rang- und Werberituale, die im Unterschied zu menschlichen Ritualen instinktiv und starr sind. 26 Ruprecht Mattig: Rock und Pop als Religion. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft. Bielefeld: Transcript Verl. 2009. Katrin Fahlenbach: Medienrituale. Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien. Wiesbaden: VS Verl. 2008. Frank Becker: Schwerpunktthema Massenrituale. Sport, Öffentlichkeit und politische Kultur im frühen 20. Jahrhundert. Schorndorf: Hofmann 2007. 27 Martin Maier: Ritus, Ritual V. Praktisch-theologisch. In: LThK, 3. Aufl., Bd. 8, Sp. 1213 f., hier Sp. 1213. 22 23
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Allerdings sind solche Phänomene säkularer Rituale erst spät ‚entdeckt‘ worden. Das weist darauf hin, dass es sich bei der Erforschung von Ritualen um die Erforschung zuvor konstruierter Phänomene handelt. Die Vergleichbarkeit von Ritualen, etwa religiösen und säkularen, d. h. in spezifisch ‚religiösen‘ oder ‚säkularen‘ Kontexten aufweisbaren Handlungssequenzen, ist nicht an sich gegeben, sondern kommt durch die Beobachtung der Wissenschaftler zustande. Sie ist gemacht bzw. konstruiert. Vergleicht man westeuropäisch-christliche Rituale mit solchen aus anderen Erdteilen und Religionskreisen, dann wird deutlich, „dass Rituale Konstrukte der (westlichen) Forschung sind, deren Bestimmung von der Wahrnehmung der Ritual-Teilnehmer (und -experten) sowie den Beobachtern abhängt.“28 Übereinstimmend betont die Forschung, dass es sich bei Riten und Ritualen jeweils um normierte und standardisierte Verhaltensweisen handelt, die immer wieder repetiert werden. Sie werden mit Bedeutung versehen, indem ihnen von den beteiligten Menschen und gegebenenfalls auch von Außenstehenden ein Sinn zugeschrieben wird, der häufig in Form eines Mythos expliziert wird. Alle Rituale sind mit Handlungen verbunden. Als übliche Formen körperlichen Ausagierens im Ritus sind auch Sprechen und Singen aufzufassen.29 Häufig nehmen am Ritual schon Eingeweihte und Neulinge (die durch den Vollzug des Rituals in eine Gemeinschaft mit den schon Dazugehörigen eingeführt werden) gemeinsam teil. Häufig gibt die Rolle und Funktion einer Person, die das Ritual leitet. Die Rollen der Teilnehmer sind also standardisiert.30 Zahlreiche Möglichkeiten des Anlasses und der Deutung von je unterschiedlichen Ritualen sind bekannt: Heilung, Solidarisierung, Feier, Geburt, Tod, Pubertät, Ehe, Hausbau, Stadtgründung, Kriegführung, Krönung, Friedensschluss, Krankheit, Lebenssicherung, Verehrung einer Gottheit, Versöhnung, Opfer, Initiation. Häufig haben Rituale eine apotropäische, d. h. Schaden abwehrende Funktion. Kategorisiert werden können diese Rituale in verschiedener Weise: Einfach zu unterscheiden sind beispielsweise „Übergangsriten“ von „kalendarischen Riten“ und „Krisenriten“. Klassische Übergangsriten im Lebenslauf (Übergang von der Kindheit in den Erwachsenenstatus etwa) werden nach Arnold van Gennep (1873 – 1957) als Passageriten (rites de passage, gleichnamige Veröffentlichung aus dem Jahr 1909) bezeichnet.31 Solche Riten findet man in allen Kulturen. Nach van Gennep werden mit diesem Begriff die Stufen zwischen verschiedenen Lebenszyklen oder Seinszusammenhängen bezeichnet. Er unterscheidet Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel. Demnach sind auch Rituale anlässlich von Prüfungen, Neu- oder Vollmond, Ernte oder Hausweihe möglich. Van Gennep nennt Michaels 2006: Sp. 450b. Sundermeier bringt das auf die Formel: „Die Leib-Seele-Einheit wird [im Ritus] erfahrbar.“ Theo Sundermeier: Ritus I. Religionswissenschaftlich. In: TRE, Bd. 29, 1998, S. 259 – 265, hier S. 260. 30 Sundermeier 1998: S. 262. 31 Axel Michaels: Rites de passage. In: Auffarth et al. (Hrsg.) 2006: Sp. 450 f. 28 29
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sie „rites de séparation“ (Trennungsriten), „rites de marge“ (Zwischenphasen- oder Schwellenriten) und „rites de agrégation“ (Angliederungs- oder Integrationsriten). Seiner Meinung nach spielt sich das Entscheidende des Ritus jeweils in der Schwellenphase, in der Zwischen- oder Übergangszeit (also zwischen dem Entschluss zur Durchführung des Ritus und dessen tatsächlicher Durchführung) ab. In dieser „Inkubationsphase“ stimmt die alte Ordnung nicht mehr und die neue ist noch nicht angebrochen. Der britische Ethnologe Victor Witter Turner32 (1920 – 1983) hat die Bedeutung der Schwellenphase im Anschluss an van Gennep hervorgehoben und dafür den Begriff „Liminalität“ (von lat. limen, d. h. Grenze) geprägt. In dem Zwischenzustand zwischen den alten Regeln und Strukturen und den neuen, die noch nicht gelten, werden soziale Normen außer Kraft gesetzt oder auf den Kopf gestellt. Diese Phase ist nach Turner nicht nur „hoch ambivalent und paradox“, sondern auch „spielerisch frei, bisweilen anzüglich, kreativ und dramatisch.“33 Clowns, Narren, Heilige und Künstler bewegen sich nach Turner fast immer in diesem liminalen Zwischenzustand. Turners Feldforschungen in Afrika und an den bedeutendsten Pilgerstätten der Welt heben die soziale Dimension des Ritus als Aus- oder Eingliederungsprozess von Mitgliedern einer Gesellschaft hervor. Andere Möglichkeiten der Kategorisierung von Riten bestehen in der Unterscheidung der die Durchführung des Ritus leitenden Akteure (Schamane, Priester, König, Häuptling) oder in der Unterscheidung der sprachlichen Äußerungen bei der Durchführung (etwa Gebet, Fluch, Beschwörung, Mythos). Auch von verwendeten Gegenständen oder Lebewesen (etwa Opferlamm, Werkzeuge, Bilder) oder vom Zweck her (etwa Gesundbeten) oder vom Ort (etwa Haus, Tempel / Kirche, Natur) her sind Riten unterscheidbar.34 Ritual-Theorien35 gibt es in folgenden Wissenschaftskulturen: – Biogenetische Theorien sehen alle Rituale aus tierischen Verhaltensmustern entstehen. – Funktionalistische Theorien argumentieren psychologisch (Malinowski, Freud) oder sozialwissenschaftlich (Durkheim, Radcliffe-Brown). Während Psychologen die angstmindernde oder therapeutische Wirkung des Rituals betonen,36 unterMartin A. Baumann: Turner. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 8, 2005, Sp. 673 f. Michaels 2006: Sp. 450. 34 Ansgar Paus: Ritus, Ritual. I. Begriff. In: LThK, 3. Aufl., Bd. 8, Sp. 1210 – 1212, hier Sp. 1211. 35 Überblick nach Michaels 2006: Sp. 452b. 36 Auch Mühlmann 1961: Sp. 1127, wies schon auf die angstmindernde Wirkung des Ritus hin: „Der Ritus beruht auf dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit. Bereits das Kind legt Wert auf die Einhaltung bestimmter Reihenfolgen, von denen nicht abgewichen werden darf. So wird die genaue Wiederholung der Aktabläufe zum Muster des Verhaltens und somit habitualisiert.“ Mühlmann überträgt die individuelle psychische Entwicklung des Kindes auf die von Kulturen. 32 33
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streichen Soziologen die solidarisierenden, kontrollierenden, hierarchischen, stabilisierenden oder rebellischen Anteile des Rituals. – Theologische Theorien (Rudolf Otto, M. Eliade) unterstreichen den Transzendenzbezug des Rituals. – Formalistische Theorien untersuchen vor allem Sprache und Symbole, weichen der Frage nach dem Sinn aber aus. – Theoretiker der Bedeutungslosigkeit der Rituale behaupten, Rituale seien sinnund funktionslos, ohne doch erklären zu können, warum die Menschen in allen Kulturen Rituale durchführen. Die Leistung von Ritualen wird erklärt durch ihre Verwendung: Rituale strukturieren
Verhalten, Vorstellungswelt und Affekte der beteiligten Menschen,
stabilisieren
Institutionen und Formen des Zusammenlebens. So
schaffen
sie soziale Ordnungen. Sie
beeinflussen
Gottheiten oder transhumane Kräfte und
regulieren
biographische Übergänge oder Transformationen. Einerseits
schränken
Rituale das einzelne Handlungssubjekt ein und
disziplinieren
es, andererseits
entlasten
sie das Individuum von beständigem Entscheidungsdruck und Dauerreflexion.
Kennzeichnend für ein Ritual ist insbesondere, dass es eine Schwelle markiert, die zwischen zwei unterschiedlichen Zeiten oder Orten besteht. Das Ritual dient dazu, von a nach b beziehungsweise von einem früheren in einen späteren Zustand zu gelangen. Zwischen den beiden Orten oder Zeiten befindet sich häufig eine Phase des Übergangs, in der die zukünftigen Teilnehmer am Ritual sich auf dieses vorbereiten. Mit dem Ritual verbunden ist also immer die Idee des Übertrittes über eine Schwelle. Häufig wird dieser Übertritt verbunden mit dem Ablegen von bestimmten Gewohnheiten, alten Kleidungsstücken, der Aufgabe alter Moralregeln und der Annahme neuer Gewohnheiten, Kleider oder Moralregeln. Durch den Vollzug des Ritus wird das Verhältnis zur Gesellschaft oder zur eigenen Gruppe bzw. zur Gruppe derjenigen, die das Ritual schon hinter sich gebracht haben neu geregelt. Häufig wird die Bedeutung eines Rituals mythisch (d. h. in Form einer Ursprungsgeschichte) expliziert.
V. Religiöse Rituale Christliche Theologinnen und Theologen sind häufig der Überzeugung, dass es sich bei den eigenen Gottesdiensten oder anderen liturgisch gestalteten Veranstal-
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tungen nicht um Riten oder Rituale handelt.37 Allerdings ist die Argumentation der Protestanten und der Katholiken je spezifisch unterschiedlich. Während die Katholiken die Verwendung des lateinischen ‚ritus‘ für die schriftliche Ordnung der Gottesdienstfeier akzeptieren, allerdings den Unterschied zum Vollzug des Gottesdienstes betonen, unterstreichen die Protestanten den Geschehenscharakter des Gottesdienstes und erklären dessen Durchführung für äußerlich. Die Protestanten können die Begrifflichkeit Ritus bzw. Ritual allenfalls dann verwenden, wenn sie das Erleben des Gottesdienstes aus der psychischen Perspektive des Gläubigen beschreiben wollen. „Als Ritual betrachtet ist der Gottesdienst eine von einem kollektiven Subjekt vollzogene, verbale und nonverbale Zeichen kombinierende, regelmäßig wiederkehrende Handlung mit relativ festgelegter Abfolge von Handlungselementen, die als Träger teils bewußter, teils unbewußter Kommunikation und Gemeinschaftserfahrung fungieren. Der Gottesdienst evoziert bestimmte mit rituellen Abläufen als solchen verbundene Erlebnisweisen und Gefühlszustände und überformt diese zugleich im Sinne des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, wie es sich z. B. am aaronitischen Segen zeigen läßt. Die Pointe des gottesdienstlichen R[ituals] besteht darin, daß er in seiner Mitte in Gestalt der Predigt ein geradezu antirituelles Element zum Zuge bringt und somit ein ausbalanciertes Verhältnis von psychischer Regression und Progression ermöglicht.“38 Sinn dieser ritualkritischen Bemerkungen ist aus protestantischer Perspektive, den Glauben als einzigartiges Gottesgeschenk zu würdigen, der nicht durch Rituale herbei gezwungen werden kann, sich allerdings im Vollzug von Ritualen ausdrücken kann. Dabei werden Riten oder Rituale grundsätzlich als Adiaphora angesehen, die von Menschen gemacht und deshalb nicht konstitutiv für den Glauben sind.39 Nur ganz wenige Bestandteile beim Vollzug von Taufe und Abendmahl sind evangelischem Verständnis nach nicht als Adiaphora zu betrachten: die dreigliedrige Taufformel und die Einsetzungsworte. Aus katholischer Perspektive wird Ritus für die agendarisch geregelte Form der Gottesdienstdurchführung verwendet und so wird auch der formvollendeten Durchführung des Ritus weit größere Bedeutung zugemessen als in der evangelischen Kirche. Abendmahl und Taufe sind die aus dem Christentum bekanntesten Rituale – wenn man diesen Begriff für die Beschreibung gottesdienstlicher Vollzüge aus der Außenperspektive benutzen will. Der Ritus der Taufe macht aus einem natürlichsterblichen Menschen ein Glied am Leib Christi, ein Kind Gottes, das ausgezeichnet ist durch seine Teilhabe am ewigen Leben. Es kommt in diesem Zusammenhang 37 Reiner Kaczynski: Ritus / Ritual c Liturgisch α. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 7, 2004, Sp. 555. Reiner Preul: Ritus / Ritual c. Liturgisch β protestantisch. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 7, 2004, Sp. 555 f. 38 Preul 2004a: Sp. 555b. Preul geht es im Sinne der älteren protestantischen Theologie darum, die Einzigartigkeit und Besonderheit des Protestantismus und seines Gottesdienstes herauszuarbeiten, wie es in ihrer Weise auch die Katholiken tun. Anschlussfähig an das neuere wissenschaftliche Ritualverständnis werden seine Äußerungen genau dann, wenn man sich vorstellt, ein nicht-christlich sozialisierter Mensch würde einen christlichen Gottesdienst erleben. 39 Preul: Ritus / Ritual. IV. Ethisch. In:RGG, 4. Aufl., Bd. 7, 2004, Sp. 556 f. (= 2004b).
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nicht auf die differenzierte und theologisch begründete Darstellung kirchlicher Tauflehre an, sondern auf die Einsicht in die Grundidee des Taufvorgangs, die geeignet ist, die obige abstrakte Darstellung des Charakters von Ritualen und ihrer Leistungsfähigkeit zu illustrieren. Der Täufling, zur Zeit der Alten Kirche (und auch heute immer häufiger wieder) meist ein Erwachsener, lässt sich unterweisen in der Katechese durch den Katecheten im Christentum. Er bereitet sich durch Wachen, Beten und Fasten auf seine Taufe vor. Sein Ziel ist die Teilnahme am ganzen Gottesdienst und die Mitgliedschaft in der Gemeinde. Drei Mal muss er vom Priester mit Wasser besprengt oder in einem Taufbecken untergetaucht werden. Das geschieht jeweils im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Im Anschluss an die Taufe darf er zum ersten Mal den Leib und das Blut Christi „schmecken“. Das Abendmahl bestätigt den Getauften in seiner Gotteskindschaft durch Teilhabe an „Leib und Blut Gottes“, stärkt ihn in der Gemeinschaft mit den anderen Kindern Gottes, seinen „Brüdern“ und „Schwestern“ und stärkt ihn für die Aufgaben, die auf ihn warten. FARMAKON ATHANASIAS, Medizin der Unsterblichkeit, nannten die Christen zur Zeit der Alten Kirche das Abendmahl. Entscheidend ist dabei, dass der Priester die Einsetzungsworte spricht, die dem gemeinsamen Essen und Trinken den Charakter einer heiligen Handlung geben. Die Heiligkeit dieses Rituals besteht unabhängig davon, ob man die Hostie und den Wein bzw. den Saft im realistischen Sinne für Leib und Blut Christi hält (so dass eine Maus, die ein „geweihtes“ / „gewandeltes“ Stückchen Brot verspeist hätte, tatsächlich Christus gefressen hätte). Im Lauf der Geschichte haben sich viele Kontroversen um die rechte Deutung des „Sakraments“ ereignet, die nachzuzeichnen hier nicht der Ort ist. Entscheidend ist für die Vergleichbarkeit der beiden christlichen Rituale mit gegenwärtig üblichen, dass zwei Grundformen von Ritualen beschrieben wurden: ein Initiationsritual und eines, das der Aktualisierung der Gemeinschaft mit dem Heiligen sowie innerhalb der Gruppe seiner Verehrer dient. Es handelt sich bei der Taufe nicht um einen Waschritus (etwa wie man sich im Buddhismus vor dem Eintritt in den Tempel die Hände ab- und den Mund ausspült), sondern um eine Transformation des Gläubigen von einem sterblich-toten Zustand in einen unsterblich-lebendigen. Täuflinge als Initianden zu bezeichnen und die Taufe als Initiation (lat. initium = Eintritt, Beginn, initiare = einführen, einweihen) ist insofern gut möglich, denn Initiation ist die „ethnologische Bezeichnung für rituelle Markierungen von Statusübergängen, Lebensabschnitten und den Eintritt in soziale oder kultisch-religiöse Einheiten.“40 Deutlich dürfte damit auch sein, dass es sich um eine „kulturelle Konstruktion“ handelt, dass die Deutung der versammelten Kultgemeinschaft das Ritual zu dem macht, als was es empfunden wird: Beginn eines neuen Lebens.
40
Peter J. Bräunlein: Initiation. In: Auffarth et al. (Hrsg.) 2006: Sp. 241ab.
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VI. ‚Gute‘ und ‚schlechte‘ Rituale in Bundeswehr und Gesellschaft Kern der christlich-religiösen Rituale und der Rituale in anderen Weltreligionen ist jeweils, dass Menschen in ihrer Würde gefördert und gefestigt werden. Sie sind nach Vollzug des Ritus ‚vollkommener‘ als sie vorher waren. Sogar ‚Familienrituale‘ wie z. B. Weihnachten sind bei allem Streit, der dabei geschehen mag, angelegt auf Wohlergehen.41 Auch die sogenannten „Lebensabschnittsrituale“, die anlässlich von Geburt, Pubertät, Ehe und Tod vollzogen werden, haben jeweils den Sinn, die Einzelnen zu stärken. Insgesamt wird man sagen können, dass die westeuropäischen Gesellschaften eher „ritualarme Gesellschaft(en)“42 sind. Die Bedeutung von Lebensabschnittsritualen erhellt beispielsweise daraus, dass selbst die DDR sich genötigt sah, ihren Bürgern Rituale anzubieten. Die im traditionell protestantischen Osten bis zum Zweiten Weltkrieg üblichen Konfirmationen, ein typisch protestantisches Lebensabschnittsritual, welches das Ende der Schulund den Beginn der Lehrzeit markierte (und kirchlich den Sinn der Befestigung des Taufversprechens anlässlich der Religionsmündigkeit hatte), wurden durch die Jugendweihe ersetzt. Ohne entsprechendes Ritual wollte – oder konnte man – die jugendlichen Bürger und ihre Familien offenbar nicht lassen. Die bisher vorgestellten Rituale sind alle nicht auf Beschämung hin angelegt, sondern auf Förderung in der Verwirklichung des Menschseins. Voraussetzung dafür ist, dass sie die Menschenwürde der Probanden ernst nehmen. Die in letzter Zeit immer wieder in der Presse oder im Bericht des Wehrbeauftragten beschriebenen Rituale in der Bundeswehr sind dagegen anders strukturiert: Sie leiten die Initianden dazu an, die eigene Scham- oder Ekelgrenze zu überschreiten. Es gibt in der Literatur auch einige Hinweise auf gewalttätige Rituale,43 und bekannt sind vor allem Gewaltrituale nach Sportveranstaltungen. Gewaltrituale zeigen sich in manchen Formen von Jugendkriminalität; auch Attac-Aktionen oder Demonstrationen können als Gewaltrituale beschrieben werden. Hier offenbart sich das Problem des Ritualbegriffs: Jede inszenierte, wiederholte Handlung kann unabhängig vom Tunszusammenhang als Ritual beschrieben werden. Historisch betrachtet hat es insbesondere Jungmänner-Gewaltrituale schon häufiger gegeben. Erforscht worden sind z. B. die Benandanti, d. h. Jung-Männer-Banden in oberitalienischen Städten im Hoch- und Spätmittelalter.44 41 Maurice Baumann: Weihnachten. Familienritual zwischen Tradition und Kreativität. Stuttgart: Kohlhammer 2008. 42 Peter J. Bräunlein / Andrea Lauser: Fließende Übergänge. Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden in einer ritualarmen Gesellschaft. In: Dorle Dracklé (Hrsg.): Jung und wild. Zur kulturellen Konstruktion von Kindheit und Jugend. (Hamburger Beiträge zur öffentlichen Wissenschaft 14), Berlin et al.: Reimer 1996, S. 152 – 182. 43 Thomas Hauschild: Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 44 Natalie Zemon Davis: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt a. M.: Fischer 1987.
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Wichtig für das Verständnis der Scham- oder Ekelrituale dürfte ein zweiter Zusammenhang sein: Rituale inszenieren Macht – was in der bisherigen Forschung wohl etwas zu kurz kommt. Zwar wurde gefragt nach „Spektakel(n) der Macht“, womit Krönungen, Städteübergaben, Friedensschlüsse gemeint waren – also politische Ereignisse, durch die der Herrscher symbolisch seinen Anspruch auf Anerkennung und Unterstellung inszenierte.45 Macht in sozialen Beziehungen, Macht zwischen Führern und Geführten, zwischen sogenannten informellen Führern beziehungsweise Anführern und denen, die sich anpassen und einordnen in die Gruppenstrukturen, ist bisher weniger in den Blickpunkt der Forschung geraten. Um Macht-und Ohnmacht-Inszenierungen dürfte es aber auch in den Jungmännergruppen (es liegen bisher keine Berichte von oder zu Soldatinnen vor) bei der Bundeswehr gehen. Denn Streitkräfte sind hierarchische Organisationen. Bei den Soldatinnen und Soldaten dürfte eine besondere Affinität zu Unterwerfung und Herrschaft bestehen, weil in Armeen Gehorsam und Unterwerfung in einem besonders hohen Maße gefordert werden. Das liegt zwar jenseits dessen, was die ZDv 10 / 1 Innere Führung von 2008 fordert, in der das Stichwort Gehorsam im Register nicht auftaucht (sic !), entspricht aber dem traditionellen, dem absolutistischen und neuzeitlichen Bild des Militärs als Zwangs- und Unterwerfungszusammenhang. Köstlich in Szene gesetzt ist das im Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann (1914): Der Rekrut muss mit der Zahnbürste den Fußboden schrubben. Berühmt und regelrecht zum geflügelten Wort wurde der „Schleifer Platzek“ aus Hans Hellmut Kirsts Roman „08 / 15“ aus dem Jahr 1954, der in demselben Jahr noch verfilmt wurde. Unterwerfung bis hin zur Auslöschung der Individualität des Rekruten wird auch gezeigt in der ostalgischen Komödie „NVA“ von Leander Haußmann aus dem Jahr 2005. Selbst in neueren Filmen zur Bundeswehr wie „Kein Bund fürs Leben“ von Granz Henman aus dem Jahr 2007 werden Rituale wie Jukebox vorgeführt. Einer der entscheidenden Gründe für junge Männer, nicht zur Bundeswehr zu gehen, ist ihre Ablehnung der Gehorsamsforderung. Heute hat sich die Spanne zwischen den gerade bei jungen Menschen positiv beurteilten Werten und den in der militärischen Organisation geforderten und geförderten eher noch vergrößert als verringert.46 45 Barbara Stollberg-Rilinger: Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa. 800 – 1800. Katalog. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008. 46 „Die jungen Männer, die sich nicht für den Soldatenberuf interessieren, verweisen nicht nur auf bessere Alternativen im zivilen Bereich, sondern sie vermuten in der Tätigkeit des Soldaten selbst eine Reihe von Defiziten und Problemen. Ein großer Teil meint, dass man als Soldat nur wenig selbst entscheiden kann, die eigenen beruflichen Ziele nicht verwirklichen kann und die Tätigkeit zu wenige Möglichkeiten bietet, sich persönlich weiterzuentwickeln. Diese Begründungen sind Ausdruck von Befürchtungen, die entsprechenden Wachstumsbedürfnisse, wie das Streben nach Unabhängigkeit, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, interessanten Aufgaben und gestaltender Aktivität, als Soldat nicht befriedigen zu können. In der Gruppe der besser Gebildeten kann man dieses Einstellungsmuster besonders häufig beobach-
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Und ein dritter Zusammenhang scheint mir wichtig: das Geheimnis. Bei Ritualen geht es um die Herstellung, Festigung und Bestätigung der Gemeinschaft, gegebenenfalls auch der verschworenen Gemeinschaft. Als historische Parallele bieten sich die Freimaurer oder andere Geheimbünde an, die auch spezielle Rituale kannten und kennen. VII. Menschenwürde und Ritual Der Heidelberger Systematische Theologe Wilfried Härle, lange Jahre Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, hat kürzlich seine Forschungen und Überlegungen zur Bedeutung und zum Wesen von Menschenwürde unter dem Schlagwort „Groß vom Menschen denken“ zusammengefasst.47 Seiner Darlegung nach hat jeder Mensch ein „Anrecht auf Achtung“, wobei der Begriff „Anrecht“ mehr impliziert als ein notfalls vor Gericht einklagbares Recht und „Achtung“ verstanden werden soll als „Wertschätzung“. Härle definiert: „Menschenwürde ist das mit dem Dasein als Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch.“48 Der Begriff Menschenwürde geht auf die lateinische Formulierung „dignitas humana“ zurück, deren Wurzeln bei Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) gesehen werden.49 Cicero beschrieb den Menschen als Vernunftwesen im Unterschied zu den Tieren, dem aufgrund seiner Vernunftnatur Würde zukomme (im Unterschied zu derjenigen differenzierten Würde, die dem Individuum aufgrund seiner individuellen Begabung, seines Amtes, seiner Fähigkeiten zukommt). Die in der Vernunftnatur liegende Würde kann der Mensch nicht verlieren oder aufgeben. Ein anderes Konzept zur Begründung von Menschenwürde vertritt die alttestamentarische Überlieferung, die etwa zur Zeit des Babylonischen Exils (587 – 538 v. Chr.) entstanden ist: Der Mensch hat durch sein Erschaffensein von Gott als „Ebenbild Gottes“ eine besondere Auszeichnung erhalten (vgl. 1. Mose 1, 27 f.; 1. Mose 9, 1 – 7; Psalm 8, 4 – 7)50 Das Christentum hat diese Begründung der Würde des Menschen vom Judentum übernommen. Auch im Islam findet sich dasselbe Konzept der Begründung der Menschenwürde aus der Gottesbeziehung des Menschen – ohne dass damit gesagt wäre, dass die Menschen ihrerseits diese Gottesbeziehung anerkennen müssten. Dieses jüdisch-christlich-muslimische Menschenwürdeverständnis ist nicht an Vernunft, Leistung, Moralität oder religiöse Überzeugung gebunden. Es handelt sich nämlich nicht um eine Beziehung des Menschen zu ten, weil diesen Jugendlichen Wachstumsbedürfnisse besonders wichtig sind. (…) Sechs von zehn Befragten sagen, dass ihnen das militärische Leben mit Disziplin und Gehorsam nicht liege (…).“ Thomas Bulmahn: Berufswunsch Soldat: Interessen und Motive. In: Sven Bernhard Gareis / Paul Klein (Hrsg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag 2004, S. 451 – 463, hier S. 459. 47 Wilfried Härle: Würde. Groß vom Menschen denken. München: Diederichs 2010. 48 Härle 2010: S. 14. 49 Härle 2010: S. 14 f. 50 Härle 2010: S. 16 – 18.
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Gott, sondern umgekehrt um eine Beziehung Gottes zum Menschen hin, die menschlicherseits nicht kündbar ist. „Die so verstandene Menschenwürde orientiert sich an nichts anderem als an der Tatsache des Menschseins. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch als Mensch, als jeder Mensch in jeder Phase seiner Entwicklung, Achtung verdient, weil ihm eine Würde eignet, die mit seinem Dasein gegeben ist und ihm von Menschen her weder verliehen noch genommen, weder zunoch aberkannt, sondern ‚nur‘ geachtet oder missachtet werden kann.“51 „(B)eschämend lange“52 hat es gedauert, bis diese Einsicht sich durchgesetzt hat (z. B. Sklaverei, Frauen). Verweigerung der Wertschätzung eines anderen Menschen kann in Gedanken, Worten und Werken erfolgen. Rechtlich einklagbar ist nur die in Handlungen oder Worten zum Ausdruck gebrachte Missachtung der Menschenwürde. Das Grundgesetz Art. 1 von 1949 stellt die Menschenwürde als Staatsziel und Staatszweck der Bundesrepublik Deutschland heraus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Hintergrund dieser Feststellung – die es in dieser oder ähnlicher Weise erst nach den grundstürzenden Verbrechen wider die Menschlichkeit im nationalsozialistischen Terrorsystem gegeben hat – ist die Überzeugung, dass es ein unveräußerliches Recht eines jeden Menschen ist, mit Achtung behandelt zu werden. Entsprechend hatte schon die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948 formuliert: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, da Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschen tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist, […] verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte […] Art. 1 Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“53 Für das Selbstverständnis Deutschlands hat das Konzept der Menschenwürde herausragende Bedeutung, weil es vor allen Grundrechten genannt wird, weil es nicht durch andere Grundrechte eingeschränkt werden kann, weil es alle staatliche Gewalt bindet und ewig unveränderlich sein soll. Freilich definiert das Grundgesetz nicht, was Menschenwürde heißt und bedeutet, sondern überlässt die Interpretation weitgehend den Gerichten.54 Herausgestellt hat sich in den Urteilen,55 dass MenschenHärle 2010: S. 19. Härle 2010: S. 19. 53 http://www.un.org/Depts/german/grunddok/ar217a3.html (letzter Zugriff: 26. April 2011). 54 Z. B. Urteil zum Abschuss eines gekaperten und als terroristische Angriffswaffe verwendeten Flugzeugs. 55 Z. B. Urteil zum Zwergenweitwurf, bei Härle 2010: S. 30. 51 52
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würde nicht dadurch aufgegeben werden kann, dass ein Betroffener auf seine Menschenwürde verzichtet. Missachtung der Menschenwürde – auch mit Zustimmung des Betroffenen – bleibt Missachtung der Menschenwürde, denn Menschenwürde ist unverletzlich und unveräußerlich, unterliegt also nicht der menschlichen Autonomie. Menschenwürde ist dem Staat wie auch dem einzelnen Menschen „vorgegeben“.56 Sie geht nicht dadurch verloren, dass dem Menschen die Anerkennung seiner Menschenwürde verweigert wird. Neuzeitliche philosophische Traditionen haben im Anschluss an Cicero Anstrengungen unternommen, Menschenwürde näher zu definieren, beispielsweise Immanuel Kant (1724 – 1804) mit seinem Kategorischen Imperativ,57 sind dabei aber nie bis zum transzendenten Kern des Menschenwürde-Gedankens vorgestoßen.58 Auf seine Menschenwürde kann niemand verzichten. Wo Scherz aufhört und Missachtung der Menschenwürde anfängt, ist in Gesellschaft und Politik immer wieder zu justieren – allerdings nicht jeweils gänzlich neu zu justieren. Es ist eher so, dass die Grenzen dessen, was noch erlaubt ist, immer enger gezogen werden: Manche Verhaltensweisen waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch üblich, die heute verboten sind: etwa das Schlagen von Kindern durch ihre Eltern und Lehrer, das Busengrabschen oder Betatschen von Mädchen und Frauen durch Vorgesetzte oder Fremde. Die Gesellschaft ist ‚strenger‘ geworden und hat ihre Vorstellung von Menschenwürde und wie sie zu achten ist, geschärft. Die Menschenwürde wird missachtet, wenn Menschen bloßgestellt, lächerlich gemacht, gedemütigt oder beschämt werden. Auch die Verletzung der Intimsphäre von Menschen missachtet deren Menschenwürde. Zwischen Verachtung eines anderen und Selbstachtung besteht eine enge Beziehung: „Jeder Mensch ist dazu bestimmt, Würdeträger zu sein, und jeder Mensch ist dazu bestimmt, Würdeadressat zu werden. Ob und inwieweit diese letztgenannte Bestimmung aber im Leben eines Menschen tatsächlich realisiert werden kann und realisiert wird, hängt von kontingenten Umständen ab, die diese Realisierung auch verhindern können. (…) Zwischen der Würde des Würdeträgers, die missachtet wird, und der Würde des Würdeadressaten, der sie verachtet, besteht insofern ein enger, unauflöslicher Zusammenhang, als die Missachtung fremder Würde zugleich eine implizite Missachtung der eigenen Würde ist. Denn indem eine Person bewusst fremde Würde missachtet, bestimmt sie sich zu einem Handeln wider besseres Wissen. Sie beschädigt ihre Härle 2010: S. 30. Vgl. a. ebd. S. 49 – 56, S. 65 – 69. Zweite Gestalt, Selbstzweckformel: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest.“ Entscheidend ist: bloßes Mittel, denn Mittel zum Zweck ist z. B. der Bäcker für den Brötchenkonsumenten, der Soldat für den Staat. Verwandt damit ist die Auffassung, dass der Mensch niemals zum ‚Objekt‘, das einen bestimmten ‚Wert‘ oder ‚Preis‘ hat, herabgewürdigt werden darf, auch wenn es natürlich Situationen gibt, in denen Menschen sich ohne Rücksicht auf ihre Interessen ‚fügen‘ müssen (z. B. Gefangennahme, Gefängnis). 58 Härle 2010: S. 70 – 90. 56 57
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eigene moralische Integrität und Identität und bringt sich damit selbst in einen existentiellen Widerspruch. Damit erweist sich die Missachtung fremder Würde zugleich als Missachtung der eigenen Würde.“59
VIII. Zusammenfassende Überlegungen Wer von den Soldatinnen und Soldaten die Würde eines Kameraden verletzt oder sich an einem entsprechenden Ritual beteiligt, verletzt sich selbst in seiner eigenen Menschenwürde. Das ist der Grund dafür, dass die Bundeswehr gut daran tut, höchst aufmerksam dasjenige Treiben zu beobachten, was als im Kameradenkreis übliches ,soldatisches Ritual‘ von den Beteiligten beschrieben wird. Im Mittelpunkt dieser Beobachtung werden sicher nicht die offiziellen Rituale wie Eid, Zapfenstreich, Beförderungsappell, Trauerandacht, Begräbnis etc. stehen, sondern diejenigen Rituale, die von den Soldatinnen und Soldaten (ob mit oder ohne Duldung von Vorgesetzten, ist für die Wertung der Handlungen gleichgültig) zum Eintritt in eine besondere Kameradschaft (z. B. neue Dienstgradebene oder Statusgruppe, Lehrgang) inszeniert werden. Dabei geht es nicht darum, jede Form gemeinsamer Feier oder Zeremonie zu unterbinden, sondern vielmehr darum, den Teilnehmenden deutlich vor Augen zu stellen und sie dafür zu sensibilisieren, dass Übergriffe auf die Würde und körperliche Integrität von Kameraden, die Verletzung von Scham- oder Ekelschranken nicht vereinbar ist mit dem Soldatenbild der Bundeswehr und dem Grundgesetz, das auch und gerade den Soldatinnen und Soldaten Menschenwürde zuspricht. Wer Menschenwürde verteidigt und im Auslandseinsatz für Menschenwürde einsteht, der kann nicht auf die eigene spaßeshalber verzichten oder diejenigen seiner Kameraden missachten. Entsprechend heißt es in der Neufassung der Zentralen Dienstvorschrift 10 /1 Innere Führung aus dem Jahr 2008, dass auch die vollziehende Gewalt (Exekutive) an den im Grundgesetz in Art. 1 genannten Staatszweck und das Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland, die Achtung vor und den Schutz der Würde des Menschen, gebunden ist. ‚Staatsbürger in Uniform‘ „sind den Werten und Normen des Grundgesetzes in besonderer Weise verpflichtet.“60 „Aus innerer Überzeugung“ sollen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für Menschenwürde als einem der „leitenden Werte unseres Staates aktiv eintreten.“61 Präzisiert wird das durch den Hinweis darauf, dass Achtung und Schutz der Menschenwürde die Grundlage der Inneren Führung ist und „die Gestaltung der Inneren Ordnung“ der Bundeswehr bestimmen soll.62 Insofern gerade die Vorgesetzten verantwortlich sind für die Innere Führung, als deren vornehmstes Gebiet die Menschenführung beschrieben wird, wird diesen eine besondere Verantwortung für die „uneingeschränkte Achtung der Würde des Menschen“ aufgetragen.63 59 60 61 62
Härle 2010: S. 93. Bundesministerium der Verteidigung 2008: Nr. 105, S. 6. Ebd.: Nr. 106, S. 7. Ebd.: Nr. 305, S. 11.
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Die Entschuldigung, entsprechende Rituale habe es immer schon gegeben und allein die Gesellschaft habe sich verändert, wenn sie Scham- und Ekelrituale nicht mehr akzeptiere, gilt nicht. Entsprechend dem Menschenbild des Grundgesetzes haben Freiheit und Selbstverwirklichung ihre Grenze in der Freiheit und Selbstverwirklichung der anderen. Und niemand kann freiwillig zeitweilig seine Menschenwürde aussetzen. Tatsächlich unternimmt die Bundeswehr gegenwärtig schon einige Anstrengungen, ihre Soldatinnen und Soldaten in diesem Sinne auszubilden, weiter zu bilden und zu prägen: Unterrichte in Innerer Führung, Lebenskundliche Unterrichte, der Wehrbeauftragte und die helfende Dienstaufsicht der Vorgesetzten sind zu nennen. Die entsprechenden Anstrengungen sind fortzusetzen und gegebenenfalls zu intensivieren. Dabei braucht die Bundeswehr die Begleitung durch Öffentlichkeit und Wissenschaft, denn die Feststellung dessen, was der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde widerspricht, muss jeweils breit in der Gesellschaft diskutiert werden. Nur bei solcher solidarischen und kritischen Begleitung kann die Bundeswehr eine in die Gesellschaft integrierte Armee bleiben. Deshalb haben die einleitend zitierten Skandalisierungen bestimmter Rituale ebenso ihren Sinn wie die jährliche Debatte zum Bericht des Wehrbeauftragten im Parlament.
Summary The article deals with the relationship between rituals and dignity of man. The theme is brought about by a series of scandals amidst the Bundeswehr (German Army) which were discussed in the German society during the last months. Young soldiers invited their comrades to special kinds of rituals which evoked feelings of shame and aversion. Some of these disgustful rituals may infringe the dignity of soldiers. Any attempt of legitimation of these rituals is wrong because an army is the mirror of the state’s values. As the actual concepts of the theory of rituals show, one has to distinguish between ‘bad’ rituals which humiliate men and others which are helpful, e.g. traditional Christian rituals. Religious rituals like baptism or last supper try to encourage men to realize their human potentials. Secular rituals of initiation, e.g. if a soldier gets promoted, which force him to eat or to drink nonedible substances, which force him to show his naked backside and to tolerate strikes, has to be prosecuted and punished. They infringe not only the victim’s dignity but although that of the comrades which are witnesses, participants or leaders of the ritual.
63 Ebd.: Nr. 604, S. 23. In den der Dienstvorschrift angehängten zehn „Leitsätze(n) für Vorgesetzte“ heißt es: „1. Ich achte und schütze die Menschenwürde. (…) 6. Ich bilde meine Soldatinnen und Soldaten bestmöglich aus und fordere sie angemessen unter Beachtung der Menschenwürde, Gesetze, Dienstvorschriften und Sicherheitsbestimmungen.“ Ebd.: S. 46.
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Literatur Verwendete Abkürzungen: EKL
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Klimawandel, Menschenrechte und neues Freiheitsverständnis – Herausforderungen der politischen Ethik1 Felix Ekardt I. Naturwissenschaftlich-ökonomische Grundlagen – und ein Steuerungskonzept Der Klimawandel ist vielleicht das größte politische / ethische / rechtliche Problem des 21. Jahrhunderts. Er ist damit potenziell auch ein zentrales Thema für das Feld der praktischen Philosophie, das als politische Ethik, Sozialethik, politische Philosophie oder Gerechtigkeitstheorie (oder vielleicht auch als Rechtsphilosophie oder Rechtsethik) bezeichnet werden kann. Der vorliegende Beitrag unternimmt mit Bezug auf den Klimawandel eine Neuinterpretation der Zentralnormen liberaldemokratischer Verfassungen auf nationaler und transnationaler Ebene, insbesondere der Menschenrechte, in einem (für Philosophen und auch für viele Juristen) ungewohnten Sinne. Am Ende des Beitrags wird dann der Nachweis geführt, dass die verwendeten Prinzipien ihrerseits aus den Prinzipien der Menschenwürde und der Unparteilichkeit (letzteres Prinzip wird z. T. auch Universalisierbarkeitsprinzip oder kategorischer Imperativ genannt, mit leicht anderer Bedeutung) folgen und dass diese Prinzipien wiederum als Gebot der normativen praktischen (diskursiven) Vernunft aufzufassen sind. Damit wären die verwendeten juristischen Normen zugleich als (universale) ethische – und zwar diskursethische – Normen aufgewiesen.2 Es ergäbe sich also eine Parallelität von Ethik und liberal-demokratischer Verfassungs(neu)interpretation. Umgekehrt erhielte die Ethik damit eine praktisch deutlich erhöhte Durchschlagskraft; denn Recht ist im Gegensatz zur Ethik durch höhere Konkretheit und Detailschärfe sowie durch eine Sanktionsbewehrung gekennzeichnet.3 1 Der nachstehende Beitrag greift in Kurzform einige Aspekte der revidierten Zweitauflage der Habilschrift des Verfassers auf (Ekardt 2011). Dort werden alle Aspekte ausführlicher und mit vielen weiteren Literaturverweisen (die vorliegend aus Raumgründen auf einzelne Verweise beschränkt wurden) behandelt. 2 Irritierend für viele Philosophen, aber vorliegend nicht näher zu begründen wird dabei sein, dass Recht und Ethik damit vollständig zusammenfallen; näher dazu Ekardt 2011, §§ 1 D. III., 3 F. – G., 4. 3 Näher zu Recht und Ethik Ekardt 2011, § 1 D. III.; Alexy 1991; teilweise auch Apel 1993.
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Eingangs sind einige naturwissenschaftlich-ökonomische Bemerkungen angezeigt, ebenso wie Hinweise zu möglichen Governance-Instrumenten zur Lösung der Problematik. Der Klimawandel handelt von einer zunehmenden globalen Erwärmung (hauptsächlich) aufgrund einer zu intensiven menschlichen Nutzung fossiler Brennstoffe in den Sektoren Strom / Wärme / Treibstoff / stoffliche Verwendungen sowie bestimmter Formen der Landnutzung. Der weltweite Konsens der Klimanaturwissenschaftler regt für 2050 minus 95 % Klimagase im Westen und minus 80 % weltweit in Relation zum aktuellen Emissionsniveau, will man eine Welt mit riesigen ökonomischen Schäden, Ressourcenkriegen, Migrationsströmen und Millionen Toten vermeiden.4 Von solchen Zielen und ihrer nicht durch Schlupflöcher und Berechnungstricks vereitelten Durchsetzung ist die bisherige internationale, europäische und nationale Klimapolitik, wie an der eben zitierten Fundstelle dargelegt, weit entfernt, obwohl es (technisch und rechtlich) Konzepte gäbe, auf das Problem angemessen zu reagieren. Auch ein europäischer (oder z. T. nationaler) intensivierter Klimaschutz-Alleingang wäre möglich, wenn einschneidende Politik mit Border Adjustments für Im- und Exporte kombiniert würde.5 Die globalen Klimagasemissionen sind seit 1990 global um 40 % gestiegen. Auch in den Industrieländern sind sie nur dank der Industriezusammenbrüche 1990 in Osteuropa und dank der massiven Verlagerung von Produktionsstätten in die Schwellenländer stabil oder leicht gesunken. So oder so ist das absolute Emissionsniveau unverändert hoch: Aktuell liegen Amerikaner bei 20, Deutsche bei (wie erwähnt: euphemistisch errechneten) 10, Chinesen bei 4 Tonnen CO2 jährlich pro Kopf, was der Wirksamkeit der vielen Klimapolitikinstrumente kein gutes Zeugnis ausstellt. Die Klimanaturwissenschaft spricht weltweit jedoch von etwa minus 80 % bis 2050: Die aktuellen etwa 0,5 Tonnen pro Kopf in Afrika würden damit das globale Pro-KopfZiel sein müssen, will man gravierende ökonomische Kosten, gewaltsame Auseinandersetzungen um ausgehende Ressourcen wie Wasser, fruchtbare Böden und Öl und ggf. Millionen Tote noch abwenden.6 Und gefährdet die Menschheit die klimatische Grundlage menschlicher Existenz, erübrigen sich Gedanken über Finanzkrisen, Arbeitsplätze usw. Die globale Klimapolitik7 droht dennoch, gemessen am 80 %-Ziel, in einem neuen Klimaabkommen 2010 ihre Defekte fortzuschreiben: zu wenig ambitionierte Ziele für Industrieländer und eher vage Ziele für Schwellenländer wie China oder Indien; wenig Sanktionen im Falle der Zielverfehlung; viele Schlupflöcher; zu wenig Geld gegen die globale Armut, die durch den Klimawandel befördert wird, ohne dass die Opfer dessen Hauptverursacher wären; unterfinanzierte Fonds statt klare Hilfsansprüche der Entwicklungsländer. Rein nationaler Klimaschutz wäre die 4 Diese einleitenden Fragen werden hier nicht näher erörtert, da sie mehrfach näher behandelt wurden; vgl. etwa m. w. N. Ekardt 2011, § 1, 2, 6, 7. 5 Vgl. dazu Ekardt / Schmeichel 2009a, S. 737 ff. 6 Vgl. zum aktuellen Stand der wirtschafts- und naturwissenschaftlichen Klimaforschung Stern 2009 sowie die Copenhagen Synthesis 2009. 7 Hierzu und zum Folgenden m. w. N. Ekardt 2011, § 6 E.
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falsche Antwort – sonst sparen die einen Brennstoffe, die die anderen dann verbrennen. Wir brauchen also eine echte globale Klimawende. Etwa wie folgt: 1. Die Klimagasausstöße könnten global strikt begrenzt und dann auf alle Staaten anhand ihrer Bevölkerungszahl aufgeteilt werden. Jeder Mensch zählt dabei gleich viel.8 2. 0,5 Tonnen mal Einwohnerzahl – das ergäbe dann für 2050 die zulässigen Emissionen in einem Staat. 3. Beginnen könnte man jetzt mit dem globalen Durchschnitt: 5 Tonnen pro Mensch. Das zulässige Maß müsste dann in vielen kleinen Schritten jährlich absinken. 4. Wenn dann etwa westliche Länder mehr Treibhausgase ausstoßen wollten, müssten sie südlichen Ländern, die heute deutlich unter 5 Tonnen liegen, überschüssige Emissionsrechte abkaufen. Diesen Staaten-Emissionshandel gibt es schon heute, aber ohne den Süden und mit unambitionierten Zielen im Westen. 5. Die Entwicklungsländer bekämen übergangsweise mehr als 5 Tonnen pro Kopf und der Westen entsprechend weniger, um die historische Verursachung des Klimawandels durch den Westen teilweise auszugleichen. So könnten sie noch mehr verkaufen und verdienen. Das würde Entwicklung ermöglichen, Klimaschutz und Klimawandelsfolgen finanzieren – und trotzdem langfristig die Klimagase begrenzen. 6. So würde neben dem Klimaschutz auch das zweite globale Megaproblem angegangen: nicht die Finanzkrise – sondern die globale Armut. 7. Eine globale Institution – etwa das bereits bestehende UN-Klimasekretariat in Bonn – müsste die Emissionsreduktionen strikt überwachen und mit strengen Sanktionen durchsetzen. 8. Die nach dem Staaten-Emissionshandel pro Staat oder Kontinentalzusammenschluss (EU) vorhandene jährliche, sinkende Menge an Emissionsrechten müsste dann mittels eines umfassenden innerstaatlichen oder innereuropäischen Emissionshandels unter den Kohle-, Gas- und Öl-Unternehmen durch eine Auktion weiterverteilt werden. Jeder Importeur oder Verkäufer von fossilen Brennstoffen dürfte also die sich aus diesen Brennstoffen ergebenden Treibhausgasausstöße bei allen Bürgern nur noch ermöglichen, wenn er Emissionsrechte besitzt. Anders als der bisherige EU-Emissionshandel nur für einige Industriesektoren und mit laschen Zielen würden damit nahezu sämtliche Klimagasausstöße erfasst. Denn über die Primärenergie bildet man Produktion und Konsum quasi insgesamt ab. Vieles an Klima-Bürokratie könnte im Gegenzug wegfallen. 9. Die Primärenergieunternehmen würden ihre Ersteigerungskosten für die Emissionsrechte gleichmäßig über Produkte, Strom, Wärme und Treibstoff an die End8 Teilweise ähnlich wie vorliegend beispielsweise Wicke / Spiegel / Wicke-Thüs 2006; ohne Bezugnahme auf die Quellen ähnlich auch WBGU 2009.
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verbraucher weitergeben; umgekehrt würde der Staat respektive die EU die Versteigerungs-Einnahmen pro Kopf an alle Bürger verteilen (Ökobonus). 10. Auch die ebenfalls klimaschädlichen Sektoren Landwirtschaft und grenzüberschreitender Luft- und Schiffsverkehr müssten einbezogen werden, ebenso wie die Entwaldung, etwa im Regenwald. So senkt man den globalen Treibhausgasausstoß und die Nutzung fossiler Brennstoffe schrittweise rapide. Automatisch kämen damit treibhausgasarme erneuerbare Energien und Energieeffizienz massiv auf. So fördert man zugleich neue Wirtschaftszweige, immunisiert sich gegen explodierende Öl- und Gaspreise und vermeidet die langfristigen drastischen Klimawandelskosten. Man sichert dauerhaft die Energieversorgung und vermeidet gewaltsame Auseinandersetzungen um schwindende Ressourcen. Nebenbei würde der Ansatz der Demokratie dienen: Klimapolitik würde für die Bürger wieder verständlich und damit diskutierbar; momentan ist die Vielfalt unzureichender, z. T. auch widersprüchlicher Klimaschutznormen dagegen selbst Bundestagsabgeordneten meist nicht verständlich. Dass die Industriestaaten durch den Emissionsrechtekauf Geld aufbringen müssten, hätte dabei einen doppelten Hintergrund: Pro Kopf emittiert ein Bewohner eines Industriestaates immer noch ein Vielfaches eines Chinesen oder Afrikaners. Außerdem wären die Entwicklungsländer – und künftige Generationen – die Hauptopfer des Klimawandels sein, den primär der Okzident, da sich Klimagase Jahrhunderte in der Atmosphäre halten, verursacht hat. Zugleich hilft der Ökobonus den sozial Schwächeren im Okzident: Der Ökobonus wäre pro EU-Bürger gleich hoch; und wer wenig Energie und Produkte konsumiert, also gerade sozial Schwächere, bekäme die weitergegebenen Kosten des Emissionshandels nur wenig zu spüren. Energie bliebe so für jeden bezahlbar. Dauerhaft, unabhängig von Öl- oder Gaspreisen. Dies gilt, obwohl der Ökobonus im Verhältnis zu den umverteilten Emissionshandelskosten im Okzident niedrig und in südlichen Ländern hoch wäre. Denn die Emissionshandelskosten zwischen den Staaten würden zum „südlichen“ Ökobonus dazuaddiert und vom „westlichen“ Ökobonus subtrahiert. Das wäre der Finanztransfer in den Süden; soziale Verwerfungen würden so hierzulande und global vermieden – aber auch langfristig die soziale Katastrophe Klimawandel. Ob ein Klimawandel existiert, ist eine Frage an die theoretische Vernunft. Welche Instrumente das Problem wirksam lösen könnten, ist eine Frage an die instrumentelle praktische Vernunft. Die Frage indes, ob es überhaupt erstrebenswert ist, die Folgen des Klimawandels wie drohende Ressourcenkriege, Millionen Tote, hohe wirtschaftliche Schäden u. a. m. abzuwenden, ist eine Frage an die normative praktische Vernunft – einschließlich der Frage, was dabei für Verteilungsmaßstäbe zu gelten haben, wie mit den historischen Emissionen umzugehen ist usw. Dieser Thematik der normativen praktischen Vernunft widmet sich der vorliegende Beitrag.
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II. Missverständnisse über Umweltgrundrechte, Umweltstaatsziele und Nachhaltigkeit – national und transnational Die damit gekennzeichnete Problematik wird nachstehend auf der Basis folgender Frage angegangen: Kann auf der Basis der deutschen, europäischen und internationalen Grundrechte eine wirksamere Klimapolitik verlangt werden? Nicht in dem Sinne, dass grundrechtlich ein ganz bestimmtes Steuerungsinstrumentarium eingeklagt werden kann, wohl aber vielleicht dahingehend, die Wirksamkeit der Klimapolitik insgesamt – trotz verbleibender erheblicher gesetzgeberischer Spielräume – zu erhöhen? Im Grundsatz geht es bei alledem um drei separate Ebenen – nämlich um die nationalen (vorliegend exemplarisch: den deutschen), die europarechtlichen und die völkerrechtlichen Grund- bzw. Menschenrechte. Allerdings wird sich im Folgenden erweisen, dass sich dabei jeweils nahezu die gleichen Fragen stellen, jedenfalls inhaltlich; auf etwaige Besonderheiten der Rechtsebenen wird dabei jeweils hingewiesen. Jedenfalls geht es wie eingangs erwähnt um eine parallel ethische und rechtliche Betrachtung. Ganz allgemein lässt sich der Konflikt um die richtige Klimapolitik als Konflikt widerstreitender Belange und damit als Abwägungsproblem auffassen. Gemeint ist hiermit ein – wenn nicht das – Grundphänomen des Rechts und der Ethik: dass es eben um einen gerechten Ausgleich kollidierender Belange geht, einerlei ob man dies Ermessensprüfung, Verhältnismäßigkeitsprüfung oder eben einfach Abwägung nennt. Denn letztlich muss jedwede Rechtsanwendung oder ethische Entscheidung den kollidierenden Freiheitssphären und Freiheitsgarantien der dahinter stehenden Menschen gleichzeitig gerecht zu werden versuchen. Zurückzuführen ist all dies deshalb auf das Erfordernis, dass der Gesetzgeber kollidierende Belange abwägend in einen gerechten Ausgleich bringen muss. Der Rahmen der gesetzgeberischen Abwägung wird meist Verhältnismäßigkeitsprüfung genannt. Für die Verwaltung, wo der Gesetzgeber diese Abwägung weitgehend vorgenommen hat, beschränkt sich die Abwägung dagegen zunächst (größtenteils) auf das Interpretieren des Tatbestands der Normen, die der Gesetzgeber als Ausdruck seiner Abwägung geschaffen hat, sofern bei dieser Norminterpretation Spielräume bleiben. Hat der Gesetzgeber seine Abwägung nicht schon weitgehend vorgenommen und dementsprechend der Verwaltung mehr Spielraum gelassen, nennt man dies in Deutschland meist Ermessen oder (planerische) Abwägung. Diese gesamte Grundstruktur trifft cum grano salis unabhängig davon zu, ob von nationalem, europäischem oder internationalem Recht die Rede ist. Dass gerade im Umweltschutz nicht nur die wirtschaftliche Freiheit, sondern eben auch der Umweltschutz selbst (teilweise auch) als Freiheits- und Grundrechtsaspekt in diese Abwägung eingeht, ist freilich ethisch und rechtlich keine triviale, sondern (sofern man eine anspruchsvolle Konzeption von Umweltschutz verfolgt) eine kontroverse Feststellung, der es näher nachzugehen gilt, wenn die Grundrechtskonformität der bisherigen Klimapolitik geklärt werden soll. Das Menschenwürdeprinzip ist bei alledem selbst m. E. kein Freiheits- / Grund- / Menschenrecht. Dieses Prinzip ist sogar überhaupt keine auf konkrete Einzelfälle
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zugeschnittene Rechtsnorm, auch nicht ein solches des objektiven Rechts. Die Menschenwürde ist ethisch und rechtlich vielmehr, wie ganz am Ende zu vertiefen bleibt, der Grund – also die Begründung – der Freiheits- bzw. Menschenrechte, statt selbst ein Recht zu sein; sie dirigiert damit die Anwendung der anderen Normen, hier also der verschiedenen Freiheitssphären der betroffenen Bürger, und gibt die Autonomie als Leitidee der Rechtsordnung vor. Die „Unantastbarkeit“ der Würde und ihr auch in Normen wie Art. 1 Abs. 2 – 3 GG sichtbarer Charakter als „Grund“ der Rechte („darum“, also um der Würde willen, gibt es die Menschenrechte) zeigen, dass dies nicht nur philosophisch, sondern auch rechtsinterpretativ einleuchtet; dies verdeutlicht auch die EuGRC-Materialien-Formulierung von der Würde als „Fundament“.9 Der Rahmen für jedwedes Reden über das Umweltrecht ist seit einiger Zeit das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung. Nachhaltigkeit wird seit 20 Jahren international immer öfter als Kernziel von Politik benannt, sei es von der UN, der EU oder der Bundesregierung. Sie wird indes dabei nicht durchgängig inhaltlich sehr ernst genommen. Die Ausweitung von Recht / Moral / Politik in intertemporaler und globaler Hinsicht ist die Intention von Nachhaltigkeit.10 Demgegenüber meint nach einer verbreiteten Ansicht – auch unter Juristen – Nachhaltigkeit schlicht eine ausgewogene Verfolgung der drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales, notfalls auch ohne raum- oder zeitübergreifenden Bezug.11 Dass dies mindestens missverständlich ist, dass dies insbesondere der – in einer physikalisch endlichen Welt – uneinlösbaren Forderung im vollen Wortsinne ewigen (!) Wachstums verhaftet bleibt und dass jene Säulen-Perspektive auch mit den völkerrechtlichen Grundlagendokumenten der Nachhaltigkeit unvereinbar ist, war andernorts Thema.12 Mit Fragen nach Grundrechten ist das Verfassungsrecht aufgerufen, in einem funktionalen, auch das europäische und völkerrechtliche „Verfassungs“recht einschließenden Sinne.13 Umweltschutz und auch Klimaschutz wird indes selten als durch Grundrechte garantiert thematisiert, sondern eher der Rubrik „Staatsziele“ zugeordnet, also bezogen auf Art. 20a GG oder im europäischen Recht Art. 191 AEUV. Gleichwohl erscheint es verfassungsrechtlich wesentlich, die Grundrechte 9 Dass in den EuGRC-Materialien wiederum auch von der Menschenwürde als „Recht“ die Rede ist, meint vor diesem Hintergrund, dass die Menschenwürde eine Art „Recht auf Rechte“ (Enders) darstellt. Zum diesbezüglichen Diskussionsstand Ekardt 2011, § 4 B.; ähnlich Enders 1997; siehe ferner Vosgerau 2008, 346 ff.; a. A. statt vieler Böckenförde 2003, S. 809 ff. – Dass die Würde ein subjektives Recht sei, behauptet auch das BVerfG nicht; allerdings scheint das Gericht die Würde durchaus für eine anwendbare Rechtsnorm zu halten und darunter (bekanntlich) ein Verbot zu verstehen, den Menschen zum Objekt zu machen. 10 Vgl. zum Nachhaltigkeitsprinzip in der hier vorgeschlagenen Lesart (sowie m. w. N. zu gegenläufigen Ansichten) Ekardt 2011, § 1 C.; im Ergebnis (nicht unbedingt in den Argumenten) ähnlich Appel 2005; Ott / Döring 2004; Köck 2007, S. 413 ff. 11 Vgl. statt vieler Steinberg 1998, S. 114; Beaucamp 2002, S. 18 ff. 12 Ekardt 2011, § 1 C.; Ott / Döring 2004; teilweise auch Appel 2005, S. 339 ff. und Köck 2007, S. 413 ff.; implizit ebenso Unnerstall 1999. 13 Zur Staats- und Verfassungs-Kontroverse zuletzt Möllers 2008.
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in den Blick zu nehmen. Grundrechtsinterpretation generiert nicht nur Befugnisse, sondern auch gerichtlich durchsetzbare Pflichten der öffentlichen Hand – anders als Staatsziele. Grundrechte sind zudem das stärkste Element einer liberal-demokratischen Verfassung. Die Überwindung des hervorgehoben wirtschaftlich ausgerichteten Freiheitsverständnisses könnte überdies auf verfassungsrechtlicher Ebene das wesentliche Desiderat einer stärker zukunfts- und global orientierten (also: nachhaltigen) Rechtsinterpretation sein. Nebenbei bemerkt: Einschnitte für den Umweltschutz „um der Freiheit(svoraussetzungen) konkreter Menschen willen“ (wie sie in Grundrechten verankert sind) könnte auch motivational viel einleuchtender sein als die gängige, ziemlich irreführende Frontstellung „Selbstentfaltung contra Umweltschutz“, wie sie durch Staatszielnormen latent bekräftigt wird. Früher – und noch heute im Völkerrecht – wurde bzw. wird also durchaus folgerichtig häufig eine Umweltgrundrechtsdiskussion geführt14, da Umweltgrundrechte bzw. „Klimagrundrechte“ einen Bruch mit jener diagnostizierten traditionellen Sichtweise bedeuten würden. Dabei scheint in der völkerrechtswissenschaftlichen (allerdings der Völkerrechtspraxis insoweit fernen) Debatte die Idee starker, gar abwägungsfreier Umweltgrundrechte Freunde zu finden, wogegen in nationalen Debatten Umweltgrundrechte für inhaltlich unkonturierbar und zudem abwägungsoffen und daher letztlich nicht weiterführend gehalten werden. Der vage Tatbestand eines „Umweltgrundrechts“ ergibt sich freilich nur dann, wenn man allgemein ein Grundrecht „auf Umweltschutz“ – oder hier konkret: „auf Klimaschutz“ – einführen würde; davon ist vorliegend keine Rede, sondern lediglich von der Frage, ob sich bei korrekter Grund- bzw. Menschenrechtsinterpretation (national oder transnational) nicht stärkere umweltschützerische Gehalte durch Interpretation der bereits existenten Grundrechte ergeben als oft angenommen, mit der Folge, dass die bisherige Klimapolitik grundrechtswidrig sein könnte. Natürlich bleibt einem, wenn ein Schutzbereich einer solchen Grundrechtsgarantie betroffen ist, das Problem notwendiger Abwägungen nicht erspart; dieses Problem gibt es aber ganz genauso auch bei anderen Grundrechten (die Abwägung nennt man gängiger Weise Verhältnismäßigkeitsprüfung). Deshalb geht es nachstehend nicht um echte Grundrechte „auf Umweltschutz“, aber auch nicht um eine ungeprüfte Übernahme der verbreiteten Position, die im Kern „umweltgrundrechtlich“ schlicht auf das Recht auf Leben und Gesundheit verweist und dieses dabei (a) ohne Vorsorgedimension sieht, (b) die in diesem Recht liegende „Schutzpflicht“ de facto hinter abwehrrechtliche Grundrechtspositionen zurückfallen lässt (wegen angeblich weitergehender Abwägungsnotwendigkeiten, aus Gewaltenteilungsgründen usw.) und (c) auch sonst eine Konkretisierung jenes umweltgrundrechtlichen Schutzes unterlässt, die ihm eine praktische Relevanz verleihen könnte. Denn genau diese Betrachtungsweise von „Schutzpflichten“ (einschließlich ihrer verwaltungsrechtlichen Folgerungen) wird im weiteren Verlauf der Untersuchung einer Kritik unterzogen werden. 14 Zur Zusammenfassung der gängigen diesbezüglichen Diskussion vgl. Schmidt-Radefeldt 2000, S. 33 ff. und 40 ff.; explizit kritisch zu „Umweltgrundrechten“ etwa Steinberg 1998, S. 421 ff.; Hattenberger 1993, S. 77 ff.
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III. Grundrechte gegen den Klimawandel – nur nachrangige und inhaltlich vage grundrechtliche „Schutzpflichten“? 1. Probleme der bisherigen Rechtsprechung Bekanntlich geht gerade die Rechtsprechung der deutschen Verfassungs-15 und Verwaltungsgerichte16 mit der Anerkennung umweltgrundrechtlicher Rechtspositionen bisher ziemlich zurückhaltend um und sah bisher bei entsprechenden Klagen im Umweltschutz stets keine Grundrechtsverletzung. Vermieden wird bereits der Begriff Schutzrechte, der überhaupt erst deutlich machen würde, dass es sich hier um subjektive Rechte handelt (mögen sie auch Abwägungen mit gegenläufigen Rechtspositionen im Rahmen ihrer Schrankenprüfung unterliegen).17 Speziell (aber nicht nur) in Verfassungsbeschwerden wird denn häufig auch die Zulässigkeits- und Begründungsprüfung nicht klar unterschieden, so dass letztlich – unter Camouflierung der Frage nach der subjektiven Rechtsqualität – unklar bleibt, ob von der Beschwerdebefugnis, dem Grundrechtsschutzbereich oder Fragen der Grundrechtsschranken die Rede ist. Trotz des (im Gegensatz zu den umweltgrundrechtlichen Klagen) anderen Prozessausgangs trifft dies im Wesentlichen sogar auf die Abtreibungs-Urteile zu.18 Die Grundlage ist bei alledem die bereits erwähnte Vorstellung, Schutzrechte gäben nur ein Ziel vor, aber kein genaues Ausmaß des Schutzes, und man habe nur zu prüfen, ob die getroffenen Schutzmaßnahmen evident unzureichend seien, was dann jedoch stets verneint wird, da irgendwelche gesetzgeberischen Bemühungen in Deutschland in jedem Sachgebiet anzutreffen sind und dies dann jeweils als per se „nicht evident unzureichend“ qualifiziert wird.19 Dass sowohl dieses Ergebnis als auch die (eher behauptete als begründete) Art und Weise seines Zustandekommens eine Kritik verdienen könnte, wird im weiteren Verlauf näher herausgearbeitet. Die EuGH-Rechtsprechung – verankert sind die europäischen Grundrechte in der (seit dem Lissabon-Vertrag verbindlichen) Grundrechte-Charta (EuGRC) sowie in Art. 6 Abs. 1 – 3 EU20 – widmet sich dem gesamten Schutzrechte-Thema von vorn15 Vgl. zunächst nur die Grundlegung bei BVerfGE 49, 89 (141); 53, 30 (57); 56, 54 ff.; die Problematik wird nicht wahrgenommen bei Couzinet 2008, S. 760 ff., ebenso wie z. T. im dort zitierten Schrifttum; kritisch dagegen Vosgerau 2008, S. 346 ff.; Schwabe 2007, S. 134 ff. 16 Exemplarisch hierzu am Beispiel Fluglärm BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, 1055 ff. 17 Eine gewisse Sonderstellung nimmt das Atomrecht ein; vgl. zuletzt BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2008, 1012; kritisch dazu Dolde 2009, S. 679 ff. Auch dort gelten die im Folgenden gemachten Aussagen jedoch dem Grunde nach. 18 BVerfGE 39, 1; 88, 203. 19 Vgl. zuletzt am Beispiel des Atomrechts BVerfG, Beschl. v. 29. 07. 2009 – 1 BvR 1606 / 08 –, juris Rn. 19. 20 Siehe zur früheren Herleitung ungeschriebener EU-Grundrechte EuGH, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; Slg. 1974, 491, Rn. 13; nunmehr zur neuen Rechtslage mit der EuGRC Ekardt / Kornack 2010, 111 ff.
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herein kaum. Der EuGH hat Schutzgrundrechte gegen die Gemeinschaft bisher nicht einmal eigens thematisiert. In den Mitgliedstaaten hält er solche Rechte für möglich.21 Freilich muss dem EuGH – in nur geringer Überspitzung – attestiert werden, dass er strukturell nahezu alles unterlässt, was die EU zu irgendetwas verpflichten könnte; vielmehr erscheint der EuGH als von der unausgesprochenen Intention geleitet, EU-Kommission und Ministerrat bei der Findung ihrer Politiken fast vollständig freie Hand zu lassen. Damit fehlt es in der bisherigen Judikatur an jeglichen echten Bezugspunkten für die hiesige Thematik. Dass der EuGH regelmäßig die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Umweltvorgaben einzuhalten, hat nichts mit der Anerkennung von Schutzrechten zu tun, sondern bezieht sich ausschließlich darauf, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, bestimmte Umweltentscheidungen von EU-Kommission, Ministerrat und Parlament national auch wirklich umzusetzen; es geht insoweit also im Kern schlicht um die Durchsetzung des einfachen (und nicht des verfassungsrechtlichen) europäischen Rechts, und dies auch völlig unabhängig vom genauen Inhalt dieses Rechts. Schutzrechte würden dagegen darauf abzielen, die EU-Gesetzgebungsorgane gegen ihren Willen zu etwas zu verpflichten. Dafür fehlt es, soweit ersichtlich, an jeglichen Beispielen, und aufgrund der angedeuteten Intentionen des EuGH liegt die Vermutung nahe, dass sich daran in Zukunft auch nicht allzu viel ändern wird.22 Der Ende 2009 formal in Kraft getretene Art. 37 EuGRC enthält zwar – wie bisher schon der EU-Vertrag und der EG-Vertrag – eine Verpflichtung auf den Umweltschutz; diese ist jedoch nicht als Grundrecht ausgestaltet. Beim EGMR stellt sich die Lage grundsätzlich ähnlich, wenn auch im Einzelnen etwas differenzierter dar. Wie das BVerfG hat der EGMR in Nicht-Umweltfällen durchaus bereits Verpflichtungen der Staaten zu schützendem Handeln aus den Grundrechten hergeleitet, wenngleich nicht häufig.23 Auch hat der EGMR – verwirrender Weise nicht unter Berufung auf das Recht auf Leben und Gesundheit, sondern auf das Recht auf Privatsphäre aus Art. 8 EMRK24 – durchaus bereits etwa Informationsrechte über Umweltschäden25 zuerkannt. Allerdings beschränken sich sämtliche EGMR-Umweltfälle letztlich darauf sicherzustellen, dass im Rahmen von 21 Vgl. etwa EuGH, Slg. 2003, I-5659; Slg. 2004, I-9609; Slg. 1991, 4007; Slg. 1994, 955. Demgegenüber scheint der EGMR – wie unten im Fließtext – von vornherein keine Grundrechtsfunktionenlehre (im Sinne einer Abwehr-Schutz-Scheidung) zu verfolgen, grundrechtliche „Schutz“positionen aber anzuerkennen, wobei deren Reichweite bisher nicht ausbuchstabiert wurde; vgl. etwa EGMR, Urt. vom 08. 07. 2004, 53924 / 00, Rn. 78 und passim; EGMR, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1995, 530 (533). 22 Existent sind natürlich (wenngleich nicht übermäßig viele) Beispiele dafür, in denen der EuGH EU-Rechtsakte aus formalen Gründen, z. B. wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz, kassiert hat. Dass der EuGH neue, von der EU gerade nicht beabsichtigte Rechtsakte eingefordert hätte, hat es so jedoch (wohl) noch nicht gegeben. 23 Zur näheren Analyse auch Ekardt 2011, § 4. 24 Auf diese Vorschrift konzentriert sich folgerichtig momentan die Debatte über EU-Umweltgrundrechte; vgl. etwa Jarass 2005, § 34 Rn. 1 ff.; Uerpmann-Wittzack 2009, § 3 Rn. 19. 25 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 21. 01. 2009, III. Kammer Bsw. Nr. 67.021 / 01.
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Verwaltungsentscheidungen die Anliegen der Individuen angemessen geprüft und beispielsweise die Tatsachenfragen sorgfältig erhoben werden, so zuletzt ausgesprochen am Beispiel Mobilfunk.26 Die Verpflichtung zum Erlass anderer, wirksamerer Gesetze auf der Basis von Schutzrechten, die eine Neuorientierung der gesamten Gesellschaft auslösen würden und nicht lediglich meine Privatsphäre gewissermaßen „von Schadstoffen und Lärm freihalten, ist bisher, soweit ersichtlich, kein Gegenstand bejahender EGMR-Urteile gewesen. Gleichwohl kann konstatiert werden, dass der EGMR vor dem beschriebenen Hintergrund noch am ehesten offen dahingehend sein könnte, Schutzrechte in Bezug auf den Klimawandel anzuerkennen. In jedem Fall müssen rein faktisch vorhandene Gerichtsansichten nicht per se richtig sein, ethisch ohnehin nicht, und auch rechtsinterpretativ nicht; sie „gelten“ auch nicht einfach, denn Urteile entscheiden nur einen konkreten Rechtsstreit, geben aber keine abstrakt-generelle Norm27 vor.28 Deshalb gilt es im Folgenden (und zwar juristisch, also grundrechtsinterpretativ, und nicht etwa rechtspolitisch im Sinne von „eine gesetzgeberische Änderung der Grundrechtskataloge vorschlagend“), eine vielleicht veränderte Interpretation des geltenden Rechts zu erproben und zu analysieren. Wie aber könnte eine intergenerationell und global erweiterte, also stärker nachhaltigkeitskonforme Freiheits- bzw. Grundrechtsinterpretation aussehen, die präziser ist als die recht vage Diskussion um ein Umweltgrundrecht? Dass das Nachstehende keine bloße rechtliche, sondern zugleich eine ethische Perspektive ist, zeigt sich wie gesagt spätestens dann, wenn man vorher begründet, dass Freiheit bzw. die dahinter stehenden Prinzipien Menschenwürde und Unparteilichkeit die universale – und alleinige – Basis gerechter Grundordnungen sind. Darauf wird am Ende dieses Beitrags eingegangen.29 Vgl. EGMR, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2008, 1215 ff. Selbst wo dies in Ausnahmefällen – vgl. etwa § 31 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz – einmal anders geregelt ist, hat diese allgemeine Norm lediglich den Inhalt, dass (hier: auf eine abstrakte Normenkontrolle vor dem BVerfG hin) ein Gesetz in einer ganz konkreten Formulierung verboten wird. Es wird also wiederum nur eine konkrete Konstellation gerichtlich abschließend geklärt (auch dies kann dann zwar „unrichtig“ geschehen, doch sollte in einer liberal-demokratischen Ordnung ein solches Urteil gleichwohl im Normalfall Anerkennung finden, da die Alternative noch weniger freiheitsfreundlich wäre: sie wäre nämlich letzten Endes eine Art von Anarchie). Keineswegs wird z. B. im Rahmen des § 31 Abs. 2 BVerfGG aber abstrakt-generell vorgegeben, dass nicht in jedem Gerichtsverfahren und in jeder Rechtsanwendung von neuem nach der „richtigen“ Rechtsinterpretation gesucht werden muss. 28 Die abstrakt-generelle Norm bleibt vielmehr das Gesetz, die Verordnung, die Verfassung usw. Dass sich die Praxis dennoch häufig – akzeptabler Weise – „an bereits ergangenen Urteilen orientiert“, liegt darin, dass (allein) in dem Fall, dass keine substanziellen Gründe für eine neue Rechtsansicht vorgetragen werden, eine Argumentationslastverteilung zugunsten der bereits judizierten alten Rechtsansicht besteht (u. a. aus Gründen der Rechtssicherheit); vgl. Alexy 1991; zur Rationalität der Rechtsanwendung und den Canones der Rechtsinterpretation Ekardt / Beckmann 2008, S. 241 (244 ff.). 29 Aus Raumgründen wird dies vorliegend aber nicht breit entfaltet; näher dazu Ekardt 2011, §§ 3 – 6; in der Grundstoßrichtung ähnlich Alexy 1995, S. 127 ff. A. a. O. auch dazu, dass erst solche Verfassungstheorien zeigen, warum eine Verfassung wie das Grundgesetz richtig 26 27
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Es lässt sich bei genauer Betrachtung – in Abweichung von der in Deutschland wohl vorherrschenden Meinung – feststellen, dass der in den Grundrechten steckende Grundbegriff Freiheit vom Wortsinn und von der systematischen Stellung im Grundgesetz und in der EuGRC – und letztlich wohl auch in der EMRK – eine komplexere Interpretation als bisher nahe legt, was wesentliche Implikationen im Klimakontext hat.30 Die dabei gewinnbaren Aussagen gelten letztlich also für jedweden nationalen oder transnationalen Menschenrechtsschutz – auch – gegen den Klimawandel. 2. Intertemporale und globale Grundrechtsgeltung, Schutz der Freiheitsvoraussetzungen, Multipolarität der Freiheit Ausgangspunkt bleibt, insoweit ist an der gängigen Sichtweise keine Kritik zu üben, die Idee von Freiheitsrechten als klassisch-liberale Garantien der Selbstentfaltung. Daneben hat die Freiheit jedoch auch eine intertemporale31 und globale32 Dimension.33 Warum? In aller Kürze34: In ihrem Lebenszeitpunkt sind auch junge und künftige Menschen natürlich Menschen – und schon heute sind dies die Menschen in anderen Ländern – und damit Träger der Menschenrechte. Und das Recht auf gleiche Freiheit muss genau in der Richtung gelten, wo ihm die Gefahren drohen – und sie drohen in einer technisierten, globalisierten Welt zunehmend über Generationen und über Staatsgrenzen hinweg. Auch ohne dass dies in der Judikatur bisher thematisiert worden wäre, ergibt sich damit, dass die Grundrechte auch intergenerationell und global gelten, also zugunsten der erwartbaren Hauptopfer eines Klimawandels. Das klassisch-liberale Freiheitsverständnis, welches vor allem die wirtschaftliche Freiheit der hier und heute Lebenden in den Blick nimmt, muss aber auch in andeist – und was ihr Fundamentalbegriff (die Menschenwürde), aus der manches Weitere ableitbar ist, bedeutet (für letzteren Gesichtspunkt, den Inhalt von Würde, gibt es freilich auch oft übersehene verfassungstextliche Anhaltspunkte; dazu unten näher). 30 Es geht also um eine Interpretation sämtlicher Grundrechte. Die hierzu scheinbar nicht passenden Gleichheitsrechte erscheinen letztlich als spezielle Sicherungen der gleichen Freiheit und stehen zum nachfolgend Hergeleiteten folglich in keinem Widerspruch. 31 Ähnlich wie vorliegend Unnerstall 1999, S. 422 ff.; in der Grundtendenz – ohne nähere Begründung – z. B. auch Kloepfer 1993, S. 22 (26 ff.); Murswiek 1985, S. 212; ausführlicher Ekardt 2011, §§ 4, 5; die Argumente werden offenbar nicht bemerkt bei Eifert 2009, S. 211 (214) der deshalb zu Unrecht eine Begründungsschwäche konstatiert und dabei vielleicht den ursprünglich metaphysischen Ansatz von Jonas 1979 vor Augen hat. 32 In die diesbezügliche Richtung auch Giegerich 2004, S. 758 f. 33 Grundrechte zugunsten künftiger Menschen haben bei alledem genau genommen nicht den Charakter aktueller Rechte, sondern den Status von Vorwirkungen künftiger Rechte, was jedoch an der inhaltlichen Relevanz nichts oder nichts Wesentliches ändert; eingehend dazu Unnerstall 1999, S. 52 ff. 34 Ausführlicher zu drei wesentlichen Argumenten Ekardt 2011, § 4; z. T. auch Unnerstall 1999, S. 422 ff.
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ren Punkten ergänzt werden. So müssen die Freiheitsrechte unmissverständlich so interpretiert werden, dass sie auch die elementaren physischen Freiheitsvoraussetzungen einschließen – also einen Anspruch nicht nur auf Sozialhilfe, wie ihn in Deutschland das BVerfG neuerdings anerkennt35, sondern auch auf ein Vorhandensein einer einigermaßen stabilen Ressourcenbasis und eines entsprechenden Globalklimas haben. Denn ohne ein solches Existenzminimum und ohne Leben und Gesundheit gibt es keine Freiheit.36 Dieses Grundrecht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen ist, soweit es um Leben und Gesundheit geht (vgl. Art. 2 Abs. 2 GG, 2, 3 EuGRC, 2, 8 EMRK) ausdrücklich vorgesehen; ansonsten muss es als Interpretation des allgemeinen Freiheitsrechts abgebildet werden (so wie dies auch in ethischer Hinsicht geschehen muss). Entgegen der h. M. wird insoweit die These vertreten, dass der deutsche Art. 2 Abs. 1 GG in Art. 6 EuGRC (bei wortlautkonformer Interpretation) ein Pendant als allgemeines EU-Freiheitsrecht besitzt; gleiches gilt für Art. 5 EMRK und ähnlich strukturierte andere Grundrechtskataloge; zumindest Teile eines allgemeinen Freiheitsrechts sind zudem im Recht auf die Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK unstreitig enthalten. Das liefe dann parallel mit dem am Ende dieses Beitrags zu begründenden allgemeinen ethischen Freiheitsrecht. – Dieses Recht auf Leben, Gesundheit und Existenzminimum – welches auch eine Entsprechung in Art. 11 Abs. 1 IPwskR hat – gilt angesichts des bis hierher Gesagten dann auch intergenerationell und global und bildet den inhaltlichen Gegenstand des Menschenrechtsschutzes gegen den Klimawandel. Ferner bedeutet „Freiheitsschutz dort, wo die Gefahr droht“, dass die Freiheit auch einen Anspruch auf (staatlichen) Schutz vor den Mitbürgern einschließen muss (und dies nicht nur in Ausnahmefällen), also einen Schutz beispielsweise gegen für meine Freiheit und ihre Voraussetzungen bedrohliche Umweltzerstörungen wie den Klimawandel durch den Staat gegen meine Mitbürger. Ohne jenen Punkt gäbe es keinen Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel, da nicht der Staat selbst der primäre Emittent von Treibhausgasen ist; das Problem liegt vielmehr darin, dass der Staat die Treibhausgasemissionen Privater duldet oder genehmigt. Dieser Punkt ist hier ausführlicher herzuleiten, da besonders dieser Punkt so gängigerweise nicht vertreten wird, wie bereits anklang. Doch wenn die Grundrechte Freiheitsschutz vor dem Staat, aber gleichermaßen auch durch den Staat vor den Mitbürgern meinen sollten und Interessenkonflikte jedweder Art folglich regelmäßig nicht als bipolare, sondern als mehrpolige Freiheitskonflikte zu begreifen sein sollten (Multipolarität), dann würde das
Vgl. BVerfGE 125, 175 ff. Auch die völkerrechtliche Tendenz zu „sozialen“ Grundrechten auf die unterschiedlichen Facetten des Existenzminimums verfügt damit über eine theoretische Begründung; über die Rechtsquelle der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (vgl. Art. 38 IGH-Statut) ist diese „Völkerrechtsverfassung“ sogar ohne Rückgriff z. B. auf den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte herleitbar; vgl. Ekardt / Meyer-Mews / Schmeichel / Steffenhagen 2009, S. 42 ff. 35 36
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a) die traditionelle eher objektiv-rechtliche Einordnung der grundrechtlichen Schutzseite (Schutzpflichten statt Schutzrechte, also keine Einklagbarkeit!) und b) die traditionelle Ungleichgewichtung von Abwehr- und Schutzseite der Grundrechte – also die Ausscheidung der Schutzpflichten auf Schutzbereichs- oder Abwägungsebene, soweit kein „Evidenzfall“ vorliegt (wobei unter Evidenzfall etwas verstanden wird, das realistischerweise niemals vorkommt, nämlich die völlig fehlende Regelung eines Rechtsgebiets) – gerade widerlegen (einschließlich der Vorstellung, eine Betroffenheit von Dritten sei womöglich gar als bloßer „Rechtsreflex“ zu werten und gar nicht erst von einem Grundrechtsschutzbereich erfasst). c) Ebenso widerlegen würde die Multipolarität die darauf aufbauende Vorstellung, die Schutzseite der Grundrechte gehe nahezu vollständig in – einem weitgehenden gesetzgeberischen Belieben unterliegenden – verwaltungsrechtlichen Normen auf und entfalte weder bei der verwaltungsrechtlichen Klagebefugnis noch bei der Anwendung des materiellen Rechts eine nennenswerte Relevanz („Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“ ist eine ziemlich bescheidene Umschreibung dieser weitgehenden Schlussfolgerungen37). Mit diesem Punkt ist gemeint, dass gängigerweise die Schutzrechte besonders in Deutschland bisher meist auch nicht als Maßstab klimarelevanter Einzelmaßnahmen angesehen werden, etwa bei der Genehmigung eines Kohlekraftwerkes oder eines Braunkohletagebaues. Doch welche Argumente gibt es für die Multipolarität, und wie ist auf bestimmte bekannte Gegenargumente zu antworten? Anders als in der Judikatur, die fast nie verdeutlicht, ob sie bei ihrer Skepsis gegenüber Schutzgrundrechten die Verfassungsbeschwerdebefugnis, den Grundrechtsschutzbereich oder die Grundrechtsschranken im Blick hat (dies bleibt auch bei der – ephemeren – verwaltungsrechtlichen Heranziehung der Schutzgrundrechte offen), soll es nachfolgend eindeutig um die Frage gehen, inwieweit Grundrechte auf Schutzbereichsebene bestehen (was dann allerdings zugleich eine verfassungs- und verwaltungsrechtliche Beschwerdebefugnis auslösen würde). Auf nötige Abwägungen (die dann z. B. auch erst klären, wie viel „Grundrechtsgehalt“ im Sinne einer grundrechtskonformen Auslegung auf das materielle Verwaltungsrecht, etwa das Ermessen, einwirken kann) ist erst später einzugehen. Erstens folgt die Multipolarität der Grundrechte aus dem Freiheitsgedanken selbst, der das Zentrum liberal-demokratischer Verfassungen ist – und zwar, wie in einer Fußnote angedeutet, philosophisch notwendigerweise. Grundrechte als ele37 Ein reiner „Anwendungsvorrang“ dort, wo das Grundrecht korrekt abgewogen und diese Abwägung dann als einfaches Recht „aufgeschrieben“ wurde, wäre völlig unproblematisch; nur genau die Prüfung, ob das Grundrecht vom einfachen Recht wirklich korrekt umgesetzt würde, darf dann, wenn die Grundrechte prinzipiell gelten, nicht entfallen; vgl. dazu auch anhand des Fragenkreises „abschließende Harmonisierung eines Rechtsbereichs durch EUSekundärrecht“ Ekardt / Schmeichel 2009b, S. 171 (176 ff.).
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mentare Rechte sollen feste Positionen gegen typische Freiheitsgefahren verleihen. Denn damit verwirklichen sie die im Würdeprinzip verkörperte gebotene Autonomie des Individuums. Und diese Autonomie wird nicht nur direkt durch den Staat bedroht, sondern eben auch durch Private, deren Tun der Staat „nur“ genehmigt oder duldet. Wollte man dies bestreiten, müsste man z. B. den Bau einer Industrieanlage für den Betreiber als freiheitsrelevant betrachten, für die Anwohner dagegen nicht. Das klassisch-liberale Denken tendiert in der Tat in diese Richtung, und dies hat die gängige Judikatur letztlich übernommen. Doch der freiheitliche Staat dient gerade dazu, eine möglichst unparteiische, also von Sonderperspektiven unabhängige Konfliktschlichtung zwischen seinen Bürgern zu ermöglichen, also nicht einen bestimmten (z. B. einen stärker wirtschaftlich ausgerichteten) Lebensplan zu bevorzugen. All dies zeigt, dass Schutzrechte existieren, dass Abwehr und Schutz gleichrangig sind – und dass man von Schutzrechten, nicht von Schutzpflichten reden sollte, da andernfalls die Gleichrangigkeit gerade nicht anerkannt würde.38 Die Multipolarität der Grundrechte zeigt sich zweitens in Schranken- bzw. Abwägungsbestimmungen wie Art. 2 Abs. 1 GG, 52 EuGRC39, die ebenso in der EMRK an vielen Stellen vorausgesetzt werden: Diese Normen schreiben als paradigmatische Leitvorschriften liberal-demokratischer Grundrechtskataloge auch ganz konkret rechtlich vor, dass die Handlungsfreiheit durch die „Rechte anderer“ begrenzt wird. Die europäische „Verfassung“ (hier) in Gestalt der EuGRC und der EMRK und auch das deutsche Grundgesetz gehen also davon aus, dass bei konkreten staatlichen Konfliktlösungen nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern explizit unterschiedliche Grundrechte aufeinander treffen. Das dritte Argument ist der Wortlaut von Normen wie Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 1 EuGRC, auf den oben bereits kurz Bezug genommen wurde. Die öffentliche Gewalt hat die Menschenwürde und damit auch die Freiheitsrechte, die gemäß Art. 1 Abs. 2 GG („darum“) um der Würde willen bestehen und darum nach deren Struktur auszulegen sind, zu „achten“ und zu „schützen“. Dieses „Darum“-Verhältnis ist auch in den Materialien zur EuGRC so niedergelegt. Auch die Doppeldimension „Achtung / Schutz“ der Menschenwürde und damit zugleich der Grundrechte – angesichts der eben dargelegten Begründungsfunktion der Würde gegenüber allen Menschenrechten40– zeigt, dass Freiheit von verschiedenen Seiten her beeinträchtigt werden kann, dass sie also Abwehr und Schutz meint. Vor allem aber ergäbe „schützen“ sprachlich keinen Sinn, wenn damit nur gemeint wäre, dass der Staat nicht 38 „Schutz“ im Sinne dieser gesamten Argumentation kann übrigens auch darin bestehen, dass dem Einzelnen eine Leistung, etwa eine Geldleistung zur Sicherung eines Existenzminimums, zugewandt wird. 39 Näher zu dieser Vorschrift Ekardt / Kornack 2010, 111 ff. 40 In Art. 1 Abs. 2 GG sowie in der grundgesetzlichen Abschnittsüberschrift – und ebenso in den Materialien zur EuGRC – heißt es „Menschenrechte“, es sind also nicht nur „einige“ Rechte würdefundiert, wie man vielleicht erwidern könnte, sondern alle. Damit überträgt sich die Menschenwürde-Struktur „gleichermaßen Achtung und Schutz“ auf alle und nicht nur auf einige Menschenrechte.
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selbst direkten Zwang gegen die Bürger ausüben dürfte (sonst könnte sich der Staat statt „Schutz“ mit bloßer Untätigkeit begnügen). Also ist in Normen wie Art. 1 Abs. 1 GG, 1 EuGRC auch der Schutz vor den Mitbürgern gemeint. Und Abwehr und Schutz stehen hier sprachlich gleichberechtigt nebeneinander. All dies impliziert dann erneut, dass es grundrechtlich Abwehr und Schutz gibt und dass Schutzund Abwehrrechte gleich stark sein müssen – und dass man von Schutzrechten, nicht von irgendwie weniger starken bloßen Schutzpflichten sprechen sollte. Das Gesagte gilt, auch wenn (im Interesse eines gewaltenteilig-demokratischen Institutionensystems, welches gerade der wirksamste Freiheitsschutz ist) dieser „Schutz“ nicht als Direktwirkung der Grundrechte zwischen den Bürgern, sondern als Schutzanspruch gegen den Staat zu lesen ist (vgl. explizit Art. 1 Abs. 3 GG, 51 EuGRC). In Deutschland würden viele auf das Gesagte freilich erwidern, die Schutzfunktion der Grundrechte könne doch nur eine objektivrechtliche Funktion ohne Einklagbarkeit und ohne echte Gleichrangigkeit sein, weil sie eben der vom deutschen BVerfG entwickelten Lehre von den Grundrechten als (auch) objektiver Wertordnung entspränge. Doch dieser Einwand vermag nicht zu überzeugen. Erstens widerlegt der Einwand keines der eben gegebenen Argumente. Und zweitens ist die Wertordnungslehre des BVerfG inhaltlich diffus und letztlich unhaltbar – womit sie auch kein (anderes) Schutz-Verständnis begründen kann. Die Wertordnungslehre selbst ist keine Begründung für irgendetwas, sondern nur eine Behauptung, dass Grundrechte nicht nur Abwehrrechte sind, sondern auch andere, dabei in der Stärke allerdings begrenzte, Funktionen haben; damit stellt die Lehre eine bloße Behauptung dessen dar, die man erst einmal begründen müsste, damit sie überzeugen könnte. Gründe für die Wertordnungslehre – jenseits eines recht vagen Hinweises auf eine „Gesamtschau“ grundrechtlicher und staatszielhafter Verfassungsnormen41 – hat das BVerfG nie genannt. Grundrechte als „nur objektive Ordnung“ widersprechen außerdem dem individualistischen Charakter der Grundrechte. Wie wollte man, zumal entgegen den genannten Argumenten, begründen, dass es einen Teil der Grundrechte geben sollte, der nicht subjektiv und damit nicht einklagbar ist? Nicht zutreffend wäre es auch zu behaupten, dass die Anerkennung von Schutzrechten den Bürgern eine bestimmte Form des guten Lebens vorschriebe (oder vorschriebe, man müsse von seiner Freiheit auch Gebrauch machen). Das Gesagte versuchte zu zeigen, (I) dass und warum es grundrechtliche Schutzrechte geben muss und (II) dass es sie als subjektive Rechte geben muss. Und nicht nur dies: Die Argumente – speziell der Nebeneinandernennung von Abwehr und Schutz – machen zugleich deutlich, dass (III) Abwehr und Schutz gleichrangig sein müssen.42 Für den zweiten und dritten Aspekt spricht ferner die seit langem kritiVgl. BVerfGE 4, 7 ff.; 7, 198 (205). Für die Gleichrangigkeit tendenziell schon (nur m. E. ohne vollständige Begründung) Schwabe 2007, S. 134 ff.; Calliess 2001; Koch 2000, S. 503; Vosgerau 2008, S. 346 ff.; auch Murswiek 1985, S. 101 ff. intendiert einen Gleichlauf von Umweltnutzung und Umweltschutz, allerdings nicht durch Ausweitung der grundrechtlichen Schutzseite, sondern durch Beschneidung der grundrechtlichen Abwehrseite (auf Schutzbereichsebene). 41 42
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sierte und bezweifelte Unterscheidbarkeit jener beiden Grundrechtsfunktionen, die die deutsche (in dieser Eindeutigkeit allerdings wohl nur die deutsche) Judikatur meist verwendet43. Speziell die Abgrenzung von Abwehrrechten gegen mittelbare Eingriffe – welche wie die Schutzrechte demjenigen gelten, der letztlich Schutz vor den Mitbürgern durch den Staat sucht – und Schutzrechten zueinander erscheint als kaum sinnvoll klärbar.44 Vordergründig meint das Abwehrrecht gegen mittelbare Eingriffe, welches die Judikatur in wenig konturierten vereinzelten Fällen zuspricht (und welches in der Böckenförde-Schule konsequenterweise wohl teilweise skeptisch gesehen wird), eine Einflussnahme durch die öffentliche Gewalt auf einen Bürger, der sodann die Freiheit eines anderen Bürgers verkürzt. Im Falle der Schutzrechte geht es dagegen scheinbar um ein fehlendes oder nicht ausreichend wirksames staatliches Unterbinden privater Handlungen. Doch wie genau soll sich das eine vom anderen unterscheiden? So kann man anstelle der Annahme von Schutzrechten in mittelbaren Abwehrrechts-Konstellationen stets fragen, warum die Gestattung, Nichthinderung oder Mitwirkung bei privatem freiheitsbeeinträchtigendem Verhalten kein Abwehrrecht wegen mittelbaren Grundrechtseingriffs auslösen sollte (zumal z. B. eine umwelt- oder baurechtliche Genehmigung den Dritten eine Duldungspflicht auferlegt). Auch die Judikatur bietet keine verwertbaren Abgrenzungskriterien an. Viele werden jetzt erwidern: Bei Abwehrrechten könne der Bürger verlangen, dass der Staat genau eine Sache (z. B. „Erlass einer Abrissverfügung gegen mein Haus“) nicht tue. Dagegen könnten die Schutzrechte nur ein allgemeines Handlungsgebot auslösen (z. B. „mehr Schutz vor Schwefeldioxid durch die Anlage X“), bei dessen Erfüllung die öffentliche Gewalt einen Spielraum haben müsse. Doch dass das nicht per se stimmt, zeigt ein Beispiel. Nicht nur der Adressat einer baurechtlichen Abbruchverfügung (unmittelbarer Eingriff) kann sagen: „Ich will ganz genau diese Verfügung loswerden.“ Genauso gut kann der von einer Genehmigung betroffene Nachbar sagen: „Die Genehmigung soll weg.“ Es geht jeweils um genau eine Handlung – und zwar in letzterem Fall unabhängig davon, ob man dies als mittelbare Eingriffsabwehr oder als Schutz-Ansinnen bezeichnet45. Abwehr von mittelbaren Eingriffen und Schutz sind also nicht sinnvoll scheidbar; letztlich verwendet die Judikatur diese „Scheidung“ wohl auch eher als Schein-Rechtfertigung, um der einen Drittklage Bedeutung beizumessen, der anderen dagegen nicht. Eine solche Bedeutung wird Drittklagen primär bei wirtschaftlicher Betroffenheit zugemessen (etwa in den Fällen öffentlicher Warnungen).
43 Die folgenden Einwände werden m. E. nicht widerlegt durch die Klärungsversuche von Dietlein 1992, S. 87 ff.; Gellermann 2000, S. 452 und passim; Steinberg S. 71 ff., 307 ff.; ebenso gilt dies gegenüber Ladeur 2007, S. 1 ff. 44 Vgl. auch Dietlein 1992, S. 89 f.: „Die von der Rechtsprechung entwickelten Lösungsansätze muten zufällig und ergebnisorientiert an“ – unter Hinweis etwa auf BVerfGE 39, 1 (42); 55, 349 (363); 56, 54 (61); BGHZ 64, 220 (222). 45 Die Möglichkeit einer mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte wird durch das Voranstehende und das Folgende übrigens nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt; dazu Ekardt 2010, § 1 C. I.
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Die somit zu konstatierende Ununterscheidbarkeit ist ein weiteres Argument dafür, dass die klassisch-liberale wirtschaftliche Freiheit den „Umweltgrundrechten“ nicht vorgehen kann und folglich auch nicht gegen einen Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel sprechen kann. Zumindest ist sie ein Argument dafür, dass sich die Judikatur nicht in eine camouflierende Scheidung von Abwehrrechten gegen mittelbare Eingriffe versus Schutzpflichten retten kann, um den Grundrechtsschutz im einen Fall zu bejahen und im anderen Fall weitgehend zurückzustellen (und dabei oft von einem „bloßen Rechtsreflex“ zu sprechen, was überhaupt nichts besagt: Warum sollte es denn für ein Grundrecht nicht relevant sein, wenn sein Freiheitsbereich kausal aufgrund einer staatlichen Entscheidung beeinträchtigt wird?). An alledem ändert auch die Praxis der (insbesondere deutschen) Rechtsprechung nichts, eine (auch Grund-)Rechtsbetroffenheit tendenziell dann nicht anzunehmen, wenn eine „Allgemeinheit“ betroffen ist, wie dies gerade beim Klimawandel naturgemäß der Fall ist. Denn ob ein Recht beeinträchtigt ist, kann nicht davon abhängen, ob auch andere beeinträchtigt sind. 3. Umweltgrundrechte, Demokratie, Gewaltenteilung – Einwände gegen echte Schutzrechte als Missverständnisse über die verfassungsrechtliche Abwägung Freilich sieht sich ein Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel respektive eine multipolare Freiheitskonzeption potenziell noch einer Gruppe weiterer Einwände ausgesetzt, die alle miteinander zusammenhängen und die deshalb sinnvoll nur im Gesamtzusammenhang zu behandeln sind. Diese Einwände lauten sinngemäß: Schutzrechte würden die demokratischen Parlamente entmachten; und es gäbe in „Schutzfällen“ gegenüber „Abwehrfällen“ per se größere Spielräume.46 Indem darauf eingegangen wird, wird zugleich erläutert, warum in dieser Kritik zwar mehrere unzutreffende Vorannahmen enthalten sind – warum aber gleichwohl Spielräume im Rahmen der Lehre von den Abwägungen zwischen kollidierenden Freiheitssphären demokratisch auszufüllen sind. Damit kann zugleich eine Abwägungslehre der (hier: Umwelt-)Grundrechte skizziert werden, die in einer unten näher zu betrachtenden Weise auch auf das einfache Recht der jeweiligen Rechtsordnung ausstrahlt. Erst durch die Betrachtung der Abwägungsebene wird deutlich, wozu die Nationalstaaten und die EU klimapolitisch durch die Menschenrechte letztlich konkret verpflichtet sind. Praktisch geht es damit um zweierlei. Es wird sich zeigen, dass der Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel sich einerseits nicht in beliebigen politischen Gestaltungsspielräumen auflösen darf, wie dies bisher gängigerweise hingenommen wird. Andererseits darf aber der Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel nicht die Abwägungsfrage ausklammern und damit, wie zuweilen in der transnatio46 Zu weiteren Einwänden (angeblich drohende „Klageflut“ und „Schnüffelei“ unter den Bürgern) vgl. Ekardt 2010, § 5 A.– B.
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nalen Umweltgrundrechtsdiskussion, den Eindruck erwecken, es gäbe die Abwägungsproblematik überhaupt nicht. In der transnationalen Umweltgrundrechtsdiskussion taucht nämlich häufig die Vorstellung auf, dass generell Eingriffe in Grundrechte in aller Regel ohne detailliert abschichtende Prüfung von Abwägungsregeln gerechtfertigt sind (so lesen sich viele Urteile von EuGH und EGMR47) – oder die Debatte wird umgekehrt, dann aber ohne jeden Bezug zur Rechtsprechung und meist ohne konkrete Schlussfolgerungen, sondern eher auf dem Niveau wohlklingender Proklamationen, so geführt, als sei jede Beeinträchtigung eines Grundrechts zugleich eine Verletzung dieses Grundrechts.48 Schaden also Schutzrechte – und damit Menschenrechte gegen den Klimawandel – der Demokratie? Dies wirft die alte Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Demokratie auf. Nicht nur einige Juristen, sondern auch manche Philosophen halten (z. T. implizit) die Demokratie gegenüber der Freiheit sogar für latent vorrangig. Richtig ist dabei zunächst noch, dass – so z. B. Jürgen Habermas – Freiheit und Demokratie sich gegenseitig fördern.49 Eine gewaltenteilige, durch Prinzipien eingehegte Demokratie verspricht jedoch ein Mehr an Freiheit, Rationalität und Unparteilichkeit als eine „radikale“ habermasianische, die die Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine reine Verfahrenskontrolle reduziert; genau deshalb sind Verfassungen wie das Grundgesetz eben gewaltenteilig und nicht radikaldemokratisch strukturiert. Gerade die Generationengerechtigkeit und die globale Gerechtigkeit (und damit die Nachhaltigkeit), also die Freiheit der jungen und nach uns kommenden Menschen, spricht gegen die radikale Demokratie. Denn die Demokratie ist für künftige und junge und räumlich entfernt lebende Menschen kein Akt der Selbst-, sondern der Fremdbestimmtheit. Denn sie sind heute keine Beteiligten der Demokratie. Vor diesem Hintergrund ist zunächst einmal die multipolaritätskritische Sichtweise unzutreffend, dass eine liberal-demokratische Verfassung eine Art allmächtiges Parlament impliziere (was multipolare Rechte, die Gesetzgebung und Verwaltung ja zusätzliche Bindungen auferlegen, ausschlösse). Geboten ist nicht dies, sondern vielmehr ein System der gewaltenteiligen Ausbalancierung staatlicher Macht im Interesse eines bestmöglichen Freiheitsschutzes und eines Maximums an Rationalität und Unparteilichkeit.50 Zur Sicherung dieser Prinzipien sind die Staatsgewalten 47 Zur notwendigen Weiterentwicklung der europarechtlichen Prüfung von Grundrechten sowie von Grundfreiheiten näher Ekardt / Schmeichel 2009b, S. 171 (197 ff.); zum Verhältnis der „drei Verfassungsgerichte“ zueinander mit einer neuen Perspektive Ekardt 2011, § 7 C. 48 Diese beiden Extremvarianten dominieren auch im Kontext der Debatte über „WTO und Menschenrechte“. Zu dieser Debatte (mit einem eigenen Ansatz) Ekardt / Meyer-Mews / Schmeichel / Steffenhagen 2009, S. 42 ff. 49 Die Überhöhung des Demokratieprinzips bei Habermas 1992, S. 109 ff. und 537 ergibt sich teilweise daraus, dass er anders als Kant oder Rawls das Menschenwürde- bzw. Autonomieprinzip nicht aus der Rationalität folgen lässt, sondern als dogmatisch gesetzt sieht. 50 Vgl. Ekardt 2011, § 3 dazu, dass die Kantsche These zutrifft: dass nämlich Freiheit (und gewaltenteilige Demokratie) auf der Basis von Menschenwürde und Unparteilichkeit ein universales Rationalitätsgebot darstellt, welches der – gerade auch postmodern-konstruktivistischen – Kritik standhält (und zwar, einschließlich aller daraus möglichen Ableitungen wie
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da. Sowohl das europäische und nationale Gewaltenteilungsprinzip als auch die Existenz starker Verfassungsgerichte zeigen denn auch, dass das Parlament gerade nicht allmächtig sein soll. Das mündet dann aber in eine Demokratie nicht als Gegenprinzip zur Freiheit, sondern als Konfliktlöser zwischen den Freiheiten, was weitere Konfliktlöser wie Gerichte gerade sinnvoll erscheinen lässt. All dies gilt insbesondere dann, wenn sich zeigen lässt, dass die Freiheit nur um der Freiheit und der Freiheitsvoraussetzungen willen eingeschränkt werden darf – von denen die elementaren, die oben gerade als im Klimakontext relevant erwiesen wurden, subjektiviert sein mögen, die sonstigen, nur „freiheitsförderlichen“ Bedingungen (wie etwa die Kulturförderung oder die Kindergartenförderung) dagegen nicht.51 Wir haben bis hierher mehrere Dinge gesehen, teilweise auch schon vor der expliziten Erörterung zur Demokratie: Die Demokratie hat auch ohne Multipolarität ohnehin Grenzen; nötige Abwägungen zwischen kollidierenden Belangen gibt es ohnehin; und die Betrachtung der Grundrechtsfunktionenlehre hat zudem ergeben, dass sich Abwehr- und Schutzkonstellationen eben gerade nicht per se unterscheiden. Dies gilt es jetzt noch weiter auszuführen. Bei der Abwägung kollidierender Positionen hat das Parlament in der Tat eine gewisse, wenngleich keine absolute Prärogative gegenüber der Justiz. Soweit in diesen Abwägungen nämlich aus den kollidierenden Belangen unterschiedliche Abwägungsergebnisse herleitbar sind – und dies ist der Normalfall –, ist ein (ab-)wählbarer Entscheider die rationale und freiheitsfreundliche Variante: also ein Parlament und kein Gericht. Das Parlament muss sich dabei allerdings im Rahmen bestimmter, aus den Grundrechten selbst herleitbarer Abwägungsregeln bewegen (man kann auch von multipolarer, allerdings durch weitere Regeln konkretisierbarer Verhältnismäßigkeitsprüfung sprechen52); wir kommen auf einige dieser Regeln noch näher zurück. Problematisch an der bisherigen deutschen Debatte ist, dass viele daraus, dass es meist nicht „genau ein“ (womöglich noch quantifizierend-ökonomisch ermitteltes) Abwägungsergebnis geben kann, irrtümlich schließen, es gäbe keine Multipolarität (also keine gleichrangigen Abwehr- und Schutzrechte) und keine weiteren Abwägungsregeln jenseits von Geeignetheit / Erforderlichkeit.53 Wir werden noch sehen, dass das nicht zutrifft. z. B. des Freiheitsvoraussetzungsschutzes und der Abwägungsregeln, das einzige Rationalitätsgebot im Bereich von Moral und Recht). 51 Demgegenüber scheinen z. B. Alexy 1995, S. 127 ff. – und definitiv Habermas 1992, S. 109 ff. – den Kreis möglicher Belange, die eine demokratische Politik zu ihrem Anliegen machen kann, gerade nicht einzuschränken. Dagegen schließt der vorliegende Ansatz einen Schutz des Menschen vor sich selbst oder eine Intervention der öffentlichen Gewalt in den Bereich des guten Lebens aus – was eigentlich auch auf der (aber selten klar begründeten und selten klar gezogenen) Linie liberaler Demokratien liegt. 52 In diese Richtung auch Calliess 2001, S. 373 ff.; Susnjar 2010. 53 Besonders prominent Böckenförde 1991b, S. 188 ff. und passim. Unklar ist die Linie des BVerfG, welches teilweise wie der EuGH mit Abwägungen verfährt (im Wesentlichen nur Prüfung legitimer Zweck – sehr großzügig –, Geeignetheit, Erforderlichkeit), teilweise wie hier vorgeschlagen mit einer (größeren) Menge von Abwägungsregeln operiert, teilweise aber auch „genau ein“ Abwägungsergebnis dem Gesetzgeber vorzugeben scheint (z. B. beim
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Das Gesagte gilt jedenfalls ganz gleichermaßen und unabhängig davon, mit welchem Politik- bzw. Rechtsbereich man es zu tun hat. Die (allgemein fraglos für eine Grundrechtsfrage gehaltene) Entscheidung über die richtigen Gesetze im Bereich der Sicherheits- oder Anti-Terror-Politik folgt damit eben gerade nicht anderen Regeln als, dies ist vorliegend der Gegenstand des Interesses, die Klimapolitik. Der Gesetzgeber kann jeweils unterschiedliche Entscheidungen treffen, und die Aufgabe von Verfassungsgerichten liegt (allein) darin, eine Rahmenkontrolle anhand einer Reihe aus den Freiheitsrechten selbst herleitbarer Abwägungsregeln vorzunehmen. Der Sache nach geht es dabei stets darum, dass eine Kontrollinstanz wie ein Verfassungsgericht die Einhaltung von Abwägungsregeln überprüft, woraufhin ein verfassungsändernder Gesetzgeber (teilweise) mit einer Verfassungsänderung reagieren kann; oder dass eine Kontrollinstanz wie ein einfaches Gericht die Einhaltung des gesetzgeberischen Willens durch die Behörden bzw. die Einhaltung von Abwägungsregeln für die an die Behörden weitergereichten Abwägungen prüft usw. Arbeitet man die Abwägungsregeln genau aus, wird die Gewaltenbalance sogar weniger „jurisdiktionsstaatlich“ als bisher (wo BVerfG bzw. EuGH letztlich nach Gusto entscheiden können, ob von weiten oder – wie bei den Abtreibungsentscheidungen – von „keinen“ Parlamentsspielräumen ausgegangen wird). Gehen muss es dabei um ein multipolar freiheitsförderliches (einerseits machtmissbrauchsfeindliches, andererseits die Demokratie als Schutzschild der Freiheit betrachtendes) und zudem unparteilichkeitsadäquates Ping-Pong mit einem außerdem rationalitätsförderlichen, da ein Maximum an guten Gründen mobilisierenden „Mehrebenendiskurs“ zwischen den Staatsgewalten. Zunächst darf ein Verfassungsgericht gegen ein Parlament nie „Tu-genau-das“-Urteile erlassen, sondern muss sich immer auf „So-wie-bisher-jedenfalls-nicht“-Urteile beschränken. Das BVerfG z. B. darf dem deutschen Bundestag also – um ein für den Klimaschutz wesentliches Beispiel zu verwenden – nicht sagen: „Steige in viereinhalb Jahren aus der Kohlenutzung aus.“ Es kann aber sagen: „Der bisherige Ausstieg ist zu langsam; entscheide die Frage unter Berücksichtigung folgender Tatsachenlagen, normativer Belange und Verfahrens- sowie Abwägungsregeln bis zum XX.YY.2010 neu.“ Umgekehrt könnte das Verfassungsgericht auf die Klage eines Energiekonzerns hin sagen: „Der Gesetzgeber darf natürlich aus der Atomverstromung aussteigen – aber er muss sich dabei in einem gewissen Rahmen halten, den er aber leider überschritten hat, indem er angeordnet hat, innerhalb von drei Tagen aus der Atomenergienutzung auszusteigen.“ Durch eine solche Linie, die weder dem Parlament die Prärogative nimmt noch dem Verfassungsgericht eine übergroße und unklare Macht gibt, werden alle Staatsgewalten ihren durch Freiheit, Demokratie, Unparteilichkeit und Rationalität definierten Aufgaben am besten gerecht. Dies gilt um so mehr, als das Ping-Pong, wie eben durch den obigen einleitenden Hinweis auf das „Weiterreichen“ von AbEmbryonenschutz); auch dies ist eine Folge der unklaren Schutzpflichten-Dogmatik; kritisch dazu auch Steinberg 1996, S. 1995 ff.; Susnjar 2010. Siehe konkret dazu, wie in vereinzelten Fällen (allerdings nicht aus dem Menschenwürdeprinzip) auch einmal totale Abwägungsverbote hergeleitet werden können, Ekardt 2011, § 4 B. III.
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wägungen durch den Gesetzgeber kurz skizziert, auch die Exekutive und die einfachen Gerichte einbezieht. Dabei können Behörden auf eine gerichtliche Entscheidung mit neuen Entscheidungen reagieren, die dann ihrerseits wieder der Kontrolle unterliegen; und ebenso verhält es sich zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit; und auch der Gesetzgeber kann auf einfachgerichtliche Entscheidungen z. B. durch Gesetzesänderungen reagieren usw. So entsteht ein komplexes Geflecht von Konkretisierungs- und Kontrollzuständigkeiten.54 Die genannten Prinzipien sprechen hierbei dafür, wie andernorts näher thematisiert55, dass die Gerichte über normative Abwägungsfragen, schwierige Normtatbestandsinterpretationen und unsichere Tatsachenfragen nur eingeschränkt urteilen dürfen – strikt dürfen sie dagegen urteilen über einfache Normtatbestandsinterpretationen, Verfahrensfragen und sichere Tatsachenlagen. Am Kohlebeispiel sieht man, dass in komplexen Konstellationen wie eben beim Klimaschutz die Abwehrseite der Grundrechte keinesfalls „übersichtlicher“ ist als die vermeintlich kompliziertere Schutzseite. Der Gesetzgeber kann z. B. den „Abwehr“rechten von Energieversorgungsunternehmen in ganz unterschiedlicher Weise Rechnung tragen, wenn er aus der Nutzung der Kohle (oder auch der Atomenergie) aussteigen möchte. Er kann Billigkeitsentschädigungen festsetzen, Übergangsfristen gewähren usw. Und ganz genauso sieht es für mögliche Schutz-Kläger aus – man kann alle Atomkraftwerke abschalten, sie anderweitig sicherer bauen, stärkeren Schutz gegen Terroranschläge treffen u. v. m. Diese Komplexität ist aber eben grundrechtsfunktionenunabhängig. Und sowohl bei „Abwehr“ als auch bei „Schutz“, wenn es diese Funktionen denn gibt, ist jedenfalls klar: Die Gesetze für mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit muss in einer gewaltenteiligen Demokratie das Parlament machen, nicht ein Gericht.56 Dennoch lässt sich aufgrund des Gesagten erst einmal festhalten, dass ein Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel grundsätzlich besteht – und dass entsprechende Urteile von Verfassungsgerichten sinnvoll vorstellbar sind.
54 Ein grundsätzliches, aber häufig anzutreffendes Missverständnis ist es nach alledem, sich so auszudrücken, als hätten die Gerichte als solche eine Abwägung vorzunehmen (obwohl den Gerichten nur vereinzelt vom Gesetzgeber eine Abwägung „weitergereicht“ wurde, etwa an die Zivilgerichte für die Konkretisierung der zivilgerichtlichen Generalklauseln im Lichte kollidierender Grundrechte – wobei ein Verfassungsgericht diese Zivilgerichtsurteile dann wieder nur darauf überprüfen darf, ob die Abwägungsregeln eingehalten sind). Nicht ausreichend deutlich wird dies z. B. bei Hofmann 2007, S. 470 (471 f.). 55 Vgl. dazu Ekardt 2010, § 5. 56 Deshalb sind Urteile wie die BVerfG-Judikate zum Embryonenschutz oder zur Familienbesteuerung problematisch; vgl. insbesondere BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff. Vielleicht sollte daher ein Verfassungsgericht stets wie das House of Lords in Großbritannien ohne Gesetzesaufhebung auskommen (also auch in so genannten Abwehrfällen mit Nachbesserungsaufträgen statt mit Kassationen arbeiten). Richtig könnte es zumindest sein, die Gesetzesaufhebung als begründungsbedürftigen Ausnahmefall zu sehen – und ansonsten mit „Änderungsaufträgen“ der Justiz ans Parlament auszukommen, ohne selbst ein Gesetz aufzuheben oder einen Gesetzeswortlaut zu diktieren.
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IV. Klimaschutz als Abwägungsproblem kollidierender Grundrechte 1. Abwägungsregeln, Vorsorge und das Problem „absoluter“ Mindeststandards Darauf aufbauend57 kann näher entwickelt werden, welches – in Ansehung der möglichen politischen Abwägungen – die konkreten Verpflichtungen sind, die die Politik an Ansehung des Klimawandels letztlich treffen. Erst wenn festgestellt ist, wie viel von der grundsätzlichen, bis hierher hergeleiteten Klimaschutzverpflichtung übrigbleibt, wird deutlich, wozu die Politik einklagbar in puncto Klimawandel verpflichtet ist.58 Abwägungen sind – wie bereits angesprochen – (auch) bei (Umwelt-)Grundrechten unausweichlich, und sie sind ganz generell nichts Sensationelles. Um es etwas plastischer zu formulieren: Indem die Politik die Industriegesellschaft zulässt, Industrieanlagen genehmigt, den Autoverkehr zulässt usw., nimmt sie sehenden Auges statistisch Tote, also Beeinträchtigungen des Rechts auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen, aufgrund der freigesetzten Luftschadstoffe usw. in Kauf. Dies geschieht in Abwägung mit unser aller Konsumfreiheit und mit der wirtschaftlichen Freiheit der Konsumenten. Man spricht insoweit meist camouflierend von stochastischen Schäden. Das meint statistische Krankheits- und Todesfälle, die jedenfalls langfristig und in Kombination mit anderen Schadensursachen im Gefolge der industriegesellschaftlichen Lebensform auftreten. Da es gerade keine allgemeine Formel „Schädige niemanden“ (neminem laedere59) gibt (weil ansonsten letztlich nahezu alles verboten wäre, denn überaus viele menschliche Handlungen sind auf irgendeinem Wege für irgendjemanden unvorteilhaft), ist dies für sich genommen aber gerade nicht skandalös. Das durchaus Absurde liegt vielmehr in Schizophrenien wie „wir wollen mehr Klimaschutz und trotzdem ständiges Wirtschaftswachstum“, also in politischen Formelkompromissen, die die nötigen schmerzlichen Abwägungen gerade leugnen.60 57 Der deutsche Staat oder die EU können das Bestehen des Grundrechtsschutzes bei alledem auch nicht so zurückweisen, dass es auch Urheber des Klimawandels in anderen Ländern gäbe („fehlende Zurechenbarkeit“). Denn gleichwohl ist die wesentliche Mitwirkung Europas am Klimawandel – sowohl durch eigene Emissionen als auch durch den Einfluss auf die internationalen Verhandlungen – unzweifelhaft. Zur völkerrechtlichen Judikatur und Literatur zur Zurechenbarkeit (anhand des nicht-grundrechtlichen Verbots grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen) vgl. Oschmann / Rostankowski 2010, 59 (63 ff.). 58 Dass ökonomische Effizienztheorien keine gute Alternative zur nachfolgend dargestellten Abwägungstheorie bilden, wird dargelegt bei Ekardt 2001, § 5. 59 M. E. übergangen z. B. bei Hochhuth 2000. 60 Insgesamt werden im Schrifttum selten Abwägungsregeln unter Einbeziehung der Schutzrechte entwickelt; vgl. aber Calliess 2001, S. 373 ff. und Cremer 2008, 102 ff. – Dazu, dass Nachhaltigkeit in einer physikalisch endlichen Welt (trotz der Potenziale z. B. der Solarenergie) nicht mit dauerhaftem Wirtschaftswachstum vereinbar ist, vgl. Daly 1996; Ekardt 2011, § 1 B.; Wuppertal-Institut 2009.
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Welche Abwägungsregeln im Einzelnen gelten, lässt sich im Kern bereits aus den Freiheitsrechten selbst ableiten. Dies zeigt sich zunächst für die Grundregel von Abwägungen, die in der gewohnten Begrifflichkeit der Abwägung als Verhältnismäßigkeitsprüfung meist unter der Überschrift „legitimer Zweck“ thematisiert wird: dass das Abwägungsmaterial einerseits vollständig sein muss und andererseits keine unzulässigen Belange enthalten darf. Wenn die andernorts näher begründete Vermutung zutrifft, dass die Selbstbestimmung respektive die neu interpretierte Freiheit – und alles, was daraus folgt – das einzige begründbare Gerechtigkeitskriterium und der einzige mögliche Regelungsgegenstand staatlichen Handelns ist, kann man auch relativ leicht als Abwägungsregel angeben, welches das (allein) zulässige Material gerechter Abwägungen ist: nämlich eben die Freiheit aller Beteiligten, die wie gezeigt die elementaren Freiheitsvoraussetzungen einschließt. Neben diesen Menschenrechten sind solche Belange zulässige Abwägungsgegenstände, die die Freiheit fördern, aber nicht zwingend für sie erforderlich sind und die deshalb – da nicht logisch im Freiheitsbegriff enthalten – keine Menschenrechte sind (z. B. Kulturförderung oder die Schaffung von Kindergartenplätzen).61 Für all dies spricht neben der alleinigen Begründbarkeit des Freiheitsprinzips auch: Nur so wird deutlich, dass sowohl autoritäre Freiheitsbeschränkungen als auch eine wirtschaftsliberal-postmoderne Ausblendung der Freiheitsvoraussetzungen unzulässig sind. Interventionen in Fragenkreise, die gar nicht die Freiheit mehrerer Menschen betreffen – also in den Bereich des guten Lebens –, sind damit ausgeschlossen.62 Ebenso nicht stimmig wäre m. E. die heutige Praxis, ganz allgemein „das Gemeinwohl“ (oder „das öffentliche Interesse“) zum zulässigen Abwägungsbelang zu erklären. Denn die Rede vom Gemeinwohl erscheint letztlich inhaltsleer, damit letzten Endes beliebig, rechtsdogmatisch folglich überflüssig und potenziell autoritär.63 Und „das Gemeinwohl“ zeigt auch nicht, um was es eigentlich geht: um unser aller 61 Auch wenn der Bezug zur Freiheit hier selten hergestellt wird, so dürfte doch unstreitig sein, dass die „bloß freiheitsförderlichen“ Bedingungen jedenfalls keine Menschenrechte darstellen – es gibt ein Grundrecht auf das Existenzminimum, aber kein Grundrecht auf einen Kindergartenplatz. Diese Aussage liegt also, trotz der neuen Begründung und der neuen Begrifflichkeit, auf der Linie der gängigen deutschen Diskussion zum Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG): Der Gedanke eines „Existenzminimums“ ist notwendiger Weise nicht beliebig weit zu fassen, sei es nun in sozialer oder ökologischer Hinsicht. Allerdings sind die Freiheitsvoraussetzungen Leben und Gesundheit (in Deutschland und der EU) bereits explizit als grundrechtlich gekennzeichnet. Die Diskussion, ob ein Randbereich von Gesundheit „nicht elementar und daher nicht vom Grundrechtsschutzbereich erfasst“ ist, wäre damit wenig praxisrelevant. 62 Ausführlich zu einer teilweise ähnlichen Abwägungsregel-These (allerdings mit anderen Standards und einer Standard-Begründung eher anhand des Rechtsstaatsprinzips als anhand der Freiheitsrechte, was deren Herleitung indes erschwert und folglich dazu führt, dass der Klarheitsgewinn von Abwägungsregeln schrumpft) Susnjar 2010, Kap. 5. 63 Hierzu und zum Folgenden m. w. N. Ekardt 2010, § 1 E. (dort auch zur autoritären bis totalitären Rechtsgeschichte des Begriffs); vgl. demgegenüber für Versuche, den Begriff als (nicht inhaltlich gefüllte) Formel für nötige Abwägungen und Verfahrensschritte beizubehalten: Häberle 1970; Uerpmann 1999.
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Selbstbestimmung. Vor diesem Hintergrund sollte m. E. das „Gemeinwohl“ aus rechtlichen Argumentationen entfernt und das Wort, soweit es in Gesetzen noch explizit erscheint, so interpretiert werden, dass der Schutz von Freiheit und Freiheitsvoraussetzungen gemeint ist. Der große Teil dessen, was herkömmlicher Weise Gemeinwohl heißt, lässt sich ohnehin Freiheitsvoraussetzung nennen (etwa Kulturförderung, die nicht-existenziellen Teile von Sozialstaatlichkeit, Schutz der Biodiversität usw.) – nur dass der neue Begriff klarere Konturen und eine echte Begründung jener Belange anzubieten hat. So könnte der Gemeinwohlbegriff u. U. teilweise auf seinen ursprünglichen Sinn zurückgeführt werden: Es muss um Interessen gehen, die in einem gerechten Staat Beachtung verdienen. Gerade das wäre dann aber genauer zu überdenken und zu prüfen und nicht salvatorisch mit der Formel vom Gemeinwohl zu proklamieren – die womöglich nur das Fehlen wirklicher Gründe tarnt (und damit der Rationalität und Unparteilichkeit staatlicher Entscheidungen abträglich ist). In der europäischen und auch in der deutschen Rechtsprechung fehlt eine solche klare Bestimmung bisher indes, freilich ohne Begründung.64 Im Kern hat man es beim Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel mit einer Kollision der elementaren Freiheitsvoraussetzungsgrundrechte mit den wirtschaftlichen Freiheitsrechten zu tun, wie sie z. B. in Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG geregelt sind. Selbstverständlich ist auch die wirtschaftliche Freiheit ein anerkannter nationaler, europäischer und völkerrechtlicher Grundrechtsbelang. Schutzrechte im Umweltschutzkontext fallen nun nicht etwa dadurch für den Klimawandel und sonst (meist) in Umweltfällen aus dem zulässigen Abwägungsmaterial heraus (bzw.: Schutzrechten fehlt es nicht etwa schon deshalb an der grundrechtlichen Betroffenheit ihres Schutzbereichs), dass Schutzrechte häufig bloße Grundrechtsgefährdungen betreffen. Zweifellos sind künftige Klimawandelsentwicklungen per se nicht exakt prognostizierbar und damit „unsicher“. Dennoch ginge jener Einwand fehl, weil „nur mögliche“ Grundrechtsbeeinträchtigungen zumindest bei hochwertigen Grundrechten und drohender Irreversibilität der „möglichen“ Schädigung eben gerade nicht unbeachtlich sind, auch wenn die deutsche Judikatur – indem sie, anders als die europäische Judikatur, die Vorsorge (also „Risiken“ bzw. „unsichere Beeinträchtigungen“) meist für uneinklagbar erklärt – implizit voraussetzt.65 Andernfalls würden die Grundrechte nicht länger das leisten, was überhaupt der Sinn juridifizierter Grundrechte ist: einen Autonomieschutz genau an der Stelle zu garantieren, wo der Autonomie die Beeinträchtigungen drohen. Und diese drohen nicht nur und nicht in erster Linie von der öffentlichen Gewalt. Dafür spricht auch, dass Gefahr und Vorsorge gar nicht sinnvoll scheidbar sind, wie sich andernorts erwies.66 Es sei hier auch daran erinnert, dass die bisherigen KlimaVgl. dazu Grabenwarter 2009, § 18 Rn. 12 f. Vgl. statt vieler BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1995, 995 ff.; nicht wahrgenommen bei Couzinet, DVBl 2008, 760 ff.; differenzierend Calliess, Rechtsstaat, S. 244; im Einzelnen zum Diskurs über Gefahrenabwehr und Vorsorge Ekardt 2011, § 5 C. II. 3. 64 65
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wandelsprognosen nicht nur „zu pessimistisch“ sein könnten, sondern dass vielmehr, wie andernorts dargelegt, einiges dafür spricht, dass die Klimawandelsprognosen bisher eher noch zu optimistisch ausgefallen sind – dass also die drohende Menschenrechtsbeeinträchtigung durch den Klimawandel eher drastischer ausfällt als bisher vermutet.67 Ebenso ist daran zu erinnern, dass wegen der ausgehenden fossilen Brennstoff-Ressourcen viele Klimamaßnahmen (wie der Ausbau erneuerbarer Energien) ganz unabhängig vom Klimaschutz sinnvoll sind und bleiben. Es ist also einem neuen Urteil des deutschen BVerfG darin zuzustimmen, dass ein Grundrechtsschutz auch gegen „nur mögliche“ Grundrechtsbeeinträchtigungen besteht.68 Nachdrücklich kritisch anzumerken ist freilich, dass das BVerfG dies bisher immer nur abstrakt anerkennt, in allen konkreten Fällen jedoch de facto Klagen so entscheidet, als würden „unsichere Prognosen“ eben doch per se zu einem Entfallen des Grundrechtsschutzes führen; denn regelmäßig wird insoweit dem Gesetzgeber bisher eine nahezu beliebige Entscheidungsmacht zugestanden, inwieweit ein Handeln bei unsicheren Grundrechtsbeeinträchtigungen geboten ist. Dies kann jedoch vor dem Hintergrund der eben angeführten Argumente für die Vorsorge so nicht überzeugen. Vielmehr ist Vorsorge grundsätzlich geboten und kann nur insoweit entfallen, wie dies im Rahmen der weiteren zu erörternden Abwägungsregeln möglich ist. Nachstehend werden einige dieser Abwägungsregeln kurz hergeleitet, um sodann im übernächsten Abschnitt festzustellen, inwieweit daraus eine Verpflichtung zu einer anspruchsvolleren nationalen und transnationalen Klimapolitik erwächst. Ferner folgen die bekannten Abwägungsregeln der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Freiheitsverkürzung zugunsten der Belange anderer Beteiligter, unmittelbar aus dem multipolaren Freiheitsprinzip: Es darf eben nicht dem einen etwas an Freiheit genommen werden, was gar keinem anderen Freiheitsträger zugute kommt. Die Angemessenheit als letzter Schritt im Rahmen der konventionellen Verhältnismäßigkeitsprüfung kann ferner als Dach über eine Reihe weiterer Abwägungsregeln begriffen werden, die ebenfalls aus dem Freiheitsprinzip folgen. Eine Regel davon lautet, dass nicht ein Belang evident zu einseitig zugunsten anderer Belange zurückgestellt werden darf; auch dies folgt wieder aus dem Gedanken, dass die Freiheit insgesamt maximiert werden soll; wobei dies „tödliche“ Abwägungen im Einzelfall, wenn ein Konflikt nicht anders auflösbar ist, aber nicht ausschließt. Eine weitere Abwägungsregel, die ebenfalls unter der Überschrift der Angemessenheit geprüft werden kann, ist das Verursacherprinzip, das wiederum aus dem Freiheitsprinzip selbst folgt. Denn Freiheit muss ein Einstehenmüssen für die vor66 Vgl. Ekardt 2011, §§ 5 C. II. 3., 4 C. III. Dort auch zu dem weiteren Problem: dass die tradierte Rechtsmeinung in Deutschland unzulässigerweise die Grundrechte auf den Durchschnittsmenschen orientiert, sich bei der Tatsachenerhebung der Gefährlichkeit eines Schadstoffes also z. B. am 40jährigen Durchschnittsmann orientiert (und damit Schwächere wie Schwangere, Ältere, Kinder unberücksichtigt lässt); vgl. auch Böhm 1996. 67 Vgl. dazu m. w. N. Ekardt 2011, § 1 B. 68 Vgl. BVerfGE 49, 89 (140 ff.); 53, 30 (57); 56, 54 (78).
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hersehbaren (auch ökologischen) Folgen des eigenen Tuns einschließen – auch in anderen Ländern und in der Zukunft, und auch für die unangenehmen Konsequenzen des eigenen Lebensplanes.69 Die negativen Folgen einer für mich ansonsten positiven Handlung (z. B. der billigen freien Fortbewegung heute) müssen grundsätzlich also auch mich treffen, und sei es nur im Wege der Kostenanlastung für die von mir angerichteten Schäden. Noch eine weitere Abwägungsregel lautet, dass die der Abwägung zugrunde liegenden Tatsachenannahmen stimmen müssen. Die jeweilige Entscheidung muss also beispielsweise die neueste Klimaforschung zugrunde legen, wenn sie wissen will, welche Gefahren der Freiheit künftiger Generationen drohen. Wesentlich ist dabei, dass Tatsachen zwar Subsumtionsmaterial sind, um den Grad der Beeinträchtigung eines Belangs festzustellen, dass aber Tatsachenaussagen als solche (!) nichts Normatives besagen: Aus der faktischen Gefährlichkeit von Fluglärm für die Gesundheit der Anwohner beispielsweise – über die man naturwissenschaftliche Diskurse und Erhebungen führen kann – folgt logisch erst einmal nicht, inwieweit dieser Lärm verhindert werden muss. Die Entscheidung im Rahmen der Abwägungsregeln bleibt also stets eine politisch-demokratische und keine naturwissenschaftliche Entscheidung.70 Bei unsicheren Tatsachen wie dem Klimawandel besteht ferner eine Pflicht, vorläufige Entscheidungen zu treffen und diese später zu überprüfen. Diese letztgenannte Regel taucht auch in der bisherigen Rechtsprechung auf, allerdings wieder nicht als Anspruch eines Schutzgrundrechtsträgers, sondern als nur objektive Pflicht; und sie wird in Umweltfällen stets nur abstrakt proklamiert, aber nie konkret eingefordert.71 Auch dies verdient Kritik. Die Entscheidung für oder gegen eine einigermaßen wirksame Klimapolitik ist nach alledem also nicht dem Belieben von Mehrheiten oder souveränen Staaten überlassen, auch wenn dies eine verbreitete Betrachtungsweise darstellen mag. Die gängige politische Vorstellung, dass beispielsweise Sicherheitspolitik ein Menschenrechtsproblem ist, Klimaschutz aber nicht, ist vielmehr unzutreffend. Wenn allerdings Abwägungen erlaubt und nötig sind und im Umweltrecht potenziell tödlich verlaufen (auch ein „abgeschwächter“ Klimawandel z. B. wird Todesopfer fordern), so wirft dies die Frage auf, ob die (hier: Umwelt-)Grundrechte nicht doch ethisch und rechtlich einen „absoluten“, vor Abwägungen sicheren72 Kern haben. 69 Das Verursacherprinzip taucht etwa in BVerfGE 115, 118 ff. durchaus auf; allerdings erscheint der Rückgriff auf diesen Topos stets leicht arbiträr und nicht systematisch hergeleitet. 70 Aus einem Klima-Sein folgt niemals ein Sollen; aus Fakten folgt nie, was im Leben richtigerweise geschehen sollte. Zur Sein-Sollen-Scheidung und zur genauen Relevanz von Tatsachen und Tatsachenunsicherheit in Abwägungen (und überhaupt in rechtlich-moralischen Entscheidungen) auch Ekardt 2011, §§ 1 D., 5 B. – C. 71 BVerfGE 24, 119 ff.; 3, 303 ff.; 39, 1 ff.; 39, 160 ff.; 53, 30; 77, 170 ff.; siehe ferner Meßerschmidt 2000. 72 „Absolut“ wird statt „abwägungsfrei“ leider häufig sprachlich irrig mit „universal“ gleichgesetzt. Wie vorliegend am Ende des Beitrags anklingt, ist die Freiheitsidee in der Tat universal gültig; da aber eben allen Menschen Freiheit zukommt, heißt das nicht, dass diese
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Art. 19 Abs. 2 GG gibt hierzu zunächst einmal keinen Aufschluss. Auch wenn die Norm einen Wesensgehalt der Grundrechte garantiert, so sagt dies doch nicht zwingend etwas darüber aus, ob auch jedem Grundrechtsträger in jeder Konstellation von jedem Grundrecht ein absoluter Kern verbleiben muss.73 Die deutsche Judikatur wiederum entledigt sich des Problems, indem sie sachlich unzutreffend insinuiert, das geschilderte Problem stochastischer Schäden, das gerade auch für den Klimawandel charakteristisch sein wird, bestehe gar nicht, und jedenfalls „kurzfristig“ keine Gefährdungen diagnostiziert (was ja meist auch zutrifft, aber eben am Problem vorbeigeht).74 Im Sicherheitsrecht geht die Judikatur dagegen zuweilen von absoluten, substanzialistischen, abwägungsfreien Mindeststandards aus, wie zuletzt der LuftSiG-Fall vor dem BVerfG illustriert hat (also der Fall der vom BVerfG verworfenen Abschussermächtigung aus § 14 Abs. 3 LuftSiG gegenüber von Terroristen als Attentatswaffe z. B. gegen Atomkraftwerke umfunktionierte Flugzeuge mit „unschuldigen“ Passagieren an Bord).75 Diese normative These aus dem LuftSiGFall erscheint bei näherem Besehen indes kaum so begründbar und deshalb auch nicht auf das Klimaschutzrecht übertragbar: Zunächst sticht eine markante Inkonsistenz ins Auge: Es ist in keiner Weise begreiflich zu machen, warum das Abschießen von Flugzeugen mit ohnehin todgeweihten Insassen (auch wenn damit ein – nicht sicherer, aber möglicher76 – SuperGAU vermieden werden kann) unter allen (!) Umständen verboten und die Opferung von schlimmstenfalls Hunderttausenden von Menschen am Boden damit strikt geboten sein sollte – und umgekehrt völliges gesetzgeberisches Belieben herrschen soll, wenn (nach Angaben der EU-Kommission) europaweit jährlich 310.000 Tote durch Feinstaub hingenommen werden, nur weil die Mitbürger nicht etwas teurere Autos, Heizungen usw. mit geeigneten Filtertechniken kaufen möchten (und es bestehen auch keine ernstlichen umweltmedizinischen Erkenntnisunsicherheiten hinsichtlich der Kanzerogenität von Feinstaub).77 Die Scheidung Abwehr- versus universale Freiheit eine absolute = abwägungsfreie Freiheit ist. Seltsamer Weise nahm die Debatte über Folter und Absolutheit der Menschenwürde gerade von dieser Verwechslung ihren Ausgang: Das Beispiel des gefassten Terroristen, der eine tickende Atombombe in einer Großstadt versteckt hat (und den man nun „foltern sollte oder nicht“) wurde von keinem geringeren als Niklas Luhmann bei einem Vortrag präsentiert, um die Universalität der Menschenrechte zu widerlegen. Leider hat Luhmann damit bestenfalls die Absolutheit der Menschenrechte widerlegt – und zugleich unfreiwillig dokumentiert, dass der Großmeister der soziologischen Systemtheorie (der aufgrund seines Studiums gerne seine rechtswissenschaftliche „Milieukenntnis“ hervorhob) einfache rechtstheoretische Grundkategorien nicht auseinander zu halten weiß. 73 Zur Kontroverse um Art. 19 Abs. 2 GG m. w. N. auch Hochhuth 2000, S. 150 ff. 74 Exemplarisch hierzu BVerwG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, 1055 ff.; BVerwGE 87, 332 (375) im Falle des Fluglärms. 75 Vgl. BVerfGE 115, 118 ff.; zur Kritik Vosgerau 2008, 346 ff.; Isensee 2008, S. 9; Ekardt 2011, § 4 B. III.; Depenheuer 2007, S. 43 ff. 76 Dass auch eine mögliche und nicht nur eine sichere Grundrechtsbeeinträchtigung zählt, war explizit Gegenstand der vorangegangenen Ausführungen. 77 Das entspricht 65.000 Toten allein in Deutschland, vgl. EU-Kommission, vorliegend zitiert nach http://www.bundestag.de/aktuell/hib/2005/2005_104/01.html.
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Schutzrechte kann die Differenzierung wie oben gezeigt nicht rechtfertigen, ebenso wenig wie der pauschale Hinweis, gegen unsichere Beeinträchtigungen gebe es keinen Grundrechtsschutz. Gleichsam hilft der Hinweis auf eine „breite parlamentarische Mehrheit“ (wo immer der grundrechtliche Standort dieses Hinweises läge) nicht weiter, da sowohl die Feinstaub- als auch die Luftsicherheitspolitik in Deutschland und Europa über eine breite parlamentarische Mehrheit verfüg(t)en. Auch das Menschenwürdeprinzip trägt – trotz verbreiteter dahingehender Behauptung – keine gegenteilige Ansicht, da das Würdeprinzip weder eine als solche anwendbare Rechtsnorm darstellt noch grammatisch die Aussage „absolutes Verbot, jemandem zum Objekt zu machen“ haben kann. Auch der etwas hilflos wirkende allgemeine Appell, eine Gesellschaft, die bestimmte Dinge nicht strikt verbiete, missachte die Autonomie, hilft nicht wirklich weiter. Werde ich etwa dadurch zum autonomen Individuum, dass es mein heiligstes Recht ist, nicht in einem Flugzeug abgeschossen zu werden und stattdessen 30 Sekunden später durch den Aufprall zu sterben? Absolute Abwägungsverbote kann es durchaus geben; allerdings müssen sie anders begründet werden als bisher üblich; so dürfte das absolute Folterverbot durch freiheitsbezogene Folgenerwägungen hinreichend zu rechtfertigen sein.78 In die Falle vermeintlich „absoluter“, dabei aber grundrechtstheoretisch nicht zutreffend begründeter und außerdem doch wieder sehr vager, weitgehend durch Abwägung überwindbarer und damit praktisch nicht weiterhelfender Aussagen tappt demgegenüber nunmehr auch das Hartz-IV-Urteil des BVerfG von Anfang 2010.79 Eine weitere Abwägungsregel, die für den Menschenrechtsschutz gegen den Klimawandel wesentlich ist, kann als Regel von der „ausnahmsweisen Gleichheit“ bezeichnet werden. Diese Abwägungsregeln ist wiederum aus dem bereits Gesagten herleitbar und führt zu einem Gleichbehandlungserfordernis gegenüber künftigen Generationen sowie gegenüber Menschen in den Entwicklungsländern. Materielle Gleichheit ist, anders als Rechtsgleichheit, eigentlich kein freiheitlich-demokratisches Grundgebot. M. E. gilt im Falle des Klimawandels dennoch, dass man zu einer globalen Pro-Kopf-Gleichverteilung der Emissionsrechte kommen muss, wenn man das eben Hergeleitete konsequent anwendet. Dieses „gleiche Existenzminimum“ bedeutet konkret zweierlei: Es muss jeder ein Mindestmaß an Energie zur Verfügung haben bzw. an Landnutzung betreiben können (und letztere wird auch in Zukunft voraussichtlich nie ganz treibhausgasfrei möglich sein) – es müssen allerdings auch alle (denn auch dies ist elementar) vor einem verheerenden Klimawandel möglichst geschützt werden. Dies erzwingt auch Beschränkungen der Begüterten, um das Mindestmaß für alle aufzubringen. Für all dies sprechen zwei Gründe: 78 Nebenbei bemerkt könnte selbst der LuftSiG-Fall in BVerfGE 115, 118 ff. vielleicht doch noch als (gerade noch) überzeugende Entscheidung anzusehen sein, allerdings nicht wegen der Argumentation zur Menschenwürde: Eher schon könnte man den LuftSiG-Fall im geschehenen Sinne entscheiden, indem man sagt, dass die Tatsachensituation, dass man erstens wirklich und zweitens rechtzeitig einen Terrorfall vorher erkennt, einfach zu unwahrscheinlich ist, um ein solches Gesetz zu machen. – Zum absoluten Folterverbot vgl. Ekardt 2011, § 4 B. III. 79 Vgl. BVerfGE 125, 175 ff.
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• Der Treibhausgasausstoß muss massiv verringert werden, und gleichzeitig ist jeder Mensch auf die Freisetzung wenigstens einer gewissen Menge von Treibhausgasen zwingend angewiesen – und dies macht es zumindest nahe liegend, mit Ungleichheiten bei der Verteilung vorsichtig zu sein. • Wichtiger noch erscheint folgendes: Wenn ein öffentliches Gut wie das Klima monetarisiert wird, erscheint es plausibel, den „Erlös“ möglichst allen zu gleichen Teilen zuzuwenden – denn hier kann niemand für sich reklamieren, dass er eine besondere „Leistung“ in Ausübung seiner Freiheit zur Erzeugung dieses Gutes vollbracht habe. 2. Subsumtion und praktische Folgen Auf dieser Basis ergibt sich ethisch und rechtlich, dass ein Verfassungsgericht ein grundrechtliches Urteil dahingehend fällen müsste, dass eine Pflicht zu einer intensiveren Klimapolitik besteht. Das BVerfG als nationales, der EGMR als europavölkerrechtliches und der EuGH als EU-rechtliches (Quasi-)Verfassungsgericht müssten, sofern sie mit der Wirksamkeit der Klimapolitik befasst werden, feststellen, dass der Gesetzgeber seinen – in Form von Abwägungsregeln darstellbaren – Verpflichtungen nicht nachgekommen ist und dies innerhalb einer zu setzenden Frist abzustellen hat. Das Abstellen bestünde darin, eine wirksame globale Klimapolitik herbeizuführen oder hilfsweise als EU klimapolitisch deutlich massiver als bisher vorzupreschen. In einer Zusammenführung des bis hierher Herausgearbeiteten stellen sich die wesentlichen Menschenrechtsverletzungen der bisherigen Klimapolitik wie folgt dar: a) Die bisherige Klimapolitik missachtet bereits die Abwägungsregel, dass sie ihren Entscheidungen eine korrekte Tatsachenbasis zugrunde legen muss: Insbesondere werden die bisherigen Maßnahmen wohl irrig für geeignet gehalten, die drohenden drastischen klimawandelsbedingten Schäden noch zu vermeiden. b) Weiterhin hat die Politik ihren Entscheidungen bisher nicht zugrunde gelegt, dass die grundrechtliche Freiheit auch eine intertemporale und global-grenzüberschreitende Dimension hat und dementsprechend Rechtspositionen auch künftiger Generationen und der sprichwörtlichen Bangladeschis in parlamentarischen / rechtlichen Entscheidungen berücksichtigt werden müssen.80 c) Ferner muss die Politik dem Verursacherprinzip gerecht werden. Dies tut sie im Klimaschutz bisher ersichtlich nicht, insbesondere global und intergenerationell. d) Das elementare Freiheitsvoraussetzungsrecht auf das Existenzminimum (der hier und heute Lebenden, aber auch intergenerationell und global) ist, da Freiheit ohne diese physische Grundlage witzlos wird, allenfalls in Randbereichen durch Abwägung überwindbar. Jenes Recht schließt aber auch einen basalen Energie80 Weniger von der Präventionsebene als (m. E. suboptimal) eher von der nachträglichen Haftungsebene wird die Thematik behandelt bei Verheyen 2006.
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zugang und eine wenigstens einigermaßen zu wahrende Stabilität des Globalklimas ein. Dies wiederum erfordert einschneidende klimapolitische Maßnahmen. Auch dies haben die klimapolitischen Entscheidungen bisher nicht umgesetzt. Insbesondere wurde auch nicht berücksichtigt, dass das knappe verbleibende Emissionsbudget egalitär zu verteilen wäre angesichts (aa) seiner Knappheit und (bb) der Unabdingbarkeit zumindest geringer Emissionen für das menschliche Überleben. Vor diesem Hintergrund kann man umweltpolitisch – und hier nunmehr konkret klimapolitisch – zwar den gängigen BVerfG-Formulierungen zustimmen, dass die Politik bei unsicheren Tatsachen gewisse „Einschätzungsspielräume“ hat und zudem hinsichtlich der Gewichtung der verschiedenen betroffenen Rechte Abwägungs- bzw. „Gestaltungsspielräume“ bestehen, die nur bei „evidenten“ Verletzungen zur Aufhebung der demokratischen Entscheidungen z. B. in Deutschland und der EU führen dürfen.81 Nur kann dies sinnvollerweise eben nur bedeuten, dass bei Verletzung von Abwägungsregeln die Verfassungsgerichte der Politik aufgeben müssen, diesen äußeren Rahmen ihrer Entscheidungsfreiräume fortan zu beachten und dementsprechend (klima-)politisch neu zu entscheiden, nunmehr unter Beachtung der Abwägungsregeln, was vorliegend eine Verpflichtung bedeutet, einen wesentlich intensiveren, an der Pro-Kopf-Gleichverteilung orientierte Klimapolitik zu betreiben. Wie in Kap. B. dargelegt, impliziert eine solche Politik indes Treibhausgas-Reduktionsziele von etwa 95 % in Europa und etwa 80 % weltweit bis 2050. Dabei kann dahinstehen, ob die eben unter d) getroffene Aussage dahingehend zu verstehen ist, dass die Klimapolitik exakt jene Zielmargen oder leicht abgeschwächte Ziele (oder, im Lichte späterer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, vielleicht sogar noch weitergehende Ziele) erreichen muss. Ebenso kann in Bezug auf die unter c) getroffene Aussage offenbleiben, inwieweit in engen Grenzen (vermutlich) Ausnahmen vom Verursacherprinzip möglich sind, da dieses Prinzip in der Klimapolitik bisher nicht einmal ansatzweise als gewahrt erscheint. Jedenfalls müss(t)en die Verfassungsgerichte die Parlamente auf entsprechende Klagen hin verpflichten, ihre Klimapolitik neu zu konzipieren, um die markierten Verstöße gegen Abwägungsregeln künftig zu vermeiden. In jedem Fall verfängt der Hinweis, die bisherige nationale und transnationale Klimapolitik sei doch sehr umfangreich, nicht als Widerlegung der bis hierher diagnostizierten Grundrechtsverletzung durch die bisherige Klimapolitik. Denn jene bisherige Klimapolitik ist eben, wie die Darlegungen zu Beginn der Studie dokumentierten, gleichwohl dem Ausmaß der Klimaproblematik nicht hinreichend adäquat. Auch können die Träger der Menschenrechte nicht darauf verwiesen werden, man werde (a) künftig sicherlich ambitioniertere Klimaschutzverträge abschließen, weswegen verfassungsgerichtliche Urteile zur Klimapolitik entbehrlich seien, und (b) ein rein nationales oder europäisches Vorgehen könne das globale Klimaproblem nicht lösen. Denn (a) erscheint nicht hinreichend wahrscheinlich, um ein weiteres 81
Vgl. statt vieler BVerfG, Beschl. v. 29. 07. 2009 – 1 BvR 1606 / 08 –, juris Rn. 19.
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Abwarten zu rechtfertigen. Und (b) ist schlicht unzutreffend, da die Möglichkeit verkannt wird, eine anspruchsvolle europäische Klimapolitik durch die Kombination mit Border Adjustments sukzessive global zu verbreiten, wie dies andernorts skizziert wurde. Folgt man der entwickelten Position, so wäre jede Einzelperson, richtigerweise vielleicht auch solche außerhalb Deutschlands, möglicher Kläger; wie genau dies ethisch und rechtsinterpretativ auf die verschiedenen nationalen und transnationalen Rechtswege zu verteilen ist, war andernorts Thema. Die im Eingangskapitel angesprochenen künftigen Klimafolgen werden jedenfalls die Menschheit insgesamt treffen und nicht einfach einzelne Personen. Zumindest jeder jüngere Bürger (wobei sich eine exakte Altersgrenze nicht leicht angeben lässt) kann deshalb plausibel darlegen, dass er künftig in seinen Menschenrechten durch eine mangelnde Klimapolitik betroffen sein wird. In jedem Fall gibt es – das sollte die Argumentation dieser Studie verdeutlichen – gerade keine Regel, dass Menschenrechte nur dann geltend gemacht werden können, wenn lediglich Einzelne und nicht viele oder gar alle Menschen betroffen sind. Dass die Betroffenheit künftiger Generationen sowie von Menschen in vielen Entwicklungsländern durch den Klimawandel voraussichtlich noch deutlich drastischer ausfallen wird, macht auch diese Personenkreise grundsätzlich zu möglichen Klägern. Für künftige Generationen fehlt es bisher im deutschen und europäischen Recht freilich an einer Regelung über eine Prozessstandschaft, damit jene Rechte heute – wo dies noch reale Wirkungen erzielen könnte – sinnvoll vor Gericht gebracht werden können, obwohl künftige Generationen (naturgemäß) dort nicht selbst auftreten können.82
V. Diskursethische Rechtfertigung der Freiheit als Inhalt universaler Gerechtigkeit Alles bis hierher Gesagte gilt allerdings nur unter einer wesentlichen Bedingung: nämlich dann, wenn das Freiheitsprinzip einschließlich aller daraus herleitbaren Prinzipien (wie der gewaltenteiligen Demokratie) seinerseits rechtfertigen lässt. Genau genommen besteht noch eine weitere Bedingung: dass das Gesagte den alleinigen universalen Maßstab für (rechtliche und ethische) Gerechtigkeit begründet, einschließlich der vielen weiteren möglichen Ableitungen aus dem Freiheitsprinzip, aber ohne dass gegenläufige Prinzipien ins Spiel kommen, die das Gesagte relativieren oder aufheben. Doch warum sollte dem so sein? Und warum sollte so eine Aussage „objektiv“ respektive „intersubjektiv gültig“ sein können? Wäre dem so, hätte wie eingangs gesehen das Recht parallel ethischen Charakter und zugleich an seiner Basis eine ethische Rechtfertigung. 82 M. E. könnte es vor diesem Hintergrund naheliegen, eine hilfsweise Prozessstandschaft richterrechtlich anzuerkennen in der Weise, dass heute Lebenden die Möglichkeit zugesprochen wird, die Gerichte zumindest mit dem Anliegen anzurufen, dass der Gesetzgeber verpflichtet werden möge, eine entsprechende Prozessstandschaft zu schaffen.
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Das bis hierher Gesagte rechtfertigte sich letztlich aus der Interpretation der Menschenwürde – der grundlegenden Norm liberal-demokratischer Verfassungen – als gebotenem Respekt vor der Autonomie des Individuums. Doch warum sollte die Menschenwürde als gebotener Respekt vor der Autonomie zwingend begründet sein? (auf die Unparteilichkeit wird hier nicht näher eingegangen, wobei ihr Aussagegehalt mit der Menschenwürde in der vorliegenden Lesart indes weitgehend zusammenfallen dürfte) Und warum sollte es überhaupt möglich sein, normative Aussagen objektiv zu treffen? Damit langt man letztlich bei einigen klassischen Grundfragen der Diskursethik an. Die Variante des Verfassers zur diskursethischen Beantwortung jener Fragen wäre die folgende Überlegung, hier aus Raumgründen nur in aller Kürze vorgetragen. Meine Überlegung würde ich wie folgt formulieren: In einer pluralistischen Welt streitet man notwendigerweise über normative Fragen. Selbst Fundamentalisten und Autokraten tun dies unweigerlich zumindest gelegentlich. Und sie bedienen sich dabei der menschlichen Sprache. Wer aber mit Gründen (also rational, also mit Worten wie „weil, da, deshalb“) streitet, also in normativen Fragen Sätze „X ist richtig, weil Y“ formuliert, setzt logisch (1) die Möglichkeit von Objektivität in der Moral und (2) die Freiheit voraus, ob er das nun faktisch will oder nicht83: 1. Wir setzen logisch voraus, dass normative Fragen überhaupt mit Gründen und ergo objektiv und nicht nur subjektiv-präferenzgesteuert entschieden werden können; sonst widersprechen wir uns selbst. Wir setzen das sogar jeden Tag voraus, wenn wir normative Thesen aufstellen und diese begründen, also mit dem Anspruch auf objektive Einsehbarkeit kennzeichnen (anstatt sie nur als subjektiv zu präsentieren. Und es dürfte nahezu unmöglich sein, ein Leben lang nie Sätze mit „weil, da, deshalb“ zu normativen Fragen zu formulieren. Damit ist kein Entkommen vor der grundsätzlichen Möglichkeit (!) von Objektivität in normativen Fragen. Wir setzen die Möglichkeit objektiver Aussagen aber auch dann logisch voraus, wenn wir sagen: „Ich bin Skeptiker und sage, es gibt objektiv nur subjektive Aussagen über Ethik“. Diese Aussage kann nur gültig sein, wenn es eben doch Objektivität gibt. Damit hebt sich die Kritik an der Objektivität logisch selbst auf. 2. Wir setzen ferner logisch voraus, dass die möglichen Diskurspartner gleiche unparteiische Achtung verdienen. Denn Gründe sind egalitär und das Gegenteil von Gewalt und Herabsetzung; und sie richten sich an Individuen mit geistiger Autonomie, denn ohne Autonomie kann man keine Gründe prüfen. Niemand 83 So genannte elenktische / negative / transzendentalpragmatische Argumente der folgenden Art verwenden insbesondere auch Alexy 1995, S. 127 ff.; Illies 2003, S. 129 ff.; Kuhlmann 1985; mehr implizit auch Ott / Döring 2004, S. 91ff. und passim. Die Struktur des negativen (eben gerade nicht deduktiven) Arguments, mit welchem man einen infiniten Regress oder ein „beliebig gesetztes Basisaxiom“ gerade vermeidet, findet sich aber bereits bei Platon, Augustinus und Thomas von Aquin (als logische Figur, nicht konkret zur im Text behandelten Thematik). Zu einigen Missverständnissen, die insoweit im Diskurs Philosophie / Ökonomik oft auftreten, siehe den Disput zwischen Dilger 2006, S. 383 ff. und Ekardt 2006, S. 399 ff.
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könnte sagen „Meine These X und ihre Begründung würde zwar von Herrn P leicht widerlegt werden können, du, lieber Q, solltest sie als Dummkopf aber glauben.“ Und es würde auch niemand sagen können: „Nachdem wir P zum Schweigen gebracht hatten, konnten wir uns endlich überzeugen, dass X ein guter Grund für Y ist.“ Es widerspricht mithin gerade dem Sinn von „Gründen“, das Begründen als relativ zur Person des Adressaten zu verstehen – ein Grund überzeugt und kann von jedem eingesehen werden. Jemand, der in einem Gespräch über Gerechtigkeit Gründe gibt (also Sätze mit „weil, deshalb, da“ spricht), dann aber dem Gesprächspartner die Achtung streitig macht, widerspräche ergo dem, was er selbst logisch voraussetzt. Folgerichtig muss der, der sich einmal auf den Streit über Gerechtigkeit mit Gründen und damit auf die Vernunft einlässt, den Partner als Gleichen achten – einerlei, ob er sich der Implikationen seines Be-Gründens bewusst ist oder ob er etwa zu bloßen Überredungszwecken zu diskutieren meint; denn es geht ja um streng logische Implikationen unseres Sprechens (nicht dagegen um unser rein faktisches Selbstbild, aus dem für sich genommen gar nichts folgt). Die somit vernunftgebotene Achtung vor der Autonomie als Selbstbestimmung muss nun aber gerade dem Individuum gelten und damit Respekt vor der individuellen Autonomie sein: Kollektive als solche sind nämlich gar keine möglichen Diskurspartner. Dieses ist vielmehr der einzelne argumentierende Mensch.84 Dies ist die Begründung für das Prinzip der Achtung vor der Autonomie der Individuen (Menschenwürde85). Ergänzend, aber davon m.E. kaum unterscheidbar, da die Gleichheitsidee letztlich schon in die Menschenwürde eingeschrieben ist, dürfte damit letztlich zugleich auch das Prinzip begründet sein, dass Gerechtigkeit Unabhängigkeit von subjektiven Perspektiven meint (Unparteilichkeit). Aus beiden Prinzipien gemeinsam wiederum folgt – nicht nur rechtlich (wo dies explizit vorgesehen ist), sondern auch ethisch – das Recht auf Freiheit für alle Menschen.86 84 Eine ganze Reihe fiktiver oder real vorgebrachter Einwände gegen diese Herleitung (1) der Möglichkeit von Vernunft und (2) von Würde und Unparteilichkeit als alleinigen universalen Prinzipien aus der Vernunft wird diskutiert bei Ekardt 2011, § 3 G. 85 Dieses Menschenwürdeprinzip ist selbst kein Freiheits- / Grund- / Menschenrecht. Dieses Prinzip ist sogar überhaupt keine auf konkrete Einzelfälle zugeschnittene Norm, weder rechtlich noch ethisch. Die Menschenwürde ist vielmehr der Grund der Freiheits- bzw. Menschenrechte, statt selbst ein Recht zu sein; sie dirigiert damit die Anwendung der anderen Normen, hier also der verschiedenen Freiheitssphären der betroffenen Bürger, und gibt die Autonomie als Leitidee der Rechtsordnung vor. Die „Unantastbarkeit“ der Würde und ihr auch in Normen wie Art. 1 Abs. 2 – 3 des deutschen Grundgesetzes – und in der EU-Grundrechtecharta – sichtbarer Charakter als „Grund“ der Rechte zeigen, dass dies nicht nur philosophisch, sondern auch rechtsinterpretativ einleuchtet; zum diesbezüglichen Diskussionsstand Ekardt 2011, § 4 B.; ähnlich Enders 1997; dagegen etwa Böckenförde 2003, S. 809 ff. 86 Dass Freiheit um der Würde willen besteht, ist etwa in Art. 1 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes auch explizit ausgesprochen („darum“, also um der Würde willen, gibt es die Freiheitsgarantien), ebenso wie in den Gesetzgebungsmaterialien zur EU-Grundrechtecharta; dazu auch Ekardt 2011, § 4 B., C. und E. I.
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Und zwar nur das Freiheitsprinzip; mangels zwingender Begründung können andere Prinzipien mit ihm folglich nicht in Konkurrenz treten.87 Deshalb ist die gleiche freiheitliche Selbstbestimmung mitsamt den sie fördernden Umständen das alleinige Kriterium der Gerechtigkeit. Wer überhaupt Mensch ist, setzt nach alledem (nur) das Recht auf Selbstbestimmung für alle ergo notwendig voraus. Und dieses Recht auf Freiheit gilt für alle Menschen, auch wenn ich nie mit ihnen rede. Denn Gründe in Gerechtigkeitsfragen (anders als Äußerungen in privaten oder ästhetischen Fragen) richten sich an jeden, der sie potenziell widerlegen könnte – womit ich alle Menschen als zu Achtende anerkennen muss, sobald ich denn überhaupt manchmal im Leben in Gründen spreche; und das tut jeder. Dies macht als Kontrollüberlegung wiederum ein Exempel deutlich. Niemand könnte ernstlich sagen: „Der abwesende Herr P könnte meine Thesen zwar jederzeit widerlegen – du aber solltest sie wegen deiner Dummheit glauben.“ Wer so etwas sagt, hätte gerade nichts begründet. – Wichtig ist ferner, dass hier das Freiheitsprinzip umfassend begründet wird, also z. B. nicht nur die Redefreiheit. Denn auch Eigentum, freies Sich-Versammeln, freie Berufswahl usw. usf. fördern mittelbar (mal mehr, mal weniger) die Autonomie und damit den Diskurs. Wie bereits gesehen, ist damit nicht gesagt, dass diese Gehalte keinen Abwägungen unterlägen. Dennoch sind sie prima facie erst einmal (rechtlich und ethisch) garantiert.88 Das Freiheitsprinzip ist also universal begründet – und zwar allein die Freiheit. Dies ist auch nicht etwa in ethischer Hinsicht leicht skurril, indem die durch den Diskurs implizierten Prinzipien zugleich den möglichen Inhalt von Gerechtigkeitsdiskursen abschließend bestimmen und die gesamte Ethik und Rechtsordnung damit letztlich in Begriffe von Freiheiten und Freiheitsvoraussetzungen und ihrer überaus zahlreichen (auch institutionellen) Implikationen gebracht wird. Denn dem ist zwar so, es ist aber gleichwohl aus mehreren Gründen nicht etwa falsch, weil (a) den Diskursen des guten Lebens ein beliebiger Spielraum bleibt, die hier ja keinerlei normative Vorgabe erfahren (weil eine solche m. E. auch gar nicht möglich ist), weil (b) auch in Gerechtigkeitsdiskursen die Diskursbedingungen nicht als Diskursbedingungen thematisiert werden müssen, weil die Diskursbedingungen die mögliche Komplexität von Gerechtigkeitsdiskursen ausreichend abbilden, weil (c) große Abwägungsspielräume bleiben und weil (d) nur so das Autonomieprinzip gewahrt werden kann usw.). 87 Der endgültige Beleg hierfür kann im vorliegenden Kontext naturgemäß nicht wirklich angetreten werden, weil dafür diverse (letztlich unendlich viele) andere Kandidaten für Normen geprüft werden müssten und zu zeigen wäre, dass diese entweder unbegründet sind (weil sie von dogmatischen Setzungen, Zirkelschlüssen oder infiniten Regressen herrühren) oder dass sie letztlich doch Folgerungen aus dem Freiheitsprinzip sind; für eine Reihe von denkbaren Ansätzen wird genau dies vorgeführt bei Ekardt 2011, § 3 B. – D. 88 Dass die vermeintliche Alternative, statt des Abwägens schlicht die Freiheit von vornherein enger zu interpretieren (im Sinne einer „wahren Freiheit“, also unter Ausschluss der Freiheit fernzusehen, Wochenendreisen zu machen u. a. m. – vgl. etwa Böhler 1993), trotz ihrer klassischen Verankerung bei Kant keine gute Idee wäre, wird näher begründet bei Ekardt 2011, § 4 C. I.
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Treffen die vorliegend vorgestellten Überlegungen zu, bestünde in der Tat ein enger Zusammenhang zwischen Diskursethik, liberaler Demokratie und der Verpflichtung zu einem wirksamen Klimaschutz. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass für die vorliegende Variante der Diskursethik und ihre recht konkreten – wenngleich auch die erheblichen verbleibenden Spielräume ausweisenden – Ergebnisse eine Reihe klassisch-diskursethischer Ansichten bzw. Annahmen gerade nicht benötigt wurden. Dies ist insoweit bemerkenswert, als es sich dabei um Vorstellungen handelt, die seit langem Kritik an der Diskursethik auf sich ziehen. Jenseits der näheren Ausführung andernorts seien einige diese Punkte als Anfragen und Anregungen an die weitere Debatte unter Diskursethikern hier stichwortartig formuliert. Die vorliegende Abhandlung verzichtet auf die Vorstellung, jede sprachliche Behauptung enthalte notwendig Richtigkeitsansprüche; sie unterstellt auch keine Notwendigkeit der Konsenssuche als Eigenschaft der Sprache, keine „Diskurspflicht“ und Pflicht zur Rationalität. Vielmehr geht sie allein von der (in der Tat wohl für nahezu jeden Menschen unhintergehbaren) zumindest gelegentlichen Verwendung der Kategorie „Grund in normativen Fragen“ aus und rechtfertigt hieraus, auch gegenüber in diesen diskursrationalen Momenten Abwesenden, alles Weitere. Ferner benötigt der vorliegende Ansatz damit auch keine separate Ebene „idealer Diskurse“. Zuletzt wird auch das Problem klassischer Diskursethiken vermieden, dass sie entweder eine relativ inhaltsleere Ethik zu implizieren scheinen oder eine Art Liste guter und weniger guter Gründe voraussetzen müssen. Denn nur damit ließe sich klären, ob das jeweils erreichte Diskursergebnis wirklich unparteiisch und damit gerecht ist (letztlich kehrt hier Hegels Kant-Kritik wieder). Genau dies wird vermieden, wenn wie vorliegend die vermeintlich „prozeduralen“ Diskursvoraussetzungen zugleich die inhaltlichen Richtigkeitskriterien werden. Der Umgang mit dem Klimawandel war letztlich nur eines von beliebig vielen denkbaren Beispielen zur Illustration, wie „konkret“ Diskursethik damit zu werden vermag – und dennoch über die Abwägungslehre die Grenzen des normativ rational Sagbaren (in etwa) angeben kann. Dass freilich auch die Diskussion über die „richtige“ diskursethische Grundlegung – und darüber, ob die Diskursethik überhaupt eine tragfähige Grundlage eines modernen Universalismus in Ethik und Recht abzugeben vermag – weitergehen wird, steht außer Frage.
Summary This contribution presents the following theses from both an ethical and a legal point of view: Neither the scope of “protection obligations” which are based on fundamental rights, nor the theory of constitutional balancing, nor the issue of “absolute” minimum standards (fundamental rights nuclei, “Grundrechtskerne”), which have to be preserved in the balancing of fundamental rights, can be considered satisfactorily resolved – in spite of intensive, long-standing debates. On closer analysis, the common case law definitions turn out to be not always consistent. This is generally true and with respect to environmental fundamental rights at the na-
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tional, European, and international level. Regarding the theory of balancing, for the purpose of a clear balance of powers the usual principle of proportionality also proves specifiable. This allows a new analysis, whether fundamental rights have absolute cores. This question does not only apply to human dignity and the German Aviation Security Act, but also to the problem of environmental policy accepting deaths, e.g. caused by climate change. Overall, it turns out that an interpretation of fundamental rights which is more multipolar and considers the conditions for freedom more heavily – as well as the freedom of future generations and of people in other parts of the world – develops a greater commitment to climate protection.
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Demokratie und Menschenrechte, Menschenrechte und Demokratie Georg Lohmann
I. Einleitung Demokratie und Menschenrechte sind aufeinander verweisende politische Ideen. Historisch wurden in Amerika und Frankreich die Menschenrechte zugleich mit den Gründungsakten der modernen Demokratien deklariert. Die revolutionären Gründungen der modernen Demokratien verstehen sich als Umsetzung, als Verwirklichung der jedem Menschen zustehenden Menschenrechte. Die neue Staatsform der Demokratie soll die Menschenrechte schützen und sichern. Zugleich aber, und das zeigt das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Menschenrechten an, sind die Menschenrechte auch subjektive Rechte des einzelnen gegen die neue Demokratie. Sie sind, besonders die einzelnen Freiheitsrechte, Abwehrrechte des einzelnen Bürgers gegen staatliche Willkürgewalt. Die Menschenrechte regulieren aber auch die demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse, indem sie dem einzelnen Bürger erst die rechtlich verbürgten Möglichkeiten geben, den demokratischen Prozess zu gestalten und zu bestimmen. Die Souveränität der demokratischen Gesetzgebung scheint nun aber auch die Möglichkeit zu implizieren oder zumindest nicht auszuschließen, die Menschenrechte wiederum einzuschränken, sie nur partiell und ungleich zu verwirklichen oder ganz offensichtlich in legal korrekt zustande gekommenen Gesetzen ihnen zu widersprechen. So könnte sich ein interner Widerspruch zwischen demokratischer Souveränität und dem universellen und egalitären Anspruch der Menschenrechte ergeben. Und deshalb stehen seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, 1948)1 und den aus ihr entwickelten internationalen Menschenrechtspakten die jeweiligen Staaten auch aus einer externen Perspektive unter der völkerrechtlichen Kontrolle der Menschenrechte und setzen so das klassische Selbstverständnis demokratischer Souveränität den international organisierten Menschenrechtsansprüchen aus. Wie also sollen die prekären, spannungsreichen und evtl. widersprüchlichen Verhältnisse zwischen Demokratie und Menschenrechten, zwischen Menschenrechten und Demokratie, bestimmt werden? Ich möchte diese Frage von der Gruppe der 1 Siehe Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. 12. 1948, abgedruckt in: Wolfgang Heidelmeyer (Hrsg.), Die Menschenrechte, Paderborn / München / Wien / Zürich 1982, S. 271 ff.
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spezifisch politischen Menschenrechte aus behandeln2 und zunächst fragen, wie denn diese politischen Teilnahmerechte zu verstehen sind (II.). Ich will dann die Frage behandeln, ob die Menschenrechte notwendig auf Demokratie angewiesen sind oder sie erfordern. Hat die Demokratie Vorrang vor den Menschenrechten oder haben ihn diese vor jener? Im Streit zwischen einer liberalen und einer republikanischen Auffassung zeigen sich die unterschiedlichen Auffassungen der Menschenrechte, einmal als vorstaatliche, moralisch begründete Rechte, das andere Mal als juridische Rechte verstanden (III.). Als Lösung dieser spannungsreichen Unterschiede will ich die Idee der Selbstbindung der Demokratie an die Menschenrechte in unterschiedlichen Versionen untersuchen (IV.). Abschließend sollen die gleichwohl bestehenden Spannungen zwischen dem Partikularismus der Demokratie und dem Universalismus der Menschenrechte aus interner und externer Perspektive behandelt werden (V.).
II. Zur Bedeutung der politischen Teilnahmerechte 1. Alle Deklarationen der Menschenrechte enthalten Bestimmungen, wie die politische Gewalt in den neu geschaffenen Gemeinwesen ausgeübt werden soll. Sie binden die Bildung politischer Entscheidungen an die Beachtung subjektiver, politischer Rechte, die zugleich festlegen, wie der Einzelne an der politischen Meinungsund Willensbildung teilnehmen soll: In der AEMR von 1948 sind dies insbesondere: die Rechte auf Staatsbürgerschaft (Art. 15), auf Meinungsfreiheit (Art. 19), auf Vereinigungsfreiheit (Art. 20), das Mitbestimmungsrecht und das gleiche Wahlrecht (Art. 21). Nach T. H. Marshall haben diese Rechte „auf die Teilnahme am Gebrauch politischer Macht“3 sich historisch erst durchsetzen können, nachdem die individuellen Freiheitsrechte „genügend Substanz gewonnen hatten“4; und sie haben sich erst zu Anfang des letzten Jahrhunderts in einigen europäischen Staaten als allgemeine und (für Besitzende und Arme, für Männer und Frauen) gleiche Bürgerrechte durchsetzen können, nachdem die Privilegien und Ungleichbehandlungen als öffentlich nicht mehr begründbar erscheinen mußten. Und auch heute noch werden die politischen Teilnahmerechte keineswegs allen Menschen in der gleichen Weise faktisch gewährt. Aber, und das macht den Unterschied zur Situation zu Beginn des letzten Jahrhunderts, es erscheint nicht mehr möglich, Ungleichbehandlung und Exklusion 2 Ich unterscheide von der inhaltlichen Gruppe der politischen Teilnahmerechte noch die subjektiven Freiheitsrechte und die Gruppe der sozialen Teilhaberechte, siehe hierzu: Georg Lohmann, „Die unterschiedlichen Menschenrechte“, in: Klaus Peter Fritzsche, Georg Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Ergon Verlag, Würzburg 2000, S. 9 – 23. 3 Siehe T. H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: ders., Bürgerrechte und soziale Klassen, Campus, Frankfurt am Main 1992, S. 40. 4 Ebd., S. 46.
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von politischen Rechten gegenüber den Bürgern und gegenüber einer Weltöffentlichkeit überzeugend zu begründen. Insofern geraten alle Staaten, in denen die politischen Menschenrechte der Bürger nicht beachtet werden, extern und zunehmend auch intern unter Legitimationsdruck.5 Diese Klasse der Menschenrechte sind von vornherein sowohl auf negative wie auf positive Pflichten seitens des Staates bezogen. Sie regeln die politischen Rollen, in denen die Bürger sich bei der Schaffung eines durch Recht kontrollierten Staates anerkennen müssen. In dem Augenblick, wo die Rechtssetzung selbst und die Schaffung der politischen Gewalten nicht mehr von einer von den Bürgern unabhängigen Autorität gestiftet werden, sind es die Bürger selbst und in ihrer Gesamtheit das jeweilige Volk, von denen oder von dem die Regierungsgewalt ausgeht. Wenn also keine externen Autoritäten mehr Anerkennung finden (weil Begründungen mit Bezug auf Tradition, gottgegebene Staatsmacht, wirtschaftliche Opportunität oder kommunistische Ideologie etc. zunehmend erschüttert sind), dann ist es naheliegend, die politische Selbstgesetzgebung so zu regeln, dass alle in gleicher Weise dabei tätig sind. Die AEMR und der entsprechende internationale Pakte „über bürgerliche und politische Rechte“ (1966 angenommen, seit 1976 in Kraft) fordern aber nicht unmittelbar und explizit, dass die politische Gewalt demokratisch ausgeübt werden soll, sondern sie fordern nur, dass die Einzelnen als gleichgestellte Bürger dabei mitwirken können. Könnte man sich daher eine Beachtung der politischen Menschenrechte denken, ohne dass schon eine demokratische Staatsform etabliert wird oder diese gefordert ist? Die Spannung, die hier entsteht, ist eine zwischen einer rein moralischen Betrachtung und der rechtlich-politischen Umsetzung des moralisch Begründeten. 2. Rein moralisch gesehen scheinen die politischen Menschenrechte auf eine demokratische Meinungs- und Willensbildung hinauszulaufen. Aus der Perspektive einer universellen und egalitären Achtungsmoral wie auch aus der Perspektive der 1948 mit deklarierten gleichen und universellen Menschenwürde6 können es nur gleiche Rechte sein, die alle sich wechselseitig bei der Schaffung von Recht und politisch bindenden Entscheidungen einräumen. Die moralische Wertschätzung der Selbstbestimmung bezieht sich so auf die Regelung gemeinsamer Selbstbestimmung – man kann auch mit Habermas hier von politischer oder öffentlicher Autonomie7 sprechen. Dabei kommt dem Recht auf Gewissensfreiheit eine entscheidende Bedeutung zu. Versteht man es nämlich als das gleiche Recht einer jeden Person, zu den öffentlichen Fragen Stellung zu nehmen, so ist es als Recht auf Meinungsfreiheit zugleich die konstitutive Bedingung dafür, daß die öffentliche SelbstgesetzDas zeigen auch die jüngsten Rebellionen in den nordafrikanischen Staaten. Siehe Georg Lohmann, „Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Zum menschen-rechtlichen Würdeverständnis nach 1945“, in: zeitschrift für menschenrechte, Jg. 4., 2010, Nr. 1, S. 46 – 63. 7 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, S. 112 ff. 5 6
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gebung demokratisch gestaltet werden kann. Demokratie wird hier ganz klassisch verstanden als Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk (A. Lincoln), wobei die Selbstgesetzgebung durch gleiche und geheime Wahlen und durch das Mehrheitsprinzip geregelt verstanden wird. Bei uneingeschränkter Geltung des Rechtes auf Meinungsfreiheit müssen die Meinungen aller gleichberechtigt und unparteilich zur Geltung kommen können. Auf diese Weise ist das für moderne Demokratien konstitutive Mehrheitsprinzip legitimierbar. Denn eine unterlegene Minderheit kann nur annehmen, dass sie eine faire Chance zur Mehrheit behält, wenn sie unterstellen kann, dass sie ihre Meinung auch weiterhin öffentlich zu Gehör bringen kann.8 Klaus Günther9 hat gezeigt, dass sich dieses Recht auf Stellungnahme zunächst in einem umfassenden und fundamentalen Sinne moralisch begründen läßt, nämlich als ein Recht eines jeden auf Teilnahme an kommunikativen Verständigungsprozessen. Als ein solches moralisch begründetes Recht transzendiert es alle sozialen und politischen Institutionen. Es ist gewissermaßen ein Recht aller, bei allem mitzureden und mitzumischen, aber es ist als ein nur moralisch aufgefaßtes Recht eben ohne gesicherte Durchsetzungsmacht. Will man dieses moralisch begründete Recht daher faktisch absichern, so muss eine positive Rechtsordnung geschaffen werden. Daraus folgt, dass das Recht auf unbeschränkte Stellungnahme in ein Recht auf politische Teilnahme an einer konkreten Gemeinschaft transformiert werden muss. Das hat konfligierende Folgen. Es spalten sich die „schwachen Öffentlichkeiten“ ungeregelter und informeller Meinungsbildung von den „starken Öffentlichkeiten“10 legal gefasster und verfassungsmäßig institutionalisierter allgemeiner Willensbildungsprozesse ab. Die ersteren können, indem sie den moralischen, egalitären Universalismus der Menschenrechte appellativ und durch zivilgesellschaftliche Akteure (z. B. NGOs) zur Geltung bringen, die verfassungsmäßigen, konkreten politischen Entscheidungen kritisieren und unter Druck setzen. Die letzteren können, indem sie legale Entscheidungen des politischen Souveräns produzieren, Gesetzgebungen und -anwendungen legalisieren, die den Menschenrechten entsprechen oder ihnen widersprechen. Die verfassungsmäßig geregelten politischen Mitwirkungsrechte können dabei ihrerseits regulierend wirken, können mehr offen oder mehr restriktiv sein, und jeweils besondere, für die jeweilige Demokratie typische Konkretisierungen und Beschränkungen zum Ausdruck bringen. Der Preis der positiv-rechtlichen Absicherung des unbeschränkten moralischen Rechts ist dabei allgemein die Beschränkung auf eine regionale Herrschaftssphäre. So ergeben sich aus den mora8 Siehe hierzu Georg Lohmann, „Liberale Toleranz und Meinungsfreiheit“, in: K. Peter Fritzsche, Frank Hörnlein (Hrsg.), Frieden und Demokratie, Festschrift für E. Forndran, Nomos, Baden Baden 1998, S. 117 – 127. 9 K. Günther, Die Freiheit der Stellungnahme als politisches Grundrecht – Eine Skizze, in: P. Koller, C. Varga, O. Weinberger (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik, Stuttgart 1992 (ARSP Beiheft 54). 10 Siehe zu diesen Begriffen: Nancy Fraser, „Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy“, in: Craig Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere, MIT Press, Cambridge 1992, S. 109 –142; Hauke Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 184 ff.
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lisch begründeten universalen und egalitären Ansprüchen der politischen Teilnahmerechte die Forderungen, einem jeweiligen Staat eine immer weitergehende demokratische und mit den Menschenrechten kompatible Verfassung zu geben, und darüber hinaus, entweder alle Staaten zu demokratisieren oder aber einen politischen Weltbürgerstatus einzurichten, der allen Menschen in allen Staaten der Welt gleiche politische Mitwirkungsrechte verleiht.11 Aber ist dieser rein moralische „Schluss auf Demokratie“ zwingend, und wie könnte er verwirklicht werden?
III. Erst Menschenrechte, dann Demokratie? Zum Streit zwischen liberalen und republikanischen Positionen 1. Ich will zunächst eine Position untersuchen, die bestreitet, daß die Beachtung der Menschenrechte notwendig Demokratie voraussetzt. Allerdings hängt diese Auffassung zu einem gewissen Teil vom Demokratiebegriff und zugleich vom Verständnis der Menschenrechte ab. Eine funktionierende Demokratie, so E. W. Böckenförde, bedarf gehaltvollerer Voraussetzungen als derjenigen Sachverhalte, die durch die universellen Menschenrechte gefordert werden. Unter Demokratie versteht Böckenförde „die konkret nachvollziehbare, institutionell und verfahrensmäßig abgesicherte Ausübung von Herrschaft und politischer Entscheidungsgewalt durch das Volk, und zwar das empirische, je konkret vorfindliche Volk, nicht ein Volk als transzendentales Subjekt.“12 Weil Böckenförde unter Demokratie immer die konkrete Herrschaftsausübung eines bestimmten Volkes versteht, hängt sie seines Erachtens im einzelnen von einer Reihe „soziokultureller Voraussetzungen“ ab, wie z. B. „einem gewissen Maß an Emanzipationsstruktur der Gesellschaft“ (Auflösung patriarchalischer Stammesund Sippenstruktur; die Abwesenheit theokratischer Religionsformen, ein Mindestmaß an Homogenität innerhalb der Gesellschaft), ferner geistig-bildungsmäßigen Voraussetzungen, z. B. einem geeigneten Schulsystem; unter politisch-struktureller Hinsicht müssen die Bürger die politischen Entscheidungen als sachgerecht einsehen können. Schließlich bedarf es eines „demokratischen Ethos“, Offenheit und Loyalität gegenüber demokratischen Spielregeln.13 Diese „sozio-kulturelle(n), poli11 Zu beiden Lösungswegen siehe die Aufsätze und die Diskussion von E.-W. Böckenförde, R. Alexy, A. Wellmer und R. Dworkin, in: Stefan Gosepath, Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998. Siehe ferner H. Brunkhorst, P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, darin insbesondere J. Habermas, „Zur Legitimation durch Menschenrechte“, S. 386 ff.; siehe auch Georg Lohmann, „Menschenrechte und ‚globales Recht‘“, in: Stefan Gosepath, Jean-Christophe Merle (Hrsg.), Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, Beck Verlag, München 2002, S. 52 – 62. 12 E. W. Böckenförde, „Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?“, in: Gosepath, Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, S. 237; siehe auch E. W. Böckenförde, „Demokratie als Verfassungsprinzip“, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992 (2. Aufl.), S. 297 ff. 13 Siehe dazu Böckenförde 1998 (Fn. 12), S. 237 ff.
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tisch-strukturelle(n) und ethische(n) Voraussetzungen verbieten es, sie (die Demokratie) als universales, unbedingt gültiges politisches Ordnungsprinzip zu proklamieren“.14 Böckenförde versteht anderseits die Menschenrechte naturrechtlich begründet, und das heißt als vorstaatliche und universal begründete Rechte. Er kann deshalb ihre Geltung nicht an die Demokratie als eine besondere, voraussetzungsvolle Staatsform binden. Dies würde, wie er sagt, den „Geltungsanspruch der Menschenrechte“ schwächen.15 Die für die rechtliche Geltung von Menschenrechten notwendigen Bedingungen staatlicher Herrschaftsausübung setzt er deshalb schwächer an: es reichen „Gewaltenteilung und Machtkontrolle, in Sonderheit unabhängige Richter.“16 Gegen diese Position kann man zwei Einwände anführen: Erstens erscheint der Demokratiebegriff mit seinen materialen und bestimmten soziostrukturellen und ethischen Vorrausetzungen zu substanzialistisch. Natürlich lassen sich eine Reihe von Funktionsvoraussetzungen der Demokratie17 angeben; aber wie der Zusammenbruch der Weimarer Republik gezeigt hat, führt kein linearer Weg von diesen soziokulturellen Voraussetzungen zur Demokratie. Eine solche materiale Engführung vermeidet ein prozeduralistischer und deliberativer Demokratiebegriff, der nur die formalen Bedingungen der gemeinsamen Willens- und Entscheidungsfindung als konstitutiv auszeichnet (siehe unten Habermas). Zweitens ist zu fragen, was es genau heißt, wenn Böckenförde sagt, dass bei Vorliegen der obigen Voraussetzungen und moralischer Geltung der Menschenrechte „ein Volk … auch dann das Recht (hat), selbst darüber zu entscheiden und gegebenenfalls auch konstitutionelle Strukturen beizubehalten oder aufzurichten.“18 Welche andere Staatsform wäre denn mit den Menschenrechten vereinbar und nicht zugleich demokratisch? Und wären hier die Menschenrechte nicht, gerade wegen ihrer moralisch-naturrechtlichen Konzipierung, den Menschen selbst nur extern paternalistisch gewährt, aber nicht von ihnen selbst in einem politischen allgemeinen Gesetzgebungsprozess selbstbestimmt? Menschenrechte können nach Böckenförde „in ihrer Geltung nicht von einer erst zu treffenden politischen Willensentscheidung abhängig gemacht werden“, wie aber soll dann ihre rechtliche Geltung vom politischen Souverän ins Werk gesetzt werden? Ich will die hier aufgeworfenen Fragen nun in einem weiteren Kontext als Streit zwischen liberalen und republikanischen Auffassungen der Menschenrechte behandeln. 2. Liberale Auffassungen, die den moralischen, vorstaatlichen Vorrang der Menschenrechte vertreten, streiten mit republikanischen Positionen, die den Vorrang der Volkssouveränität betonen.19 Die Diskussion läßt sich auf die grundsätzlichen DiffeEbd., S. 239. Ebd., S. 241. 16 Ebd., S. 242. 17 Ein Überblick bei Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, UTB, Opladen 3. Aufl., 2000, S. 438 ff. 18 Böckenförde 1998 (Fn. 12), S. 241. 19 Siehe J. Habermas, „Drei normative Modelle der Demokratie“, in: ders., Die Einbeziehung der Anderen, Frankfurt am Main 1997, S. 277 –292. 14 15
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renzen zwischen Locke und Rousseau zurückführen, und wird heute, z. B. zwischen J. Rawls auf der einen Seite, und J. Habermas auf der anderen, geführt. Die liberale Position geht davon aus, daß die Menschenrechte vorstaatliche, moralisch begründete Rechte sind, die die Freiheitsrechte und politischen Mitwirkungsrechte des einzelnen als notwendige Bedingung demokratischer Legitimität einfordern. Was immer als und wie immer die Demokratie gestaltet ist (direkte Demokratie, Repräsentativsystem, Mehrheitswahlrecht, Parteiensystem, Sozialstaat), ihre Prinzipien dürfen der liberalen Freiheitsauffassung nach den Menschenrechten nicht wiedersprechen. In Demokratien kann es zu Verletzungen der Menschenrechte kommen: Mehrheitsbeschlüsse können zu völlig willkürlichen Einschränkungen von Minderheitsrechten führen oder diskriminierende Gesetze in Kraft setzen. Ausführende staatliche Organe beachten die Menschenrechte nicht oder nur selektiv, usw. Die Menschenrechte fungieren hier als externe Normen demokratischer Gesetzgebung und -anwendung und machen einen kritischen Vorbehalt gegenüber derDemokratie deutlich. Auf diese Weise gleichen die Bürger ihre Staatsbürgerrolle ihrem Verkehr als Gesellschaftsbürger an, und sehen die Entstehung einer Rechtsordnung und die Ausübung ihres Wahlrechts analog zu den Anforderungen rationaler, an der Maximierung eigenen Nutzens orientierter ökonomischer Akteure.20 3. Habermas versteht den Rechtsbegriff der Menschenrechte, anders als die liberale Position, nicht im moralischen Sinne, sondern im juridischen Sinne.21 Daher kann er die Notwendigkeit, dass der Mensch Rechte hat, nur relativ zu einem Rechtssystem erklären. Es ist zunächst die interne Funktionslogik legitimen positiven Rechts, die erfordert, dass die Einzelnen sich als Rechtssubjekte anerkennen, d. h. als juristische Personen, die Träger von Rechten sein können. Die so geschaffene, wechselseitig anerkannte Wahrnehmung von subjektiven Handlungsfreiheiten wird aber erst dann zu einem anerkannten subjektiven Recht, wenn sowohl die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Rechtskollektiv wie auch entsprechende Rechtswegegarantien damit verbunden werden. Die liberalen Abwehrrechte haben daher für ihn keinen fundamentalen, sondern einen sekundären Stellenwert.22 Deshalb muss Habermas konsequenterweise die Trägerschaft von Rechten an die Staatsangehörigkeit binden23. Und deshalb auch übernehmen die politischen Teilnahmerechte, die die „rechtlich institutionalisierten Verfahren diskursiver Meinungs- und Willensbildung“24 regeln, die Begründungslast für die ganze Konstruktion. Ebd., S. 278 ff. Siehe dazu allgemein Georg Lohmann, „Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, Hamburg, 2010, S. 135 –150. 22 Vgl. J. Habermas, Nachwort, in: ders., Faktizität und Geltung, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 673. 23 Vgl. J. Habermas 1994, S. 158. 24 Ebd., S. 165. 20 21
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Entscheidend für seine Auffassung ist dabei seine These, dass Recht und Moral (ähnlich wie bei Kant) unterschiedliche Formeigenschaften haben. Das positive Recht entkopple sich von der Moral und ergänze die autonome Moral funktional (es kompensiert organisatorische, kognitive und motivationale Schwächen der Moral). Das moralisch Richtige aber, wenn es mit Mitteln des formalen Rechts gefordert würde, unterliege den formalen und abstrakten Rechtsanforderungen. In einem späteren Aufsatz25 präzisiert Habermas die verbleibende Bindung des Rechts an die Moral: Das Recht bleibt intern an Moral gebunden, insofern Moral eine notwendige Bedingung in einem legitimen Rechtssetzungsprozess und in einer legitimen Rechtsprechung ist. J. Habermas hat in „Faktizität und Geltung“ (1992) zunächst eine republikanische Auffassung vertreten, nach der die einzelnen Menschen als Bürger Adressaten und Autoren ihrer Menschenrechte sein sollen. Dieses republikanische Motiv wendet er aber zunächst negativ gegen eine rein liberale Auffassung, nach der den Menschenrechten ein Vorrang vor der Demokratie zukommt. Habermas’ These ist nun, dass Volkssouveränität und Menschenrechte miteinander durch einen „internen Zusammenhang“ vermittelt sind: „Das Erfordernis der rechtlichen Institutionalisierung einer staatsbürgerlichen Praxis des öffentlichen Gebrauchs kommunikativer Freiheiten (wird) eben durch die Menschenrechte selbst erfüllt“26. Daraus folgert er, und das ist der Unterschied zu einer liberalen Auffassung: „Menschenrechte, die die Ausübung der Volkssouveränität ermöglichen, können dieser Praxis nicht als Beschränkung von außen auferlegt werden.“27 Der Unterschied liegt also darin, dass die liberale Position die Menschenrechte als notwendige Bedingung von legitimer Demokratie, also einschränkend, versteht, während Habermas von ermöglichenden Bedingungen spricht.28 Habermas bezieht aber diese These nur auf die politischen Teilnahmerechte, die die politische Autonomie sichern, während seiner Meinung nach die liberalen Abwehrrechte (und die sozialen Teilhaberechte) sekundäre Rechte sind, insofern sie von der politischen Rechtssetzung abhängig sind. Weil die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung sich des Mediums des Rechts bedienen muss, das Recht aber die private Autonomie von Rechtspersonen voraussetzen muss, deshalb „gäbe es ohne Grundrechte, die die private Autonomie der Bürger sichern, auch kein Medium für die rechtliche Institutionalisierung jener Bedingungen, unter denen die Bürger in ihrer Rolle als Staatsbürger von ihrer öf25 Ich beziehe mich hier auf den Aufsatz: J. Habermas, „Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie“, in: U. K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, Frankfurt am Main 1994. 26 Ebd., S. 89. 27 Ebd. 28 Zur Kritik an der Rede von „ermöglichenden Bedingungen“, die nicht zugleich „beschränkende“ Bedingungen sein sollen, siehe St. Gosepath, „Das Verhältnis von Demokratie und Menschenrecht“, in: H. Brunkhorst (Hrsg.), Demokratischer Experimentalismus, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, S. 215 ff.
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fentlichen Autonomie Gebrauch machen können. Deshalb setzen sich private und öffentliche Autonomie wechselseitig voraus, ohne dass die Menschenrechte vor der Volkssouveränität oder diese vor jener einen Primat beanspruchen können.“29 Damit aber wird die ursprüngliche These einer „Gleichursprünglichkeit”30 hier nur negativ bestimmt ist: A ist „gleichursprünglich“ mit B, heißt: A ist nicht vor B, und B ist nicht vor A. Das lässt die Möglichkeit offen, beide, Demokratie und Menschenrechte nicht wechselseitig sich begründen zu lassen, sondern beide als in einem dritten Prinzip begründet zu sehen. Dieses begründende dritte Prinzip scheint für einige die Moral der universellen und gleichen Achtung aller zu sein.31 Faktisch ist Habermas dieser Auffassung sehr nahe gekommen, doch verstellt ihm sein nur juridisches Verständnisses des Rechtscharakters der Menschenrechte diesen Lösungsweg. Er muss deshalb versuchen, den moralischen, universellen Gehalt der Menschenrechte innerhalb ihres juridischen Verständnisses zur Geltung zu bringen. 4. Zu den Stärken von Habermas’ juridischem Verständnis der Menschenrechte gehört sicherlich, dass er sich damit gegen eine menschenrechtlich begründete Moralisierung der Weltpolitik wenden kann. Wenn Verletzungen der Menschenrechte im nationalen Rahmen, in anderen Weltgegenden oder in globalem Ausmaß eingeklagt werden sollen, dann ist das einerseits eine Sache der „schwachen Öffentlichkeiten“, des zivilgesellschaftlichen Engagements und der moralischen Politik des naming and shaming, anderseits aber nicht nur eine Sache der moralischen Empörung, sondern, dem rechtlichen Charakter der Menschenrechte entsprechend, eine Aufgabe juristischer Verfahren. Über Menschenrechtsverletzungen entscheidet letztlich ein ordentliches Gerichtsverfahren, d. h. entsprechende nationale oder internationale Institutionen, und dem universellen Anspruch der Menschenrechte entspricht die Forderung, einen globalen Menschenrechtsgerichtshof zu schaffen. Dies ist mit dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zumindest im Ansatz geschehen. Nur auf diesem Wege ist einem moralisierenden „Menschenrechtsfundamentalismus“ vorzubeugen, der „durch die weltbürgerliche Transformation des Naturzustandes zwischen den Staaten in einen Rechtszustand vermieden“32 werden kann, wie ihn etwa Kant im „Ewigen Frieden“ erstmals entworfen hat. Aber diese richtige, an den Leistungen des Rechts orientierte Ernüchterung einer moralisierenden Menschenrechtspolitik zeigt keineswegs, wie Habermas den universellen Anspruch der Menschenrechte im Recht zur Geltung kommen lässt. Weil Op. cit. (Fn. 25), S. 91. Der Begriff selbst taucht auch bei Heidegger in Sein und Zeit auf. 31 Diese Kritik an Habermas und auch einen Vorschlag, wie genau das „dritte Prinzip“ zur Begründung von Menschenrechten und Demokratie gefasst werden muss, bei St. Gosepath 1998 (Fn. 28), S. 218 ff. Auf ein drittes Prinzip, nämlich ein diskurstheoretisches moralisches „Recht“ auf Rechtfertigung, rekurriert auch Rainer Forst, „Die Rechtfertigung der Menschenrechte und das grundlegende Recht auf Rechtfertigung. Eine reflexive Argumentation“, in: Gerhard Ernst, Stephan Sellmair (Hrsg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Stuttgart 2010, S. 63 – 96. 32 Op. cit. (Fn. 25), S. 56. 29 30
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Habermas, seinem juridischen Ansatz entsprechend, die Menschenrechte als innere Notwendigkeit des demokratischen Rechtsstaats bestimmen muss, kann er zunächst nicht begründen, wieso die Menschenrechte einen universalen und kategorischen Anspruch haben können. Rechte innerhalb demokratischer Gesellschaften gelten zunächst nur für die jeweiligen Rechtsgenossen und können durch legitime Beschlüsse der Mitglieder geändert werden. Deshalb kann man mit Recht den Vorwurf erheben, in dieser Konzeption gelten die Menschenrechte nur bedingt und partikular. Habermas versucht nun den universellen Charakter der Menschenrechte rechtsintern zu verankern und dadurch herauszustellen (und damit diesen Einwänden zu begegnen), indem er zunächst darauf hinweist, dass Grundrechte erstens einen verfassungskonstitutiven Charakter haben, dass sie zweitens sich als Adressaten an alle Menschen, und nicht nur an alle Bürger wenden, und dass sie drittens „ausschließlich unter dem moralischen Gesichtspunkt begründet werden können“.33 Habermas’ These ist, dass diese nur moralische Begründung für die Grundrechte hinreichend ist, dass dadurch aber ihr juridischer Charakter nicht geändert würde und sie dadurch also nicht zu vorstaatlichen, moralischen Rechten würden. Warum aber soll ein demokratischer Souverän sich an diesen rechtsinternen Universalismus der als Grundrechte positivierten Menschenrechte halten? Im Streit zwischen liberaler und republikanischer Auffassung hatte sich Habermas zunächst in die republikanische Tradition gestellt und gegen einen moralisch begründeten Vorrang der Menschenrechte vor der Demokratie argumentiert. Nun aber ermöglichen die Menschenrechte, und hier besonders die politischen Teilnahmerechte die demokratische Willensbildung, aber sie beschränken sie zugleich auch. Ermöglichung und Beschränkung sind nicht, wie es der anfängliche Gegensatz zwischen der liberalen und der republikanischen Auffassung suggerierte, gegeneinander auszuspielen, sondern sie sind miteinander verbunden. Diese Verbindung wird deutlicher, wenn wir sie als Selbstbindung34 der Demokratie an die Beachtung der Menschenrechte verstehen. Ich möchte diesen Gedanken der Selbstbindung an Vorschlägen erläutern, die einmal Robert Alexy, zum anderen Jürgen Habermas gemacht haben. IV. Selbstbindungen der Demokratie an die Menschenrechte: Verfassungsgerichtsbarkeit, deliberative Demokratie und Menschenwürde 1. Eine differenzierte These zum Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten vertritt Robert Alexy35, die in gewisser Weise zwischen Böckenförde und Ha33 J. Habermas, „Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren“, in: Kritische Justiz, Jg. 28 (1995), H. 3, Nomos, Baden-Baden, S. 311. 34 Zu Problemen einer Selbstbindung siehe allgemein Claus Offe, „Bindung, Fessel, Bremse. Die Unübersichtlichkeit von Selbstbeschränkungsformeln“, in: A. Honneth u. a. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt am Main 1989, S. 739 – 774. 35 R. Alexy, „Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat“, in: Gosepath, Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, S. 244 – 264.
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bermas vermittelt. Für Alexy sind Menschenrechte universale, moralische, fundamentale, vorrangige und abstrakte Rechte, deren Institutionalisierung sowohl international wie innerstaatlich geboten ist. Insoweit vertritt Alexy eine liberale Position, gemäß der die moralisch gefassten Menschenrechte eine beschränkende Funktion für die Demokratie haben. Auf der anderen Seite müssen die Menschenrechte in positives Recht transformiert werden, weil nur so (1) ihre Durchsetzung, (2) klare Entscheidungen in strittigen Fällen (Erkenntnisargument) und (3) ihre Erfüllung bei positiven Pflichten, nämlich durch die Schaffung von notwendigen gemeinschaftlichen Organisationen (Organisationsargument), gesichert werden können. Einmal also benötigen die Menschenrechte zu ihrer Gewährleistung eine staatliche Rechtsordnung, zum anderen sind sie Abwehrrechte gegenüber staatlicher Willkür und beanspruchen, den demokratischen Prozess zu normieren. Alexy versucht diese Spannung zwischen Angewiesenheit und kritischer Distanz in die Struktur der demokratischen Ordnung mit aufzunehmen, indem er diese als eine in sich differenzierte Selbstbindung beschreibt. Welche Art von staatlicher Ordnung benötigen die Menschenrechte? Alexy geht eine Reihe von konzeptionellen Vorschlägen durch: a) Ein formeller Rechtstaat, definiert durch Rechtssystem und Gewaltenteilung, ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die Sicherung der Menschenrechte. b) Im demokratischen Rechtsstaat werden die Menschenrechte in die Verfassung aufgenommen und verwandeln sich in Grundrechte. Über die Einhaltung der Grundrechte entscheidet der demokratische Prozeß, also in der Regel das Parlament, das wegen der Mehrheitsregel und überhaupt als Souverän an die Beachtung der Menschenrechte nur durch Selbstbindung gebunden ist. c) Im demokratischen Verfassungsstaat werden deshalb die Konflikte zwischen Grundrechten und Demokratie, die in jeder realen Demokratie aufbrechen können, durch eine Konkretisierung dieser Selbstbindung geregelt: Eine Verfassungsgerichtsbarkeit kontrolliert und schlichtet sie. „Wenn sich (ein) … Reflexionsprozess zwischen Öffentlichkeit, Gesetzgeber und Verfassungsgericht dauerhaft stabilisiert, kann von einer gelungenen Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat gesprochen werden“.36 Alexy vertritt also gegen Böckenförde und mit Habermas eine enge Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie, aber er geht nicht von einer Gleichursprünglichkeit aus, sondern gesteht den Menschenrechten einen normativen Vorrang zu, der sich auf dem Wege einer Verfassungsgerichtsbarkeit als demokratische Selbstbindung verstehen läßt. So ist dann in der Tat, vom moralischen Gehalt der Menschenrechte aus gesehen, ein demokratischer Verfassungsstaat die beste und insofern geforderte Institutionalisierung der positiv rechtlichen Transformation der Menschenrechte. 36
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2. Habermas hatte in „Faktizität und Geltung“ die Leistungen und Wirkungen einer Verfassungsgerichtsbarkeit kritisch untersucht.37 Gegen eine liberale Interpretation diskutiert er eine republikanische Interpretation der Verfassungsrechtsprechung38 und entwickelt hier in einer Kritik an einem kommunitaristischen Republikanismus ein „konsequent prozeduralistisches Verfassungsverständnis“. Hier sollen die „intrinsisch vernünftigen … Verfahrensbedingungen … für den demokratischen Prozess im Ganzen die Vermutung begründen, vernünftige Ergebnisse zu ermöglichen.“39 Habermas entwickelt damit ein deliberatives Politik- und Verfassungsverständnis, in dem die Diskurstheorie nun ein Vermittlungsmodell von universalistischer Moral, beschränkter Rechtssetzung und verfassungsgerichtlicher Überprüfung begründet. Damit will er seine Grundintention theoretisch ausformulieren, nach der die universalistischen Menschenrechte nicht extern als moralische Normen, sondern intern als formale Verfahrensregeln der Gesetzgebung und Verfassungskontrolle wirken, und so die These von der „Gleichursprünglichkeit“ von Menschenrechten und Demokratie nun in einem deliberativen Modell der demokratischen Meinungsund Willensbildung einlösen. Habermas hat diesen deliberativen Lösungsweg in der Folge gegen Einwände verteidigen müssen, die insbesondere den rein formalen Charakter des Modells kritisierten.40 Und wiederum war er gezwungen, den moralischen Gehalt der formalen Prozeduren anzureichern. Dieser Universalismus von Innen speist sich dabei aus moralischen Gehalten „entgegenkommender Lebensformen“41, die das formale Recht selbst weder mit eigenen Bordmitteln schaffen noch reparieren kann (bekanntlich eine These von Böckenförde). Der moralische Gehalt „entgegenkommender Lebensformen“ aktualisiert sich in Aktionen der politischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, die die „kommunikative Macht“ (H. Arendt)42 in „rechtsstaatlich institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung“ transformiert Habermas, Faktizität und Geltung, S. 292 ff. Ebd., S. 324 ff. 39 Ebd., S. 347. 40 Siehe Oliver Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, Frankfurt am Main 1997; Frank Michelman, „Bedürfen Menschenrechte demokratischer Legitimation?“, in: Hauke Brunkhorst u. a. (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, S. 52 – 66; Jürgen Habermas, „Replik auf Beiträge zu einem Symposium der Benjamin N. Cardozo School of Law“, in: Cardozo Law Review, Vol. 17, Nr. 4 – 5 (März 1996), S. 1559 – 1644; Bernhard Peters, „Deliberative Öffentlichkeit“, in: Lutz Wingert, Klaus Günther (Hrsg.), Die Vernunft der Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit der Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 655 – 677. 41 J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 140. Von „entgegenkommenden“ Lebensformen spricht Habermas zum ersten Mal 1961 im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Fortschrittsannahmen der schottischen Moralphilosophie: „Die Soziologie der Schotten konnte sich im Zusammenspiel mit einer ihr ohnehin „entgegenkommenden“ politische Öffentlichkeit auf Orientierung individuellen Handelns, auf eine im engeren Sinne praktische Beförderung des geschichtlichen Prozesses beschränken“. Siehe J. Habermas, „Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie“, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 21967, S. 48 f. 42 Siehe dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 182 ff. 37 38
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und in diesen deliberativen Prozessen schließlich auch die Verfassung selbst als einen „Prozess fortgesetzter Verfassungsgebung“43 versteht. Habermas hat diesen Prozess einer deliberativen Verfassung“ als zunehmende Institutionalisierung von unparteilichen Rechtssetzungen, -begründungen und -anwendungen gedeutet, die zwar keine vollständige Verfahrensrationalität entstehen lässt44, aber doch das Ideal des Rechts –‚ dass keine rechtliche Regelung akzeptabel ist, in der nicht alle sich als Adressaten und als Autoren des Rechts verstehen können‘ – nicht als leere Hoffnung desavouriert. 3. Von hier her lässt sich auch der jüngste Ansatz Habermas‘ zur Bestimmung einer Selbstbindung von Demokratie an Menschenrechte verstehen. Dabei greift er auf die Wirkungen zurück, die s. E. die Idee der Menschenwürde in der rechtlichen Bestimmung der Menschenrechte gehabt hat. Habermas vertritt in einem jüngeren Aufsatz die These, dass von Beginn an, historisch und systematisch, ein enger Bezug zwischen Menschenwürde und Menschenrechten bestand,45 weil und insofern sich die Menschenrechte als Schutz vor spezifischen Verletzungen der Menschenwürde verstehen lassen. Er gibt dabei seiner Rede von „entgegenkommenden Lebensformen“ nun eine negativistische Lesart. Für ihn hat „die Erfahrung verletzter Menschenwürde … eine Entdeckungsfunktion“, die zur Begründung von Rechten und „Konstruktion neuer Grundrechte“ führte und führen kann. Die Menschenwürde wird zur „moralische(n) ‚Quelle‘, aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen“46, d. h. jetzt auch: der sozialen Grundrechte. „Die Erfahrungen von Exklusion, Elend und Diskriminierung lehren, dass die klassischen Grundrechte erst dann ‚den gleichen Wert‘ (Rawls) für alle Bürger erhalten, wenn soziale und kulturelle Rechte hinzutreten.“47 Mit diesem Ansatz, nach dem die „Menschenwürde … die Unteilbarkeit der Grundrechte“48 begründet, argumentiert Habermas dann gegen einseitige und verengende Fassungen der Menschenrechte, wie sie gegenwärtig häufig zu beobachten sind49. Und wieder korrigiert er mit einem universellen, moralischen Gehalt, nun im Begriff der Menschenwürde verkörpert, eine Verengung des juridischen Ansatzes. Dass auch mit diesen Versionen einer Selbstbindung das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten und Demokratie keineswegs in ein problemloses harmonisches Verhältnis sich gewandelt hat, will ich abschließend am Konflikt zwischen dem Universalismus der Menschenrechte und dem Partikularismus der Demokratie zumindest in Ansätzen andeuten. Ebd., S. 465. Ebd., S, 563 ff. 45 Jürgen Habermas, „Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“, in: DZfPh., Akademie Verlag, 58, (2010) 3, S. 344 f. 46 Ebd., S. 345. 47 Ebd., S. 346. 48 Ebd., S. 347. 49 Ebd., S. 353 ff. 43 44
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V. Universalismus der Menschenrechte und Partikularismus der Demokratie – Ein Ausblick Der moralisch begründete Universalismus der Menschenrechte transzendiert jeden staatlichen Partikularismus. Die Frage ist nicht, ob Demokratien dem zu entsprechen haben – darauf scheint die Antwort ein klares Ja zu sein – sondern, ob sie und wie sie diese Verpflichtung einlösen können. Für das externe Verhältnis von Demokratien zu anderen und zur Welt fordert der moralische Universalismus der Menschenrechte internationale und globale Rechtsinstitutionen, die als rechtliche Klageinstanz auch Durchsetzungslegitimation und -kompetenz haben müssten, und damit staatlichen Charakter. Erfordert die Idee der Menschenrechte daher einen und nur einen Weltstaat? Von einem strikt moralisch begründeten Universalismus aus scheint es keine Rechtfertigung für partikulare Demokratien zu geben. Sie sind bestenfalls pragmatisch begründbar, aber streng moralisch, so scheint es, eigentlich unbegründet.50 Diese Antwort ist aber nicht sehr überzeugend. Die Möglichkeiten einer globalen Verrechtlichung der Menschenrechte sind vielfältiger, als die schlichte Alternative zwischen universalem Weltstaat und einer kosmopolitischen Gerechtigkeit51. 1. Warum und wie macht sich innerhalb einer besonderen Demokratie der Universalismus der Menschenrechte geltend? Wir hatten gesehen, dass die Menschenrechte innerhalb der Demokratie als verfassungkonstituierende Grundrechte positiviert werden. Damit entsteht ein möglicher Konflikt zwischen dem Partikularismus der demokratischen Rechtssetzung und -anwendung und dem universellen Anspruch der Menschenrechte. Dieser Konflikt erfordert einerseits, dass demokratische Öffentlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit sich bemühen, den universellen Gehalt der Menschenrechte auch dann zur Geltung zu bringen, wenn etwa der Gesetzgeber, d. h. das Parlament, dagegen verstoßen hat. Dieser Streit ist immer möglich und prinzipiell, da der universelle Anspruch der Grundrechte immer interpretationsbedürftig ist und jeder faktische Beschluß, ein Recht so und so auszulegen, immer ein dezisionistisches Element enthält, das prinzipiell kritikoffen ist.52 Darüber hinaus entsteht anderseits ein besonderes Problem, da das innerstaatliche positive Recht idealiter so gefasst werden müsste, dass es ein subjektives Recht von Nicht-Bürgern formuliert, die dann, wenn ihre Menschenrechte in anderen, nämlich ihren Rechtssystemen verletzt worden sind, in unserem Rechtssystem rechtlichen 50 Siehe z. B. Robert E. Goodin, „What Is So Special about Our Fellow Countrymen?“, in: Ethics 98, July 1998, S. 663 – 686. 51 Siehe exemplarisch: Peter Singer, Praktische Ethik, Neuausgabe, Stuttgart 1994, S. 278 ff.; Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, Polity Press, Cambridge (UK), 2002; Stefan Gosepath, „The Global Scope of Justice“, in: Metaphilosophy, 31 (2001), S. 145 –168. 52 Siehe zu diesem hermeneutischen Problem A. Wellmer, „Menschenrechte und Demokratie“, in: G. Lohmann, St. Gosepath (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, S. 265 – 291.
Demokratie und Menschenrechte, Menschenrechte und Demokratie
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Schutz erhalten könnten.53 Das deutsche Asylrecht ist – oder besser vielleicht: war – ein solches Recht, das anderen Bürgern, nur weil sie Menschen sind, im deutschen Rechtssystem einklagbare Rechte gewährt. Die sich hier erhebende Frage ist, ob dieser Typ von innerstaatlichen Rechten für Nicht-Staatsangehörige ausgedehnt werden sollte. Zum Beispiel könnte das klassische Asylrecht, nicht nur bei Verfolgung aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen, ein Recht auf Schutz gewähren, sondern auch dann, wenn aus ökonomischen Gründen der angestammte Heimatstaat verlassen wird. Dass die politische Willensbildung in Deutschland und in Europa, denkt man nur an die skandalöse Behandlung der Flüchtlinge aus Afrika an den Grenzen des Schengenraumes, faktisch ein negatives Urteil gefällt hat, ist ja noch kein Grund, es auch für legitim zu halten. Gleichwohl kann man mit Albrecht Wellmer sagen, dass für jede faktische demokratische Gemeinschaft der Aufnahme von Flüchtlingen Grenzen gesetzt sind – auch wenn darüber ein Streit zu führen wäre, wo diese Begrenzungen liegen.54 Es ergibt sich dann als Lösung, nachdem die innerstaatlichen Möglichkeiten erschöpft sind, dass der Universalismus der Menschenrechte uns verpflichtet, gewissermaßen die Idee der Demokratie zu exportieren und dafür zu sorgen, „daß die Menschenrechte derer, die von unseren Bürgerrechten ausgeschlossen sind, in ihren Gesellschaften zu Bürgerrechten werden, d. h. in einer demokratischen Transformation ihrer Gesellschaften.“55 Damit wären wir bei der Frage nach der Globalisierung der Menschenrechte und der Demokratie und ihren völkerrechtlichen Auswirkungen. Die andere Seite dieser weltweiten Institutionalisierung von Menschenrechten und Demokratie ist die Frage nach dem Verhältnis von Universalismus und kulturellen Differenzen oder nach dem kulturellen Relativismus der Menschenrechte, worauf ich aber an dieser Stelle nicht eingehen kann.56 Ich will aber die sich aus dem rechtlichen Charakter der Menschenrechte ergebende Frage nach der politisch anzuerkennenden Rechtsträgerschaft wieder aufnehmen.57 2. Die Menschenrechte fordern, basierend in der rechtsverbürgenden Kraft der Menschenwürde58, die prinzipielle Anerkennung der Rechtsträgerschaft eines jeden Siehe A. Wellmer, op. cit., S. 283 f. Ein ähnlicher Fall von moralischer Überlastung ergibt sich, wenn man den universellen Anspruch der sozialen Menschenrechte ernst nimmt. Siehe dazu: Georg Lohmann, „Soziale Menschenrechte und die Grenzen des Sozialstaats“, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Velbrück Wissenschaft, Weilerwist 2000, S. 351 – 371. 55 Wellmer, S. 284. 56 Siehe dazu Georg Lohmann, „Kulturelle Besonderung und Universalisierung der Menschenrechte“, in: Gerhard Ernst, Stephan Sellmaier (Hrsg.), Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, Kohlhammer, Stuttgart 2010, S. 33 – 47. 57 Ich übernehme hier einen überarbeiteten Teil aus Georg Lohmann, „Menschenwürde als ‚Basis‘ von Menschenrechten“, in: Joerden, Hilgendorf, Thiele (Hrsg.), Handbuch Menschenwürde und Medizin, Teil A, im Erscheinen. 53 54
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(individuellen, einzelnen) Menschen. Damit ist aber nicht nur die passive Rolle, wie im Art. 6 der AEMR erfasst, nach der „jeder … das Recht (hat) überall als rechtsfähig anerkannt zu werden“, und damit Träger von Menschenrechten ist, sondern eben auch die aktive Rolle, Autor der Rechtsordnung und Gesetze zu sein, die ihm diese Rechte zuschreibt. Darin steckt ein antipaternalistischer Impuls, der sich mit der republikanischen Tradition trifft, deren Wahlspruch bekanntlich ist: „Frei zu sein bedeutet, Bürger eines freien Staates zu sein“59. Damit ist insbesondere die Staatsbürgerschaft gemeint, die traditioneller Weise als Voraussetzung für die Wahrnehmung von aktiven Rechten angesehen wird. Der universelle Gehalt der Menschenwürde verlangt, dass für alle Menschen diese Bedingung erfüllt wird (siehe Art. 15 (1) der AEMR). Aber diese Forderung reicht nicht aus. Auch jenseits eines Staatsgebietes und in Verhältnissen zwischen den Staaten muss die Menschenwürde eines jeden Menschen geschützt werden. Auch demokratische Staaten, die die Menschenrechte ihrer Bürger respektieren, können andere Staaten unterdrücken, wie die koloniale Vergangenheit und vielfältige Abhängigkeits- und Ausbeutungsbeziehungen zwischen Ländern der ersten und dritten Welt zeigen. Deshalb muss man in diesem Prozess zwei Weisen von Universalisierung unterscheiden: Die Bezugnahme auf die Menschenwürde bürgt dafür, dass alle als Staatsbürger und alle als Weltbürger mit jeweils gleichen Menschenrechten gesetzt und von den jeweiligen Staaten und den jeweils anderen Bürgern anerkannt werden. Beide Weisen sind nicht als sich ausschließende, sondern als sich ergänzende und korrigierende Wege zu verstehen. Im einen Fall ist jeder als Mitglied eines besonderen Staates Träger von Bürgerrechten und Menschenrechten, im anderen Fall haben alle, offenbar ohne besondere Mitgliedschaft als Vorbedingung, den gleichen Status als Weltbürger. Träger von Rechten kann aber jemand nur innerhalb eines Rechtssystems oder einer politischen Rechtsgemeinschaft sein. Rechte (rights) kann, begrifflich gesehen, niemand allein haben. Und niemand hat allein schon deshalb Rechte, weil andere Personen ihm gegenüber moralische Pflichten haben, sondern erst dann, wenn Personen sich wechselseitig als Träger von Rechten anerkennen und in einem willentlichen, politischen Akt dadurch eine Rechtsgemeinschaft gründen. Also muss die „republikanische Praxis“60, die die Bezugnahme auf die universelle Menschenwürde initiiert, sowohl der – nun demokratisch zu nennenden – Gesetzgebung 58 Siehe Georg Lohmann, „Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Zum menschenrechtlichen Würdeverständnis nach 1945“, in: zeitschrift für menschenrechte, Jg. 4., 2010b, Nr. 1, S. 46 – 63. 59 Zitiert bei James Bohman, „Die Republik der Menschheit. Nicht-Beherrschung und transnationale Demokratie“, in: Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger, Philipp Schink (Hrsg.), Kosmopolitanismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals, Weilerswist 2010, S. 306. 60 Siehe dazu Georg Lohmann, „Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Zum menschenrechtlichen Würdeverständnis nach 1945“, in: zeitschrift für menschenrechte, Jg. 4., 2010, Nr. 1, S. 57 ff.
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eines besonderen Staates zu Grunde liegen, wie auch die globale Gemeinschaft aller Menschen in eine politische (oder staatliche) Gemeinschaft von Weltbürgern verwandeln. Wie aber soll dieser „allgemeine Menschenstaat“ (Kant), dessen Mitglied nun jeder als aktiver Weltbürger ist, verstanden werden? Entscheidend ist zunächst, dass die republikanisch interpretierte, rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde alle Menschenrechte umfasst, d. h. nicht nur die klassischen subjektiven Freiheitsrechte und juridischen Teilnahmerechte als Abwehrrechte gegen staatliche Willkür sowie die sozialen Teilhaberechte auf ein Minimum an menschenwürdigem Leben, sondern auch die politischen Teilnahmerechte. Die Betätigung der Menschenrechte konkretisieren so in einem reflexiven und letztlich offenen Prozess, was unter dem Schutz der Menschenwürde zu verstehen ist und bestimmen auf diese Weise die je konkreten Inhalte der Menschenrechte. Dabei unterminiert der universelle Anspruch der Menschenwürde den Partikularismus der je besonderen Staatsbürgergemeinschaft. Verpflichtet sich ein demokratischer Staat auf die Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte, so muss er erstens (siehe oben) auch intern die Menschenrechtsträgerschaft aller Menschen auf seinem Staatsgebiet anerkennen, seien diese nun Ausländer, Staatenlose oder nur vorübergehend oder illegal sich aufhaltende Personen.61 Diesem „internen Universalismus“ der Menschenrechte korrespondiert zweitens ein „externer Universalismus“, in dem die je besondere Demokratie verpflichtet ist, alle auch außerhalb des Staates existierenden Menschen in ihren Menschenrechten zu achten. Erscheint diese doppelte Universalisierung einer besonderen Demokratie im Prinzip klar, wenn auch sicherlich in der konkreten Ausgestaltung schwierig und komplex, so ist die kraft der Menschenwürde zu konstituierende Weltbürgerschaft schon weit unklarer. Zwar fordert Art. 28 der AEMR, dass „jeder … Anspruch (hat) auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“, doch ist ganz offen, wie die Verwirklichung einer transnationalen, regionalen und globale „citizenship“ verwirklicht werden soll. Seit Kant gibt es dazu eine intensive Diskussion, in der unterschiedliche Modelle (Weltstaat, Staatenbund, föderales Mehr-Ebenen System, „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“62, „Republik der Menschheit“) durchgespielt werden. Darauf kann ich hier nur noch hinweisen.63 Die vielfältigen Spannungen zwischen Demokratie und Menschenrechten, Menschenrechten und Demokratie lassen sich daher, das ist vielleicht deutlich gewor61 Siehe Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen: Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt am Main 2008. 62 Unter diesem Titel diskutiert Habermas die unterschiedlichen Ansätze und Möglichkeiten, siehe Jürgen Habermas, „Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“, in: ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004. 63 Siehe Seyla Benhabib, Kosmopolitismus und Demokratie: eine Debatte, Frankfurt am Main 2008. Siehe auch die Diskussion in Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger, Philipp Schink (Hrsg.), Kosmopolitanismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals, Weilerswist 2010.
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den, nicht in einer Konzeption auflösen. Beide Ideen begrenzen und befördern sich wechselseitig, beide wirken beschränkend und überfordernd aufeinander ein; und der normative Gehalt beider Ideen spricht dafür, keine simplen Lösungen zu erwarten, aber auch dafür, den normativen Anspruch beider nicht zu minimieren, sondern – das ist die Aufgabe der Philosophie – explizit zu halten.
Summary Democracy and human rights are reciprocal political concepts. Democracy is supposed to protect and secure human rights, but can also violate them. Republicans argue that democracy has priority over human rights, liberal positions argue the other way round. I would like to enter the dispute between a liberal and a republican view from the perspective of the political human rights. I will then discuss different versions of the idea of a self-commitment of democracy to human rights: first on the single state basis by constitutional court jurisdiction (R. Alexy), then J. Habermas’s conceptions of a deliberative democracy and his interpretation of human dignity as a moral source of modern, human right based law. But still, the “constititutionalisation of the international law” (J. Habermas) shows the tensions between the universalism of human rights and the particularism of a concrete democracy.
Menschenrechte und Grundbedürfnisse Peter Schaber1
Nach einer verbreiteten Auffassung haben Grundbedürfnisse von Menschen – oder das, was man als basale Interessen von Menschen bezeichnen kann – eine große moralische Bedeutung.2 Die eine Weise, wie die moralische Bedeutung von Grundbedürfnissen aufgefasst werden kann, besteht darin, Grundbedürfnisse als Grund für moralische Pflichten zu sehen, die andere darin, sie als das zu verstehen, was durch die Menschenrechte geschützt wird. So sind verschiedene Autoren der Ansicht, dass die Grundbedürfnisse von Menschen das Objekt der Rechte sind, die wir als Menschen haben. Die Menschenrechte, so lautet der Vorschlag, sind allesamt Rechte auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen. Und deshalb, so diese Position, muss man wissen, was die Grundbedürfnisse von Menschen sind, um ihre Rechte als Menschen bestimmen zu können. In diesem Sinn schreibt Gillian Brock: „(K)nowledge of what our human needs are must be had before we can sensibly have a go at defining the entitlements that will be protected as human rights. In order to draw up a sensible list of our human rights we must have a sense of our basic needs … A needs-based account is thus more fundamental than a human rights account. It is necessary to drawing up a coherent and comprehensive list of our human rights.“3
Brock meint, dass dies nicht bloss auf einige, sondern auf alle Menschenrechte zutrifft: „I submit we can explain all the human rights that are set out in the Universal Declaration of Human Rights in terms of my account of basic needs …“4
Zunächst ist die Aussage, dass Menschenrechte die Grundbedürfnisse von Menschen schützen, eine Aussage über das Objekt der Menschenrechte, keine über ihre Begründung. Brock scheint aber letzteres im Blick zu haben, wenn sie davon redet, dass die Menschenrechte über die Grundbedürfnisse expliziert werden können. Grundbedürfnisse sind Interessen von Menschen, die wichtig genug sind, um andere unter eine Pflicht zu stellen, sie zu schützen. Zwischen Grundbedürfnissen und den Menschenrechten besteht demnach eine normative Beziehung: Der Umstand, 1 2 3 4
Für wertvolle Hinweise möchte ich Andreas Cassee und Anna Goppel herzlich danken. Vgl. Miller (2007), 179 ff. Brock (2005), 65. Brock (2009), 72.
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dass ein Interesse ein Grundbedürfnis ist, stellt einen Grund dar, Menschen ein Recht zuzuschreiben, das die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses schützt. Es ist diese Idee der Menschenrechte, die nachfolgend diskutiert werden soll. Schützen Menschenrechte die Grundbedürfnisse von Menschen? Sind die Menschenrechte in den Grundbedürfnissen begründet? Trifft das auf alle Menschenrechte oder bloss auf einige oder möglicherweise auf gar keine zu? Ich werde dafür argumentieren, dass die Grundbedürfnisse von Menschen in der Begründung gewisser Menschenrechte eine Rolle spielen, dass sie dabei jedoch nicht die normative Begründungsarbeit leisten. Als viel wichtiger für die Begründung der Menschenrechte erweist sich eine andere Idee, die Idee nämlich, eine normative Autorität über sich selbst zu haben. Dabei spielt es in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob wir Menschenrechte als Rechte gegenüber dem Staat oder in einem weiteren Sinn als moralische Rechte, die wir anderen Menschen gegenüber haben, verstehen. Es ist entsprechend in unserem Kontext auch nicht wichtig, ob wir ein moralisches oder politisches Verständnis der Menschenrechte haben.5
I. Grundbedürfnisse Will man das Verhältnis von Grundbedürfnissen und Menschenrechten klären, muss man vorgängig etwas zum Begriff der Grundbedürfnisse sagen. Was sind Grundbedürfnisse von Menschen? Dabei geht es nicht um eine inhaltliche Bestimmung der Grundbedürfnisse, sondern darum ganz allgemein zu bestimmen, was unter einem Grundbedürfnis zu verstehen ist. Wie viele andere Begriffe kann auch der Begriff des Grundbedürfnisses unterschiedlich verwendet werden. Nicht alle diese Verständnisse des Begriffs sind für den Kontext einer Begründung von Menschenrechten einschlägig. Es empfiehlt sich deshalb, sich auf diejenigen Verwendungen zu konzentrieren, die für eine Rechtsbegründung fruchtbar gemacht werden können. Ein menschenrechtsrelevanter Begriff der Grundbedürfnisse sollte zunächst informativ sein und durch Begriffe expliziert werden, die nicht selbst wiederum hochgradig explikationsbedürftig sind. In dem Sinne nicht informativ ist es z. B., wenn man Grundbedürfnisse über den Begriff des ,schweren Schadens‘ bestimmt und sagt, dass ein Bedürfnis oder ein Interesse ein Grundbedürfnis genau dann ist, wenn der Umstand, dass es nicht befriedigt wird, einen schweren Schaden für die betroffene Person nach sich zieht.6 Was ist unter einem schweren Schaden zu verstehen? Das ist seinerseits klärungsbedürftig, wobei die Klärung nicht wiederum auf den Begriff des Grundbedürfnisses Bezug nehmen darf (,ein schwerer Schaden liegt vor, wenn ein Grundbedürfnis eines Menschen verletzt wird‘). Der gesuchte Begriff der Grundbedürfnisse sollte aber auch deutlich machen, weshalb Grundbedürfnisse moralisch bedeutsam sind, da er bloss dann für die Be5 6
Vgl. dazu Beitz (2008), Raz (2010). Vgl. Thomson (2005), 175.
Menschenrechte und Grundbedürfnisse
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gründung von Menschenrechten eine Rolle wird spielen können. Diese Bedingung ist alles andere als trivial, da es verschiedene Begriffe von Bedürfnissen gibt, von denen nicht gesagt werden kann, sie würden sich auf etwas beziehen, das moralisch bedeutsam ist. Die Grundbedürfnisse, die wir suchen, sind Bedürfnisse, die Gründe für Rechte liefern und damit andere Menschen unter eine Pflicht zu stellen in der Lage sind. Aber welche Bedürfnisse sind das? Es sind ohne Zweifel nicht alle Bedürfnisse, die Menschen haben, in diesem Sinne Grundbedürfnisse. Ein Bergsteiger kann ein Bedürfnis nach einem Seil haben, um seine lang geplante Bergtour erfolgreich durchführen zu können. Obwohl er das Seil ganz dringend braucht, liegt hier kein andere verpflichtendes Grundbedürfnis vor. Um anderen eine Pflicht aufzuerlegen, muss ein Bedürfnis wichtig genug sein. Man könnte entsprechend sagen, dass Bedürfnisse dann Grundbedürfnisse sind, wenn ihre Befriedigung wichtigen Zielen dient. Allerdings kann es gut sein, dass die Bergtour ein für den Bergsteiger wichtiges Ziel ist, ohne dass es ein andere verpflichtendes Grundbedürfnis ist. Grundbedürfnisse sind nicht einfach diejenigen Bedürfnisse, die befriedigt sein müssen, um wichtige Ziele zu erreichen. Ein Drogenabhängiger braucht immer wieder dringend Heroin, um einen bestimmten Zustand subjektiven Wohlergehens zu realisieren. Wir würden dieses Bedürfnis allerdings nicht als Grundbedürfnis bezeichnen, das durch ein Menschenrecht geschützt werden sollte und entsprechend andere Menschen verpflichtet. Um als Grundbedürfnis bezeichnet werden zu können, muss ein Bedürfnis, wie Garrett Thomson zu Recht sagt, unausweichlich für uns Menschen sein.7 Es sind Bedürfnisse, die wir als Menschen haben. Unabhängig davon, wer wir sind, unabhängig davon, welche Art von Leben wir führen und wofür wir uns entschieden haben, haben wir diese Bedürfnisse. Dies gilt weder für das Bedürfnis des Bergsteigers nach einem Seil noch für das Bedürfnis des Drogenabhängigen nach Heroin. Dieses Verständnis von Grundbedürfnissen entspricht auch der Tatsache, dass uns die sie schützenden Rechte als Menschen zukommen. Grundbedürfnisse sind als für Menschen unausweichliche Bedürfnisse Objekt der Menschenrechte. Was aber bedeutet diese allgemein formulierte Idee von Grundbedürfnissen konkret? Welche Bedürfnisse gehören zu unausweichlichen Bedürfnissen?
II. Überleben Ein erster Vorschlag könnte sein, dass unausweichliche Bedürfnisse die Bedürfnisse sind, die wir mit Blick auf das eigene physische Überleben haben. Und diese Bedürfnisse sind auch bloss dann unausweichlich, wenn wir überleben wollen oder Gründe haben, dies zu wollen. Wer schwerkrank und ohne Hoffnung auf Genesung nicht mehr weiterleben will, hat keine unausweichlichen Ziele mehr. Wenn wir aber 7
Thomson (2005), 176 f.
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überleben wollen, dann brauchen wir bestimmte Dinge: Sauerstoff zum Atmen, Wasser, Nahrung, vor Kälte schützende Kleider und anderes mehr. Ohne Sauerstoff wären wir in einigen Minuten tot. Ohne Wasser würden wir bloss noch einige Tage leben, ohne Nahrung einige Wochen. Und so könnte man sagen, dass die unausweichlichen Bedürfnisse der Menschen genau die sind, die sie befriedigen müssen, um überleben zu können. Mit diesem Verständnis der Grundbedürfnisse sind allerdings einige Schwierigkeiten verbunden. Zunächst ist unklar, was der Zeithorizont der Bedürfnisse und der sich daraus ableitenden Ansprüche ist, der hier im Blick steht.8 Die Menschen sollten überleben können. Aber wie lange sollten sie überleben können? Worauf haben Menschen diesbezüglich einen Anspruch? Die andere Schwierigkeit dieses Verständnisses von Grundbedürfnissen liegt darin, dass es im Blick auf eine Begründung von Menschenrechten nicht in der Lage ist, zu leisten, was es leisten soll. Betrachten wir das Menschenrecht, nicht Opfer „grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ (Art. 5 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung) zu werden. Dieses Recht kann verletzt werden, ohne dass das eigene Überleben in Gefahr wäre. Dasselbe gilt für viele andere Menschenrechte, wie z. B. das Recht, nicht versklavt (Art. 4) oder das Recht, nicht Opfer von Diskriminierung zu werden (Art. 7). Aber selbst den sozialen Menschenrechten wie dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 25) geht es um mehr als bloss die Sicherung des physischen Überlebens von Menschen. So schliesst dieses Recht auch „das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung“ ein. Ein für die Begründung der Menschenrechte relevanter Begriff der Grundbedürfnisse muss mehr umfassen als bloss das, was man für das physische Überleben benötigt.9 Dabei kann es gut sein, dass nicht alle Menschenrechte, die wir in den offiziellen Dokumenten vorfinden, als Menschenrechte ausgewiesen werden können. Man sollte aber doch in der Lage sein, einige zentrale Menschenrechte zu begründen. Wer den Begriff der Grundbedürfnisse im obigen Sinn versteht, vermag dies nicht zu tun. Keines der uns bekannten sozialen Menschenrechte lässt sich damit als Menschenrecht ausweisen. Das spricht ohne Zweifel gegen diesen minimalistischen Begriff von Grundbedürfnissen. III. Ein minimal gutes Leben Um für eine Theorie der Menschenrechte relevant werden zu können, müssen Grundbedürfnisse breiter als etwas gefasst werden, dessen Befriedigung für unser Vgl. dazu auch Griffin (1986), 43. So schreibt Jeremy Waldron (2000), 121: „We want a philosophy of human need, not just biological need. Certainly, no such minimalist theory could do anything like the work rights have done in political debate – signaling concerns about threats to self-respect, religious convictions, free expression, control of body and sexuality, choice of career, cultural and political participation …“ 8 9
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Wohlergehen wichtig ist. Für Gillian Brock ist die Befriedigung von Grundbedürfnissen wichtig, weil sie es uns ermöglicht, ein in einem minimalen Sinn gutes Leben zu führen. „(H)uman needs are what we require to function minimally well as the kinds of creatures we are.“10
Grundbedürfnisse müssen wir befriedigt haben, nicht einfach bloss, damit wir überleben, sondern um gut überleben zu können. Brock denkt hier an Dinge, die nicht bloss einige Menschen, sondern alle Menschen brauchen, um gut leben zu können. Die Bedeutung, die sie für ein gutes Leben haben, beruht entsprechend nicht auf kontingenten Eigenschaften von einzelnen Menschen. Sie sind für Menschen vielmehr aufgrund von Eigenschaften wichtig, die Menschen als Menschen haben. Und was immer sich als gut für Menschen erweist, ein menschliches Leben kann nicht gut sein, wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind. So jedenfalls der Vorschlag von Brock. Dieser Begriff von Grundbedürfnissen ist moralisch relevant. Wenn wir auf das Wohl anderer in irgendeiner Weise Rücksicht nehmen sollen, dann zunächst auf ihre Grundbedürfnisse, wenn es sich dabei um die notwendigen Bedingungen eines guten Lebens handelt. Mit einem solchen weiteren Begriff der Grundbedürfnisse scheinen wir auch bestens in der Lage zu sein, zentrale Menschenrechte zu begründen.
IV. Grundbedürfnisse und Rechte Brock meint, dass Menschen folgende Dinge brauchen, um gut leben zu können: „One will need at least a certain amount of (1) physical and mental health, (2) sufficient security to be able to act, (3) a sufficient level of understanding of what one is choosing between and (4) a certain amount of autonomy … and (5) decent social relations with at least some others.“11
Unabhängig davon, ob wir diese Liste akzeptieren oder eine andere bevorzugen, stellt sich die Frage, ob wir von den verschiedenen Grundbedürfnissen alle befriedigt haben müssen, um ein minimal gutes Leben führen zu können. Ist die Befriedigung eines Grundbedürfnisses eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung eines solchen Lebens? Dafür spricht, dass der Umstand, dass ein einzelnes Grundbedürfnisses befriedigt wird, nicht ausreicht, um ein gutes Leben führen zu können. Wer z. B. gesund ist, lebt deshalb noch kein gutes Leben. Die Befriedigung einzelner Grundbedürfnisse ist keine hinreichende Bedingung eines minimal guten Lebens. Es ist aber auch nicht klar, ob die Befriedigung eines jeden Grundbedürfnisses eine notwendige Bedingung dafür ist, ein minimal gutes Leben zu haben. Es kann 10 11
Brock (2005), 65. Brock (2005), 63.
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sein, dass bestimmte Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, ohne dass man deshalb sagen würde, die betroffene Person führe kein gutes Leben. Betrachten wir dazu einen Asketen, der sein Leben der religiösen Besinnung widmet und keine sozialen Beziehungen zu anderen Menschen pflegt. Wir würden sein Leben nicht aufgrund des Fehlens sozialer Beziehungen allein schon für ein schlechtes halten. Wir würden das bloss dann tun, wenn wir das Fehlen sozialer Beziehungen durch keine anderen Güter kompensiert sehen würden. Wir würden das Leben des Asketen in jedem Fall nicht in dem Sinne als ein schlechtes Leben ansehen, dass wir uns Sorgen um ihn machen und darüber nachdenken müssten, in seine Freiheitssphäre einzugreifen, um ihn vor sich selbst zu schützen. Das hat nicht bloss damit zu tun, dass die fehlenden sozialen Beziehungen durch andere Dinge möglicherweise aufgewogen werden. Es hat wohl auch damit zu tun, dass sich der Asket selbst zu dieser Art von Leben entschlossen hat. Auch wenn ein Grundbedürfnis dieses Menschen nicht befriedigt ist, wird keines seiner Rechte verletzt; oder bleibt keines seiner Rechte, wie man auch sagen kann, unerfüllt. Daran wird deutlich, worin die Beziehung zwischen Grundbedürfnissen und den sie schützenden Menschenrechte bestehen könnte. Die Menschenrechte sind nicht erst dann realisiert, wenn die Grundbedürfnisse von Menschen befriedigt sind. Sie sind vielmehr dann realisiert, wenn sichergestellt wird, dass die Möglichkeit besteht, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Menschenrechte unseres Asketen wären also bloss dann verletzt, wenn er daran gehindert würde, wieder soziale Beziehungen zu pflegen oder von anderen gezwungen worden wäre, solche nicht mehr weiter zu unterhalten. Menschenrechte, so könnte man entsprechend sagen, sichern den Zugang zur Befriedigung von Grundbedürfnissen. Sie schützen, so die vorliegende Konzeption, die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen. Ist es das, was Menschenrechte wirklich schützen? Zunächst drängt sich die Einschränkung auf, dass bloss diejenigen Grundbedürfnisse menschenrechtlich geschützt werden sollten, auf deren Schutz man Menschen sinnvollerweise verpflichten kann. Wenn es beispielsweise ein Grundbedürfnis nach Liebe geben würde, hätte man doch kein Menschenrecht auf Liebe, weil niemand darauf verpflichtet werden kann, andere Menschen zu lieben, dies zumindest dann nicht, wenn damit eine bestimmte gefühlsmässige Einstellung anderen gegenüber gemeint ist.12 Nur diejenigen Grundbedürfnisse sind durch Menschenrechte geschützt, die mit Pflichten anderer korrespondieren können. Sind es also diese Grundbedürfnisse das Objekt der Menschenrechte? Betrachten wir Art. 5 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, wonach „niemand … der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterwerfen werden (darf, P. S.)“. Wird hier ein Grundbedürfnis in dem eben explizierten Sinn geschützt? 12
So auch Miller (2009), 257.
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Menschen wollen nicht Objekt grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung werden. Handelt es sich dabei um ein Grundbedürfnis? Wäre das der Fall, müsste die entsprechende Behandlung von Menschen ihre Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen zumindest beeinträchtigen, wenn nicht gar verunmöglichen. Ist das der Fall, wenn wir andere erniedrigen? Betrachten wir dazu den Akt einer Erniedrigung einer Person, der sie nach Artikel 4 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung nicht unterworfen werden darf. Die Erniedrigung mag negative Konsequenzen für das Wohlbefinden des Opfers haben. Aber beeinträchtigt es dessen Möglichkeit, ein minimal gutes Leben zu führen? Wenn jemand systematisch von anderen erniedrigt wird, wird das wohl der Fall sein. Aber auf viele einzelne Erniedrigungen trifft das nicht zu. Stellen wir uns vor, Paul werde an seinem Arbeitsplatz von einem Kollegen erniedrigt.13 Er wechselt daraufhin die Stelle und vergisst sehr schnell diese Geschichte, die ihn unangenehm berührt hat. Es wurde ihm klarerweise Unrecht getan. Ein grundlegendes moralisches Recht, das Recht, nicht erniedrigt zu werden, wurde vom Kollegen verletzt. Was auch immer es ist, das dies zu einer moralisch verwerflichen Handlung macht, es ist nicht der Umstand, dass ein Grundbedürfnis von Paul im oben bestimmten Sinn verletzt wurde. Ungeachtet dieser erniedrigenden Behandlung, an die Paul sich bald gar nicht mehr erinnern kann, lebt er nämlich nicht nur ein minimal gutes, sondern ein gutes Leben. Man könnte hier einwenden, dass Erniedrigungen einige Menschen unbehelligt lassen mögen, das Wohlergehen der meisten allerdings massiv beeinträchtigt. Wäre das nicht der Fall, würde es auch kein Recht geben, nicht erniedrigt zu werden. Dieses Recht schützt Menschen vor einer Standardbedrohung, nicht vor einer individuellen.14 Zuzugeben ist, dass Erniedrigungen in der Regel das Wohl von Menschen beeinträchtigen. Darin aber, das ist der entscheidende Punkt, besteht nicht das Unrecht, das Erniedrigungen Menschen zufügen. Erniedrigungen zielen darauf, Menschen deutlich zu machen, dass sie nicht gleich viel, oder gar, dass sie gar nicht zählen, und man sie nach eigenem Belieben behandeln kann. Die Beeinträchtigung des Wohls ist eine Nebenfolge solcher Erniedrigungen. Man fühlt sich schlecht, weil einem deutlich wird, dass man von anderen so gesehen wird. Erniedrigungen zielen aber nicht auf eine Beeinträchtigung des Wohls, sondern darauf, den Opfern ihren geringeren Status vor Augen zu führen. Und genau darin besteht auch das Unrecht, das sie Menschen zufügt. Betrachten wir ein anderes Beispiel: Der Staat x hält einige wenige seiner Bürger als Leibeigene. Sie haben keine Rechte, der Staat sorgt aber dafür, dass es ihnen gut 13 Man kann der Meinung sei, dass eine Erniedrigung eine Menschenrechtsverletzung bloss dann darstellt, wenn sie von staatlicher Seite intendiert wird oder vom Staat zumindest absichtlich nicht unterbunden wird. Dieses Verständnis der Menschenrechte soll und muss hier nicht diskutiert werden. Es geht in unserem Kontext ausschliesslich um die Frage, was Erniedrigungen Menschen antun, und nicht um die Frage, von wem sie ausgeführt werden, und auch nicht, von wem sie ausgeführt werden müssen, um als wirkliche Menschenrechtsverletzungen zu gelten. 14 Ich verdanke diesen Einwand Andreas Cassee.
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geht. Er tut alles, um ihre physische und mentale Gesundheit zu sichern, er gesteht ihnen einen gewissen Grad von Autonomie zu, indem er ihnen die Möglichkeit lässt, zwischen bestimmten Optionen zu wählen. Zudem erlaubt er ihnen auch, soziale Beziehungen mit ihresgleichen zu pflegen. Was ihnen nicht zusteht, ist, Dinge vom Staat einzufordern. Die Leibeigenen können Dinge wünschen und um sie bitten, sie können aber vom Staat weder fordern, dass er ihnen Gutes tut, noch dass er ihnen bestimmte Dinge nicht antut. Sie haben in anderen Worten gegenüber dem Staat kein Recht auf eine bestimmte Behandlung. Wenn wir Brocks Liste folgen, sind die Grundbedürfnisse der Leibeigenen befriedigt. Es ist auch nicht auszuschliessen, dass sie sich, aufgewachsen in diesem Staat und an die Verhältnisse gewohnt, sich wohl fühlen. Ungeachtet dessen würde der Staat diesen Menschen massives Unrecht zufügen. Er würde ihre Rechtssubjektivität nicht anerkennen und damit ein grundlegendes Menschenrecht verletzen. Die Rechtsverletzung besteht darin, dass ihnen ihre Rechte abgesprochen werden, dass sie als Wesen behandelt werden, die anderen gegenüber nichts einfordern können. Das ist massives Unrecht völlig unabhängig davon, ob damit die Grundbedürfnisse von Menschen beeinträchtigt werden oder nicht.
V. Normative Autorität Wenn man Menschen als rechtlose Wesen behandelt, spricht man ihnen jede normative Autorität ab. Sie können nichts berechtigterweise geltend machen und besitzen auch keine Autorität über sich selbst. Sie werden so behandelt, als würden sie nicht zählen, als dürfte man mit ihnen machen, was einem gerade beliebt. Mir scheint, dass diese Idee normativer Autorität für die Menschenrechte eine zentralere Rolle spielt als die Grundbedürfnisse von Menschen. Die normative Autorität, von der hier die Rede ist, ist eine Autorität, die zu haben bedeutet, dass man das, worüber man diese Autorität hat, nach eigenem Willen gebrauchen darf.15 Es ist nicht bloss die Fähigkeit, dies zu tun, sondern die Berechtigung dazu. Die Berechtigung umfasst die Entscheidung darüber, was man mit diesen Dingen machen möchte und damit auch das Recht, an diesem Gebrauch nicht gehindert zu werden. Worüber haben wir eine normative Autorität? Naheliegend ist die Antwort, über das, was in meinem Leben wichtig ist, d. h. z. B. darüber, mit wem ich zusammenlebe, wen ich heirate, welchen Beruf ich ausübe, welche Projekte ich verfolge und 15 Normative Autorität sollte nicht mit dem, was James Griffin als „normative agency“ bezeichnet, verwechselt werden (vgl. Griffin, 2008, 45). Normative Handlungsfähigkeit besteht nach Griffin darin, dass man in der Lage ist, das, was man als für sich gut betrachtet, auch zu wählen und zu verfolgen. Sie ist eine Fähigkeit und nicht – wie die normative Autorität – ein Recht. Diese Fähigkeit wird auch nicht notwendigerweise beeinträchtigt, wenn Menschen erniedrigt werden. Man kann durchaus in der Lage sein, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu führen, wenn man erniedrigt worden ist.
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anderes mehr. Dass Menschen eine normative Autorität über diese Dinge haben, heisst nun, dass sie das Recht haben, zu bestimmen, mit wem sie zusammenleben, wen sie heiraten, welchen Beruf sie ausüben und welche Projekte sie verfolgen und auch an der Ausübung dieser Rechte nicht gehindert werden zu dürfen. Verschiedene Rechte, die wir in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung finden, schützen genau diese normative Autorität von Menschen: das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person (Art. 3), das Recht, nicht in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten zu werden (Art. 4), das Recht, nicht Opfer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu werden (Art. 5), das Recht als rechtsfähig anerkannt zu werden (Art. 6), das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen (Art. 16), das Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit (Art. 18), um hier nur einige Rechte zu nennen. Diese Rechte schützen die normative Autorität von Menschen, nicht deren Grundbedürfnisse. Es besteht natürlich kein Zweifel, dass es für Personen schlecht ist, wenn sie Opfer unmenschlicher Behandlung werden oder daran gehindert werden, die Person zu heiraten, die sie heiraten möchten. Aber auch wenn es für eine Person gut wäre, wenn sie daran gehindert würde, die Person ihrer Wahl zu heiraten, da sie sich dabei absehbar ins Unglück stürzen würde, würde man ihr Unrecht zufügen, wenn man das tun würde. Und der Grund hierfür ist, dass das Recht, die Person zu heiraten, die man heiraten möchte, zur normativen Autorität über das eigene Leben gehört. Nun kann man argumentieren, dass dies auf die Freiheitsrechte, nicht aber auf die sozialen und kulturellen Menschenrechte zutrifft. Diese, so könnte man sagen, beziehen ihre Rechtfertigung aus dem Schutz der Grundbedürfnisse, die dabei jeweils auf dem Spiel stehen. So schützen Artikel 25 („Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet …“), Artikel 26 („Jeder hat das Recht auf Bildung“) oder auch Artikel 27 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung („Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen .…“) Grundbedürfnisse von Menschen. Die nähere Betrachtung macht aber deutlich, dass auch diese sozialen und kulturellen Menschenrechte die normative Autorität von Menschen schützen. Betrachten wir dazu das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard „einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen … sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung … (Art. 25.1. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Dieses Recht schützt Grundbedürfnisse, ohne deren Befriedigung man kein minimal gutes Leben führen kann. Dieser Schutz ist jedoch nicht der Grund dieses Rechts. Vielmehr gilt: Menschen haben das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, um ihre normative Autorität über sich ausüben zu können: Menschen sollen ein Leben möglichst nach ihren Vorstellungen führen können. Dazu sind bestimmte Güter erforderlich, ohne die sie dazu nicht in der Lage wären. Wer z. B. keinen Zugang zu Nahrung und Wasser hat, wird seine normative Autorität nicht ausüben können.
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Es geht dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard aber nicht bloss um das Überleben von Personen. Normative Autorität kann man bloss ausüben, wenn man zwischen akzeptablen Optionen wählen kann. Wer sich bloss zwischen Optionen entscheiden kann, die zu wählen es keine Gründe gibt, vermag kein Leben nach seinen Vorstellungen führen. Genau deshalb umfasst die Liste der Güter, die für einen angemessenen Lebensstandard erforderlich sind, auch mehr als bloss diejenigen Güter, die wir für das physische Überleben brauchen. Es geht vielmehr um die Sicherung eines Lebensstandards mit akzeptablen Optionen. Das ist gemeint mit der Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Verwitwung. Man könnte argumentieren, es sei nicht ersichtlich, wieso die normative Autorität den Grund des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard liefert und nicht die Grundbedürfnisse, wenn es doch offensichtlich ist, dass man ohne die in Artikel 25 genannten Güter kein minimal gutes Leben führen kann, und die Erklärung, dass dieses Recht über den Schutz der Grundbedürfnisse begründet ist, damit naheliegend ist. Dass dieses Recht aber nicht aus den Grundbedürfnissen abgeleitet werden kann, lässt sich an folgendem deutlich machen: Menschen haben ein Recht auf die genannten Güter. Sie können aber auf diese Güter auch verzichten. Der religiöse Asket tut dies freiwillig und entbindet andere von der Pflicht, dafür zu sorgen, dass er in den Besitz sämtlicher Grundgüter kommt. Das ist eine Erlaubnis. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard muss vom Rechtssubjekt nicht wahrgenommen werden. Deshalb darf der Asket auch zu nichts gezwungen werden. Wenn also gesagt wird, dass es bei Artikel 25 um die Sicherung eines Lebensstandards mit akzeptablen Optionen geht, dann muss das dahingehend präzisiert werden, dass die Option, sich in einer Lebenssituation mit akzeptablen Optionen wiederzufinden, gesichert werden soll. Es sollen genau besehen nicht Güter, sondern ein Recht gesichert werden, diese Güter zu wählen, sofern der Rechtsträger das selbst will. Das ist das Recht darauf, zwischen akzeptablen Optionen wählen zu können. Und genau dieses Recht ist gemeint, wenn man von der normativen Autorität von Menschen über sich redet. Menschen haben das Recht, akzeptable Optionen zu haben, zwischen denen sie wählen können. Und das heisst: sie haben ein Recht auf Grundgüter, die ihnen die Wahl zwischen akzeptablen Optionen ermöglichen. Das Recht auf Grundgüter, wie es in Artikel 25 zum Ausdruck kommt, ist im Recht darauf, ein Leben zu führen, in dem ich die Wahl zwischen akzeptablen Optionen habe, begründet. Das Recht auf akzeptable Optionen sollte allerdings auch nicht mit der Möglichkeit, Grundbedürfnisse erfüllt zu haben, verwechselt werden. Das Recht auf akzeptable Optionen ist ein Recht auf Handlungsalternativen, für die zu entscheiden man jeweils Gründe hat. Das Recht auf Grundgüter schützt bloss die Güter, die wir brauchen, um ein Leben führen zu können, in dem wir die Wahl zwischen akzeptablen Optionen haben. Die normative Autorität bezieht sich auf die Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen. Dafür ist das Recht auf Grundgüter nicht mehr als eine notwendige Bedingung. Nun soll hier nicht die These vertreten werden, dass alle Menschenrechte in dieser Idee einer normativen Autorität über sich selbst begründet sind. Gegen den Ver-
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such, Menschenrechte in Grundbedürfnissen zu begründen, sollte nur deutlich werden, dass Grundbedürfnisse dies im Blick auf zentrale Menschenrechte nicht zu leisten in der Lage sind. Wenn Grundbedürfnisse uns den Grund der Zuschreibung von Menschenrechten liefern würden, dann müssten sie wohl die oben diskutierten Freiheitsrechte zum einen und die sozialen Rechte zum anderen begründen können. Genau dies scheint aber nicht der Fall zu sein.
VI. Normative Autorität als Grundbedürfnis? Man könnte einwenden, dass die beiden unterschiedlichen Weisen, Menschenrechte zu begründen (über Grundbedürfnisse und über normative Autorität) sich genau betrachtet gar nicht voneinander unterscheiden. Dies deshalb, weil sich die normative Autorität über sich selbst auch als ein Grundbedürfnis von Menschen verstehen lässt. Um ein minimal gutes Leben führen zu können, müssen Menschen auch in der Lage sein, ihr Leben möglichst nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. So der Einwand. Dieser Einwand überzeugt meiner Ansicht nach in verschiedenen Hinsichten nicht. Sie haben alle damit zu tun, dass eine normative Autorität über sich zu besitzen und die Grundbedürfnisse von Menschen völlig verschiedene Dinge sind. Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden, um bestimmte Zwecke zu realisieren, z. B. um ein minimal gutes Leben führen zu können: Ich brauche x, um y zu erreichen.16 Es mag richtig sein, dass auch die dem Einwand zugrundeliegende Vermutung stimmt, dass normative Autorität notwendig ist, um ein gutes Leben zu führen. Normative Autorität über sich selbst zu haben, mag folglich auf den ersten Blick als Grundbedürfnis erscheinen. Da diese Funktion der normativen Autorität aber nicht der Grund dafür ist, dass die normative Autorität von Menschen geachtet werden muss, erfasst dies den Begriff nicht zufriedenstellend. Die Missachtung der normativen Autorität von Menschen über sich ist nicht deshalb falsch, weil oder sofern sie ihre Möglichkeit, ein minimal gutes Leben zu führen, beeinträchtigt oder gar verunmöglicht. Das, was beispielsweise die Erniedrigung anderer falsch macht, ist nicht dies, dass es das Wohlergehen anderer beeinträchtigt. Erniedrigungen können das zwar tun, aber sie wären auch dann falsch, wenn sie dies nicht tun würden. Falsch ist es, andere zu erniedrigen, weil man auf diese Weise deren normative Autorität nicht achtet. Dies ist der erste Punkt, worin der Einwand nicht überzeugend ist. Die Achtung der normativen Autorität von Menschen stellt zweitens keine Befriedigung eines Grundbedürfnisses dar. Das hat damit zu tun, dass die normative Autorität von Menschen eine Eigenschaft ist, die sich von Grundbedürfnissen unterscheidet. Die normative Autorität ist etwas, das wir beanspruchen. Wir besitzen sie, wenn wir anderen gegenüber bestimmte Dinge einfordern können. Normative Autorität ist die normative Eigenschaft berechtigt zu sein, von anderen bestimmte Dinge 16
Vgl. Wiggins (2005).
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einzufordern, nicht etwas, das wir im Sinne einer natürlichen Eigenschaft einfach haben. Grundbedürfnisse sind demgegenüber natürliche Eigenschaften, die wir als Menschen haben. Wir brauchen bestimmte Dinge, um ein minimal gutes Leben führen zu können. Aussagen über die Grundbedürfnisse von Menschen sind rein deskriptiver Natur. Wenn wir sagen ,Menschen brauchen Nahrung und Wasser, um gut leben zu können‘, dann wird damit weder eine evaluative noch ein normative Aussage gemacht. Es ist einfach etwas, das der Fall ist. Damit, dass dies so ist, ist ein dritter Unterschied zwischen normativer Autorität und Grundbedürfnissen verbunden: Weil Grundbedürfnissen natürliche Eigenschaften und Aussagen über Grundbedürfnisse lediglich deskriptiv sind, ist nicht klar, worin die normative Bedeutsamkeit von Grundbedürfnissen genau liegt. Man könnte sagen, dass es der Bezug zum guten Leben ist, der Grundbedürfnisse normativ bedeutsam macht. Dann bleibt aber unklar, inwiefern uns dies unter die Pflicht stellt, für ihre Befriedigung zu sorgen. Wieso haben wir – so kann man fragen – ein Recht auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse, dem Pflichten anderer korrespondieren? Diese Frage stellt sich im Blick auf die normative Autorität von Menschen nicht. Die normative Autorität ist der berechtigte Anspruch darauf, Dinge von anderen einzufordern. Dass dies mit der Pflicht anderer verbunden ist, diesen Anspruch auch zu achten, folgt schlicht aus dem Umstand, dass es sich dabei um einen berechtigten Anspruch handelt. Wer diesen anerkennt, anerkennt eo ipso auch eine Pflicht, ihn zu achten. Und nicht zuletzt ist es etwas anderes, ob man sich anderen gegenüber als ein Wesen mit normativer Autorität oder als Wesen mit Grundbedürfnissen präsentiert. Als Wesen mit normativer Autorität bin ich anderen gegenüber weder Bittsteller noch Wünschender, sondern Fordernder. Als Wesen mit Grundbedürfnissen bin ich anderen gegenüber Wünschender oder jemand, der darauf hinweisen kann, dass es gut ist, auf seine Grundbedürfnisse einzugehen. Als Wesen mit Grundbedürfnissen bin ich aber nicht jemand, der ein Recht darauf hat, dass andere ihm bestimmte Dinge tun und andere unterlassen. Wie Waldron betont, kann der Rechtsträger das tun, ohne sich dafür schämen zu müssen.17 Es bestehen also mindestens vier Unterschiede zwischen normativer Autorität und Grundbedürfnissen. Damit muss man den Einwand zurückweisen, dass normative Autorität ebenfalls ein Grundbedürfnis ist und eine Begründung der Menschenrechte über normative Autorität schlussendlich eine Begründung über Grundbedürfnisse ist.
17 Waldron (2000), 130: „Rights are the claims a person can put forward for her own sake and on her own behalf without the moral embarrassment usually associated with assertions of self-interest.“
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VII. Schluss Menschenrechte sind nicht, wie verschiedene Autoren meinen, in Grundbedürfnissen begründet. Zentrale Menschenrechte zumindest, beruhen, so wurde hier argumentiert, auf dem grundlegenden Anspruch, eine normative Autorität über sich zu haben. Grundbedürfnisse werden dabei von bestimmten Menschenrechten geschützt. Sie werden geschützt, weil sie für die Ausübung der normativen Autorität eine wichtige Rolle spielen. Das eigentliche Schutzobjekt ist aber die normative Autorität der Menschen über sich selbst. Es ist dieser grundlegende Anspruch, aus dem zumindest zentrale Menschenrechte hervorgehen. Sowohl die Freiheitsrechte als auch die sozialen Rechten, die wir betrachtet haben, sollen diese normative Autorität und ihre Ausübung beschützen. Wie weit genau diese Idee normativer Autorität im Blick auf eine Begründung der Menschenrechte trägt, soll hier offen bleiben. Sie trägt jedoch ohne Zweifel, so viel sollte deutlich geworden sein, weiter als die Idee der Grundbedürfnisse. Summary Some authors think that human rights are all about protecting human needs. According to them, human needs are not just the objects of human rights but also what the rights we have as human beings are grounded in. This is the view which is discussed in this paper. It is argued that despite the fact that some human needs are protected by human rights, they are not what human rights are based upon. Human rights – at least the core human rights – protect the normative authority of persons. The normative authority also provides us – it is argued – with reasons to ascribe core human rights. Persons have a right to control essential aspects of their life as well as a right to exercise this right. And this is what the core human rights at least are all about. Literatur Beitz, Ch. (2008): The Idea of Human Rights, Oxford. Brock, Gillian (2005): Needs and Global Justice, in: S. Reader (Hrsg.): The Philosophy of Need, Cambridge, 51 – 72. – (2009): Global Justice. A Cosmopolitan Account, Oxford. Griffin, James (1986): Well-Being. Its Meaning, Measurement, and Moral Importance, Oxford. – (2008): On Human Rights, Oxford. Miller, D. (2007): National Responsibility and Global Justice, Oxford. – (2009): ,A Spoonful of Sugar Helps the Medicine Go Down‘: Gillian Brock on Global Justice, in: Journal of Global Ethics 3, 253 – 260. Raz, J. (2010): Human Rights without Foundations, in: S. Besson / J. Tasioulas (Hrsg.): The Philosophy of International Law, Oxford, 321 – 338.
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Politische Ethik und Recht – Political Ethics and the Law
Haben wir eine Fairnesspflicht zum Rechtsgehorsam? Frank Dietrich
I. Einleitung Die Frage nach einer moralischen Pflicht der Individuen zum Gesetzesgehorsam steht seit Platons Schrift „Kriton“ im Blickpunkt des philosophischen Interesses. In der modernen Diskussion hat lange Zeit die Vertragstheorie, die die Pflicht zur Rechtsbefolgung auf individuelle Zustimmungsakte zurückführt, eine bestimmende Rolle gespielt. Auf Grund der gravierenden Einwände, die gegen eine kontraktualistische Begründung von Gehorsamspflichten erhoben wurden, findet sie gegenwärtig aber nur noch wenige Anhänger. Eine wichtige Alternative zum Vertragsgedanken bietet die Fairnesstheorie, die maßgeblich H. L. A. Hart und John Rawls Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Die Kontroverse um die Existenz individueller Fairnesspflichten, die die Überlegungen der beiden Autoren ausgelöst haben, dauert bis heute an. Die vorliegende Untersuchung verfolgt das Ziel, die zentralen Linien der Diskussion nachzuzeichnen und die Fairnesstheorie einer kritischen Analyse zu unterziehen. Eingangs gilt es die Pflicht zum Rechtsgehorsam näher zu bestimmen und die Anforderungen, die an ihre theoretische Begründung gestellt werden, darzulegen (II.). Anschließend wird das Fairnessprinzip ausgehend von den Formulierungen, die sich in den Arbeiten von Hart und Rawls finden, erläutert (III.). Im nächsten Schritt wird dann seine Anwendung auf die staatliche Gemeinschaft als Grundlage einer individuellen Pflicht zum Gesetzesgehorsam betrachtet (IV.). Darauf aufbauend wird die einflussreiche Kritik, die Robert Nozick an der Fairnesstheorie geübt hat, vorgestellt und erörtert (V.). Danach gilt es den Versuch verschiedener zeitgenössischer Vertreter der Fairnesstheorie, die Einwände Nozicks zu entkräften, einer eingehenden Prüfung zu unterziehen (VI.). Im letzten Abschnitt wird die Argumentation resümiert und die Begründung individueller Fairnesspflichten im Rahmen der staatlichen Gemeinschaft abschließend bewertet (VII.).
II. Die Pflicht zum Rechtsgehorsam Für das Verständnis der aktuellen philosophischen Diskussion, die sich mit der Pflicht zum Rechtsgehorsam befasst, erscheinen einige Vorbemerkungen hilfreich. Zunächst bedarf die Vorstellung einer individuellen Gehorsamspflicht, die im Mit-
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telpunkt der Kontroverse steht, einer kurzen Erläuterung. Der leitende Gedanke lässt sich durch die Abgrenzung von zwei anderen Gründen verdeutlichen, die die Individuen zur Befolgung der staatlichen Gesetze haben können (vgl. Hare 1989, 14 ff.). Die Rechtsadressaten können sich zum einen aus Interessenerwägungen dazu veranlasst sehen, die geltenden Vorschriften einzuhalten. Die Klugheitsgründe basieren im Wesentlichen auf der Angst vor staatlichen wie auch sozialen Sanktionen, die Gesetzesübertretungen nach sich ziehen können. Zum anderen können die Individuen moralische Gründe zum Rechtsgehorsam haben, die sich aus dem Inhalt einer Verhaltensnorm ergeben. Sie können es z. B. für moralisch geboten halten, Angriffe auf Leben, Gesundheit und Eigentum anderer Personen zu unterlassen. Die gesetzlichen Verbote von Mord, Körperverletzung und Diebstahl betrachten sie dann als bindend, weil sie grundlegende moralische Prinzipien kodifizieren. Anders als die Klugheitserwägungen appelliert die Pflicht zum Rechtsgehorsam, die im Weiteren erörtert werden soll, nicht an das Eigeninteresse der Individuen. Wie schon die Bezeichnung als Pflicht deutlich macht, fragt sie nach möglichen moralischen Gründen für ein normkonformes Verhalten. Dabei stellt sie aber nicht auf den Inhalt der einzelnen gesetzlichen Regeln ab, die von den zuständigen staatlichen Instanzen erlassen werden. Sie rekurriert vielmehr auf die besondere normative Beziehung, in der die Individuen zum Staat oder – einigen Begründungsansätzen zufolge – zu ihren Mitbürgern stehen. So haben die Individuen z. B. aus kontraktualistischer Sicht eine Gehorsamspflicht, weil sie den Staat vertraglich zur Herrschaftsausübung autorisiert haben. Entscheidend ist demnach nicht die moralische Qualität der Rechtsnormen, sondern die staatliche Befugnis, den Individuen Vorschriften zu erteilen. Der politische Charakter der Pflicht kommt auch in der Bezeichnung zum Ausdruck, die sich in der englischsprachigen Diskussion etabliert hat. Der Begriff „political obligation“ verweist explizit auf die politische Gemeinschaft als Bezugsrahmen der individuellen Verpflichtung zum Gehorsam.1 Wie die vorstehenden Überlegungen gezeigt haben, können auch prudentielle Motive und Gründe, die sich aus dem Inhalt einer Verhaltensnorm ergeben, für die Rechtsbefolgung sprechen. Die Existenz einer Gehorsamspflicht stellt insofern keine notwendige Bedingung für ein gesetzeskonformes Verhalten der Individuen dar. Die normative Frage nach der Geltung einer Gehorsamspflicht und die empirische Frage nach der faktischen Rechtsbeachtung müssen sorgfältig voneinander getrennt werden. Eine plausible theoretische Begründung kann zwar zweifellos die Individuen, sofern sie sich überhaupt für moralische Argumente empfänglich zeigen, zur Rechtsbefolgung veranlassen. Umgekehrt muss aber das Scheitern der philosophischen Bemühungen nicht notwendig zu einem anarchischen Zustand führen, 1 Der Begriff „political obligation“ wird allerdings z. T. in einer weiteren – über die reine Rechtsbefolgung hinausgehenden – Bedeutung verwandt. Einige Theoretiker zählen auch gesetzlich nicht vorgeschriebene Aktivitäten, wie etwa die Teilnahme an demokratischen Wahlen, zu den „politischen Pflichten“ der Individuen. Für eine grundsätzliche Kritik an der Fixierung der aktuellen Diskussion auf den Rechtsgehorsam als „politische Pflicht“ im engeren Sinne siehe Parekh 1993.
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in dem gesetzliche Vorschriften nicht respektiert werden. Eine Rechtsordnung kann sich auch ohne Anerkennung einer Gehorsamspflicht als stabil erweisen, wenn die Individuen in der Regel aus anderen Gründen die Gesetze einhalten.2 Beachtung verdient ferner, dass gegenwärtig die meisten Theoretiker die Befolgung der gesetzlichen Vorschriften als prima facie Pflicht der Individuen begreifen. Eine prima facie Pflicht zeichnet sich dadurch aus, dass sie von konkurrierenden moralischen Gesichtspunkten übertrumpft werden kann. Mithin verlangt eine prima facie Pflicht zum Rechtsgehorsam von den Normadressaten nicht in jedem Einzelfall, die staatlichen Gesetze zu respektieren. Wenn rivalisierende moralische Erwägungen mehr Gewicht besitzen, kann die Missachtung von Rechtsnormen ausnahmsweise erlaubt oder sogar geboten sein. So dürfen die Individuen z. B. nötigenfalls Verkehrsregeln brechen, um das Leben eines Unfallopfers zu retten, das auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus gebracht werden muss. Folglich stellt die Existenz einer Gehorsamspflicht auch keine hinreichende Bedingung dar, um den Rechtsadressaten in einer konkreten Situation die Befolgung eines Gesetzes zu gebieten (vgl. Simmons 1979, 24 ff.). An eine Theorie, die individuelle Pflichten zum Rechtsgehorsam begründen soll, werden üblicherweise verschiedene Anforderungen gestellt. Eine zentrale Bedeutung kommt dem Kriterium der Partikularität zu, das John Simmons in die philosophische Diskussion eingeführt hat (vgl. Simmons 1979, 30 ff.). Der Begriff der Partikularität bezeichnet die besondere normative Beziehung, die zwischen einem Staat und seinen Bürgern besteht. Nach weithin verbreiteter Vorstellung haben die Individuen primär gegenüber dem Staat, dem sie angehören, eine Pflicht zum Rechtsgehorsam. Etwaigen Forderungen anderer Staaten, Steuern an sie zu entrichten oder Wehrdienst in ihrer Armee zu leisten, müssen sie nicht nachkommen. Eine Theorie, die zugleich mehreren Staaten das Recht zuspricht, von den Individuen Gehorsam einzufordern, gilt insofern als verfehlt.3 Neben der Partikularität der Begründung gilt gemeinhin auch ihre Generalität als Maßstab für den Erfolg einer philosophischen Theorie. Das Kriterium der Generalität findet sowohl auf die Adressaten des Rechts wie auch seine unterschiedlichen Regelungsbereiche Anwendung. Zum einen soll eine normative Theorie der Rechtsbefolgung möglichst alle Individuen einbeziehen, die den staatlichen Gesetzen unterstehen. Wenn sie nur für einen Teil der Rechtsadressaten eine Gehorsamspflicht 2 Die Auffassung, dass die Diskussion um die theoretische Begründung individueller Gehorsamspflichten keine praktische Relevanz hat, wird z. B. vertreten in Buchanan 2002, 695 ff. und 2004, 239 ff.; kritisch hierzu Dietrich 2008, 65 ff. 3 Die Bedingung der Partikularität ist insbesondere für Theorien problematisch, die zur Begründung einer individuellen Pflicht zur Rechtsbefolgung auf die Gerechtigkeit der staatlichen Herrschaft verweisen. Wenn mehrere Rechtsordnungen als gerecht gelten können, muss die besondere Gehorsamsbeziehung, in der die Bürger zu „ihrem“ Staat stehen, eine andere Grundlage haben. Versuche, die Gerechtigkeitstheorie gegen den Einwand zu verteidigen, sie scheitere an dem Kriterium der Partikularität, finden sich in Waldron 1993 sowie Wellman 2004 und 2005, 34 ff.
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zu begründen vermag, gilt sie nach herkömmlichen Standards als defizitär. Zum anderen soll sich die Begründung individueller Pflichten auf möglichst alle Arten von Gesetzen erstrecken, die von einem Staat erlassen werden. Eine Theorie, die sich auf einzelne Rechtsbereiche, wie etwa das Steuer- oder das Verkehrsrecht, nicht anwenden lässt, bleibt hinter den an sie gestellten Erwartungen zurück.4 Eine weitere Anforderung, die allerdings in der zeitgenössischen Diskussion zunehmend auf Kritik stößt, besteht in der Singularität der vorgebrachten Begründung. Eine Theorie erfüllt dann die Bedingung der Singularität, wenn sie alle Gehorsamspflichten der Individuen aus einem einzigen moralischen Prinzip herleitet. Ein Beispiel bieten kontraktualistische Ansätze, die die Pflicht zur Rechtsbefolgung ausschließlich auf individuelle Zustimmungsakte zurückführen. Theorien, die zwei oder mehr moralische Prinzipien in Anspruch nehmen müssen, können demnach keine zufrieden stellende Begründung von Gehorsamspflichten leisten.5
III. Fairness als Verpflichtungsgrund Das Fairnessprinzip hat H. L. A. Hart in dem Aufsatz „Are there any natural rights?“ aus dem Jahre 1955 eher beiläufig in die philosophische Diskussion eingeführt. Seiner grundlegenden These zufolge lassen sich alle moralischen Rechte – sofern überhaupt welche existieren – auf ein natürliches Freiheitsrecht zurückführen.6 Ein natürliches Recht auf Freiheit haben nach Harts Darstellung alle Menschen, die über die Fähigkeit verfügen, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Aus ihm lassen sich direkt eine Reihe allgemeiner Rechte („general rights“) ableiten, die jede Person gegenüber allen anderen Personen besitzt. Die allgemeinen Rechte, wie z. B. das Recht auf freie Meinungsäußerung, stellen Konkretisierungen des natürlichen Freiheitsrechts für einzelne Handlungsbereiche dar. Sie konstituieren für alle Personen eine negative Pflicht gegenüber dem Rechtsträger, von Eingriffen in seine Freiheitssphäre Abstand zu nehmen. Hart zufolge haben außerdem indirekt vier Arten von speziellen Rechten („special rights“) ihren Ursprung in dem natürlichen Recht auf Freiheit. Die speziellen Rechte und die mit ihnen verbundenen Pflichten sind ein Ergebnis der Beziehungen, in die die Individuen in Ausübung ihrer Freiheiten zueinander treten. Als ersten Fall nennt Hart die Abgabe von Versprechen, die ein besonderes normatives Ver4 Die Möglichkeit, eine Theorie zu entwickeln, die dem Anspruch der Generalität genügt, wird allerdings von verschiedenen Autoren bestritten. So konstatiert z. B. Joseph Raz: „(…) The extent of the duty to obey the law in a relatively just country varies from person to person and from one range of cases to another.“ (Raz 1999, 169). 5 Beispiele für „pluralistische“ Theorien, die verschiedene Begründungsansätze miteinander kombinieren, bieten Klosko 2004 und 2005, 98 ff.; Rinderle 2005, 335 ff. sowie Wolff 2000. 6 Hart schreibt zu Beginn des Aufsatzes: „I shall advance the thesis that if there are any moral rights at all, it follows that there is at least one natural right, the equal right of all men to be free.“ (Hart 1955, 175).
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hältnis zwischen den beteiligten Personen begründen. Wenn die Person A der Person B verspricht, die Handlung X auszuführen, entsteht sowohl ein neues Recht wie auch eine zuvor nicht vorhandene Pflicht. B als Adressat des Versprechens erhält das Recht, den Vollzug von X zu verlangen; A als Versprechensgeber erlegt sich selbst die Pflicht auf, X zu vollziehen. Als zweiten Fall führt Hart die Autorisierung einer Person A durch eine Person B an, in ihre Freiheiten einzugreifen und Entscheidungen für sie zu treffen. A erwirbt das spezielle Recht, im Rahmen der ihr zugestandenen Kompetenzen über die Angelegenheiten von B zu bestimmen. Im Unterschied zum Versprechen besitzt der Rechtsträger keinen Anspruch gegenüber einer anderen Person auf die Ausführung einer bestimmten Handlung. Die Autorisierung gibt A lediglich die Erlaubnis, selbst in einer Weise zu handeln, die ihm zuvor durch das natürliche Freiheitsrecht von B verwehrt war. Der Gedanke der Fairness, der hier im Blickpunkt des Interesses steht, wird von Hart als dritter Fall behandelt. Seiner Auffassung nach entstehen den Individuen auch durch die Teilnahme an Kooperationen, die der gemeinschaftlichen Erzeugung von Gütern dienen, spezielle Rechte und Pflichten. Hart schreibt: „(…) When a number of persons conduct any joint enterprise according to rules and thus restrict their liberty, those who have submitted to these restrictions when required have a right to a similar submission from those who have benefited by their submission.“ (Hart 1955, 185) Die Regeln, auf denen die Zusammenarbeit basiert, schränken die Freiheit der Individuen ein, indem sie ihnen bestimmte Handlungen vorschreiben oder untersagen. Wer sich an die Regeln hält und seinen Teil zum Gelingen der Kooperation beiträgt, kann Hart zufolge auch von anderen ein normkonformes Verhalten erwarten. Demnach haben die Individuen, die aus der Regelbefolgung anderer einen Nutzen ziehen, die Pflicht, den von ihnen verlangten Beitrag zu erbringen. Die damit zum Ausdruck gebrachte Forderung, in kooperativen Unternehmungen nicht die Position des Trittbrettfahrers einzunehmen, trägt die Bezeichnung Fairnesspflicht.7 Die vierte Art von speziellen Rechten und Pflichten, die Hart thematisiert, hat natürliche Beziehungen („natural relationships“) zum Gegenstand. Als Beispiel führt er das besondere normative Verhältnis an, in dem nach weithin geteilter Überzeugung Eltern und Kinder zueinander stehen. Die Ableitung von speziellen Rechten und Pflichten aus einem anfänglichen Freiheitsrecht begegnet hier freilich gravierenden Schwierigkeiten. Die Eltern-Kind-Beziehung, in der eine besondere moralische Verantwortung bestehen soll, kann offenkundig nicht als das Ergebnis individueller Freiheitsausübung verstanden werden. Die Individuen werden in die Rolle des Kindes 7 Hart verwendet zunächst nicht den Begriff der Fairness zur Bezeichnung der oben dargelegten Pflicht; im Schlussabschnitt des Aufsatzes schreibt er aber: „(…) In the case of mutual restrictions we are in fact saying that this claim to interference with another’s freedom is justified because it is fair; and it is fair because only so will there be an equal distribution of restrictions and so of freedom among this group of men.“ (Hart 1955, 190 f.).
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hineingeboren und erlegen sich insofern nicht selbst Pflichten gegenüber ihren Eltern auf (vgl. Goodin 1985, 30 ff.). Harts Idee einer Fairnesspflicht hat John Rawls in dem im Jahre 1964 publizierten Aufsatz „Legal Obligation and the Duty of Fair Play“ aufgenommen und weiter ausgearbeitet. Er schreibt dort: „Suppose there is a mutually beneficial and just scheme of social cooperation, and that the advantages it yields can only be obtained if everyone, or nearly everyone, cooperates. Suppose further that cooperation requires a certain sacrifice from each person, or at least involves a certain restriction of his liberty. Suppose finally that the benefits produced by cooperation are, up to a certain point, free: that is, the scheme of cooperation is unstable in the sense that if any one person knows that all (or nearly all) of the others will continue to do their part, he will still be able to share a gain from the scheme even if he does not do his part. Under these conditions a person who has accepted the benefits of the scheme is bound by a duty of fair play to do his part and not to take advantage of the free benefit by not cooperating.“ (Rawls 1999, 122).8 Rawls führt in der vorstehenden Textpassage eine Reihe von Bedingungen ein, die eine Kooperation erfüllen muss, damit den beteiligten Individuen Fairnesspflichten entstehen. Seiner Auffassung nach muss sich die gemeinsame Güterproduktion unter anderem als gerecht darstellen und zu ihrem Gelingen einen Beitrag von (fast) allen Individuen erfordern. In dem genannten Aufsatz gibt Rawls allerdings für die verschiedenen Einschränkungen, denen er das Fairnessprinzip unterwirft, keine Begründung an. So bleibt z. B. unklar, warum die Individuen nur im Rahmen einer Kooperation, die als gerecht gelten kann, eine Pflicht zur Fairness haben sollen. Auch die Zusammenarbeit in einer Räuberbande, die der Verwirklichung ungerechter Ziele dient, sieht sich mit Trittbrettfahrerproblemen konfrontiert. Daher ist nicht unmittelbar einsichtig, warum sich der Grundgedanke einer fairen Aufteilung der Lasten und Erträge nicht auf die Kooperation unter Räubern anwenden lassen soll (vgl. Simmons 1979, 109 ff.).9 Für die weitere Argumentation ist es aber nicht notwendig, die einzelnen Bedingungen, die von Rawls genannt werden, ausführlich zu diskutieren. Hier seien nur zwei Einschränkungen hervorgehoben, die für die – im fünften Abschnitt thematisierte – Entgegnung auf Nozicks Kritik eine wichtige Rolle spielen. Fairnesspflichten entstehen laut Rawls ausschließlich in wechselseitig vorteilhaften Kooperationen und treffen nur Individuen, die die Erträge der Zusammenarbeit akzeptiert haben. 8 In seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ beruft sich Rawls primär auf eine natürliche Pflicht, gerechten Institutionen zu gehorchen (vgl. Rawls 1975, 368 ff.). Nur Bürger, die freiwillig – etwa indem sie in eine Beamtenlaufbahn eintreten – vom Staat gewährte Vorteile in Anspruch nehmen, unterliegen seiner Ansicht nach zusätzlich einer Fairnesspflicht zur Rechtsbefolgung (vgl. Rawls 1975, 378 ff.). 9 Rawls erläutert in dem oben genannten Aufsatz nicht, wie er den Begriff der Gerechtigkeit verstanden wissen will. Aus seinen Ausführungen geht nicht eindeutig hervor, ob er sich – wie vorstehend unterstellt – auf das Ziel der Kooperation oder auf die Distribution der mit ihr verbundenen Vor- und Nachteile bezieht.
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IV. Der Staat als Kooperationsgemeinschaft Hart und Rawls zufolge entstehen den Individuen immer dann Fairnesspflichten, wenn sie sich zusammenfinden, um gemeinsam Güter zu erzeugen. Ihrer Überzeugung nach muss das Prinzip der Fairness auf alle Arten von sozialen Kooperationen Anwendung finden. Das eigentliche Interesse beider Autoren gilt aber der staatlichen Gemeinschaft und der Begründung von Fairnesspflichten im Verhältnis der Bürger zueinander.10 Leitend ist dabei die Vorstellung, der Staat verkörpere eine kooperative Unternehmung, die der Verwirklichung wichtiger Ziele diene. In den frühen Arbeiten von Hart und Rawls finden sich keine Angaben zu den Gütern, die im Rahmen der staatlichen Gemeinschaft produziert werden. Die vordringliche Aufgabe des Staates besteht nach weithin geteilter Auffassung darin, seine Bürger vor Angriffen auf Leib und Leben zu schützen. Über die Gewährleistung von Sicherheit hinaus werden in der staatlichen Gemeinschaft zumeist noch eine Reihe weiterer Güter, etwa im Bereich der Infrastruktur oder im Umweltschutz, hervorgebracht. So stellt der Staat den Bürgern z. B. ein intaktes Straßen- und Schienennetz zur Verfügung und garantiert ihnen Zugang zu sauberem Trinkwasser.11 Die Gesetze formulieren aus Sicht von Hart und Rawls die Regeln, auf denen die Zusammenarbeit in der staatlichen Gemeinschaft basiert. Durch ihr rechtskonformes Verhalten ermöglichen die Bürger in zweierlei Hinsicht die Erzeugung der vorstehend angeführten Güter. Zum einen statten sie den Staat durch die Zahlung von Steuern mit den finanziellen Mitteln aus, die er benötigt, um die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Zum anderen tragen sie direkt zur Entstehung von Gütern wie z. B. Sicherheit bei, indem sie Gesetze einhalten, die schädigende Verhaltensweisen verbieten. Die staatliche Gemeinschaft kann zwar ihre Ziele auch dann erreichen, wenn eine begrenzte Anzahl von Bürgern gelegentlich dem Recht zuwider handelt. Hart und Rawls zufolge gebietet die Fairness aber Individuen, die von der Regeltreue ihrer Mitbürger profitieren, auch ihrerseits den geforderten Beitrag zur Kooperation zu erbringen. Der Versuch, eine Fairnesspflicht zur Rechtsbefolgung zu begründen, muss als bewusste Abkehr von der vertragstheoretischen Denktradition verstanden werden. So schreibt Hart in dem eingangs genannten Aufsatz: „The social-contract theorists rightly fastened on the fact that the obligation to obey the law is not merely a special case of benevolence (direct or indirect), but something which arises between mem10 Genau genommen treffen die Fairnesspflichten nicht nur Bürger, sondern alle Personen, denen die Erträge der staatlichen Zusammenarbeit zugute kommen. Neben Immigranten, die (noch) keinen Bürgerstatus besitzen, haben z. B. auch Gaststudenten und Touristen eine Pflicht zum Rechtsgehorsam, weil sie von der Sicherheit und anderen Leistungen des Staates profitieren. 11 Neben der Bereitstellung von öffentlichen Gütern, die alle Bürger konsumieren können, erbringen moderne Staaten auch Leistungen, etwa im Bereich der Sozialpolitik, die nur einem eingeschränkten Personenkreis zugute kommen. Die Probleme, die daraus für die Darstellung von Staaten als Kooperationsgemeinschaften zum wechselseitigen Vorteil entstehen, werden im fünften Abschnitt noch eingehend erörtert.
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bers of a particular political society out of their mutual relationship. Their mistake was to identify this right-creating situation of mutual restrictions with the paradigm case of promising (…).“ (Hart 1955, 186) In Harts weiteren Ausführungen werden die Gründe, die ihn zur Ablehnung der kontraktualistischen Rechtfertigung individueller Gehorsamspflichten veranlasst haben, nicht näher erläutert. Eine kurze Erinnerung an die Standardeinwände, die gegen die Vertragstheorie vorgebracht werden, erscheint aber sinnvoll, um die Attraktivität des Fairnessprinzips verständlich zu machen. Die kontraktualistische Argumentation nimmt ihren Ausgang von der Annahme eines vorstaatlichen Zustands, in dem alle Individuen über ein natürliches Recht auf gleiche Freiheit verfügen. Die vertragliche Vereinbarung, durch die der Staat ins Leben gerufen wird, ist Grundlage sowohl für die Herrschaftsrechte des Souveräns wie auch die Gehorsamspflichten der Bürger. Auf der einen Seite wird die Befugnis der staatlichen Instanzen, die Freiheit der Individuen einzuschränken und nötigenfalls Zwang auszuüben, mit ihrer vorgängigen Zustimmung gerechtfertigt. Auf der anderen Seite wird die Pflicht der Individuen, die Gesetze des Staates – soweit sie im Rahmen der vereinbarten Kompetenzen verbleiben – zu beachten, auf ihren Vertragsbeitritt zurückgeführt. Ursächlich für die normative Beziehung zwischen Souverän und Bürger sind also die im Vertrag abgegebenen Versprechen, die in Harts Theorie die erste Art spezieller Rechte und Pflichten darstellen.12 Das grundlegende Problem, mit dem sich kontraktualistische Theorien konfrontiert sehen, besteht darin, den Vollzug pflichtkonstituierender Akte plausibel zu machen. Kein Staat befindet sich im Besitz eines Vertrages, durch den die Individuen im Naturzustand ihre ursprüngliche Freiheit eingeschränkt haben. Selbst wenn ein historisches Dokument vorliegen würde, ließen sich aus ihm keine Gehorsamspflichten für die gegenwärtigen Bürger ableiten. Die Zustimmungsakte früherer Generationen können spätere Generationen nicht verpflichten, da sich die Individuen durch ihre Versprechen nur selbst zu binden vermögen. Die Bürger, die heute im Staat leben und seine Gesetze befolgen sollen, haben aber nie einen Vertrag unterzeichnet und sich zur Übernahme von Pflichten bereit erklärt.13 Das offenkundige Fehlen einer ausdrücklichen Zustimmung hat einige Vertreter einer kontraktualistischen Theorie dazu bewogen, sich auf eine stillschweigende Zustimmung zu berufen. Bereits John Locke hat dafür plädiert, in dem zu beobachtenden Verhalten der Individuen ein ausreichendes Zeichen für die faktische Anerkennung des Vertrages zu sehen. In den „Two Treatises of Government“ schreibt er: 12 Für eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung, die Pflicht zum Rechtsgehorsam basiere auf individuellen Zustimmungsakten, siehe Gert 2003. 13 John Locke bemerkt hierzu: „(…) Whatever Engagements or Promises any one has made for himself, he is under the Obligation of them, but cannot by any Compact whatsoever, bind his Children or Posterity. For this Son, when a Man, being altogether as free as the Father, any act of the Father can no more give away the liberty of the Son, than it can of any body else (…).“ (Locke 1960, 346).
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„(…) Every Man, that hath any Possession, or Enjoyment, of any part of the Dominions of any Government, does thereby give his tacit Consent, and is as far forth obliged to Obedience to the Laws of that Government, during such Enjoyment, as any one under it; whether this his Possession be of Land, to him and his Heirs for ever, or a Lodging only for a Week; or whether it be barely travelling freely on the Highway; and in Effect, it reaches as far as the very being of any one within the Territories of that Government.“ (Locke 1960, 348).14 Die von Locke vertretene Auffassung, der Aufenthalt der Individuen auf dem Herrschaftsgebiet eines Staates belege ihre stillschweigende Zustimmung, begegnet mindestens zwei Schwierigkeiten (vgl. Dietrich 2009, 274 ff.). Erstens stellt ein Versprechen einen willentlichen Akt dar, den der Versprechensgeber mit der Absicht vollzieht, sich gegenüber dem Versprechensadressaten zu binden. Eine Handlung kann daher nur dann als stillschweigende Abgabe eines Versprechens interpretiert werden, wenn sich die betreffende Person über ihren verpflichtenden Charakter im Klaren ist. Die Bürger eines Staates haben aber gewöhnlich nicht die Vorstellung, sich allein durch die Anwesenheit auf seinem Territorium Pflichten aufzuerlegen. Ihnen werden insofern Gehorsamspflichten gegenüber der Rechtsordnung zugeschrieben, für die sie sich nicht bewusst entschieden haben (vgl. Simmons 1993, 225 ff.). Zweitens setzt ein Zustimmungsakt das Vorhandensein von Alternativen voraus, zwischen denen eine Wahl getroffen werden kann. Wenn nur eine Option zur Verfügung steht oder die Wahrnehmung anderer Optionen hohe Kosten verursacht, spricht man gewöhnlich nicht von einer freien Entscheidung. Für die Individuen, die seit ihrer Geburt in einem Staat leben und sich dort eine Existenz aufgebaut haben, ist die Auswanderung aber häufig mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Insofern kann man aus der fehlenden Bereitschaft, die Mühen und Risiken der Emigration auf sich zu nehmen, nicht plausibel auf die Zustimmung zur bestehenden Herrschaftsordnung schließen (vgl. Hume 1993). In Anbetracht der vorstehend skizzierten Schwächen der Vertragstheorie bietet die Fairnesstheorie eine erwägenswerte Alternative für die Begründung von Gehorsamspflichten. Sowohl die Vertragstheorie wie auch die Fairnesstheorie sind in der Lage, die im ersten Abschnitt dargelegten Kriterien der Singularität und Partikularität zu erfüllen. Beide Begründungsansätze leiten die Pflicht zum Rechtsgehorsam aus nur einem moralischen Prinzip ab und beschränken ihre Geltung auf die eigene staatliche Gemeinschaft, die sie als besondere Vertrags- bzw. Kooperationsbeziehung konzipieren. Die vermeintliche Überlegenheit der Fairnesstheorie erweist sich am Kriterium der Generalität, das eine Pflichtbegründung fordert, die sich auf alle Rechtssubjekte (und Rechtsbereiche) erstreckt. Das Fairnessprinzip führt das Zustandekommen einer Pflicht nicht auf die willentliche Zustimmung – ausdrücklicher 14 Kontraktualistische Theorien, die anstelle der expliziten Einwilligung der Individuen auf ihre hypothetische Zustimmung verweisen, fallen aus dem von Hart vorgegebenen Begründungsrahmen heraus. Die von ihnen angenommenen speziellen Rechte und Pflichten lassen sich nicht auf Entscheidungen zurückführen, die die Individuen in Ausübung ihrer natürlichen Freiheit getroffen haben.
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oder stillschweigender Art – zurück. Eine Fairnesspflicht entsteht bereits dann, wenn ein Individuum an einer Kooperation teilnimmt und von dem regelkonformen Verhalten anderer Personen profitiert. Im Unterschied zum Versprechen muss der Betreffende nicht seine Absicht, sich selbst moralisch zu binden, zweifelsfrei zum Ausdruck bringen.15 Insofern hat das grundlegende Problem kontraktualistischer Ansätze, die Abgabe von Versprechen nicht oder nur in wenigen Fällen plausibel machen zu können, für die Fairnesstheorie keine Bedeutung. Die Fairnesspflicht, durch Befolgung der gesetzlichen Vorschriften einen angemessenen Beitrag zur staatlichen Kooperation zu leisten, trifft alle Bürger gleichermaßen.
V. Die Kritik an der Fairnesstheorie Nach Auffassung von Hart und Rawls entstehen den Individuen immer dann Fairnesspflichten, wenn sie sich an einem kooperativen Unternehmen beteiligen. In ihren Texten bleibt allerdings weithin ungeklärt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit man von der Teilnahme an einer Kooperation sprechen kann. Die Frage, ob ein Individuum mit anderen in einer kooperativen Beziehung steht, ist für die Zuschreibung von Fairnesspflichten von entscheidender Bedeutung. Insbesondere bedarf der Klärung, welche Anforderungen die Fairnesstheorie an die Freiwilligkeit der Zusammenarbeit zu stellen beabsichtigt. Ihre Vertreter müssen deutlich machen, inwiefern Fairnesspflichten eine Alternative zu der ersten Art spezieller Pflichten, die Hart erörtert hat, bieten können. Wenn ein Individuum den Regeln einer Kooperation zustimmen muss, um als ihr Teilnehmer gelten zu können, lassen sich keine Unterschiede mehr zur Vertragstheorie erkennen. Auch die viel beachtete Kritik, die Robert Nozick in seinem Werk „Anarchy, State, and Utopia“ an der Fairnesstheorie geübt hat, setzt bei der Frage an, wer als Teilnehmer einer Kooperation zu gelten hat. Um die Annahme von Fairnesspflichten ad absurdum zu führen, erzählt Nozick die Geschichte einer nachbarschaftlichen Gemeinschaft, in der genau 365 Personen leben. Eines Tages kommen 364 der Nachbarn überein, ein öffentliches Unterhaltungsprogramm zu initiieren, das das ganze Jahr senden soll. Überall im Viertel werden Lautsprecher aufgehängt, die jedem Anwohner die Möglichkeit bieten, die ausgestrahlten Darbietungen anzuhören. Alle Nachbarn sollen an einem Tag im Jahr die Gestaltung des Programms übernehmen und entsprechend ihrer persönlichen Fähigkeiten für Zerstreuung sorgen. Nach 138 Tagen kommt die Reihe an den Nachbarn, der nicht an der Beschlussfassung beteiligt war, seinen Beitrag zur öffentlichen Unterhaltung zu leisten. Der betreffende Nachbar hat auf verschiedene Weise von den Anstrengungen der anderen profitiert; er hat sich z. B. auf dem Weg zum Bus an ihrem Gesang erfreut und bei 15 Ähnlich betont auch Peter Rinderle: „Für die Geltung der Regeln des kooperativen Unternehmens – das ist im Unterschied zur Vertragstheorie wichtig – ist gerade keine freiwillige Zustimmung und kein Versprechen des Individuums notwendig.“ (Rinderle 2005, 177; siehe auch Wolff 1991, 164 ff.).
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geöffnetem Fenster über ihre Witze gelacht. Dennoch weigert er sich, an dem Programm mitzuwirken und seine Talente in den Dienst der gemeinschaftlichen Unterhaltung zu stellen. Wie Nozick zu Recht konstatiert, kann das Verhalten des unkooperativen Nachbarn gegenüber den Individuen, die sich den Mühen der Zusammenarbeit unterziehen, nicht beanstandet werden. Die Annahme einer Pflicht, einen Tag lang Anekdoten zu erzählen, zu musizieren oder auf andere Weise für Unterhaltung zu sorgen, erscheint wenig plausibel. Nozicks Begründung, warum in dem vorstehend skizzierten Beispiel keine Fairnesspflichten entstehen, stellt insbesondere auf die individuellen Interessen ab. Obwohl die Kooperation seiner Darstellung zufolge allen Nachbarn Vorteile bringt, können die mit ihr verbundenen Mühen unterschiedlich bewertet werden. Nozick schreibt: „Though you benefit from the arrangement, you may know all along that 364 days of entertainment supplied by others will not be worth your giving up one day.“ (Nozick 1974, 93) Die Initiatoren des Unterhaltungsprogramms gelangen, wenn sie Nutzen und Kosten der Kooperation gegeneinander abwägen, offenbar zu einem positiven Ergebnis. Allein aus Sicht des Nachbarn, der sich an der Unternehmung nicht beteiligt, ist das gemeinschaftlich erzeugte Gut den geforderten Beitrag nicht wert. Wenn er sich weigert, einen Tag für das Unterhaltungsprogramm zu opfern, kann ihm nicht der Vorwurf der Unfairness gemacht werden. Die Annahme einer Pflicht, einen Beitrag zu einer Zusammenarbeit zu leisten, die man als nicht lohnend erachtet, widerspricht der intuitiven moralischen Beurteilung.16 Weiterhin macht Nozick die Schwierigkeiten des unkooperativen Nachbarn geltend, sich der Vorteile zu entziehen, die ihm aus den Anstrengungen Dritter erwachsen. Die gemeinschaftlich produzierte Unterhaltung verkörpert ein öffentliches Gut, das ihm wie allen anderen Einwohnern des Viertels zur Verfügung steht. Um einen Nutzen aus der Kooperation zu vermeiden, müsste er besondere Vorkehrungen treffen; er müsste sich z. B. auf dem Weg zum Bus die Ohren verstopfen oder permanent seine Fenster geschlossen halten. Wenn er einfach sein gewöhnliches Verhalten fortsetzt, profitiert er unausbleiblich von der Zusammenarbeit seiner Nachbarn. Der Erhalt von Leistungen aus einer kooperativen Unternehmung reicht aber nach Nozicks Überzeugung nicht aus, um eine Pflicht zur Gegenleistung zu begründen. Eine Person oder Gruppe von Personen, die die von ihr erzeugten Güter ungefragt unbeteiligten Dritten zugute kommen lässt, kann keinen Anspruch auf Kostenbeteiligung erheben. In den Worten Nozicks: „One cannot, whatever one’s purposes, just act so as to give people benefits and then demand (or seize) payment. (…) You may not charge and collect for benefits you bestow without prior agreement (…).“ (Nozick 1974, 95) Demnach kann die Pflicht, einen angemessenen Teil der Lasten zu tragen, nur Individuen treffen, die sich zur Teilnahme an der Kooperation und Befolgung ihrer Regeln bereit erklärt haben. Wenn aber die vorgängige Zustim16 Nozick konstatiert hierzu: „At the very least one wants to build into the principle of fairness the condition that the benefits to a person from the actions of the others are greater than the costs to him of doing his share.“ (Nozick 1974, 94).
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mung eine notwendige Bedingung für die Entstehung von Pflichten darstellt, verliert das Fairnessprinzip seine eigenständige Bedeutung. Die Fairnesstheorie fällt dann auf die Vertragstheorie zurück und kann sich nicht als Alternative zur kontraktualistischen Argumentation präsentieren.
VI. Die Verteidigung der Fairnesstheorie Robert Nozick hat in seiner Kritik an der Fairnesstheorie, die im vorstehenden Abschnitt dargestellt wurde, auf zwei Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. Zum einen könne die Pflicht, sich an den Kosten der Zusammenarbeit angemessen zu beteiligen, nur Individuen entstehen, die insgesamt von der Unternehmung profitieren. Zum anderen könne die Pflicht zur Beitragsleistung nur solche Individuen betreffen, die ihren Willen zur Teilnahme an der Kooperation unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht haben. Auf Grund der genannten Probleme könne die Fairnesstheorie keine überzeugende Alternative zur kontraktualistischen Normbegründung bieten. Insbesondere müsse der Versuch, eine individuelle Pflicht zur Gesetzesbefolgung auf Fairnesserwägungen zu gründen, als gescheitert gelten. Verschiedene zeitgenössische Anhänger des Fairnessprinzips haben sich bemüht, die Theorie gegen Nozicks Einwände zu verteidigen (vgl. McDermott 2004, 218 ff.). Im Weiteren werden die Überlegungen, die sie zum Problem des Rechtsgehorsams angestellt haben, nachgezeichnet und einer eingehenden Analyse unterzogen. 1. Die Erzeugung „unverzichtbarer“ Güter Der erste Einwand von Robert Nozick, der den individuellen Nutzen in den Blickpunkt rückt, übersieht scheinbar eine wichtige Eigenschaft der Fairnesstheorie. Das Fairnessprinzip setzt schon in der Formulierung, die ihm John Rawls gegeben hat, das Bestehen einer wechselseitig vorteilhaften Kooperation voraus. Eine Zusammenarbeit kann dann als wechselseitig vorteilhaft beschrieben werden, wenn alle an ihr beteiligten Personen eine positive Kosten-Nutzen-Bilanz aufweisen. In Nozicks Beispiel betrachtet aber der Nachbar, dessen Fairnesspflicht bestritten werden soll, die Teilnahme an der Kooperation nicht als lohnend. Nach seinem subjektiven Empfinden ist der Ertrag, ganzjährig unterhalten zu werden, die von ihm geforderte Leistung, selbst einen Tag investieren zu müssen, nicht wert. Die kooperative Unternehmung kann also, wenn der betreffende Nachbar seinen Beitrag zu ihr erbringt, nicht mehr als wechselseitig vorteilhaft gelten. Folglich nimmt die Fairnesstheorie in der gegebenen Situation gar keine Pflicht an, sich den Mühen der Zusammenarbeit zu unterziehen. Das von Nozick angeführte Beispiel der Nachbarschaft, die ein öffentliches Unterhaltungsprogramm initiiert, verfehlt somit die Anwendungsbedingungen der Fairnesstheorie. George Klosko, der zurzeit führende Vertreter der Fairnesstheorie, hat zudem die Übertragbarkeit von Nozicks Argumentation auf die staatliche Gemeinschaft in Ab-
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rede gestellt. Seiner Auffassung nach können Nozicks Beispiele nur Überzeugungskraft entfalten, weil sie sich auf Kooperationen beziehen, die der Erzeugung eher unbedeutender Güter dienen. Er schreibt: „What is striking about Nozick’s examples is that they concern the provision of goods that are of relatively little value. (…) If we substitute examples of schemes providing more significant benefits, the force of Nozick’s arguments will be blunted.“ (Klosko 1992, 39) Kloskos Entgegnung auf die Kritik Nozicks stützt sich auf eine Unterscheidung von zwei Güterarten, die er „presumptive goods“ und „discretionary goods“ nennt. Unter „presumptive goods“ versteht er Güter, von denen sich annehmen lässt, dass sie von allen Menschen – gleichgültig, welche Ziele sie im Einzelnen verfolgen – benötigt werden. Als Beispiel für ein solches Gut führt Klosko die physische Sicherheit an, ohne die die Individuen ihre verschiedenartigen Lebenspläne nicht verwirklichen können.17 Mit dem Begriff „discretionary goods“ bezeichnet er hingegen Güter, die keine grundlegenden Bedürfnisse erfüllen und von ihren Empfängern unterschiedlich bewertet werden können. Beispielsweise variiert das Interesse der Individuen an Unterhaltung und die Bereitschaft, für ihre Erzeugung eigene Anstrengungen zu unternehmen, gemeinhin sehr stark. Nach Kloskos Überzeugung besteht eine wesentliche Funktion des Staates darin, seinen Bürgern „presumptive goods“, wie physische Sicherheit, zur Verfügung zu stellen. Die Individuen kommen insofern in der staatlichen Gemeinschaft in den Genuss von Gütern, auf die sie zur Realisierung ihrer Ziele angewiesen sind. Die ihnen abverlangten Leistungen, etwa das Zahlen von Steuern, erscheinen gemessen an der Bedeutung der gemeinschaftlich erzeugten Güter gering. Laut Klosko überwiegt daher bei allen Bürgern der Nutzen, den sie aus der staatlichen Kooperation ziehen, eindeutig die von ihnen zu tragenden Kosten. Im Unterschied zu dem vorstehend erörterten Beispiel könne kein Individuum glaubhaft behaupten, die Erträge der Zusammenarbeit seien die geforderten Mühen nicht wert.18 Das Problem, das Nozick in den Mittelpunkt seiner Kritik gestellt hat, könne nur im Rahmen von Kooperationen entstehen, die der Erzeugung von „discretionary goods“ dienten. Da alle Bürger von ihrer Mitgliedschaft im Staat profitierten, könne von ihnen auch verlangt werden, einen angemessenen Beitrag zu den kollektiven Anstrengungen zu leisten. Wer aus dem regelkonformen Verhalten anderer Nutzen ziehe, ohne selbst die gesetzlichen Vorschriften zu beachten, sehe sich zu Recht dem Vorwurf der Unfairness ausgesetzt (vgl. Klosko 1992, 39 ff.). 17 Die Überlegungen von Klosko sind hier von der Konzeption der Grundgüter inspiriert, die John Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie entwickelt hat (vgl. Rawls 1975, 111 ff.). Zur inhaltlichen Bestimmung der „presumptive goods“ bemerkt er: „Though the number of these goods is perhaps small, such things as the benefits of physical security provided by law and order, national defense, and protection from a hostile environment appear obviously to fit the bill.“ (Klosko 1992, 40; vgl. Klosko 1987, 247). 18 Klosko zufolge verliert dadurch auch Nozicks zweiter Einwand, der auf die individuelle Zustimmung zu einer Kooperation beharrt, an Bedeutung (vgl. Klosko 1992, 48 ff.). Siehe hierzu auch Arneson 1982, 618 ff.; Dagger 2000, 112 ff. und Gans 1992, 57 ff.
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Die Tätigkeit moderner Staaten beschränkt sich allerdings nicht darauf, ihren Bürgern „presumptive goods“ zugänglich zu machen. Zumeist nehmen sie über Sicherheitsbelange hinaus auch zahlreiche Aufgaben wahr, die der Erzeugung von „discretionary goods“ dienen. Dadurch entsteht für Klosko das Problem erklären zu müssen, warum sich die Gehorsamspflicht der Individuen auf den gesamten Bereich staatlicher Aktivitäten bezieht. Auf der Grundlage seiner Argumentation kann z. B. die Pflicht, Steuern zu entrichten, nur insoweit gelten, wie der Staat seine Einkünfte für Schutzmaßnahmen verwendet. Eine Beteiligung an den Kosten der staatlichen Kulturförderung kann hingegen nicht für alle Gesellschaftsmitglieder moralisch geboten sein. Museen und Theater fallen, da sie nur in wenigen Lebensplänen eine zentrale Stellung einnehmen, in die Kategorie der „discretionary goods“. An Kunst nicht oder nur geringfügig interessierte Mitbürger unterliegen daher keiner Fairnesspflicht, einen finanziellen Beitrag zu ihrer Unterhaltung zu leisten. Um der genannten Schwierigkeit zu begegnen, verweist Klosko auf die instrumentelle Bedeutung, die „discretionary goods“ für die Bereitstellung von „presumptive goods“ haben können. So seien zwar z. B. staatliche Investitionen in den Straßenbau keine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung jedes individuellen Lebensplanes. Polizei und Armee seien aber zur Erfüllung der ihnen zugedachten Sicherheitsaufgaben auf das Vorhandensein eines gut ausgebauten Wegenetzes angewiesen. Wenn die Verfügbarkeit von „presumptive goods“ derart von „discretionary goods“ abhänge, seien die Bürger verpflichtet, einen Beitrag zu ihrer Erzeugung zu leisten (vgl. Klosko 1992, 85 ff.).19 Auch die vorstehend skizzierte Argumentation vermag freilich, wie Klosko selbst zugesteht, wichtige Tätigkeitsbereiche moderner Staaten nicht zu erfassen. So lassen sich soziale Leistungen, Ausgaben für Bildung oder die bereits erwähnte Kulturförderung nur schwer in einen Zusammenhang mit der Gewährung von Sicherheit bringen.20 Klosko zufolge muss hier die Fairnesskonzeption durch andere normative Überlegungen, wie etwa eine natürliche Pflicht zur Hilfeleistung, ergänzt werden (vgl. Klosko 2005, 105 ff.). Abgesehen von der Verletzung der Singularitätsbedingung, die mit der Einbeziehung anderer Begründungsansätze einhergeht, ist die vorstehend skizzierte Position vor allem mit zwei Schwierigkeiten behaftet. Zum einen setzt sich Klosko – im Unterschied zu Nozick – nicht ernsthaft mit der Herausforderung des Anarchismus auseinander (vgl. Carter 2001). Seine Behauptung, alle Individuen profitierten notwendig von der Mitgliedschaft in der staatlichen Gemeinschaft, ignoriert den eigentlichen Streitpunkt. Anarchisten sehen in den Freiheitsbeschränkungen, die sie im Staat hinzunehmen haben, und dem Missbrauchspotential einer monopolisierten Zwangsgewalt gravierende Nachteile. Zudem hegen sie die Erwartung, in einem 19 Mögliche Kontroversen über das erforderliche Ausmaß an Straßenbaumaßnahmen sollen von gewählten Repräsentanten der Bürger im Rahmen von Mehrheitsverfahren entschieden werden (vgl. Klosko 1992, 89 f.). 20 Ein Versuch, solidarische Pflichten innerhalb der staatlichen Gemeinschaft aus dem Fairnessprinzip abzuleiten, findet sich aber in Klosko 2009.
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staatsfreien Zustand mit Hilfe privater Schutzorganisationen in hinreichendem Maße Sicherheit gewährleisten zu können (vgl. Rothbard 1978, 215 ff.). Insgesamt fällt daher die Kosten-Nutzen-Bilanz, die die Anarchisten für ihre Mitwirkung an staatlichen Gemeinschaften aufstellen, negativ aus. Die abweichende Auffassung, die die überwiegende Mehrheit der Bürger vertritt, erscheint hier grundsätzlich unbeachtlich. Die Bewertung der Vor- und Nachteile eines gemeinschaftlichen Unternehmens kann immer nur auf den subjektiven Präferenzen der einzelnen Teilnehmer basieren. Zudem weisen die Theorien, auf die die Anarchisten ihre Einschätzung stützen, keine offenkundige Inkohärenz auf und können – in Ermangelung praktischer Erfahrungen – nicht als empirisch widerlegt gelten. Einen Grund, warum sie dennoch eine Fairnesspflicht haben sollen, sich an die in der staatlichen Gemeinschaft geltenden Vorschriften zu halten, vermag Klosko nicht anzugeben. Zum anderen blendet Klosko bei der Berechnung der Kosten, die im Rahmen von Kooperationen entstehen, einen wichtigen Faktor aus. Seine Argumentation berücksichtigt nur die Lasten, die die Individuen auf sich nehmen müssen, um gemeinschaftlich Güter zu erzeugen. Entgangene Chancen, an anderen Kooperationen teilzunehmen, die einen noch höheren Nutzen versprechen, gehen nicht in die Kalkulation ein. Es erscheint aber durchaus sinnvoll bei der Bewertung der Vor- und Nachteile eines gemeinschaftlichen Unternehmens eventuell entstehende Opportunitätskosten nicht außer Acht zu lassen. So mag z. B. der unkooperative Nachbar aus Nozicks Beispiel grundsätzlich bereit sein, einen Tag seiner Freizeit zugunsten der ganzjährigen Unterhaltung zu opfern. Dennoch kann er die Teilnahme an der Zusammenarbeit ablehnen, wenn er die mit ihrer Hilfe erzeugten Güter anderswo zu günstigeren Konditionen erhält. Die Bedeutung von Opportunitätskosten für die Bewertung staatlicher Gemeinschaften lässt sich unschwer am Beispiel separatistischer Bestrebungen veranschaulichen.21 So dürften z. B. die Einwohner Norditaliens – sofern sie nicht anarchistischen Ideen anhängen – das Vorhandensein eines Staates als vorteilhaft empfinden. Wenn sie ihre Mitgliedschaft in der etablierten Staatsgemeinschaft vor dem Hintergrund einer Sezession beurteilen, kommen sie aber möglicherweise zu einem anderen Ergebnis. Gegenüber einer unabhängigen Republik „Padanien“, die ihnen ein hohes Maß an Sicherheit bietet, ohne umfangreiche Transferzahlungen zu erfordern, mag ihnen die gegenwärtig praktizierte Kooperation unvorteilhaft erscheinen. Eine Antwort auf die Frage, warum entgangene Chancen bei der Kosten-Nutzen-Kalkulation, auf der die Zuschreibung von Fairnesspflichten basiert, keine Beachtung finden, bleibt Klosko schuldig. Insgesamt kann Kloskos Begründung individueller Gehorsamspflichten dem Kriterium der Generalität in keiner der eingangs unterschiedenen Bedeutungen vollständig genügen. Zum einen vermag seine Argumentation nicht plausibel zu machen, warum die Befolgung der staatlichen Gesetze für alle Rechtsadressaten moralisch 21
Ausführlich zur Rechtfertigung von Sezessionen s. Dietrich 2010, 236 ff.
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geboten sein soll. Für Anarchisten, die die Lasten der Kooperation höher als ihren Nutzen bewerten, treffen die vorstehend dargelegten Fairnesserwägungen nicht zu. Wenn zusätzlich Opportunitätskosten Berücksichtigung finden, können für einen noch größeren Personenkreis keine Verpflichtungsgründe geltend gemacht werden. Zum anderen vermag die Fairnesskonzeption von Klosko nicht alle Regelungsbereiche einzubeziehen, auf die sich die Gesetzgebung moderner Staaten gewöhnlich erstreckt. Für einige Tätigkeitsfelder, wie z. B. die Kulturförderung, muss er auf andere normative Prinzipien zurückgreifen, um eine Pflicht zur Gesetzesbefolgung zu begründen. 2. Akzeptanz versus Zustimmung Die Entgegnung auf den zweiten Einwand, den Nozick vorgebracht hat, geht von einer Unterscheidung zwischen der Zustimmung zu einer Kooperation und der Akzeptanz ihrer Vorteile aus. Wie eingangs dargelegt, hat Rawls neben anderen Bedingungen für die Entstehung individueller Fairnesspflichten die Akzeptanz von kollektiv erzeugten Gütern genannt. Rawls hat allerdings den Begriff der Akzeptanz, der auch in der Bedeutung von Zustimmung verwandt werden kann, nicht näher erläutert und insofern keine klare Abgrenzung von der Vertragstheorie geleistet. Erst John Simmons hat eine Interpretation angeboten, die der Fairnesstheorie eine Pflichtbegründung erlaubt, die nicht auf eine kontraktualistische Argumentation zurückfällt. Die Akzeptanz von Vorteilen geht seiner Meinung nach insofern über den Empfang von Vorteilen hinaus, als sie einen Akt der willentlichen Annahme bezeichnet. Ein Individuum, das gemeinschaftlich erzeugte Güter willentlich annimmt, muss aber nicht notwendig der Teilnahme an der Kooperation zustimmen. Simmons schreibt: „The Nozickian tried to persuade us that an individual could not become a participant, or an ‚insider‘, without doing something which amounted to giving his consent to the scheme. But it seems clear that a man can accept benefits from a scheme and be a participant in that sense without giving his consent to the scheme.“ (Simmons 2001, 16). Die praktische Bedeutung der vorgeschlagenen Differenzierung zwischen den Konzepten der Akzeptanz und der Zustimmung lässt sich durch eine Variation von Nozicks Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, die Nachbarschaft hat eine öffentliche Versammlung einberufen, die allen Anwohnern Gelegenheit gibt, sich zu dem Projekt eines gemeinsamen Unterhaltungsprogramms zu äußern. Wieder soll das Programm das ganze Jahr über verfügbar sein und jeder der 365 Nachbarn an einem Tag seine besonderen Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Im Unterschied zu Nozicks ursprünglichem Beispiel soll die Unterhaltung aber nicht über Lautsprecher ausgestrahlt, sondern allabendlich auf der Bühne des Bürgerhauses dargeboten werden. Der unkooperative Nachbar erklärt nun auf der Versammlung, sich nicht an dem Projekt beteiligen zu wollen, weil er eine alternative Verwendung des von ihm zu gestaltenden Abends vorzieht. Obwohl er die Teilnahme an der Kooperation unmissverständlich ablehnt, kann er schon bald der Versuchung, die Veranstaltungen im Bürgerhaus zu besuchen, nicht widerstehen. Durch
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die aktive und absichtsvolle Inanspruchnahme der Unterhaltung, die die Nachbarn bereitstellen, akzeptiert er in dem oben erläuterten Sinne die Vorteile ihrer Zusammenarbeit. Sein Verhalten kann aber nicht plausibel als stillschweigende Zustimmung interpretiert werden, da er nach wie vor keine Bereitschaft zeigt, die Regeln des kooperativen Unternehmens zu befolgen. Im Unterschied zu der Darstellung, die Nozick ursprünglich gegeben hat, scheint der Vorwurf der Unfairness in dem modifizierten Beispiel durchaus berechtigt zu sein. Der betreffende Nachbar konsumiert willentlich die kollektiv erzeugten Güter und nimmt bewusst die Rolle des Trittbrettfahrers ein. Er kann nicht behaupten, der Erhalt von Vorteilen aus der Kooperation sei für ihn nicht oder nur mit unzumutbaren Anstrengungen zu vermeiden gewesen. Daher kann plausibel die Forderung an ihn gestellt werden, einen Beitrag zu der Zusammenarbeit zu leisten, deren Erträge er sich gezielt zunutze macht. Er hat sich somit in Ausübung seiner natürlichen Freiheit, ohne ein Versprechen abzugeben oder einen Vertrag zu unterzeichnen, eine Fairnesspflicht aufgeladen. Gegen die vorstehende Argumentation kann auf die Möglichkeit der Kooperationsgemeinschaft verwiesen werden, den Zugang zu ihren Abendveranstaltungen zu kontrollieren. So schreibt z. B. Craig L. Carr: „(…) If fellow cooperators do not exclude non-cooperating beneficiaries when and where they can, the former can hardly accuse the latter of taking a free, and hence unfair, ride. If the fellow cooperators are worried about the benefits gained by non-cooperators, they should see to it that non-cooperators are excluded, if possible, from the benefits they have brought about.“ (Carr 2002, 7 f.) Demnach unterliegen auch Individuen, die sich bewusst bemühen, von der Zusammenarbeit anderer zu profitieren, keiner Fairnesspflicht. Bei Gütern, deren Konsum sich beschränken lasse, stehe die Kooperationsgemeinschaft selbst in der Verantwortung, für den Ausschluss potenzieller Trittbrettfahrer zu sorgen. Wenn sie darauf verzichte, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, dürfe sie sich über die Nutzung der von ihr erbrachten Leistungen durch Dritte nicht beklagen. Der Einwand vermag jedoch insofern nicht zu überzeugen, als weder moralische noch notwendig prudentielle Gründe für eine Beschränkung des Zugangs sprechen. Die Teilnehmer an einer Kooperation haben zwar gewöhnlich ein Interesse daran, ihr gemeinsames Unternehmen vor Trittbrettfahrern zu schützen. Wenn ihnen die Kosten der Kontrollmaßnahmen zu hoch erscheinen, können sie sich aber gegen die Exklusion möglicher Nutznießer entscheiden (vgl. Greenawalt 1987, 123 f.). So mögen z. B. die an dem Unterhaltungsprogramm mitwirkenden Personen nicht bereit sein, abwechselnd einen Abend lang die Eingangstür des Bürgerhauses zu bewachen, um unerwünschten Besuchern den Zutritt zu verwehren. Das Verhalten des unkooperativen Nachbarn bleibt aber nach den Voraussetzungen der Fairnesstheorie auch dann tadelnswert, wenn sie von Zugangsbeschränkungen absehen. Denn er macht sich gezielt ihre Anstrengungen zunutze, ohne selbst den geforderten Beitrag zum Gelingen der Kooperation zu erbringen.
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Wie die vorstehenden Überlegungen gezeigt haben, kann die Fairnesstheorie eine eigenständige, d. h. von der Vertragstheorie unabhängige, Bedeutung beanspruchen. Es bleibt aber zu klären, ob sie auch dem ursprünglichen Anliegen von Hart und Rawls, eine Pflicht der Bürger zur Gesetzesbefolgung zu begründen, gerecht zu werden vermag. Offenkundig lässt sich das modifizierte Beispiel, das Nozicks zweiten Einwand entkräften sollte, nicht plausibel auf die staatliche Gemeinschaft übertragen. Im Unterschied zu dem unkooperativen Nachbarn, der sich allabendlich zum Bürgerhaus begibt, unternehmen die Bürger keine Anstrengungen, um wichtige staatliche Leistungen zu erhalten. Vielmehr können sie kaum vermeiden, in den Genuss von Sicherheit und anderen Gütern zu gelangen, die in der staatlichen Gemeinschaft erzeugt werden. Insofern bietet das Beispiel, das Nozick in die Diskussion eingeführt hat, eine weitaus bessere Analogie zur Situation der Bürger als die oben wiedergegebene Variation. Nach Simmons Darstellung müssen allerdings die Vorteile einer Kooperation nicht notwendig aktiv aufgesucht werden, um von ihrer Akzeptanz sprechen zu können. Es reiche aus, wenn die Individuen die Güter, die in einer gemeinschaftlichen Unternehmung erzeugt werden, bewusst und willentlich entgegennehmen.22 In der zweiten Lesart akzeptiert möglicherweise eine mehr oder minder große Zahl von Bürgern die Leistungen, die im Rahmen der staatlichen Gemeinschaft erbracht werden. Ob der Empfang von Sicherheit und anderen Gütern bewusst und willentlich erfolgt, kann jedoch nur schwer festgestellt werden. Ähnlich der stillschweigenden Zustimmung, auf die sich eine wichtige Traditionslinie der Vertragstheorie beruft, kann die so verstandene Akzeptanz nicht ohne weiteres aus dem äußeren Verhalten geschlossen werden. Den Bürgern darf daher, wie auch Simmons hervorhebt, nicht generell die bewusste und willentliche Annahme der staatlichen Kooperationserträge unterstellt werden (vgl. Simmons 2001, 23 ff.).
VII. Resümee Insgesamt erweist sich das von Hart und Rawls befürwortete Fairnessprinzip für die Begründung einer individuellen Pflicht zum Rechtsgehorsam als wenig hilfreich. Zum einen beschränken sich moderne Staaten gewöhnlich nicht darauf, Leistungen zu erbringen, von denen alle Bürger profitieren. Sie stellen nicht nur Kooperationsgemeinschaften dar, die dem wechselseitigen Vorteil dienen, sondern fungieren in weitem Umfang auch als Umverteilungsgemeinschaften. Insofern fallen wichtige Tätigkeitsfelder moderner Staaten, wie z. B. die Sozialpolitik, aus dem Geltungsbereich des Fairnessprinzips heraus. Zum anderen setzt das Bestehen von Fairnesspflichten, wie die Überlegungen von Simmons deutlich gemacht haben, die Akzeptanz kollektiv erzeugter Güter voraus. Die Bürger bemühen sich aber gemein22 Simmons schreibt: „To have accepted a benefit, I think, we would want to say that an individual must either (1) have tried to get (and succeeded in getting) the benefit, or (2) have taken the benefit willingly and knowingly.“ (Simmons 2001, 18).
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hin nicht aktiv darum, in den Genuss von Sicherheit oder anderer staatlicher Leistungen zu gelangen. Zudem liegen klare Anzeichen für die bewusste und willentliche Annahme der Vorteile, die ihnen im Staat gewährt werden, normalerweise nicht vor. Folglich kann den Bürgern nicht generell eine Fairnesspflicht, die ihnen die Beachtung der staatlichen Gesetze gebietet, plausibel zugeschrieben werden. Die Fairnesskonzeption darf aber, obwohl sie das von Hart und Rawls angestrebte Ziel verfehlt, nicht als vollständig gescheitert gelten. Wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat, kann sie sich erfolgreich gegen Normbegründungen abgrenzen, die ihren Ausgang von Zustimmungsakten nehmen. Eine Fairnesspflicht kann die Individuen auch dann treffen, wenn sie sich mit der Teilnahme an einer Kooperation weder ausdrücklich noch stillschweigend einverstanden erklärt haben. Somit besitzt die Fairnesskonzeption einen eigenen Anwendungsbereich, in dem sie ohne Rückgriff auf kontraktualistische Argumente individuelle Pflichten zu begründen vermag. Fairnesserwägungen greifen jedoch nur unter sehr speziellen Bedingungen, die in der staatlichen Gemeinschaft in der Regel nicht bestehen.
Summary The influential tradition of contract theory fails to give a convincing explanation of the obligation to obey the law. Thus, the fairness account that has been developed most prominently by H. L. A. Hart and John Rawls appears to be an attractive alternative. According to the fairness principle, participants of a cooperative scheme who benefit from the rule-abidance of other participants are themselves obliged to conform to the rules. Against the fairness theory of political obligation, Robert Nozick has argued that duties of fair play can only be ascribed to individuals who consent to participate in a joint venture. In this article two strategies to respond to this objection are discussed. Firstly, the need to distinguish between “discriminatory goods” and “presumptive goods” and, secondly, the contention that Nozick fails to see the subtle difference between “acceptance” and “consent” are examined. It will be argued that individuals who accept the benefits of a cooperative scheme have duties of fair play, even if they do not explicitly or tacitly consent to make a contribution. However, the fairness principle does not succeed in justifying political obligations, because citizens do not accept the benefits of the state in the relevant sense. Literatur Arneson, Richard (1982): „The Principle of Fairness and Free-Rider Problems“, in: Ethics 92, 616 – 633. Buchanan, Allen (2002): „Political Legitimacy and Democracy“, in: Ethics 112, 689 – 719. – (2004): Justice, Legitimacy, and Self-Determination. Moral Foundations for International Law, Oxford: Oxford University Press.
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Haben wir eine Fairnesspflicht zum Rechtsgehorsam?
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Ethische Oszillationen: Über rechtsphilosophische Abwägungen, reduzierte Betroffenheitstiefen und moralische Dilemmata Dietmar Hübner
I. Einführung Die korrekte Abwägung kollidierender Rechte ist ein zentrales Thema der politischen Ethik. Kollisionen von Rechten können dabei in nahezu sämtlichen Lebensbereichen moderner Gesellschaften auftreten: Sie prägen klassische Politiksektoren wie innere und äußere Sicherheit, Steuereinzug und Ressourcenverwendung, Strafwesen und Zivilgesellschaft. Sie treten ebenfalls in neuartigen Handlungsgebieten wie den biomedizinischen Wissenschaften und der ingenieurtechnischen Forschung auf, deren rechtliche Regulierung derzeit noch im Aufbau begriffen ist. Von einer gelungenen Gesetzgebung wird erwartet, dass sie für derartige Rechtskollisionen, unter Gewährleistung von Ermessensspielräumen für die Gerichte, adäquate und operable Rahmenvorgaben formuliert. Die politische Ethik ist ihrerseits dazu aufgefordert, für diese gesetzlichen Rahmenvorgaben, zwar keine detaillierten Ausarbeitungen, aber geeignete Begrifflichkeiten und brauchbare Argumentationsschemata bereitzustellen. Wesentliche Aspekte dieser Aufgabe sind die Einteilung von Rechten in grundlegende Typen sowie die Aufstellung von basalen Regeln zu ihrer Abwägung. Die Konfrontation mit konkreten Anwendungsproblemen hat dabei typischerweise den Effekt, dass jene Kategorien und Prinzipien beständig erweitert und ausdifferenziert werden müssen. Im Folgenden wird eine fundamentale Abwägungsregel für kollidierende Rechte vorgestellt und erläutert. Diese Regel scheint eine angemessene Konzeptualisierung zentraler rechtsethischer Überzeugungen zu leisten und überdies in einfachen Anwendungsfällen weitgehend plausible Resultate zu liefern (II.). Allerdings müssen die Parameter dieser Regel sorgfältig bestimmt werden, um spezielle Fallkonstellationen in zufriedenstellender Weise auflösen zu können. Insbesondere der Gedanke einer ‚reduzierten Betroffenheitstiefe‘ erweist sich in diesem Zusammenhang als bedeutsam, bedarf aber genauerer Prüfung seiner tatsächlichen Reichweite (III., IV.). Zudem hat es den Anschein, dass gewisse Abwägungssituationen keine stabile Auflösung gestatten. Stattdessen sieht man sich in ihnen dem Phänomen einer ‚ethischen Oszillation‘ gegenüber, bei der Erlaubtheit und Unerlaubtheit einer Handlung beständig abwechseln (V., VI.). Versuche, solch eine Oszillation durch Abbruch nach
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der einen oder anderen Seite hin aufzulösen, dürften zu kurz greifen. Stattdessen sollte sie als rechtsethischer Aufweis einer ernsthaften Dilemmakonstellation betrachtet werden, in welcher nicht nur ein tragisches Optionenspektrum, sondern zudem eine irreduzible Widerspruchsstruktur am Werk ist.
II. Rechtstypen und Abwägungsregeln (1) Eine verbreitete Einteilung der politischen Ethik unterscheidet als basale Rechtstypen Partizipationsrechte, Abwehrrechte und Anspruchsrechte1: Partizipationsrechte sind Rechte auf politische Teilhabe am staatlichen Gemeinwesen. Sie erfordern die Einrichtung und Unterhaltung geeigneter Strukturen öffentlicher Diskussion und demokratischer Beschlussfassung, sei es in Form direkter Mitwirkung oder sei es in Gestalt parlamentarischer Vertretung. Abwehrrechte sind Rechte auf Nichtbeeinträchtigung individueller Freiheiten, genauer der Freiheiten von äußeren Eingriffen (vor allem in die körperliche und seelische Unversehrtheit sowie in das gegenständliche und geistige Eigentum) sowie der Freiheiten zu eigenen Handlungen (physischer oder sozialer Art). Diese Eingriffs- und Handlungsfreiheiten richten sich sowohl gegen Übergriffe seitens der staatlichen Gemeinschaft als auch gegen Beschneidungen durch andere Einzelpersonen. Anspruchsrechte schließlich sind Rechte auf Bereitstellung von materiellen oder immateriellen Gütern. Auch diese Güteransprüche können das Kollektiv betreffen, das seinen verschiedenen Mitgliedern bestimmte Systemleistungen schuldet (vor allem Aufsichts- und Versorgungsleistungen), aber auch andere Individuen, zu denen die fragliche Person in entsprechenden Sozialbeziehungen steht (Vertragspartnerschaften, Familienbindungen, Notsituationen, Schadensfälle). Zwischen diesen Rechten kann es zu Konflikten und Konkurrenzen kommen, die geeignete Abwägungen erforderlich machen. Im Folgenden werden dabei Kollisionen von Abwehr- und Anspruchsrechten im Vordergrund stehen. Diese Kollisionen sind im staatlichen Zusammenleben wie auch in interpersonellen Beziehungen eine verbreitete Erscheinung: Beispielsweise kollidiert das Anspruchsrecht von potentiellen Unfallopfern, im Notfall medizinische Versorgungsleistungen zu erhalten, mit dem Abwehrrecht von Steuerzahlern, die für den Unterhalt solcher Versor1 Gliederungen dieser oder vergleichbarer Art finden sich sowohl in der anglo-amerikanischen Tradition (W. N. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (1919), ed. by W. W. Cook, 4th ed., New Haven / London: Yale University Press 1966, 23 – 64; J. Feinberg, „Duties, Rights, and Claims“, in: American Philosophical Quarterly 3, 2 (1966), 137 – 144; O. O’Neill, Towards Justice and Virtue. A Constructive Account of Practical Reasoning, Cambridge: Cambridge University Press 1996, 122 – 153) als auch in kontinental-europäischen Arbeiten (R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, 159 – 228; J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, 151 – 165; O. Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 50 – 61).
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gungsdienste finanziell beansprucht werden müssten. Ähnlich kollidiert die Handlungsfreiheit der Angehörigen eines lärmemittierenden Handwerkbetriebs, d. h. ihr Abwehrrecht zur freien Berufsausübung, mit der Eingriffsfreiheit der Bewohner einer benachbarten Wohnsiedlung, also mit deren Abwehrrecht gegen unerwünschte Lärmbelästigung. Diese Beispiele legen nahe, dass korrekte Rechtsabwägungen oftmals eine quantitative Komponente aufweisen: Angemessene Steuer- oder Lärmbelastungen sind für gewöhnlich keine absolute Angelegenheit des Ja oder Nein, sondern eine relative Angelegenheit des adäquaten Umfangs. Dennoch lassen sich grundsätzliche Regeln finden, die solche Rechtsabwägungen leiten können: Sie lassen Raum für quantitative Spezifikationen, formulieren aber bestimmte Primärbilanzen, von denen jene Spezifikationen ausgehen können. (2) Eine Regel ist für Fälle des geschilderten Typs von besonderer Wichtigkeit2: Sie postuliert einen grundsätzlichen Vorrang zwischen unterschiedlichen Rechtstypen für den Fall, dass bei beiden Partien eine ‚gleiche Betroffenheitstiefe‘ vorliegt. Die Formulierung einer ‚gleichen Betroffenheitstiefe‘ soll dabei zum Ausdruck bringen, dass für die zwei Parteien jeweils ähnlich elementare Belange auf dem Spiel stehen. Beispielsweise geht es in beiden Fällen um Leben und Tod, oder es steht auf beiden Seiten ein relativ zum Vermögensstand äquivalenter Gewinn bzw. Verlust zur Debatte. Die Regel besagt nun erstens, dass in solch einer Konstellation gleicher Betroffenheitstiefe ein Abwehrrecht ein konkurrierendes Anspruchsrecht überwiegt. Beispielsweise darf ein Arzt nicht einen Patienten töten (entgegen seinem Abwehrrecht), um mit dessen Organen einen anderen Patienten zu retten (gemäß dessen gleich existenziellem Anspruchsrecht). Zweitens überwiegt eine Eingriffsfreiheit eine konfligierende Handlungsfreiheit, sofern wiederum beide Parteien die gleiche Betroffenheitstiefe aufweisen. Beispielsweise darf man nicht einem anderen Menschen einen Gegenstand fortnehmen (entgegen seiner Eingriffsfreiheit), um sich selbst eine identische Nutzungsperspektive mit demselben Gegenstand zu eröffnen (gemäß der eigenen gleich utilitären Handlungsfreiheit). Die beiden Beispiele verleihen der vorgeschlagenen Regel eine gewisse Anfangsplausibilität. Weitere einfache Anwendungsfälle bestärken den Eindruck, dass sie einen tauglichen Grundsatz für die Abwägung ungleichartiger Rechte formulieren könnte. Ihre tiefere philosophische Fundierung wird man darin suchen dürfen, dass es sich bei ihr um eine Konkretisierung des Instrumentalisierungsverbots handelt: 2 Der Verfasser hat diese Regel an anderer Stelle eingehender erläutert (D. Hübner, Die Bilder der Gerechtigkeit. Zur Metaphorik des Verteilens, Paderborn: mentis 2009, 22 – 33; D. Hübner, „Stufen der Verbindlichkeit“, in: M. Fuchs / T. Heinemann / B. Heinrichs / D. Hübner / J. Kipper / K. Rottländer / T. Runkel / T. M. Spranger / V. Vermeulen / M. Völker-Albert, Forschungsethik. Eine Einführung, Stuttgart / Weimar: Metzler 2010, 32 – 39) und zudem in verschiedenen angewandten Zusammenhängen erprobt (D. Hübner, „Rechtstypen und Pflichtentypen in der biomedizinischen Ethik. Über Abwägungskonstellationen beim Embryonenschutz“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 9 (2004), 65 – 93; D. Hübner, „Würdeschutz und Lebensschutz: Zu ihrem Verhältnis bei Menschen, Tieren und Embryonen“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 15 (2010), 35 – 68).
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Jemandes Abwehrrecht zu verletzen, um hierdurch ein gleich starkes Anspruchsrecht einer anderen Person zu befriedigen, jemandes Eingriffsfreiheit zu kompromittieren, indem man eine eigene Handlungsfreiheit von gleichem Umfang ausübt, sind glaubhafte Kandidaten für Handlungen, in denen Menschen als bloße Mittel zu fremden Zwecken benutzt werden. Verstöße gegen die Regel mögen daher zumindest eine Form von Instrumentalisierung darstellen und damit auch zumindest eine Gestalt von Würdeverletzung realisieren. In der Kantischen Ethikkonzeption widersprechen sie der Forderung des kategorischen Imperativs, andere Personen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel zu brauchen.3 In ihrem zweiten Teil lässt sich die Regel zudem als präzisierte Fassung des Rechtsprinzips lesen, dass die Freiheit des einen an der Freiheit des anderen ihre Grenze finden muss. Dieser klassische Grundsatz der liberalistischen Tradition liegt etwa Mills bekannter Auffassung zugrunde, dass Handlungsfreiheiten genau und allein zur Verhinderung von Fremdschädigung beschränkt werden dürfen.4 (3) Der fundamentale Charakter der vorgeschlagenen Abwägungsregel schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass sie unabhängig von der jeweiligen Betroffenenanzahl gilt: Die zahlenmäßigen Verhältnisse der beteiligten Parteien spielen für die behaupteten Primärbilanzen keine Rolle. Ein Arzt darf einen Patienten nicht töten, um einen anderen Patienten zu retten, aber ebenso wenig ist ihm diese Tötung erlaubt, um zehn andere Patienten zu retten. Ein Mensch darf eine andere Person nicht enteignen, um deren Besitz äquivalent zu nutzen, und ebenso wenig ist es zehn Menschen erlaubt, eine solche Enteignung vorzunehmen.5 Zugleich aber wird der quantitative Charakter von Rechtsabwägungen dadurch berücksichtigt, dass jene Primärbilanzen ausdrücklich nur bei gleicher Betroffenheitstiefe verbindlich sind: Wenn die Betroffenheitstiefe auf beiden Seiten sich verschiebt, können sich auch die Abwägungen umkehren. Beispielsweise dürfen Abwehrrechte gegen Vermögenseinzug von finanzkräftigen Bürgern sehr wohl beeinträchtigt werden, um Krankenhäuser mit Steuermitteln zu bauen und so die Anspruchsrechte auf Lebensrettung schwerkranker Patienten zu befriedigen. Ähnlich darf ein Einzelner durchaus in fremdes Eigentum eingreifen, wenn er nur durch die3 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hg. von K. Vorländer, Hamburg: Felix Meiner 1994, AA IV, 429. 4 J. S. Mill, On Liberty (1859), Amherst / New York: Prometheus Books 1986, 16, 64 f., 85 f., 106. 5 Schwierig zu beantworten ist die Frage, inwieweit Freiwilligkeit auf Seiten des Beeinträchtigten entsprechende Handlungen legitimieren kann: Grundsätzlich impliziert die Zustimmung eines Betroffenen, dass er die Handlung ein Stückweit zu seiner eigenen macht, und da man eigene Rechte nach verbreiteter Auffassung nicht verletzen kann, sollte die Handlung folglich zulässig sein. Zumindest in schwerwiegenden Fällen wird man diese Überlegung allerdings nicht unqualifiziert gelten lassen können: Zum einen sind tutioristische Bedenken zu berücksichtigen, denen zufolge sich die Freiwilligkeit solcher Praktiken nicht immer hinreichend gewährleisten lässt, zum anderen mag es unveräußerliche Rechte geben, deren Schutzkraft nicht einmal der Betroffene selbst annullieren kann.
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sen Akt sein eigenes Überleben sichern kann und zugleich beim Besitzer allein marginale Einbußen erzeugt.6 Um die skizzierte Regel in konkrete Normen zu übersetzen, bedürfte sie genauerer Spezifikationen und auch gewisser Qualifikationen. Zum einen wäre auszuarbeiten, bei welchen Verschiebungen der Betroffenheitstiefe sich die behaupteten Primärbilanzen umkehren und wie weit die fraglichen Beeinträchtigungen nachfolgend reichen dürfen. Zum anderen wäre zu bestimmen, welche dieser Abwägungen durch Einzelpersonen umgesetzt werden dürfen und welche Übertragungen Staatsorganen vorbehalten bleiben müssen. Beide Fragen sollen hier nicht behandelt werden. Stattdessen werden im Folgenden einige konkrete Szenarien der politischen und angewandten Ethik durchgespielt, um die Logik der Regel und die Weisen ihrer Applikation plastischer zutage treten zu lassen. Dabei wird es in allen Beispielen für beide Parteien um Leben und Tod gehen, so dass auf den ersten Blick der einfache Ausgangsfall einer gleichen Betroffenheitstiefe vorzuliegen scheint. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch interpretative Unwägbarkeiten, wie jene Betroffenheitstiefe korrekt zu kennzeichnen wäre und welche Schlussfolgerungen hieraus plausibel zu ziehen sind. Schließlich scheint es eine spezielle Gruppe von rechtsethischen Dilemmata zu geben, deren ersichtlich heikler Charakter sich innerhalb der vorgeschlagenen Regel zwar prägnant abbildet, die aber gerade deshalb mit dem skizzierten Abwägungsschema keiner stabilen Auflösung mehr zugeführt werden können. III. Reduzierte Betroffenheitstiefen (1) In einigen Fallbeispielen geht es zwar auf beiden Seiten um Leben und Tod. Dennoch scheint bei einer der Parteien so etwas wie eine ‚reduzierte Betroffenheitstiefe‘ vorzuliegen, insofern sie nämlich aufgrund der gegebenen Umstände ‚ohnehin dem Tod geweiht‘ ist. In solchen Fällen liegt es nahe, von der Primärbilanz, wie sie die Regel für eine gleiche Betroffenheitstiefe auf beiden Seiten festschreiben würde, abzurücken. Stattdessen mag eine Tötung der ohnehin bedrohten Partei legitimiert sein. (2) Ein Beispiel hierfür ist eine Schwangerschaft, bei der so schwerwiegende Komplikationen auftreten, dass das Leben der Mutter nur durch einen Eingriff be6 Freilich müssen sich die fraglichen Bilanzen nicht sofort umkehren, wenn die Betroffenheitstiefe des höherrangigen Rechts sinkt: Nicht nur Tötungen von Menschen, die anderen Menschen das Leben retten sollen, sind unzulässig, sondern auch geringfügigere Eingriffe in die körperliche Integrität, etwa die Entnahme eines entbehrlichen Organs oder sogar einer unbeträchtlichen Blutmenge, sofern sie ohne Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Umgekehrt wird die Primärbilanz natürlich weiter bestärkt, wenn die Betroffenheitstiefe des höherrangigen Rechts anwächst: Ein Übergriff auf fremdes Eigentum, der den bisherigen Besitzer in den Ruin treibt und dabei nur der Abhilfe eigener Unannehmlichkeiten dient, ist in noch klarerer Weise unerlaubt, als wenn er dem bisherigen Besitzer allein vergleichbare Unannehmlichkeiten bereitet.
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wahrt werden kann, der den Tod des Fötus zur Folge hat. Der Fötus hingegen hat keine Überlebenschance, er stirbt entweder bei dem fraglichen Eingriff oder zusammen mit der Mutter. Wollte man in dieser Konstellation die obige Regel allzu mechanisch anwenden, so hätte der Eingriff als illegitim zu gelten: Bei Mutter und Fötus geht es jeweils um Leben oder Tod, so dass die Betroffenheitstiefe anscheinend gleich ist. Angesichts dieser gleichen Betroffenheitstiefe müsste das Abwehrrecht des Fötus gegen Tötung das Anspruchsrecht der Mutter auf Rettung überwiegen. Folglich hätte ein Arzt den Eingriff zu unterlassen und den Tod beider hinzunehmen. Dieses Ergebnis ist indessen wenig plausibel: Zwar mag die Legitimität von Schwangerschaftsabbrüchen generell umstritten sein. Im vorliegenden Fall jedoch, wo eine medizinische Indikation von derartiger Dringlichkeit vorliegt und zudem der betroffene Fötus bei keiner Alternative überleben kann, scheint der Eingriff eindeutig legitim und für den Arzt sogar geboten zu sein. Hierdurch wird nicht in Frage gestellt, dass die Situation eine erhebliche Belastung für die Beteiligten darstellen mag. Insbesondere ist nicht undenkbar, dass die Mutter, sofern sie entscheidungsfähig ist, sich dagegen entschließen könnte, den Eingriff vornehmen zu lassen. Dies ändert indessen nichts daran, dass eine adäquate Rechtsabwägung den Eingriff grundsätzlich zulassen oder sogar gebieten müsste, anders als die Regel es dem Anschein nach vorschreibt. Der Gedanke drängt sich auf, die Problematik dadurch zu beheben, dass man den Fötus nicht als vollgültigen Rechtsträger anerkennt: Im Gegensatz zur Mutter, die als geborener Mensch vollumfängliche Schutz- und Hilfsrechte genießt, weise der Fötus als noch nicht entwickelter Mensch einen grundsätzlich geringeren oder vielleicht sogar überhaupt keinen relevanten moralischen Status auf. Insbesondere bei einer sehr frühen Schwangerschaft, in welcher der Fötus wichtige Entwicklungsschritte wie die Ausbildung von Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit noch nicht vollzogen hat, könnte dieser Standpunkt plausibel erscheinen. Der Fötus wäre demnach im Vergleich zur Mutter kein vollwertiges Rechtssubjekt und könnte deshalb in der Abwägung mit ihren Lebensrechten nachgeordnet oder sogar übergangen werden. Tatsächlich bietet sich im vorliegenden Fall aber eine viel einfachere Lösung an, die keinen Bezug auf strittige Statusfragen zu nehmen braucht und damit nicht zuletzt auch bei Föten in weit fortgeschrittenen Entwicklungsstadien greifen kann: Wenn der Fötus ohnehin keine Überlebensmöglichkeit hat, dürfte es angemessen sein, bei ihm von einer reduzierten Betroffenheitstiefe zu sprechen. Zwar würde der anstehende Eingriff seinen Tod nach sich ziehen, aber da er auch ohne diesen Eingriff dem Tod geweiht wäre, besteht seine Betroffenheitstiefe nicht im Verlust eines ganzen Lebens, das er sonst hätte führen können. Vielmehr besteht sie nur im Verlust weniger Tage oder Stunden, bis er unausweichlich umgekommen wäre, und aus diesem Grund ließe sich sein Abwehrrecht gegen die Tötung dem Anspruchsrecht der Mutter auf Rettung nachordnen.7 7 Das Problem des medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruchs wird häufig unter Bezugnahme auf die Lehre von der Doppelwirkung diskutiert: Dieser Lehre zufolge ist der
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(3) Ähnlich wäre der folgende Fall aufzulösen, in dem nicht ein Abwehrrecht und ein Anspruchsrecht, sondern zwei Abwehrrechte gegeneinander stehen: Zwei Bergsteiger sind aneinandergeseilt und drohen abzustürzen. Der obere kann das Gewicht beider Körper nicht mehr halten. Er hat allein noch zwei Möglichkeiten: Entweder er zerschneidet das Seil, so dass der untere in den Tod stürzt. Oder er tut nichts, und es sterben beide. Auch hier liefe eine simplizistische Anwendung der vorgeschlagenen Regel darauf hinaus, dass der obere Bergsteiger das Seil nicht zerschneiden dürfte: Seiner Handlungsfreiheit, sich zu retten, steht die Eingriffsfreiheit seines Partners gegenüber, nicht getötet zu werden, und da die Betroffenheitstiefe jeweils gleich zu sein scheint, müsste seine Handlungsfreiheit an jener Eingriffsfreiheit ihre Grenze finden. Wiederum wäre diese Bilanz aber überaus unplausibel: Ohne Zweifel hat man es wieder mit einer grauenvollen Wahl zu tun, und sicherlich ist nicht abwegig, dass der obere Bergsteiger sich aus solidarischen Erwägungen heraus dazu entschließen könnte, mit seinem Begleiter in den Tod zu gehen. Auf der Ebene der Rechtspflichten indessen wird man ihm keinen Vorwurf machen können, wenn er sich selbst auf Kosten des anderen rettet. Falls er dringliche Verantwortungen für andere Menschen trägt, etwa gegenüber seiner Familie oder engen Freunden, mag diese eigene Rettung sogar geboten sein. Auf einen verringerten moralischen Status wird man sich in diesem Fall nicht mehr sinnvoll berufen können: Der untere Bergsteiger weist keinen minderen Rechtsstatus gegenüber seinem Begleiter auf. Die einzig relevante Differenz zwischen beiden liegt in den abweichenden Rettungschancen. Dieser faktische Unterschied in den Lebensaussichten begründet aber keine Ungleichheit der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit. Was man bei dem unteren Bergsteiger indessen wieder feststellen kann, ist eine reduzierte Betroffenheitstiefe mit Blick auf die fragliche Abwägung: Sein Begleiter kann das eigene Leben retten, wenn er von seiner Handlungsfreiheit Gebrauch macht und das Seil zerschneidet. Hingegen würde der untere Bergsteiger lediglich Eingriff dann legitim, wenn der Tod des Fötus lediglich als Nebeneffekt der Rettung der Mutter hingenommen wird, hingegen unzulässig, wenn er als Mittel zu diesem Zweck dienen soll. Ob diese Unterscheidung tatsächlich ethische Relevanz hat, ist umstritten. In jedem Fall aber wäre sie den hier angestellten Überlegungen nachgeordnet: In der Lehre von der Doppelwirkung wird zunächst vorausgesetzt, dass erstens der angestrebte Zweck für sich allein genommen legitim ist und zweitens die erzeugte Wirkung in einem vertretbaren Verhältnis zu ihm steht. Genau diese beiden Bedingungen betreffen die hier diskutierten Aspekte, nämlich erstens das Vorliegen eines Anspruchsrechts bei der Mutter und zweitens dessen Balance gegenüber dem Abwehrrecht des Fötus. Erst wenn diese Fragen geklärt sind, kann es, sofern man die Lehre von der Doppelwirkung akzeptiert, nachfolgend um die intentionale Struktur der Handlung gehen. Erst nachdem also eine Rechtsabwägung erfolgreich nachweisen konnte, dass die Rettung der Mutter überhaupt den Tod des Fötus rechtfertigen kann, mag man sich damit beschäftigen, ob dieser Tod genauer als hingenommener Nebeneffekt oder aber als intendiertes Mittel zu jener Rettung aufzufassen ist und ob diese Differenz der Intention zur Frage der Legitimität etwas beiträgt.
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ein paar Augenblicke Lebenszeit gewinnen, wenn seine Eingriffsfreiheit respektiert und das Seil nicht zerschnitten würde. Entsprechend ist seine Betroffenheitstiefe merklich geringer und dürfte dafür sorgen, dass sein Recht in der Abwägung unterliegt.8 IV. Grenzen dieses Konzepts (1) Es sei noch einmal hervorgehoben, dass ohne die Konstellation einer reduzierten Betroffenheitstiefe die fraglichen Vollzüge in der Tat illegitim wären: Man darf niemals einen Ungefährdeten töten, um einen Bedrohten zu retten. Man darf niemals das eigene Leben schützen, indem man einen Unbeteiligten vorschiebt. Nur der ohnehin bevorstehende Tod der anderen Partei kann die fraglichen Handlungen in den gegebenen Fällen rechtfertigen. Indessen darf die Logik der reduzierten Betroffenheitstiefe auch nicht überdehnt werden: Nicht jeder bevorstehende Tod kann eine vorzeitige Tötung erlauben. Nicht jede begrenzte Lebensperspektive vermag eine verfrühte Lebensbeendigung zu legitimieren. Vor allem zwei Bedingungen scheinen erfüllt sein zu müssen, damit die Abwägung wie behauptet ausfallen kann. Erstens ist vorauszusetzen, dass beide Parteien sich in einer gemeinsamen Bedrohungssituation befinden: Hat der bevorstehende Tod der einen Partei nichts mit jener Gefährdungslage zu tun, aus welcher die andere Partei gerettet werden soll, so kann ihr Tod nicht ernsthaft die Zuschreibung einer ‚reduzierten Betroffenheitstiefe‘ rechtfertigen. So dürfen todkranke Patienten sicherlich ebenso wenig wie gesunde Patienten geopfert werden, um mit ihren Organen andere Menschen zu retten. Zwar werden auch sie unumgänglich sterben, und ihre Verschonung wird daher unvermeidlich zur Folge haben, dass beide Parteien umkommen. Aber anders als im Fall der komplizierten Schwangerschaft hängt ihr bevorstehender Tod nicht mit jener Gefährdung zusammen, aus welcher die anderen Kranken mit den entnommenen Organen gerettet werden sollen. Und deshalb wäre es auch nicht legitim, ihren Tod zu beschleunigen, um jene Gefährdung zu beheben. Nur in einer gemeinsamen Bedrängnis ist es vertretbar, eine Partei, die nicht mehr aus dieser geteilten Notlage gerettet werden kann, zu töten, ehe das drohende Unheil beide Parteien ereilt. Dass 8 Gewiss gibt es keinerlei Gewähr, dass der obere Bergsteiger in der Tat ein vollumfängliches Leben retten kann: Immerhin könnte er selbst einen Tag später von einem Auto überfahren werden oder an einer Infektion sterben. Die bloße Möglichkeit, dass ihn ein derartiges Unglück ereilt, vermag indessen seine Betroffenheitstiefe in der vorliegenden Abwägung nicht zu mindern. Dies gilt schon deshalb, weil sich diese Möglichkeit jedem Lebensrecht auf Rettung oder Nichttötung überlagert, ohne dass diese Belange hierdurch in ihrer Dringlichkeit kompromittiert werden könnten. Auch bleibt sie erkennbar irrelevant gegenüber der unumstößlichen Gewissheit, dass sein Begleiter nicht überleben kann. Zweifelhafter mag der Fall erscheinen, wenn der obere Bergsteiger eine definitiv verminderte Lebenserwartung aufweist: Beispielsweise könnte er todkrank sein und deshalb nachweislich nur eine sehr begrenzte Lebenszeit vor sich haben. Mit dieser Konstellation, dass eine der Parteien aus Gründen jenseits der vorliegenden Bedrohungssituation verringerte Überlebensaussichten hat, befassen sich die nachfolgenden Abschnitte.
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hingegen eine Partei aufgrund externer Umstände eine begrenzte Lebenserwartung haben mag, kann den Vorwurf der Instrumentalisierung nicht ausräumen, wenn sie unter dem Hinweis auf ihre ‚reduzierte Betroffenheitstiefe‘ geopfert werden soll, um eine andere Partei aus deren separater Gefahr zu retten. Zweitens ist wichtig, dass das drohende Verhängnis eine objektive Unvermeidbarkeit darstellt: Ist der bevorstehende Tod keine Angelegenheit unabwendbarer Naturabläufe, sondern eine Sache menschlicher Entscheidungen, so wird man nicht unqualifiziert davon sprechen können, eine nicht mehr zu erlösende Partei sei ‚ohnehin dem Tod geweiht‘. Beispielsweise dürfen von Terroristen entführte Flugzeuge, die höchstwahrscheinlich in einem Wohngebiet zum Absturz gebracht werden sollen, nicht abgeschossen werden, um die Bewohner jenes Wohngebiets zu schützen. Zwar sind wiederum beide Parteien, Flugzeuginsassen und Anwohner, vom Tod bedroht, und überdies befinden sie sich nun sogar in einer gemeinsamen Bedrohungssituation, aus welcher die Flugzeuginsassen nicht mehr zu retten sind, die Anwohner hingegen schon. Aber anders als im Fall der komplizierten Schwangerschaft steht hinter dem drohenden Verhängnis kein unabwendbarer Naturablauf, der weder zu einem früheren Zeitpunkt vorsätzlich herbeigeführt worden wäre noch zum jetzigen Zeitpunkt mehr abgewendet werden könnte. Vielmehr ist dieses Verhängnis durch menschliche Entscheidungen bedingt. Die Terroristen haben das Flugzeug entführt, die Terroristen wollen es nun zum Absturz bringen. Dies liefert keine glaubhafte Rechtfertigung, jenen verbrecherischen Handlungen bzw. ihrer voraussichtlichen Vollendung vorzugreifen, indem man die nicht zu rettende Partei als ‚ohnehin dem Tod geweiht‘ einstuft und für die andere opfert. (2) In beiden Beispielen, der Opferung todkranker Patienten und dem Abschuss entführter Terrorflugzeuge, stehen Abwehrrechte und Anspruchsrechte einander gegenüber und müssen aus der Sicht Dritter abgewogen werden. Ähnlich lassen sich Fälle konstruieren, in denen Eingriffsfreiheiten mit Handlungsfreiheiten kollidieren und wiederum eine der beiden maßgeblichen Bedingungen, gemeinsame Bedrohungssituation oder objektive Unvermeidbarkeit, nicht erfüllt ist, so dass die Argumentation einer maßgeblich reduzierten Betroffenheitstiefe wegen ohnehin bevorstehenden Todes nicht greifen kann. Ein Beispiel für das Fehlen der ersten Bedingung wären zwei Gestrandete, die sich auf einer einsamen Insel mit nur pflanzlicher Nahrung wiederfinden. Der erste Gestrandete kann sich aufgrund einer Stoffwechselanomalie nicht vegetarisch ernähren und würde deshalb nur überleben, wenn er seinen Leidensgenossen tötet und verzehrt. Dieser zweite Gestrandete kann zwar von vegetarischer Nahrung leben, leidet jedoch seinerseits an einem kurzfristig tödlichen Tumor. Wieder sehen sich beide Parteien dem Tod gegenüber, und beide werden sterben, falls nicht der erste den zweiten umbringt, um sich selbst zu retten. Aber da dieser Tod ganz unterschiedliche Ursachen hat, lässt sich nicht von einer gemeinsamen Bedrohungssituation sprechen, wie es noch bei den beiden Bergsteigern der Fall war. Daher fände die Handlungsfreiheit des Nicht-Vegetariers an der Eingriffsfreiheit des Tumorkran-
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ken unverändert ihre Grenze, ohne dass der erstere sich auf eine ‚reduzierte Betroffenheitstiefe‘ des letzteren berufen könnte. Ein Beispiel für das Fehlen der zweiten Bedingung wäre ein Entführer, der zwei Geiseln in seine Gewalt bringt. Dabei fordert er die erste Geisel auf, die zweite Geisel umzubringen. Falls die erste Geisel sich weigern sollte, würde er selbst beide Geiseln töten. Wieder drohen beide Parteien zu sterben, diesmal sogar in einer gemeinsamen Bedrohungssituation. Aber da dieser bevorstehende Tod nun einzig den Handlungen des Entführers entspringen würde, lässt sich nicht mehr von einer objektiven Unvermeidbarkeit sprechen, wie es noch bei den beiden Bergsteigern der Fall war. Entsprechend könnte die Handlungsfreiheit der ersten Geisel nicht die Eingriffsfreiheit der zweiten Geisel überwiegen unter dem Hinweis, diese zweite Geisel sei ‚ohnehin dem Tod geweiht‘. (3) Schließlich finden sich Fälle, in denen beide Bedingungen unerfüllt bleiben. Auch hier sind die fraglichen Übergriffe folglich illegitim, obgleich dies einmal mehr zur Konsequenz hat, dass beide Parteien umkommen müssen. Der Gedanke etwa, zum Tode verurteilte Personen kurz vor ihrer Hinrichtung umzubringen, um mit ihren Organen kranke Menschen zu retten, verletzt beide Voraussetzungen: Weder ist eine gemeinsame Bedrohungssituation der Verurteilten und der Kranken gegeben, die es rechtfertigen könnte, das bevorstehende Los der ersteren in der Abwägung gegen die mögliche Rettung der letzteren als Grund für eine ‚reduzierte Betroffenheitstiefe‘ geltend zu machen. Noch stellt dieses Los eine objektive Unvermeidbarkeit dar, die menschlicher Entscheidung entzogen wäre und es daher erlauben würde, die Verurteilten in einem glaubhaften Sinne als ‚ohnehin dem Tod geweiht‘ zu bezeichnen. Der Vorwurf der Instrumentalisierung stünde somit in vollem Umfang im Raum. Auch der Vorschlag, sogenannte überzählige Embryonen, die im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation erzeugt wurden und nun aufgrund erfolgreicher Implantation anderer Embryonen nicht mehr gebraucht werden, für Forschungszwecke zu töten, um hierdurch Therapien für schwerkranke Patienten zu entwickeln, missachtet beide Bedingungen: Das bevorstehende Schicksal der Embryonen, nicht mehr eingepflanzt zu werden und daher sterben zu müssen, steht in keinerlei Zusammenhang mit den Gesundheitsproblemen der Kranken, die durch ihre Opferung gerettet werden sollen. Zudem resultiert es nicht aus naturnotwendigen Abläufen, gegen die alle Beteiligten machtlos waren bzw. sind, sondern aus reproduktionsmedizinischen Entscheidungen, zunächst mehr Embryonen als benötigt herzustellen und dann die nicht benötigten Embryonen zu verwerfen. Obgleich also überzählige Embryonen offenbar nur deshalb in die bioethische Debatte und in die biotechnische Praxis eingeführt wurden, weil man erstens davon ausging, dass Embryonen grundsätzlich der Status von moralischen Rechtsträgern zukommt, aber zweitens hoffte, dass gegebene Überzähligkeit ein Argument der reduzierten Betroffenheitstiefe begründen könnte, ist Letzteres mit großer Wahrscheinlichkeit falsch.
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V. Ethische Oszillationen (1) Bislang liefert die skizzierte Regel recht eindeutige Anhaltspunkte, welche Rechtsabwägungen in Konfliktsituationen adäquat sind und welche nicht. In einfachen Ausgangsfällen gibt sie unmittelbare Auskünfte, deren Inhalte weitgehend durch die moralische Intuition gestützt werden. In komplexeren Konstellationen zeigt die Regel immerhin an, welche Parameter genauerer Erörterung bedürfen. Insgesamt bietet sie damit einen soliden Diskussionsrahmen, der wichtige Spezifikationserfordernisse markiert. Indessen lassen sich Rechtskollisionen konstruieren, bei denen die skizzierte Regel in einen unauflöslichen Widerspruch zu geraten scheint. Erlaubtheit (oder sogar Gebotenheit) und Unerlaubtheit ein und derselben Handlung wechseln einander beständig ab, ohne in eine stabile Schlussbilanz zu münden. Solche ‚ethischen Oszillationen‘ entstehen vor allem, wenn in Problemfällen der bereits entworfenen Art (d. h. bei drohendem Verhängnis für beide Seiten und möglicher Rettung der einen durch gezielte Tötung der anderen) eine vollständige Symmetrie zwischen beiden Parteien herrscht. Dass diese symmetrischen Situationen im Rahmen der hier vorgeschlagenen Konzeption als unlösbar erscheinen, dürfte dabei kein theoretisches Artefakt sein, sondern angemessener Ausdruck ihres in der Tat zutiefst dilemmatischen Charakters, welcher sich auch dem intuitiven Urteil unmittelbar mitteilt. (2) So ändere man den Fall der komplizierten Schwangerschaft zum Szenario einer komplizierten Zwillingsschwangerschaft ab. Bedroht sind jetzt nicht mehr die Mutter und ihr Fötus, wobei die Mutter nur überleben kann, wenn der Fötus getötet wird, während der Fötus keine Überlebensmöglichkeit hat. Stattdessen sind nun zwei Zwillingsföten im Mutterleib bedroht, und jeder von beiden kann genau dann überleben, wenn der andere getötet wird. Die Mutter hingegen ist aktuell nicht gefährdet.9 Die Situation ist nunmehr völlig symmetrisch gestaltet. Sie wird im Folgenden wieder mit Hilfe der obigen Kategorien analysiert werden, wobei die beiden Zwillinge mit A und B bezeichnet werden. Die Untersuchung erfolgt in sukzessiven Schritten, die jeweils auf das vorab gewonnene Zwischenresultat Bezug nehmen. Indem sie dieses Zwischenfazit fortwährend invertieren, entsteht die behauptete Oszillation. 9 Der Verfasser hat diesen Fall in einer früheren Arbeit in aller Kürze angesprochen. Die Betrachtung war allerdings unzureichend, indem lediglich die beiden Möglichkeiten erwogen wurden, dass entweder die Tötung jedes Fötus zur Rettung des jeweils anderen erlaubt sein könnte oder die Tötung beider Föten verboten bleiben und somit der Tod beider hingenommen werden müsste (vgl. Hübner, „Rechtstypen und Pflichtentypen“ (Fn. 2), 82 f.). Die Beschränkung auf diese beiden Möglichkeiten ist zwar auf den ersten Blick attraktiv, weil sie der Symmetrie der entworfenen Situation gerecht zu werden und alle Optionen einer vernünftigen Lösung auszuschöpfen scheint. Aber sie missachtet die Gegenläufigkeit der involvierten Rechte, die tatsächlich keiner Alternative stabilen Bestand geben kann und stattdessen in das Phänomen einer ethischen Oszillation mündet.
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(a1) Wenn Zwilling B nicht getötet wird, stirbt er ohnehin. Denn wenn kein Eingriff erfolgt, werden beide Föten gemeinsam umkommen. Folglich ist die Betroffenheitstiefe von B reduziert, ebenso wie bei der komplizierten Schwangerschaft. Und daher darf man B töten, um A zu retten, wie man bereits im Fall der komplizierten Schwangerschaft den Fötus töten durfte, um die Mutter zu retten. (a2) Wegen der Symmetrie der Situation gilt dies natürlich genauso gut umgekehrt. Man darf also ebenso wohl Zwilling A töten, um B zu retten. In der bisher eröffneten Perspektive ist dies der einzige Effekt der Symmetrie und der einzige Unterschied zum Fall der komplizierten Schwangerschaft. Jeder der beiden Föten darf getötet werden, und jeder der beiden kann gerettet werden. (b1) Damit stimmt aber die Ausgangsbehauptung unter (a1) genau betrachtet nicht mehr. Denn B könnte sehr wohl überleben, nämlich indem man A tötet. B ist also keineswegs ‚ohnehin dem Tod geweiht‘, wie der Fötus in der komplizierten Schwangerschaft, und mithin hat er auch keine ‚reduzierte Betroffenheitstiefe‘, sondern geht mit vollgültigen Lebensrechten in die Abwägung ein. Dann überwiegt jedoch sein Abwehrrecht gegen die Tötung das Anspruchsrecht von A auf Rettung, und die Tötung von B ist nicht erlaubt. (b2) Wegen der Symmetrie der Situation gilt dies freilich genauso für A. Hieraus könnte man den Schluss ziehen, dass keiner der beiden Föten umgebracht und entsprechend auch keiner von beiden gerettet werden darf. Es entstünde eine völlige Blockade, in welcher der Tod beider Föten hingenommen werden müsste. Die Situation wäre dabei durchaus paradox, denn gerade dadurch, dass jeder von beiden gerettet werden kann, indem man den anderen tötet, darf tatsächlich keiner von beiden getötet und folglich auch keiner von beiden gerettet werden. Trotz dieser Paradoxie mag jenes Zwischenfazit auf den ersten Blick plausibel erscheinen: Konstellationen der Art, dass keine Partei gerettet werden darf und beide Parteien sterben müssen, treten zuweilen auf (dies haben u. a. die Beispiele des vorangehenden Abschnitts gezeigt). Und die vorliegende Situation könnte ein glaubhafter Kandidat hierfür sein, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie zweifellos zutiefst tragisch beschaffen ist und eben diese Tragik gerade in jener Ausweglosigkeit bestehen mag (intuitive Tragik gründet oft in struktureller Ausweglosigkeit). Tatsächlich dürfte dieses Fazit aber voreilig sein: Die Untersuchung ist noch nicht an ihr Ende gelangt. Das ganze Ausmaß des Dilemmas ist noch keineswegs erfasst. (c1) Es stimmt, dass im Anschluss an (b1) aus Symmetriegründen auch A nicht getötet werden darf, um B zu retten. Das bedeutet aber zunächst allein, dass es eben unerlaubt ist, B zu retten. B kann zwar faktisch überleben, aber nicht moralisch gerechtfertigt, und wenn B somit in keinem legitimen Szenario überleben kann, so ist B offenbar doch ‚ohnehin dem Tod geweiht‘, nun zwar nicht mehr in empirischem, dafür aber jetzt in normativem Sinne. Folglich darf man bei B doch von einer ‚reduzierten Betroffenheitstiefe‘ ausgehen, zwar nicht in faktischer, aber in moralischer
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Hinsicht, und seine Tötung ist legitim, weil der einzige Weg zu seiner Rettung normativ verstellt ist.10 (c2) Aufgrund der Symmetrie des Falles gilt auch dies natürlich ebenso für A. Hieraus könnte man folgern wollen, dass jeder von den beiden Föten umgebracht werden darf, um den jeweils anderen zu retten. Der Fall stellte sich damit wieder dar wie unter (a2), nur mit dem Unterschied, dass nicht mehr jeder von beiden als faktisch unrettbar und damit opferbar gälte, sondern jeder von beiden als moralisch unrettbar und damit opferbar erschiene. Die Situation wäre nun quasi selbstkorrigierend, denn gerade dadurch, dass keiner von beiden gerettet werden darf, indem man den anderen tötet, darf er seinerseits getötet und hierdurch der andere gerettet werden. Auch diese Zwischenbilanz einer Selbstkorrektur könnte im ersten Zugriff attraktiv erscheinen: Die Symmetrie der Situation kann augenscheinlich nur darauf hinauslaufen, dass entweder keiner gerettet werden darf oder beide gerettet werden dürfen. Da es aber unnötig erscheint, beide sterben zu lassen, sollte es erlaubt sein, jeden von beiden zu retten. Sobald dies einmal geklärt wäre, könnten für die anschließende Frage, welchen von beiden man denn nun retten solle, zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden, etwa nachweisliche Differenzen im allgemeinen Gesundheitszustand oder in der mittelfristigen Überlebensfähigkeit, die zwischen den beiden Föten bestehen mögen: Sicherlich dürfen solche Aspekte nicht unmittelbar in die Abwägung einbezogen werden, indem man etwa meinte, einer der beiden Föten habe verringerte Lebensrechte, nur weil er weniger kräftig oder weniger resistent ist als der andere (derartige Parameter betreffen nicht die gemeinsame Bedrohungssituation und können daher kein Argument einer reduzierten Betroffenheitstiefe stützen). Aber wenn einmal festgestellt wurde, dass die Rechtsbilanz völlig ausgeglichen ist und es mithin gleichermaßen gestattet ist, B für A oder A für B zu opfern, könnten derartige Unterschiede nachfolgend berücksichtigt werden und den Ausschlag geben bei der Frage, wessen vollgültiges Lebensrecht für das ebenso vollgültige Lebensrecht des anderen preisgegeben wird (also nicht im Sinne einer rechtsphilosophischen Entscheidungsvorgabe, sondern im Sinne einer rechtsexternen Entscheidungsfreiheit). (d1) Aber auch bei dieser Bilanz darf sich die Analyse bei genauerem Hinsehen nicht beruhigen. Es stimmt, dass nach (c1) aus Symmetriegründen auch die Tötung von A gestattet sein muss, weil auch A eine reduzierte Betroffenheitstiefe hat, in normativem Sinne, ebenso wie B. Dann ist indessen die Tötung von B doch wieder unerlaubt, denn B könnte sehr wohl rechtmäßig überleben, durch Tötung von A. Folglich hat B doch keine reduzierte Betroffenheitstiefe, in normativem Sinne, und sein Abwehrrecht gegen die Tötung überwiegt das Anspruchsrecht von A auf Rettung. 10 Diese normative Unerlaubtheit von B’s Rettung ist in ethischer Hinsicht ein ebenso relevantes Hindernis wie eine empirische Unmöglichkeit jener Rettung: Unerlaubte Auswege, die als solche nicht gewählt werden dürfen, sind ethisch ebenso ungangbar und damit gleichermaßen auszuklammern wie unmögliche Auswege, die als solche nicht gewählt werden können.
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(d2) Einmal mehr gilt dies freilich genauso für A. Auch A darf also nicht getötet werden. Damit ist man anscheinend wieder bei der Bilanz von (b2) angekommen, indem auf beiden Seiten die faktische Rettbarkeit auch wieder eine moralische Rettbarkeit einschlösse. Entsprechend schiene es erneut, als dürfe keiner getötet und keiner gerettet werden, so dass beide sterben müssten. (e1) Wie gewohnt kann es hierbei aber nicht bleiben. Gewiss ist nach (d1) aus Symmetriegründen auch die Tötung von A unerlaubt, weil A eben doch keine reduzierte Betroffenheitstiefe hat, weder in empirischem noch in normativem Sinne, ebenso wenig wie B. Damit kann B jedoch nur unrechtmäßig überleben. Folglich ist die Tötung von B erlaubt, denn B hat hiermit eine reduzierte Betroffenheitstiefe, in moralischer Hinsicht. (e2) Dann ist aber aus Symmetriegründen auch die Tötung von A erlaubt. A ist ebenfalls nicht in moralisch akzeptabler Weise zu retten, hat mithin gleichfalls eine reduzierte Betroffenheitstiefe. Somit ist man anscheinend erneut bei dem Fazit von (c2) angelangt. Einmal mehr schiene es, als dürften beide gerettet und beide getötet werden, wobei es nachfolgenden Überlegungen überlassen bliebe, wen welches Schicksal ereilen sollte. – Tatsächlich hat sich aber inzwischen der Kreis geschlossen: Wenn nach Auskunft von (e1) gilt, dass B getötet werden darf, so ist aus Symmetriegründen klar, dass auch A getötet werden darf. Damit gelten indessen die Voraussetzungen von (d1), so dass B nicht getötet werden darf. Diese Auffassung von (d1), dass B nicht getötet werden darf, impliziert ihrerseits aus Symmetriegründen, dass auch A nicht getötet werden darf. Damit gelten jedoch die Bedingungen für (e1), dem zufolge B getötet werden darf. Folglich ist ein Zirkel entstanden, dessen Struktur offenbar vitiös ist: Einmal darf B getötet werden (und A dadurch gerettet), dann wieder nicht. Einmal darf A getötet werden (und B dadurch gerettet), dann wieder nicht. Indem diese widersprüchlichen Aussagen einander wechselseitig implizieren, entsteht eine ethische Oszillation. Die Analyse springt endlos zwischen Erlaubnis und Verbot der Tötung bzw. der Rettung jedes der beiden Zwillinge hin und her. Die Zwischenbilanzen von (b2) / (d2) und (c2) / (e2), denen zufolge es schiene, als dürfte entweder keiner der Föten getötet werden, so dass beide sterben müssen, oder als dürfte ein beliebiger Fötus getötet werden, um den jeweils anderen zu retten, sind demgegenüber verkürzt: Sie übertragen die momentane Lösung für den einen Fötus (darf nicht getötet werden / darf getötet werden) aus Symmetriegründen unbesehen auf den anderen und begnügen sich dann mit dieser gemeinsamen Lösung für beide Föten (dürfen nicht getötet werden/dürfen getötet werden). Dabei entgeht ihnen aber das interne Spannungsverhältnis dieser jeweiligen Zuweisungen. Tatsächlich impliziert die momentane Lösung für den einen Fötus (darf nicht getötet werden/darf getötet werden) unmittelbar die gegenteilige Lösung für den anderen (darf getötet werden / darf nicht getötet werden). Dann überträgt sich diese gegenteilige Lösung für den zweiten Fötus aus Symmetriegründen wieder auf den ersten, womit der fortlaufende Widerspruch entsteht. Das Ergebnis ist nicht Stabilität, wie
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es in einer bloßen Berücksichtigung der Symmetrie erscheint, sondern Oszillation, wenn man die sukzessive Abfolge dieser Lösungen nachverfolgt: Jeder darf nur dann gerettet werden, wenn der andere nicht gerettet werden darf. Aber dann darf auch er selbst nicht gerettet werden, womit der andere gerettet werden darf. Diese Kombination aus Gegenläufigkeit der Rechte einerseits und Symmetrie der Situation andererseits kann nicht dazu führen, dass sich für beide Parteien die gleiche stabile Lösung ergibt. Vielmehr kann eine solche Kombination nur dafür sorgen, dass sich bei jedem Zwilling die beiden Zuweisungen endlos abwechseln, indem jeder Fötus erstens aufgrund der Rechtsgegenläufigkeit stets die invertierte Zuweisung wie der andere Fötus innehat und zweitens aufgrund der Situationssymmetrie sofort die identische Zuweisung wie der andere Fötus erhalten muss. Letztlich erliegen jene voreiligen Zwischenbilanzen der Versuchung, die Situation aufgrund ihrer Symmetrie dahingehend zu behandeln, als stünden sich darin gleichartige Rechte gegenüber: Streng genommen trifft einmal das Abwehrrecht von B auf das Anspruchsrecht von A, einmal verhält es sich umgekehrt. Da man aber beide Standpunkte einnehmen kann, so der Gedanke, schieben sich beide Perspektiven gewissermaßen übereinander: Der Unterschied zwischen Abwehr- und Anspruchsrecht wird eingeebnet, und die Situation erscheint, als wären zwei Rechte gleichen Typs gegeneinander abzuwägen. In (b2) und (d2) wird die Situation dabei wahrgenommen, als stünden zwei Abwehrrechte gegeneinander, so dass keiner der beiden getötet werden darf. In (c2) und (e2) hingegen wird die Situation begriffen, als lägen zwei Anspruchsrechte vor, so dass jeder der beiden gerettet werden darf. Diese beiden Auffassungsweisen sind aber nicht nur einander entgegengesetzt, ohne dass man wüsste, welcher von ihnen der Vorzug zu geben wäre, sondern auch jeweils in sich inkorrekt: Wer das Abwehrrecht und wer das Anspruchsrecht hat, ist nicht beliebig, und schon gar nicht lässt sich beiden Föten gleichzeitig derselbe Rechtstyp zusprechen. Man kann immer nur einen Standpunkt einnehmen, und welchen man einnimmt, ergibt sich daraus, welche Handlung man jeweils in Betracht zieht: Erwägt man, B zu töten, um A zu retten, so hat B das Abwehrrecht und A das Anspruchsrecht, und je nach Zwischenstand der Überlegungen überwiegt das Abwehrrecht von B, wie in (b1) und (d1), oder es überwiegt das Anspruchsrecht von A, wie in (c1) und (e1). Erwägt man hingegen, A zu töten, um B zu retten, so sind die Rechtstypen umgekehrt zugeordnet. Gewiss lässt sich der Gehalt der letzteren Perspektive aus Symmetriegründen direkt aus dem Fazit der vorhergehenden Perspektive übertragen, wie jeweils in den Anfangssätzen von (b2) und (d2) bzw. (c2) und (e2) geschehen, doch dies ändert nichts daran, dass immer entweder die eine oder die andere Konstellation vorliegt und nie beide zugleich gegeben sind. Im Fall der komplizierten Zwillingsschwangerschaft stehen sich somit unauflöslich unterschiedliche Rechtstypen gegenüber: Es geht immer darum, den einen Fötus zu retten und dafür den anderen zu töten, oder umgekehrt. Bei jeder Handlungsoption trifft ein Anspruchsrecht auf ein Abwehrrecht. Anders als der Ausgangsfall der komplizierten Schwangerschaft ist die Situation jedoch symmetrisch:
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Jede Partei kann gerettet werden, indem die andere Partei getötet wird. Deshalb sind auf beiden Seiten sowohl Anspruchsrechte als auch Abwehrrechte relevant, je nach erwogener Handlung. Das Gewicht dieser Rechte ist indessen über den Gedanken der Betroffenheitstiefe gegenläufig miteinander verknüpft: Wenn bei B keine reduzierte Betroffenheitstiefe vorliegt, so überwiegt das Abwehrrecht von B gegen Tötung das Anspruchsrecht von A auf Rettung, so dass A nicht gerettet werden darf. Und wenn A nicht gerettet werden darf, so liegt bei A eine reduzierte Betroffenheitstiefe vor, so dass das Anspruchsrecht von B auf Rettung das Abwehrrecht von A gegen Tötung überwiegt und B gerettet werden darf. Diese Konstellation ist jedoch wegen der Symmetrie der Situation instabil: Wenn B gerettet werden darf, muss auch A gerettet werden dürfen. Sämtliche Zuweisungen der obigen Bilanz implizieren ihre eigene Umkehrung, und das unweigerliche Ergebnis dieser fortlaufenden Selbstnegation ist eine ethische Oszillation. (3) Ein analoger Effekt antinomischer Symmetrie entsteht, wenn man den Fall der beiden Bergsteiger zum Szenario zweier Schiffbrüchiger modifiziert. Nun gibt es nicht mehr einen oberen Bergsteiger, der sich retten kann, indem er den unteren Bergsteiger tötet, welcher seinerseits auf jeden Fall umkommen wird. Stattdessen finden sich zwei Schiffbrüchige auf einer Planke wieder, die nicht beide Personen zu tragen vermag. Jeder kann nunmehr überleben, allerdings nur indem er den anderen herabstößt.11 Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, es hier mit einem klassischen Gefangendilemma zu tun zu haben. Dies ist allerdings falsch, da im vorliegenden Fall beidseitige Kooperation (d.h. die Schonung des jeweils anderen) keineswegs für beide Seiten vorteilhaft, sondern für beide Seiten fatal wäre, ebenso wie beidseitige Defektion (d.h. die Tötung des jeweils anderen), falls dieser Akt überhaupt durch beide Seiten gleichzeitig ausführbar sein sollte. Hierdurch ändert sich nicht nur die motivationale Struktur, sondern auch die ethische Bewertung der Situation. Während im Gefangenendilemma der Kooperationspunkt aus unterschiedlichen moralischen Perspektiven heraus als einzig akzeptable Lösung gelten darf, lässt das Plankendilemma wieder eine Oszillation zwischen verbotener und erlaubter Selbstrettung bzw. Fremdtötung entstehen. 11 Diesen Fall diskutiert Kant unter der Überschrift des Notrechts. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die fragliche Selbstrettung durch Fremdtötung zwar pragmatisch „unstrafbar (impunibile)“ sei, weil keine Todesdrohung und mithin auch kein Strafgesetz die nötige abschreckende Wirkung gegen ein solche Handlung entfalten könnte, aber keineswegs moralisch „unsträflich (inculpabile)“, also mit Blick auf die vorliegende Rechtsbilanz gerechtfertigt (vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), hg. von B. Ludwig, Hamburg: Felix Meiner 1986, AA VI, 235 f.). Diese Differenzierung ist wichtig, insofern sie die pragmatische Frage der präventiven Strafbewehrung von der ethischen Frage der rechtlichen Legitimität abhebt. Indem Kant indessen letztere Frage rundheraus verneint, übersieht er die interne Widersprüchlichkeit, die dem Fall auch auf jener ethischen Ebene unauflösbar anhaftet.
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(a1) Wenn der Schiffbrüchige A seinen Leidensgenossen B nicht von der Planke stößt, so wird B ohnehin sterben. Denn dann müssen sie gemeinsam mit der überladenen Planke untergehen. Folglich ist die Betroffenheitstiefe von B reduziert, ebenso wie im Fall der beiden Bergsteiger die Betroffenheitstiefe des unteren Bergsteigers reduziert ist. Mithin überwiegt A’s Handlungsfreiheit, sich selbst zu retten, B’s Eingriffsfreiheit, nicht getötet zu werden. (a2) Wegen der Symmetrie der Situation gilt dies, anders als bei den beiden Bergsteigern, ebensowohl umgekehrt. Auch B darf also A von der Planke stoßen, um sich zu retten. (b1) Damit erweist sich aber die Anfangsannahme von (a1) als voreilig. B stirbt keineswegs ohnehin, sondern kann überleben, eben indem er A von der Planke stößt. Folglich müsste B’s Eingriffsfreiheit gegen seine Tötung A’s Handlungsfreiheit zur eigenen Rettung überwiegen, denn die Betroffenheitstiefe in dieser Abwägung ist bei beiden gleich. B darf folglich nicht von der Planke gestoßen werden. (b2) Das Gleiche gilt freilich wiederum für A. Folglich scheint es, als dürfe keiner der beiden sich retten, indem er den anderen tötet, und als müssten beide untergehen. (c1) Diese Folgerung ist indessen einmal mehr verfrüht. In der Tat darf A gemäß den bisherigen Überlegungen nicht von B getötet werden, ebenso wenig wie umgekehrt. Dies bedeutet aber zunächst allein, dass B sich nicht auf moralisch akzeptable Weise retten kann und somit eine reduzierte Betroffenheitstiefe aufweist, zwar nicht in empirischer, aber in normativer Hinsicht. B kann nur unrechtmäßig überleben, und deshalb darf B doch von A getötet werden.12 (c2) Dies muss indessen auch für A gelten. Entsprechend schiene es nunmehr, als dürfe jeder den anderen von der Planke stoßen, um sich selbst vor dem Ertrinken zu bewahren. (d1) Dieses Fazit ist jedoch wie gewohnt übereilt. Wenn A von B getötet werden darf, ebenso wie umgekehrt, so kann B eben doch in gerechtfertigter Weise überleben. Dann hat B aber doch keine reduzierte Betroffenheitstiefe, in moralischer ebenso wenig wie in faktischer Hinsicht. Mithin überwiegt B’s Eingriffsfreiheit A’s Handlungsfreiheit, weil in dieser Abwägung bei beiden die gleiche Betroffenheitstiefe vorliegt, und A darf B nicht von der Planke stoßen. (d2) Dies verhält sich umgekehrt genauso. Auf den ersten Blick könnte mal also wieder vermuten, dass keiner den anderen von der Planke stoßen darf und beide zum Ertrinken verdammt sind. 12 Man sollte diese in normativer Hinsicht reduzierte Betroffenheitstiefe von B nicht dadurch erklären, dass B im Begriff stehe, seinerseits A zu töten, somit unmoralisch sei und deshalb getötet werden dürfe: Erstens ist keineswegs ausgemacht, welche Absichten B tatsächlich hegt, und zweitens ist überaus fragwürdig, ob diese Absichten B’s Lebensrechte reduzieren könnten.
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(e1) Tatsächlich aber geht die Überlegung weiter. Wenn B nicht A töten darf, ebenso wenig wie umgekehrt, so darf B sich nicht retten. B kann nicht in rechtmäßiger Weise überleben, somit ist seine Betroffenheitstiefe reduziert. Folglich müsste A ihn töten dürfen, um selbst zu überleben. (e2) Ebenso müsste aber A getötet werden dürfen. Mithin scheinen wieder beide sich retten zu dürfen, wobei es gleichgültig wäre, wer von beiden diesen Schritt unternimmt. – Wie bereits im Fall der komplizierten Zwillingsschwangerschaft kann auch in diesem Szenario der zwei Schiffbrüchigen die Analyse nicht an einem der symmetrischen Bilanzpunkte (b2) / (d2) oder (c2) / (e2) innehalten: Das Problem ist nicht nur, dass sich diese Punkte widersprechen. Schließlich gehen sie einmal davon aus, dass keiner sich retten darf, also beide sterben müssen ((b2) / (d2)), einmal hingegen erklären sie, dass beide sich retten dürfen, gleichgültig welcher ((c2) / (e2)), ohne dass es einen Anhalt gäbe, welcher Bilanz man vertrauen dürfte. Das Problem ist vor allem, dass diese Punkte nicht stabil sind. Sie bilden keinen festen Gegensatz von abweichenden Auffassungen, sondern drängen fort in einem unendlichen Kreislauf durch das gesamte Schema. Denn es ist nicht möglich, dass die Eingriffsfreiheit jedes der beiden die Handlungsfreiheit des anderen überwiegt ((b2) / (d2)), ebenso wenig wie es sein kann, dass die Handlungsfreiheit jedes der beiden die Eingriffsfreiheit des anderen überwiegt ((c2) / (e2)): Wenn die Eingriffsfreiheit von B die Handlungsfreiheit von A überwiegt, weil die Betroffenheitstiefe bei beiden gleich ist, so darf A sich nicht retten, indem er B tötet. Damit hat aber A eine reduzierte Betroffenheitstiefe, wenn es darum geht, ob B sich retten darf, indem er A tötet, und mithin unterliegt nun die Eingriffsfreiheit von A der Handlungsfreiheit von B. Sobald die Handlungsfreiheit von B die Eingriffsfreiheit von A überwiegt, weil A eine reduzierte Betroffenheitstiefe hat, so darf B sich retten, indem er A tötet. Damit hat aber B keine reduzierte Betroffenheitstiefe, wenn es darum geht, ob A sich retten darf, indem er B tötet, und folglich unterliegt jetzt die Handlungsfreiheit von A der Eingriffsfreiheit von B. Die Verknüpfung der beiden Rechtstypen über die Frage der Betroffenheitstiefe führt folglich dazu, dass ihre Abwägung stets gegenläufig ausfallen muss: Wenn die Eingriffsfreiheit von B die Handlungsfreiheit von A überwiegt, dann stellt sich das vertauschte Verhältnis genau umgekehrt dar. Wenn die Handlungsfreiheit von B die Eingriffsfreiheit von A überwiegt, dann ist die invertierte Beziehung gerade diametral beschaffen. Gleichzeitig verlangt die Symmetrie der Situation aber, dass diese Zuweisungen übereinstimmen müssen: A muss in der ethischen Bilanz ebenso dastehen wie B, weil es keine relevanten Differenzen zwischen ihnen gibt. Da die beiden Rechtstypen jedoch gegenläufig gekoppelt sind, ist diese Gleichheit nicht simultan zu gewinnen, sondern kann sich nur immer wieder sukzessiv geltend machen, als ethische Oszillation zwischen beiden möglichen Bilanzen.
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Es könnte der Einwand erhoben werden, dass die vorliegende Situation gänzlich aus dem Bereich strenger Rechtsabwägungen herausfalle: Solange Dritte handelten und eine Partei retten könnten, indem sie die andere Partei töten, habe man es in der Tat mit einem Dilemma von Anspruchs- und Abwehrrechten zu tun. Fehlverhalten in diesem Situationstyp, wie er im Fall der komplizierten Zwillingsschwangerschaft gegeben sei, trage daher sicherlich den Charakter von Rechtsverstößen. Dies ändere sich jedoch, sobald der Entscheider selbst vom Tod bedroht sei, wie in der Situation der zwei Schiffbrüchigen: Hier sei das Vokabular der Rechte inadäquat zur Erfassung dieser existenziellen Notlage. Stattdessen seien die erlaubten oder unerlaubten Verhaltensweisen dahingehend zu qualifizieren, dass ihnen allenfalls der Charakter von Tugendpflichten oder von Supererogatorischem zukomme. Diese Auffassung dürfte allerdings bei genauerer Betrachtung unhaltbar sein: Eigene Betroffenheit ist kein hinreichender Grund, um die Rechtsperspektive aufzugeben, in harmlosen Fällen ebenso wenig wie in existenziellen Situationen. Rechtsabwägungen sind gerade dafür gedacht, auch die eigenen Eingriffs- und Handlungsfreiheiten korrekt zu bestimmen, in tödlichen Notlagen nicht weniger als in alltäglichen Konflikten. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass gerade moralische Zuweisungen aus dem Bereich der Tugendpflichten oder des Supererogatorischen typischerweise auf jenen rechtlichen Hintergrund Bezug nehmen: Wenn es tugendmäßig gestattet wäre, sich selbst zu retten, dann setzt dies sicherlich voraus, dass man auch ein Recht darauf geltend machen könnte. Wenn es supererogatorisch lobenswert erschiene, den anderen nicht zu töten, so gilt dies wohl genau deshalb, weil man eigentlich ein Recht dazu hätte.
VI. Varianten dieser Konstellationen (1) Es ist die Symmetrie der diskutierten Abwägungsfälle, die zu dem Phänomen einer ethischen Oszillation führt. Notwendige Bedingung für dieses Phänomen ist indessen, dass das Argument einer reduzierten Betroffenheitstiefe greifen und eine Gegenläufigkeit der involvierten Rechte begründen kann: Wenn dieses Konzept erst gar nicht zum Einsatz gelangt, so kommt auch der beschriebene Kreislauf nicht in Gang. Dann bleibt es von Anfang an und in völliger Stabilität dabei, dass das Abwehrrecht das Anspruchsrecht bzw. die Eingriffsfreiheit die Handlungsfreiheit überwiegt, und zwar in jeder Gegenüberstellung der beiden Parteien, weil stets gleiche Betroffenheitstiefen auf beiden Seiten vorliegen. Genauer sind es dann jeweils die Bilanzen unter (a1) / (a2), unter (c1) / (c2) sowie unter (e1) / (e2), die nicht gültig sein können. Demgegenüber bleibt es bei den Bilanzen von (b1) / (b2) bzw. von (d1) / (d2), denen zufolge keine Partei gerettet werden darf und beide Seiten sterben müssen. Symmetrische Situationen mit existenziellen Rechtskollisionen müssen also keineswegs immer in die beschriebene Pendelstruktur münden. Insbesondere dürfte diese Pendelstruktur ausbleiben, wenn die in Abschnitt IV diskutierten Bedingun-
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gen nicht erfüllt sind: Sofern keine gemeinsame Bedrohungssituation vorliegt oder keine objektive Unvermeidbarkeit gegeben ist, ist das Argument der reduzierten Betroffenheitstiefe nicht mehr einschlägig. Ohne dieses Argument kommt es aber nicht zu der gegenläufigen Ausprägung der beteiligten Rechte und deshalb auch nicht zu dem skizzierten Abwechseln von Erlaubtheit und Unerlaubtheit der fraglichen Übergriffe. Entsprechend existieren Varianten der in Abschnitt V diskutierten Konstellationen, die auf den ersten Blick die gleiche symmetrisch-gegenläufige Dilemmastruktur aufweisen und bei denen man daher zunächst das analoge Phänomen einer ethischen Oszillation erwarten würde. Tatsächlich ist dies aber nicht der Fall. (2) Beim Konflikt zwischen Abwehr- und Anspruchsrechten etwa kann die gemeinsame Bedrohungssituation fehlen. Ein Beispiel hierfür wären zwei Patienten, die an verschiedenen lebensbedrohlichen Organerkrankungen leiden und nur überleben können, wenn man dem jeweils anderen Patienten das jeweils benötigte Organ entnimmt. Wie im Fall der komplizierten Zwillingsschwangerschaft ist die Situation völlig symmetrisch: Jede Partei kann nur gerettet werden, wenn man die andere Partei tötet, und falls nichts getan wird, werden beide umkommen. Aber anders als bei der komplizierten Zwillingsschwangerschaft befinden sich die beiden Patienten nicht mehr in einer geteilten Notlage: Der bevorstehende Tod des einen hat nichts mit dem drohenden Tod des anderen zu tun. In dieser Konstellation dürfte es illegitim sein, dem Tod des einen vorzugreifen, um den Tod des anderen abzuwenden, egal welchen von beiden man hierfür auswählen wollte. Ebenso wie in der asymmetrischen Situation aus Abschnitt IV (1), wo der eine Patient definitiv todkrank war und nur er zur Rettung des anderen hätte getötet werden können, greift somit das Argument der reduzierten Betroffenheitstiefe nicht. Keiner von beiden darf für den anderen geopfert werden, und folglich kann auch die Symmetrie der Situation zu keiner Oszillation in der Bilanz führen. Vielmehr ist, ebenso wie in der asymmetrischen Situation, der Tod beider hinzunehmen. Auch die objektive Unvermeidbarkeit kann im Konflikt zwischen Abwehr- und Anspruchsrecht fehlen. Eine solche Konstellation liegt in dem bekannten Dilemma von Sophie’s Choice vor. In dieser Erzählung wird die Hauptfigur Sophie von einem sadistischen SS-Arzt aufgefordert zu entscheiden, welches ihrer beiden Kinder in die Gaskammern geschickt werden soll. Wenn sie die Entscheidung verweigert, will der SS-Arzt beide Kinder abtransportieren lassen.13 Eine gemeinsame Bedrohungssituation ist in diesem Fall zwar gegeben. Aber der bevorstehende Tod der beiden Kinder stellt kein zwangsläufiges Naturereignis dar, sondern hängt von der angekündigten Handlung des SS-Arztes bzw. nachfolgenden Handlungen weiterer KZ-Mitarbeiter ab. Deshalb mag man zu dem gleichen Schluss kommen wie im asymmetrischen Beispiel aus Abschnitt IV (1), dem entführten Terrorflugzeug: Es ist nicht legitim, den Tod eines der Kinder herbeizufüh13 W. Styron, Sophie’s Choice (1979), London: Jonathan Cape 1986, 483 f. Der Fall gehört zu den meistdiskutierten Dilemmata der zeitgenössischen Ethik und ist aus unterschiedlichsten Blickwinkeln erörtert worden.
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ren und damit der geplanten Untat eines anderen Handelnden vorzugreifen. Die Wahl eines Kindes impliziert seine Tötung entgegen seinem Abwehrrecht, zum Zweck der Rettung des anderen Kindes gemäß seinem Anspruchsrecht. Diese Abwägung, unter Hinweis darauf, dass das ausgewählte Kind ohnehin dem Tod geweiht sei, ist bei fehlender objektiver Unvermeidbarkeit dieses Todes nicht statthaft.14 Offensichtlich besteht der Sadismus des Arztes zu einem guten Teil gerade darin, Sophie zur Mittäterschaft an der Tötung eines Kindes zu drängen. Und dass Sophie diesem Versuch schließlich nachgibt und tatsächlich ein Kind in den Tod schickt, trägt sicherlich zu jener psychischen Zerrüttung bei, an der sie ihr gesamtes weiteres Leben leidet. Wichtig ist aber, dass diese psychische Zerrüttung eine ethische Grundlage hat: Sophie darf in der gegebenen Situation in der Tat keines der beiden Kinder opfern, um das andere zu retten. Denn der drohende Tod bildet keine objektive Unvermeidbarkeit, sondern hängt von den anstehenden Handlungen des Arztes ab. Somit greift die Logik einer reduzierten Betroffenheitstiefe nicht, und Sophie darf der anstehenden Untat nicht vorgreifen, sondern muss diese voll und ganz bei dem verbrecherischen Arzt belassen.15 14 Eine Komplikation mag darin liegen, dass Sophie durch ihre geforderte Entscheidung den Tod des gewählten Kindes nicht direkt herbeiführt, wie es beim Abschuss eines entführten Terrorflugzeugs der Fall wäre. Vielmehr muss auch dieser Tod letztlich durch die beteiligten Helfershelfer bewirkt werden, ähnlich wie der Tod beider Kinder, der bei verweigerter Entscheidung in Aussicht gestellt wird. Man könnte sich deshalb auf den Standpunkt stellen, dass, ebenso wie dem drohenden Tod beider Kinder keine Unvermeidbarkeit zukommt, weil er erst durch den Arzt veranlasst werden müsste, auch Sophies Wahl eines der Kinder kein Abwehrrecht verletzt, sondern dies erst durch die Helfershelfer geschehen könnte. Hier wird das Szenario indessen so gedeutet, wie der Arzt selbst es präsentiert und wie Sophie es ihrerseits auch aufzufassen scheint: Entweder Sophie trifft ihre Entscheidung und führt mit dieser Wahl selbst den Tod des gewählten Kindes herbei. Oder die angedrohte Weisung des Arztes wird erfolgen und ihrerseits in gleich unmittelbarer Weise den Tod beider Kinder bewirken. (Ein Beispiel, das diese Komplikation umgeht, findet sich bei Bernard Williams: Dort wird der Entscheider zur eigenhändigen Tötung eines beliebigen Gefangenen aufgefordert, wenn nicht eine andere Person ebenso unmittelbar sämtliche Gefangenen umbringen soll. Vgl. B. A. O. Williams, „A Critique of Utilitarianism“, in: B. A. O. Williams / J. J. C. Smart, Utilitarianism: For and Against, Cambridge: Cambridge University Press 1973, 75 – 150, 98 f.) 15 Man könnte hieran anknüpfen und erklären, dass das Leid der Kinder sich nicht darauf beschränke, möglicherweise den Tod in den Gaskammern zu erleiden, sondern zudem das Entsetzen und die Enttäuschung umfasse, womöglich von der eigenen Mutter in diesen Tod geschickt worden zu sein. Die Betroffenheitstiefe eines Kindes, das Sophie selbst auswählen und in den Tod schicken würde, sei mithin größer als die Betroffenheitstiefe beider Kinder, wenn sie keines auswählen würde und beide den Tod finden müssten. Auch dies mache den Sadismus des SS-Arztes aus, und sich seinem Spiel zu verweigern, sei daher nicht so sehr aus unmittelbar ethischen Gründen angezeigt, um sich nicht an der geplanten Untat zu beteiligen, als vielmehr aus mittelbar ethischen Gründen, um die anstehende Grausamkeit sich nicht vollständig entfalten zu lassen. Hier wird indessen vorgezogen, sich bei der Betroffenheit ganz auf die existenzielle Ebene zu beschränken: Zum einen dürfte die Bestimmung der psychischen Betroffenheit bei den beiden Kindern überaus unsicher sein, schon weil die Erzählung nicht eindeutig erkennen lässt, inwieweit sie die Situation überhaupt verstehen, und weil es keine Gewähr gibt, dass die Enttäuschung, nicht von der eigenen Mutter gerettet zu werden, nicht ebenso groß sein könnte wie die Enttäuschung, von ihr in den Tod geschickt zu werden. Zum
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(3) Auch bei einem Aufeinandertreffen von Eingriffs- und Handlungsfreiheiten kann die gemeinsame Bedrohungssituation fehlen. So lässt sich das Beispiel der beiden Gestrandeten aus Abschnitt IV. (2) dahingehend modifizieren, dass nach wie vor der eine wegen seiner Stoffwechselstörung das Fleisch des anderen essen müsste, um nicht zu sterben, dass nun aber auch der zweite überleben könnte, hierfür allerdings aufgrund einer Immunerkrankung das Blut des ersten benötigt. Wie im Fall der zwei Schiffbrüchigen ist die Situation hiermit komplett symmetrisiert: Jeder der beiden Gestrandeten kann sich retten, indem er den anderen tötet, und wenn nichts dergleichen geschieht, müssen beide sterben. Aber anders als bei den zwei Schiffbrüchigen kann man nicht mehr von einer geteilten Gefährdungslage ausgehen, wie sie durch die zu schwache Planke konstituiert wird: Zwar befinden sich beide auf derselben einsamen Insel, aber ihr bevorstehender Tod hat jeweils spezielle und allemal separate Gründe, die auf ihre je eigenen und gänzlich unterschiedlichen Veranlagungen zurückgehen. Wieder erschiene es daher ungerechtfertigt, wenn der eine den Tod des anderen beschleunigte, um sein eigenes Leben zu retten. Das Argument der reduzierten Betroffenheitstiefe ist nicht einschlägig, ähnlich wie bereits im asymmetrischen Ausgangsfall. Damit kann die Symmetrie der Situation auch keine ethische Oszillation mehr begründen. Es darf sich definitiv keiner von beiden retten, auch wenn dadurch beide sterben müssen. Ebenso kann es an der objektiven Unvermeidbarkeit bei der Kollision von Eingriffs- und Handlungsfreiheit mangeln. Szenarien dieser Art werden gern in Produktionen des Thriller-Genres wie in dem Film The Dark Knight entworfen. Dort deponiert ein perfider Verbrecher Bomben auf zwei vollbesetzten Schiffen und gibt jeder der beiden Gruppen einen Fernzünder, mit dem das jeweils andere Schiff gesprengt werden kann. Sollte keine Gruppe hiervon Gebrauch machen, will der Verbrecher selbst beide Bomben detonieren lassen.16 Von einer gemeinsamen Bedrohungssituation kann zwar jetzt wieder mit Sicherheit gesprochen werden. Aber eben diese Bedrohung geht nun nicht mehr von einem unabweislichen Verhängnis aus, sondern von den Absichten eines perversen Übeltäters. Der Fall dürfte damit ähnlich liegen wie die asymmetrische Variante in Abschnitt IV. (2), in der ein Entführer eine vergleichbare Situation in einseitiger Form herbeiführte: Bereits dort durfte die erste Geisel nicht die zweite Geisel töten, um sich selbst zu retten, wobei diese zweite Geisel ihrerseits nicht vor die entspreanderen ist es konzeptuell problematisch, psychische Reaktionen, die offenbar mit moralischen Erwartungen in Zusammenhang stehen, ihrerseits wieder einer ethischen Beurteilung zugrunde zu legen, ohne in einen Zirkel oder Regress zu geraten oder einen ungesicherten Import externer Moralauffassungen vorzunehmen. (Auch diese Schwierigkeit wird in dem Szenario von Williams vermieden: Dort stehen der Entscheider und die potentiellen Opfer in keiner persönlichen Beziehung zueinander, die derartige Erwartungen begründen könnte, und überdies scheinen die Betroffenen selbst sogar zu befürworten, dass er auf das Angebot eingeht. Vgl. ebd., 99.) 16 Warner Brothers, The Dark Knight, 2008 (Director: C. Nolan, Screenplay: C. Nolan, D. S. Goyer, J. Nolan). Im Grunde handelt es sich hierbei um eine moderne Variation des klassischen Motivs vom tödlichen Gladiatorenkampf.
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chende Wahl gestellt war. Ebenso wenig darf hier die eine Gruppe die andere Gruppe töten, um sich selbst zu retten, auch wenn diese andere Gruppe vor der gleichen Entscheidung steht. Denn jeweils kann es keine glaubhafte Rechtfertigung dafür geben, einer geplanten Untat vorzugreifen.17 Die entsprechenden Thriller-Produktionen nehmen dabei meist eindeutig Stellung zur ethischen Beurteilung der Situation: Zum einen verweigern die Betroffenen in der Regel die von ihnen verlangte Tat oder zögern zumindest mit der Durchführung. Dabei legt die Inszenierung mit unterschiedlichen Mitteln nahe, dass dieser Verzicht auf die Selbstrettung durch Fremdtötung in der Tat moralisch angemessen ist. Zum anderen kann der Übeltäter gewöhnlich in letzter Sekunde an der Umsetzung seiner Drohung gehindert werden. Diese Erlösung erscheint dabei als moralische Belohnung der Betroffenen für ihre gezeigte Standhaftigkeit. Bei aller Eindeutigkeit dieser impliziten ethischen Bewertung bleibt allerdings unklar, ob die fatale Selbstrettung als eine klare Verfehlung zu gelten hätte, welche die Rechte anderer verletzt, oder ob die demonstrierte Standhaftigkeit eher einen unscharfen Heroismus darstellen soll, der vorrangig auf der Ebene der Tugendpflichten oder des Supererogatorischen angesiedelt wäre.18 VII. Abschluss Moralische Dilemmata in rechtsethischen Konfliktsituationen sind eine vertraute Erscheinung der politischen Ethik. Meist handelt es sich hierbei um Szenarien, in denen gleichartige Rechte aufeinander treffen und entweder beide Belange gleich stark sind oder aber ihr Verhältnis nicht eindeutig ist. Dies ist etwa in üblichen Triage-Situationen der Fall: Dort sind zwei Parteien vom Tode bedroht, und beide haben Anspruchsrechte auf Rettung. Die Situation lässt jedoch nicht zu, beiden zur Hilfe zu kommen, und zudem gibt es keinen Anhaltspunkt, welcher man den Vorzug geben sollte. Eine solche Situation ist tragisch, doch ihre ethische Struktur ist wenig spektakulär: Es handelt sich um einen Widerstreit gleich starker oder unbekannt starker Belange. Dies mag Ratlosigkeit und Unsicherheit auslösen, aber es konstituiert keinen Widerspruch. Insbesondere dürfte kein Zweifel bestehen, dass 17 Genau dies ist indessen, ähnlich wie schon bei Sophie’s Choice, das erkennbare Ziel des Verbrechers: Die eine Partei in die eigene Untat einzubeziehen und sie hierdurch moralisch zu korrumpieren, die andere Partei durch ihresgleichen in den Tod schicken zu lassen und sie hierdurch moralisch zu frustrieren, macht einen wesentlichen Bestandteil seiner Perfidität aus. Die psychische Belastung, die er hierdurch herbeiführt, gründet aber eben in dem ethischen Unrecht, zu dem die eine Partei verleitet und das der anderen Partei angetan werden soll, statt dass man umgekehrt meinen dürfte, es läge ein eigenständiges ethisches Problem in jener zusätzlichen psychischen Belastung. 18 Zudem wird die ethische Perspektive durch die glückliche Auflösung stets ein Stückweit untergraben: Der Verzicht auf die Selbstrettung muss sich nicht mehr im vollen moralischen Sinne gegenüber dem ursprünglich vorausgesetzten Szenario bestätigen, dass tatsächlich beide Gruppen den Tod erleiden. Vielmehr erscheint er nachträglich eher als ein Akt des Vertrauens, dass der Held die Situation doch noch entschärfen kann.
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eine der Parteien zu retten ist, ehe beide umkommen. Wenn es dabei keine moralisch stichhaltige Antwort auf die Frage gibt, welche Partei dies sein sollte, kann dies dem Belieben des Entscheiders, zur Not auch dem Zufall überlassen bleiben: Beide Entscheidungen sind richtig. Das hier diskutierte Szenario einer ethischen Oszillation hat demgegenüber eine weitaus brisantere Gestalt: In ihm stehen sich ungleichartige Rechte gegenüber, die einerseits gegenläufig gekoppelt, andererseits symmetrisch beschaffen sind. Hier ist das Problem nicht mehr eine Gleichwertigkeit der Belange oder eine Unsicherheit ihrer Erkenntnis. Vielmehr hat man es mit einer ernsthaften Unstimmigkeit zu tun, die in ein dauerndes Pendeln mündet: Der eine darf nur gerettet werden, wenn der andere nicht gerettet werden darf. Aber dann darf auch der erstere nicht gerettet werden, womit der zweite doch gerettet werden darf. Dieses Dilemma stellt nicht eine Triage von gleichwertigen Belangen dar. Vielmehr bildet es eine Antinomie von in ihrem Zusammenwirken widersprüchlichen Belangen. Erlaubtheit und Unerlaubtheit sind nicht unentschieden oder ungewiss, sondern wechseln einander beständig ab. Es fehlen nicht Gründe für die eine oder andere Entscheidung, sondern es negieren sich die Gründe für jede Entscheidung: Beide Entscheidungen sind falsch. Teleologische Ansätze, namentlich utilitaristischen Typs, werden Dilemmata der geschilderten Art in aller Regel dahingehend auflösen, dass eine Partei gerettet werden sollte, auch wenn dafür die andere Partei getötet werden müsste, falls sonst beide Seiten umkommen werden. Diese Auffassung ist allein an der Zahl der jeweils Überlebenden orientiert, und damit ist sie bei Weitem zu pauschal. Eine tiefergehende Rechtsanalyse kann nicht umhin, das Aufeinanderprallen von Abwehrund Anspruchsrechten bzw. Eingriffs- und Handlungsfreiheiten als wesentliches Charakteristikum solcher Situationen zu erkennen und die kategorische Differenz dieser unterschiedlichen Rechtstypen in die Abwägung einzubeziehen. In diesen Konstellationen eines Konflikts ungleichartiger Rechte gibt es jedoch gewisse Ausgangsbilanzen, die bei gleicher Betroffenheitstiefe die vorgeschlagene Rettung der einen Partei unter Tötung der anderen Partei grundsätzlich nicht gestatten. Die Anzahl der Betroffenen ist hierbei unerheblich. Nur die Konstellation einer maßgeblich reduzierten Betroffenheitstiefe, die sich daraus ergeben mag, dass eine Partei ohnehin dem Tod geweiht ist, kann die fraglichen Handlungen unter gewissen Voraussetzungen legitimieren. Deontologische Ansätze, vor allem in kantianischer Tradition, zeigen sich gemeinhin zurückhaltend bis ablehnend, was die Rettung einiger durch die Tötung anderer betrifft. Allerdings werden selten genauere Begründungen hierfür angegeben. Insbesondere fehlt meist das präzise Vokabular, um erlaubte von unerlaubten Handlungen der skizzierten Art zu unterscheiden. Dieses Defizit wurde hier durch den Vorschlag einer fundamentalen Abwägungsregel und spezifische Erörterungen zur Betroffenheitstiefe zu beheben versucht. Ein differenziertes Bild unterschiedlicher Konfliktsituationen konnte hiermit gezeichnet werden. Insbesondere erwies sich, dass die Logik einer reduzierten Betroffenheitstiefe Handlungen des diskutierten Typs manchmal zu rechtfertigen vermag, manchmal indessen nicht.
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Dass die vorgestellte Konzeption bei bestimmten Fallgruppen in eine ethische Oszillation gerät, widerlegt dabei nicht ihre rechtsphilosophische Valenz. Im Gegenteil, dass sie derartige Dilemmata in ihrem vollen Ernst zu rekonstruieren vermag, dokumentiert ihre konzeptuelle Stärke. Ausweglose Situationen ohne unmittelbare moralische Lösung gibt es. Eine taugliche Theorie kann sie nicht verschweigen, sondern muss sie abbilden. Dies ändert freilich nichts daran, dass auch in diesen Situationen eine Entscheidung in der einen oder anderen Weise zuletzt getroffen werden muss. Auch der Verzicht auf eine Handlung stellt schließlich eine Entscheidung dar. Offensichtlich kann deren Begründung nur außerhalb der hier angewandten Kategorien und Regeln gesucht werden, vielleicht auf einer höheren Ebene moralischer Argumentation als den bislang erschlossenen, vielleicht auch erst in einem Zugriff letztlich transmoralischer Art. Gerade dieser Übergang kann aber nur dann fundiert gelingen, wenn das Dilemma auf jenen Ebenen, wo es sich darstellt, und in jenen Strukturen, aus denen es sich entwickelt, vollständig erkannt und detailliert analysiert wurde.
Summary The adequate balancing of conflicting rights constitutes an essential task of political ethics. This paper proposes a fundamental rule that may govern this balancing procedure. The rationale of this rule is explored and specifications of its parameters are investigated by discussing various scenarios of conflict, in particular decisions of life and death. However, a certain type of choice situation seems not to allow for a stable solution within this theoretical framework, displaying the phenomenon of ‘ethical oscillation’ in which legitimacy and illegitimacy of the actions considered constantly alternate.
WikiLeaks, Kants „Princip der Publicität“, Whistleblowing und „illegale Geheimnisse“1 Jan C. Joerden
I. WikiLeaks WikiLeaks hat sich in den letzten Jahren als Schrecken vieler Regierungen, insbesondere der US-amerikanischen Regierung, einen Namen gemacht. Dieser Zusammenschluss einer ganzen Reihe von Internet-Aktivisten ist dadurch bekannt geworden, dass er geheime Informationssammlungen von Staaten der allgemeinen Öffentlichkeit dadurch zugänglich macht, dass er die – regelmäßig auf illegalem Weg beschafften – Informationen auf allgemein zugänglichen Internet-Servern zur Verfügung stellt.2 Es liegt auf der Hand, dass die meisten betroffenen Staaten mit diesem Verhalten nicht einverstanden sind und nach Mitteln und Wegen suchen, der Institution WikiLeaks das Handwerk zu legen. Da sich die Server, derer sich WikiLeaks bedient, auf den Territorien solcher Staaten (etwa Island) befinden, die ein sehr freizügiges Recht auf Informationsbeschaffung und -bereitstellung kennen, ist insbesondere die strafrechtliche Verfolgung solcher Verhaltensweisen – ganz unabhängig davon, ob man diese nun für strafwürdig hält oder nicht – mit erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten verbunden. Es lässt sich hier nicht klären, ob der Gründer und zentrale Repräsentant von WikiLeaks, Julian Assange, zu Recht oder zu Unrecht wegen einer Straftat verfolgt wird, die er in Schweden begangen haben soll. Es geht dabei nach Informationen, die mir nur aus der Presse zugänglich waren, um einen Vergewaltigungsvorwurf mit Anschuldigungen, die zumindest in anderen Ländern Europas wohl nicht so ohne weiteres zu einer solchen Ermittlung mit Beantragung eines europäischen Haftbefehls geführt hätten. Jedenfalls wäre es sicherlich kein akzeptabler Weg zur Eindämmung der Aktivitäten von WikiLeaks, dies mit Hilfe problematischer Vorwürfe gegen Assange und sich daran anschließender Auslieferungsverfahren zu unternehmen.3 1 Um einige Fußnoten erweiterter Text eines Vortrags, den ich auf Einladung von Yener Ünver (Istanbul) und Eric Hilgendorf (Würzburg) am 21. 4. 2011 bei einer Tagung zum Internetstrafrecht in Istanbul gehalten habe. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. 2 Zu einer aktuellen Liste der WikiLeaks-Enthüllungen vgl. etwa die Übersicht in: Die Zeit vom 7. 7. 2011, S. 6. 3 Vgl. dazu Heinrich Wefing, „Der den Staatsfeind verteidigt“, Interview mit Mark Stephens, dem Anwalt von Julian Assange, Die Zeit vom 13. 1. 2011, S. 2.
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Völlig unabhängig davon muss man aber überlegen, ob das Verhalten von Assange, soweit es nicht die Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn betrifft, sondern es vielmehr um sein sich im Internet abspielendes Verhalten der Enthüllung und Aufdeckung von Informationen geht, eigentlich strafwürdig ist. Dabei beziehe ich den Begriff „strafwürdig“ auf die Vorfrage einer jeden strafrechtlichen Regelung, ob das in den Blick genommene Verhalten überhaupt strafrechtlich verfolgt werden sollte. Demnach kann ein Verhalten strafwürdig sein, ohne auch tatsächlich strafbar zu sein, das heißt: von einer positiv-rechtlichen Strafnorm erfasst zu sein. Und ein Verhalten kann demgegenüber strafbar sein, ohne dass es auch zugleich strafwürdig wäre. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn der Staat ein Verhalten unter Strafe stellt, das nicht für strafbar erklärt sein sollte. Um ein Beispiel aus dem Mittelalter zu nehmen: Hexerei war zu jener Zeit zwar strafbar, aber nicht strafwürdig (weil es keinen vernünftigen Grund gibt, Hexerei für strafbar zu erklären). Von einem akzeptablen strafrechtlichen Zustand kann mithin letztlich nur dann gesprochen werden, wenn alles Verhalten, das strafbar ist, zugleich auch strafwürdig ist und umgekehrt alles Verhalten, das strafwürdig ist, auch strafbar gestellt wurde. Diese Feststellung korrespondiert im Übrigen der Forderung nach einem Gleichklang von strafrechtlicher Legalität und strafrechtlicher Legitimität. Geht es daher um die Frage, ob das Verhalten der WikiLeaks-Aktivisten zumindest im europäischen Bereich strafrechtlich geahndet werden sollte, muss zunächst geklärt werden, ob es überhaupt strafwürdig ist. Dabei soll im Folgenden zunächst die Vorfrage erörtert werden, ob nicht möglicherweise sogar alle staatlichen Informationen prinzipiell und stets öffentlich zugänglich sein sollten. Denn wäre dies der Fall, bestünde gar kein Anlass dafür, über die Strafbarkeit solcher Enthüllungsmaßnahmen nachzudenken. Im Anschluss an die Erörterung dieser Vorfrage werde ich mich zum Teil parallelen rechtlichen Regelungsbereichen zuwenden und versuchen, daraus einige Perspektiven abzuleiten, die für eine diesbezügliche europäische, eventuell auch für eine internationale strafrechtliche Erfassung richtungweisend sein könnten.
II. Immanuel Kants „Princip der Publicität“ Am Ende seiner insbesondere für das Völkerrecht maßgebenden Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 ergänzt der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) seine vorangehenden Überlegungen zu den notwendigen Voraussetzungen für einen ewigen Frieden zwischen den Völkern mit einem (zweiten) Anhang unter der Überschrift: „Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transcendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“.4 Kants Ziel ist es hier, Normen für den Versuch zu formulieren, die Politik mit der Moral in Einklang zu bringen. Er weiß, dass er sich damit durchaus in Widerspruch setzt zu der landläufigen Vorstel4
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Akademieausgabe, Bd. 8, S. 381.
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lung, Moral und Politik hätten gar nichts miteinander zu tun, wie diese Vorstellung etwa in dem Satz ihren Ausdruck findet, dass die Politik die Verfolgung von egoistischen Interessen mit Mitteln der List oder Macht sei und die Moral sich eher um die privaten Einstellungen der Personen zu kümmern habe. Kant war in diesem Punkt allerdings ganz anderer Ansicht und kann daher in der Philosophiegeschichte insofern als ein Gegenspieler zu Machiavelli betrachtet werden, der bekanntlich vor allem eine Lehre entwickelt hatte, wie sich ein Politiker (bei Machiavelli: der Fürst) mit allen Mitteln der Raffinesse und Brutalität möglichst effektiv gegen die Konkurrenz anderer Politiker bzw. Fürsten durchsetzen kann.5 Ausdrücklich verwirft Kant in diesem Zusammenhang den gängigen Spruch, wonach, was in der Theorie richtig sei, nichts für die Praxis tauge.6 Vielmehr will er gerade auch in der Politik, d.h. in einer Praxis, moralische Normen zur Geltung bringen, die in der Theorie entwickelt worden sind. Wenn sich die Praxis dann nicht an diese Normen hält, ist das Kant zufolge ein Fehler der Praxis und nicht ein Fehler der Theorie. Dementsprechend unterscheidet Kant zwischen einem „moralischen Politiker“ einerseits und einem „politischen Moralisten“ andererseits. Er fasst den Unterschied zwischen beiden in die folgenden Worte: „Ich kann mir nun zwar einen m o r a l i s c h e n P o l i t i k e r, d. i. einen, der die Principien der Staatsklugheit so nimmt, daß sie mit der Moral zusammen bestehen können, aber nicht einen p o l i t i s c h e n M o r a l i s t e n denken, der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet.“7
Mit anderen Worten: Ein moralischer Politiker ist jemand, der sagt: „Erst kommt die Moral und dann kommt die Politik“, der also seine Handlungen primär an den moralischen Normen und erst sekundär an politischen Notwendigkeiten ausrichtet. Demgegenüber ist ein politischer Moralist derjenige, der dem Satz huldigt: „Erst kommt die Politik und dann kommt die Moral“, der also die Moral der Politik vollkommen unterordnet. Kant macht klar, dass er nur die Konzeption eines moralischen Politikers für akzeptabel hält und die des politischen Moralisten verurteilt. Nun ist ein solches Vorgehen aber nur dann sinnvoll, wenn man dazu eine Regel oder ein Testverfahren bereitstellt, wodurch Aussagen darüber möglich werden, was im öffentlichen Recht und damit in der Politik moralisch richtig bzw. falsch ist. Seiner allgemein bekannten Formel des Kategorischen Imperativs („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“)8 stellt Kant deshalb für das öffentliche Recht, womit er sowohl das 5 Vgl. nur Nic. Machiavel’s, Von der Regierungskunst eines Fürsten. Mit Herrn Amelots de la Houssaye historischen und politischen Anmerkungen und dem Leben Machiavels, Frankfurt und Leipzig 1745, Neudruck, 2. Aufl., Dortmund 1982. 6 Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 4), S. 370: s. a. ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Akademieausgabe, Bd. 8, S. 275 ff. 7 Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 4), S. 372. 8 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademieausgabe, Bd. 4, S. 421.
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Recht zwischen den Staaten als auch das Recht zwischen Staat und Bürger meint, die von ihm so genannte „transcendentale Formel des öffentlichen Rechts“ zur Seite. Sie lautet: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.“9 Mit „Publicität“ meint Kant dabei die Veröffentlichung des jeweils von dem betreffenden Politiker verfolgten Plans („Maxime“) seines Handelns. Kant begründet dieses „transcendentale Princip der Publicität des öffentlichen Rechts“10 mit den folgenden Überlegungen: „Dieses Princip ist nicht bloß als e t h i s c h (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als j u r i d i s c h (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten. Denn eine Maxime, die ich nicht darf l a u t w e r d e n lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus v e r h e i m l i c h t werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht ö f f e n t l i c h b e k e n n e n kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.“11
Wenn wir heute glauben, dass im öffentlichen Recht die Publizität eine wichtige Rolle spielt, etwa im Kontext der Veröffentlichung von Gesetzestexten, oder der Pressefreiheit, oder der Öffentlichkeit des allgemeinen Staatsgebarens, einschließlich der Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren etc., dann stimmt diese Überzeugung mit der Forderung Kants weitestgehend überein.12 Auch die Forderung von Kant an die Politik, dem Bürger zumindest die „Freiheit der Feder“13 zu gewähren, die er als das „einzige Palladium der Volksrechte“14 bezeichnet, kann als eine wichtige geistige Wurzel der heutigen Meinungs- und Pressefreiheit betrachtet werden. Wie der ehemalige Kulturstaatsminister und Philosoph Julian Nida-Rümelin mit Recht hervorgehoben hat, lässt sich Kants „Princip der Publicität“ nun auch auf die Problematik der Aktivitäten von WikiLeaks beziehen.15 Denn, wenn der Staat, so wie Kant dies fordert, in allem seinem Gebaren zu strikter Publizität verpflichtet ist, kann es streng genommen gar keine schützenswerten Geheimnisse des Staates geben. Die Enthüllung solcher Geheimnisse wäre demnach nicht nur zulässig, sondern in manKant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 4), S. 381. A. a. O. (Fn. 4), S. 382. 11 A. a. O. (Fn. 4), S. 381. 12 Ausführlich und instruktiv zum geistesgeschichtlichen Kontext des kantischen Publizitätsprinzips, auch im Hinblick auf die Zeit nach Kant, Bernhard W. Wegener, Der geheime Staat. Arkantradition und Informationsfreiheitsrecht, Göttingen 2006, insbes. S. 120 ff. 13 Kant, Gemeinspruch, a. a. O. (Fn. 6), S. 304. 14 Ebd. 15 Julian Nida-Rümelin, „Demokratie will Öffentlichkeit. Hat Immanuel Kant von WikiLeaks geträumt? Der Philosoph hielt radikale Publizität für eine Bedingung des Friedens“, Die Zeit vom 16. 12. 2010, S. 52. – Vgl. auch Heiner Klemme zu WikiLeaks und Immanuel Kant, in: WDR 5, Das Philosophische Radio, Sendung vom 3. 6. 2011 (www.wdr5.de/sendungen), Redaktion: Jürgen Wiebicke. 9
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chen Fällen eventuell sogar geboten. Denn es wäre moral- und rechtswidrig, wenn Staaten in einer Weise agierten, die es ihnen nicht möglich machte, die entsprechenden Informationen auch zu veröffentlichen. Offenheit gehört danach gewissermaßen bei jeder staatlichen Aktivität zu einem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen. Bei Kant wird diese Forderung im Kontext einer Suche nach denjenigen Strukturen eines Staates, die den ewigen Frieden zwischen den Völkern möglich machen könnten, mit der Annahme begründet, dass demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Gemeinwesen, von Kant als „Republik“ bezeichnet,16 offenbar nicht gegeneinander Kriege führen. Zwar lässt sich bisher die empirische Feststellung machen, dass – worauf auch Nida-Rümelin hinweist – vor allem im letzten Jahrhundert die Anzahl der rechtsstaatlich verfassten Demokratien auf der Welt zugenommen hat und auch die Anzahl der Kriege in der Welt gestiegen ist; gleichwohl gilt aber immer noch, dass diese Kriege nicht von Rechtsstaaten gegeneinander geführt werden (auch Indien und Pakistan sind da wohl keine Ausnahme, da zumindest in Pakistan zwar eventuell von einer Demokratie die Rede sein kann, kaum aber von einem Rechtsstaat). Man wird daher annehmen können, dass dieses Phänomen gerade auch durch den Umgang der (rechtsstaatlich verfassten) Demokratien untereinander bestimmt wird, sofern diese die Anzahl der Geheimnisse, die sie voreinander haben, möglichst gering halten, was naheliegenderweise zur Vertrauensbildung beiträgt und damit zur Entbehrlichkeit von Kriegen. Im Unterschied zu Nida-Rümelin sehe ich allerdings den Schwerpunkt einer Erklärung jenes Phänomens eher darin, dass Demokratien in der Regel eben zugleich rechtsstaatlich verfasst sind und es daher gewöhnt sind, ihre Konflikte und Interessengegensätze – wie auch innerhalb des Staates selbst – nicht autoritativ-gewaltsam und mit Krieg, sondern im Wege von Verhandlungen und Kompromissen zu lösen. Dass die Erfüllung der Forderung nach Publizität allein dies nicht würde bewerkstelligen können, zeigt sich schon daran, dass auch ein Verhalten, das eindeutig moralisch verwerflich ist, nämlich die Androhung von erheblichen Schäden, um einen anderen Staat zu Wohlverhalten zu nötigen (Stichwort: Kanonenbootdiplomatie), jedenfalls nicht das Licht der Öffentlichkeit scheuen muss, um effektiv zu sein. Ganz im Gegenteil ist es gerade ein zentrales Wirkungsprinzip der Nötigung, offen ausgesprochen zu werden.17 16 Näher zum Zusammenhang zwischen den Begriffen „Republik“ bei Kant und „Rechtsstaat“ vgl. Joerden, „Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaates. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie“, JRE 3 (1995), S. 253 ff. 17 Kant sieht die Problematik durchaus, wenn er hervorhebt, dass das „Princip der Publicität“ „bloß negativ [ist], d. i. es dient nur, um vermittelst desselben, was gegen Andere nicht recht ist, zu erkennen“; Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 4), S. 381 f.; vgl. auch a. a. O., S. 384 f. Wenn Kant dann allerdings a. a. O., S. 386, „ein anderes, transcendentales und bejahendes Princip des öffentlichen Rechts“ vorschlägt, mit der Formel: „Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen,“ wird nicht deutlich, auf welche Weise sich ein Verhalten wie die im obigen Text erwähnte „Kanonenbootdiplomatie“ noch als unrecht sollte erweisen lassen.
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Dass Kant mit seinem „Princip der Publicität“ zumindest indirekt auch verschwiegene Behörden des Staates wie die Geheimpolizei etc. kritisieren wollte, wäre zwar im Preußen seiner Zeit nicht besonders fernliegend gewesen, wird von ihm aber nicht explizit angesprochen, wohl auch deshalb nicht, weil er genau wusste, dass er Überlegungen wie diese kaum durch die in Preußen recht lückenlose Zensur gebracht hätte. Stattdessen begründet Kant mit Hilfe des „Princips der Publicität“ sogar das Verbot des Widerstands in einem Staat gegen einen ungerechten Herrscher, und zwar mit der Begründung, dass derjenige, der einen Umsturz oder eine Revolution plane, diese Maxime nicht vorher – wie Kant formuliert – „lautwerden lassen“ könne, ohne dass sein Plan von vornherein vereitelt wäre.18 Wenn Kant an dieser Stelle heimliche, subversiv gegen den Staat gerichtete Methoden kritisiert, scheint dies eher dafür zu sprechen, dass er wohl auch die Aktionen von WikiLeaks in den Bereich moralwidrigen und deshalb verbotenen Handelns eingeordnet hätte. Richten sich deren Aktionen doch zumindest im Rahmen der Informationsbeschaffung eindeutig mit Hilfe von heimlichen, subversiven Methoden gegen den Staat. Und doch wird man Kants „Princip der Publicität“ eine auch heute noch plausible Botschaft entnehmen können, und zwar die, dass heimliches Verhalten, sei es nun staatliches Verhalten oder das von Privatpersonen oder privaten Organisationen, nicht etwa von vornherein moralisch unproblematisch ist, sondern vielmehr grundsätzlich einer Rechtfertigung bedarf, während dies von offenem, d. h. öffentlichem Verhalten nicht verlangt werden muss, sofern dies nicht per se moral- und / oder rechtswidrig ist. Der Möglichkeit einer Rechtfertigung heimlichen Verhaltens im Ausnahmefall hätte Kant allerdings wahrscheinlich nicht zugestimmt, weil er von seinen Prinzipien überhaupt keine Ausnahmen zugelassen hat. Denn er vertrat die Meinung, dass Ausnahmen den Charakter einer Regel so stark beeinträchtigen, dass sie als Regel von vornherein nicht mehr tauglich sei.19 Dies hat ihm dann auch mit einiger Berechtigung den Vorwurf einer allzu rigorosen Moral eingetragen. So wenig wie Kant ein Widerstandsrecht nicht einmal gegen einen Staat, der die Rechte seiner Bürger massiv verletzt, zulassen wollte, so wenig war er bekanntlich bereit, Fälle einer erlaubten Notlüge anzuerkennen.20 Die Lüge hielt er vielmehr für alle Fälle verboten, selbst dann, wenn sie zur Abwendung der Tötung eines Menschen hätte beitragen können. Nun wird man Kant in dieser Rigorosität heute sicher nicht mehr folgen können, aber es lässt sich für unsere Zeit doch der schon einmal angesprochene Grundsatz festhalten, dass heimliches Verhalten jedenfalls prima facie moralund rechtswidrig und daher nur im Einzelfall der Rechtfertigung zugänglich ist und dass heimliches Verhalten dieser Rechtfertigung auch bedarf, um überhaupt akzeptabel zu sein. Kant, Zum ewigen Frieden, a. a. O. (Fn. 4), S. 38 f. Vgl. etwa Kant, Grundlegung , a. a. O. (Fn. 8), S. 424. 20 Vgl. Kant, „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (1797), Akademieausgabe, Bd. 8, S. 423 ff. 18 19
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III. WikiLeaks und das „Princip der Publicität“ Für die WikiLeaks-Problematik bedeutet dies Folgendes: Wenn der Staat bestimmte Informationen nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, so kann er sich dabei nicht einfach auf ein unbestimmtes allgemeines Geheimhaltungsbedürfnis berufen. Dies würde der Idee des (Rechts-)Staates als einer prinzipiell öffentlichen Institution (res publica) widersprechen und zugleich einen Verstoß gegen Kants „Princip der Publicität“ bedeuten. Aber das muss nicht heißen, dass der Staat sich überhaupt nicht heimlich verhalten und insbesondere gar keine Geheimnisse vor der Öffentlichkeit verbergen dürfte. Er müsste dafür allerdings einen guten Rechtfertigungsgrund angeben können (etwa der Situation einer Notlüge vergleichbar).21 Ist der Staat dazu nicht in der Lage, bleibt es bei der Moralwidrigkeit und Verbotenheit heimlichen Verhaltens; und dies gilt sowohl hinsichtlich eines möglicherweise illegalen Inhalts der geheim gehaltenen Informationen als auch in Bezug auf die Geheimhaltung der Informationen als solche und schließlich auch im Hinblick auf die Beschaffung von Informationen, etwa mit Hilfe von Geheimdiensten oder ähnlichen Institutionen. Diese Maßstäbe würden umgekehrt dann aber auch für das Verhalten einer Organisation wie WikiLeaks gelten. Wenn WikiLeaks heimlich Informationen beschafft, ist dies grundsätzlich schon wegen des Aspekts der Heimlichkeit moral- und rechtswidrig, kann aber ausnahmsweise dann gerechtfertigt werden, wenn entweder der Staat das betreffende Geheimnis seinerseits ohne guten Grund und d. h. demnach moral- und rechtswidrig hütet, oder wenn durch die Beschaffung und Veröffentlichung des Geheimnisses erhebliche Missstände im Staat ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden, ohne dass dadurch andere wichtige Rechtsgüter beeinträchtigt zu werden drohen. Daher müssten etwa Gefahren, die für an der Entstehung oder Aufrechterhaltung der Missstände unbeteiligte Personen drohen, ggf. durch entsprechende Schwärzungen bzw. Anonymisierungen der veröffentlichten Texte nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Diese Überlegungen lassen sich nun auch auf die Sammlung von geheimen und vertraulichen Berichten der US-amerikanischen Botschaften an ihre Regierung über Politiker anderer Staaten beziehen, die WikiLeaks vor Kurzem zum Teil veröffentlicht hat. Soweit in diesem Rahmen durch die Veröffentlichung herabsetzender Berichte und Einschätzungen der bisher gute Ruf eines Politikers in Mitleidenschaft gezogen wird, muss er sich dies als eine Person des öffentlichen Lebens gefallen lassen. Insofern können der Sache nach dieselben Grundsätze Anwendung finden wie auch bei anderen Presseveröffentlichungen. Wenn demgegenüber auf Grund der Veröffentlichung solcher geheimer Papiere die Gefahr entsteht, dass Personen zum Ziel gegen sie gerichteter ungerechtfertigter Angriffe auf ihre körperliche Unversehrtheit oder ihr Leben werden oder dass sogar Staaten in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden drohen, sind die Grenzen einer noch ak21
Sofern man Notlügen – im Unterschied zu Kant – überhaupt für zulässig hält.
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zeptablen Indiskretion eindeutig überschritten. Natürlich ist es schwer, im Einzelfall diese Gefahrengrenze genau zu bestimmen, aber das ist kein Sonderproblem dieser Thematik, sondern ergibt sich als prinzipielle Schwierigkeit bei jeder Gefahreneinschätzung. Ebenfalls unvertretbar sind selbstverständlich Veröffentlichungen, deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens, wie im Rahmen einer investigativen freien Presse üblich, durch sog. Gegenchecks, also durch Indizien, die nicht aus der betreffenden Veröffentlichung selbst stammen, überprüft wurde. So kann es beispielsweise nicht akzeptiert werden, wenn angebliche behördeninterne Verlautbarungen oder andere Dokumente schlicht ins Internet gestellt werden, ohne zuvor deren Echtheit und Authentizität überprüft oder andere Möglichkeiten der Bestätigung ihrer Inhalte genutzt zu haben. Der Informant kann zumindest moralisch auch dafür verantwortlich gemacht werden, dass er unbesehen angebliche Informationen weitergibt oder gar veröffentlicht, deren Wahrheitsgehalt von ihm nicht nach bestem Wissen und Gewissen zuvor überprüft wurde.
IV. WikiLeaks und Whistleblowing Will man nun neben diesen allgemeinen Feststellungen, die zumindest ein grobes Raster der moralisch-ethischen Beurteilung angeben, zu noch weiter ausgearbeiteten Bewertungsgrundlagen im Hinblick auf die Aktivitäten von WikiLeaks fortschreiten, die auch für den rechtlichen Bereich hilfreich sein könnten, so bietet es sich an, Ausschau nach Parallelen zu dem Vorgehen von WikiLeaks und dem rechtlichen Umgang damit in anderen rechtlichen Kontexten zu halten. Die Parallele, die in der Diskussion zu WikiLeaks wohl am häufigsten gezogen wird, ist die zu dem sogenannten Whistleblower-Verhalten. Diese ursprünglich aus dem arbeitsrechtlichen Bereich stammende Bezeichnung bezieht sich auf Personen, die über Missstände in einer Firma entweder den staatlichen Behörden gegenüber oder auch in der Öffentlichkeit, etwa der Presse, Bericht erstatten und dadurch dazu beitragen, dass diese Missstände durch Organe der betroffenen Firmen abgestellt oder auch durch Auslösung staatlicher Maßnahmen bekämpft werden. Die Informationen können sich dabei zum Beispiel auf Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierungen, Umweltschädigungen, Korruption, Insiderhandel, Ausbeutungsmechanismen gegenüber den Firmenarbeitnehmern, organisierten Betrug zu Lasten von Firmenkunden oder auch systematisches Mobbing beziehen. Da Whistleblower, die solche oder ähnliche Informationen an die Öffentlichkeit bringen, sich regelmäßig im Konflikt mit den firmeninternen Geheimhaltungsvorschriften oder sogar mit staatlichen Regeln über die Nichtweitergabe von Informationen befinden, muss stets gefragt werden, ob diese Verhaltensweisen im Einzelfall einer Rechtfertigung zugänglich sind. Für das Arbeitsrecht hat sich dazu in Deutschland bisher trotz durchaus diskutierter Gesetzentwürfe noch keine allgemeine Regelung durchsetzen lassen. Im US-amerikanischen Rechtsraum gibt es demgegenüber ein-
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schlägige Normierungen, allerdings – soweit ersichtlich – vor allem im Hinblick auf solche Mitteilungen eines Whistleblowers, die im Interesse des Staates (etwa bei der Korruptionsbekämpfung) sind, zumindest aber dessen Interessen nicht entgegenstehen. Im Hinblick auf das Ziel der Korruptionsbekämpfung im Öffentlichen Dienst sieht etwa auch das deutsche Beamtenrecht inzwischen eine Sonderregelung vor, wonach es Beamten, die ja an sich zur Amtsverschwiegenheit verpflichtet sind, ausnahmsweise gestattet ist, Informationen über korruptionsstrafrechtlich relevante Sachverhalte weiterzugeben. Dabei kann diese Weitergabe von Informationen nicht nur – wie das Gesetz es formuliert – „gegenüber der zuständigen obersten Dienstbehörde, einer Strafverfolgungsbehörde oder einer durch Landesrecht bestimmten weiteren Behörde“ erfolgen, sondern auch gegenüber einer „außerdienstlichen Stelle“, soweit es um einen „durch Tatsachen begründete[n] Verdacht einer Korruptionsstraftat“ geht (vgl. § 37 Absatz 2 Beamtenstatusgesetz). Mit einer „außerdienstlichen Stelle“ dürfte dabei u. a. auch die allgemeine Presse gemeint sein, wobei es eine interessante Rechtsfrage ist, ob hierunter auch das Internet subsumiert werden kann. Die Formulierung „außerdienstliche Stelle“ legt einen solchen Schluss eher nicht nahe, aber das ist dann natürlich letztlich eine Frage der Auslegung dieser Formulierung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.
V. WikiLeaks und „illegale Geheimnisse“ Eine zumindest indirekt in den Kontext des Whistleblowings gehörende strafrechtliche Regelung in Deutschland hat demgegenüber eine deutlich längere Vorgeschichte hinter sich, die bis in eine Zeit zurückreicht, in der der Ausdruck „Whistleblowing“ noch gar nicht gebräuchlich war. So definiert § 93 des deutschen Strafgesetzbuches unter der Abschnittsüberschrift „Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit“ zunächst in seinem Absatz 1 den Begriff des Staatsgeheimnisses wie folgt: „Staatsgeheimnisse sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden.“
In Absatz 2 derselben Vorschrift folgt dann eine wichtige Einschränkung des Begriffs des Staatsgeheimnisses: „Tatsachen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder unter Geheimhaltung gegenüber den Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen, sind keine Staatsgeheimnisse.“
Diese Vorschrift führt in Deutschland den Namen „Ossietzky-Paragraph“, womit eine Beziehung zu einem rechtshistorisch bedeutsamen Vorgang in der Zeit der Weimarer Republik hergestellt wird. In einem späteren Verfahren, in dem es um die
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Wiederaufnahme des seinerzeitigen Urteils gegen den Namensgeber der Vorschrift, Carl von Ossietzky, ging, hat der Bundesgerichtshof den damals maßgeblichen Sachverhalt wie folgt zusammengefasst:22 „Carl von Ossietzky hat in der ‚Weltbühne‘, deren Herausgeber und Schriftleiter er war, am 12. 3. 1929 den Artikel ‚Windiges aus der deutschen Luftfahrt‘ veröffentlicht. Vor dem Hintergrund, daß Deutschland nach Art. 198 des Versailler Vertrages ‚Luftstreitkräfte weder zu Lande noch zu Wasser unterhalten‘ durfte, wurde darin u. a. folgendes mitgeteilt: Die ‚Deutsche Lufthansa, Abt. Küstenflug‘ – früher ‚Severa‘ Seeversuchsanstalt – sei in Wahrheit eine getarnte Abteilung der Marineleitung. – ‚Ähnliche Kapriolen‘ gebe es auf dem Berliner Flugplatz JohannisthalAdlershof. Dort habe auf der Adlershofer Flugplatzseite als Gruppe der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt eine ‚Abteilung M‘ bestanden. Um bei einer erneuten Anfrage des Reichstagsabgeordneten Krüger nicht darauf aufmerksam machen zu müssen, daß ‚M‘ auch der Anfangsbuchstabe für Militär sei, sei diese Abteilung aufgrund ‚Gröners (des damaligen Reichswehrministers) findiger Vernebelungstaktik‘ auf die Johannisthaler Seite des Flugplatzes verlegt worden und heiße zum Unterschied von einer Versuchsabteilung von Albatros jetzt ‚Erprobungsabteilung Albatros‘. Sie sei zu Lande dasselbe, was an der See die ‚Severa‘ sei. Beide Abteilungen besäßen je etwa dreißig bis vierzig Flugzeuge, manchmal auch mehr. Nicht alle Flugzeuge seien immer in Deutschland.“ Die Schilderung des damaligen Vorgangs ist deshalb so ausführlich wiedergegeben, um deutlich werden zu lassen, dass hier nicht nur allgemeine Gerüchte in einer Zeitung kolportiert wurden, sondern recht detailliert anhand von näheren Umständen des Vorgehens des Reichswehrministeriums militärische Geheimnisse preisgegeben wurden. Insofern waren Ausmaß und Schwere der Veröffentlichung also durchaus dem vergleichbar, was heute WikiLeaks durchführt. „Das Reichsgericht hat“ dementsprechend auch „die Veröffentlichung als Verrat militärischer Geheimnisse nach § 1 Abs. 2 des seinerzeit geltenden Spionagegesetzes vom 3. 6. 1914 (RGBl. I, S. 195) beurteilt und … Carl von Ossietzky rechtskräftig zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.“23 Nach Auffassung der damals bestellten militärisch-sachverständigen Gutachter seien die beiden in der Veröffentlichung genannten „Abteilungen tatsächlich getarnte militärische Einrichtungen der Heeresleitung und der Marine gewesen.“ Das Reichsgericht hatte gemeint, „die Geheimhaltung dieser und weiterer Details sei im Interesse der Landesverteidigung erforderlich“ gewesen und „ihre Mitteilung“ habe „die Sicherheit des Deutschen Reiches [gefährdet], weil feindliche Nachrichtenstellen Agenten ansetzen und feindliche Heeresleitungen ihre Maßnahmen darauf einrichten könnten. Die Behauptung, Deutschland verstoße gegen Art. 198 des Versailler Vertrages, könne leicht unerwünschte außenpolitische Folgen haben. Es gebe kein Recht, völkerrechtswidriges BGH JZ 1994, 580 ff. Vgl. dazu und zum Folgenden die Zusammenfassung des reichsgerichtlichen Urteils durch den BGH, a. a. O. (Fn. 22), S. 580. 22 23
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Verhalten öffentlich rügen zu wollen. Dem eigenen Land habe jeder Staatsbürger die Treue zu halten; auf Durchführung der Gesetze könne nur durch eine Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe hingewirkt werden.“24 Carl von Ossietzky war nur relativ kurze Zeit wegen dieser Angelegenheit in Haft, wurde dann aber später von den Nationalsozialisten, weil er diese in seiner Zeitung heftig kritisiert hatte und deshalb politisch unliebsam war, in ein Konzentrationslager verbracht. Dort erhielt er den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935 in absentia, weil er nicht nach Oslo reisen durfte, um ihn dort entgegenzunehmen. Im Jahre 1938 verstarb Ossietzky dann an den Folgen der Gestapo-Haft in einer Klinik. Die ganz herrschende Meinung in der straf- und verfassungsrechtlichen Literatur in Deutschland sieht in der Verurteilung von Carl von Ossietzky durch das Reichsgericht eine zumindest heute angesichts der grundgesetzlichen Regelungen über die Meinungs- und Pressefreiheit nicht mehr haltbare Entscheidung. Dabei ist es eine sehr bedauerliche Tatsache, dass sich die deutschen Gerichte bis heute nicht dazu entschließen konnten, das Urteil des Reichsgerichts, das ja noch vor der Zeit des Nationalsozialismus gefällt worden war und deshalb nicht der allgemeinen Kassation von Unrechtsurteilen aus der Zeit des Nationalsozialismus unterfiel, im Rahmen eines von der Tochter Carl von Ossietzkys angestrengten Wiederaufnahmeverfahrens rückwirkend aufzuheben.25 Aber nicht dies steht hier im Vordergrund der Überlegungen, sondern die immerhin bemerkenswerte Regelung der Problematik des Verrats eines sogenannten illegalen Geheimnisses durch den bundesdeutschen Strafgesetzgeber in eben dem vorstehend erwähnten § 93 Abs. 2 StGB. Man wird diese Regelung so interpretieren können, dass eine illegale, also etwa gegen das Grundgesetz oder gegen völkerrechtliche Vereinbarungen etc. verstoßende Geheimhaltung von Tatsachen grundsätzlich nicht den Schutz des Strafrechts für sich in Anspruch nehmen kann. Über die sogenannten, im engeren Sinne illegalen Geheimnisse hinaus wird man diese Überlegung wohl auch auf illegitime Geheimnisse, also die Geheimhaltung von Informationen, die eigentlich aus rechtsstaatlichen oder gravierenden rechtsethischen Gründen nicht geheim gehalten werden dürften, erweitern können. Dafür spricht nicht zuletzt die recht weite Formulierung in § 93 Abs. 2 StGB, die auch die „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ verstoßenden Geheimnisse in den Anwendungsbereich der Vorschrift einbezieht. Zumal man zur Klärung dessen, was nun genau eine „freiheitliche demokratische Grundordnung“ umfasst, nicht nur im Inhalt der positiven Gesetze wird suchen können, sondern den gesamten rechtsethischen Kontext der Begründung eines freiheitlich verfassten Staatswesens hinzunehmen muss. Über den reinen Wortlaut des „Ossietzky-Paragraphen“ und dessen relativ engen Anwendungsbereich im Hinblick auf landesverräterische Aktivitäten hinaus wird BGH ebd. Näher dazu Joerden, Anm. zu dem o. g. Urteil des BGH JZ 1994, 580 ff. in JZ 1994, S. 582 ff. m. w. N. 24 25
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man daher der Vorschrift des § 93 Abs. 2 StGB eine rechtlich bedeutsame allgemeine Wertung entnehmen können. Denn die Vorschrift versucht offenkundig, das Spannungsverhältnis zwischen den an sich durchaus legitimen Geheimhaltungsinteressen des Staates einerseits und der Pressefreiheit und dem Informationsbedürfnis und Informationsrecht der Öffentlichkeit andererseits zu lösen, indem sie in solchen Fällen, wie sie in § 93 Abs. 2 StGB beschrieben werden, der Meinungs- und Pressefreiheit im Zweifel den Vorrang einräumt.26 Denn man kann das Gesetz so verstehen, dass die Anordnung der Strafbarkeit eines Verhaltens, bei dem sogenannte illegale Geheimnisse verraten werden, die grundgesetzlich garantierte Meinungs- und Pressefreiheit jedenfalls dann unverhältnismäßig einschränken würde, wenn die Strafbarkeitserklärung auch die Publikation jener „illegalen Geheimnisse“ umfasste. Ergänzt wird die Vorschrift des § 93 Abs. 2 StGB allerdings durch die Regelungen der §§ 97a und 97b StGB, in denen die unmittelbare oder mittelbare Weitergabe eines „illegalen Geheimnisses“ an fremde Mächte unter Strafe gestellt wird, sofern dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt wird, wobei § 97a StGB die Fälle des Verrats „illegaler Geheimnisse“ erfasst, während § 97b StGB den Verrat in lediglich irriger Annahme eines „illegalen Geheimnisses“ für strafbar erklärt. Auch diesen Vorschriften kann man – über ihren Wortlaut hinaus – die allgemeine Wertung entnehmen, dass die Offenbarung auch eines „illegalen Geheimnisses“ dann, wenn dadurch schwere Schäden insbesondere für Personen oder die Sicherheit des Staates drohen, zu unterbleiben hat und ggf. strafrechtlich verfolgt wird. Eine vergleichbare Regelung wäre auch im Hinblick auf die Aktivitäten von WikiLeaks, wenn sie denn strafrechtlich erfasst werden sollen, zu erwägen. Um nun abschließend noch einmal auf Kants „Princip der Publicität“ zurückzukommen: Kant hatte jedenfalls damit Recht, dass es bestimmte staatliche Geheimnisse gibt, deren Offenbarung rechtsethisch, aber auch positivrechtlich erlaubt sein muss, und zwar gerade die Offenbarung solcher Geheimnisse, deren Geheimhaltung an sich unerlaubt ist. Und mit unerlaubt soll hier gemeint sein: rechtswidrig, verfassungswidrig, aber auch völkerrechtswidrig, ja unter Umständen sogar nur moralisch inakzeptabel. Sofern WikiLeaks sich auf die Veröffentlichung solcher Geheimnisse beschränken würde, wäre dieses Verhalten nicht zu kritisieren. Ein Recht auf Veröffentlichung aller möglichen Informationen, insbesondere solcher, deren Veröffentlichung Personen in Gefahr bringen könnte, kann aus diesen Überlegungen jedoch nicht abgeleitet werden. Eine offene Frage ist darüber hinaus allerdings, welche geschützten Informationen allein wegen eines eventuellen Interesses der Öffentlichkeit an solchen Informationen ins Internet eingestellt werden dürften. Auch hier wird man indes im Zweifel der allgemeinen Pressefreiheit den Vorzug zu geben haben.
26 Vgl. etwa Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, StGB, 28. Aufl., München 2010, § 93 Rdn. 25 ff.
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Summary This article is concerned with the acts of the WikiLeaks website in respect of criminal law and ethical aspects. Parallel problems are also taken into consideration. In particular, the question is debated, what consequences can be drawn from Kant’s “principle of publicity [Princip der Publicität]” in judging WikiLeaks. Furthermore, WikiLeaks behaviour is compared to the phenomenon of whisteblowing, and similarities to the term “illegal secrets [illegale Geheimnisse]” known in German Criminal Law are shown. Finally, it is discussed, under what conditions publications in the style of WikiLeaks may be acceptable.
Eine deskriptive Rechtsethik Stephan Kirste
I. Rechtsethik und positives Recht Die Rechtsethik wird häufig als Erbin der Naturrechtslehre angesehen1. In ihren normativen Ansprüchen zurückhaltender, wird als ihr Ziel die Entfaltung vorpositiver Maßstäbe des Rechts angegeben2. So bezeichnet etwa Alexander Hollerbach die Rechtsethik als „das Herzstück einer materialen, d. h. sachhaltigen, auf die Erkenntnis von Sinn und Werthaftigkeit ausgerichteten Rechtsphilosophie, die sittliche Maßstäbe für das Recht und seine Normen anerkennt. Als notwendig normative Theorie bildet sie einen Widerpart gegen Formalismus und Positivismus sowie gegen die Reduktion auf eine bloß funktionale oder soziologische Betrachtungsweise.“3 Mit der weitgehenden Positivierung zentraler Naturrechtsgehalte4 ist aber auch für die Erbin ihrer Lehre die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels eingetreten. Gerade wenn man die Rechtsethik als eine Reflexionsdisziplin des Rechts im Hinblick auf Moral und Ethos versteht5, muß sie doch auch der moralisch angereicherten Positivität des Rechts Rechnung tragen. Längst sind im positiven Recht etwa in den Verfassungen moralische Pflichten und Werte als Prinzipien enthalten6. Diese Prinzipien sind freilich in das positive Recht transformiert7 worden und stehen nun in einem ihre Gehalte verstärkenden oder beschränkenden systematischen Zusammenhang8. Deshalb kann zu ihrer Interpretation nicht ohne weiteres auf die moralische Diskussion zurückgegriffen werden, sondern nur insofern, als das positive Recht dies zuläßt9. Dies hat aber nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis Vgl. dazu die Darstellung bei Larenz 1979, S. 13 ff. von der Pfordten 2001, S. 1: Die Rechtsethik „sucht nach einem Gerechtigkeitsmaßstab für das Recht, präziser: für das tatsächlich bestehende, sogenannte ‚positive‘ Recht, das heißt: geltende oder wenigstens Geltung beanspruchende Verfassungsnormen, Gesetze, Verordnungen, Satzungen, Gerichtsurteile, Gewohnheitsrechte etc.“. 3 Hollerbach 1995, Sp. 692. 4 Kirste 2010, S. 108 f. 5 Hollerbach 1995, Sp. 692. 6 Alexy 1992, S. 128. 7 Strasser (2007, S. 153) spricht auch vom Recht als „kodifizierter Ethik“. 8 Kirste 2009, S. 140 f. 9 Kirste 2010, S. 65 u. 103. 1 2
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von Recht und Moral. Vielmehr verändert sich damit auch der Gegenstand der Rechtsphilosophie insgesamt und insbesondere der Rechtsethik. Als Reflexionswissenschaft des Rechts trägt sie keine außerrechtlichen normativen Maßstäbe an das positive Recht heran, sondern rekonstruiert die in ihm enthaltene Moral im Hinblick auf ihre Grundprinzipien und kritisiert – und insofern bleibt sie normativ – von diesen ausgehend, Inkonsistenzen und Defizite. Es ist daher die These der vorliegenden Untersuchung, daß sich mit der Positivierung wesentlicher Gehalte der naturrechtlichen Tradition die Aufgabe der Rechtsethik umgekehrt hat. Sie trägt keine außerrechtlichen Normen an das positive Recht heran und prüft dessen Moralität vor dem Richterstuhl einer externen Vernunft10, sondern beginnt mit der in das Recht transformierten Moral, rekonstruiert deren Grundprinzipien und weist in dieser Perspektive deren ggf. bestehende Defizite auf. In dieser Weise fragt sie dann auch nach dem Ethos, das das positive Recht bei der Ausübung der Rechtsberufe verlangt11. Weniger Erbin als vielmehr verlorene Tochter, ist die Rechtsethik auch insofern Nachfolgerin der Naturrechtslehre, als sie deren Ziel der Begründung des positiven Rechts auf nicht willkürlich veränderbare Normen mit nicht-metaphysischen Mitteln zu erreichen versucht12. Die Kritik wendet sich dabei besonders gegen starke inhaltliche Annahmen der metaphysischen Tradition. Diese müssen in einer pluralistischen Gesellschaft auf Widerstand stoßen13. Auch diesem Vorwurf entgeht eine deskriptive Rechtsethik.
II. Rechtsphilosophie als Theorie juristischen Denkens Auch in einem nachmetaphysischen Zeitalter14 besteht ein Bedürfnis nach einer Disziplin, die das juristische Denken auf den Begriff bringt. Das ist die Rechtsphilosophie. Sie entscheidet nicht über das juristische Denken oder normiert es, sondern zielt auf sein Erkennen. Indem sie das juristische Denken selbst als erkennendes und Entscheidungen vorbereitendes zum Gegenstand hat und dieses Denken 10 Das ist der Ansatz von Dietmar von der Pfordten (2001, S. 1): Der von der Rechtsethik „gesuchte Gerechtigkeitsmaßstab kann nicht das geltende Recht selbst sein. Sonst würde tatsächlich bestehendes Recht nach anderem tatsächlich bestehenden Recht beurteilt. Eine derartige rechtsinterne Beurteilung des geltenden Rechts nach anderem geltendem Recht ist Aufgabe der Rechtsdogmatik, nicht der Rechtsethik. Der Maßstab der Rechtsethik muß vielmehr ein rechtsexterner sein.“ 11 Hollerbach 1995, S. 693 und zu den in den USA wesentlich weiter verbreiteten Legal Ethics etwa Luban 2007, S. 20 f. 12 von der Pfordten 2001, S. 3, 19, 29 und ders. 2010, S. 5 f. 13 Habermas 1994, S. 83. 14 Habermas 1992, S. 7 f.; ders. 1994, S. 662: „Die einzige nachmetaphysische Quelle der Legitimität bildet offensichtlich das demokratische Verfahren der Rechtserzeugung“; kritisch zu verbliebenen metaphysischen Argumenten, Hilgendorf 2009, S. 122 f.; Krawietz 2009, S. 182 f., 200 f.
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mit dem Ziel der Erkenntnis analysiert, ist die Rechtsphilosophie Philosophie und nicht Rechtswissenschaft15. Hier klärt sich also das juristische Denken über sich selbst auf, ein Ziel, das weder Rechtswissenschaft noch Rechtspraxis verfolgen16. Mit der Philosophie hat die Rechtsphilosophie somit die Reflexivität der Erkenntnis des Denkens im Medium des Denkens gemeinsam17, unterscheidet sich von ihr aber durch den eingeschränkteren Gegenstand, das juristische Denken. Mit der Rechtswissenschaft hat die Rechtphilosophie die Wissenschaftlichkeit gemeinsam, die auf Erkenntnisse und nicht auf Entscheidungen gerichtet ist. Beide unterscheiden sich dadurch von der Rechtspraxis. Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie trennen schließlich ihre Gegenstand: Während jene auf das Recht gerichtet ist, hat es die Rechtsphilosophie mit dem juristischen Denken zu tun18. Dieses juristische Denken entfaltet sich zunächst in der Rechtspraxis19. Ihre Formen reflektiert die Methodenlehre. Ihrem Inhalt nach zielt die Rechtspraxis auf rechtlich richtige Entscheidungen. Diese werden von der Rechtswissenschaft systematisiert und weiterentwickelt. Wie die Rechtswissenschaft dabei vorgeht, wird von der Theorie der Rechtswissenschaft behandelt. Da ihr Forschungsgegenstand nicht das Recht als Norm, sondern das wissenschaftliche Denken ist, gehört die Theorie der Rechtswissenschaft nicht zur Rechtsdogmatik als Wissenschaft des gelAlexy 2009, S. 11 f.; Kaufmann 2004, S. 1. Treffend Kant (Aufklärung, S. 55): „Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht [denkt nicht nach, SK.]! Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt! … Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.“ 17 Alexy (2009, S. 12) definiert: „Philosophie ist die allgemeine und systematische Reflexion darüber, was es gibt, was getan werden soll oder gut ist und wie Erkenntnis von beiden möglich ist.“ Diese Definition ist weiter als die hier vorgeschlagene: Zunächst setzt sie voraus, daß die Reflexion mittels des Denkens erfolgt und nicht etwa im Gefühl. Das trifft sich mit dem hier vorgetragenen Verständnis. Sodann bezieht sie auch die praktische Dimension mit ein: Alexy versteht die Philosophie als eine Wissenschaft, die selbst Normen aufstellt (ders. 2009, S. 13). Wenn man nicht annimmt, daß Normen von Natur aus bestehen, muß über sie entschieden werden. Entscheidung und Reflexion sind aber zu unterscheiden. Also kann eine Disziplin, deren Kennzeichen die Reflexion ist, keine Normen aufstellen, sondern nur über Normen reflektieren. 18 Deshalb ist es auch unzutreffend, wenn Ronald Dworkin meint: „any judge’s opinion is itself a piece of legal philosophy, even when the philosophy is hidden and the visible argument is dominated by citation and lists of facts“ (Dworkin 1986, S. 90). Eine derartige Rechtsphilosophie ist so philosophisch wie eine „Firmenphilosophie“. 19 Gröschner 1982, S. 3 f., 124, 210, 220 f. mit einem Plädoyer für die Rechtsphilosophie als Philosophie der Rechtspraxis. 15 16
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tenden Rechts, sondern zur Rechtsphilosophie. Hierbei setzen Praxis und Wissenschaft einen Begriff von Recht und von Richtigkeit oder Gerechtigkeit voraus, den die Rechtsphilosophie als Rechtstheorie und als Rechtsethik zu reflektieren hat. Rechtsphilosophie ist somit die Einheit von Theorie der Rechtswissenschaft, Rechtstheorie und Rechtsethik. Diese Struktur der Rechtsphilosophie soll hier kurz entfaltet werden, um anschließend die Rechtsethik einordnen zu können.
III. Theorie der Rechtswissenschaft Als Theorie der Rechtswissenschaft fragt die Rechtsphilosophie nach den Formen juristischer Denktätigkeit. Diese Tätigkeit ist auf das Verstehen von Rechtstexten und anderen sprachlichen Aussagen über das Recht gerichtet20. Der Weg dieses Verstehens wird von der Methodenlehre des Rechts untersucht. Sie hat es daher mit juristischen Arbeitstechniken, wie sie als Grundsätze der Auslegung und als normative Entscheidungen für eine gute Auslegung (z. B. § 6 f. ABGB) anerkannt sind, zu tun. Ferner thematisiert sie Grund, Grenzen und Methoden der praktischen Fortbildung des Rechts. Juristisches Denken in Theorie und Praxis sind nicht gleich21. Ihr Unterschied liegt jedoch nicht im Gegenstand des Denkens begründet: Sowohl das rechtspraktische als auch das wissenschaftliche Denken sind auf das Recht in seinen vielfältigen Entscheidungsformen gerichtet22. Er besteht in der Art und Weise, wie sich das Denken mit ihnen beschäftigt. Die Rechtspraxis ist entscheidungsbezogen und daher normativ gebunden23. Aus ihrer Deliberation als Gericht, Verwaltung oder Rechtsetzung gehen entweder selbst Entscheidungen hervor oder sie bereitet diese anwaltlich vor. Die normative Bindung erfaßt auch ihre Methoden. Zwar enthalten wenige Rechtsordnungen so eingehende Vorgaben der interpretativen Praxis wie im aufgeklärten Absolutismus das ALR24 oder gegenwärtig der Codex Iuris Cano20 Vgl. die Beiträge des Bandes von Lerch 2004; Müller / Christensen / Sokolowski 1997, S. 19 ff.; Müller 2008, 3.1 u. 4.6; Kirste 2009 / 1, S. 126 f. 21 Auch wenn diese ihren Gegenstand und vielleicht auch ihren Ursprung bildet „Die Jurisprudenz hat ihren Ursprung nicht in der Suche nach der Wahrheit, auch nicht nach idealer Gerechtigkeit, sondern in der praktischen Aufgabe zwischen Streitenden Recht zu sprechen…“, Henke 1987, S. 686. 22 Klar ausgedrückt etwa bei Dreier 2009, S. 331: „Das Spezifische der juristischen Perspektive liegt darin, dass sie sich auf das positive Recht richtet, insofern es richterliches Entscheiden und anwaltliches Beraten anleitet – im Unterschied etwa zur soziologischen Perspektive, die auf das Recht als Teilbereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und zur philosophischen Perspektive, die auf das Recht als Teilbereich der Wirklichkeit im Ganzen gerichtet ist.“ 23 Zur Unterscheidung von Entscheiden und Begründen treffend Anderheiden 2009, S. 29 f. 24 Einleitung, § 46 – 50.
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nici25. Die Rechtspraxis hat jedoch auch in Rechtsordnungen, die wenige unmittelbare Methodenvorgaben enthalten, die verfassungsrechtlichen Grenzen wie etwa den Gewaltenteilungsgrundsatz, das Analogieverbot oder auch einfachgesetzliche Zielvorgaben für die teleologische Auslegung zu berücksichtigen. Wenn die Rechtswissenschaft sich auf die Erkenntnis des Rechts richtet, dann ist ihr Interesse auf Verstehen, Systematisierung und Fortentwicklung des Rechts in beratender Absicht gerichtet: Sie trifft Aussagen über Normen, aber keine normativen Aussagen26. Durch die prominente Stellung, die der Beratung im weiten Sinn als Erkenntnisziel der Rechtswissenschaft zukommt, unterscheidet sie sich von den theoretischen und erweist sie sich als praktische Wissenschaft. Hierbei verwendet sie zwar auch die Methoden und Argumentationsformen der Praxis27. Da ihr Erkenntnisziel jedoch nicht die Entscheidung ist, fehlt ihr die normative Bindung der Methoden. Die Theorie der Rechtswissenschaft reflektiert diese Bindungen als Teil ihrer Reflexion des juristischen Denkens der Praxis in der Methodenlehre. Hierdurch sind Rechtswissenschaft und Praxis zu unterscheiden28. Auch in der Anwendung der Methoden als Mittel ihrer Erkenntnis ist sie nicht an gesetzgeberische Entscheidungen gebunden, sondern kann deren Widersprüchlichkeit feststellen, kann Vorschläge zur Fortentwicklung des Rechts auch dort machen, wo die Praxis etwa an ein Analogieverbot gebunden ist. Deshalb beeinträchtigt der Praxisbezug die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz so lange nicht, als sie nicht theoretisch abgeleitete Argumente mit vermeintlichen normativen Bindungen ihrer Erkenntnisse verwechselt. Die Rechtsdogmatik steht im Zentrum der Rechtswissenschaft, weil sie das Recht mit spezifisch juristischen Methoden untersucht29. Diese Methoden sind wie die anderer Geisteswissenschaften auf das Verstehen von geistigen Äußerungen gerichtet. 25 CIC 1983, Can. 17: „Kirchliche Gesetze sind zu verstehen gemäß der im Text und im Kontext wohl erwogenen eigenen Wortbedeutung; wenn sie zweifelhaft und dunkel bleibt, ist zurückzugreifen auf Parallelstellen, wenn es solche gibt, auf Zweck und Umstände des Gesetzes und auf die Absicht des Gesetzgebers“, vgl. auch Can. 18 f. 26 Albert 1991, S. 73 f.; das unterstreicht im übrigen gerade Art. 38 lit. d des IGH-Statuts, wenn es heißt: „Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an vorbehaltlich des Artikels 59 richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen.“ Diese Lehrmeinungen – Sätze der Dogmatik also – sind nicht aus sich selbst heraus verbindliche Entscheidungen, sondern müssen vom Recht rezipiert werden, um rechtlich zu gelten, vgl. den ähnlichen CIC Can. 19. 27 Alexy 2009, S. 19 f.; Neumann 2009, S. 233 ff. 28 Weder ist der Wissenschaftler in seiner Erkenntnis an die Normen und anderen rechtlichen Entscheidungen gebunden, noch ist der Praktiker an wissenschaftliche Erkenntnisse gebunden. Zutreffend daher Röhricht (1999, S. 442): „Aufgabe des Revisionsrichters ist es nicht, Teilnehmer im Wissenschaftsprozeß zu sein, sondern als Filter gegenüber der Ideen- und Theorienflut der Wissenschaft zu wirken“. 29 Radbruch nennt sie diejenige Wissenschaft vom Recht, „die das Recht mittels der spezifisch juristischen Methode bearbeitet“, Radbruch 2003, S. 106.
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Damit kommt der Rechtswissenschaft bei ihrer Wahrheitssuche, die das Ziel der Erkenntnis darstellt, der Vorteil der Geisteswissenschaften zugute: Anders als in den Naturwissenschaften, bei denen der Erkenntnisgegenstand grundsätzlich fremd, „von Natur“ gegeben ist und seine Entstehung im Experiment erst künstlich rekonstruiert werden muß, handelt es sich bei den Erkenntnisgegenständen der Geisteswissenschaften um menschliche Produkte30. Ihre Entstehung kann also anhand der Motive, die diese Gegenstände hervorgebracht haben, der Ziele, der Strukturen, ihrer Vorgeschichte und auch der Probleme, die sie aufgreifen, rekonstruiert werden31. Das Denken der Wissenschaft erkennt sich hier, wenn auch in einem Kulturgegenstand selbst32: „Nur, was der Geist geschaffen hat, versteht er. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften.“33 Das gilt gerade auch in der Rechtswissenschaft, die in ihrer beratenden Funktion häufig an Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist oder ihre Theorien in Urteilen angewendet findet34. Von den übrigen Geisteswissenschaften unterscheidet sich die Rechtswissenschaft jedoch durch die Normativität der geistigen Produktionen: Schon der Normtext erhebt einen Anspruch auf Verbindlichkeit, der dem literarischen Text fehlt. Entsprechend sind auch die Methoden nicht einfach linguistische, sondern müssen dem Erkenntnisinteresse und der Natur des Rechts als Erkenntnisgegenstand Rechnung tragen. Recht soll jedoch soziale Konflikte anhand von normierten Wertüberzeugungen lösen, deren Verbindlichkeit auf einem demokratischen Konsens beruht. Es steht damit im Zusammenhang mit der Moral und stellt einen sozialen Faktor dar, der soziale Prozesse beeinflußt. Eine Wissenschaft, die das Recht erkennen und auf Grund dieser Erkenntnis die rechtliche Praxis beraten will, braucht somit ein Wissen 30 Vico schreibt in seiner „Neuen Wissenschaft“ von einer „Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden… Wie nämlich alle Philosophen sich ernsthaft darum bemüht haben, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen haben kann, und wie sie vernachlässigt haben, diese Welt der Völker oder politische Welt zu erforschen, von der, weil die Menschen sie geschaffen hatten, die Menschen auch Wissen erlangen konnten“, Vico (Neue Wissenschaft), 331, S. 143. In dieser Tradition heißt es bei Dilthey (Aufbau, S. 180): „Nur, was der Geist geschaffen hat, versteht er. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften.“ 31 Sie sind somit nicht nur Kulturprodukte, sondern zugleich Grundlage der Selbsterkenntnis des Menschen: „Was der Mensch sei, das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte“, Dilthey (Geistige Welt), S. 181. 32 Entsprechend konnte schon der Florentiner Renaissance-Humanist Coluccio Salutati (1331 – 1406) „Vom Vorrang der Jurisprudenz vor der Medizin“ sprechen, hierzu Blum 2008, S. 68 f.; Kirste 2008, S. 198. 33 Dilthey (Aufbau), S. 180. 34 Prägnant und zutreffend daher Somek (2006, S. 19): „Das Recht ist an und für sich theoretisch“.
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von den sozialen Ursachen und Wirkungen des Rechts einerseits und seinen moralischen Grundlagen andererseits. Hinzu treten die internationalen Verflechtungen der Rechtsordnungen untereinander und der Umstand, daß das Recht als geistiges Produkt auch aufgespeicherte Geschichte ist. Der Erkenntnis dieser Bezüge sind die sogenannten Grundlagenfächer der Rechtswissenschaft gewidmet. Sie untersuchen das Recht mit nicht-juristischen Methoden: Die Rechtssoziologie mit soziologischen, die Rechtsphilosophie mit philosophischen, die Rechtsgeschichte mit historischen Methoden. Wenn eine Wissenschaft durch ihre Methoden und nicht durch den Erkenntnisgegenstand geprägt wird, gehören die Grundlagenfächer daher nicht zur Rechtswissenschaft, sondern zur Soziologie, Philosophie. Wenn sie organisatorisch dennoch in den juristischen Fakultäten – teilweise zusätzlich zu den jeweiligen allgemeinen Fakultäten – verortet sind, so resultiert dies daher, daß sie unter dem Dach der Rechtswissenschaft mit der besonderen Sachkunde der Juristen betrieben werden können. Die Grundlagenfächer sind so institutionalisierte Formen von Interdisziplinarität: Auf den gleichen Erkenntnisgegenstand gerichtet wie die Rechtsdogmatik, tragen sie dieser Erkenntnisse anderer Wissenschaften über das Recht zu und bereiten umgekehrt rechtswissenschaftliche Erkenntnisse so auf, daß sie in anderen Wissenschaften und bezogen auf deren Fragestellung rezipiert werden können. Die Theorie der Rechtswissenschaft zielt auf die Erkenntnis der Denktätigkeit in der Jurisprudenz. Sie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Wissenschaftlichkeit35. Hierzu bestimmt sie deren Begriff durch die Analyse ihrer Methoden und Erkenntnisziele, grenzt sie sowohl gegenüber der Praxis als auch gegenüber anderen Wissenschaften ab und zeigt die (interdisziplinären) Brücken zu diesen. Anders als zuweilen angenommen wurde, beschränkt sich die Rechtsphilosophie aber nicht auf die Theorie der juristischen Denktätigkeit36. So wie es keine Denktätigkeit ohne Denkinhalt gibt, muß sich die Rechtsphilosophie auch auf die Begriffe der Rechtswissenschaft beziehen. Die Jurisprudenz setzt in ihrer Tätigkeit die Form des Rechts und seinen Anspruch auf rechtliche Richtigkeit voraus. Die Rechtsphilosophie muß sich also auch mit der Form des Rechts und mit dem Rechtsinhalt beschäftigen. Das erste Thema bezeichnet den Untersuchungsgegenstand der Rechtstheorie, das zweite den der Rechtsethik.
35 Um nur einen besonders prominenten Kritiker aus den eigenen Reihen der Rechtswissenschaftler zu nennen: Kirchmann war bekanntlich der Ansicht, die Rechtswissenschaft habe es nur mit dem Willkürlichen der positiven Gesetze zu tun, was durch nichts deutlicher dokumentiert werde, als daß der Gesetzgeber nur ein Wort zu sagen brauche „und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“, Kirchmann 1848, S. 25. 36 So etwa Ross: „Das Objekt der Rechtsphilosophie ist nicht das Recht, sondern die Rechtswissenschaft“, Ross 1958, S. 25 f.
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IV. Rechtstheorie Das juristische Denken verwendet meist unreflektierte Vorstellungen von dem, was Recht ist, weil sie nur selten in Rechtsfällen praktisch relevant werden. In seltenen Fällen ist es problematisch, ob ein korrumpiertes Recht noch Unrecht, also schlechtes oder ungerechtes Recht, aber noch Recht ist, oder Nicht-Recht. Diese Frage taucht insbesondere bei Systemumbrüchen auf, wenn – in der Bundesrepublik Deutschland etwa nach dem Nationalsozialismus oder nach dem Beitritt der DDR – zu entscheiden ist, ob die früheren Normen Recht sind, die ein bestimmtes Verhalten rechtfertigen können. Auch mag es praktisch relevant werden, ob Naturrecht als Recht anzusehen ist, auf das Richter etwa zur Lückenfüllung zurückgreifen können. Diese Fälle zeigen die praktische Relevanz des Rechtsbegriffs. Eine Rechtstheorie, die sich als Wissenschaft des juristischen Denkens versteht, wird aber auch den in den Normfällen zugrundegelegten Rechtsbegriff thematisieren37. Dabei kommt der Rechtstheorie ein Strukturmerkmal des modernen Rechts entgegen: Es bestimmt selbst, was es als Recht anerkennt. Ohne hier auf die Einzelheiten eingehen zu müssen, ist es doch sinnvoll, das moderne Recht der Gattung nach als Norm zu verstehen38. In moralischer oder naturrechtlicher Perspektive mag es hilfreich sein, das Recht als eine Form gerechten Handelns anzusehen39, in soziologischer Perspektive mag es größeren Erklärungswert haben, das Recht als Kommunikationsvorgang zu untersuchen40, in ökonomischer als Wirtschaftsfaktor41; für die Reflexionstheorie des juristischen Denkens steht jedoch das Recht als eine Art von Sollensgeboten im Zentrum. Dabei ist Recht anders als nach der Reinen Rechtslehre Kelsens keine „reine“ Norm. Es kann daher auch nicht aus einer „Grundnorm“ abgeleitet werden42. Denn damit wäre nichts Spezifisches über das Recht im Verhältnis zu anderen Normen angegeben. Von Normen der Moral, des Naturrechts oder der Sitte unterscheidet sich das Recht nicht aufgrund seines Inhalts. Der mag immer wieder abweichen und wird modifiziert dadurch, daß er im Recht in einem bestimmten systematischen Zusam37 Zur Ausrichtung der Rechtsphilosophie: Hilgendorf 2009, S. 115 f.; zu ihrer Entwicklung in der Bundesrepublik: Hilgendorf 2005, S. 21 f. 38 Kelsen 1960, S. 4: „Denn das Recht … ist eine normative Ordnung menschlichen Verhaltens …“; zur Kritik an diesem Verständnis etwa Lege 2009, S. 208 f. 39 Nämlich etwa als das Ergebnis des gerechten Handelns, Thomas von Aquin: „So wird also ‚Recht‘ genannt, was gleichsam die Rechtlichkeit der Gerechtigkeit hat, gerade das also, worin die Tätigkeit der Gerechtigkeit ihren Abschluß findet …“, S. Th. II-II, Q. 57, 1. 40 Luhmann 1993, S. 35: „Das Rechtssystem operiert also in der Form von Kommunikation im Schutz von Grenzen, die durch die Gesellschaft gezogen sind.“ Genauer geht es um Erwartungen: „Wir können das Recht … definieren als Struktur eines Gesellschaftssystems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht“, Luhmann 1972, S. 105. 41 Marx / Engels: Ökonomie, S. 8 f.; zur modernen ökonomischen Analyse des Rechts: Coleman 1984, S. 649 ff. 42 So aber bekanntlich Hans Kelsen 1960, S. 199 u. passim.
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menhang mit anderen Normen steht; Prinzipien wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Gemeinwohl etc. finden sich aber sowohl als Inhalt des Rechts wie auch der Moral. Das abgrenzende Kriterium liegt auch nicht in der Durchsetzung von Normen. Normen der Sitte können durchaus zwangsbewehrt sein. Wer Traditionen einer Gemeinschaft nachhaltig durchbricht, kann aus ihr ausgeschlossen werden. Auch ist nicht jede zwangsbewehrte staatliche Norm Recht43. Sonst wäre jede zwangsbewehrte staatliche Willkür Recht. Schließlich greift es auch zu kurz, als Besonderheit rechtlicher Normen ihre Entstehung aus Befehl44, ihre Setzung45 oder Anerkennung46 anzugeben. Entscheidend ist, daß eine Norm nur dann Recht ist, wenn ihre Entstehung und Durchsetzung wiederum normiert ist. Eine Norm wird zu einer Rechtsnorm nur, wenn bei ihrer Hervorbringung die dafür bestehenden Kompetenz-, Verfahrens- und sonstigen Normen beachtet wurden; auch ihre Durchsetzung ist nur unter entsprechenden Voraussetzungen Recht. Deshalb sind auch die genannten materialen Prinzipien nicht eo ipso Recht, sondern nur wenn sie einen normierten Setzungsprozeß durchlaufen haben, und sie sind es nur insofern, als sie zu anderen Normen, die so entstanden sind, passen47. Recht bezeichnet also diejenigen Normen, deren Entstehung und Durchsetzung normiert sind48. Was dann konkret als Recht einer Rechtsordnung gilt und verbindlich ist, hängt von den Regelungen dieser Rechtsordnung ab. Läßt es diese Rechtsordnung zu, daß von einem moralischen Standpunkt aus ungerechte Normen entstehen dürfen, so sind diese Recht. Recht bezeichnet also in diesem Sinne reflexive Normen. Hier fällt eine Parallele zur Philosophie auf: So wie diese im Medium des Denkens reflexiv ist, indem sie über das Denken nachdenkt, ist das Recht im Medium der Normen reflexiv, indem es seine Normen normiert. Während die Philosophie als Wissenschaft aber nicht auf 43 Anders aber etwa Jhering: „Der vom Staat in Vollzug gesetzte Zwang bildet das absolute Kriterium des Rechts, ein Rechtssatz ohne Rechtszwang ist ein Widerspruch in sich selbst, ein Feuer, das nicht brennt, ein Licht das nicht leuchtet“, von Jhering 1893, S. 322. 44 „Every law or rule (taken with the largest signification which can be given to the term properly) is a command“, Austin 1832, S. 5 f. 45 Bergbohm 1892, S. 141 f., Fn. 15 46 Ernst-Rudolf Bierling: „Recht im juristischen Sinne ist im allgemeinen das, was Menschen, die in irgendwelcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm oder Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen“, 1894, S. 19. 47 Auch wenn die Empirie also nicht ausschlaggebend ist und ein normativer Rechtsbegriff gebildet wird, werden doch Kollers (Koller 2009, S. 162) Kriterien eines Rechtsbegriffs aufgegriffen: Der Rechtsbegriff soll danach (1.) auf empirische Tatsachen Bezug nehmen. Das ist der Fall; der Bezug ist jedoch normativ: Entscheidung und Zwang sind maßgeblich nur, wenn sie normativ begründet und eingebunden sind. (2.) der Rechtsbegriff muß Recht „als normative Ordnung von anderen normativen Praktiken sozialer Verhaltensregelung abgrenzen“. Dies ist ebenfalls möglich wie sogleich zu zeigen sein wird. Schließlich muß das Recht (3.) normative Geltung besitzen, um sich von reiner Gewalt und Zwang zu unterscheiden. Das genau ist der Sinn der normativen Ordnung von Normentstehungs- und -durchsetzungsverfahren. 48 Beide Fragen gehören somit zusammen, um den Begriff des Rechts zu erklären, und sind in der Rechtstheorie zu erörtern; eine etwas andere Zuordnung bei Alexy 2009, S. 15 f.
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Verbindlichkeit zielt, sollen die Gebote, Verbote und Erlaubnisse der Normen verpflichtend für das Handeln sein. Die Rechtstheorie kann somit von der praktizierten Reflexivität der Normen ausgehen und diese auf den Begriff, auf den Rechtsbegriff bringen. Dies zugrundegelegt, kann sie Recht von anderen Normen unterscheiden. Normierung der Normentstehung und Durchsetzung grenzt Recht– was immer man im Einzelnen darunter verstehen mag – von der Moral ab. Es unterscheidet sich aber auch vom Naturrecht. Naturrecht – sowohl als rationalistisches als auch als voluntaristisches Naturrecht – enthält keine Normen, deren Setzung und Durchsetzung normiert wären. Als rationalistisches Naturrecht enthält es vielmehr gar keine gesetzten Normen; als voluntaristisches zwar gesetzte Normen, aber doch solche, deren Entstehung z. B. aus göttlichem Willen nicht normiert ist. Vielmehr gehört das Naturrecht der Form nach zur Moral. Allerdings bezieht es sich seinem Inhalt nach traditionell auf das rechtliche Verhalten. Angesichts der formalen Bestimmung des Rechts fließt dieser Inhalt jedoch nicht unmittelbar in das positive Recht ein, sondern muß in dieses transformiert werden. Auch in bezug auf seine moralischen Grundlagen ist das Recht also reflexiv. Dadurch ist das Naturrecht nicht überflüssig, sondern lediglich rechtlich unverbindlich. Seine Normen enthalten aber Modelle richtigen Rechts, die sowohl die Form als auch den Inhalt des modernen Rechts geprägt haben: Die Form, insofern das voluntaristische Naturrecht die Setzung als ein wichtiges Moment von Normen entfaltet hat49 und in der Naturrechtstradition formale Elemente wie Rechtssicherheit, Anforderungen an die Normdurchsetzung entwickelt wurden. Inhaltlich ist das positive Recht vom Naturrecht geprägt, weil die Gerechtigkeitsgehalte des positiven Rechts in der naturrechtlichen Menschenrechtsdiskussion und den Theorien des Gemeinwohls entwickelt wurden50. Wenn man also von einem Ende des Naturrechts sprechen will, so bezeichnet dies seine Rechtsverbindlichkeit, sicherlich auch einige Begründungsversuche, nicht aber seine Erkenntnisse. Von einem Ende zu sprechen hieße daher, daß 49 Etwa Johannes Duns Scotus: „Die im eigentlichen Sinn allgemeinen Gesetze, die zu Recht Vorschriften geben, sind festgelegt vom göttlichen Willen und freilich nicht vom göttlichen Intellekt, wie er dem Akte des göttlichen Willens vorausgeht“, Ord. I, dist. 44 qu. Un. N. 6, zit. nach Böckenförde 2006, S. 285. 50 Klassisch schreibt Marcus Tullius Cicero, „daß das Gesetz … die höchste Vernunft ist, die in der menschlichen Natur liegt und alles befiehlt, was getan werden muß, und das Gegenteil verbietet. Dieselbe Vernunft ist das Gesetz, wenn sie im Geist des Menschen ihren festen Platz hat. Deshalb meinen sie [die Griechen, SK] auch, daß die Klugheit das Gesetz sei, dessen Wirkung darin bestehe, das rechte Handeln zu befehlen und das Unrechttun zu verbieten, und sie glauben auch, daß die Bezeichnung dieses Begriffes im Griechischen (Nómos) von ‚jedem das Seine zuteilen‘ (némein) herzuleiten sei, während ich meine, daß sie im Lateinischen (lex) von ‚auswählen‘ (legere) kommt. Denn wie jene die Vorstellung von ‚Gerechtigkeit‘ so verbinden wir die Vorstellung von ‚Auswahl‘ mit dem Begriff des Gesetzes, und dennoch ist beides der eigentliche Inhalt des Gesetzes. Wenn dies so zutrifft, wie es mir jedenfalls meistens der Fall zu sein scheint, dann ist der Ursprung des Rechts vom Gesetz herzuleiten. Dieses verkörpert nämlich das Wesen der Natur, dieses entspricht dem Geist und der Vernunft des Klugen, dieses ist die Richtschnur für Recht und Unrecht“, Cicero 2004, I, 18 f., S. 23 f.
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das Naturrecht an seinem Erfolg, nicht an seinem Mißerfolg zugrundegegangen ist. Tatsächlich wäre aber daran zu denken, ob nicht für denjenigen Teil der Moralphilosophie, der sich mit rechtsbezogenen Normen beschäftigt, der Begriff des Naturrechts beibehalten werden könnte. Die Rechtstheorie ist somit nicht gleichbedeutend mit Rechtsphilosophie, sondern diejenige Unterdisziplin von ihr, die die Form des Rechts, jeweils abstrahierend von seinem Inhalt reflektiert51.
V. Rechtsethik 1. Die Stellung der Rechtsethik innerhalb der Rechtsphilosophie Bliebe es bei den bisher genannten Teildisziplinen der Rechtsphilosophie, würde sie zwar als Theorie der Rechtswissenschaft das juristische Denken insbesondere mit Rücksicht auf ihre Methoden und als Rechtstheorie den Begriff des Rechts hinsichtlich der Form des Rechts untersuchen; der Inhalt der Rechtsnormen bliebe jedoch unberücksichtigt. Die Rechtsphilosophie als Reflexion des juristischen Denkens bliebe also unvollständig. Es bedarf noch einer weiteren Disziplin, die den Anspruch auf Richtigkeit seiner Inhalte bedenkt. Ihre Frage ist: Was leistet das Recht für die Gerechtigkeit. Dies ist die Fragestellung der Rechtsethik. Sie setzt die Erkenntnisse der Theorie der Rechtswissenschaft und der Rechtstheorie voraus. Mit dieser Aufgabenstellung ist die Rechtsethik eine deskriptive Philosophie. Sie ist eine Philosophie der Praxis und keine praktische Philosophie, wenn man darunter notwendig eine normative, Sollensgebote aufstellende Teildisziplin der Philosophie verstehen will52. Folglich ist sie keine normative Ethik53. Sie stellt keine externen moralischen Forderungen an das Recht, sondern reflektiert die moralischen Gehalte des Rechts. Sie analysiert, was das Recht selbst als Richtigkeitsmaßstab festsetzt. Wenn man es Hegelisch ausdrücken möchte: Sie hat die im Recht realisierte Vernunft – oder auch Unvernunft – zum Gegenstand, befaßt sich mit den rechtlichen Aussagen zur Richtigkeit seiner Normen54. Das schließt moralische For51 Für eine Identifikation von Rechtsphilosophie und der Erkenntnis der Rechtsform in Gestalt des positiven Rechts dagegen Bergbohm 1892, S. 96. 52 von der Pfordten 2010, S. 7. Höffe (1997, S. 237) sieht zwar auch die praktische Aufgabe, schränkt aber die verbessernde Funktion der praktischen Philosophie erheblich ein: „Im eigentlichen Sinn gehört zu ihr auch eine praktische Intention. Ohne auf methodisches Vorgehen zu verzichten, will praktische Philosophie der sittlichen Verbesserung der Praxis dienen. Sie beschränkt sich deshalb weder auf Metaethik noch auf die Erörterung des Moralprinzips oder des höchsten Guts“. Sodann setzt er aber hinzu: „Die praktische Philosophie kann Sittlichkeit jedoch nicht ursprünglich hervorbringen, sondern nur eine schon vorhandene persönliche Sittlichkeit erhellen und reflexiv verbessern“. 53 Für eine solche vgl. etwa von der Pfordten 2001, S. 8 f.; Larenz 1979, S. 12 f. 54 „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“, Hegel (Grundlinien), S. 11; dazu Kirste (2008 / 1), S. 67 ff.
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derungen an die Richtigkeit des Rechts nicht aus55. Als Reflexionsdisziplin der Jurisprudenz verstanden, ist dies aber nicht ihr Gegenstand. Die Rechtfertigung für dieses Vorgehen ergibt sich aus der Struktur des modernen positiven Rechts selbst. Seitdem Verfassungen keine reinen Organisationsstatute und auch Zivilgesetzbücher keine technischen Manuale für den Rechtsverkehr zwischen Bürgern mehr sind56, sondern Grundrechte sowie andere Wertentscheidungen und Prinzipien enthalten und unter dem Einfluß von supranationalen und internationalen Menschenrechtsvereinbarungen stehen, treffen sie selbst Aussagen zur Moral einer Rechtsordnung. In einem demokratischen Staat ist diese Rechtsordnung ferner Ausdruck der auf der Basis der Freiheit und Gleichheit gebildeten Entscheidung aller von diesen Rechtsnormen Betroffenen57. Zusätzlich zu einer axiologisch oder deontologisch begründeten materialen Legitimation genießen diese Normen zugleich eine prozedurale Legitimation, so daß sie als Ausdruck dessen erscheinen können, was ein Volk oder auch die Völkergemeinschaft als das für sie Richtige ansieht. Auch auf vertraglicher Ebene ist der gerechte Inhalt der Vereinbarungen Ausdruck von verfahrensgerechten Verhandlungsbedingungen und der rechtlich geschützten Autonomie der Beteiligten. Die Erkenntnis der verfahrensrechtlichen Dimension der Grundrechte hat deutlich gemacht, daß auch gerechte Verwaltungsentscheidungen nicht nur das Ergebnis der zu berücksichtigenden materialen Belange der Betroffenen, sondern auch gerechter Verfahrenspositionen und -verläufe sind. In gestuften Rechtsordnungen hat das Recht selbst eine reflexiv-kritische und rationalisierende58 Funktion wie die Ethik59 übernommen. Es verhält sich nicht nur, wie schon Hermann Cohen annahm, die Rechtswissenschaft zur Ethik wie die Mathematik zu den Naturwissenschaften, weil die Mathematik wie Rechtswissenschaft die Begriffe der anderen Disziplin in eine schärfere Form bringt60. Sollte nach dem normativen Verständnis die Ethik die gelebten Normen der Moral kritisch überprüfen und ggf. korrigieren, so erfüllt dies hinsichtlich der rechtlichen Handlungsnormen das Recht selbst, das in Gesetzgebung und Rechtsprechung, aber auch in der Möglichkeit von Vertragsänderungen die Möglichkeit einer kritischen Überprüfung der Primärnormen bereitstellt. 55 Die hier vertretene Konzeption der Rechtsethik entspringt also nicht der Ablehnung einer normativen Ethik als Wissenschaft, sondern sagt nur, daß die Rechtsethik als Reflexionswissenschaft des Rechts außerjuristische Richtigkeitsanforderungen an das Recht zum Gegenstand hat. 56 Habermas 1994, S. 477 ff.; Harrer 2007, S. 183 ff. 57 Habermas 1994, S. 161 f., 209 f. 58 In diesem Sinne auch Kreuzbauer 2007, S. 79 ff. 59 von der Pfordten 2010, S. 7. 60 Cohen 107, S. 66: „Alle Philosophie ist auf das Faktum von Wissenschaften angewiesen. Diese Anweisung auf das Faktum der Wissenschaften gilt uns als das Ewige in Kants System. Das Analogon zur Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften, und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden“. Hierzu auch Kersting 2002, S. 32.
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Das schließt freilich zweierlei nicht aus: Erstens ist es selbstverständlich immer möglich, daß eine Rechtsordnung als defizitär erscheint. Material könnte sie wesentliche Werte oder Rechte wie eine Ausrichtung auf das Gemeinwohl oder elementare Freiheits- und Gleichheitsrechte nicht oder nur unvollkommen enthalten. Oder sie könnte sich in eine wohlfahrtsstaatlich-paternalistische Ordnung zurückentwickeln, bei der ein aufgeklärter Herrscher seinen Untertanen zwar all diejenigen Rechte gewährt, die ihm zu deren Vervollkommnung als notwendig erscheinen, sie jedoch nicht an deren Festsetzung mitentscheiden läßt. Eine derartige Entwicklung ließe sich jedoch als eine rechtsethische Entdifferenzierung verstehen: Das Recht fällt hinter einen bereits erreichten ethischen Standard zurück. In dem Maß tritt dann wieder eine externe Richtigkeitskontrolle des positiven Rechts an die Stelle der Selbstkontrolle. Zweitens ist die Reflexivität des positiven Rechts, auch wenn es moralische und moralisch wirksame Prinzipien enthält, von der Reflexion der Philosophie zu unterscheiden. Die rechtlich-praktische Reflexion ist normativ gebunden. Die Überprüfung der im Recht enthaltenen Moral findet in den Bahnen des Rechts statt, wenn die Rechtsprechung oder Gesetze geändert werden. Die Philosophie ist diesen Bindungen nicht unterworfen. Es mag selbstverständlich eine verfassungswidrige Rechtsethik geben, die als Philosophie ihre Berechtigung hat. Die rechtsethische Untersuchung muß, wenn sie die moralischen Grundprinzipien einer Rechtsordnung untersucht, die Beschränkungen, denen diese als positives Recht unterworfen ist, überschreiten; entscheidend ist aber auch dann, daß sie vom konkreten Recht ausgeht und dieses rekonstruiert. Die gewonnen Erkenntnisse sind freilich Aussagen über Normen, keine normativen Aussagen61. Eine deskriptive Ethik muß keine empirische Wissenschaft werden62, sondern kann gerade in dem hier vertretenen Sinn der Philosophie als der Wissenschaft des Denkens eine philosophische Disziplin bleiben. Es geht nicht um die Begründung der moralischen Gehalte aus Evolution, Interesse oder gesellschaftlichen Verhältnissen63. Wenn die Aufgabe der Rechtsethik die Rekonstruktion der im positiven Recht enthaltenen moralischen Gehalte, ihre Rückführung auf Prinzipien und ggf. die Kritik des positiven Rechts ist, dann ist diese Tätigkeit philosophisch und nicht empirisch. Von einer normativen Rechtsethik unterscheidet sie sich dann in ihrem Ausgangspunkt. Sie beginnt nicht bei höchsten praktischen Prinzipien, konkretisiert diese zu mittleren Prinzipien, an denen dann das positive Recht gemessen wird. Albert 1991, S. 73 f. Dies ist die Auffassung von Höffe (1997, S. 66): Die deskriptive Ethik beschreibe und erkläre die gelebte Moral und könne sie „eventuell zu einer empirischen Theorie menschlichen Verhaltens … verallgemeinern. Das ist keine genuine Aufgabe der Philosophie, sondern eine der Historie, Ethnologie, Psychologie u. Soziologie“. So auch von der Pfordten 2010, S. 10: „die deskriptive Ethik [ist, S. K.] nichts anderes Soziologie …“. 63 Im Sinne eines evolutiven Ansatzes beschreibt etwa Luhmann die Entwicklung des Naturrechts (1972, S. 185 f.; 1993, S. 223 f.). Allgemeiner zu einer soziologischen Untersuchung von Normen, Luhmann 1993a, S. 4 ff. 61 62
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Vielmehr beginnt sie beim positiven Recht selbst und steigt zu allgemeineren Prinzipien auf. Wenn Rechtsphilosophie in dem skizzierten Sinne verstanden wird, kann die Rechtsethik auch nicht gleichbedeutend mit ihr sein64. Aus dem zuvor zur Rechtsform Gesagten folgt auch, daß der traditionell engen Beziehung der Rechtsethik mit der Naturrechtslehre hier nicht gefolgt werden kann65. Immer wieder wurde die Suche nach Gerechtigkeit als zentrales Ziel der Rechtsphilosophie angesehen. Gerechtigkeit ist ein wichtiges Anliegen der Rechtsphilosophie. Sie ist der Allgemeinbegriff für die inhaltliche Richtigkeit der rechtlichen Regelungen. Die Rechtsphilosophie könnte jedoch nicht angeben, wie Gerechtigkeit als Recht gedacht werden könne, wenn sie nicht auch Theorie der Rechtswissenschaft wäre; und sie könnte nicht darlegen, was das Besondere der Gerechtigkeit des Rechts ist, wenn sie nicht zuvor einen Begriff des Rechts gebildet hätte. Die Rechtsethik setzt diese Bestimmungen voraus. Würde die Rechtsphilosophie Gerechtigkeit als Zentralkategorie verwenden, wäre Ungerechtigkeit ein blinder Fleck. Sie könnte nicht verstehen, daß und wie ungerecht und dennoch rechtlich gehandelt wird. Da es aber ungerechte Normen gibt, die die Form des Rechts haben, muß die Rechtsphilosophie auch hierfür Kategorien bilden: Das geschieht in der Rechtstheorie. Somit ist die Rechtsethik ein Teilbereich der Rechtsphilosophie, aber nicht die ganze Rechtsphilosophie.
2. Gerechtigkeit und Gemeinwohl als Grundbegriffe der Rechtsethik Die Grundkategorien der inhaltlichen Richtigkeit des Rechts sind seit der Antike Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Im Sinne der Rechtsethik als Reflexion der rechtlichen Richtigkeit geht es dabei um rechtliche Gerechtigkeit und rechtliches Gemeinwohl. Aus der Weite der begrifflichen Möglichkeiten dieser beiden Grundprinzipien wird also dasjenige analysiert, was in die Form des Rechts transformiert wurde. Hier hat sich Gerechtigkeit als Begriff für die das Subjekt mit seinen Interessen erfassenden Regelungen herausgebildet, während Gemeinwohl für die Einheit der subjektiven Interessen mit den Gesamtinteressen steht. Es ist nicht ausgeschlossen, auch das Gemeinwohl als eine Form der Gerechtigkeit zu verstehen. Entscheidend ist jedoch auch bei der Entgegensetzung der Begriffe, daß Gemeinwohl ohne subjektive Gerechtigkeit totalitär wird. Kennzeichnend für entwickelte Rechtsordnungen ist vielmehr, daß beide aus Verfahren hervorgehen. So wie inzwischen die Verfahrensgerechtigkeit anerkannt ist nicht nur als Gerechtigkeit des Verfahrens, sondern vor allem auch als Gerechtigkeit durch Verfahren, ist auch das Gemeinwohl kein rechtsfremder Begriff, der von ihm wie ein zu großer Brocken geschluckt werden müßte, sondern geht auch das allgemeine Wohl aus rechtlichen Verfahren hervor. 64 So aber etwa Friedrich Julius Stahl: „Rechtsphilosophie ist die Wissenschaft des Gerechten“, Stahl 1870, S. 1. 65 Bydlinski 1988, S. 8 f. u. 22 f., 115, der aus der Perspektive seiner normativen Rechtsethik zu Recht auf die traditionell enge Verbindung mit der Naturrechtslehre verweist.
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Die Begriffe von Gemeinwohl und Gerechtigkeit können hier auch nicht annähernd entwickelt werden. Es fällt jedoch auf, daß Gerechtigkeit seit den antiken Sophisten als ein Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit verstanden wurde. Bei diesen war es die Frage, ob es gerecht ist, wenn alle gleich behandelt werden (Antiphon66) oder das Recht des Stärkeren (Kallikles67) und damit seine Freiheit gilt; Ulpian bringt mit seiner bekannten Formel bereits die Idee der gleichen Freiheitssphären zum Ausdruck68. Und noch in der Gegenwart kann der Streit zwischen Liberalisten und Egalitaristen als eine Frage der Bestimmung des richtigen Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit verstanden werden. Bei Ulpian findet sich aber auch noch ein weiteres Kriterium der Gerechtigkeit „honeste vive“. Damit ist nicht irgendein ehrenhaftes Leben gemeint. Hier wird vielmehr die Würde in die Gerechtigkeitsdiskussion eingeführt. Kant hat auf diese Dimension in seiner Ulpian-Interpretation hingewiesen: „1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) bestehet darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‘“69. In der Selbstzwecklichkeit aber liegt die Würde des Menschen begründet. Die Würde des Menschen ist das Kriterium, das innerhalb der Gerechtigkeit das richtige Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit bestimmt. Verschiebt das Recht die Gewichte ganz auf den Schutz der Gleichheit, verletzt es die Würde des Menschen, weil ihm die Möglichkeit der freien Entfaltung seiner Individualität genommen wird; verschiebt es die Gewichte einseitig auf den Schutz der Freiheit, verletzt es die Würde des Menschen, der nicht über die Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs in der modernen Welt verfügt. Gerechtigkeit kann danach bestimmt werden als das menschenwürdige Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Auch die Einheit dieser als subjektiver Rechte geschützten gleichen Freiheitssphären und ihre Integration mit öffentlichen Gütern, nämlich das Gemeinwohl, ist aus dem Recht selbst zu entwickeln. Bei aller Nähe zur naturrechtlichen Tradition70 liegt es dem Recht nicht voraus, sondern geht aus ihm hervor71. Die Realisierung eines Gemeinwohls, das nicht aus demokratischen und pluralistischen Verfahren begründet wird, wäre paternalistisch: Es würde dem Einzelnen etwas gewähren, was vielleicht zu seinem Wohl gereicht, aber nicht von ihm gewollt wird. Auch hier Unruh 2002, S. 59 ff. „Doch die Natur selber offenbart ja, daß es gerecht ist, daß der tüchtigere Mann mehr hat als der weniger tüchtige und der stärkere mehr als der schwächere“, Fr. 1 aus: Platon, Gorgias, nach Capelle 1968, S. 353 f. 68 „Juris praecepta sunt haec: Honeste vivere; alterum non laedere; suum cuique tribuere“, Inst. 1, 1pr., u. Ulpian D 1, 1, 20 pr. 69 Kant: MS, S. 344 70 Vgl. zum Begriff des Gemeinwohls Anderheiden 2006, S. 5 ff. 71 Häberle 1970, S. 101 u. S. 90: „Das Gemeinwohl wird also nicht extra-konstitutionell bestimmt, vielmehr wird es von vornherein von der Verfassung her konkretisiert – es steht ihr nicht etwa gegenüber – und es wird sehr differenziert ermittelt“; Kirste 2002, 327 ff. 66 67
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greifen die rechtlich geordneten Verfahren und bringen als Gemeinwohl das hervor, was eine Gemeinschaft als das für sie relevante Gute ansieht. Die Rechtsethik ist somit der Schlußstein der Rechtsphilosophie. Sie hat den Richtigkeitsanspruch, der in bezug auf rechtliche Regelungen in der Form des Rechts und die Richtigkeit dieser Form selbst zum Gegenstand. In der letzteren Perspektive versteht sie rechtliche Verfahrensnormen zugleich als Realisierung von Rechtssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit und in objektiver Gemeinwohlperspektive als Realisierung von Rechtsstaatlichkeit. Trotz aller Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Begründung von Werten wäre die Rechtsphilosophie ohne sie unvollständig. Der Analyse der Form des Rechts durch die Rechtstheorie muß die Analyse des Inhalts dieser Formen an die Seite gestellt werden, denn auf beides richtet sich das juristische Denken, wie es der Gegenstand der Rechtsphilosophie als Reflexionsdisziplin des Recht ist.
Summary My paper tries to elaborate the thesis that after and insofar the consented core achievements of the natural law tradition have been transformed into positive law, the task of the ethics of law has been reversed. It does not measure positive law against higher-ranking extra-positive norms and brings its morality to the tribunal of an external reason. It analyzes the moral norms transformed into positive law instead, reconstructs its basic principles and points on its inconsistencies and deficits. By the forms of the discourses for the establishment and application of norms, law has more elaborated means of founding norms at hand than philosophical deliberation, since these discourses also provide collective legitimacy. Under the influence of modern constitutions, the content of law has included many demands of the centuries-old natural law debate. Only if positive law does not meet these standards, or if it, as a totalitarian, dictatorial or paternalist legal order, revokes the differentiation of a reflexive system of norms in form and content, the ethics of law, too, becomes a discipline that criticizes positive law from the outside. To position an ethics of law conceptualized in this way in the architecture of the philosophy of law, is one task of this paper. This architecture consists namely first of the theory of jurisprudence as the science of how lawyers and legal scholars think, and of the status of jurisprudence in the interdisciplinary context. The second discipline of the philosophy of law is the analysis of the form of law by legal theory. The third and final discipline is the ethics of law as the investigation of the just content of law. Its basic concept is justice and the common good based on justice. From the philosophical tradition, the meaning of justice has been a balanced relation between freedom and equality, with human dignity as the criterion for the balancing of the two principles.
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Decent Work – rechtsphilosophische Anmerkungen zur Mindestlohndebatte Joachim Renzikowski
I. Einleitung Arbeitsausbeutung ist sittenwidrig. Oft ist sie auch strafbar. Während beim Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB) die Zwangssituation im Vordergrund steht und auch der Lohnwucher (§ 291 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StGB) die Ausnutzung einer Schwächesituation voraussetzt, begnügen sich die §§ 15a Abs. 1 AÜG, 10 Abs. 1 SchwarzarbG mit der – schlichten, auch einvernehmlichen – Beschäftigung zu unangemessenen Arbeitsbedingungen, beschränken ihren Anwendungsbereich jedoch auf ausländische Arbeitnehmer ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis (EU-Ausländer). Für die Sittenwidrigkeit von Arbeitsverträgen nach § 138 BGB kommt es weder auf Staatsangehörigkeit, noch auf Aufenthaltsstatus, noch auf Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit wie beim Wucher an. Immer jedoch muss festgestellt werden, dass die tatsächlichen Verhältnisse von den rechtlich geschuldeten Arbeitsbedingungen nicht nur unerheblich abweichen. Auch wenn die Arbeitsausbeutung ein kontinuierliches Phänomen mit fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Erscheinungsformen ist1, handelt es sich um durchaus unterschiedliche Konstellationen. Extrem ungerechte Ausbeutung wird in der Regel nur mit erheblichen Repressionen durchgesetzt werden können. Jedoch verkürzt man die Problematik der Arbeitsausbeutung, wenn man sich nur auf Phänomene wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft oder Zwangsarbeit2 1 Zur Pyramide der Arbeitsausbeutung s. Norbert Cyrus / Dita Vogel / Katrin de Boer, Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung. Explorative Untersuchung zu Erscheinungsformen, Ursachen und Umfang in ausgewählten Branchen in Berlin und Brandenburg im Auftrag des Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung, Berlin 2010, S. 109 f.; vgl. auch Coster van Voorhout, „Human trafficking for labour exploitation: Interpreting the crime“, Utrecht Law Review 3 (2007), S. 44, 59 ff.; vergleichbar ist die Diskussion zwischen einem „wrongful use“- und einem „disparity of value“-Ansatz in der angloamerikanischen Literatur, s. dazu nur Vanessa E. Munro, „Über Rechte und Rhetorik: Diskurse um Erniedrigung und Ausbeutung im Kontext von Sexhandel. Kritische Justiz 42 (2009), S. 365, 381 ff. 2 Vgl. Art. 3 lit. a des „Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels“ zum UN-„Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“ vom 15. 11. 2000 (sog. „PalermoProtokoll“), Bundesgesetzblatt 2005 II, S. 945; Art. 4 der „Convention on action against traf-
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beschränkt. Denn die Arbeitsausbeutung betrifft durchaus auch einvernehmlich begründete Arbeitsverhältnisse. Für einen Arbeitnehmer kann es gerade einen Marktvorteil darstellen, wenn er seine Arbeitskraft zu Bedingungen anbietet, die unterhalb des üblichen Maßstabs liegen.3 Wenn eine derartige Ausbeutung verdeckt stattfindet, können nicht nur die Auftraggeber, sondern auch die Anbieter von Schwarzarbeit zusätzlich davon profitieren, dass Sozialversicherungsabgaben und Steuern hinterzogen werden. Als wichtigstes und auch am einfachsten handhabbares Kriterium für die Ermittlung unangemessener Arbeitsbedingungen gilt der Arbeitslohn. In der Rechtsprechung hat sich inzwischen weitgehend die Zwei-Drittel-Grenze durchgesetzt: Ein Arbeitslohn ist sittenwidrig, wenn er den üblichen Lohn (s. § 612 BGB), meist den Tariflohn, um ein Drittel und mehr unterschreitet.4 Was aber gilt, wenn auch der Vergleichslohn so niedrig ist, dass er nicht einmal mehr dazu ausreicht, das Existenzminimum zu decken? Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um wenige Einzelfälle. Eine aktuelle Studie für die gewerkschaftsnahe Hans-Boeckler-Stiftung geht für Deutschland von einem Anteil der Personen, die trotz Vollerwerbstätigkeit nicht vor Armut abgesichert sind („working poor“), von 6,9 % aller Arbeitnehmer aus.5 Orientiert man sich an Art. 4 der Europäischen Sozialcharta6, wonach „alle ficking in human beeings“ vom 16. 5. 2005 (Europaratskonvention Nr. 197); Art. 4 EMRK, s. dazu auch EGMR v. 26. 7. 2005 – 73316 / 01 (Siliadin gegen Frankreich), §§ 143 ff. = Neue Juristische Wochenschrift 60 (2007), S. 41 ff. m. Bespr. Walter Frenz, „Verbot der Sklaverei nach dem Urteil Siliadin“, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 24 (2007), S. 734 ff. 3 s. etwa BGHSt 43, S. 53 ff. m. Anm. Klaus Bernsmann, Juristenzeitung 53 (1998), S. 630 ff. und Joachim Renzikowski, Juristische Rundschau 1999, S. 166 ff.: In dem zugrunde liegenden Fall hatte ein Bauunternehmer zwei tschechische Grenzgänger als Maurer zu einem Bruttostundenlohn von 12,70 DM beschäftigt. Der Tariflohn betrug 19,05 DM pro Stunde; seinen deutschen Arbeitnehmern bezahlte der Bauunternehmer 21 DM pro Stunde. Der BGH bewertete die Bezahlung von 1 / 3 unter Tarif als strafbaren Wucher. Für die beiden „Opfer“ gab es jedoch trifftige Gründe für ihre Tätigkeit in Deutschland, erzielten sie doch dadurch ein Monatseinkommen von ca. 2.000 DM, das in der Tschechischen Republik der oberen Mittelklasse entsprach. Durch die Annahme einer sittenwidrigen Ausbeutung wurde den tschechischen Bauarbeitern somit eine – aus ihrer Sicht lukrative – Einnahmequelle versperrt, denn die Vorstellung ist illusorisch, dass sie in Deutschland eine Beschäftigung zum Tariflohn hätten realisieren können. 4 Vgl. BGHSt 43, S. 53, 60; OLG Köln, Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungsreport, 2003, S. 212 f. (jeweils zu § 291 StGB); BAGE 130, S. 338 ff. (zu § 138 BGB); näher dazu Stephan Rixen, „Lohnwucher“, in: Alexander Ignor / Stephan Rixen, Handbuch Arbeitsstrafrecht, 2. Aufl. Stuttgart u. a. 2008, § 8 Rn. 9 f.; über die sog. „1-Euro-Jobs“ sollte man an dieser Stelle nicht zu genau nachdenken. Hier wird die allenfalls symbolische Bezahlung damit gerechtfertigt, dass der besondere Förderungszweck zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt das Austauschverhältnis überlagert, s. Bundestagsdrucksache 15 /1749, S. 32; eingehend dazu Stephan Rixen in: Wolfgang Eicher / Wolfgang Spellbrink (Hrsg.), SGB II – Grundsicherung für Arbeitssuchende, München 2005, § 10 SGB II Rn. 100 ff. 5 Henning Lohmann / Hans-Jürgen Andreß, „Autonomie oder Armut? Zur Sicherung gleicher Chancen materieller Wohlfahrt durch Erwerbsarbeit“, WSI-Mitteilungen 4 / 2011, S. 178 ff.; die Armutsgrenze wird dabei bei entsprechend der Spruchpraxis der Sachverständigenkommission zu Art. 4 Abs. 1 der Europäischen Sozialcharta bei 60 % des Durchschnitts-
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Arbeitnehmer (…) das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt [haben], das ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sichert“, kann die ZweiDrittel-Grenze des Lohnwuchers dann nicht mehr relevant sein, wenn der Arbeitslohn bei Vollbeschäftigung das Existenzminimum verfehlt.7 Vielmehr legt die Sozialcharta einen an der Sicherung des Lebensunterhalts orientierten Mindestlohn nahe.8 Ein Konzept arbeitsrechtlicher Mindeststandards („decent work“), die objektive Maßstäbe der Angemessenheit eines Arbeitsverhältnisses beschreiben, auf die sich eine Gesellschaft geeinigt hat und die vom Willen der Parteien eines Arbeitsvertrages – Arbeitgeber und Arbeitnehmer – absehen, schwebt nicht nur der Europäischen Sozialcharta vor. Seinen schönsten sprachlichen Ausdruck hat diese Vorstellung in Art. 15 der Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und Völker9 gefunden: „Every individual shall have the right to work under equitable and satisfactory conditions, and shall receive equal pay for equal work.“ Arbeit zu Bedingungen der Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und unter Wahrung der Menschenwürde ist demnach ein Menschenrecht. Freilich fehlt bislang ein allgemein konsentierter Katalog von Kriterien, die „decent work“ kennzeichnen, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene.10 Das ändert nichts an seiner Notwendigkeit. Ansätze einkommens angesetzt, vgl. dazu Lenia Samuel, Fundamental social rights – case law of the European Social Charter, 2. Aufl. Straßburg 2002, S. 73 ff. zum Ganzen s. ferner die empirische Untersuchung von Wolfgang Strengmann, Armut trotz Erwerbstätigkeit. Analysen und sozialpolitische Konsequenzen, Frankfurt am Main 2003. Eine Aufzählung von Tarifverträgen mit einem vereinbarten Stundenlohn unter 6 € findet sich in Bundstagsdrucksache 15 / 2932, S. 14 ff. 6 Die Europäische Sozialcharta ist nach dem Gesetz vom 19. 9. 1964 (Bundesgesetzblatt II, S. 1261) und der Bekanntmachung vom 9. 8. 1965 (Bundesgesetzblatt II, S. 1122) für die Bundesrepublik – mit Ausnahme der Art. 4 Abs. 4, 7 Abs. 1, 8 Abs. 2 und 4, 10 Abs. 4 – am 26. 2. 1965 in Kraft getreten. Auch nach der – hier nicht entscheidenden – Revision von 1996 ist sie für Deutschland verbindlich (s. Bundesgesetzblatt 2001 II, S. 496, 970). 7 So Ghazaleh Nassibi, „Das Verbot sittenwidriger Löhne und die Europäische Sozialcharta“, Kritische Justiz 43 (2010), S. 194, 198 ff.; ob der von der Bundesagentur für Arbeit (s. Presse Info 013 v. 3. 3. 2010 unter: www.arbeitsagentur.de/nn_27044/zentraler-Content/Presse meldungen/2010/Presse-10-013.html) angesetzte Grenzwert von 3 € hoch genug ist, darf dabei durchaus bezweifelt werden. 8 So auch Gabriele Peter, Gesetzlicher Mindestlohn – eine Maßnahme gegen Niedriglöhne von Frauen, Baden-Baden 1995, S. 120 ff.; Nassibi, KJ 2010 (Fn. 7), S. 204 f.; Frank Bayreuther, „Gesetzlicher Mindestlohn und sittenwidrige Arbeitsbedingungen“, Neue Juristische Wochenschrift 60 (2007), S. 2022, 2024; anders allerdings BAGE 110, S. 79 ff.; abl. auch Alexandra Franke, Lohnwucher – auch ein arbeitsrechtliches Problem, Berlin 2003, S. 110 ff. mit der Begründung, dass Art. 4 Abs. 1 der Europäischen Sozialcharta nicht die Privatautonomie einschränken wolle, sondern der Herstellung einer gerechten Güterverteilung diene. 9 Näher zur sog. „Banjul-Charta“ Cees Flinterman / Evelyn Ankumah, „The African Charter on Human and Peoples’ Rights“, in: Hurst Hannum (Hrsg.), Guide to International Human Rights Practice, 4. Aufl. Ardsley 2004, S. 171 ff. 10 Zu entsprechenden Ansätzen auf der Ebene der EU vgl. „Report on the EU contribution to the promotion of decent work in the world” vom 2. 7.2008, Kom(2008)412 endg., SEC(2008)
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hierzu sind im deutschen Arbeitsrecht bereits seit langem vorhanden. So sind etwa die Regelungen zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, zum Mutterschutz, zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, zur Sozialversicherung, zu Urlaub und Kündigungsschutz keineswegs – nur – Resultate des freien Spiels der Kräfte am Arbeitsmarkt, sondern der Gesetzgeber hat durch die Festsetzung von Mindeststandards die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber eingeschränkt. Umstritten ist in Deutschland – im Unterschied zu anderen europäischen Staaten – die Frage eines gesetzlichen Mindestlohns. Im Folgenden kann weder eine ausführliche Diskussion des Mindestlohns geleistet, noch soll ein Mindestlohn errechnet werden.11 Es soll aber gezeigt werden, welche Anregungen diese Diskussion aus der Rechtsphilosophie, namentlich der Staatsphilosophie von Fichte gewinnen kann.
II. „Jedermann soll von seiner Arbeit leben können“ Ausgangspunkt ist das in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip. Demnach strebt der Staat soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit an, um allen die Teilnahme an den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu ermöglichen. Daraus folgt weiter die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Rechtsordnung nach sozialen Gesichtspunkten zu gestalten. Infolgedessen hat sich in der Bundesrepublik das Wirtschaftssystem der „Sozialen Marktwirtschaft“ herausgebildet, in der der Staat dem Wirtschaftsleben einen Ordnungsrahmen vorgibt, der für einen sozialen Ausgleich sorgen soll und so das freie Spiel der Kräfte am Markt beschränkt.12 Dabei rechtfertigt das Sozialstaatsprinzip grundsätzlich auch Eingriffe in die Vertragsfreiheit13 und in die durch Art. 9 GG garantierte Tarifautonomie.14 Eine auch heute noch instruktive rechtsphilosophische Grundlegung der Sozialstaatlichkeit findet sich in der Staats- und Gesellschaftsphilosophie von Johann 2184, 2008; s. ferner ILO, 2002; ILO, Decent Work Indicators: Towards better Statistics on Forced Labour and Human Trafficking, 2007 (unter: www.ilo.org). 11 Vgl. dazu Karl-Jürgen Bieback, „Rechtliche Probleme von Mindestlöhnen, insbesondere nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz“, Recht der Arbeit 53 (2000), S. 207 ff.; ders., „Die Gesetzesentwürfe zur Festsetzung von Mindestlöhnen“, in: Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht. Gedächtnisschrift für Ulrich Zachert, Baden-Baden 2010, S. 359 ff.; Bayreuther, NJW 2007 (Fn. 7), S. 2022 ff.; Raimund Waltermann, „Mindestlohn oder Mindesteinkommen?“, Neue Juristische Wochenschrift 63 (2010), S. 801 ff.; ders., „Niedrige Entgelte im Arbeitsverhältnis – Warnsignale des Privatrechts und des Sozialrechts“, in: Festschrift für Eduard Picker, Tübingen 2010, S. 1177 ff.; Rolf Wank, „Gedanken zur Lohngerechtigkeit“, in: GS Zachert, 2010, S. 453 ff. 12 s. dazu näher Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 2. Aufl. Wiesbaden 2005; Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen, 3. Aufl. Wiesbaden 2009. 13 Vgl. BVerfGE 8, S. 274, 329; s. ferner Bieback, RdA 2000 (Fn. 11), S. 207, 209 f. 14 Vgl. BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift 52 (1999), S. 3033, 3034; s. dazu auch Bieback, RdA 2000 (Fn. 12), S. 210 f., 213 f.
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Gottlieb Fichte. Ihm zufolge besteht der Zweck des Staates maßgeblich in der Erhaltung der bürgerlichen Existenz. Im Staatsbürgervertrag, der die Verfassung des Gemeinwesens konstituiert15, versprechen sich die Bürger zunächst die gegenseitige Achtung ihrer Rechtssphären.16 Durch diesen ersten Vertrag über das Eigentum wird jedem Bürger eine Rechtssphäre zugeteilt, die er nach seinen Bedürfnissen nutzen und dabei andere von Einwirkungen ausschließen kann.17 Da im vorgesellschaftlichen Naturzustand „kein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen möglich“ ist, denn dazu bedarf es eines „gemeinen Wesens“ und „positiver Gesetze“18, ist es ein Gebot der Vernunft, dass sich die Individuen zu einem Staat zusammenschließen. Damit steht Fichte ganz in der Tradition der Gesellschaftsvertragstheorien der Aufklärung. Die bürgerliche Gesellschaft dient aber nicht nur der wechselseitigen Garantie der Rechtssphären, sondern verfolgt darüber hinaus ganz handfest den Zweck, das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern. „Das Objekt des gemeinsamen Willens ist die gegenseitige Sicherheit.“19 Wenn aber die Bürger sich ebenfalls wechselseitigen Schutz versprechen20, so geht es um die „absolute Unverletzlichkeit des Leibes“21 – m. a. W.: um das Existenzminimum. Darin überhaupt liegt der Zweck des Staates und der staatlichen Rechtsordnung, nämlich in der Auflösung der die Frage: „Wie können mehrere freie Wesen, als solche beisammen bestehen?“22 Das ist für Fichte so selbstverständlich, dass man darüber nicht verhandeln kann: „Leben zu können ist das absolute unveräußerliche Eigentum aller Menschen.“23 Und an anderer Stelle: „Die Freiheit und absolute Unverletzlichkeit des Leibes jedes Staatsbürgers wird im Staatsbürgervertrage nicht ausdrücklich garantiert, sondern zugleich mit der Persönlichkeit beständig vorausgesetzt. Auf sie gründet sich die ganze Möglichkeit des Vertrages, und alles dessen, worüber man sich verträgt.“24 Falls dieser Zweck, nämlich das allseitige Überleben, von der bürgerlichen Gesellschaft nicht sichergestellt wird, wird die Verpflichtung der Bürger zur wechselseitigen Achtung der Rechtssphären gegenstandslos: „Der Vertrag ist also in Absicht auf [den anderen] völlig aufgehoben, und er ist von diesem Augenblicke an 15 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), Nachdruck auf der Grundlage der 2. von Fritz Medicus herausgegebenen Aufl. von 1922, Hamburg 1979, S. 150 f. 16 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 190, 204 ff. 17 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 204 f.; näher zur Vertragskonzeption Fichtes Bärbel Frischmann, „Fichte über den Rechtsstaat als Sozialstaat“, in: Günter Zöller / Hans Georg von Manz (Hrsg.), Praktische Philosophie in Fichtes Spätwerk, Stuttgart 2006, S. 45, 47 ff. 18 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 147. 19 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 148, Hervorhebung im Original. Ähnlich bereits Thomas Hobbes, De Cive (1642), in: Malmesburiensis Opera quae latine scripsit omnia, in unum corpus nunc primum collecta studio et labore Gulielmi Molesworth, Vol. II, London, 1839, cap. I.14, V. 20 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 191 f. 21 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 240. 22 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 247, ferner S. 85 und 92. 23 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 206. 24 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 240.
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nicht mehr rechtlich verbunden, irgendeines Menschen Eigentum anzuerkennen.“25 Anders als bei Hobbes verliert nicht nur der Staat, der den Bürger nicht schützen kann, seinen Anspruch auf Rechtsgehorsam26, sondern auch die Mitbürger können nicht mehr erwarten, dass ihre Rechte beachtet werden. Ein derartiger rechtloser Zustand muss schon aus Vernunftgründen unbedingt vermieden werden. Daher gehört die Erhaltung der Bürger zu den zentralen Staatsaufgaben. Zu ihrer Erfüllung muss jeder Bürger seinen Beitrag leisten.27 Wenn ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft in Not gerät, kann es sich gleichwohl nicht ohne weiteres an die staatliche Fürsorge wenden. Vielmehr hat „keiner (…) eher rechtlichen Anspruch auf die Hilfe des Staats, bis er nachgewiesen, daß er in seiner Sphäre alles mögliche getan, um sich zu erhalten, und daß es ihm dennoch nicht möglich gewesen“.28 Staatliche Unterstützung ist subsidiär; für die eigene Erhaltung ist jeder primär selbst zuständig. Das Mittel zur Selbsterhaltung ist Arbeit. Die Gesellschaft kann nun von jedem erwarten, dass er durch Arbeit für sich selbst sorgt. Zugleich aber muss sie diese Möglichkeit sicherstellen. „Es ist Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können.“29 Daher haben sich alle Mitglieder der Gesellschaft im Bürgervertrag wechselseitig versprochen, „daß ihre Arbeit wirklich das Mittel zur Erreichung dieses Zweckes sein soll: und der Staat muß dafür Anstalten treffen“.30 Die Gesellschaft muss also dafür Sorge tragen, dass jeder arbeiten und von seiner Arbeit leben kann, m. a. W.: Es muss genügend Beschäftigungsmöglichkeiten zu einem angemessenen Einkommen geben. Daraus folgt aber „notwendig auch das Recht der Aufsicht, ob jeder in seiner Sphäre soviel arbeite, als zum Leben nötig ist“.31 Der Sozialstaat Fichtes ist demnach durch eine Dreiecksbeziehung gekennzeichnet: Jeder hat gegenüber dem Staat einen Anspruch auf Schutz, jeder muss dazu auch einen Beitrag leisten.32 Jeder hat aber auch seinen Mitbürgern Beistand versprochen. Auf diesen Beistand hat er einen unmittelbaren Anspruch. Der Staat, den sich Fichte vorstellt, ist kein liberaler Nachtwächterstaat unverbunden nebeneinander bestehender Individuen, sondern ein genossenschaftlicher Staat, zu dessen Kon25 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 207. Darauf beruht auch seine berühmte „Exemtionstheorie“ (S. 247): Da im Fall des „Bretts des Karneades“ das allseitige Überleben nicht mehr rechtlich gewährleistet werden kann, gibt es für das Recht nichts (mehr) zu regeln. 26 Hobbes, De Cive (Fn. 19), cap. VI.3.; ders., Leviathan or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill. London, 1651, Chap. XX, S. 156 f. 27 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 198, 209. 28 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 208. 29 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 206. 30 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 206 f. 31 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 208. 32 Und zwar durch eigene Arbeit sowie durch Abgaben an den Staat, damit die staatlichen Behörden ihre Aufgaben erfüllen können, s. Fichte, „Das System der Rechtslehre“ (1812), in: Johann Gottlieb Fichte’s nachgelassene Werke, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 2, Bonn 1834, S. 493, 534.
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stitutionsbedingungen die wechselseitige Solidarität gehört. Jetzt wird auch der „Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung“ klar: Im „vernunftgemäßen“ Sozialstaat Fichtes soll kein Armer sein.33 Ein Recht auf Faulheit ist für Fichte ausgeschlossen, denn es würde dem Staatsvertrag zuwiderlaufen, in dem sich die Bürger gegenseitig versprechen, zu arbeiten, um zu leben. Die Staatsgewalt hat die „Oberaufsicht“ über den Vertrag und die „Gewalt, jeden zur Erfüllung desselben zu nötigen“.34 „Arbeit also wird Rechtsverbindlichkeit.“35 Wer als Arbeitsfähiger nicht arbeitet, setzt damit seinen Status als Bürger aufs Spiel. Er fällt unter das Strafrecht und kann zwangsweise gebessert werden.36 „Auch kein Müßiggänger [soll] in einem vernunftmäßigen Staate sein.“37 Das gilt sogar für diejenigen, die allein von ihrem Vermögen leben könnten, denn sie profitieren letztlich von der Arbeit anderer. „Dies ist schlechthin keines Menschen Recht, sondern eine unverschämte Forderung.“38 . Denn sie wegen ihres Wohlstandes nicht arbeiten müssten, . Ein bedingungsloses Grundeinkommen für arbeitsfähige Personen39 käme für Fichte daher nicht in Betracht. Gleichwohl ist Arbeit zur Selbsterhaltung für Fichte noch nicht der Endzweck. Selbsterhaltung ist nur die Basis für die Freiheit zur Verfolgung darüber von jedem Bürger „frei zu entwerfender Zwecke“, insbesondere „für freie Bildung und Bildung zur Sittlichkeit“.40 Zur Sicherung dieser Freiheit wird überhaupt erst der ganze Rechtsvertrag errichtet. Eine Gesellschaft, die die Selbstverwirklichung ihrer Bürger nicht fördert, ist „keine Rechtsverfassung, sondern eine bloße Zwangsanstalt“.41 Der Sozialstaat muss also jedem nicht nur die nackte Existenz, sondern die Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen.42 Es ist reizvoll, Fichtes Überlegungen mit der deutschen Rechtslage zu vergleichen. Die Förderung der Arbeit ist eine Staatsaufgabe (s. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG); die Bundesagentur für Arbeit kümmert sich durch vielfältige Maßnahmen von Arbeitsvermittlung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Aus- und Weiterbildungsangebote darum, dass Arbeitslose wieder in Arbeit kommen. Einen Arbeitszwang gibt es allerdings nur mittelbar. Anspruch auf Arbeitslosengeld II („Hartz IV“ bzw. die frühere Sozialhilfe) nach §§ 20 ff. SGB II zur Ermöglichung eines menschenFichte, GNR (Fn. 15), S. 208. Fichte, GNR (Fn. 15), S. 209. 35 Fichte, SR (Fn. 32), S. 532. 36 Zum „Abbüßungsvertrag“ s. Fichte, GNR (Fn. 15), S. 255 ff. 37 Fichte, GNR (Fn. 15) S. 208. Ähnlich Hobbes, Leviathan (Fn. 26), Chap. XXX, S. 267: Für die Bedürftigen gibt es die staatliche Armenfürsorge, die Leistungsfähigen „are to be forced to work“. Damit es keine Ausflüchte gibt, sieht Hobbes ebenfalls Maßnahmen zur Arbeitsförderung vor. 38 Fichte, SR (Fn. 32), S. 553. 39 So etwa die Überlegung seines Zeitgenossen Thomas Paine (1737 – 1809), „Agrarian Justice“, in: Collected Writings, New York 1955, S. 395 ff. 40 Fichte, SR (Fn. 32), S. 535, ferner S. 544. 41 Fichte, SR (Fn. 32), S. 536. 42 Vgl. auch BVerfGE 82, 60, 85 zum „soziokulturellen Existenzminimum“. 33 34
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würdigen Lebens43 haben arbeitsfähige Bedürftige (§§ 8, 9 SGB II), wenn sie trotz aller Anstrengungen keine zumutbare Arbeit gefunden haben. Nach § 10 Abs. 1 SGB II ist allerdings grundsätzlich „jede Arbeit zumutbar“, es sei denn, dass die betroffene Person nicht dazu in der Lage ist (Nr. 1) oder dass der Ausübung „ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht“ (Nr. 5). Unbeachtlich sind nach Abs. 2 das Fehlen einer entsprechenden Ausbildung sowie Lohneinbußen und schlechtere Arbeitsbedingungen im Verhältnis zu früheren Beschäftigungen. Als „sonstige Gründe der Unzumutbarkeit“ gelten etwa Lohnwucher, Missachtung des öffentlichrechtlichen Arbeitsschutzrechts, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder die Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns nach § 1 Abs. 3a Arbeitnehmer-Entsendegesetz.44 Wer sich obliegenheitswidrig nicht um zumutbare Arbeit kümmert oder eine Arbeitsstelle leichtfertig aufgibt, muss nach §§ 31, 31a SGB II mit erheblichen Leistungskürzungen rechnen, so dass das Einkommen bis unter das Existenzsicherungsniveau absinken kann. Demgegenüber beruht bei Fichte die Arbeitspflicht als erzwingbare Rechtspflicht auf dem wechselseitigen Versprechen der Gesellschaftsmitglieder im Staatsbürgervertrag. Der Einzelne schuldet somit seine Arbeitsleistung nicht nur einem Arbeitgeber, sondern auch der Gesellschaft selbst, die als Gegenleistung seine Erhaltung sicherstellen muss. Die Effekte der Hartz IV-Gesetzgebung sind ambivalent. Kritisiert wird eine Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen, da der Sanktionsdruck Arbeitslose dazu zwinge, jegliche Arbeit anzunehmen. Damit wächst auch die Erwerbsarmut.45 Auf diese Weise verschiebt sich die soziale Problematik: Hungerlöhne kommen die Gesellschaft deshalb später teuer zu stehen, weil sie auch nur „Hungerrenten“ zur Folge haben. Freilich: Soweit das sozialhilferechtliche Existenzminimum durch den Arbeitslohn nicht erreicht wird, wird es durch staatliche Zusatzleistungen (sog. „Aufstocker“) sichergestellt. Im Endeffekt kommt auf diese Weise ein Mindesteinkommen zustande. In diese Richtung sorgt auch bei Fichte der Eigentumsvertrag vor. „Jeder von allen verspricht, alles im mögliche zu tun, um durch die ihm zugestandenen Freiheiten und Gerechtsame leben zu können; dagegen verspricht die Gemeine, im Namen aller Einzelnen, ihm mehr abzutreten, wenn er dennoch nicht sollte leben können.“ Dazu „wird eine Unterstützungsanstalt sogleich im Bürgervertrage mit getroffen“.46 Eine staatliche Subvention hat indes einen entscheidenden Gerechtigkeitsnachteil: Sie vermittelt dem Empfänger nicht die Anerkennung einer Arbeitsleistung, sondern nur seiner Bedürftigkeit; sie bewirkt keine Äquivalenz der Gegenleistung, sondern ist ein Almosen aus Wohltätigkeit.47 Für Fichte gilt diese Überlegung jeBVerfGE 125, 175 ff. s. Rixen, in: Eicher / Spellbrink (Fn. 4), § 10 SGB II Rn. 70, 74 f., 84 ff., 90 ff. 45 Vgl. Henning Lohmann / Hans-Jürgen Andreß, WSI-Mitteilungen 4 / 2011 (Fn. 5), S. 184 ff.; verfassungsrechtliche Kritik üben Dominik Richers / Matthias Köpp, „Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen“, DÖV 2010, S. 997 ff. 46 Fichte, GNR (Fn. 15), S. 209. 43 44
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doch nicht, weil die staatliche Unterstützung die Gegenleistung der nach dem Staatsbürgervertrag – auch – für die Gemeinschaft erbrachten Arbeit darstellt. Demgegenüber könnte man sogar noch weiter gehen: Wer arbeitet, trägt damit zur Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands bei. Er müsste daher mehr erhalten als der Bedürftige zur Sicherung seines Existenzminimums.48 In diesem Sinn hat das Arbeitsgericht Bremen in einer bemerkenswerten Entscheidung aus dem Jahr 2000 für Vollzeittätigkeit aus § 22 Abs. 3 BSHG a.F. (heute: § 28 Abs. 4 SGB XII) ein Lohnabstandsgebot in Höhe von 20 % i. S. eines Mindestüberschreitungsgebots gegenüber der Sozialhilfe einschließlich der Freibeträge für Erwerbstätige abgeleitet: „Das BSHG … enthält … eine Wertung des Gesetzgebers, dass Löhne über dem Niveau der Sozialhilfe liegen müssen.“49 Gesetzliche Mindestlöhne würden zudem in mehrfacher Hinsicht zur Prävention vor Arbeitsausbeutung beitragen: – Arbeitsausbeutung findet vor allem im Niedriglohnsektor statt. Dort gibt es für viele Arbeitsfelder keine allgemein verbindlichen Lohnvorgaben. Das erschwert es zudem der Rechtspraxis, im konkreten Fall den Vergleichsmaßstab für die Unangemessenheit der Arbeitsbedingungen gem. § 233 StGB festzustellen. Umgekehrt sinken die Chancen für die Opfer von Arbeitsausbeutung, den ausstehenden Arbeitslohn einzuklagen. – Wer durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann, ist weniger anfällig für Arbeitsausbeutung. – Für Arbeitgeber wird Rechtsklarheit geschaffen. Eine Absenkung des üblichen Lohnniveaus ist nach den bisherigen Erfahrungen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen nicht zu erwarten. Im Übrigen wird eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auch von der ILO empfohlen, damit sichergestellt wird, dass ausländische Arbeitnehmer zu denselben Bedingungen beschäftigt werden wie Inländer.50 Angesichts der neu gewonnenen Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten werden derartige Forderungen inzwischen auch von Unternehmerseite erhoben, um die Gefahr von Lohndumping abzuwenden. Dahinter verbirgt sich die 47 s. Bieback, RdA 2000 (Fn. 11), S. 210; Gabriele Peter, „Rechtsschutz für ‚Niedriglöhner‘ durch Mindestlohn“, Arbeit und Recht 47 (1999), S. 289, 295 f. 48 Diesen Zweck verfolgen auch die Anrechnungsvorschriften der §§ 11, 11 b Abs. 3 SGB II, die bestimmte Freibeträge für Erwerbseinkommen vorsehen. Dadurch soll für „Aufstocker“ ein Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gesetzt werden. 49 ArbG Bremen, Der Betrieb 53 (2000), S. 2278; für einen von der Verfassung vorgegebenen Mindestwert der Arbeitsleistung bei Vollzeittätigkeit auch SG Berlin, Arbeit und Recht 2007, S. 54 f.; zust. Nassibi, KJ 2010 (Fn. 7), S. 199; scharfe Kritik von Hans-Walter Forkel, „Ein gesetzlicher Mindestlohn ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar“, Zeitschrift für Rechtspolitik 43 (2010), S. 115 ff. 50 Vgl. Norbert Cyrus, Menschenhandel und Arbeitsausbeutung in Deutschland, Genf 2005, S. 80.
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Absicherung des deutschen Arbeitsmarktes und seiner arbeitsrechtlichen und sozialen Standards – eine Überlegung, die auch Fichte gefallen hätte.51
III. Einwände Der Haupteinwand gegen einen Mindestlohn besteht darin, dass Arbeitsentgelte, die über dem „Marktpreis“ für die entsprechende Arbeitsleistung liegen, letztlich zu kontraproduktiven Verwerfungen führen, so dass die entsprechende Arbeit nicht mehr nachgefragt wird und damit Arbeitsplätze verloren gehen. Diese ökonomische Erwägung knüpft ebenfalls an eine Gerechtigkeitsvorstellung an: die bereits von Aristoteles ausgearbeitete „ausgleichende Gerechtigkeit“.52 Ihr zufolge ist derjenige Leistungsausgleich gerecht, der in einem freiwilligen Tauschgeschäft zustande kommt, in dem Leistung und Gegenleistung gleichwertig sind. Als Instrument zur Verwirklichung der Austauschgerechtigkeit, wenn man von der schlichten Naturalrestitution absieht, fungiert Geld. Der Geldwert eines Gutes wird durch die Bedürfnisse, d.h. durch die Marktgesetze von Angebot und Nachfrage bestimmt. In der Idealvorstellung sorgt ein freier, von Einwirkungen von Außen nicht unbeeinflusster Markt für einen gerechten Preis. Mindestlöhne wären demnach ungerecht, weil sie von Außen oktroyiert und so gerade nicht vom freien Arbeitsmarkt nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage gebildet werden.53 Dieser Einwand erfasst nicht branchenspezifische Mindestlöhne, die von den Tarifparteien vereinbart und nach §§ 5 TVG, 1 Abs. 3a AEntG für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.54 Immerhin beruht die Lohnfestsetzung hier auf einer Einigung der nach Art 9 Abs 1 GG primär Zuständigen, was einer staatlichen Regelung grundsätzlich vorzuziehen ist.55 Gleichwohl können Tarifverträge einen Ar51 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Der geschloßne Handelsstaat: Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre, und Probe einer künftig zu liefernden Politik, Tübingen 1800. 52 Einen Überblick über die ökonomische Diskussion von Mindestlöhnen gibt Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Widerstreitende Interessen – Ungenutzte Chancen, Jahresgutachten 2006 / 7, Wiesbaden 2007, S. 401 ff.; dort werden Mindestlöhne allerdings abgelehnt; s. ferner Daniel Nemrich, Mindestlohn – eine kritische Einordnung, Frankfurt am Main, 2009. 53 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch, 1133a f. 54 Zum 1. 4. 2011 gelten Mindestlöhne nach dem AEntG im Baugewerbe, im Elektrohandwerk, für Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, im Maler- und Lackierhandwerk, im Dachdeckerhandwerk, in der Gebäudereinigung, in der Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst sowie in der Altenpflege und häuslichen Krankenpflege. Das aktuelle Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge findet sich unter: www.bmas.de/portal/38140/arbeitsrecht_verzeichnis_allgemeinverbindlicher_tarif vertraege.html. 55 In diese Richtung auch Art. 4 Abs. 3 der ILO Konvention Nr. 131 („Minimum Wage Fixing Convention“) vom 22. 6. 1970. Matthias G. Fischer, „Gesetzlicher Mindestlohn – Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit?“, Zeitschrift für Rechtspolitik 40 (2007), S. 20 ff. hält ausschließlich tarifvertragliche Mindestlöhne für verfassungskonform.
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beitslohn festlegen, der nicht mehr zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht. In vielen für Arbeitsausbeutung besonders anfälligen Bereichen des Niedriglohnsektors gibt es weder Tarifverträge, noch Tarifvertragsparteien. Hier wäre dann ein Eingreifen des Gesetzgebers notwendig, der sich zur Regelung eines existenzsichernden Mindestlohns etwa auf § 1 Abs. 2 Nr. 2 lit. c des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen stützen könnte. Schließlich hat der Gesetzgeber auch andere Arbeitsbedingungen wie etwa Arbeitsplatzsicherheit, Kündigungsschutz oder Urlaub normiert und nicht lediglich der Selbstregulierung des Marktes überlassen. Interessanterweise kennen 20 der 27 EU-Mitgliedstaaten gesetzliche Mindestlöhne.56 Ob und inwieweit in diesen Ländern die befürchteten negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt eingetreten sind, ist ebenso umstritten wie die empirische Basis für die ökonomische Kritik an gesetzlichen Mindestlöhnen überhaupt.57 Das mag auch daran liegen, dass sich die Bedingungen für Marktgerechtigkeit in der Lebenswirklichkeit kaum auffinden lassen: Der ideale Markt setzt gleichberechtigte und faktisch gleich mächtige Vertragspartner voraus, weil nur dann davon ausgegangen werden kann, dass ein fairer Preis durch faire Verhandlungen zustande kommt. Im Niedriglohnbereich fehlt es aber an einem Marktgleichgewicht, weil die potentiellen Arbeitnehmer aufgrund der „Hartz IV“-Gesetzgebung mittelbar gezwungen sind, auch sehr schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, wenn sie die Leistungskürzungen nach §§ 31, 31a SGB II vermeiden wollen. Dadurch wird das Prinzip von Angebot und Nachfrage außer Kraft gesetzt. Die Alternative zu einem Mindestlohn, den der Arbeitgeber bezahlen muss, besteht in einer staatlichen Lohnsubvention (z. B. für „Aufstocker“). Aber derartige Kombilohnmodelle führen ebenfalls zu Marktverzerrungen, denn es ist letztlich vor allem der Unternehmer, der von den Lohnsubventionen profitiert. Da seine Arbeitskosten gesenkt werden, kann er seine Waren und Dienstleistungen günstiger anbieten. Kombilohnmodelle sind also primär Subventionen für Unternehmer und keineswegs – nur – soziale Wohltaten des Staates, die in Zeiten knapper Kassen zur Disposition gestellt werden. Sie begünstigen zudem die Ausbreitung von prekären Arbeitsverhältnissen. Ferner kann sich eine unheilige Allianz zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber entwickeln, in der auch der Arbeitnehmer ein Interesse an 56 Ausnahmen sind neben Deutschland Dänemark, Finnland, Italien, Österreich, Schweden und Zypern, s. Gregor Thüsing, in: Gregor Thüsing / Frank Bayreuther (Hrsg.), Arbeitnehmerentsendegesetz, München 2010, Einl. Rn. 55 ff. m. w. N.; mit Ausnahme von Zypern liegt die Tarifbindung in diesen Ländern bei über 90 %, s. Danielle Venn, „Legislation, Collective bargaining and enforcement: Updating the OECD employment protection indicators“, In: Social, Employment and Migration Working Papers 89. OECD 2009, S. 16 ff. 57 Eine vergleichende Untersuchung der Auswirkungen von Mindestlöhnen findet sich bei François Eyraud / Catherine Saget, The Fundamentals of Minimum Wage Fixing, Genf 2005; die Untersuchung von Arindrajit Dube / T. William Lester / Michael Reich, „Minimum Wage Effects Across State Borders: Estimates using contiguous counties“, The Review of Economics and Statistics, 92 (2010), S. 945 ff. hat keine negative Effekte auf den Arbeitsmarkt der USA festgestellt.
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einer geringen Bezahlung hat: Er erhält staatliche Zuzahlungen für eine Arbeit ohne jegliche Leistungsanreize, bei der eine echte Vollzeitbeschäftigung nur vorgetäuscht wird. Nochmals soll an den „Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung“ erinnert werden: „Jedermann soll von seiner Arbeit leben können.“58 Das schließt eine ungleiche Einkommensverteilung nicht aus, insbesondere wenn sie auf persönlicher Leistung beruht. Eine Gesellschaft aber, in der einige hohe sechs- oder siebenstellige Gehälter verdienen, während viele andere trotz Vollbeschäftigung staatliche Unterstützung benötigen, um wenigstens das sozialrechtliche Existenzminimum zu erreichen, hat ein massives Gerechtigkeitsproblem. Ein derartiges Wohlstandsgefälle ist auch rechtlich nicht legitimierbar, denn „von dem Augenblick an, da jemand Not leidet, gehört keinem derjenige Teil seines Eigentums mehr an, der als Beitrag gefordert wird, um einen aus der Not zu reißen, sondern er gehört rechtlich dem Notleidenden an. Es müßten für eine solche Repartition gleich im Bürgervertrage Anstalten getroffen werden“.59 Vielleicht sollten Ökonomen nicht mehr – nur – nach den Kosten von Mindestlöhnen fragen, sondern danach, wie viel Ungerechtigkeit sich eine Gesellschaft leisten kann
Summary In the discussion about decent work and minimum wages, a look into Johann Gottlieb Fichte’s philosophy of the state may help. For Fichte, every rational constitution is based upon the principle that each member of the society shall be able to live from his labour, and the state has the duty to set the necessary conditions – as it is laid down in article 15 of the African Charter on Human and People’s Rights: “Every individual shall have the right to work under equitable and satisfactory conditions.” Fichte’s reasoning of justice is not the imagination of a free market which creates commutative justice but of a corporately organized welfare state in which no labour exploitation may take place.
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Fichte, GNR (Fn. 15), S. 206. Fichte, GNR (Fn. 15), S. 207.
Anwendungsprobleme Politischer Ethik – Problems in Applying Political Ethics
Im Schatten der Öffentlichkeit Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt Karlfriedrich Herb, Kathrin Morgenstern und Magdalena Scherl
Einleitung: Die republikanische Differenz Der Republikanismus lebt. Im politischen Denken der Gegenwart hat er sich neben Liberalismus und Kommunitarismus als eigenständiges Deutungsmuster für die postmoderne Demokratie etabliert. Wer angesichts der postdemokratischen Gefährdungspotenziale nach starker Demokratie und bürgerlicher Teilhabe ruft, kann aus dem reichen Arsenal der republikanischen Tradition schöpfen. So aktuell und deutungsmächtig das republikanische Paradigma, so vielfältig und vielschichtig seine Profilierung. Sein Grundprinzip, der Vorrang der res publica vor allen besonderen Interessen, hat in der Geschichte zu unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Konfigurationen bester republikanischer Herrschaft geführt. Direkte Demokratie und politische Repräsentation, Mischverfassung und Räterepublik, Revolution und Reform, Dezision und Deliberation, bürgerliche Tugend und aufgeklärtes Selbstinteresse – sie alle lassen sich aus dem Repertoire republikanischer Argumente mühelos herleiten. Das Grundprinzip des Republikanismus ist für seine Anhänger allerdings keinesfalls verhandelbar. Der Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen gilt als unverrückbar. Er ist konstitutiv für die Begründungslogik des Republikanismus. Was das Gemeinwesen zu leisten hat und was seine Bürger wollen, dürfen und sollen, bestimmt sich von diesem Allgemeinen her, nicht aus den besonderen Interessen, Rechten und Pflichten der Individuen. Die Konkurrenz zum Liberalismus ist mit dieser Logik a priori gegeben. Tatsächlich bestimmt sich das Politische im Republikanismus wesentlich über den Begriff der Öffentlichkeit. Privatheit wird dagegen erst im Horizont des Öffentlichen bestimmbar. Die Rede vom Licht der Öffentlichkeit ist für den Republikanismus sprichwörtlich und sinnstiftend geworden: Im Licht der Öffentlichkeit entdeckt sich der Mensch als Bürger. Seine besondere, individuelle Existenz steht dagegen im Schatten der Öffentlichkeit: Sie ist im Dunkeln des Privaten zu Hause. Die Metaphorik von Licht und Schatten prägt den republikanischen Diskurs über Öffentlichkeit und Privatheit. In dieser Bilderwelt bewegen sich auch die Werke von Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt. Beide sind die Protagonisten unserer ideengeschichtlichen Spurensuche nach dem Privaten.
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Karlfriedrich Herb, Kathrin Morgenstern und Magdalena Scherl
Rousseau und Arendt rechnen sich selbst zur Tradition des Republikanismus und werden auch von ihren Lesern so verstanden. Ihre Republikideale speisen sich aus unterschiedlichen Quellen und Traditionen. Der eine stellt den modernen Kontraktualismus in den Dienst einer Theorie republikanischer Herrschaft, die andere modernisiert die aristotelische Polis- und Handlungstheorie für die Rehabilitierung des politischen Denkens. Trotz der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Tradition: Die tiefgreifenden Differenzen zwischen beiden Republikanern stellt die Elastizität des republikanischen Paradigmas auf eine Zerreißprobe. Es ist bekannt, dass Hannah Arendt dem Werk Rousseaus in ihrer intellektuellen Biographie nur eine Nebenrolle gönnt. Zu groß ist ihr Argwohn gegenüber Rousseaus politischem Denken. In der Intimität ihres Denktagebuchs stellt sie es ohne großes Federlesen in die Tradition des Totalitarismus, und Rousseau als Autor in eine Riege mit Mördern und Henkern. Rousseaus republikanische souverainété une et indivisible widerspricht Arendts Vision des Politischen in fast jeder Hinsicht. Doch bei aller Kritik und Polemik: Gänzlich vermag Arendt sich dem Zauber Rousseaus offensichtlich nicht zu entziehen. Wie aus heiterem Himmel rühmt sie in der Vita activa ihren Kontrahenten als „Entdecker […] des Intimen“ (VA: 49). In Anlehnung an Rousseau bringt sie damit ein spezifisch modernes Moment in den republikanischen Diskurs. Der Begriff der Intimität wird in unserer Rekonstruktion des Dialogs zwischen Rousseau und Arendt eine späte Hauptrolle spielen: als Grenzbegriff republikanischen Denkens. Er kommt ins Spiel, wenn Öffentlichkeit und Privatheit gleichermaßen ihr eigenes Profil verloren haben. Dass Arendt gerade Rousseau zum Stichwortgeber ihrer radikalen Zeitkritik macht, überrascht nur auf den ersten Blick. Wie sich zeigen wird, teilt sie Rousseaus republikanische Verzweiflung an der Moderne und entpuppt sich damit wie Rousseau selbst als Moderne mit antiker Seele. In diesem Sinne wäre auch ihrem Republikanismus die imitation des anciens eingeschrieben. Wie gebannt blickt der Republikanismus seit seinen Anfängen auf die Sphäre des Öffentlichen. Hier erkennt er den exklusiven Bereich des Politischen. Privatheit hat dagegen im republikanischen Diskurs einen schweren theoretischen Stand. In Rousseaus Gesellschaftsvertrag führt sie geradezu ein Schattendasein. Rousseau setzt den Fokus so sehr auf die Sphäre der politischen Öffentlichkeit und ihren Hauptakteur, den citoyen, dass für die Frage nach dem Privaten und dem Privatmenschen kaum Raum bleibt. Wie es um Privatheit innerhalb der Republik bestellt ist, erschließt sich erst aus den kulturkritischen, pädagogischen und literarischen Werken Rousseaus. Kein Wunder also, dass Rousseaus „politisches“ Desinteresse am Privaten auf den Argwohn der liberalen Kritiker stößt: Schon Benjamin Constant suchte bei Rousseau vergebens nach einer garantie de l’obscurité, die dem Anspruch des modernen Bürgers auf privates Leben Rechnung trüge. Und mancher Kommentator des zwanzigsten Jahrhunderts sah in Rousseau geradezu einen Zerstörer der Privatheit – und darin auch einen Vordenker des Totalitarismus. In einen solchen Verdacht kann Arendt selbstverständlich nicht geraten. Doch gilt auch für ihren Begriff des Privaten, dass er sich – getreu dem republikanischen Begründungsmuster – erst aus
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ihrem Begriff des Öffentlichen verstehen lässt. Wie bei Rousseau muss sich bei ihr die Spurensuche nach dem Privaten zwangsläufig am Öffentlichen orientieren: die Archäologie des Privaten beginnt mit dem Begriff der Öffentlichkeit. Die Art und Weise, wie das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit derart bestimmt und insbesondere die Grenzlinie zwischen beiden Sphären gezogen wird, nennen wir im Folgenden die republikanische Differenz. Dieser Differenz gehen wir im ersten Teil (I.) unserer Überlegungen nach: auf der Suche nach Kategorien, aus denen sich Eigentümlichkeit, Umfang und Legitimität des Privaten und Öffentlichen bestimmen lassen. Sie führt uns zum Gegensatz von Erscheinung und Verborgenheit, von Männlichkeit und Weiblichkeit. So wenig Rousseau im Gesellschaftsvertrag an der Verborgenheit des Privaten interessiert ist, so gleichgültig scheint Arendt in der Vita activa die Frage der Geschlechterordnung. Wie sich der jeweilige theoretische blinde Fleck bei beiden ausleuchten lässt, untersuchen wir im zweiten Teil (II.). Dabei wollen wir klären, woraus sich Rousseaus Sehnsucht nach Transparenz speist und Arendts Unwille, die Grenzen des politischen Raums zu öffnen und damit den oikos zu sprengen. Der dritte Teil (III.) widmet sich dem Versuch beider Autoren, die republikanische Gleichung von Privatheit und Privation zu überwinden. Es geht, mit anderen Worten, um die Frage nach dem Wert des Privaten im republikanischen Diskurs. Der letzte, vierte Teil (IV.) nimmt Arendts Vorschlag beim Wort, Rousseau als Entdecker des Intimen zu lesen und stellt auch sie selbst als Theoretikerin des Intimen vor. Mit dem Übergang vom Privaten zum Intimen erweitern beide den klassischen Republikanismus um eine neue Perspektive und zeigen seine Grenze auf.
I. Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit 1. Arendt: Verborgenheit vs. Erscheinung Hannah Arendt wird im politischen Denken des 20. Jahrhunderts als Neoaristotelikerin bezeichnet – nicht ganz zu unrecht. Die republikanische Differenz interpretiert sie auf klassisch-aristotelische Weise: Die Unterscheidung und Zuordnung des öffentlichen und des privaten Raumes beruht auf einer klaren ontologischen Bestimmung. Beide Bereiche werden als sachlich verschieden und räumlich strikt getrennt verstanden. Jeder besitzt seine eigene Logik und wird durch die ihm eigenen Aktivitäten strukturiert. Welche Tätigkeiten dem öffentlichen und welche dem privaten Raum zuzuordnen sind, erklärt sich aus der Sache selbst: „Die elementarste Bedeutung dieser beiden Bereiche besagt, daß es Dinge gibt, die ein Recht auf Verborgenheit haben, und andere, die nur, wenn sie öffentlich zur Schau gestellt werden, gedeihen können. Denkt man diesen Phänomenen nach, […] so erweist sich bald, daß jeder menschlichen Betätigung etwas innezuwohnen scheint, das darauf hinweist, daß sie nicht gleichsam in der Luft schwebt, sondern einen ihr zugehörigen Ort in der Welt hat.“ (VA: 89 f.)
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Noch detaillierter tritt die ontologische Bestimmtheit hier hervor: „[…] zeigt sich doch deutlich, […] wie sehr der Sinn menschlichen Tätigseins von dem Ort abhängt, an dem es sich vollzieht. Es zeigt sich mit anderen Worten, daß die uns historisch überlieferten Übereinkommen politischer Gemeinschaften über den Ort bestimmter Tätigkeiten und darüber, welche es verdienen, öffentlich zur Schau gestellt zu werden, und welche der Verborgenheit in einem privaten Bereich bedürfen, weder willkürlich noch lediglich historischen Umständen geschuldet sind, sondern in der Natur der Sache selbst liegen.“ (VA: 96)
Die Unbestimmtheit, die dagegen allem menschlichen Handeln zu eigen ist, veranlasst Arendt dazu, ein zweites inhaltliches Moment der Differenz in die Republik einzuführen. Durch Handeln im öffentlichen Raum macht sich der Einzelne zu einem differenten Wesen. Er erwirbt persönliche Identität und eine irdische Art von Unsterblichkeit1. Statt Mortalität wird Natalität zur anthropologischen Grundkonstante bei Hannah Arendt: Als Handelnder erlebt der Mensch eine „zweite Geburt“ (VA: 215) jenseits des konkreten, körperlichen Geburtsaktes; er entfaltet dadurch seine Identität und übernimmt gemeinsam mit seinen Mithandelnden die Verantwortung für den Fortbestand der gemeinsamen Welt: „Das alltägliche In-der-Welt-Sein ist nicht mehr die Bedingtheit der Uneigentlichkeit, in die das Dasein geworfen ist, sondern wird nun statt dessen zum ‚Erscheinungsraum‘, in den wir als handelnde und sprechende Wesen eingefügt sind und in dem wir enthüllen, wer wir sind und wozu wir fähig sind.“2. Ein öffentliches Leben führen, das heißt für Arendt Heraustreten aus dem Dunkel des oikos und vor den Anderen erscheinen. Dafür ist ein Raum vonnöten, „in den etwas aus der Dunkelheit des Verborgenen und Geborgenen heraustreten kann“ (VA: 64). Allein in diesem Raum kann sich Freiheit zwischen den Individuen manifestieren und eine gemeinsame Welt entstehen. Diese Welt liegt „zwischen denen […], deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen“ (VA: 66) und wirkt dadurch zugleich trennend und verbindend. In dieser Welt als Zwischenraum kann Freiheit gedeihen: als Pluralität, die niemals zur Einheit werden darf, als Vielfalt der Perspektiven. „Nur wo die Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.“ (VA: 72).
Die Forderung nach Pluralität führt Arendt zu einer Fundamentalkritik an der Rousseauschen volonté générale. Arendt trägt sie im Dunkel ihres Denktagebuchs 1 „Durch unsterbliche Taten, die, soweit das Menschengeschlecht reicht, unvergängliche Spuren in der Welt zurücklassen, können die Sterblichen eine Unsterblichkeit eigener, eben menschlicher Art erlangen“ (VA: 29). 2 Seyla Benhabib: Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt am Main 2000: 176.
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in der ihr eigenen Deutlichkeit vor. Der politische Mord ergibt sich aus dem philosophischen Mord: die Reduzierung der Vielheit auf die Einheit: „Rousseaus ‚volonté générale‘ ist vielleicht die mörderischste Lösung der Quadratur des Cirkels […], nämlich des Grundproblems aller politischen Philosophie des Abendlandes, wie man aus einer Pluralität eine Singularität machen könne – in Rousseaus Worten ‚réunir une multitude en un corps‘ (Contrat Social, I, 7). Was diese Lösung so mörderisch macht, ist, dass der Souverän nicht mehr eine oder eine Vielheit von mich beherrschenden Personen ist, sondern gleichsam in mir sitzt – als der ‚citoyen‘, der dem ‚homme particulier‘ entgegengesetzt wird. In der ‚volonté générale‘ wird in der Tat jeder sein eigener Henker.“ (DT: 242)
Der Kontrast der Republikideale könnte schärfer nicht sein: Wo Rousseau Einheit fordert, verlangt Arendt Pluralität, wo der eine auf Gleichheit und Homogenität der Staatsbürger setzt, besteht die andere auf Differenz und Pluralität der Menschen. Da die Freiheit für sie nur in der Auseinandersetzung verschiedener Positionen zu bewahren ist (vgl. z. B. VA: 219), käme ein völliges Ineinander-Aufgehen der Einzelnen einer politischen Katastrophe gleich. An die Stelle eines engen, einheitlichen Zusammenschlusses, wie Rousseau ihn unter der volonté générale vorsieht, setzt Arendt ein flexibles, mehrdimensionales Gewebe, das im Zeichen der Pluralität über Generationen hinweg auf Dauer gestellt wird. Dieses „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (VA: 226) geht der Geburt des Handelnden voraus. Jeder Einzelne nimmt teil am bestehenden Geflecht, indem er seine „Fäden […] in ein bereits vorgewebtes Muster [schlägt]“ (ebd.). Der Gedanke einer vertraglichen creatio ex nihilo ist Arendt völlig fremd. Die unterschiedliche Wertschätzung, die die Pluralität bei beiden Autoren erfährt, wird damit nachvollziehbar: Bei Arendt ist sie etwas grundlegend Schützenswertes, gleichsam die Wurzel des Politischen, bei Rousseau etwas zutiefst Suspektes, gleichsam der Ruin des Politischen. Die Meinungsvielfalt, die er als Verfallserscheinung des Politischen klassifiziert, macht für Arendt gerade das Politische aus. Daher begrüßt sie die Pluralität und fordert die Gewährleistung eines Ortes, an dem sie sich zeigen kann, nämlich in einem Zwischenraum zwischen den handelnden Menschen. Rousseau tendiert dazu, sie im Keim zu ersticken und in der volonté générale aufgehen zu lassen. Rousseaus Pluralitätsfeindlichkeit ist Arendt ein Dorn im Auge. Der Vorwurf von der „mörderischste[n] Lösung der Quadratur des Cirkels“ (DT: 242) richtet sich in erster Linie gegen Rousseaus Versuch, den Zwischenraum aufzuheben und „aus einer Pluralität eine Singularität“ (ebd.) zu machen. Dadurch wird für Arendt das Politische unmöglich, da es entscheidend auf diesen Zwischenraum angewiesen ist. „In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herumsitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist. […] Die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen und verhindert gleichzeitig, daß sie gleichsam über- und ineinanderfallen.“ (VA: 66)
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2. Rousseau: Weiblichkeit vs. Männlichkeit Während für Arendt die strikte Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit selbstverständlich und grundlegend für die Republik ist, lässt sich die Linienführung bei Rousseau weniger offensichtlich erkennen. Mehr noch, Rousseau sieht sich immer wieder – vor allem aus liberaler Sicht – dem Vorwurf ausgesetzt, für den Schutz des Privaten wenig übrig zu haben. Seine Republik scheint keinen privaten Rückzug und keinen Bereich der Verborgenheit zu vertragen. Rousseau verweigert den Bürgern im Namen der Republik, was Benjamin Constant als Errungenschaft der liberalen Moderne feiern sollte: die garantie de l’obscurité, die das Privatleben vor staatlichem Zugriff und den Blicken der Mitbürger schützt.3 Rousseau wittert in der obscurité des Privaten eine Gefahr für das Öffentliche. Das Licht der Öffentlichkeit erlaubt keinen Rückzug in die innere Zitadelle. Rousseau wirbt für die Republik als offenes Haus, d. h. für die vollständige Transparenz des öffentlichen und des privaten Lebens. Sein Ideal ist der römische Bürger, der sein Haus für den Einblick aller offenhält (vgl. Julie: 444). Damit verschwimmt die Grenze zwischen dem, was vor aller Augen erscheinen muss, und dem, was im Verborgenen bleibt und nur im Schutz des Dunkeln gedeihen kann. Kommt es damit zu einer vollkommenen Absorption des Privaten durch das Öffentliche? Ist im offenen Haus der Republik die Trennung zwischen beiden Bereichen überhaupt möglich? Aus liberaler Sicht jedenfalls ist es äußerst fraglich, ob die Ansprüche privater Freiheit erfüllt werden können, wenn alles ins Licht der Öffentlichkeit rückt. Hebt Rousseau also auch die klassischen Grenzziehungen der Polis auf, beseitigt er die republikanische Differenz? Den klassischen Versuch, die republikanische Differenz aufzuheben, liefert Platon mit dem Wächterstaat. Das Paradox der Geschlechter- und Kindergemeinschaft entspringt der platonischen Sorge, dass das Beharren auf Privatheit dem Gemeinwohl abträglich ist. An prominenter Stelle lobt Rousseau Platon und nennt die Politeia „die schönste Abhandlung über die Erziehung, die je geschrieben wurde“ (Emile: 114). In einem entscheidenden Punkt sieht sich Rousseau jedoch in klarer Opposition zu Platon: In der republikanischen Familienplanung beharrt er auf dem Eigenwert des privaten Lebens der Bürger. Nicht die Auflösung familiärer Bande ist sein Ideal, sondern deren Aufwertung und Wertschätzung. Die „süßesten Gefühle der Natur“ (ebd.: 730) entstehen nur in den intimen Bindungen der Familie zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau. Sie lassen sich durch die Liebe zur Republik, die Orientierung am Gemeinwohl, keineswegs ersetzen. Im Gegenteil: Die privaten Bindungen erweisen sich als unbedingte Voraussetzung der Vaterlandsliebe. „Als ob es nicht einer natürlichen Eingenommenheit bedürfte, um konventionelle Bande zu knüpfen! als ob die Liebe, die man für seine Nächsten fühlt, nicht das Prinzip der Liebe 3 Vgl. Karlfriedrich Herb: Bürgerliche Freiheit. Politische Philosophie von Hobbes bis Constant. Freiburg / München 1999.
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wäre, die man dem Staat schuldet! als ob das Herz sich nicht durch die kleine Heimat, die Familie, der großen anschlösse! als ob es nicht der gute Sohn, der gute Gatte, der gute Vater wäre, der den guten Bürger ausmacht!“ (ebd.)
Die Republik lebt also nicht aus dem Widerspruch zum privaten Leben, sondern sie bedarf gerade einer gut eingerichteten, funktionierenden Privatheit als ihrer inneren Voraussetzung. Wo die natürlichen Gefühle der Zuneigung und Vertrautheit im Rahmen der Familie wachsen, da ist die notwendige Grundlage für die Tugendhaftigkeit der Bürger gegeben. Hier entsteht ihre Bereitschaft, eigene Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen und sich mit der Republik zu identifizieren.4 Will Rousseau Privatheit weder abschaffen noch durch das Öffentliche absorbieren, so verlangt er doch nach einer bestimmten Form der Privatheit, einer republikkompatiblen. Die Familie als Hort der Vertrautheit und Innerlichkeit wird zur Grundlage der Republik, ohne dass sich ein Widerspruch zur geforderten Transparenz des Öffentlichen und Privaten ergibt. Auch die Familie findet sich im Licht der Öffentlichkeit wieder, ihr Wirkungsbereich ist jedoch klar vom politischen Bereich abgegrenzt: Die Demarkationslinie verläuft entlang der Geschlechtergrenzen. Der Gegensatz von Verborgenheit und Erscheinung wird durch den Gegensatz von Männlichkeit und Weiblichkeit ersetzt. Damit wird die heterosexuelle Matrix für das Politische maßgeblich. Wie markant der neue Gegensatz das Profil der Republik bestimmt, vermag der Leser des Gesellschaftsvertrags nicht einmal zu ahnen. Die Frage des Geschlechts wird hier überhaupt nicht gestellt – sie ist allenfalls zwischen den Zeilen oder im Schweigen selbst präsent. In Rousseaus Brief an d’Alembert wird dagegen deutlich, dass das Ideal der republikanischen Öffentlichkeit keineswegs geschlechtsneutral ist. Sobald es um die Republik als Lebensform geht, kommt die maskuline Einfärbung zum Vorschein. Das militärisch-patriotische Ethos des tugendhaften Bürgers ist unverkennbar an ein bestimmtes Männlichkeitsideal geknüpft: Nur aus ‚echten‘ Männern werden „Freunde, Bürger und Soldaten […], also alles, was zu einem freien Volk am besten paßt“ (Brief an d’Alembert: 442). In Gefahr gerät dieses Ideal, sobald Frauen in das Reservat männlicher Öffentlichkeit eindringen und Männern ihre weiblichen Verhaltens- und Lebensweisen aufoktroyieren. Diese Mischung aus maskuliner Platzangst und Furcht vor dem Weiblichen führt dazu, dass Frauen der Zutritt zur Öffentlichkeit verwehrt wird. Erst ihre Abwesenheit im öffentlichen Raum schafft für die männlichen Bürger der Republik die „Möglichkeitsbedingungen von vernünftiger und verantwortungsvoller Reflexion auf die Prinzipien des Gemeinwesens“5. Die wahre Republik beschränkt den Wirkungsbereich der Frau auf den Haushalt: „Ein Haus ohne Herrin ist ein Leib ohne Seele, der bald zerfällt. Eine Frau außer4 Vgl. Friederike Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin 2005: 197 – 200. 5 Kuster 2005: 210.
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halb des Hauses verliert ihren schönsten Schmelz, und ihres wahren Schmuckes beraubt, ist ihr Auftreten unschicklich“ (Brief an d’Alembert: 423). In ihrer wesenhaften und exklusiven Einbindung ins private Leben sind die Frauen für die Republik gleichwohl unverzichtbar. Die Republik lebt aus jenen privaten Bedingungen, die allein die Frau in der Familie als sentimentaler Enklave gewährleisten kann. Innerhalb des Hauses wird die Frau als Haushälterin der Gefühle zur Garantin einer gesunden republikanischen Privatheit. Außerhalb davon findet sie hingegen keinen Ort, der dem republikanischen Ideal entsprechen würde. Das öffentliche Agieren von Frauen führt unweigerlich zum Niedergang der Republik (vgl. Brief an d’Alembert: 446). Wir stellen fest: Die republikanische Differenz wird von Rousseau weiterhin aufrechterhalten, auch wenn ihm die liberale Vorstellung einer garantie de l’obscurité fernliegt. Die Demarkationslinie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zieht er stattdessen entlang der Geschlechterdifferenz. Anders als für den liberalen Standpunkt ist die Privatheit bei Rousseau dem Blick der Anderen nicht entzogen. In diesem Punkt herrscht zwischen Öffentlichkeit und Privatheit Kontinuität: Transparenz ist Voraussetzung für unentfremdete Gemeinschaftlichkeit. Das gilt für die Republik ebenso wie für die Familie. Weil Rousseau sowohl Öffentlichkeit als auch Privatheit unter den Imperativ der Transparenz stellt, scheint das Private vollständig vom Öffentlichen konsumiert zu werden. Ein solcher Eindruck muss sich zwangsläufig aufdrängen, wenn man Rousseaus Theorie aus einer liberalen Perspektive ohne Sensibilität für die Geschlechterdifferenz liest.
II. Öffentlichkeit und Privatheit ohne Grenzen? Wir sehen, dass der Gegensatz von Erscheinung und Verborgenheit, der bei Arendt das Terrain von Öffentlichkeit und Privatheit absteckt, für Rousseau keine Grenze markiert. Könnte sich für ihn Transparenz als die Matrix beider Bereiche erweisen? Dagegen positioniert sich Rousseau in der republikanischen Geschlechterfrage provokant eindeutig. Dieses Thema bleibt bei Arendt jedoch völlig unterbelichtet. Liegt ihrer strikten Trennung zwischen öffentlich und privat möglicherweise eine verborgene geschlechtliche Matrix zugrunde?
1. Rousseau: Verborgenheit und Erscheinung? Rousseau widerspricht mit seiner Forderung nach Transparenz für das Öffentliche und das Private fundamental Arendts politischem Ideal. Bei ihr ist das Private schon allein aufgrund seiner Natur auf den Schutz der Dunkelheit angewiesen. Aber nicht nur das Private, auch Arendts Konzept einer pluralen Öffentlichkeit sperrt sich gegen die von Rousseau geforderte öffentliche Transparenz. Rousseaus verweist damit auf ein Öffentlichkeitsideal, das die Herstellung einer unvermittelten Einheit favorisiert. Dieses Ideal spielt in Rousseaus Denken eine so grundlegende Rolle,
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dass die Forderung nach Transparenz nicht auf den öffentlichen Raum beschränkt bleibt, sondern analog auch seiner Vorstellung idealer Privatheit zugrunde liegt. Politische Öffentlichkeit vermittelt sich bei Rousseau nicht über rationales Räsonnieren. Die Kommunikation verläuft unmittelbarer, auf einer beinahe körperlichen Ebene: Wichtig ist die unmittelbare Anwesenheit, die Realpräsenz der Glieder der Gemeinschaft. Daher rühren auch die großen Vorbehalte gegen alle Formen der Repräsentation. In Rousseaus Volksversammlungen wird nicht debattiert, nicht um Kompromisse gerungen. Solange die Republik gesund ist, entsteht der Gemeinwille vielmehr aus einem spontanen Übereinstimmen der Einzelwillen, in einem Akt, der in erster Linie dazu dient, das Volk als Souverän zu konstituieren, den moi commun als sinnliche Realität zu bestätigen. Damit werden Freiheit und Gleichheit als Prinzipien der Republik im wahrsten Sinne des Wortes erlebbar. Noch greifbarer und unvermittelter gestaltet sich republikanische Öffentlichkeit im Fest, dessen Bild Rousseau im Brief an d’Alembert heraufbeschwört.6 Unter dem hellen Licht der Sonne entfaltet sich hier ein Schauspiel, in dem jeder zugleich Zuschauer und Darsteller wird. Wie in der Volksversammlung ist das Ziel des Festes, die Verbundenheit der Einzelnen im gemeinschaftlichen Ganzen sinnfällig zu machen: „daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind“ (Brief an d’Alembert: 462 f.). Damit jeder den anderen sieht und vom anderen gesehen wird, ist das Licht, das alle gleichmäßig umfasst, so wesentlich. Es strahlt gleichsam bis ins Innerste der Einzelnen und macht ihre Herzen füreinander durchsichtig. Dieses „Sich-Öffnen der Herzen“7 führt zur Vereinigung der Bürger im Zeichen der Freundschaft und Vaterlandsliebe. So wird das Fest zur patriotischen Lektion und zur praktischen Einübung republikanischer Tugenden (vgl. Brief an d’Alembert: 463). Das Fest bietet im Brief an d’Alembert mehr als eine Dramaturgie der republikanischen Öffentlichkeit, es inszeniert republikanische Privatheit: Neben das sommerliche Volksfest, auf dem die Bürger sich im Blick der anderen wechselseitig als Gleiche anerkennen, stellt Rousseau den Winterball. Hier treffen die jungen, unverheirateten Frauen und Männer der Republik mit dem Ziel der Eheanbahnung aufeinander. „[W]eniger einem öffentlichen Schauspiel als der Versammlung einer großen Familie“ (Brief an d’Alembert: 468) gleichend, wird dieser Ball zum Ort einer paradoxen ‚öffentlichen Intimität’. Rousseau sieht die Zusammenkunft der Geschlechter als Möglichkeit, die Eheschließung auf eine freie Liebeswahl zu gründen. Seine Sorge gilt erkennbar der Gewährleistung privaten Glücks in den Familien – nicht ohne jedoch auf die positiven Auswirkungen von Liebesheiraten auf die Republik zu verweisen: „Weniger auf die gleiche Herkunft eingeschränkt, würden diese Ehen den Parteiungen zuvorkommen, die extreme Ungleichheit mäßigen und den Volkskörper im Geist seiner Verfassung sicher bewahren“ (ebd.). 6 Vgl. Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt am Main 2003: 140 – 147. 7 Starobinski 2003: 141.
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Bemerkenswert ist, dass gerade den in hohem Maße öffentlichen Bällen die Funktion zukommt, gelungene Privatheit zu stiften. Das Zusammentreffen der Geschlechter soll unter dem „immer wache[n] Auge der Öffentlichkeit“ (ebd.: 465) stattfinden. Offensichtlich herrscht hier kein Widerspruch zwischen der Allgegenwart des öffentlichen Auges und den Herzensangelegenheiten von Mann und Frau. Republikanische Liebe bedarf nicht des Schutzes der Dunkelheit. Die privaten Beziehungen sollen vielmehr von außen einsehbar sein, um dem Ideal der Tugend zu entsprechen. Denn Tugend gedeiht nur im Lichte der Öffentlichkeit, unter den Blicken der Anderen. Demgegenüber verführt das Dunkle geradezu zwangsläufig zu sittlicher Verderbtheit. „Die unschuldige Freude möchte sich am hellen Tage auslassen, das Laster aber ist ein Freund der Finsternis, und niemals wohnen Unschuld und Geheimnis lange beieinander“ (ebd.). Die Forderung nach Transparenz entspringt einem sittlichen Imperativ: der republikanischen Tugendanforderung. Welcher Tugend die Republik bedarf, erklärt Rousseaus Geschlechtertheorie. Für den Mann bedeutet Tugend die Liebe zur Republik und eine zum Habitus gewordene Gemeinwohlorientierung, für die Frau befiehlt sie ein sittsames, zurückgezogenes Leben, das den Regeln des weiblichen Schamgefühls entspricht. Ist die Ehe geschlossen, soll die Frau die Schwelle des Hauses nicht mehr überschreiten. Bewundernd spricht Rousseau von den Gepflogenheiten der griechischen Antike: „Sobald diese Mädchen verheiratet waren, sah man sie nicht mehr in der Öffentlichkeit; eingeschlossen in ihren Häusern kümmerten sie sich ausschließlich um ihren Haushalt und ihre Familie. Dies ist die Lebensweise, die dem weiblichen Geschlecht von Natur und Vernunft vorgeschrieben wird“ (Emile: 736). Das weibliche Schamgefühl zwingt die Frau in den eng umgrenzten Bereich des Hauses.8 Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen Rückzug in die Verborgenheit, sondern ins Helle der republikanischen Privatheit: Das Ideal der Transparenz bleibt nach wie vor in Kraft. Auch nach der Heirat bleibt die Frau im Licht der Öffentlichkeit, da sie voll und ganz unter das Verdikt der öffentlichen Meinung fällt (vgl. Emile: 733). Weibliche Sittlichkeit kann sich nur unter den Augen der Anderen bewähren, jeder Rückzug ins Dunkle würde ihre Tugendhaftigkeit infrage stellen und entwerten. Pure Innerlichkeit ist offensichtlich mit republikanischer Tugend unvereinbar. Die Transparenz, die vom Mann im öffentlichen Raum der Republik gefordert wird, um ein tugendhafter Bürger zu sein, ist für die Frau im privaten Raum genauso verbindlich, um eine tugendhafte Ehefrau zu sein.
8 Nur an einer Stelle verbindet Rousseau ganz untypisch das weibliche Schamgefühl mit der Vorstellung der Dunkelheit: „ […] die Scham, die die Freuden der Liebe vor den Augen anderer verbirgt, ist […] die Schutzwache, die die Natur den beiden Geschlechtern gegeben hat für einen Zustand der Schwäche und der Selbstvergessenheit, der sie der Gnade des erstbesten, der vorbeikommt, ausliefert. So bedeckt sie ihren Schlaf mit den Schatten der Nacht, damit sie während dieser Zeit der Dunkelheit Angriffen weniger ausgesetzt sind, so läßt sie jedes leidende Tier seine Zuflucht in der Einöde suchen, wo es in Frieden leidet und stirbt, sicher vor Angriffen, die es nicht mehr abwehren könnte.“ (Brief an d’Alembert: 419)
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2. Arendt: Weiblichkeit und Männlichkeit? Kein Zweifel: So ablehnend wie Rousseau hat sich Arendt nie über die Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum geäußert. Ob sie tatsächlich den traditionellen Ausschluss aufrecht erhalten und die Frau damit im oikos gefangennehmen will, ist in der Forschung allerdings umstritten. Für ihr beredtes Schweigen und ihre mangelnde Geschlechtersensibilität erntete Arendt massive Kritik aus feministischer Perspektive.9 Bedeutet ihre Unbestimmtheit ein stillschweigendes Bekenntnis zur modernen Gleichberechtigung oder vielmehr ein ebenso stillschweigendes Einverständnis mit der antiken Praxis? Verdächtig muss aus geschlechtertheoretischer Perspektive erscheinen, dass Arendts politische Theorie völlig ohne den Körper auszukommen scheint.10 Der menschliche Körper mit seinen Bedürfnissen versinnbildlicht für sie die Notwendigkeit und Determiniertheit durch rein biologische Prozesse. Er ist wesenhaft im Privaten beheimatet. Politisch ist er für sie nur insofern von Gewicht, als Sprechen und Handeln nicht möglich sind, solange Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder Müdigkeit unbefriedigt bleiben. Darüber hinausgehend fehlt ihr der Blick für den Körper in seiner Geschlechtlichkeit. Selbst die Natalität erscheint weitgehend asexuell: Sie gewinnt ihre volle Bedeutung erst in der „zweiten“, nicht-körperlichen Geburt: beim Eintritt einer Person in das Handeln, in das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (VA: 225). Sexualität scheint in der Vita activa völlig der Verdrängung zum Opfer zu fallen, während die Frauenfrage mit provokanter Neutralität übergangen wird. Muss es letzendlich bei dieser diffusen Wahrnehmung des Privaten bleiben? Wer sich bei Arendt für die Physiognomie des Privaten interessiert, stößt über kurz oder lang auf ein fundamentales Problem: Da sie das Politische wesentlich über Öffentlichkeit und Pluralität definiert, steht das Private im Hintergrund.11 Wenn überhaupt, 9 Selbst wenn man zu ihren Gunsten annimmt, dass sie Frauen nicht per se aus dem politischen Raum ausschließt, sondern ihnen ebenso wie den Männern die freie Wahl lässt, sich zu beteiligen, dass es sich bei der Exklusivität dieses Bereichs also gewissermaßen um einen Selbstausschluss handelt: Generell muss Arendts weitgehendes Schweigen in der Frauenfrage als höchst problematisch bewertet werden – zumal sie als Frau in einer Zeit schreibt, in der dieses Thema immer mehr in das Zentrum des Interesses rückte: So war z. B. Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe ein knappes Jahrzehnt vor Vita activa erschienen. Man kann Arendt also vorwerfen, sie hätte dieses Thema explizit ansprechen müssen, gerade weil sie sich in ihrem Werk immer wieder zwischen antiken und zutiefst modernen Gedanken hin- und herbewegt. Bonnie Honig fasst die Vorwürfe folgendermaßen zusammen: „The assumption is that, as a woman, Arendt had a responsibility to pose the ‚woman question‘ or at least to theorize a politics that showed that she had women in mind. Her failure to do marks her as a collaborator.“ (Bonnie Honig: Toward an Agonistic Feminism: Hannah Arendt and the Politics of Identity. In: Honig, Bonnie (Hrsg.): Feminist Interpretations of Hannah Arendt. Pennsylvania 1995: 150). 10 Vgl. z. B. Honig 1995: 139. 11 Interessanterweise beschäftigen sich diejenigen feministischen Interpretinnen, die eher wohlmeinend mit Arendt umgehen, in erster Linie mit ihrem Öffentlichkeitsbegriff. Dabei geht
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so ist es in seiner äußeren Gestalt bedeutsam: „So ist es nicht das Innere dieses Bereichs, dessen Geheimnis die Öffentlichkeit nichts angeht, sondern seine äußere Gestalt, dasjenige nämlich, das von außen errichtet werden muß, um ein Inneres zu bergen, was von politischer Bedeutung ist.“ (VA: 77 f.). In ihrem Denktagebuch unternimmt Arendt den seltenen Versuch, das Innenleben des Privaten näher auszuleuchten. Einschlägig sind hier ihre frühen Überlegungen zur Liebe: Zwar betont sie den antipolitischen Charakter der Liebe, an einer Stelle stellt sie aber zugleich heraus: „Liebe […] ist immer […] anti-politisch […], aber sie bringt gerade dann das eigentlich Menschliche in Reinform hervor.“ (DT: 373). Durch die Liebe können zwei Menschen auch ohne den im Politischen nötigen Zwischenraum in Beziehung treten: „Wir verstehen einander gewöhnlich nur in einem Zwischen, durch die Welt und um der Welt willen. Wenn wir einander direkt, unvermittelt, ohne Bezug auf ein zwischen uns liegendes Gemeinsames verstehen, lieben wir.“ (DT: 428). Diese Unmittelbarkeit lässt nichts als reine Menschlichkeit übrig, ohne jeden Welt- und Objektbezug (vgl. DT: 373). Im Gegensatz zur durch politisches Handeln entstehenden Menschlichkeit besitzt die Liebe jedoch keine Dauer: „Die Liebe ist Leben ohne Welt. Als solche zeigt sie sich weltschöpferisch; sie erschafft, erzeugt eine neue Welt. Jede Liebe ist der Anfang einer neuen Welt; das ist ihre Größe und ihre Tragik. Denn in der neuen Welt, sofern sie nicht nur neu, sondern eben auch Welt ist, geht sie zugrunde.“ (DT: 373). Damit taucht auch in der Liebe ein Moment der Pluralität auf: Die griechische Eros-Tradition und ihre Annahme der „Bedürftigkeit des Einen für den Anderen, wie sie in der Tatsache der Geschlechter gegeben ist“ (ebd., vgl. auch DT: 37f.) sei ein Faktor, der „[v]or dem Überflüssigwerden der Menschen zugunsten des Menschen […] geschützt“ (DT: 158) hätte. Die Pluralität der Geschlechter trägt bei zum Schutz der Pluralität der Menschen vor ihrer totalitären Vereinnahmung. Eine solche Aussage überrascht vor dem Hintergrund der späteren Theorie. Damit erfährt die vernachlässigte Idee der Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit eine frühe Aufwertung. Hier wird Pluralität denkbar, die die Erscheinung im öffentlichen Bereich überschreitet. Prinzipiell ist die Pluralität bereits zwischen den Menschen als solchen angelegt, noch bevor sie in den politischen Raum eintreten: in der Zweigeschlechtlichkeit und im gegenseitigen Begehren. Da die Liebe zwischen zwei Menschen keine dauerhafte Welt schafft, muss die unvermittelte Pluralität im Privaten freilich immer prekär und instabil bleiben. Um ihr Dauer zu verleihen, sind die Menschen darauf angewiesen, es v. a. um die Konkurrenz des agonalen und des assoziativen bzw. des performativen und des kommunikativen Modells des öffentlichen Raums. Umstritten ist hierbei, welches Modell eine größere Offenheit einer feministischen Interpretation gegenüber aufweist (für unterschiedliche Positionierungen in dieser Frage vgl. Seyla Benhabib und Bonnie Honig). Darüber hinaus könnte Arendts Ablehnung aller festen und von außen definierten Identitätskonstrukte aus feministischer Perspektive durchaus positiv bewertet werden. Problematisch ist hierbei allerdings Arendts Überzeugung, dass sich Identität nur im Öffentlichen ausbilden könne (Vgl. Honig 1995: 147 – 150). Sowie jedoch das Private ins Spiel kommt, muss die Kritik vernichtend ausfallen, zumindest solange Vita activa mit seiner fehlenden inhaltlichen Bestimmung des Privaten und seiner Körperfeindlichkeit im Mittelpunkt der Betrachtung steht.
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ihre geschlechtliche Pluralität in den öffentlichen Raum zu tragen, wo sie sich auf andere, nämlich politische, Weise verstetigen kann. Die „Bedürftigkeit des Einen für den Anderen“ (DT: 158), die auch eine prinzipielle Gleichberechtigung impliziert, wird hier nicht mehr thematisiert, bleibt aber die ungenannte Voraussetzung des Handelns im öffentlichen Raum.
III. Der Wert des Privaten Bei der Lektüre der Vita activa bleibt der Leser im Ungewissen, ob Arendt nicht selbst die antike Verachtung für das Private teilt. Ihre Überlegungen zur Liebe im Denktagebuch weisen in eine andere Richtung. Hier klingt eine bescheidene Wertschätzung des Privaten an. Zu fragen bleibt, ob sich dieses Urteil auch in ihrem politischen Denken wiederfindet. Oder bestätigen Arendt und Rousseau das liberale Ressentiment gegenüber dem Republikanismus?
1. Arendt: Der Wert der Verborgenheit Das Private ist in Vita activa durch eine grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet. Es steht in einem Spannungsfeld von privativer und nicht-privativer Bestimmtheit: „Nur ein Privatleben zu führen heißt in erster Linie, in einem Zustand leben, in dem man bestimmter, wesentlich menschlicher Dinge beraubt ist. […] Der privative Charakter des Privaten liegt in der Abwesenheit von anderen, was diese anderen betrifft, so tritt der Privatmensch nicht in Erscheinung, und es ist, als gäbe es ihn gar nicht.“ (VA: 73)
Selbst der privativen Variante kann Arendt auf der oberflächlichen Ebene etwas Positives abgewinnen, nämlich die Verborgenheit des Privaten: Der Einzelne ist zwar isoliert von den Anderen – letztlich kann er jedoch tun und lassen, was er will: „was ihn angeht, geht niemanden sonst an.“ (VA: 73). Dennoch ist der Mangel des Privaten unübersehbar: Man ist der gemeinsamen Welt und der von ihr konstituierten Wirklichkeit beraubt. Solchergestalt erscheint das Private als Gegenbild zur republikanischen Öffentlichkeit. Arendts politische Ontologie des Raumes weist den Tätigkeiten der vita activa ihre fixen Orte zu (vgl. VA: 90). Arbeiten und Herstellen brauchen nicht die Pluralität und Interaktion mit den Mitmenschen, die den öffentlichen Raum auszeichnen (vgl. VA: 16 f.) und finden daher im Verborgenen statt (vgl. VA: 97). Ganz anders das Handeln: Es ist durch Pluralität und Dauerhaftigkeit geprägt (vgl. VA: 211 f.) und bedarf zwingend des Lichtes der Öffentlichkeit. Wegen seines Mangels liefert das als privativ verstandene Private lediglich einen minimalen Beitrag zum Handeln: Es entlastet den politisch aktiven Bürger von den Notwendigkeiten des Lebens, so dass er über die Zeit und Muße für ernsthaftes Engagement verfügt (vgl. z. B. VA: 79)12. 12 Eine nachantike Variante dieser rein materiell-instrumentellen Funktion des Privaten für das Politische findet sich in den ökonomischen Mindestanforderungen, die ein potentieller
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Die von Arendt unbedingt geforderte Verborgenheit des Privaten muss jedoch keinesfalls ausschließlich ein Schattendasein zur Folge haben. Vielmehr gibt es innerhalb ihres Werks auch Raum für eine positivere Interpretation des Privaten. Zum einen stellt sie heraus, welche Rolle das Privateigentum spielt. In seiner Abschaffung erkennt sie eine der großen Gefahren, die die Entwicklung der Gesellschaft mit sich bringt. Nicht der Verlust von privatem Besitz, sondern „jene Enteignung, die den Menschen von dem immer begrenzten, dafür aber greifbaren und handhabbaren Stück Welt trennt, das er sein eigen nennt“ (VA: 85) hat fatale Auswirkungen. Als Gegenmittel gegen die politische Apathie braucht jeder ein kleines Stück Welt, an das er sich gebunden fühlt (vgl. VA: 86).13 Privateigentum ist hier mehr als ein Vehikel zum Rückzug ins Private, nämlich ein Element des Übergangs zwischen Individuum und politischer Gemeinschaft: Auch wenn es nicht unmittelbar welterschaffend produktiv wird, soll es Weltbezug schaffen und so Anreiz zur Beschäftigung mit dem Politischen bieten. Außerdem betont Arendt nachdrücklich die mit der Verborgenheit des Privaten verbundene Rückzugfunktion. Hierin liegt seine entscheidende Bedeutung für das Politische. Das Private ermöglicht den Rückzug vom Gesehen- und Gehörtwerden im Öffentlichen. Das Dunkel des Privaten wird zum Ort des Geheimen. Die Befindlichkeiten des unpolitischen Menschen werden dadurch geschützt: Natalität, Leiblichkeit und Mortalität. „Das Eigentum […] war mehr als eine Wohnstätte; es bot als Privates den Ort, an dem sich vollziehen konnte, was seinem Wesen nach verborgen war, und seine Unantastbarkeit stand daher in engster Verbindung mit der Heiligkeit von Geburt und Tod, mit dem verborgenen Anfang und dem verborgenen Ende der Sterblichen […] Als dieser Ort der Verborgenheit, in dessen Obhut Menschen vor dem Licht der Öffentlichkeit geschützt geboren werden und sterben, aber nicht ihr Leben verbringen, wo also das vor sich geht, wohin kein menschliches Auge und kein menschliches Wissen dringt, […] war der Bereich des Haushalts und des Eigentums ‚privat‘ in einem nicht privativen Sinne. […] Das Geheimnis des Anfangs und des Endes sterblichen Lebens kann nur da gewährt wer-den, wo die Helle der Öffentlichkeit nicht hindringt.“ (VA: 77)
In diesem Bereich findet der Einzelne schließlich auch einen Ort vor, an dem er sich gewissermaßen vom gemeinsamen Handeln und der individuellen Selbstfindung im Öffentlichen erholen kann. Hier kann er zwar nicht das volle, aber doch das grundlegende Menschsein erleben und sich geschützt vor der Helligkeit des Öffentlichen der Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse hingeben. Es geht Bürger bis ins 19. Jahrhundert erfüllen musste, um sich in das Politische einschalten zu können (vgl. VA: 76). 13 Diese Bedeutung des Privateigentums hat Arendt zufolge bereits die griechische Antike erkannt: „Und es war nicht so sehr der Respekt vor Privatbesitz in unserem Sinne, der die Polis daran hinderte, den privaten Bereich ihrer Bürger zu ruinieren, als das Gefühl, daß ohne ein gesichertes Eigentum niemand sich in die Angelegenheiten der gemeinsamen Welt mischen konnte, weil er ohne eine Stätte, die er wirklich sein eigen nennen konnte, in ihr gleichsam nirgends lokalisiert war.“ (VA: 40)
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nicht um die Erscheinung und das damit verbundene permanente Sehen und Gesehenwerden, die das Handeln so wesentlich ausmachen (vgl. z. B. VA: 62). Im Gegenteil sollen sich die Augen im Dunklen ausruhen; der Einzelne kann sich im Schutze der Dunkelheit der Beobachtung durch die anderen entziehen. Dies kommt letztlich wiederum dem öffentlichen Agieren zugute. Denn: um wirklich effektiv zu sein, braucht das Handeln einen Gegenpart: „Wir kennen alle die eigentümliche Verflachung, die ein nur in der Öffentlichkeit verbrachtes Leben mit sich führt. Gerade, weil es sich ständig in der Sichtbarkeit hält, verliert es die Fähigkeit, aus einem dunkleren Untergrund in die Helle der Welt aufzusteigen; es büßt die Dunkelheit und Verborgenheit ein, die dem Leben in einem sehr realen, nicht-subjektiven Sinn seine jeweils verschiedene Tiefe geben.“ (VA: 87).
Nehmen wir diese Aspekte des Privaten zusammen, so wird erkennbar, dass Hannah Arendt die antike Verachtung für das Private (vgl. z. B. VA: 58) nicht uneingeschränkt übernimmt. Vielmehr verleiht sie dem Privaten als Rückzugsraum nun zumindest einen bescheidenen Eigenwert, auf jeden Fall aber eine immense Bedeutung für das Politische. Dies ist auf das Privateigentum und auf die entlastende Wirkung des kontinuierlichen Wechsels zwischen öffentlicher und privater Sphäre zurückzuführen. Zweifellos bleibt das Öffentlich-Politische für Arendt immer der bedeutsamere Lebensbereich. Dennoch führt die strikte Trennung der Tätigkeiten und Räume keinesfalls zu einem Manächismus von öffentlicher und privater Welt. Entscheidend ist, dass die Trennlinien konsequent gezogen werden und dass sich jede Tätigkeit der Vita activa an ihrem angestammten Ort abspielt. Dann haben beide Sphären ihre Berechtigung und ihren Sinn.
2. Rousseau: Der Wert der Gefühle Das Private ist für Arendt die notwendige Voraussetzung der Republik, aber es bleibt dieser doch wesenhaft äußerlich. In seiner Rolle als ökonomische Basis und Rückzugsraum bildet das Private das Fundament, aber auf die Ausgestaltung und die Qualität der öffentlichen Sphäre nimmt es keinen Einfluss. Bei Rousseau funktioniert Privatheit anders. Als ökonomischer Faktor wird sie nicht thematisiert, allenfalls stillschweigend vorausgesetzt, und einen Rückzugsort darf sie ohnehin nicht bilden. Vielmehr wird das private Leben in der Familie hier zur inneren Konstitutionsbedingung der Republik: Die familiären Gefühle der Verbundenheit und Liebe stellen den fruchtbaren Boden, auf dem die republikanische Gesinnung der Bürger gedeiht. Im Unterschied zu Arendt ist das Emotionale im Öffentlichen für Rousseau kein Tabu. Vielmehr baut die Republik auf die Anziehungskraft affektiver Bindungen: Nur in der Gemeinschaft der unmittelbar miteinander kommunizierenden Herzen entsteht die Einheit der volonté générale. Im republikanischen Fest wird sinnfällig, dass Öffentlichkeit bei Rousseau nicht als reine Verstandessphäre strukturiert ist. Hier geht es nicht um den Austausch rationaler Argumente, sondern um ein Aufgehen im gemeinschaftlichen Ganzen, das eine unverkennbar emotionale und sogar körperliche Komponente aufweist. „Zu welchen Völkern paßt es
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mehr, sich oft zu versammeln und untereinander die sanften Bande des Vergnügens und der Freude zu knüpfen, als zu denen, die so viele Gründe haben, sich zu lieben und für immer vereint zu bleiben?“ (Brief an d’Alembert: 462) Verbindungen dieser Art müssen jedoch zuerst im Privaten kultiviert werden, um im Öffentlichen ihre Wirkung zu entfalten. Sieht Rousseau die Einheit und Transparenz der Herzen gleichermaßen als Ideal für das Öffentliche und das Private, so unterscheidet er doch anhand der Geschlechterdifferenz trennscharf zwischen den beiden Sphären. Welchen Wert Rousseau dem Privaten im Vergleich zum Öffentlichen beimisst, spiegelt sich daher in seiner Beurteilung des Geschlechterverhältnisses. Eine ausführliche Betrachtung dieses Themas findet sich im fünften Buch des Emile. Hier entwickelt Rousseau ein Konzept der komplementären Gleichwertigkeit der Geschlechter: „In dem, was sie gemeinsam haben, sind sie gleich; in dem, was sie voneinander unterscheidet, sind sie unvergleichbar. Eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen sich im Geist ebenso wenig gleichen wie im Antlitz, und in der Vollkommenheit gibt es kein Mehr oder Weniger.“ (Emile: 720 f.) Die seit der Antike gültige hierarchische Ordnung der Geschlechter, in der allein der Mann das Maß der Vollkommenheit bestimmt, wird von Rousseau außer Kraft gesetzt. Mann und Frau erscheinen nun als wesenhaft different, mehr noch, als Gegensätze, die sich harmonisch ergänzen.14 Ihre vorgeblich naturbedingten Eigenschaften und Vorzüge verweisen beide Geschlechter auf den jeweils für sie vorgesehenen Bereich. Eine generelle Unterordnung der Frau unter den Mann ergibt sich damit zunächst nicht. Innerhalb des privaten Bereichs spricht Rousseau ihr sogar eine Form der Herrschaft zu: die Herrschaft über das Herz des Mannes. Durch den Einsatz ihrer Reize steuert sie sein Begehren und macht ihn von sich abhängig: „Diese Herrschaft gehört den Frauen und kann ihnen nicht genommen werden“ (Emile: 725 f.). Rousseau beschränkt die Frau zwar auf den inneren Bereich des privaten Lebens, erklärt sie dort jedoch zum Souverän. Wären Mann und Frau in ihrer Verschiedenheit tatsächlich gleichrangig, müsste das auch für die Bereiche der Öffentlichkeit und Privatheit in der Republik gelten. Dieser Befund würde für eine starke Aufwertung der Privatheit sprechen. Allerdings wird die behauptete Gleichwertigkeit von Mann und Frau in Rousseaus Geschlechtertheorie beständig durch Rousseaus Beschreibung der weiblichen Rolle und Funktion konterkariert. Von einem gleichrangigen Geschlechterverhältnis kann spätestens dann nicht mehr die Rede sein, wenn Leben und Bestimmung der Frau zur Gänze im Dienst am Manne aufgehen (vgl. Emile: 733). Dieselbe Indienstnahme der weiblichen Tugenden im Privaten findet sich auch in der Republik wieder. Gerade im Sinne des Republikideals rät Rousseau dazu, die Erziehung der Frauen nicht zu vernachlässigen: „Die Mannspersonen werden stets das sein, was den 14 Vgl. Marion Heinz: Kommentar: Identität und Differenz. Der paradigmatische Anfang bürgerlicher Geschlechtertheorien in Rousseaus ‚Emile‘. In: Störfall Gender. Grenzdiskussionen in und zwischen den Wissenschaften. Hrsg. v. Tatjana Schönwälder-Kuntze, Sabine Heel, Claudia Wendel u. Katrin Wille. Wiesbaden 2003. 130 –135.
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Frauenzimmern gefällt: Wünscht ihr also, daß sie groß und tugendhaft werden, so lehret die Frauenzimmer, was Größe der Seele und Tugend ist“ (Erster Diskurs: 25). Frauen müssen ihrer Rolle als „keusche[…] Hüterinnen der Sitten und […] süße […] Bande des Friedens“ (Zweiter Diskurs: 39) gerecht werden, um durch ihren zivilisierenden Einfluss auf die Männer Tugend und gute Sitten in der Republik aufrechtzuerhalten und Eintracht und Frieden zu stiften. Eine solche Rollenerwartung erfüllt sich jedoch nur so lange, wie sich die Frauen in den Grenzen des ihnen zugewiesenen Bereichs bewegen – ihre Herrschaft ist Herrschaft über die res privatae. „Es ist ein Glück, wenn sich Eure keusche Gewalt, lediglich in der ehelichen Verbindung ausgeübt, nur zum Ruhme des Staates und zum öffentlichen Glück fühlbar macht“ (ebd.: 37). Privatheit ist hier keinesfalls Selbstzweck, sondern einzig auf den Erhalt republikanischer Öffentlichkeit hin ausgerichtet. Ein genuiner Eigenwert des Privaten lässt sich aus dieser Argumentation nicht ablesen. Dennoch finden wir bei Rousseau auch eine Wertschätzung des Privaten, die weit über entsprechende Ansätze bei Arendt hinausgeht. Der grundlegende Mangelcharakter des Privaten liegt Arendt zufolge darin, dass es abseits der Öffentlichkeit unmöglich zu einer vollen Entfaltung des Menschseins kommen kann. Der Mensch ist wesentlicher Facetten seines Daseins beraubt, wenn er nicht im Licht der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt. Bei Rousseau ist Privatheit nicht in vergleichbarer Weise „privativ“ gedacht, sie weist keinen Mangelcharakter auf. Eine Entfaltung vollen Menschseins ausschließlich im Bereich des Privaten ist durchaus möglich – allerdings befinden wir uns dann nicht mehr auf dem Boden der Republik, sondern etwa in der idealen Hausgemeinschaft von Clarens, die Rousseau in Julie ou La Nouvelle Héloïse beschreibt. Hier ist die intime Vertrautheit einer Gemeinschaft der Herzen in Reinkultur gegeben. In den persönlichen Bindungen zueinander kommen die Menschen zu sich, ihr Zusammensein reflektiert zugleich ihr authentisches Selbstsein – „das Vergnügen, beieinander zu sein, und die Süßigkeit der Einkehr in uns selbst“ (Julie: 585) sind im vertrauten Umgang in der Familie miteinander verwoben. Diese pure Innerlichkeit ist jedoch nicht mehr Sache des citoyen, sondern des homme. In der Republik sorgte die Familie für die tugendhafte Gesinnung des Bürgers, als republikanische Privatheit bildete sie das notwendige Gegenstück zur republikanischen Öffentlichkeit. In Clarens hingegen fungiert die Familie als Refugium vor einer korrumpierten Gesellschaft, in der Öffentlichkeit im eigentlichen Sinne bereits zerstört ist. Erst vor diesem Hintergrund wird sie zur idealen und sich selbst genügenden Lebensform. Gerade in der Verfallsgeschichte des Öffentlichen beweist das Private seinen Eigenwert, indem es zum Intimen wird.15
15 Im Gegensatz zur hier ausgeführten Darstellung unterscheidet Kuster nicht zwischen republikanischer Privatheit und Intimität, da beides durch die gleiche Familienstruktur gekennzeichnet ist. Dadurch erhält die Familie eine Scharnierfunktion, die eine Vereinbarkeit der bei Rousseau sonst unvereinbar erscheinenden Ideale des homme und des citoyen nahelegt. Vgl. Kuster 2005: 14 f.
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IV. Intimität als Symptom der Grenzverletzung Das Intime kommt bei Rousseau erst ins Spiel, wenn republikanische Öffentlichkeit bereits ruiniert ist. Arendt ist die Bedeutung dieser Entdeckung für den Republikanismus nicht entgangen. Für sie gilt Rousseau als Entdecker des Intimen. Intimität als Krisensymptom der Moderne – dieser Befund ist beiden gemeinsam. Er gründet in dem Bewusstsein einer pathologischen Auflösung der Grenzen zwischen Öffentlich und Privat. Diesem Prozess geben beide den Namen Gesellschaft.
1. Gesellschaft als Ende der republikanischen Differenz Arendt und Rousseau sehen die Auflösung der Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit als Ursache der Krise der Moderne. Dabei gelangen sie zu sehr ähnlichen Krisenbeschreibungen. Die (Markt-)Gesellschaft wird zu Bedrohung von Öffentlichkeit und Privatheit gleichermaßen. Gesellschaft entsteht für Arendt aus der Vermischung und Verwechslung von Öffentlichem und Privatem. Dadurch wird die sachliche und räumliche Trennung der beiden Bereiche zerstört. Seit dem Beginn der Neuzeit sind diese klaren Trennungen für Arendt verwischt (vgl. VA: 38 f.). Daher erkennt sie, dass es für ihre Zeitgenossen keinesfalls mehr selbstverständlich ist, öffentlich und privat, Polis und Haushalt strikt zu unterscheiden und Tätigkeiten, die dem Lebenserhalt dienen, von solchen abzugrenzen, die sich auf die gemeinsame Welt richten. Die Neuzeit ist also durch einen entscheidenden Verlust gekennzeichnet: Die „Kluft, welche die Menschen des klassischen Altertums gleichsam täglich überqueren mußten, um den engen Bezirk des Haushalts zu übersteigen und aufzusteigen in den Bereich des Politischen“ (VA: 43), ist verschwunden. Dieser Verfall der republikanischen Öffentlichkeit begann für Arendt mit der Transparentwerdung des Privaten, d. h. genau mit dem Phänomen, das für Rousseau seinerseits ausschlaggebend für den Erhalt der republikanischen Öffentlichkeit war: „Der Raum des Gesellschaftlichen entstand, als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat.“ (VA: 47). Mit der Entstehung der Gesellschaft geht auch die Verborgenheit des Privaten verloren. Sowohl das Politische als auch das Private werden überwuchert (vgl. VA: 57 f.), die Tätigkeiten ihrem gewohnten Umfeld entfremdet. Das Private sieht sich gezwungen, sich gleichermaßen gegenüber dem Öffentlich-Politischen und dem neu entstandenen Gesellschaftlichen abzugrenzen. Der öffentliche Raum verwandelt sich in einen Kampfplatz privater Interessen; sein Privileg als exklusiver Ort politischen Handelns geht damit verloren. Somit wird er bedeutungsleer und funktionslos: Nicht mehr das Außergewöhnliche, das Überdurchschnittliche, sondern das Durchschnittliche, das statistisch Errechenbare werden zum Maßstab. Die öffentliche Erscheinung der Individuen wird ausgeschaltet – „[a]n seine Stelle ist das Sich-Ver-
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halten getreten, das in jeweils verschiedenen Formen die Gesellschaft von allen ihren Gliedern erwartet und für welches sie zahllose Regeln vorschreibt, die alle darauf hinauslaufen, die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern.“ (VA: 51 f.). Auch Rousseau ist ein entschiedener Kritiker der Gesellschaft. Mit seiner Pathologie der Moderne nimmt er markante Motive der Arendtschen Gesellschaftskritik vorweg. Was er dem Zeitalter des Ancien Régime ankreidet, ist ebenfalls die Auflösung der Trennlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Es sind die Privatinteressen des zeitgenössischen bourgeois, die in den Raum der Öffentlichkeit eindringen und ihn zersetzen. „Plackerei in Handel und Künsten, gieriges Gewinnstreben, Schlaffheit und Bequemlichkeitsliebe“ (Contrat Social: III 15) bedrohen die Republik, weil sie den Bürger von den öffentlichen Angelegenheiten ablenken und seine republikanische Libido schwächen. Die Republik wird zum Spielball privater Interessen. Mit dem bourgeois zeichnet Rousseau das Profil des Hauptverdächtigen. Dieser ist in seiner Fixierung auf das Privatleben verantwortlich dafür, dass die Republik lebensweltlich scheitert und zur unrealisierbaren Utopie verkümmert. „Diese beiden Worte: Vaterland und Staatsbürger müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden“ (Emile: 114). Die Reduktion des Bürgers auf den Konsumenten bedroht nicht nur das öffentliche, sondern auch das private Leben; sobald die destruktiven Kräfte des modernen Marktes überall Einzug halten, verliert auch die Familie ihre sinnstiftende Funktion. Unüberhörbar ist der Gleichklang in Rousseaus Klagen über den öffentlichen und privaten Verfall: Wie die Freiheit im politischen Leben durch bezahlte Volksvertreter gefährdet wird, so nimmt die Erziehung im privaten Leben Schaden, wenn sie bezahlten Ammen und Erziehern überlassen wird (vgl. Emile: 120 – 125, 130 – 132). In beiden Fällen führt der esprit de commerce zu moralischer Dysfunktionalität. Scheitert die Familie an ihrer Aufgabe, stabile emotionale Beziehungen herzustellen, so wird die Grundlage für die Gemeinschaftsfähigkeit der Bürger brüchig. Unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen sieht Rousseau einen Menschentypus entstehen, der, im Privaten selbstzentriert und bindungsunfähig, auch als Bürger der Republik nicht taugt. „Sobald es keine Intimität mehr zwischen den Eltern gibt, sobald die Gemeinschaft der Familie nicht mehr das Glück des Lebens ausmacht, braucht man natürlich die schlechten Sitten zum Ersatz“ (Emile: 131). Für diesen Sündenfall macht Rousseau – ganz in Arendtscher Manier – die entstehende bürgerliche Marktgesellschaft verantwortlich. Der Markt entzieht der Republik die moralischen Ressourcen und affektiven Bindungen des Einzelnen ans Allgemeine. Der moderne bourgeois erweist sich außer Stande, ein allgemeines Leben zu führen. Fixiert aufs Geschäft, vernachlässigt er zwangsläufig seine politischen und privaten Pflichten: Er scheitert als Bürger und Familienoberhaupt. Für die moderne Frau gilt Entsprechendes. Auch sie verfehlt ihre natürliche Aufgabe als Mutter, wenn sie sich weigert, ihre Kinder selbst zu stillen – oder ganz auf Nach-
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wuchs verzichtet. Wie Rousseau das Verschwinden des citoyen beklagt, so resigniert er nun über das moderne Schicksal der Frau: „Die Frauen haben aufgehört, Mütter zu sein, und sie werden es nie wieder werden; sie wollen es nicht mehr sein“ (Emile: 125). Damit sieht Rousseau in der Moderne nicht nur der republikanischen Öffentlichkeit, sondern auch der republikanischen Privatheit die Grundlage entzogen. In Arendtscher Diktion: Mit der Moderne entsteht jener unheilvolle Zwischenbereich der Gesellschaft, in dem Öffentlichkeit und Privatheit unter dem Vorzeichen des Marktes verschmelzen. Rousseau nimmt bereits Arendts republikanische Logik vom ausgeschlossenen Dritten vorweg. Tertium non datur. Die Verschmelzung von öffentlicher und privater Sphäre spiegelt sich für Rousseau in der Unordnung der Geschlechter. Im Brief an d’Alembert erkennt er in der Verkehrung der Geschlechterrollen Symptom und Ursache einer degenerierten Gesellschaftlichkeit.16 Rousseau beschwört die strikte Trennung der Lebensbereiche der Geschlechter als Ausdruck eines gesunden Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Hier die Frau, die die Schwelle des Hauses dank ihres natürlichen Schamgefühls niemals überschreitet – dort der Mann, der in seinen republikanischen Zirkeln unter seinesgleichen bleibt. Diesem Ideal stellt Rousseau mit der Salongesellschaft eine unerträgliche Mischung aus privatem Umgang und öffentlichem Räsonnement gegenüber. Die republikanische Geschlechterordnung steht hier gleichsam auf dem Kopf: Frauen suchen im Licht der Öffentlichkeit den Umgang mit Männern und maßen sich deren Lebensweise an. Männer mutieren zu galanten und gefallsüchtigen „Herrchen“ (Brief an d’Alembert: 449), die sich auf das geistig belanglose Niveau amüsanter Plaudereien herablassen und sich bereitwillig den Frauen unterordnen. Das Resultat ist eine Gesellschaft, die in ihrer Oberflächlichkeit, Eitelkeit, Liederlichkeit der republikanischen Gesellschaftsordnung diametral entgegensteht und deren Zukunft vereitelt. Republikanisches Sein macht gesellschaftlichem Schein Platz, authentische Individualität dem Konformismus der Herde. Rousseau sind diese Zusammenhänge schon im Ersten Diskurs geläufig: „Man wagt nicht mehr als derjenige angesehen zu werden, der man wirklich ist; und unter diesem beständigen Zwange müssen die Menschen, welche die Herde, die man Gesellschaft nennt, bilden und sich in einerlei Umständen befinden, alle dieselben Dinge tun“ (Erster Diskurs: 13). Rousseaus Fazit liegt auf der Hand: Echte Gemeinschaftlichkeit kann sich hier weder im Privaten noch im Öffentlichen entfalten. Die Transparenz der Herzen füreinander ist nicht mehr gegeben. Für die allgemeine Vereinzelung zeichnet Rousseau das Bild der voneinander isolierten Theaterzuschauer: „eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt […] furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend“ (Brief an d’Alembert: 462). Das Dunkel des Theaters steht im scharfen Kontrast zum lichtdurchfluteten republikanischen Fest, wo jeder im Blick des Anderen sein Aufgehen im Miteinander der Gemeinschaft feiert. Das Dunkle hat hier alles Bergende und Schützende verloren – es lässt 16
Vgl. Kuster 2005: 209 – 213.
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sich nur als Privation denken. Die gesellschaftskritischen Intentionen Rousseaus indes lassen sich bei Arendt wiederfinden. Für beide sind Konformität und Vereinzelung Symptome der Krise, die in der Moderne mit der Zerstörung der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, kurz: mit dem Siegeszug der Gesellschaft unausweichlich geworden ist. Erst im Umkreis dieser Kritik wird für Rousseau und Arendt die Rede von der Intimität spruchreif: als Ausdruck und Protest gegen das gesellschaftliche Elend.
2. Intimität als Symptom und Ausweg Arendts Lob auf Rousseau als Entdecker des Intimen wird nun aus ihren eigenen Prämissen verständlich. Wenn sich der private Bereich mit öffentlichen Inhalten füllt, müssen sich die Individuen gezwungenermaßen einen Raum schaffen, in dem sie ihre Subjektivität leben können (vgl. VA: 49, 56). Dadurch gewinnt der Mensch erstmals außerhalb des Öffentlichen Individualität; er ist – anders als in der Antike – mehr als bloßes Gattungswesen (vgl. VA: 58). Nichtsdestotrotz bleibt dieser Individualisierungsprozess pathologisch. Denn für ein politisches Leben im Lichte der Öffentlichkeit, für das Erscheinen auf der Bühne des gemeinsamen Handelns, bietet die gesellschaftliche Existenz einen allzu schwachen Ersatz. Ist politischer Wettstreit aber endgültig ökonomischem Wettbewerb gewichen, bleibt zur Selbstwerdung allein der Rückzug in das Intime, „in die Subjektivität eines Inneren, in der allein man nun bergen und verbergen kann, was früher wie selbstverständlich in der Sicherheit der eigenen vier Wände aufgehoben und vor den Blicken der Mitwelt geschützt war.“ (VA: 84). Nach wie vor erstaunt es, dass Arendt gerade in Rousseau den „Entdecker und […] Theoretiker des Intimen“ (VA: 49) ausmacht: Hatte Rousseau nicht stets die Transparenz des Privaten gefordert und jede Dunkelheit aus der Republik verbannt? Und war seine politische Theorie nicht von Arendt polemisch in die Nähe des Totalitarismus gestellt worden? Wir wissen inzwischen, dass Arendts zwiespältiges Lob nicht dem politischen Denker Rousseau gilt, und schon gar nicht seiner Entdeckung der volonté générale, die sie in ihrem unveröffentlichten Werk maßlos und vernichtend kritisiert. Verständlich wird Arendts Emphase für Rousseau erst und ausschließlich mit Blick auf seine gesellschaftskritischen und literarischen Schriften. In einer „Rebellion des Herzens gegen die eigene gesellschaftliche Existenz“ (ebd.), so Arendt, bringe Rousseau die Subjektivität des Gefühlslebens in Stellung gegen die herrschenden Verhältnisse, die den Menschen zum Sklaven der gesellschaftlichen Ansprüche und Maßstäbe machen. Gegen das allumfassende Eindringen des Gesellschaftlichen und der Logik des Marktes bis in den persönlichsten Bereich hilft nur der Rückzug in die eigene Subjektivität. Am deutlichsten können wir Rousseaus Entdeckung des Intimen in seinem Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse ausmachen. Hier beschreibt er Privatheit völlig unabhängig vom gesellschaftlichen Außen. Clarens ist ein Refugium reiner Inner-
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lichkeit, das sich fernab von den Lastern der Gesellschaft befindet.17 Rousseau hält selbst hier an seiner Forderung nach Transparenz fest. Sie beschränkt sich jedoch auf die Verhältnisse zwischen den Menschen innerhalb der Enklave, die gegen eine korrupte Außenwelt abgeschottet ist. Die Mitglieder der Gemeinschaft Clarens hegen keine Geheimnisse voreinander, in intimer Vertrautheit teilen sie vorbehaltlos ihre Gefühle. Der spontane und unvermittelte Gleichklang der Herzen macht das Wesen des vertrauten Zusammenseins in der Familie aus. „Gestehen Sie […], daß der ganze Reiz bei unserem Beisammensein in jener Öffnung des Herzens besteht, vermöge deren alle Empfindungen, alle Gedanken gemeinsam werden, so daß jeder, indem er sich so fühlt, wie er sein soll, sich allen so zeigt, wie er ist“ (Julie: 724 f.). Transparenz bis zu völliger Verschmelzung – so lautet die Vorbedingung für die in Gemeinschaft lebbare Authentizität, die die Familie zum „Entfaltungsraum authentischen Selbstseins“18 werden lässt. Wie zwiespältig diese Art der intimen Gemeinschaft ist, macht die Formulierung „indem er sich so fühlt, wie er sein soll“ (Julie: 725; unsere Hervorhebung) deutlich. In der Transparenz der Herzen ist bereits der Zwang zum authentischen Selbstsein unverkennbar. Indem Julie und St. Preux vor Wolmar alle ihre früheren und gegenwärtigen Gefühle offenbaren, alle Geheimnisse ihrer Seele offenlegen müssen, treten immer schon Manipulation und Kontrolle auf den Plan. Für Julie ist diese transparente Intimität im wahrsten Sinne des Wortes nicht lebbar. Der Widerspruch in ihrem Herzen bleibt bis zum Schluss unaufgelöst und führt sie schließlich in den Tod (vgl. Julie: 777 – 780). Wer sich dem vordergründigen Charme der idealisierten Hausgemeinschaft von Clarens verschließt, kann hier die von Foucault aufgezeigte Doppeldeutigkeit von Subjektivierung entdecken:19 In der Intimität der Gefühlsgemeinschaft konstituiert und entfaltet sich der Einzelne als authentisches Subjekt, allerdings um den Preis der Unterwerfung unter die internalisierten Tugendanforderungen seiner Umwelt. Wir können die Entdeckung der Intimität als Errungenschaft des Gesellschaftstheoretikers und Geschichtsphilosophen Rousseau lesen: als resignierte Einsicht in die moderne Entzauberung der Republik. Intimität wird spruchreif, wo eine gemeinsame öffentliche Welt bereits verloren ist. Sie ist ein Symptom dieses Verlustes – und zugleich eine Möglichkeit, ihn jenseits der Republik zu kompensieren. Darin erweist sich die Intimität als zwiespältiges Signum eines Zeitalters, das weder von republikanischer Öffentlichkeit noch von republikanischer Privatheit einen rechten Begriff hat. Man konnte sehen, dass Hannah Arendt diesem Befund gegen alle inneren Widerstände gefolgt ist. Auch sie unterscheidet zwischen der Privatheit des republikanischen Bürgers und der Intimität des entpolitisierten Individuums. Wie 17 Die korrumpierte gesellschaftliche Sphäre wird innerhalb des Romans in Gestalt der Stadt Paris thematisiert. Vgl. z. B. Julie: 237 – 242. 18 Kuster 2005: 183. 19 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main 1983: 64.
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Rousseau versteht sie moderne Intimität als Symptom des Ruins politischer Öffentlichkeit. Wo der Begriff des Intimen auftaucht, ist die Grenze des republikanischen Diskurses über Privatheit und Öffentlichkeit überschritten. Erledigt sich der Disput über die Grenzen des Privaten und Öffentlichen von selbst, wenn die republikanische Kartographie der politischen Welt zum Anachronismus geworden ist? Dann würde die republikanische Differenz, um die Rousseau und Arendt so hartnäckig streiten, sicherlich nicht ihren Sinn, wohl aber ihre zeitgenössische Bedeutung verlieren.
Summary Privateness is having a hard time within the republican tradition. From the outset, it is determined by the dictates of the general and finds itself in the shadows of the public. Exploring the works of Jean-Jacques Rousseau and Hannah Arendt, this article asks for the meaning, significance and legitimacy of the private. Thereby, it intends to make a contribution to the history of ideas of republicanism and to unscramble the paradoxical dialogue about the future of the republic conducted by Rousseau and Arendt. A closer look will show that it is the antagonism of appearance and concealment, of masculinity and femininity that marks the borders of the private. Out of this opposition evolves what we will call the specific republican difference. According to Rousseau and Arendt, the rise of the social and the simultaneous emergence of intimacy effect the dissolution of this difference. Thus, the future of the republic appears to be dim: Modern intimacy discloses itself as an ambivalent substitute for the lost harmony of private sphere and public space.
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Literatur Benhabib, Seyla: Hannah Arendt and the Redemptive Power of Narrative. In: Social Research 57,1 (Spring 1990). S. 25 – 43. – Der Paria und sein Schatten. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 9 (1991). S. 95 – 108. – Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt am Main 2006. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main 1983. Heinz, Marion: Kommentar: Identität und Differenz. Der paradigmatische Anfang bürgerlicher Geschlechtertheorien in Rousseaus ‚Emile‘. In: Störfall Gender. Grenzdiskussionen in und zwischen den Wissenschaften. Hrsg. v. Tatjana Schönwälder-Kuntze, Sabine Heel, Claudia Wendel u. Katrin Wille. Wiesbaden 2003. S. 130 –135. Herb, Karlfriedrich: Bürgerliche Freiheit. Politische Philosophie von Hobbes bis Constant. Freiburg / München 1999. – Licht und Schatten. Zum Republikideal bei JeanJacques Rousseau und Hannah Arendt. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2001. Hrsg. v. Karl Ballestrem et al. Stuttgart / Weimar 2001. S. 59 – 68. Honig, Bonnie: Toward an Agonistic Feminism: Hannah Arendt and the Politics of Identity. In: Honig, Bonnie (Hrsg.): Feminist Interpretations of Hannah Arendt. Pennsylvania 1995. S. 135 –166. Kuster, Friederike: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin 2005. Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt am Main 2003.
Leisten lokale Demokratiebewegungen einen Beitrag für die globale Krisensteuerung? Otfried Höffe
I. Pessimisten haben derzeit leichtes Spiel. Wohin sie auch schauen – überall glauben sie, auf Zeichen einer kriselnden Demokratie zu stoßen. Glücklicherweise gibt es einen Kontrapunkt, lokale Demokratiebewegungen, die nicht bloß die bleibende Vitalität der Demokratie belegen. Sie scheinen auch Krisen, die wir auf globaler Ebene wahrnehmen, kräftig entgegenzusteuern. Dieser Anschein schlägt auf die Medienwelt durch oder wird sogar von ihr befördert: Sowohl in den Medien als auch bei den Bürgern hat die Globalisierung immer noch eine weithin schlechte, lokale Bewegungen dagegen eine überwiegend gute Presse: So beklagt man die Standortkonkurrenz samt dem Verlust von Arbeitsplätzen, die aus der globalisierten Wirtschafts- und Arbeitswelt folgen. Man ärgert sich oder empört sich sogar über nicht integrationsbereite Zuwanderer, ferner über den globalisierten Terrorismus und über grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Generell entrüstet man sich über die Abhängigkeit von nicht kontrollierbaren Global Players. Vom Ideal unserer Gemeinwesen, der rechtsstaatlichen Demokratie sind jedenfalls die globalen Entwicklungen meilenweit entfernt. Für jeden Bürger wurde in der immer noch schwebenden Finanz- und Wirtschaftskrise die Wehrlosigkeit gegen fremde Kräfte greifbar: Gravierende Fehler US-amerikanischer Banken hatten eine Weltfinanzkrise zur Folge, die die Sparguthaben der Bürger mehr als nur dezimiert haben und die über staatliche Bürgschaften den Steuerzahler kräftig zur Kasse bitten. Die fehlende Haushaltsdisziplin von EULändern wie Griechenland, aber auch Irland, Portugal und Spanien, fordert einmal mehr finanzielle Opfer von den Bürgern jener Staaten, die sich einer weit besseren Haushaltsdisziplin unterwerfen und nicht derart unverantwortlich über ihre Verhältnisse leben. So werden Bürger zur Kasse gebeten, die keinerlei Schuld trifft – es sei denn, man wirft ihnen und ihrem Sprachrohr, den Medien, vor, bei ihrer Regierung nicht rechtzeitig die Mitverantwortung eingeklagt zu haben. Dieser Vorwurf ist allerdings berechtigt. Denn über der geographisch fernen Katastrophe, dem Tsunami und dem Reaktorunglück in Japan, verdrängen die Bürger die finanziellen Risiken, die in geographischer Nähe drohen. Wegen ihrer größeren Mitverantwortung sollten aber noch mehr die Regierungen samt den europäischen Behörden zur Selbstkritik
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bereit sein, nicht zuletzt politische Medien, die den Regierungen nicht rechtzeitig und kräftig die Leviten lesen. Und man muß es generalisieren: Endlich einmal sollte die politische Elite leisten, was ständig von anderen gefordert wird: Selbstkritik. Dort nun, wo Krisen vorherrschen und einen globalen Hintergrund haben, machen sich bei den Bürgern Gefühle von Ohnmacht breit. Die Gegenbewegung dazu liegt auf der Hand: die Besinnung auf die kleinen Einheiten, auf die eigene Kommune, im Fall von veritablen Großstädten sogar auf noch kleinere Einheiten, auf das eigene Stadtviertel. Deren Vorteile sind so offensichtlich, daß es die Kommunitarismus-Debatte nicht einmal gebraucht hätte: Die kleineren Einheiten sind überschaubar, man muß freilich einschränken: relativ überschaubar. Denn auch die kleineren Sozial- und Politikeinheiten haben selten die geringe Größe eines Dorfes, deren Bewohner sich noch von Angesicht zu Angesicht kennen können. Trotzdem erlauben die relativ kleinen Einheiten wegen ihrer Überschaubarkeit ein dichtes Netz von persönlichen Beziehungen. Wegen dieses Vorteils persönlicher Kontakte kann man sich mit kleineren Einheiten leichter identifizieren, was bei manchen, zumal wenn sie sich ihrer Kindheit und Jugend erinnern, zu einem Gefühl von Heimat führt. Zum Vorteil der Identifikation kommt der der Mitwirkung hinzu: Die Partizipation wird nicht bloß erleichtert, sondern wegen der Bürgernähe auch stimuliert; teils wird sie allererst geschaffen, teils wird eine bestehende Mitwirkung vertieft. Denn lokale Demokratiebewegungen pflegen aus Betroffenheit zu entstehen. Zum Beispiel haben Anrainer von gemeinwohlförderlichen Bauvorhaben partikulare Nachteile zu erwarten. Ehrenwerter sind Bewegungen, die durchaus gemeinwohlförderliche Bauvorhaben im Bauvolumen oder in den Kosten für überdimensioniert halten. Dann kippen Bürgerbewegungen aufgeblähte kommunale Projekte; sie plädieren statt dessen für Bescheidenheit. Beispielsweise setzen sie sich für eine Reparatur gewachsener, wenn auch in die Jahre gekommene Bauten ein, statt der schon in der Nachkriegszeit vielerorts vorherrschenden Abrißbirne zu frönen. (Immerhin erreichte die Zerstörungssucht nach dem Krieg die Größenordnung der kriegsbedingten Schäden.) So verteidigt man Baudenkmäler, die große Bevölkerungsteile im Laufe der Jahre liebgewonnen haben, gegen Hochglanzprojekte, die oft nur von kleineren Gruppen befürwortet werden. Man opponiert also gegen eine neue Weltarchitektur, die sich über regionale Eigenarten anmaßend hinwegsetzt, überdies oft immense Unterhaltskosten nach sich zieht. Nicht zuletzt fürchten manche Bürgerbewegungen, daß ein kreatives urbanes Leben verloren geht. Ob sie im Einzelfall die besseren Gründe auf ihrer Seite haben oder aber nicht, läßt sich zweifellos nicht pauschal entscheiden; hier ist jede Bewegung einzeln und konkret zu beurteilen. Generell trifft nur etwas anderes zu: Lokale Demokratiebewegungen sind Ausdruck eines „Kampfes um Anerkennung“. In ihm spricht sich negativ gesehen Mißtrauen gegen „die da oben“ und positiv betrachtet eine neue Verantwortungsbereitschaft aus: Man macht sich kundig und engagiert sich, häufig mit einem hohen zeitlichen, bei nicht wenigen auch finanziellen Aufwand.
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Nicht zuletzt erleichtern lokale Bewegungen die Integration: In kleineren Einheiten lernt man seine Nachbarn und seine Berufskollegen leichter kennen – zunächst funktional, als Nachbarn und als Arbeitskollegen, die sich helfen. Im Fall von Sympathie können auf dieser Grundlage aber auch persönliche Beziehungen entstehen. Jedenfalls wird eine anfänglich häufig von Mißtrauen getragene Instanz überwunden und weicht einer „civic friendship“, einer bürgerlichen, teils gesellschafts- teils staatsbürgerlichen Freundschaft. II. So weit reicht aber nur eine erste Einschätzung: Während die Globalisierung als krisenträchtig und demokratieresistent erscheint, enthalten lokale Bewegungen ein erhebliches Demokratiepontential. Eine zweite Einschätzung korrigiert: Die erste Einschätzung ist nicht falsch, aber bestenfalls nur zur Hälfte wahr. Denn einerseits darf man die globale Weltlage nicht nur in den pessimistisch düsteren Begriffen von Krise beschreiben; man muß sich nur selber sine ira et studio beobachten: Als Tourist genießt man es, in fast alle Teile der Welt reisen zu können, als Hobby-Koch, Lebensmittel aus aller Welt einkaufen, als Restaurant-Besucher auch am Ort kulinarische Weltreisen unternehmen zu können. Als Konsument freut man sich über die Billigprodukte aus der fernen Welt – und verdrängt, daß man damit die Konkurrenz der heimischen Wirtschaft stärkt, zugleich deren Arbeitsplätze gefährdet und sich damit vielleicht selbst im Wege steht. Der Kulturbürger hört Konzerte, sieht Filme oder Theateraufführungen und besucht Sonderausstellungen, die aus aller Welt kommen. Weil es überdies sportliche, wissenschaftliche und viele weitere globale Kooperationen gibt, die insgesamt positiv, allenfalls sekundär krisenhaft ausfallen, sieht eine faire Bilanz der Globalisierung schwerlich primär negativ aus. Auf der anderen Seite darf man die kleinen Einheiten nicht beschönigen. So darf man deren von Dorfgemeinschaften wohlbekannte Kehrseite nicht vergessen: Neuankömmlingen schlägt oft Zurückhaltung, nicht selten sogar Mißtrauen entgegen. Wollen sie nicht ausgeschlossen bleiben, müssen sie sich teils anbiedern, teils hochdienen. Nicht zuletzt kommt Mobbing auch in kleinen und kleinsten Einheiten vor. Und Abneigungen können in Feindschaften übergehen und gnadenlos über viele Jahre, selbst Jahrzehnte „gepflegt“ werden. Schließlich haben auch lokale Demokratiebewegungen eine Kehrseite: Stoßen sie nicht auf überwältigende Zustimmung, so laufen sie Gefahr, die Kommune zu spalten. Und selbst bei einem weitreichenden Konsens gibt es Minderheiten, die dann scheel angesehen oder sogar gesellschaftlich geächtet werden. Ohnehin wird die Funktionsweise der Politik nicht außer Kraft gesetzt. Vor jener Auseinandersetzung um Aufmerksamkeit und Einfluß, bei der man Mitstreiter, Koalitionäre, sucht, aber auch Gegner findet, bei der man Kompromisse braucht und dabei nicht immer nur faire Mittel einsetzt, sind lokale Demokratiebewegungen nicht gefeit.
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Trotzdem bleibt ihr konkreter Anlaß, der ihnen ein prinzipielles Recht gibt: Nicht erst aufgrund globaler Entwicklungen, sondern schon innerhalb des staatlichen Gemeinwesens sind viele Bürger von der Politik enttäuscht: daß sie mehr und mehr in eine eigene, vom Volk weit abgehobene Sphäre ausgewandert ist; daß statt des Volkes Berufspolitiker herrschen, die, von Parteiführungen organisiert und von Bürokratien abgeschirmt, eigenen Gesetzlichkeiten folgen, denen man die eigentliche Aufgabe, der bloß dem Gewissen verantworteten Vertretung des Volkes, wenig ansieht. Es darf daher nicht überraschen, daß im Rahmen der (bloß) repräsentativen Demokratie die Bürger sich subjektiv als unzureichend beteiligt empfinden. „Folgerichtig“ ist die Zustimmung zur Politik um so höher, je kleiner die politische Einheit ist: Nach einer Befragung in Sachsen-Anhalt haben die Bürger das größte Vertrauen in kommunale Organe, ein mittleres Vertrauen in die Organe ihres Bundeslandes und das geringste Vertrauen in die Bundesrepublik insgesamt (Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt 2007). Einer anderen, jetzt bundesweiten Befragung zufolge ist das Vertrauen in politische Parteien alarmierend gering. Auf die Bundesregierung vertrauen doppelt so viele, noch mehr auf den Bundestag, wieder mehr auf die Bundeskanzlerin. Und weil sich den Spitzenplatz des Vertrauens zwei den politischen Tagesquerelen enthobene Institutionen teilen, das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident (Infratest dimap 2006), sollten die Parteien eines lernen: ihre Querelen, die sich schwerlich aufheben lassen, nicht so genüßlich zu zelebrieren, daß die Bürger hinter dem ständigen Machtkampf die Hauptaufgabe, die Sorge für das Gemeinwesen, vermissen. Daß das Vertrauen in die Demokratie dann enorm sinkt, spricht nicht gegen die Demokratie selbst, sondern gegen eine abgehobene „Politikerkaste“. Für die gesunkene Zustimmung könnte noch ein andersartiger Grund mitverantwortlich sein, außer enttäuschenden Fakten: eine verzerrende Wahrnehmung. Sie ergibt sich aus einem psychologischen Phänomen, der „hedonischen“ oder „evaluativen Diskontierung“, die sich kaum vermeiden läßt: Werden Dinge selbstverständlich, in einer Demokratie etwa eine unparteiliche Justiz und eine korruptionsfreie Verwaltung, ferner die Anerkennung der Grundrechte und die Pressefreiheit sowie ein trotz verdienter Feinkritik hochrangiges Bildungs- und Gesundheitswesen, so verlieren sie an subjektiv erlebtem Wert. Für mangelndes Vertrauen gibt es einen dritten Grund. Zweifel an der Problemlösungs-Fähigkeit der Demokratie können sich auch einer ungerechten Kritik verdanken. Daß die lebenswichtige Chance, einen Arbeitsplatz zu finden, mittelfristig wieder gestiegen ist, sowohl bei Jugendlichen als auch bei Älteren, wird weder als Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen noch als Beleg dafür, daß die Demokratie Probleme immer noch halbwegs zu lösen vermag. Die Notwendigkeit von Verbesserungen versteht sich. Beispielsweise tritt ein Land, das in der Geburtenrate zur negativen Spitze gehört, dem zunehmenden Abwandern der hochqualifizierten Jugend allzu zögerlich entgegen.
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III. Der genannten Politik-Enttäuschung arbeiten nun lokale Demokratiebewegungen entgegen und stärken zumindest auf dieser Ebene das Vertrauen in die Demokratie. Dabei tritt ein dreifacher funktionaler Mehrwert auf: Werden die lokalen Bewegungen in den Entscheidungsprozeß eingebunden, so erhält dieser eine größere Legitimation. Überdies wird die Politik entlastet. Schließlich erweitert sich die eindimensionale, auf die Wahl von Abgeordneten eingeschränkte Legitimation von unten nach oben zu einem sowohl mehrdimensionalen als auch Sachgeschäfte einschließenden Prozeß. Gleichwohl gibt es auch hier das Andererseits: Rundum bürgernäher sind lokale Bewegungen nicht. Das beginnt damit, daß lokale Bewegungen die Interessen und Sorgen ihrer Bürger in der Regel höchst selektiv aufgreifen und dort eine Maximierung eines Aspektes suchen, ohne sich damit der schwierigeren Aufgabe der Optimierung einer Mehrzahl von Aspekten auszusetzen. Dazu kommt ein tiefliegendes Problem. Selbst wenn die lokalen Bewegungen nicht selektiv agieren, dürfen sie eines nicht vergessen: Wir sind längst nicht bloß lokale, sondern auch überlokale Bürger: Bürger eines Bundeslandes, Bürger eines Einzelstaates, Bürger der Europäischen Union, nicht zuletzt Bürger der gemeinsamen Welt. Daß dieser Umstand nicht so trivial ist, zeigen einige Beispiele: Wir schicken unsere Kinder zwar immer noch überwiegend in die Quartierschule; Schulpolitik wird aber auf Landesebene und in der Kultusministerkonferenz betrieben. Oder: Wir arbeiten vielleicht in einem nahegelegenen mittelständischen Betrieb; dessen Absatzchancen entscheiden sich aber wesentlich in der Ferne, etwa in den USA oder in China. Für die politischen Rahmenbedingungen dieses überlokalen Bürgerseins nun sind keine lokalen Einheiten, sondern überlokale zuständig: zunächst einzelstaatliche, dann europäische Einheiten, schließlich globale Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO). In diesen Hinsichten können nun lokale Demokratiebewegungen aus zweierlei Gründen keine globalen Krisen steuern: Erstens agieren sie lokal, nicht global. Zweitens haben sie keine Steuerungsmittel, da diese nämlich in der Hand der Exekutive liegen und ihrerseits von der Legislative gesteuert und von der Judikative kontrolliert werden. Trotz der überlokalen Entscheidungsebenen sind freilich die lokalen Demokratiebewegungen nicht machtlos. Häufig vermögen sie zwar nur eine indirekte Macht entwickeln, eine Macht aber eben doch: Erstens können lokale Bewegungen als Seismographen für Regelungsbedarf oder Fehlentwicklungen auftreten. Zweitens können sie als gutes Beispiel auf andere lokale Einheiten überspringen und schließlich globale Wirkungen erzeugen, so daß man dann von einem „ethischen Mehrwert“ lokaldemokratischen Engagements sprechen kann. Drittens können die übergeordneten Instanzen zu einem Handeln gemäß den lokalen Interessen gedrängt werden. Ein Beispiel dafür könnten die Einflugschneisen des Flughafens Zürich sein, die wegen süddeutscher Proteste nicht mehr so Zürich-freundlich wie früher ausfallen.
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Ein anderes Beispiel bieten die Atomkraftwerke, die unsere Nachbarn wie Frankreich und die Schweiz gern in Grenznähe bauen. Damit bleiben die Vorteile in deren Land, ein beträchtlicher Anteil der Gefahren wird aber ungefragt ins Nachbarland, nach Deutschland, exportiert. Hier sind, man muß aber leider den Irrealis verwenden: hier wären lokale Demokratiebewegungen sinnvoll. Sie könnten nämlich die Regierung drängen, bei entsprechend vehementem Auftreten sogar zwingen, die übliche diplomatische Zurückhaltung aufzugeben und beim Nachbarland kräftig anzuklopfen. Entsprechende Bewegungen gibt es freilich kaum. Wieder andere überlokale Probleme entstehen nicht bloß überlokal. Sie sind auch so gut wie ausschließlich überlokal zu bewältigen. Dazu gehört vor allem die Terrorismusgefahr, aber auch ein Gutteil der organisierten Kriminalität, obwohl man dem Vordringen der Mafia nach Deutschland nicht so tatenarm zusehen müßte. Es erstaunt daher nicht, daß zu diesen Themen kaum lokale Demokratiebewegungen entstehen. Wenn überhaupt geschieht es an den Ursprungsorten und zugleich den Opferorten der kriminellen Organisation.
IV. In diesen Beispielen taucht schon eine weitere Besonderheit lokaler Demokratiebewegungen auf: Sie sind nicht bloß in ihren Themen höchst selektiv, sondern darüber hinaus zum überwiegenden Teil Protestbewegungen. Keineswegs darf man den größeren Phänomenreichtum unterschlagen, beispielsweise die auf kommunaler Ebene zahlreichen freien Wählerlisten. Diese beginnen zwar aus Protest gegen die üblichen Parteien, da diese nach Meinung der Bürger auf kommunaler Ebene oft weder die richtige Personal- noch die richtige Sachpolitik betreiben. Freie Wähleristen bleiben aber bei ihrem Protest nicht stehen, werden vielmehr im Unterschied zu den typischen Protestbewegungen konstruktiv. Keinen vornehmlichen Protestcharakter hat auch das reiche Tableau der Bürgergesellschaft. Durch Individualismus und Engagement, durch Partizipation, Vertrauen und wenig Bürokratie ausgezeichnet, wendet sich die Bürgergesellschaft gegen einen Staat, der die Bürger zu gängeln neigt und dabei nicht nur seine Legitimation überdehnt, sondern sich auch vorhersehbar überfordert. Durch die Bürgergesellschaft wird die angeblich entpolitisierte Gesellschaft partiell politisiert und spiegelbildlich die Verantwortung für das Gemeinwohl partiell entstaatlicht. Mittlerweile leistet die Bürgergesellschaft eine derart vielfältige Hilfe, daß man sie als ein „Wunder gegen den Zeitgeist“ ansehen darf: Seit etwa 1980 steigt die Freiwilligenhilfe; die Zahl der Nachbarschaftsvereine und der Selbsthilfegruppen wächst; die Hospizbewegung, die Aidshilfe und die Familienpflege werden stark. Nicht zuletzt tragen Bürgerstiftungen dazu bei, daß das Gemeinwohl die Dominanz von Eigennutz und Marktorientierung aufbricht. Um die parteienbeherrschte repräsentative Demokratie vor der Entfremdung von ihrer Bürgerschaft zu bewahren, braucht man jedenfalls die Bürgergesellschaft als Kontrapunkt.
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Sie allein reicht aber als Gegenkraft nicht aus. An Entdemokratisierung in Form einer schleichenden Politisierung, besonders augenfällig bei der Besetzung von Spitzenämtern, beteiligen sich so gut wie alle Parteien. Deshalb taugt diese Unterhöhlung der Demokratie, nur wenig zugespitzt: daß die Politik den Charakter eines autistischen Subsystems der Gesellschaft angenommen hat, kaum als Wahlthema, allenfalls auf kommunaler Ebene ist es dafür geeignet. Trotzdem gibt es eine weitere Möglichkeit, die Übermacht der Parteien zu dämpfen und die Macht der entmachteten Staatsbürger zu erhöhen. Sie besteht in einer Stärkung der direkten Demokratie. Diese Möglichkeit wird aber vielerorts verhindert, in Deutschland nicht nur durch Verfassungsvorgaben, sondern auch durch die in ihrem Einfluß bedrohten Funktionseliten. Die lokalen Demokratiebewegungen im engeren Sinn bestehen nun, wie gesagt, vor allem in Protestbewegungen, die Protestbewegungen bleiben. Deren Angriffspunkt bilden häufig Großprojekte wie Eisenbahnneustrecken, ein Flughafenausbau oder auch Kläranlagen und Müllverbrennungsanlagen. Seltener richtet sich der Protest wie vor einiger Zeit in Hamburg, früher in Nordrhein-Westfalen gegen Schulreformen, die einer Parteiideologie geschuldet sind, obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerung – vorhersehbar! – dagegen wehrt. Und Entwicklungen, die zulasten der künftigen Generationen wie die Staatsverschuldung, die die Möglichkeiten in die Zukunft zu investieren, erheblich einschränken oder der Vorrang konsumtiver Ausgaben (für das Gesundheitswesen, die Rentenkassen und andere Sozialkassen) gegen investive Ausgaben (für Bildung, Wissenschaft und Forschung) werden nirgendwo zum Gegenstand lokaler Bürgerbewegungen. Zu den Bürgerbewegungen als Protestbewegungen ist dreierlei zu sagen. Der erste Punkt ist trivial, weil er sich von selbst versteht: Das Recht auf Protest ist für die Demokratie im wörtlichen Sinn essentiell; es ist mit dem Wesen der Demokratie verbunden, daher für sie unveräußerlich. Der zweite Punkt: Lokale Demokratiebewegungen sind häufig Verhinderungsbewegungen. Der Weg zur konstruktiven Gestaltungsfähigkeit ist weit; häufig ist er auch gar nicht vorgesehen. Der dritte Punkt: Ein Großteil der Protestbewegungen folgt dem St. Florians-Prinzip. Natürlich weiß man, daß es Kläranlagen und andere Lästigkeiten braucht. Ebenso weiß man, daß ein rascher Zugfernverkehr nicht bloß für die Reisenden angenehm ist, sondern auch die Straße entlastet. Nur sollte das gemeinwohlförderliche Projekt nicht das lokale Partikularwohl beeinträchtigen. So ist man bundesweit für den raschen Ausstieg aus der Kernenergie. Trotzdem werden vor Ort ein Gutteil der erforderlichen Alternativprojekte boykottiert: in den Flüssen Stauwerke, andernorts, Pumpspeicherwerke und bald vorhersehbar, die neuen Überlandleitungen für Strom. Außerdem bezieht man fehlenden Strom von den Nachbarländern, sei es von deren Atomkraftwerken, sei es von CO2-ausstoßreichen Kohlekraftwerken. Auch als derartige Protestbewegungen leisten lokale Demokratiebewegungen einen Beitrag für eine globale Krisensteuerung. Der Beitrag erfolgt aber nicht in dem
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üblichen positiven Verständnis. Mit ihrer Auflehnungsbereitschaft erschweren die Bewegungen die überlokale, dabei vermutlich auch globale Krisensteuerung.
V. In meiner Studie „Über moderne Politik“ habe ich die Leitfrage „Ist die Demokratie zukunftsfähig?“ vorsichtig positiv beantwortet: „Über eine stupende Zukunftsfähigkeit verfügen Demokratien nicht. Sie besitzen aber Ressourcen, mit denen Nicht-Demokratien teils gar nicht, teils schwerlich mithalten können: eine engagierte Bürgerschaft, ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau, kulturelle Fundamente und nicht zuletzt eine politische Ordnung, die ein flexibles Reagieren auf neue Herausforderungen ermöglicht. Auf diese Weise haben im globalen Wettbewerb der politischen Systeme die Demokratien einen facettenreichen Wettbewerbsvorsprung. Die aufgeklärt liberale, darüber hinaus partizipative Demokratie erfreut sich eines Legitimitäts-, eines Wissens- und eines Wirtschaftsvorsprungs sowie zusätzlich eines selbstkritischen Lernvorsprungs, der die fraglos bestehenden Defizite an Zukunftsfähigkeit inskünftig noch stärker ausgleichen könnte.“ (Höffe 2009, 312). Eine Politik, die drohende Übel erst erkennt, wenn sie sich deutlich zeigen, verletzt ihre Grundaufgabe. Ebenfalls verletzt sie ihre Aufgabe, wenn sie, statt Chancen rechtzeitig zu ergreifen, ihr Gemeinwesen für Innovation und Kreativität nicht offenhält. An den Pflock des Augenblicks nicht gebunden, lebt der Mensch nämlich aus der Vergangenheit und mit Blick auf die Zukunft. Notgedrungen erwartet er von der Politik, daß sie sich darauf einstellt, also für die Zukunft eine facettenreiche Verantwortung übernimmt und dafür aus der Vergangenheit lernt. Dieser Grundsatz jeder Politik fordert nun angesichts der teils enormen Auflehnungsbereitschaft den selbstkritischen Lernvorsprung der Demokratie heraus: Ein Gemeinwesen ist nur dann zukunftsfähig, wenn es noch zu größeren Infrastrukturprojekten fähig ist, und zwar sowohl finanziell fähig, weil es nicht an der Staatsverschuldung erstickt, als auch politisch und rechtsstaatlich fähig, weil es nicht an einer Überfülle von gelegentlich kurzsichtigen und eigensüchtigen Einsprachen scheitert. Dort, wo lokale Demokratiebewegungen fast unüberwindliche Hürden schaffen, ist ein selbstkritisches Lernen dringend geboten. Planungen von zwölf bis fünfzehn und mehr Jahren kann man beileibe nicht als „übereilt“ disqualifizieren. Dort, wo die demokratischen Entscheidungsprozesse stattgefunden haben, darüber hinaus die rechtsstaatlichen Einspruchsmittel erschöpft sind, sollte man nicht noch weitere Verhinderungsinstrumente favorisieren. Allerdings könnte es auch sein, daß die Politik von Anfang an die Interessen und Sorgen ihrer Bürger nicht gebührend berücksichtigt hat.1 1 Zur Globalisierung und zur Zukunftsfähigkeit der Demokratie s. auch O. Höffe, DZG, 2002; ders., Ist die Demokratie zukunftsfähig? Über moderne Politik, 2009, C.H. Beck München. 2
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Summary The manifold problems issuing from globalisation increasingly lead to feelings of powerlessness in individual citizens. The resulting political disappointment involves a remarkable increase in so-called local democratic movements. Commitment in local communities like these brings several benefits to individuals. Local communities are easy to identify with and they provide new chances for political participation. Furthermore, they have a positive influence on local integration and help to spread an atmosphere of “civic friendship”. While this might account for an entirely positive view on local democratic movements, a closer look, however, reveals problematic aspects. Not only do these movements tend, like local communities in general, to exclusive behaviour towards strangers, they may also split existing communities internally. Moreover, some general structural problems of politics also hold for local democratic movements. Finally, local democratic movements are likely to deny global and national responsibilities of their members from a selective point of view often focusing all efforts on one single issue, e.g. a large construction project. Thus, they are often guided by a “not-in-my-backyard” attitude. A fundamental diffidence towards political elites forms an important motivation for engaging in local democratic movements. However, close examination shows that this diffidence is only partly justified. In looking critically on what they consider as misguided decisions, people tend to forget about successful policies being run at the same time. As a result, local democratic movements are unable to address truly global problems. Still, they may unfold indirect political power and thus contribute on a smaller scale to the solution of global problems. But in order to meet up with requirements of the future, democracy has to keep its ability of successfully completing large projects. The existence of local democratic movements should not generally endanger this ability. Thus, where democratic decision processes went through all stages, the use of further remedies to stop large projects should be dismissed.
The Ethics of Assassination and Targeted Killing Seumas Miller1
Two recent events have placed the ethics of targeted killing to the fore: the killing of Osama bin Laden in Pakistan and the bombing by NATO forces of Colonel Gadaffi’s compound in Tripoli in the context of the civil war in that country. In May 2011, Osama bin Laden was killed by US special forces in Abbottabad, Pakistan. US officials said bin Laden resisted and was shot in the head; it has also emerged that he was unarmed. US officials also said that three other men were killed during the raid, one believed to be bin Laden’s son and the other two his couriers; in addition, a woman was killed when she was used as a shield by a male combatant. There were no American casualties. Bin Laden’s death came nearly 10 years after Al Qaeda terrorists hijacked and crashed American passenger airplanes into the World Trade Center in New York and the Pentagon outside Washington killing some 3000 people. Since Abbotabad is a medium-sized city, fairly close to Pakistan’s capital, Islamabad, and home to a large Pakistani military base, questions have been raised as to how bin Laden could have lived there undiscovered for so many years without alerting the Pakistan security agencies. Significantly, the US operation to kill bin Laden was evidently carried out without the knowledge of the Pakistani government. What of the bombing of Colonel Gadaffi’s compound in Tripoli? In February 2011, major political protests broke out in Libya against Gaddafi’s government. Subsequently these have turned into a civil war in which evidently Gadaffi has been responsible for the killing of unarmed civilians by Libyan forces loyal to him. In March 2011 the United Nations declared a no fly zone in Libya and authorised airstrikes by NATO forces to be undertaken for the purpose of protecting the civilian population of Libya. A NATO air-strike in April in Tripoli apparently killed the youngest son of Gaddafi and three of his grandsons. US Defense Secretary Robert Gates said that NATO was not targeting Gaddafi specifically but rather his command-and-control facilities – including a facility inside Gadaffi’s sprawling Tripoli compound. However, it remains unclear whether or not NATO is attempting to kill 1 Seumas Miller is Professor of Philosophy at the Centre for Applied Philosophy and Public Ethics (an Australian Research Council Special Research Centre) at Charles Sturt University and the Australian National University. He is also a senior research fellow at the Centre for Ethics and Technology at Delft University of Technology.
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Gadaffi; this is especially so given that Gadaffi is a key element of the Libyan government’s armed forces command-and-control centre. It is also unclear whether under UN resolution 1973 it is permissible for NATO forces to bomb command-and-control facilities in order to protect civilians; the wording of the resolution is vague, speaking as it does of using, “all necessary measures to protect civilians”. Certainly, it does not authorise Gadaffi’s removal from power by military means. On the other hand, if Gadaffi’s military forces were to be destroyed by NATO in the course of their efforts to protect the civilian population, presumably Gadaffi would cease to be Libya’s political leader. Indeed, at the time of writing he has lost control of the country as a whole and is engaged in a civil war which he well may lose. I note that in addition to being responsible for civilian deaths in this conflict, Gadaffi has a long history of human rights violations to his name. Moreover, Gaddafi is responsible for the assassination of dozens of his ‘enemies’ around the world. In May 2011 the International Criminal Court issued a request for an arrest warrant against Gaddafi for “crimes against humanity”. Having outlined the targeted killing of Osama bin Laden and the (possible) attempted targeted killing of Colonel Gadaffi by way of introducing my topic, I now turn directly to the ethics of targeted killing.
I. Assassination Targeted killings and assassinations are closely related, but not identical, phenomena; moreover, neither has a precise and accepted definition.2 Roughly speaking, assassination is “the deliberate killing, without trial, of a political figure” (Lackey 1974:57) and, we might add, “for political reasons” (Khatchadourian 1974:41). Additional definitional conditions might include the use of treachery. Assassination has a very long history (Ford 1985). It has been a practice of political leaders gaining and retaining political power within a polity, e.g. the assassination of political rivals by Cesare Borgia (famously described in Machiavelli’s The Prince in 1532). Assassination has taken place in the context of wars, including guerilla wars, e.g. assassination by the Vietcong of South Vietnamese officials during the Vietnam War. It has been a tool of terrorist groups in peacetime. For example, in the 19th century Russian revolutionaries endorsed assassination as an instrument of political change, e.g. the assassination of Alexander II in 1881 (Plehanov 1898). And assassination has also been practiced by individuals acting alone, e.g. assassination of US President John Kennedy.
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An earlier version of this section appeared in Miller 2011.
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Assassination of one’s political enemies in the context of a well-ordered, liberal democratic state is murder and, given the potentially destabilizing effects, a very serious political crime. Accordingly, it cannot be tolerated; it is both unlawful in such nation-states and generally regarded as morally unjustifiable. However, the legality, and certainly the morality, of assassination in other contexts is less clear (Altman and Wellman 2008). During peacetime the assassination of the political leaders of foreign states is unlawful under various treaties and conventions such as the 1937 Convention for the Prevention and Repression of Terrorism, the UN Charter, and the 1973 New York Convention on the Prevention and Punishment of Crimes Against Internationally Protected Persons, Including Diplomatic Agents. Moreover, it is a violation of the right to life enshrined in such documents as the International Covenant on Civil and Political Rights. The prohibition of assassination in international law was originally intended to protect heads of state – not leaders of terrorist movements. At any rate, whereas in 1976 President Gerald Ford had signed an executive order banning assassination, the events of 9 / 11 led President George W. Bush in 2001 to authorize the CIA to carry out missions to kill Osama bin Laden. President Obama maintained that policy. In theory at least, the targeted killing of bin Laden by the US was not inconsistent with the prohibition on the assassination of heads of state; for bin Laden was not a head of state. For the same reason, it might be far more difficult to legally – as opposed to morally – justify killing Colonel Gadaffi; Gadaffi is, presumably, a head of state (although the condition of civil war in Libya might be thought to bring his status as a head of state into question). From the fact that bin Laden was not a head of state it follows that he was not protected by those laws and treaties that prohibit the assassination of heads of state. But it does not follow from this that it was lawful to kill him. From a legal, and a widely held moral, perspective the right to life is not an absolute right. Importantly for our discussion here, it is legally and morally permissible for combatants to use lethal force against enemy combatants in the context of war. This raises the question as to whether assassination in the context of a war is legally justifiable. Evidently, assassination in war is normally unlawful (Kretzmer 2005). Under the norms of international humanitarian law, for example, killings are only lawful if those killed are combatants – but political actors are not necessarily combatants. On the other hand, Steven David (2005:13) (quoting military lawyer, Charles Dunlap) argues that neither US nor international law prohibits the killing of those directing armed forces in war. Moreover, it has been argued that the principle of reciprocity has application in international law and might provide a legal justification for counter-measures such as tit-for-tat assassination (Osiel 2001).
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Arguably bin Laden was leading a campaign of violence against the US and its allies; so he was, or was akin to, a military leader, and since military leaders are not legally protected from being killed in time of war perhaps the targeted killing of bin Laden was lawful. Let me now turn to the morality of assassination. Arguably the assassination of Hitler by Colonel Graf Claus von Stauffenberg and his co-conspirators in 1944 during the course of Second World War would have been morally justifiable, even if not legally allowed. For one thing, military and political leaders who direct the combatants under their command to commit atrocities, e.g., genocide, are morally responsible for these actions of their subordinates; pacifism aside, these leaders do not have a moral right not to be killed in these circumstances, any more than the combatants they command have any such right. For another thing, pragmatic arguments based on, for example, the untoward outcomes of ‘leaderless’ defeated nations, do not necessarily apply, and certainly not in the case of totalitarian regimes such as that of Nazi Germany or the Soviet Union under Stalin. On the other hand, the argument might apply that it would make no difference because the leader will be replaced by someone equally as bad. This was probably not so in the case of Hitler, but might have been so in the case of Stalin, since Beria might well have taken over (depending on when Stalin was to have been assassinated (Lackey 1974)). What of the morality of assassinating Colonel Gadaffi? From a retrospective moral perspective, killing the despot and human rights violator, Gadaffi, might be held to be an act of substantive justice. However, procedural justice, at least as it is conceived in criminal justice contexts, requires arrest and a fair trial. If so, procedural justice is likely to be denied for some time; for Gadaffi is very likely to be able to resist arrest while he remains in power. From a prospective moral perspective, were NATO forces to kill Gadaffi it would arguably be an act of killing in defence of others, since evidently he continues to constitute an immediate threat to the lives of unarmed Libyan civilians. Moreover, his removal from power would likely lead to a better state of affairs for the Libyan people. For it is far from obvious that he would be replaced by someone equally as bad; indeed, the prospects for some form of democracy in a post-Gadaffi Libya seem reasonably good. And arguably the least costly way to achieve his removal – in terms of loss of human life – is by killing him. So assassination is unlawful but, conceivably, in some extreme cases, e.g. that of Hitler and Gadaffi, morally justifiable (from the prospective, if not the retrospective, perspective). Does it follow from this that the law ought to reflect morality? That is, should the law be adjusted to admit of exceptions? If so, perhaps the law and morality should always be strictly in accord when it comes to the practice of assassination. Let us now consider the possibility that assassination might be morally justifiable (or at least morally excusable) in some extreme circumstances but that, nevertheless,
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it ought not to be lawful. This kind of claim is sometimes made in the context of a discussion of the so-called problem of dirty hands. Here it is important to first note some conceptual differences between the concept of dirty hands and the concept of noble cause corruption. The idea of dirty hands is that political leaders, and perhaps the members of some other occupations such as soldiers and police officers, necessarily perform actions that infringe central or important principles of common morality, and that this is because of some inherent feature of these occupations. Such dirty actions include lying, betrayal, and especially the use of violence, e.g., assassination. The first point to be made here is that it is far from clear that such acts are necessarily acts of corruption, and hence necessarily acts of noble cause corruption. (Noble cause corruption is corruption in the service of a good end, e.g. police fabricating evidence against a known drug dealer in order to ensure his conviction.) In particular, it is not clear that all such acts undermine to any degree institutional processes, roles or ends. (This is compatible with such acts having a corrupting effect on the moral character of the persons who perform them, albeit not on those traits of their moral character necessary for the discharging of their institutional role responsibilities as (say) politicians, police or soldiers.) The second and related point is that some putatively dirty actions are indeed definitive of political roles, as they are of police and military roles. For example, it is evidently a defining feature of police work that it uses harmful and normally immoral methods, such as deceit and violence, in the service of the protection of (among other things) human rights (Miller and Blackler 2009: chapter 1). Clearly, a similar definition is required for the role of soldier. And since political leaders necessarily exercise power and – among other things – lead and direct police and soldiers, they too will participate in dirty actions in this sense. However, such use of deceit, violence and so on, can be, and typically is, morally justified in terms of the publicly sanctioned, legally enshrined, ethical principles underlying police and military use of harmful and normally immoral methods, including the use of deadly force. In short, some putatively dirty actions are publicly endorsed, morally legitimate, defining practices of what most people take to be morally legitimate institutions viz. government, and police and military institutions. However, the advocates of dirty hands intend to draw attention to a phenomenon above and beyond such publicly endorsed, legally enshrined and morally legitimate practices. But what is this alleged phenomenon? According to Michael Walzer (1973:164 –167), politicians necessarily get their hands dirty, and in his influential article on the topic he offers examples such as the political leader who must order the torture of a high-ranking terrorist if he is to discover the whereabouts of bombs planted by the latter and set to go off killing innocent people. These examples consist of scenarios in which politicians are not acting in accordance with publicly endorsed, legally enshrined, morally legitimate practices; indeed, they are infringing moral and legal requirements. However, the torture
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scenario is hardly an example of what politicians in liberal democracies routinely face; indeed, it is evident that even in the context of the ‘war on terrorism’ such cases only arise very occasionally, if at all. There might in fact be some political contexts in which central or important moral principles do need to be infringed on a routine basis, albeit for a limited time period. Such contexts might include ones in which fundamental political institutions had themselves collapsed or were under threat of collapse. Consider the case of the Colombian drug baron, Pablo Escobar (Miller et al. 2005:27). Escobar was apparently executed in 1993 by police after he was cornered at the end of a large-scale manhunt. However, Escobar was no ordinary criminal. He headed the largest cocaine cartel in Colombia, accounting for up to 80% of the multi-billion dollar export of Colombian cocaine to the US. Such was the scale of Escobar’s operation, and the ruthlessness by which he maintained it, that by the time of his death he was responsible for the deaths of literally hundreds of people, including many innocent civilians, foreign citizens, police officers, judges, lawyers, government ministers, presidential candidates and newspaper editors. Indeed, the Colombian state, with the technical, military and intelligence support of the US, was fighting a de facto war against Escobar and fighting for its very survival. Accordingly, it might be argued that Escobar’s execution was a politically motivated act and that Escobar was both a criminal and, by virtue of his explicit attacks on the political system, a political figure. That is, Escobar’s execution was an assassination on our definition of assassination. Clearly Escobar’s execution was unlawful. Moreover, it is plausible that such executions should never be made lawful. What of the morality of the execution? The first point to be made here is that even if such dirty methods are morally justified it is in the context of an argument to the effect that their use was necessary in order to re-establish political and other institutions in which the use of such dirty methods would presumably not be permitted. Accordingly, such scenarios do not demonstrate that the use of dirty methods is a necessary feature of political leadership, and certainly not in the context of a well-ordered liberal democracy at peace. The above situation is one of emergency, however it is institutional emergency that is in question, e.g. it is not a one-off, terrorist attack that threatens lives but not institutions. So even if one wanted to support all or some of the methods used by the Colombian authorities, one would not be entitled to generalize to other states of emergency in which there is no threat to institutions per se. Moreover, there are reasons to think that many relevant dirty methods, e.g., execution and use of criminals to combat criminals, are in fact counter-productive. For example, use of other criminal groups (such as competing drug lords) against Escobar tended to empower those groups. Further, such methods although dirty are not as dirty as can be. In particular, methods such as execution of drug lords are directed at morally culpable persons, as opposed to innocent persons. At the dirty end of the spectrum of dirty methods that might be used in politics are those methods that involve the intentional harming of innocent persons.
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While the killing of Gadaffi, were it to take place, should not be assimilated to the killing of Escobar, there are some similarities. For Gadaffi has been accused of ‘hollowing out’ Libyan institutions, albeit from his position as head of state (unlike Escobar who operated from outside the government). Accordingly, an additional justification for the targeted killing of Gadaffi – additional to the above-mentioned ‘justice’ and ‘defence of others’ justifications – might be the imperative to protect, or perhaps rebuild, Libyan institutions, notably institutions of governance.
II. Targeted Killing of Terrorists The term, “targeted killing” has recently come into general use in relation to the state-sanctioned killing by state operatives of members of non-state terrorist groups, most recently and spectacularly in the case of Osama bin Laden by US special forces, but also (notably) of PLO and Hamas members by Mossad operatives.3 (Mossad is Israel’s intelligence and security agency.) Israel is salient here if only because it has since 2000 openly pursued a policy of targeted killings and named it as such. According to Yael Stein (2003:127), Israel has killed at least eighty-six Palestinians in this manner and killed another forty Palestinian bystanders. For example, Israel has killed Abu Ali Mustafa, the leader of the Popular Front for the Liberation of Palestine, and the Hamas leader, Mahmoud Abu Hanoud. The January 2010 killing in Dubai of Mahmoud al-Mabhouh, a senior Hamas leader, has also been ascribed to Mossad. One way of differentiating targeted killings from assassination is to restrict the former to armed conflicts, including conventional wars, non-conventional (socalled) wars of liberation and armed conflicts involving terrorist groups. Thus the assassination of President Kennedy or Mahatma Gandhi would be assassinations, but not targeted killings, under this restriction. A second restriction would be one that excluded the killing of political figures who were not in the chain of command of the armed force conducting the war or terrorist attacks. Thus assassinating black township mayors in apartheid South Africa who were collaborating with the apartheid government would not count as targeted killing in this sense. Let us accept these restrictions on the definition of targeted killings. A third way of distinguishing targeted killings from assassinations would be to include among targeted killings the killing of terrorists who were not leaders – and a fortiori not political leaders – but merely (so to speak) foot soldiers, e.g. those who simply follow the orders of others to plant bombs in buses and other public places to murder civilians. The targeted killing of such lower echelon terrorists is not assassination according to our definition of assassination because these terrorists 3 Earlier versions of the material in this section appeared in Miller 2009 Chapter 5 and 2012.
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are not political figures in the required sense. Rather targeted killing of these terrorists is akin to snipers killing enemy foot-soldiers in a conventional war, or police snipers shooting dead crazed gunmen shooting at passersby. The further distinction between political and military leaders could be invoked at this point and applied to terrorist organizations, certainly a number of terrorist organizations, such as the IRA, have had political and military wings. However, terrorism as typically understood, at least in the philosophical literature, and at any rate as understood here, involves methods such as the deliberate killing of innocent civilians in the service of specifically political ends, e.g. in order to undermine the political status quo. Thus Al Qaeda and Hamas are terrorist organizations in this sense, but arguably the African National Congress was not. For this and other reasons it is often difficult to sustain the standard distinction between the political and the military leadership in terrorist organizations. This is evidently so in the case of Al Qaeda: bin Laden, for example, has functioned as both a political / ideological leader and the person in charge of military style operations. Moreover, Al Qaeda does not have a clear separation between its, so to speak, military ends and its political ends: destroying Israel, for example, appears to be both a military and a political objective. On the other hand, if the distinction can be made out in relation to, at least some, terrorist organizations then the targeted killing of the military leadership (as opposed to its political leadership) within such a terrorist organisation, would not count as assassination – in which case targeted killing would no longer always be a species of assassination. In the absence of clear intuitions, let us adopt a stipulative definition according to which targeted killings are a species of assassination, that is, they involve the killing of political figures for political reasons. However, they are assassinations that take place in the context of armed conflict, and the persons killed are political figures who are in the chain of command of an organization engaging in armed conflict. There is a significant legal issue here in relation to the status of wars or armed conflicts between states and non-state actors. Moreover, there is a distinction to be made between (so to speak) domestic and trans-national terrorist groups, i.e. between terrorist groups that are in effect insurgents within the territory of the state and those that are not based in the state. However, evidently a case can be made for terrorist groups, whether domestic or trans-national, to be regarded as engaging in armed conflict and, as such, subject to the laws of war, e.g. the Geneva Convention, under a military or war framework. On the other hand, even if this case cannot be sustained it may be that terrorist groups (and trans-national terrorist groups in particular) are, nevertheless, not to be assimilated to ordinary criminal organizations to be dealt with under the normal law enforcement model. Rather some kind of mixed model needs to be developed (Kretzmer 2005). To recap. We now have a definition of assassination according to which it is the intentional killing of political leaders (named individuals or individuals who are
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otherwise uniquely referred to) for political reasons. Targeted killing is a species of assassination; specifically, it is assassination that takes place in the overall context of a war – but not necessarily or even typically in a theatre of war – and consists only of the killing of political leaders who are also in the chain of command of the military forces engaged in the war in question. Accordingly, the intentional killing in a theatre of war of an enemy military leader for purely strategic military reasons is not targeted killing in this sense. On the other hand, the killing of bin Laden by US special forces was clearly a case of targeted killing in this sense. Consistent with this definition, the term “targeted killing” potentially applies to non-state actors who kill state actors (or, for that matter, non-state actors) as well as state actors who kill non-state actors (or state actors). Moreover, the nation-states in question could be liberal democratic or authoritarian states. However, our focus here is on targeted killings by liberal democratic states of non-state actors and, in particular, leaders of terrorist groups (terrorist-combatant-leaders). This is in part for reasons of space but also because recent discussion in the academic literature has largely been of targeted killings of this kind and, especially, in relation to the activities of Mossad in relation to, for example, Hamas, and the CIA in relation to, for example, Al Qaeda since 9 / 11. There are a variety of circumstances in which the targeted killing of terrorist leaders by liberal democratic states might take place and which bear on its legality and morality. For the sake of simplicity I assume in what follows that the targeted killings in question take place either: (1) a de facto theatre of war, albeit war against a non-state actor or; (2) in a setting in which there is no effective enforcement of the law in relation to terrorists perpetrating ongoing, serious terrorist attacks against the liberal-democratic state in question. Perhaps the firing of a rocket by a US unmanned aircraft in Yemen in 2002 that killed 6 Al-Qaeda operatives is an instance of the latter kind of case. The targeted killing of bin Laden in a well-ordered, urban setting in Pakistan provides a different kind of case. Certainly, it was not a theatre of war. Moreover, it was a setting in which there was enforcement of the law; indeed, a setting in which the state enforcing the law (Pakistan) was an ally of the liberal-democratic state suffering terrorist attacks (USA). However, law enforcement in relation to bin Laden in particular, and perhaps Al Qaeda in general, was evidently ineffective due to, presumably, the ambivalence of the Pakistani state on the matter. From a retrospective moral perspective, killing bin Laden is held by many to be an act of substantive justice. However, as already noted, procedural justice – at least as it is understood in criminal justice contexts – requires arrest and a fair trial. It might be responded that substantive justice ultimately trumps procedural justice on the grounds that the latter is in large part the means to realise the former. Or it might be responded that bin Laden resisted arrest, and deadly force can be justifiably used against those resisting arrest for very serious offences, such as murder. The former response is not without merit but the latter is not very convincing. It is difficult to
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believe that the use of deadly force was a last resort, since bin Laden was apparently unarmed when cornered. From a prospective moral perspective, killing bin Laden was arguably an act of self-defence, since evidently he continued to constitute a threat to the lives of innocent Americans (and others). On the other hand, at the time of his death he was apparently playing a much less central operational role in Al Qaeda than previously. I will assume in the ensuring discussion of the legality and morality of targeted killing that targeted killings in our sense are constrained by familiar minimal legal and ethical principles strictly applied. These include: (1) it has been well-confirmed that the target is a high ranking terrorist-combatant; (2) the decision has been authorized at a very high political level (e.g. by the US President or the Israeli Prime Minister) and; (3) the decision is subject to accountability mechanisms of some sort, (e.g. judicial oversight). Importantly, they also include: (4) the targeted killing is undertaken for purposes of self-defense, (e.g. to prevent future lethal terrorist attacks, as opposed to, for example, as retribution). That is, I assume for our purposes here that the required justification is essentially prospective in character. From a prospective moral perspective, killing bin Laden was arguably an act of self-defence, since evidently he continued to constitute a threat to the lives of innocent Americans (and others). At the time of his death he was apparently playing a much less central operational role in Al Qaeda than previously. However, the point is that the terrorist organisation, Al Qaeda, constitutes an ongoing deadly threat to Americans (and others) and bin Laden remained an important member of that organisation, symbolically and in other ways – sufficiently important for his targeted killing to count as an act of self-defence against the organisation. Let me now turn to the arguments for and against targeted killing in our sense (and which is subject to our minimal legal and ethical constraints). Yael Stein (2003:127 – 137) has argued that the Israeli government policy of targeted killings, (‘assassinations’, as she calls them), is unlawful and morally unjustifiable. On the question of legality I note that the fact – if it is a fact – that international law admits only of combatants and civilians, and defines combatants in such a way that they must bear arms openly, provides very weak grounds for refraining from regarding terrorists as combatants – and, specifically, the leaders of combatants – in contexts of internecine war, such as the Israeli-Palestinian conflict. Surely, persons who are trained in military techniques, are armed, and are engaged in killing combatants (as well as civilians) for military and political purposes are, for all intents and purposes, combatants, notwithstanding the fact that they do not wear uniforms and do not bear arms openly. As noted above, David argues that neither US nor international law prohibits the killing of those directing armed forces in war and, arguably, Israel is engaged in armed conflict of a kind that is assimilable to war (as is the US in relation to Al Qaeda).
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Moreover, as mentioned above, some have argued, e.g. Osiel (2001), that the legally enshrined principle of reciprocity in war applies to the Israeli and US counter-terrorist responses to groups such as Hamas and Al Qaeda. Accordingly, it is concluded, Israel and the US legally can respond in kind and engage in targeted killings, torture and the like. At any rate, let me turn to the moral arguments. In responding to Steven David (2003), Stein (2003) argues that Israeli targeted killings do not comply with the Just War principles of necessity, proportionality and discrimination. (The principle of discrimination forbids the killing of non-combatants). She gives as an example the above-mentioned killing of the Hamas official Salah Shahada carried out in Gaza in 2002 and involving bombing his house, killing thirteen other Palestinians, including children. Her point in relation to this specific example is well made; such actions constitute, or should constitute, war crimes. However, using a one-ton bomb on a house containing innocents is hardly a necessary feature of targeted assassinations. Consider for example, firing a rocket into a car occupied only by a terrorist leader and his terrorist companions. Or consider the targeted killing of bin Laden. Stein’s second argument invokes the necessity (as she sees it) to deploy the law in relation to the application of principles of justice. That is, punishing (killing?) terrorists might be morally justified, but only if they have been found guilty according to a court of law (Khatchadourian 1974, 2005). Leaving aside the vexed question of substantive as opposed to procedural justice touched on above, it is quite clear that there are many instances of morally justifiable killing, e.g., in self-defense, that do not require, indeed cannot require, prior adjudication by a court of law. Accordingly, if it is known with certainty that a person is a terrorist and the terrorist cannot be apprehended, tried and punished, then arguably – other things being equal – it is morally permissible to kill the terrorist in order to save the lives of the terrorist’s future victims (although not necessarily to punish the terrorist). More generally, her argument does not apply to terrorist-combatants. Thus if a given area is a de facto theatre of war (and / or perhaps is operating under martial law) then justifiably there might be rules of engagement permitting the shooting on sight of persons reasonably and rightly taken to be terrorist-combatants. Targeted killing of persons outside de facto theatres of war is a different matter. However, it might be justified, if the persons in question were members of an organization that was perpetrating serious and ongoing terrorist attacks, the persons themselves were perpetrating serious and ongoing terrorist attacks, and it was not possible to bring either the organization or these individuals to justice. Stein is on stronger ground when she points out the problems of ineffectiveness, e.g., targeted killing of some terrorists might not reduce terrorist attacks, since others take their place, and of error, e.g., the wrong person might be targeted and killed. The latter point has recently been made in the media in relation to the targeted killing of Taliban leaders in Afghanistan by NATO forces; it is suggested that the intelligence on which the identification of persons as terrorists is based is often of poor quality and provided by local Afghanis with questionable motives.
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In the case of the killing of bin Laden there was apparently no so-called ‘collateral damage’, at least of innocent civilians. On the other hand, perhaps an analogous point might be made in relation to ineffectiveness. The considerations in play here are complex. Certainly, the killing of bin Laden is symbolically important, given bin Laden’s key role in Al Qaeda’s terrorist activity especially on 9 / 11. It constitutes a major symbolic victory for the US and its allies and, to that extent, weakens Al Qaeda and the cause of global terrorism more generally. The counter-point here is that it might galvanize bin Laden’s followers and provide further impetus to terrorism. Here the bystander role of Al Qaeda in the popular uprisings in Libya, Egypt, Tunisia and elsewhere in the Arab world is salient. Perhaps the death of bin Laden will have little effect in these muslim countries. A further dimension to the issue is US-Pakistan relations and, relatedly, Pakistani government-Pakistani citizenry relations. On balance, will the killing of bin Laden further destabilise Pakistan or are Pakistanis unsupportive of Al Qaeda, notwithstanding their hostility to the US? At any rate, these consequentialist and other considerations are not necessarily in-principle problems with targeted killings; they do not demonstrate that targeted killing is always or necessarily morally unjustified.
Zusammenfassung Im ersten Abschnitt des Aufsatzes wird die gezielte Tötung Osama bin Ladens und eine (möglicherweise) beabsichtigte gezielte Tötung Muammar al-Gadaffis geschildert. Im zweiten Abschnitt wird eine Analyse der ethischen Zulässigkeit gezielter Tötungen zur Diskussion gestellt, während der dritte Abschnitt sich mit der Unterscheidung von gezielten Tötungen (targeted killings) einerseits und Attentaten (assassinations) anderseits befasst. Grob gesagt ist ein Attentat die vorsätzliche Tötung einer politischen Person aus politischen Gründen, und zwar ohne vorherigen Prozess. Es erscheint vertretbar anzunehmen, dass einige Attentate, etwa das von Graf von Stauffenberg und seinen Mitverschwörern für den 20. Juli 1944 geplante Attentat auf Hitler, moralisch gerechtfertigt waren (bzw. gewesen wären), selbst wenn sie rechtlich unzulässig gewesen sein mögen. Militärische und politische Führer, die Kombattanten unter ihrer Befehlsgewalt anweisen, Gräueltaten wie Völkermord zu begehen, sind für diese Handlungen ihrer Untergebenen moralisch verantwortlich; die Position des Pazifismus außer Acht lassend, haben solche Führer unter diesen Umständen kein moralisches Recht darauf, nicht getötet zu werden, ebenso wenig wie ihre Untergebenen ein solches Recht haben. Eine Möglichkeit, gezielte Tötungen von Attentaten zu unterscheiden, besteht darin, erstere auf bewaffnete Konflikte – einschließlich konventioneller Kriege, nichtkonventioneller (sogenannter) Befreiungskriege und bewaffneter Konflikte unter Beteiligung terroristischer Gruppen – zu beschränken. Mit einer solchen Einschränkung wäre die Tötung von John F. Kennedy oder Mahatma Gandhi zwar als Atten-
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tat, nicht aber als gezielte Tötung zu qualifizieren. Eine zweite Einschränkung liegt darin, dass eine gezielte Tötung nur in Bezug auf solche politischen oder militärischen Personen möglich ist, die in der kriegführenden Armee (oder der entsprechenden terroristischen Organisation) Befehlsgewalt innehaben. Demzufolge ist die Tötung schwarzer Bürgermeister in den südafrikanischen Townships, die mit dem Apartheid-Regime zusammenarbeiteten, nicht als gezielte Tötung im engeren Sinne anzusehen. Aus einer retrospektiven moralischen Perspektive heraus wird die Tötung Osama bin Ladens von vielen als in materieller Hinsicht gerecht empfunden. Das formale, prozessuale Recht erfordert – jedenfalls im strafrechtlichen Kontext – dagegen an sich die Festnahme und ein faires Verfahren. Dem kann aber entgegengehalten werden, dass das Prozessrecht in erster Linie ein Mittel zum Zweck darstellt, und zwar zum Erreichen und Umsetzen materieller Gerechtigkeit. Daher wiegt die materielle Gerechtigkeit letztlich schwerer. Aus einem prospektiven moralischen Blickwinkel heraus scheint es möglich, die Tötung Osama bin Ladens als einen Akt der Selbstverteidigung anzusehen, da er offensichtlich weiterhin eine Bedrohung für das Leben unschuldiger Amerikaner (und anderer) darstellte.
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Zur Zuschreibung von Verantwortlichkeit – On the Ascription of Responsibility
Zurechnungsmetaphysik? Samuel Pufendorfs Begriff der imputatio als Realitätsgrund von Moralität Alexander Aichele Der Begriff der Zurechnung gehört keineswegs exklusiv der Sphäre des Rechts oder auch der Disziplin der Jurisprudenz zu; systematisch betrachtet entstammt er ihr nicht einmal. Vielmehr bildet er einen fundamentalen Bestandteil der Moralphilosophie, sofern sie in ihrem weitesten Umfang verstanden wird, das heißt – in der klassischen Terminologie der Aufklärung gesprochen – der philosophia practica universalis. Dies bedeutet, daß in jedem Bereich, der sich mit der Anleitung und Beurteilung des menschlichen Handelns beschäftigt – sei dies Ethik oder Jurisprudenz –, der Begriff der Zurechnung gleichermaßen Anwendung finden muß. Denn er bildet nichts weniger als die Grundlage einer wie immer gearteten Theorie moralischer Einzelurteile, also solcher, die wir tagtäglich über die moralische Beschaffenheit von Handlungen oder Verhaltensweisen von Personen fällen. Wird also im folgenden der Ausdruck „moralisch“ verwendet, referiert er stets sowohl auf ethische als auch juridische Sachverhalte. Will man nun nicht von vorneherein auf die systematische Einheit moralbezogener Forschungen und daraus womöglich resultierender theoretischer Erklärungen verzichten, sollte man versuchen, den Zurechnungsbegriff univok zu gebrauchen. Dies erfordert seine Definition. Da die Bemühungen um eine solche in der Moderne und der Gegenwart nach Kant aufgrund ihrer logischen Struktur zu kaum verständlichen Ergebnissen geführt haben,1 dürfte es ein legitimer methodischer Zug sein, zunächst noch einmal auf denjenigen Autor zurückzugreifen, der diesen Begriff unter dem Namen „imputatio“ als „terminus technicus in die praktische Philosophie eingeführt hat“2 – obgleich es freilich entsprechende Theorien der Sache nach schon viel früher, nämlich spätestens seit Aristoteles,3 gegeben hat. Dieser Autor ist Sa1 Vgl. Alexander Aichele, „Ex contradictione quodlibet. Die Untauglichkeit der Äquivalenztheorie zur Erklärung von Kausalität, die Untauglichkeit der Lehre von der objektiven Zurechnung zur Rechtfertigung von Zurechnungsurteilen und ein Vorschlag zur Güte“, in: ZStW 123 (2011). 2 Joachim Hruschka, „Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts“, in: Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Frankfurt a. M. 2004, S. 17 – 27, hier: S. 17. 3 Vgl. dazu zur ersten Orientierung immer noch Richard Loening, Die Zurechnungslehre des Aristoteles, Jena 1903.
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muel Pufendorf. Er erörtert den Begriff ausführlich im ersten Buch seines Hauptwerks De jure naturae et gentium. Pufendorfs Begriffsexposition und die darauf aufbauende Theorie soll im folgenden erörtert werden.4 Dabei wird nach einer knappen Darlegung von Pufendorfs Lehre von den entia moralia und den allgemeinen Voraussetzungen für Zurechnung zunächst die Funktion des Zurechnungsbegriffs als Bedingung der Möglichkeit der Moralität von Handlungen selbst betrachtet.5 Schießlich sind die Gründe, die nach Pufendorf Zurechnung wie deren Ausschluß, aber auch Zurechnung fremder Handlungen ermöglichen, und dabei insbesondere das Verhältnis von Kausalität und Zurechnung zu analysieren. I. Entia moralia Entia moralia gehören zunächst einmal zu denjenigen Gegenständen, die nicht einfach in der Natur vorkommen, d. h. solche, deren Bestand von genuin menschlicher, mithin vernunftgeleiteter und willentlicher Tätigkeit abhängt. Trotzdem sind sie keine materiellen Artefakte wie Bierkrüge, Konzertflügel, Maschinengewehre oder die Mona Lisa. Vielmehr korrespondieren sie dem Vermögen des Menschen, seine körperlichen Bewegungen nicht immer auf dieselbe Weise ausführen zu müssen, sondern diese zu erklären, für Änderungen offenzuhalten und durch Regeln zu bestimmen. Derartige Gegenstände fungieren so als Hilfsmittel, die erfunden und angewendet werden können, um sowohl die körperlichen als auch die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen zu unterstützen und anzuleiten.6 Darunter fallen indes auch etwa Logik, Gymnastik und Kochkunst, denen für sich genommen kaum 4 Die Hinweise von Vanda Fiorillo zu „Arbeiten zu dem zentralen Begriff der imputatio“ [„Verbrechen und Sünde in der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs“, in: Bodo Geyer / Helmut Goerlich (Hrsg.), Samuel Pufendorf und seine Wirkungen bis auf die heutige Zeit, BadenBaden 1996, S. 99 – 116, hier: S. 99, Fn. 1] sind von eher geringem Ertrag, da keine der angeführten Studien Pufendorfs Zurechnungsbegriff in extenso analysiert, sondern nur mehr oder weniger ausführlich referiert. Dies gilt insbesondere auch für die zusammenfassende Darstellung bei Hans Welzel (Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin / New York 1958, S. 22 ff. u. S. 84 ff.). Simone Goyard-Fabre nennt das „principe d’imputation“ zwar zurecht „fondamental en matière de morale“ (Pufendorf et le droit naturel, Paris 1994, S. 55), widmet ihm, wohl wegen ihres anders gelagerten Erkenntnisinteresses, indes nur eine knapp halbseitige Bemerkung. 5 Dies bestätigt auch Horst Denzer, wenn er die Zurechenbarkeit als „das reflexive Moment der moralischen Handlungen“ (Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie, München 1972, S. 81), d. h. als Bedingung der Möglichkeit des Bewußtseins von der Moralität einer bestimmten Handlung, bezeichnet, ohne dies allerdings weiter zu verfolgen. 6 Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium (hrsg. von Frank Böhling), 2 Bde., Berlin 1998 [im folgenden: JNG], I.1, § 2 (S. 147 – 10): nec non ut motus suos non ad eundem semper modum cogeretur exserere, sed eosdem expromere, suspendere, ac moderari valeret: ita eidem homini indultum adminicula quaedam invenire aut adhibere, quibus utraque facultas insigniter adjuvaretur ac dirigeretur.
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moralische Bedeutung zukommt. Von solchen und anderen regelgeleiteten Fertigkeiten sind entia moralia daher zu unterscheiden. Pufendorf bestimmt sie dementsprechend genau als diejenige Gattung von Gegenständen, die den natürlichen Dingen und Bewegungen ausschließlich zur Anleitung von Willensakten zusätzlich beigelegt werden. Daraus ergibt sich dann ein besonderer Einklang in den menschlichen Handlungen, der das menschliche Leben mit Schicklichkeit und Ordnung versieht.7 Die menschlichen Sitten und Handlungen erfahren so eine Mäßigung, die sie erst von den Verhaltensweisen der Tiere unterscheidet.8 Entia moralia – so könnte man knapp sagen – scheinen also einfach Verhaltensregeln darzustellen, die den Umgang von Menschen mit anderen Menschen und Dingen betreffen und nach Belieben aufgestellt und geändert werden können. Unglücklicherweise ist damit die Angelegenheit noch nicht erledigt. Denn es bleibt freilich zu fragen, ob und wie es diese Art von Gegenständen eigentlich geben kann und vor allem woher sie die Stabilität, Einheit und ihre angedeutete Universalität gewinnen, die sie besitzen müssen, um tatsächlich als Fundament der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu taugen. Es ist deswegen nötig, zumindest kurz bei Pufendorfs Definition der entia moralia und ihrer weiteren Erläuterung zu verweilen. Diese Definition lautet wie folgt: „Von da her scheinen uns entia moralia am angemessensten so bestimmt werden zu können, daß sie bestimmte Seinsweisen (modi) sind, die den physischen Dingen und Bewegungen von vernunftbegabten Wesen hinzugefügt werden, um ausschließlich die Freiheit der willentlichen Akte des Menschen anzuleiten und zu mäßigen und dem menschlichen Leben irgendeine Ordnung und Schicklichkeit zu verschaffen.“9 Sofort fällt auf, daß nach Pufendorf auch entia moralia einen spezifischen metaphysischen Status besitzen. Sie werden zwar durch intelligente Wesen natürlichen Dingen und Bewegungen beigelegt, sie sind aber keine bloßen Begriffe, wie sie zu deren klassifikatorischen bzw. theoretischen Bestimmung in logischen Erkenntnisurteilen gebraucht werden. Pufendorf lehnt deswegen ausdrücklich die logische Differenzierung zwischen Essentialien und Akzidentien für sie ab und gebraucht anstattdessen die metaphysische Unterscheidung zwischen Substanz und Modus. 7 Ebd. (S. 1412 – 15): Nobis illud jam est dispiciendum, quomodo ad dirigendos voluntatis potissimum actus certum attributi genus rebus & motibus naturalibus sit superimpositum, ex quo peculiaris quaedam convenientia in actionibus humanis resultaret, & insignis quidam decor atque ordo vitam hominum exornaret. Daß Pufendorf hier von einer durchaus epikurëischen, d. h. bedürfnisorientierten, Anthropologie ausgeht, macht Ian Hunter (Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany, Cambridge 2001, S. 157 f. u. S. 166) deutlich. 8 Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.1, § 2 (S. 1415 – 17): Et ista attributa vocantur entia moralia, quod ad ista exiguntur, & iisdem temperantur mores actionesque hominum, quo diversum ab horrida brutorum simplicitate habitum faciemque induat. 9 Ebd., § 3 (S. 1419 – 22): Exinde commodissime videmur entia moralia posse definire, quod sint modi quidam, rebus aut motibus physicis superadditi ab entibus intelligentibus, ad dirigendam potissimum & temperandam libertatem actuum hominis voluntariorum, & ad ordinem aliquem ac decorem vitae humanae conciliandum.
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Diese nämlich stellt eindeutig klar, daß letztere in Abhängigkeit von ersteren existieren und folglich nicht nur Prädikate von Begriffen, die sowohl als wesentliche wie als kontingente Bestimmungen gebraucht werden können, sondern Eigenschaften von Dingen darstellen, die durch deren Veränderungen begründet werden und selbst einen bestimmten Grund haben.10 Die Hinzufügung von entia moralia verändert also irgendwie physische Dinge und Bewegungen, und die Ursache dieser Veränderung ist die Tätigkeit der göttlichen oder menschlichen Vernunft.11 Dies bringt die entia moralia in eine eigentümliche und nicht unproblematische ontologische Zwitterposition: Sie sind einerseits logische Entitäten in der Art von Begriffen, die aufgrund von Erkenntnis zu einem bestimmten Zweck, nämlich der einheitlichen Anleitung des Handlungsvermögens zur Vervollkommnung des menschlichen Lebens, gebildet werden.12 Andererseits sind sie zugleich reale Eigenschaften von Dingen, die durch jene Begriffe produziert werden.13 Es ist daher nur zu verständlich, daß sich Pufendorf um weitere Klärung bemüht. Er tut dies, indem er die Erzeugungsweise der entia moralia spezifiziert. Pufendorf nennt sie im Unterschied zur ursprünglichen Schöpfung (creatio) der natürlichen Dinge Beilegung (impositio).14 Diese Bezeichnung zeigt an, daß jene Eigenschaften „nicht aus den inneren Prinzipien der Substanz der Dinge hervorgehen, sondern bereits existierenden und physisch vollständigen Dingen und deren natürlichen Wirkungen gemäß der Entscheidung vernünftiger Wesen hinzugefügt worden sind und sogar einzig und allein durch ihre Bestimmung Existenz erlangen“.15 Damit sind zumindest folgende Punkte klar: 1. Entia moralia fügen natürlichen Dingen keine weiteren physischen Eigenschaften hinzu, da diese bereits von Natur aus vollständig 10 Ebd. (S. 1423 – 26): Modos dicimus. Nam concinnius nobis videtur ens latissime dividere in substantiam & modum, quam in substantiam & accidens. Modus porro uti substantiae contradistinguitur; ita eo ipso satis patet, entia moralia non per se subsistere, sed in substantiis, earumque motibus fundari, ipsasque certa duntaxat ratione afficere. 11 Vgl. Hunter (Fn. 7), S. 165. 12 Vgl. Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.1, § 3 (S. 1427 – 37): Caeterum modorum alii ex ipsa re naturaliter velut profluunt, alii per potentiam intelligentem rebus modisque physicis superadduntur. Quod enim intellectu praeditum est, id ex reflexa rerum cognitione, earundemque inter se collatione tales potest notiones formare, quae ad dirigendam faculatem homogeneam sunt idonaea. Ex hoc genere quoque sunt entia moralia. (…) Hinc etiam finis eorundem patescit, qui non est, uti entium physicorum, perfectio hujus universi, sed peculiariter perfectio vitae humanae (…). 13 Letztere Konsequenz scheint Hunter (Fn. 7, S. 164 ff.) nicht ziehen zu wollen. Vgl. aber zu den einschlägigen Schwierigkeiten Robert Schnepf, „Von der Naturalisierung der Ontologie zur Naturalisierung der Ethik: Spinozas Metaethik im Kontext spätscholastischer Entia-Moralia-Theorien“, in: Studia Spinozana 16 (2008), S. 105 – 127. 14 Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.1, § 4 (S. 1441 / 42): Porro ut modus originarius producendi entia physica est creatio; ita modum, quo entia moralia producuntur, vix melius possis exprimere, quam per vocabulum impositionis. 15 Ebd. (S. 1442 – 153): Scilicet quia illa non ex principiis intrinsecis substantiae rerum proveniunt, sed rebus jam existentibus & physice perfectis, eorundemque effectibus naturalibus sunt superaddita ex arbitrio entium intelligentium, adeoque unice per eorundem determinationem existentiam nanciscuntur.
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bzw. vollkommen, d. h. durchgehend bestimmt, sind. 2. Daher tragen entia moralia nichts zur theoretischen Identifaktion eines Dings, dem sie beigelegt werden, bei. Folglich können sie selbst keine Individua, sondern müssen Universalia sein. Entia moralia entsprechen daher definable Begriffe. 3. Ihre Existenz besteht sogar in ihrer Bestimmung. Entia moralia müssen also schon definiert sein, um einem Ding beigelegt werden zu können. 4. Ihre impositio erfolgt kontingent, da sie auf einer Entscheidung beruht. Die Produktion von entia moralia erfordert also sowohl die Betätigung der Vernunft als auch des Willens. 5. Wenn ihre impositio nicht die theoretische Beschaffenheit eines Dings verändern kann, so muß sie diesem praktische Bedeutung verleihen, d. h. es zum Gegenstand der Moral machen. 6. Entia moralia sind also insofern reale Eigenschaften von Dingen, als sie den Umgang vernünftiger Wesen mit bestimmten Dingen bestimmen und damit verändern: Ihre Realität scheint genau darin zu bestehen, daß sie als logische Entitäten reale Wirkungen erzeugen, die ausschließlich durch menschliches Handeln entstehen können. 7. Diese Wirkungen unterstehen nicht der determinierten Kausalität der Natur. Denn zum einen bilden entia moralia keine Ursachen von Veränderungen, sondern Kriterien für die Beurteilung von Handlungen bzw. Handlungsregeln: Ihre Erkenntnis determiniert nicht menschliches Handeln, sondern soll es determinieren. Zum anderen können sie nach Belieben beigelegt und aufgegeben werden: Nicht nur ihre mögliche Wirkung, sondern auch ihre Ursache hängt von freien Entscheidungen ab.16 8. Entia moralia wirken daher nicht unmittelbar auf das Verhalten physischer Dinge, sie besitzen auch keine physische oder gar substantielle Existenz. Im Gegenteil handelt es sich um logische Entitäten, deren Bestand und Beschaffenheit vom Denken und Wollen vernünftiger Wesen abhängt und die zu einem bestimmten Umgang mit denjenigen physischen Entitäten auffordern, denen sie beigelegt werden. So erzeugt eine Nuß, der das ens morale „Eigentum“ beigelegt wird, ein anderes Verhalten zu ihr, als dies beim bloßen Naturding Nuß der Fall wäre. Oder so hat ein Exemplar der biologischen Spezies Mensch, dem das ens morale „Person“ beigelegt wird, Anspruch auf einen anderem Umgang mit ihm als ein solches, bei dem dies nicht der Fall ist. Damit scheint die angedeutete ontologische Problematik etwas entschärft, allerdings um den Preis eines deutlichen konventionalistischen und sogar gewissermaßen subjektivistischen, jedenfalls anti-objektivistischen Zugs.17 Entia moralia fügen 16 Ebd. (S. 154 – 8): Ac per eadem ipsis certi quoque effectus assignantur, qui iterum eorundem lubitu possunt deleri, nulla mutatione physica in re, cui erant superadditi, proveniente. Unde vis operandi quae illis inest, non in hoc consistit, ut intrinseca sua efficacia motum aliquem physicum, aut mutationem in re alliqua immediate producant; sed tum in eo, ut pateat hominibus, qua ratione libertas actionum ipsis sit moderanda; (…). 17 Es trifft vermutlich zu, wenn Hunter (Fn. 7, S. 164) dies als „beginning of a remarkable anti-metaphysical tour de force“ ausmacht, und vielleicht gilt dies auch für die ebenfalls von Hunter stark betonte Tendenz Pufendorfs zur Zurückweisung der neoscholastischen Tradition (ebd., S. 163 ff.). Dennoch ist an der zentralen Stelle seines Willens- bzw. Freiheitsbegriffs dessen metaphysische Fundierung zu konstatieren, die durchaus gerade dieser Tradition, und zwar ausgerechnet ihrer jesuitischen Ausprägung, entspricht (s. u.).
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nicht unmittelbar den Dingen bzw. ihren Wirkungen selbst etwas hinzu, sondern deren Begriffen, nämlich an vernünftige Wesen adressierte Umgangsaufforderungen. Nur unter der Bedingung also, daß die Begriffe von Dingen und ihren Wirkungen entia moralia enthalten, können diese als logische Bestandteile moralischer Urteile fungieren. Dies verändert zugleich die Realität der Dinge insofern, als daß sie dadurch bestimmten, nicht natürlichen Veränderungen entzogen und anderen solchen zugeführt werden sollen. Dies heißt aber zugleich, daß sich nicht die Realität der Dinge, wie sie von Natur aus sind, durch die impositio von entia moralia verändert, sondern ausschließlich die Realität, die sie durch den Umgang vernünftiger Wesen mit ihnen für ebendiese Wesen besitzen. Ihre spezifische Realität liegt daher in ihrer Wirksamkeit auf die Tätigkeit vernünftiger Wesen unter der Voraussetzung, daß diese definiert, gewollt und bekannt ist. Da nun Zurechnung ebenfalls nicht die Handlung eines Menschen als physische Bewegung verändert, sondern dieser nur moralische Bedeutung verleiht und sie sogar hinsichtlich ihrer moralischen Folgen bestimmt, muß auch der Begriff der Zurechnung zu den entia moralia zu gehören. II. Zurechnungsvoraussetzungen Welch zentrale Rolle der Zurechnungsbegriff in Pufendorfs Wissenschaft von den entia moralia spielt, wie sie De jure naturae et gentium exponiert, zeigt sich bereits am Anfang des auf deren metaphysische, logische und methodische Grundlegung folgenden inhaltlichen Teils. So beginnt das dritte Kapitel des ersten Buches: „Weil die wichtigste Aufgabe derjenigen Disziplin, die wir zu entwickeln unternehmen, ist, daß bewiesen wird, was an den menschlichen Handlungen richtig oder verkehrt, gut oder böse, gerecht oder ungerecht ist, werden zuerst alle Prinzipien und Beschaffenheiten ebenjener Handlungen zu betrachten sein und dann, aus welchem Grund sie durch Zurechnung mit einem Menschen auf moralische Weise gleichsam verbunden begriffen werden.“18 Auf den ersten Blick fällt auf, daß Pufendorf zwischen menschlichen und moralischen Handlungen unterscheidet. Die Handlung eines Menschen wird erst dadurch, daß sie zugerechnet wird, eine moralische Handlung. Allererst Zurechnung stellt eine moralische Verbindung zwischen einer Handlung und dem Menschen, der sie vollzogen hat, her. Damit stellt Pufendorf von vorneherein klar, daß die Auszeichnung einer Handlung als moralischer nicht auf deren physischer Seite gründet bzw. keine theoretischen Aussagen über diese intendiert. Spricht man also über eine moralische Handlung, spricht man nicht bloß darüber, daß die Bewegung eines bestimmten materiellen Dings von der Spezies Mensch als Ursache die Bewegung 18 Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.3, § 1 (S. 3636 – 39): Cum disciplinae hujus, quam evolvendam suscepimus, hoc praecipuum sit opus, ut quid in actionibus humanis rectum aut pravum, bonum aut malum, justum aut injustum sit, demonstretur: ante omnia istarum principia & affectiones, tum qua ratione per imputationem cum homine moraliter velut connecti intelligantur, erunt consideranda.
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eines anderen Dings als Wirkung kausiert hat. Dies würde nicht einmal reichen, um solche Bewegungen als menschliche Handlungen von allen anderen Bewegungen zu unterscheiden, die weder Handlungen noch von Menschen hervorgebracht sind. Denn daß jede Bewegung, sofern sie bestimmt ist und von anderen unterschieden werden kann, eine Ursache und eine Wirkung hat, gilt allgemein. Ebensowenig kann es zureichen, jede Wirkung, die von einem Menschen verursacht wird, also gemäß der Artbestimmung der Ursache, zu einer menschlichen Handlung zu erklären: Dann müßte der Atmungsprozeß, das Wachstum der Kopfbehaarung oder die Bildung von Schweiß ebenso als Handlungen gelten wie Vortragsreisen, Bierbestellungen oder Auftragsmorde. Es ist daher geboten, bevor über die moralische Relevanz menschlicher Handlungen entschieden werden kann, zu klären, was diese überhaupt sind. Was nun menschliche Handlungen von vegetativen Vorgängen und Bewegungen von Tieren oder unbelebten Dingen unterscheidet, ist der Beitrag, den die Betätigung zweier Vermögen zum genuin menschlichen Bewegungsvollzug leistet, die nach Pufendorf zumindest unter den körperlichen Wesen exklusiv dem Menschen zukommen, nämlich Vernunft und Wille. Sind nun beide in ihrer Tätigkeit aufeinander bezogen, wie dies im Handeln notwendig ist, zeigt sich, daß die Vernunft zwei Fähigkeiten unter sich begreift.19 Deren erste bestimmt Pufendorf wie folgt: „Die eine ist, durch die dem Willen gleichsam wie in einem Spiegel ein Gegenstand hingestellt wird und, was in demselben der Grund der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, der Gutheit oder Bösheit, sein mag, schlicht gezeigt wird.“20 Hierbei handelt es sich um ein bloßes Repräsentationsvermögen, das dem Willen die Objekte seines möglichen Anstrebens oder Zurückweisens vorstellt, wie sie sind.21 Die natürliche, d. h. durch den Willen nicht beeinflußbare, Vernunft sorgt nur für die bewußte Wahrnehmung von Gegenständen. Sie läßt sich als solche weder verhindern noch qualitativ modifizieren, dergestalt daß etwa aus der Wahrnehmung eines roten Körpers durch irgendeinen rein willentlichen Eingriff in den Repräsentationsvorgang die Wahrnehmung eines blauen Körpers gemacht werden könnte.22 Die ursprüngliche Ausstattung des Denkvermögens mit Vorstellungen differenter Gegenstände verläuft nach Pufendorf also ungeachtet der schier unbegrenzten Möglichkeiten, diese nach ihrem Empfang durch entsprechende mentale Opera19 Ebd. (S. 376 / 7): Illa porro animae humanae potentia, quae instar aliquod luminis gerit, intellectus nomine venit, cujus duae velut facultates concipiuntur, quae circa actiones voluntario susceptas exserit. 20 Ebd. (S. 377 – 9): Una est, per quam velut in speculo objectum voluntati sistitur, & quae in ipso sit ratio convenientiae aut disconvenientiae, bonitatis et malitiae, simpliciter ostenditur. 21 Vgl. zum folgenden ebd., §§ 2 u. 3 (S. 37 f.). 22 Nicht nur an dieser Stelle finden sich erstaunliche Parallelen zu John Lockes 18 Jahre später erschienenem Essay concerning Human Understanding (vgl. auch Tim J. Hochstrasser, Natural Law Theories in the Early Enlightenment, Cambridge 2000, S. 94 f.). Jerome B. Schneewind nennt Pufendorf geradewegs einen „Empiristen“ (The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998, S. 127).
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tionen mit anderen zu verknüpfen oder in ihre Bestandteile aufzulösen, gänzlich passiv. Die bloße bewußte Wahrnehmung enthält daher auch noch keine Erkenntnisurteile, die den vorgestellten Gegenstand begrifflich bestimmen würden. Eine solche Identifikation resultiert vielmehr erst aus einer Untersuchung der jeweiligen Vorstellung, die ins Belieben des vorstellenden Subjekts gestellt ist und ebenso unterbleiben kann. Dessen natürliches Bewußtsein ist daher irrtumsimmun. Da es keine Urteile über die Gegenstände seines Vorstellens fällt, sondern nur darüber, daß es diese oder jene Qualitäten aktuell wahrnimmt, kann es sich gar nicht täuschen. Es weiß schlicht, daß ihm seine Vorstellung grün oder bitter erscheint, ebenso wie es weiß, daß ihm dies gut oder schlecht erscheint, ohne auf der Ebene des bloßen bewußten Habens von Vorstellungen ein Urteil darüber fällen zu können, warum dies so ist. Die Ebene des Urteilens und damit der Bildung wahrheitsfähiger Aussagen erreicht erst die Betätigung der zweiten Fähigkeit der Vernunft. Pufendorf betrachtet sie von vorneherein unter moralwissenschaftlichem Aspekt, da dieser theoretische Gegenstandsbestimmungen ohnehin einschließt: „Die andere (ist), durch die die Gründe der Gutheit oder Bösheit, welche sich bezüglich vieler Gegenstände in jeder von beiden Hinsichten darbieten, geprüft und verglichen werden und schließlich geurteilt wird, was wann und auf welche Weise zu tun sei, und zugleich die am besten zur Erreichung des Zwecks geeigneten Mittel erwogen werden.“23 Das Resultat dieser Aktivität der Vernunft besteht also in moralischen Urteilen. Diese können sowohl prospektiv, d. h. unter Bezug auf Gebotenheit und Möglichkeit zukünftiger Handlungen des urteilenden Subjekts, als auch retrospektiv, d. h. unter bezug auf die Moralität vergangener Handlungen und deren Folgen für den Akteur, gefällt werden. Sie gewinnen ihren moralischen Charakter dadurch, daß in ihnen entweder prospektiv die Gebotenheit oder Verbotenheit oder retrospektiv die moralischen Folgen dieser Handlungen bestimmt werden. Eine solche Bestimmung setzt entsprechende Kriterien voraus. Pufendorf nennt sie Gesetze, d. h. Normen, vermittels derer ein höhere Macht die ihr Unterworfenen verpflichtet, daß sie ihre Handlungen gemäß dieser Vorschriften einrichten.24 Das Fällen moralischer Urteile setzt also jedenfalls sowohl den Bestand als auch die Kenntnis der einschlägigen Gesetze voraus, die als Kriterien solcher Urteile fungieren. Diese Kenntnis läßt sich zumindest bei den allgemeinsten Gesetzen des Naturrechts kaum vermeiden und kann daher im Normalfalle, d. h. bei genügender Reife und geistiger Gesundheit des Urteilenden, jederzeit vorausgesetzt werden.25 Dieses praktische Urteilsvermögen nennt Pufendorf Gewissen (conscientia). Er bestimmt es folgendermaßen: 23 Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.3, § 1 (S. 379 – 12): Altera, per quam rationes bonitatis aut malitiae, quae sese circa multa objecta in utramque partem offerunt, expenduntur, & comparantur, ac demum quid, quando, & quomodo agendum sit, judicatur, simulque de mediis ad finem maxime accomodis consultatur. 24 Vgl. ebd., I.4, § 4 (S. 71 f.). 25 Vgl. ebd., I.3, § 3 (S. 38).
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„Weiterhin pflegt das Urteilsvermögen der Vernunft bezüglich moralischer Handlungen, sofern es mit ebenjener Kenntnis der Gesetze erfüllt und soweit es bezüglich des Zu-Tuenden und des Zu-Unterlassenden des Gesetzgebers bewußt ist, mit dem besonderen Namen des Gewissens bezeichnet zu werden.“26 Nun reichen Bewußtsein und Gewissen noch nicht zu, um zu einer Entscheidung über die Verwirklichung oder Nichtverwirklichung repräsentierter und moralisch beurteilter Handlungsalternativen und schließlich zum Vollzug einer bestimmten Handlung zu gelangen. Anders als für den aristotelisch geprägten Intellektualismus fällt für Pufendorf eine affirmative moralische Beurteilung nicht mit dem Handeln in eins. Er schließt sich vielmehr der vor allem durch Augustinus begründeten Tradition des Voluntarismus an, wonach erst ein von der Vernunft unabhängiger, also auch nicht per se durch sie determinierter Willensakt eine Handlung verwirklicht. Das äußere Handeln des Menschen wird also weder durch physische Notwendigkeit noch durch theoretische und praktische Vernunfterkenntnis geleitet, sondern durch innere Handlungen des Willens, der auswählt, was ihm unter dem durch die Vernunft Dargebotenen und Erkannten zusagt, und zurückweist, was ihm davon nicht zusagt.27 Da auch die impositio von entia moralia einen Willensakt darstellt, gilt dies auch für Gesetze, die daher, wie Ian Hunter treffend bemerkt,28 gerade aufgrund ihrer Arationalität mit dem Anspruch auf empirische Gewißheit erkannt werden können und keiner weiteren rationalen Begründung bedürfen.29 Der Wille nämlich agiert einerseits spontan und andererseits frei. Spontan sind sowohl solche Willensakte, die vom Willen selbst hervorgebracht und zur Ausführung übernommen werden (actus eliciti), als auch solche, die anderen, durch den Willen bewegten Ver26 Ebd., § 4 (S. 3831 – 33): Solet praeterea judicium intellectus circa actiones morales, quatenus iste cognitione legum est imbutus, adeoque circa agenda & omittenda legislatori conscius, pecualiari nomine vocari conscientia. 27 Ebd., I.4, § 1 (S. 4619 – 23): Cum sapientissimus Creator hominem vellet creare animal per leges gubernandum, ipsius animae voluntatem indidit tanquam internam actionum moderatricem; ut objectis propositis, & cognitis ex principio intrinseco citra necessitatem aliquam physicam ad ea se moveret, & eligere posset, quod sibi tanquam maxime congruum arrideret; & contra ab illis se averteret, quae sibi non convenire viderentur. 28 Vgl. Hunter (Fn. 7), S. 169. 29 Dies scheint Welzel (Fn. 4) zu verkennen, wenn er Pufendorf in diesem Zusammenhang der Inkonsequenz zeiht, die darin bestehen soll, daß in „Wahrheit für ihn das Gesetz gegenüber dem konkret Werthaften nicht ein konstitutives Prius, sondern ein Posterius (ist), das die Werthaftigkeit eines Tatbestandes bereits voraussetzt“ (S. 24, Fn. 16). Gerade in jener Hinsicht scheint Pufendorf jedoch eher von großer Konsequenz. Falls – was immer näherhin unter Welzels wenig differenzierter und durchaus anachronistischer Rede von „Werthaftigkeit“ zu verstehen sein mag – damit so etwas wie ein moralisches Urteilskriterium gemeint wäre, wird dies erst durch entia moralia imponiert, die sich zwar üblicherweise nach Erfahrungen richten werden, aber keineswegs von vorneherein durch diese determiniert sind. Es ist schlicht etwas anderes, bestimmten Dingen oder Bewegungen aufgrund einschlägiger Erfahrung moralische Bedeutung zuzumessen, als einen irgendwie denkunabhängig bzw. erfahrungsfrei vorliegenden moralischen Wert bei Gelegenheit seiner Erfahrung – Worin sollte diese im übrigen zirkelfrei bestehen? – in die Form einer Norm zu bringen.
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mögen des Menschen zur Ausführung überlassen werden (actus imperati).30 Der Wille fungiert also beidenthalben als Handlungsursache. Frei indes ist der Wille aufgrund seiner radikalen Indifferenz. So definiert Pufendorf trotz seiner Invektiven gegen die Moralphilosophie des Jesuitenordens31 Freiheit ganz offenkundig in stillschweigender Paraphrase des äußerst provokanten und umstrittenen Freiheitsbegriffs Luis de Molinas, wenn er schreibt: „Freiheit nennt man das Vermögen des Willens, wodurch er – alles zum Handeln Erforderliche gesetzt – aus vielen vorgestellen Gegenständen einen oder einen anderen auswählen, die übrigen zurückweisen kann, oder – nur einen vorgestellt – dies zulassen oder nicht zulassen, handeln oder nicht handeln kann.“32 Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Wille solange absolut frei ist, bis er wirklich einen Akt realisiert hat.33 Genau dieser Begriff von Freiheit als Indifferenz macht das Wesen des Willens nach Pufendorf aus: „Es ist im übrigen die vorzüglichste Eigenschaft des Willens, welche sich auch unmittelbar aus der Natur desselben zu ergeben scheint, daß er intrinsisch nicht auf eine bestimmte, feste und unveränderliche Weise handeln zu müssen beschränkt ist (was wir inzwischen 30 Pufendorf, JNG, I.4, § 1 (S. 4623 – 4716): Illa (sc. voluntas) porro per duas velut facultates sese circa actiones humanas concipitur exserere, per quarum unam intelligitur agere sponte, per alteram libere. Spontaneitati, ut ita loquar, attribuunt certos actus aut motus; quorum quidam interiores, qui eliciti, alii exteriores, qui imperati sueverunt vocari. Actus eliciti sunt, qui à voluntate immediate producuntur, & ab eadem recipiuntur. (…) Actus imperatos vocant, qui ab aliis hominis facultatibus, per voluntatem motis, exsecutioni dantur. 31 Vgl. etwa ebd., I.3, § 5 (S. 39). 32 Ebd., I.4, § 2 (S. 4718 – 20): Libertatem vocant facultatem voluntatis, qua positis omnibus ad agendum requisitis, ex pluribus objectis propositis unum vel aliqua potest eligere, reliqua rejicere; aut uno duntaxat proposito id admittere, vel non admittere, agere vel non agere. Vgl. Luis de Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, preadestinatione et reprobatione concordia (ed. Iohannes Rabeneck S. I.), Oña / Madrid 1953, I. disp. 2, 3 (148 – 10): Alio vero modo accipi potest, ut opponitur necessitati. Quo pacto illud agens liberum dicitur quod positis omnibus requisitis ad agendum potest agere et non agere aut ita agere unum ut contrarium etiam agere possit. Vgl. dazu Alexander Aichele, „The Real Possibility of Freedom. Luis de Molina’s Theory of Absolute Willpower in Concordia I“, in: Alexander Aichele / Matthias Kaufmann (Hrsg.), A Companion to Luis de Molina, Leiden 2011. Leibniz nennt Molina bzw. die Molinisten die ersten, die einen solchen radikalen Indeterminismus vertreten haben: Definitio libertatis, quod sit potestas agendi aut non agendi positis omnibus ad agendum requisitis, omnibusque tam in objecto quam in agente, existentibus paribus est chimaera impossibilis, quae contra primum principium quod dixi pugnat. (…) Haec notio libertatis (…) celebrata (fuit) primum a Molinistis, eludendis potius quam tollendis difficultatibus apta. (Gottfried Wilhelm Leibniz, Conversatio cum Domino Episcopo Stenonio de Libertate, in: AA VI.4,C, 1375 – 1383, hier: 13801 – 7). Das Problem besteht letztlich darin, daß der Wille einerseits jederzeit indifferent bleiben muß, um nicht schlicht durch physische Regungen determiniert, sondern auch fähig zu sein, diesen gegebenenfalls zuwiderlaufenden Pflichten zu folgen, wofür er andererseits ebensowenig Grund hat, da er ja auch nicht durch die Vernunft determiniert ist. Vgl. dazu die knappe, auf Pufendorf bezogene Problemdiagnose bei Schneewind (Fn. 22), S. 137 f. 33 Vgl. Thomas Behme, Samuel Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995, S. 46.
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Gleichgültigkeit [indifferentia] nennen werden) und daß ebendiese intrinsische Gleichgültigkeit desselben durch irgendein extrinsisches Mittel auf überhaupt gar keine Weise ausgerottet werden kann. Und deswegen ist umso beharrlicher festzuhalten, daß – ebendiese hinweggenommen – zugleich die Moralität der menschlichen Handlungen von Grund auf hinweggenommen wird.“34 Die Bestimmung des Begriffs einer menschlichen Handlung, d. h. einer solchen, die ausschließlich von Wesen der Spezies Mensch vollzogen werden kann, ist damit vollständig. Eine menschliche Handlung ist: 1. bewußt; 2. durch theoretisches und praktisches Urteil bestimmt bzw. bestimmbar, aber nicht determiniert, sondern: 3. spontan; und, 4., frei. Nur solche Handlungen können auch moralische Handlungen sein. III. Moralität und Zurechnung Was aber eine moralische Handlung selbst ist, bestimmt Pufendorf folgendermaßen: „Moralische Handlungen sind also freiwillige Handlungen des Menschen, die zusammen mit der Zurechnung ihrer Wirkungen auf das gemeinschaftliche Leben betrachtet werden. Freiwillige Handlungen nennen wir jene, die vom Willen des Menschen wie von einer freien Ursache so abhängen, daß sie ohne desselben Bestimmung, die von seinen spontanen Akten mit vorausgehender Vernunfterkenntnis gewonnen worden ist, nicht geschehen würden; daher ist, daß sie geschehen oder nicht geschehen, ins Vermögen des Menschen gesetzt.“35 Bereits die Rede von der Moralität einer Handlung also impliziert Zurechnung. Diese bezieht sich dabei nur auf deren Wirkungen und nur, sofern diese das Leben in einem wie immer gearteten sozialen, d. h. unter Normen stehenden, Verbund tangieren. Eine moralische Handlung wird daher selbst als Ursache von Wirkungen betrachtet. Sie muß folglich irgendein körperliches Verhalten einschließen. Die Ursache einer moralischen Handlung selbst ist die kontingente und bewußte Willensbestimmung eines Menschen. Diesem wird durch die Zurechnung nicht nur die Ursächlichkeit für jenes körperliche Verhalten zugeschrieben, sondern die Zugehörigkeit (pertinentia) von dessen sozialen, d. h. durch ihr Verhältnis zu Normen bestimmbaren, Wirkungen zu jenem freiwilligen Verhalten dieses Menschen. Jedoch ist nicht schon jede freiwillige Handlung eine moralische Handlung: Nicht jede frei34 Pufendorf, JNG, I.4, § 3 (S. 4810 – 14): Coeterum primaria voluntatis affectio, & quae immediate ex ipsius natura emanare videtur, est quod intrinsece ad certum, fixum, atque indeclinabilem agendi modum non sit adstricta (quod tantisper indifferentiam vocabimus) & quod isthaec intrinseca ipsius indifferentia per extraneum aliquod medium penitus extirpari nequeat. Idque eo firmius est tenendum, quod ista sublata actionum humanarum moralitas funditus simul tollatur. 35 Ebd., I.5, § 1 (S. 5535 – 39): Sunt igitur actiones morales actiones hominis voluntariae cum imputatione suorum effectuum in vita communi spectatae. Voluntarias actiones vocamus illas, quae à voluntate hominis tanquam à causa libera ita dependent, ut circa ipsius determinationem, ab actibus ejusdem elicitis praevia cognitione intellectus profectam, non fierent; quaeque adeo, ut fiant vel non fiant, in facultate hominis est positum.
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willige Handlung wird zugerechnet. Wenn also eine moralische Handlung jedenfalls freiwillig ist, gilt auch für sie, daß sie zwei Elemente besitzen muß. Pufendorf nennt das eine material, das andere formal. Ersteres besteht bei allen freiwilligen Handlungen schlicht in der „Bewegung eines natürlichen Vermögens bzw. dessen für sich“ – d. h. nicht im Verhältnis zu etwas anderem – „betrachteter Ausübung“.36 Das formale Element einer freiwilligen Handlung besteht „in der Abhängigkeit der Bewegung oder Ausübung von einem Willensbeschluß, dergemäß diese wie von einer freien und sich selbst bestimmenden Ursache beschlossen begriffen wird“.37 Beide Elemente zusammengenommen konstituieren eine freiwillige Handlung, die wiederum aus zwei Perspektiven betrachtet werden kann, nämlich „entweder an sich und unbedingt, so wie irgendeine physische Bewegung mit einem vorhergehenden Willensbeschluß unternommen wird, oder reflexiv, sofern deren Wirkungen einem Menschen zugerechnet werden können“.38 Da die Moralität einer Handlung Zurechnung einschließt, muß sie sich aus der reflexiven Betrachtung freiwilliger Handlungen ergeben. Ebenso kann bereits jetzt festgehalten werden, daß diese reflexive Betrachtung in einem moralischen Urteil bestehen wird, das retrospektiv gefällt wird. Denn sein Gegenstand sind die sozialen Wirkungen eines freiwilligen körperlichen Verhaltens und deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Person. Ein solches Verhalten kann inklusive seiner Wirkungen aber überhaupt nur ex post beurteilt werden, weil die entsprechende Handlung als bestimmtes Verhalten einer bestimmten Person ebenso einzeln und kontingent ist wie ihre Wirkungen. Nur unter der Voraussetzung der Gegebenheit bestimmter Wirkungen kann überhaupt auf eine entsprechende Ursache geschlossen werden, nicht jedoch von einer möglichen Ursache auf deren effiziente Ursächlichkeit für entsprechende Wirkungen. Ein Zurechnungsurteil ist deswegen ein singuläres und daher retrospektiv gefälltes moralisches Urteil, während prospektive Urteile über die Ge- oder Verbotenheit möglicher Handlungen stets universale moralische Urteile sein müssen. Diese Feststellung bleibt auch – diese Bemerkung sei an dieser Stelle gestattet – in Kants praktischer Philosophie gültig, in deren Terminologie man sagen könnte: Singuläre moralische Urteile, d. h. Zurechnungsurteile, beziehen sich auf Taten, universale moralische Urteile auf Maximen. Gemäß der reflexiven Betrachtungsweise, die erst die Moralität einer Handlung konstituiert, ist ihr materiales wie formales Element zu spezifizieren. Ersteres besteht in „irgendeiner physischen Bewegung irgendeines physischen Vermögens“, d. h. „des Bewegungsvermögens, der sinnlichen Begierde, der äußeren oder inneren Ebd. (S. 561 / 2): unum est quasi materiale, quod est motus potentiae per naturam existentis, seu ejusdem exercitium in se consideratum. 37 Ebd. (S. 562 – 4): alterum quasi formale, quod est dependentia ejus motus seu exercitii à decreto voluntatis, secundam quam ut à causa libera, & seipsam determinante, decreta concipitur. 38 Ebd. (S. 566 – 8): Enimvero actio voluntatis ulterius consideratur, vel in se & absolute, prout est aliquis motus physicus praevio voluntatis decreto suceptus; vel reflexive, quatenus effectus ejus homini imputari possunt. 36
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Sinne und des Verstandes bei Ausübung bewußter Wahrnehmung (…); und freilich des in seinem natürlichen Sein betrachteten Akts des Willens selbst bzw. so wie er ausschließlich betrachtet wird wie irgendeine durch ein von Natur beigelegtes Vermögen als solche hervorgebrachte Wirkung“.39 Mit anderen Worten: Das materiale Element einer moralischen Handlung ist jede mentale oder extramentale Tätigkeit eines Handelnden, sofern diese in Verbindung mit dem Willen steht. Denn – so Pufendorf –: „Es gibt keine Wegnahme irgendeiner physischen Bewegung, die der Mensch, sei es an sich oder sei es in ihrer Ursache, hervorbringen kann.“40 Das materiale Element einer jeden moralischen Handlung ist daher stets positiv als mentale oder extramentale Bewegung bestimmbar, die prinzipiell der Freiheit der Willensbestimmung unterliegt. Genau deswegen zählen im übrigen auch Unterlassungen zu möglichen moralischen Handlungen.41 Ob indes, wenn denn diese materialen Bedingungen erfüllt sind, eine mögliche moralische Handlung auch tatsächlich eine solche darstellt, entscheidet die Gegebenheit des formalen Elements. Dies besteht nun präzise in ihrer Zurechenbarkeit (imputativitas). Es handelt sich dabei also um eine nicht von Natur aus bestehende Eigenschaft einer Handlung, d. h. um ein ens morale. Durch die Eigenschaft der Zurechenbarkeit „kann die Wirkung einer freiwilligen Handlung dem Handelnden zugerechnet werden bzw. gleichsam diesem selbst für eigentümlich zu eigen gehalten werden, sei es, daß der Handelnde auch selbst einen Zustand physisch herbeigeführt hat, sei es, daß er bewirkt hat, daß er durch andere herbeigeführt wurde“.42 Welche Wirkungen also näherhin dem Handelnden zugerechnet werden, bestimmt die Gesetzeslage, d. h. sowohl das natürliche wie das positive Recht, welches das Zusammenleben eines jeden sozialen Verbundes ordnet. Deswegen involviert Zurechnung stets ein moralisches Urteil. Jede zurechenbare Wirkung muß aber einen wie immer gearteten physischen Zustand bilden, da allein physische Zustände physisch herbeigeführt werden können. Dies bedeutet nichts anderes, als daß auch die Wirkungen moralischer Handlungen ein materiales, also positiv bestimmbares, Element besitzen müssen,43 welches jedenfalls in einer Veränderung in der Welt der Ebd., § 2 (S. 5616 – 21): Materiale est motus aliquis physicus potentiae physicae, puta, locomotivae, appetitus sensitivi, sensuum exteriorum & interiorum, & intellectus quoad exercitium adprehensionis (…); imo & ipsius voluntatis actus, in esse suo naturali consideratus, seu prout praecise spectatur ut effectus aliquis, per potentiam à natura inditam qua talem productus. 40 Ebd. (S. 5621 / 22): Nec non privatio motus alicujus physici, quem homo vel in se, vel in sua causa poterat producere. 41 Ebd. (S. 5622 / 23): Nam non minus omittendo quam committendo poenae fit aliquis obnoxius. 42 Ebd., § 3 (S. 576 – 8): Formale actionis moralis consistit in imputativitate, ut ita loquar, per quam effectus actionis voluntariae agenti potest imputari, seu tanquam ad ipsum proprie pertinens haberi, sive ipse agens affectum quoque physice produxerit, sive ut per alios produceretur effecerit. 43 Vgl. ebd., § 4 (S. 58). 39
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Dinge, denen entia moralia beigelegt worden sind, liegen wird. Zurechnung selbst heißt nun eine solche Veränderung jemandem als ihm zu eigen zuzuschreiben. Erst durch diese Zuschreibung wird ein Handelnder zu einem moralischen Agenten, und dann „wird er moralische Ursache genannt“.44 Etwas jemand zurechnen heißt also präzise, ihn zu einer moralischen Ursache zu erklären. Dies setzt zunächst irgendwelche physische Wirkungen voraus, die moralische Gegenstände betreffen, weil nur aus der Gegebenheit moralisch relevanter Wirkungen auf die Notwendigkeit einer moralischen Ursache geschlossen werden kann. Diese kann überhaupt nur in einer freiwilligen Handlung bestehen, die keine bloß natürliche Ursache haben kann, sondern einen menschlichen Urheber haben muß, da sie sonst die fundamentalen Zurechnungsvoraussetzungen von Rationalität und Freiheit nicht erfüllt. Da moralischen Handlungen nicht bloß spontane, sondern freie Willensakte zugrundeliegen und diese selbst eine Wahl zwischen Alterantiven darstellen, muß es – die Intaktheit der mentalen Ausstattung des Handelnden vorausgesetzt – immerhin möglich sein, diese auch moralisch und nicht nur physikalisch zu begründen. Egal also, ob die Wirkungen einer Handlung als gut oder böse beurteilt werden, sie ist nur dann eine moralische, d. h. zurechenbare, wenn sie einem rationalen Begründungsmuster folgt, mithin einen bestimmten und als ein Gut bewußt angestrebten Zweck oder ein adäquates Mittel zu dessen Erreichung darstellt. Pufendorfs Zusammenfassung seiner soeben ausgeführten, formalen Bestimmung des Zurechnugsbegriffs lautet daher: „Woher leichtlich eingesehen wird, daß der formale Grund einer moralischen Ursache im eigentlichen und strengen Sinne in der Zurechnung, aber vom Ende her betrachtet, besteht; und daß dieser eben nichts anderes ist als ein freiwillig Handelnder, dem eine Wirkung zugerechnet wird oder zuzurechnen ist, deswegen weil er sich im Ganzen oder zum Teil als deren Urheber erwiesen hat; und daher muß was gewesen ist, sei es Gutes oder Böses, unter das ihm Willkommene gerechnet werden, so daß er gehalten ist, für jedes von beiden sich zu rechtfertigen.“45 IV. Zurechnungsgründe Ist nun formal geklärt, was der Begriff der Zurechnung nach Pufendorf aussagt, können seine Anwendungsbedingungen untersucht werden, d. h. warum eine handelnde Person zum Urheber einer durch ihre Folgen als moralisch auszuzeichnender Handlung erklärt wird. Dies geschieht aufgrund seiner positiven Ursächlichkeit, d. h. der Urheber fungiert nicht bloß als notwendige sine qua non-Bedingung – er wäre dann ja keine Ursache –, sondern als hinreichende Bedingung für den Eintritt Ebd., § 3 (S. 578 / 9): Et ab hac actionis formalitate ipsum quoque agens moralitatis denominationem participat, & causa moralis adpellatur. 45 Ebd. (S. 5710 – 14): Unde facile intelligitur, causae moralis proprie ac stricte loquendo formalem rationem in imputatione, sed terminaliter spectata, consistere; adeoque eam nihil esse aliud, quam agens voluntarium, cui effectus imputatur aut imputandus est, ideo quod ejus autor ex toto, aut ex parte extiterit; atque inde sive boni, quid fuerit, sive mali, eidem in acceptis sit referendum, sic ut pro utroque rationem reddere teneatur. 44
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einer positiv bestimmbaren Wirkung.46 Im Falle einer Zurechnung gibt es daher „keine andere Ursache als was in irgendjemandes Macht und Fähigkeit gewesen ist, daß jene (sc. moralische Handlung) geschieht oder nicht geschieht, unternommen oder unterlassen wird“.47 Ein jedes Zurechnungsurteil enthält daher auch ein Kausalurteil, das einer Wirkung eine Ursache zuordnet. Diese Ursache ist spezifischen Charakters. Sie ist causa libera, d. h. eine solche, die anders als eine natürliche Ursache auch davon abstehen kann, ihre Wirkung hervorzubringen bzw. überhaupt ursächlich zu sein. Eine derartige Ursache determiniert zwar ihre Wirkung, aber sie ist nicht selbst in ihrer Ursächlichkeit determiniert. Einer solchen, bloß möglichen Ursache kann folglich geboten, verboten oder erlaubt werden, als Ursache einer Wirkung zu fungieren, welch letztere zugleich das nötige normative Kriterium bereitstellt. Zurechenbarkeit kann demnach niemals bedeuten, mögliche Ursache zu sein, sondern erfordert immer effiziente Ursächlichkeit hinsichtlich gesetzlich gebotener oder verbotener Wirkungen. Es ist daher nur konsequent, wenn Pufendorf eine Art praktischer Fassung des Satzes vom zureichenden Grund zum „ersten Axiom“ der Moralphilosophie erklärt: „Soweit bezüglich jener Handlungen ein Grund gefordert werden kann, hat der Mensch, daß diese geschehen oder nicht geschehen, selbst in seiner Gewalt. Oder, was auf dasselbe herauskommt: Soweit eine beliebige, von einer moralischen Regel anleitbare Handlung, irgendjemand in seiner Gewalt hat, daß sie geschieht oder nicht geschieht, kann sie demjenigen zugerechnet werden. Und umgekehrt: Dies, was irgendjemand weder an sich noch in seiner Ursache in seiner Gewalt hat, kann demselben nicht wie aus Schuldigkeit zugerechnet werden.“48 Zugerechnet werden kann also allein die Wirkung einer Handlung, deren mögliches Eintreten oder Ausbleiben durch eine Vollzugs- oder Unterlassungsnorm bestimmt werden kann. Es können folglich nur genuin menschliche Handlungen, die einer Verpflichtung unterliegen, Gegenstand von Zurechnungsurteilen sein. Da nun der einzige Zweck von Normen darin liegt, den Bereich des aus Freiheit möglichen Tun und Lassens zu ordnen, und Freiheit einzig und allein dem Willen des Menschen zukommt, ist der Adressat jeder Verpflichtung der Wille, dessen mögliche Gegenstände durch die Vernunft bereitgestellt werden. Diesen Gegenständen gegenüber ist der Wille indifferent: Er kann sie wollen oder nicht wollen, und muß nicht einmal dies tun, sondern sich auch jedes Aktes des Wollens oder Nicht-Wollens enthalten.49 Weil Vgl. ebd., § 4 (S. 58). Ebd., § 5 (S. 5833 – 35): Caeterum quod actio moralis ad aliquem pertinere, eique imputari possit (in quo formalem ejusdem rationem consistere diximus), ejus causa nulla est alia, quam quod in potestate & facultate alicujus fuit, illam fieri vel non fieri, sucipi vel omitti. 48 Ebd. (S. 5838 – 42): Unde primarium axioma in moralibus est habendum; quod de illis actionibus rationem posci queat homo, quae ut fiant vel non fiant, penes ipsum est. Seu, quod eodem recidit; quod quaelibet actio, ad normam moralem dirigibilis, quam penes aliquem est fieri vel non fieri, ipsi possit imputari. Et contra; id quod neque in se, neque in sua causa penes aliquem fuit, non potest ipsi velut ex debito imputari. 49 Der Wille verfügt also, um die hier einschlägige Unterscheidung des Thomas von Aquin (SThl. IaIIae, q. IX, art. 1) zu gebrauchen, sowohl über die libertas contradictionis, d. h. poten46 47
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aber jede Verpflichtung bzw. jede Norm den Willen nötigt, etwas durch sie bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen, darf sich der Wille auch nicht indifferent gegenüber moralischen Normen verhalten. Er hat also nicht nur die Pflicht, das Gebotene zu wollen und das Verbotene nicht zu wollen, sondern auch die Pflicht, diese Akte des Wollens und Nicht-Wollens zu vollziehen. Enthält sich der Wille nämlich dieser Akte vollständig, liegt auf der Hand, daß, wenn etwas Verbotenes geschieht, er dies jedenfalls nicht nicht gewollt hat, denn sonst hätte er versucht, dies zu verhindern oder irgendwelche äußeren Bewegungen vollzogen, die seinen Widerwillen dokumentieren, oder er hat, wenn etwas Gebotenes nicht geschieht, jedenfalls nicht gewollt, daß dies geschieht. Also „reicht, damit irgendeine Handlung bzw. Tat zugerechnet werden kann, zu, wenn sie nicht wider Willen geschehen ist, (…) und daß sie der Anleitung unseres Willens unterworfen ist“.50 Da zweitere Bedingung durchaus transparent scheint – jede physische Veränderung, die nicht natürlicher Notwendigkeit folgt und durch uns aus Freiheit bewirkt werden kann, ist der Anleitung unseres Willens unterworfen –, kann sogleich zu ersterer übergangen werden. Dazu müssen wir uns noch einmal an Pufendorfs Bestimmung von Spontaneität erinnern.51 Im Unterschied zu Freiheit besagte diese, daß zum einen das Prinzip einer Bewegung des Handelnden im Handelnden selbst liegt und dieser zum anderen, was er tun will, prospektiv und treffend moralisch beurteilt hat. Fehlt eine dieser beiden Komponenten, hat die Handlung als wider Willen vollzogen zu gelten. Werden also die Körperglieder des Handelnden durch unwiderstehliche physische Gewaltanwendung trotz Gegenwehr oder zumindest äußerer Zeichen des Widerwillens zur Ausführung bestimmter Bewegungen gebracht, liegt also Zwang im strengen Sinne vor, oder liegt ein unvermeidbarer Irrtum bezüglich der moralischen Folgen einer einzelnen Handlung vor, wurde diese wider Willen vollzogen und wird demnach nicht zugerechnet. Bringt man beide Bedingungen in Anschlag, ist eine Zurechnung in folgenden Fallklassen ausgeschlossen: 1. Ereignisse, die aus physischer Notwendigkeit geschehen oder deren Ursachen sonstwie der Beherrschung durch den Menschen entzogen sind;52 2. Körperliche Prozesse, die keine menschlichen Handlungen sind und sich entweder natürlicherweise vollziehen oder aufgrund von Ursachen, die nicht von der Person, an der sie sich vollziehen, selbst abhängen;53 3. Handlungen, die entweder physisch oder moralisch unmöglich sind, d. h. die Wirksamkeit des Willens trotz ihrer physischen Möglichkeit schlicht überfordern;54 4. Handlungen, die aus Zwang tia ad exercitium actus, als auch über die libertas contrarietatis, d. h. potentia ad determinationem actus. 50 Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.5, § 5 (S. 593 – 5): Porro ut aliqua actio, seu factum, possit imputari, sufficit, si non invita fuerit; (…) & ut directioni nostrae voluntatis fuerit subjecta. 51 Vgl. zum folgenden ebd., I.4, § 10 (S. 54 f.). 52 Vgl. ebd., I.5, § 6 (S. 59). 53 Vgl. ebd., § 7 (S. 59 f.). 54 Vgl. ebd., § 8 (S. 60 f.). Genau diese moralische Unmöglichkeit stellt Molina ins Zentrum seiner Argumentation zur Begründung aboluter Willensfreiheit (vgl. Aichele [Fn. 32]).
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geschehen, dessen Ursache nicht selbst herbeigeführt wurde;55 5. Handlungen, die aus Unwissenheit geschehen, deren Ursache nicht selbst herbeigeführt wurde und die sich nicht auf allgemeine natürliche oder moralische Sachverhalte bezieht, deren Kenntnis erwartet und erfordert wird;56 6. geträumte Handlungen;57 7. zukünftige Übel, die durch eine Untat zwar möglich sind, aber (noch) nicht verwirklicht wurden.58 Der bloße Sachverhalt allerdings, daß eine Handlung von einem Anderen begangen worden ist, schließt nicht schon per se Zurechnung aus. Damit dies aber „zurecht geschieht, ist es notwendig, daß jemand zu diesen auf irgendeine Weise wirksam beiträgt. Sonst nämlich ist nämlich der Grund nicht gegeben, daß die Wirkungen einer moralischen Handlung von einer Person auf eine andere Person übergehen, wenn nicht einer ebendiese Handlung beeinflußt hat, indem er etwas tut oder unterläßt.“59 Pufendorf unterscheidet hier zunächst zwei prinzipielle Varianten: Entweder besteht ein striktes Befehlsverhältnis, bei dem der Untergebene damit zu rechnen hat, daß ihm im Verweigerungsfall schwerste Übel nicht nur für irgendwann angedroht, sondern auch umgehend zugefügt würden; dann wird die Vollendung einer Handlung vollständig dem Befehlenden zugerechnet.60 Gleiches gilt auch bei der Verletzung der Aufsichtspflicht über Tobsüchtige.61 Oder – was viel häufiger ist – die Handlung wird gleichermaßen dem Beiträger wie dem Vollender zugerechnet.62 Hier ergibt sich aus schlicht logischen Gründen eine basale dreifache Differenzierung: Entweder der Beiträger wird für die Hauptursache der Handlung gehalten und der Vollender nicht;63 oder Beiträger und Vollender sind in gleicher Vgl. Pufendorf, JNG (Fn. 6), I.5, § 9 (S. 61 f.). Vgl. ebd., § 10 (S. 62 f.). 57 Vgl. ebd., § 11 (S. 63 f.). 58 Vgl. ebd., § 12 (S. 64). 59 Ebd., § 14 (S. 666 – 9): Porro imputari homini solent non propriae duntaxat, sed & alienae actiones. Quod tamen ut recta fiat, necessum est, ut ad eas iste aliquo modo efficaciter concurrit. Aliàs enim ratio non fert, ut effectus actionis moralis de persona in personam transeant, nisi ad eandem quis influxerit, aliquid agendo vel omittendo. 60 Ebd. (S. 6627 – 29): Quandoque igitur contingit, ut ei, qui immediate actionem patrat, illa penitus non imputetur, sed alteri, qui eandem imperavit. Nempe si quis subjecto sibi, sub comminatione gravissimorum malorum, & quae repraesentandi facultas ipsi est, meram exsecutionem alicujus actionis injungat. 61 Ebd. (S. 6817 / 18): Sic & qui furiosum suae custodiae creditum negligentius habuerit, & iste aliquem laeserit, custos ex facto tenebitur; etsi ipsi furioso nihil imputetur. 62 Ebd. (S. 6638 – 40): Sed frequentius est, ut & ei, qui actionem patravit, illa simul imputetur. Idque fit triplici potissimum modo: vel ut alter principalis causa actionis, patrator minus principalis habeatur; vel ut uterque pari velut passu ambulet; vel ut alter minus principalis, patrator principalis causa sit. 63 Pufendorfs Typologie umfaßt hier folgende Fallklassen: 1. Handlungen auf Befehl, die nicht die Bedingungen für einen Zurechnungsausschluß erfüllen; 2. Handlungen aus begründeter Autoritätsgläubigkeit; 3. Handlungen, bei denen der Beiträger eine verabredete Voraussetzung bereitstellt, ohne die der Vollender die Handlung nicht begehen wollen würde; 4. Handlungen, bei denen der Beiträger eine vollkommene Pflicht hätte, sie zu verhindern, sie aber 55 56
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Weise Handlungsursachen;64 oder nicht der Beiträger wird für die Hauptursache der Handlung gehalten, sondern der Vollender.65 Nun kann und braucht hier nicht weiter auf die differenzierte Typologie dieser Fallklassen eingegangen werden, die Pufendorf entwickelt. Denn, wie die Gewichtung der Gründe auch verteilt sein mag, gilt doch grundsätzlich stets dieselbe Zurechnungsbegründung: „Überall aber gibt es entweder positive oder privative Beihilfe zu einer fremden Handlung bzw. indem etwas begangen oder unterlassen wird.“66 Was zunächst durchaus plausibel erscheint, gewinnt bei näherer Betrachtung einige Problematik. Diese liegt in Pufendorfs Unterscheidung zwischen einer Hauptursache einer Handlung und einer oder womöglich gar mehrerer anderer („Neben“)Ursachen. Um an dieser Stelle nicht in den Strudel unsinniger metaphysischer Interpretationen des Ursachenbegriffs zu geraten, wie sie in der Strafrechtstheorie die sogenannte Äquivalenztheorie erfunden hat, ist es geraten, jenen Begriff von seiner logischen Seite her aufzufassen. Nun findet sich eine solche Vorgehensweise zwar bei einer Vielzahl von funktionierenden Kausalitäts- und Zurechnungstheorien, wie sie insbesondere in der Philosophie spätestens seit der Frühaufklärung bis zu Kant und auch in der moderneren Wissenschaftstheorie entwickelt worden sind.67 Dies heißt jedoch nicht, daß eine solche Auffassung auch, ohne Anachronismen zu begehen, Pufendorf unterstellt werden kann. Pufendorf selbst hat, soweit ich sehe, keine eigenständige Theorie der Kausalität entwickelt. Klar ist indes, daß trotzdem ausführen lassen will, und gleichzeitig der Vollender ein Recht hat, daß er daran gehindert würde. Vgl. ebd. (S. 66 f.). 64 Pufendorf führt hier folgende Fallklassen an: 1. Handlungen im Auftrag bzw. gedungene Taten; 2. Hilfeleistung; 3. Bereitstellung von Plänen; 4. Unterlassene Hilfeleistung bei erkanntem Unrecht; 5. Verbrechen, die ein Beamter beschweigt und absichtlich übersieht. Vgl. ebd. (S. 67 f.). 65 Hierunter fallen Handlungen, zu denen vorheriger Rat, Lob oder Zustimmung irgendein Moment beitragen. Dabei ist einerseits zu unterscheiden, ob dies aus Arglist erfolgt, also den Willen dokumentiert, daß eine Handlung vollzogen wird, so daß diese entweder dem Ratgeber als Hauptgrund oder beiden gleichermaßen zugerechnet wird, oder nicht. Ist letzteres der Fall, ist zu unterscheiden, ob der Rat in einer allgemeinen – etwa ob Diebstahl aus rechter Not erlaubt ist – oder in einer besonderen – etwa wo sich in einem Gebäude Wertsachen befinden – Auskunft besteht. Eine Zurechnung, bei der Ratgeber nicht für den Hauptgrund gehalten wird, ergibt nur letzteres. Vgl. ebd. (S. 68 f.). 66 Ebd. (S. 6640 – 42): Ubique autem concursus ad actionem alienam sit vel positive, vel privative; seu committendo aliquid, aut omittendo. 67 Vgl. zum Verhältnis von Kausalität und Zurechnung bei Kant: Aichele (Fn. 1); zur Transformation eines solchen Theorietyps in die strafrechtliche Moderne: Jakob Meier, „Die Tätergemeinschaft als logisches Problem“, in: JRE 17 (2009), S. 385 – 412; zu einer allgemeinen Theorie der Kausalität eines entsprechenden Typs, einem Überblick über ihre historische Entwicklung und einer erschöpfenden kritischen Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Theorielage: Robert Schnepf, Die Frage nach der Ursache. Systematische und problemgeschichtliche Untersuchungen zum Kausalitäts- und Schöpfungsbegriff, Göttingen 2006; zur gegenwärtigen Diskussion in der analytischen Metaphysik und der angelsächsischen Rechtsphilosophie: Michael S. Moore, Causation and Responsibility. An Essay in Law, Morals, and Metaphysics, Oxford 2009.
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auch nach ihm ein Zurechnungsurteil ein Kausalurteil involviert. Weiterhin ist klar, daß die Terme, die in einem Zurechnungsurteil vorkommen, entia moralia denotieren oder zumindest einschließen müssen. Entia moralia bezeichnen nur insofern reale Eigenschaften und besitzen nur insofern metaphysische Bedeutung, als sie ein bestimmtes Verhalten vorschreiben und bestimmte Folgen bewirken. Diese Folgen sind ausschließlich moralische Wirkungen, die ein handelndes Subjekt ausschließlich dann betreffen, wenn ihm seine Handlung zugerechnet wird. Das vom Zurechnungsurteil involvierte Kausalurteil betrifft demnach nur einen Sachverhalt, der in metaphysischer, mithin denkunabhängiger Weise auch dann bestünde, wenn er nicht noch zusätzlich durch entia moralia bestimmt wäre. Das Kausalurteil sagt also etwas über die physische, nicht aber über die moralische Welt aus. Es thematisiert daher das, was Pufendorf die materiale Seite einer Handlung nennt, die er außerordentlich weit faßt, da unter sie auch Willensakte fallen. Willensakte betreffen jedoch nicht eo ipso entia moralia. Sie sind weiterhin überhaupt nur dann für eine Zurechnung relevant, wenn ihnen Veränderungen in der Welt korrespondieren. Diese Veränderungen in der Welt müssen sich gemäß des Satzes vom zureichenden Grund theoretisch erklären lassen. Dies kann aber aufgrund der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens nur mit logischen Mitteln geschehen. Hierzu wird eine konditionale Analyse erfordert, vermittels derer notwendige und hinreichende bzw. notwendige oder hinreichende Bedingungen für den Eintritt einer Wirkung differenziert werden können. Dabei folgt aus der Gegebenheit einer hinreichenden Bedingung, die selbst nicht notwendig sein muß, eine Wirkung mit Notwendigkeit. Entscheidend ist nun zu sehen, daß hierbei nicht die Relation von Einzeldingen zueinander ausgesagt wird, sondern die Relation bestimmter Begriffe zueinander, die Klassen von Gegenständen definieren. Bedingungen bezeichnen daher prinzipiell logische Entitäten. Wenn man nun von einer vollständigen natürlichen Determiniertheit aller natürlichen Ereignisse ausginge, könnte man sagen, daß stets die Gesamtheit aller notwendigen natürlichen Bedingungen hinreichend für den Eintritt einer natürlichen Wirkung ist: Der Zustand der Welt zum Zeitpunkt t n wäre dann die Ursache für den Zustand der Welt zum Zeitpunkt t nþ1 . Allerdings geht Pufendorf gerade nicht von einer solchen durchgängig determinierten Welt aus. Denn seiner Auffassung nach gibt es zumindest eine natürliche Fähigkeit, die nicht nur nicht natürlich, sondern überhaupt nicht determiniert ist, nämlich den freien menschlichen Willen.68 Dessen charakteristisches Vermögen zur Ursächlichkeit besteht ja gerade darin, selbst dann, wenn alle notwendigen Bedingungen gegeben sind, die in einer natürlich determinierten Welt zusammengenommen hinreichend für den Eintritt einer Wirkung wären, deren Eintritt bewirken oder nicht bewirken zu können. Von allen Schwierigkeiten dieser indeterministischen Position für den Augenblick abgesehen, auf die schon Leibniz mit Bezug auf ihre molinistische Quelle hingewiesen hat, ergibt sich 68 Eine solche Auffassung vertritt gegenwärtig am prominentesten Robert Kane, The Significance of Free Will, Oxford 1996.
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folgendes Bild: Es gibt in der natürlichen Welt metaphysische Gegenstände, die nicht determiniert sind, nämlich Willen. Zugleich verlaufen Prozesse in der natürlichen Welt auch aus physischer Notwendigkeit. Daraus folgt, daß kein aus physischer Notwendigkeit verlaufender Prozeß in der natürlichen Welt einen Willensakt als notwendige Bedingung einschließen darf. Ebenso folgt daraus umgekehrt, daß kein Prozeß, der einen Willensakt als notwendige Bedingung einschließt, aus physischer Notwendigkeit verläuft. Also folgt daraus weiterhin, daß für jeden Prozeß, der nicht aus natürlicher Notwendigkeit verläuft, weil er einen Willensakt als notwendige Bedingung einschließt, gilt, daß der in ihm involvierte Willensakt für diesen Prozeß notwendig und hinreichend ist, während alle anderen Bedingungen nur notwendig sind. Ein entsprechendes Kausalurteil wird also nur feststellen, daß es sich hierbei um etwas handelt, das Pufendorf eine genuin menschliche Handlung nennt. Gerade weil dieses Urteil auf die Unterscheidung zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen zurückgreift, braucht es nicht den metaphysischen und uneinlösbaren Anspruch darauf erheben, den zureichenden Grund für eine Veränderung in der Welt auszusagen, sondern nur eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine Veränderung dieses Typs. Dies ist dann der Fall, wenn in ihm nur definierte bzw. zumindest endlich definable Terme auftreten, also etwa: Wenn ein Mensch vom Typus „Arjen Robben“ vom Elfmeterpunkt aus gegen einen Fußball tritt, so fällt ein Tor. Es ist leicht zu sehen, daß sich dieses logische Schema von Kausalerklärungen auf mehrere Agenten erweitern läßt.69 Dann fungiert jeder von ihnen als eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine bestimmte Veränderung in der Welt und diese zusammengenommen können als hinreichende Bedingungen für eine davon zu unterscheidende Veränderung in der Welt fungieren, für die jede Handlung für sich genommen notwendig und in dieser Hinsicht funktional identisch ist. Eine Unterscheidung zwischen Haupt-, Neben- und anderen Ursachen auf der Ebene des Kausalurteils wäre folglich unsinnig. Die von Pufendorf unterstellte Möglichkeit einer solchen Unterscheidung betrifft aber gar nicht das Kausalurteil, sondern das Zurechnungsurteil, das dieses voraussetzt. Denn ein Zurechnungsurteil bezieht sich nicht auf die Feststellung irgendwelcher Veränderungen in der natürlichen Welt. Dies besorgt ein Kausalurteil. Ein Zurechnungsurteil thematisiert vielmehr nur solche Veränderungen in der natürlichen Welt, die gleichzeitig durch entia moralia bestimmt werden. Entia moralia definieren bestimmte Klassen von Ereignissen oder Dingen als Gegenstände von Verhaltensnormen. Das Zurechnungsurteil betrifft daher genau das Verhältnis einer Handlung zu den verschiedenen entia moralia. Möchte man also in einem Zurechnungsurteil zwischen Haupt- und anderen Ursachen differenzieren, wird man zunächst feststellen müssen, ob und, wenn ja, welche entia moralia durch die verschiedenen Handlungen der verschiedenen Agenten tangiert werden. Denn eine Zurechnung ist nur möglich, wenn eine durch ein ens morale definierte Verhaltensnorm verletzt wird: Die Wahrnehmung eines eigenen Rechts oder einer Pflicht kann nicht nur nie69
Vgl. Meier (Fn. 67).
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mals Zurechnung begründen, sie schließt sie sogar aus. Daraus folgt, daß jede Handlung derer, die zusammengenommen für den Eintritt einer bestimmten Wirkung hinreichen, in irgendeinem Grade eine solche Verletzung implizieren muß: Erlaubtes oder gar Gebotenes zu tun kann nach Pufendorf nie Unrecht sein. Nun bestimmen entia moralia moralische, d. h. ethische oder juridische, Güter. Damit überhaupt von einer Mehrzahl von entia moralia gesprochen werden kann, müssen diese unterscheidbar sein. Dies kann nicht bloß anhand der Klasse von natürlichen Dingen geschehen, denen sie beigelegt werden, da ein und dieselbe Art Ding, je nach dem Gebrauch, dem man von ihm macht, unter verschiedene Arten von entia moralia fallen kann, etwa als Besitz, Eigentum, Geschenk oder Mordwerkzeug. Die notwendige Differenzierung zwischen verschiedenen entia moralia erfordert somit nicht nur, daß in ihrer Definition verschiedene Verhaltensnormen, sondern auch verschiedene Sanktionsnormen enthalten sind. Dabei wird sich die Bedeutung des verletzten moralischen Guts an der mit dieser Verletzung verbundenen Sanktion ablesen lassen. Dementsprechend, dies zeigen Pufendorfs Typologie und die dort gebrauchten Beispiele, wird die von ihm gewünschte Unterscheidung von Hauptund anderen Ursachen durch ebenjene Hierarchie der entia moralia bestimmt. Seine Rede von causa principalis und causa minus principalis betrifft also nicht die Kausalität einer Handlung als hinreichende und bzw. oder notwendige Bedingung einer Wirkung. Vielmehr geht es ihm um die moralischen Folgen, die durch eine Verletzung eines moralischen Guts ausgelöst werden, d. h. um Zurechnungsgründe. Und diese lassen sich anders als bloße Ursächlichkeit tatsächlich differenzieren.
V. Pufendorfs Probleme Abschließend sei auf wenigstens zwei Hauptprobleme von Pufendorfs Theorie hingewiesen. Auch eine durchaus wohlwollende Analyse wie die vorliegende sollte diese keineswegs verdecken. Das philosophisch fundamentalere liegt wohl in Pufendorfs Freiheitsbegriff: Er ist ganz in der Tradition Luis de Molinas metaphysisch fundiert. Seine Notwendigkeit läßt sich ohne Rückgriff auf den Willen eines allmächtigen und transzendenten Schöpfergottes und die Einsicht darin in genau diesem Bezug nicht weiter begründen oder gar beweisen. Eine transzendentalphilosophische Argumentation, die sich mit dem Beweis der Möglichkeit von Freiheit begnügt und aus dieser die Notwendigkeit von Moralität ableitet, scheint hier erfolgversprechender. Das zweite Problem liegt in der Schlüsselposition der entia moralia. Denn man kann kaum umhin festzustellen, daß deren Bestimmung als logische Entitäten mit realer Wirkung weiterer Klärung bedarf.70 Freilich könnte Pufendorf einwenden, 70 Hunter (Fn. 7, S. 160) hält indes gerade dies Problem aufgrund Pufendorfs „self-conscious rejection of the notion of man’s higher rational nature or self-legislating reason“ für irrelevant bzw. erledigt. Allerdings scheint es zum einen – betrachtet man etwa nur die erwähnten Parallelen zur jesuitischen Freiheitsmetaphysik – mit Pufendorfs „anti-scholastic in-
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daß dies schlicht eine zutreffende Beschreibung des metaphysischen Status von Normen überhaupt sei. Dies scheint einleuchtend. Gerade deswegen aber bedarf die Möglichkeit ihrer Universalität weitreichenderer Begründung, die zeigen müßte, daß es solche entia moralia gibt, die gar nicht anders gedacht werden können, wenn sie denn überhaupt gedacht würden. Sie wären dann aber gerade dem menschlichen Willen entzogen und – gleichsam kommentarlos – immer schon durch einen Gott imponiert, der sich allein auf sein jenseitiges Strafrichteramt konzentrierte.71 Worauf Pufendorf aber jedenfalls zurecht aufmerksam macht, ist, daß die Realität jeder Moral einzig und allein darin besteht, daß wir nach vollzogenen Handlungen diese beurteilen und sanktionieren. In nichts anderem besteht Zurechnung.
Summary In de jure naturae et gentium, Samuel Pufendorf developed an extensive theory of attribution. This theory is supposed to allow the problematic application of norms to single events, i.e. to allow moral judgements. The theory is based upon the term of entia moralia, i.e. logical entities determining behaviour. These entities are, in turn, the basis for an action theory that, based upon an indeterministic understanding of liberty, defines acts as wilful and at least in principle determinable by rational judgements. However, these acts obtain morality only by being attributed. The term imputatio therefore extends the mere causation of an act by a specific affiliation (pertinentia) between the act and the actor. To establish this, Pufendorf mentions formal and substantive criteria that can, however, only be applied retrospectively. The resulting judgement must include, firstly, a finding of causation, and secondly, also those entia moralia, that state the possibility of determining the actor’s free will. Free will and the morality of an act, therefore, becomes manifest only in the attribution that takes place.
tent“ (ebd., S. 175) doch nicht ganz so weit her zu sein, wie Hunter behauptet, und zum anderen bliebe auch dann schwierig, universale Normen wegen der Arationalität ihres Impositionsgrundes empirisch begründen zu müssen. Schon der Versuch scheint geradewegs auf einen klassischen Schluß vom Sein, nämlich dem Imponiert-Sein durch Gott bzw. den Gesetzgeber, auf ein Sollen, nämlich der Pflicht zu regelkonformem Verhalten durch die Menschen bzw. Untertanen, hinauszulaufen. 71 Vgl. Hochstrasser (Fn. 22), S. 71.
Personalität und Stellvertretung Ethik und Recht stellvertretender Entscheidungen1 Karin Michel
Das in den letzten Jahrzehnten im Feld der medizinischen Ethik zentral diskutierte Autonomieprinzip stellt eine grundlegende Orientierung für die Frage nach dem konkreten Umgang mit Menschen dar, die aufgrund von erkrankungsbedingten Einschränkungen ihrer Fähigkeiten auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Von besonderer Bedeutung in der Diskussion um die ‚Patientenautonomie‘ ist die Forderung der Einbeziehung der Betroffenen in Behandlungsentscheidungen, die für sie selbst mitunter weitreichende existenzielle Konsequenzen haben können. Konzepte wie das des ‚informed consent‘ sollen einer paternalistischen Medizin entgegenwirken, die Entscheidungskompetenzen primär an den ärztlichen Fachmann delegiert.2 Gefordert wird hier die Etablierung einer partnerschaftlichen Arzt-PatientenBeziehung auf der Basis wechselseitiger Anerkennung. Diese Forderung stützt sich auf die Voraussetzung, dass der Patient auch in seiner jeweiligen Erkrankungssituation zum adäquaten Erfassen der gegebenen Sachverhalte und zu einer eigenständigen und validen Entscheidungsfindung in der Lage ist. Das Autonomieprinzip ist nicht nur von Bedeutung im Bereich des medizinischen Handelns, es bietet Orientierung für die helfenden Berufe insgesamt. Auf breiter Front wird im Rahmen ethischer Überlegungen die Forderung erhoben, das professionelle Handeln von Bevormundungen und der Stiftung von Abhängigkeitsverhältnissen freizuhalten.3 Auch hier gilt, dass die Wahrung der Autonomie von 1 Eine modifizierte Fassung des Textes wurde eingereicht im Jahr 2010 als Abschlussarbeit des Modul II des weiterbildenden Studienangebotes „Medizinische Ethik“ an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften, Institut für Philosophie, Fernuniversität Hagen. 2 Vgl. z. B.: Neil C. Manson / Onora O’Neill, Rethinking Informed Consent in Bioethics. Cambridge: Cambridge University Press, 2007; Jessica W. Berg / Paul S. Appelbaum / Charles W. Lidz, Informed Consent: Legal Theory and Clinical Practice. Oxford: Oxford University Press, 2001. Constanze Giese, Die Patientenautonomie zwischen Paternalismus und Wirtschaftlichkeit. Das Modell des „informed consent“ in der Diskussion, Münster: Lit-Verlag, 2002. 3 Vgl. z. B. Martin Teising, Alt und psychisch krank: Diagnostik, Therapie und Versorgungsstrukturen im Spannungsfeld von Ethik und Ressourcen. 1Stuttgart: Kohlhammer, 2007, Ulrich Eibach, Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie, Münster / Wien: Lit-Verlag, 2005.
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Karin Michel
Menschen in Hilfeleistungssituationen prima facie nur dann möglich ist, wenn die Betroffenen in der Lage sind, ihre Sach-, Urteils- und Entscheidungskompetenz unbeeinträchtigt auszuüben und in die Beziehung zu den Helfenden einzubringen. Problematisch erscheint die Maxime der Autonomiewahrung allerdings dann, wenn die Entscheidungskompetenzen und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Betroffenen in der Folge von Erkrankungen deutlich eingeschränkt oder sogar aufgehoben sind. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Menschen von Bewusstseinsveränderungen oder Bewusstseinseinschränkungen betroffen sind, beispielsweise bei psychischen Erkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen, Demenzerkrankungen, seelischen und geistigen Behinderungen oder – im Extremfall – komatösen Zuständen. Hier ist es in Hilfs- und Behandlungskontexten immer wieder erforderlich, Maßnahmen ohne die Zustimmung der Betroffenen und auch explizit gegen ihren Willen durchzuführen. In solchen Situationen scheint auf der Basis einer allgemeinen Fürsorgeverpflichtung nur noch eine ‚vormundschaftliche‘ Beziehung zwischen Helfenden und Betroffenen möglich. Die Durchführung von Hilfsmaßnahmen ohne oder gegen den Willen von Menschen mit Erkrankungen ist einer umfassenden justizialen Regelung unterworfen, die gegenwärtig in Deutschland in den Formen des Betreuungsgesetzes im Rahmen des BGB, der Psych-KGs der Länder und diverser Hilfeleistungsgesetze festgehalten ist. In der Praxis können entsprechende Maßnahmen beispielsweise aus einem Zusammenwirken von rechtlichen Betreuern, Betreuungsgericht und Ärzten heraus veranlasst werden. Das BGB sieht hier in bestimmten Situationen die Einsetzung eines gesetzlichen Vertreters vor, der in Kooperation mit den zuvor genannten Instanzen für die Betroffenen und an ihrer Stelle über die Durchführung von Maßnahmen entscheiden kann. Diese Funktion wird in der Literatur häufig als ‚rechtliche Stellvertretung‘ der Betroffenen bestimmt und die in dieser Funktion getroffenen Entscheidungen werden als ‚stellvertretende Entscheidungen‘ bezeichnet.4 Im Folgenden sollen die philosophischen Grundlagen der ethischen und rechtlichen Orientierung des Stellvertreterhandelns skizziert werden, sofern für dieses der Autonomiebegriff eine zentrale Maßgabe darstellen soll. Unsere Ausführungen werden zeigen, dass und inwiefern im Blick auf die genannten Grundlagen das Autonomieprinzip auch für das scheinbar so paternalismusnahe Vertreterhandeln verbindlich bleiben kann und bleiben muss. In der philosophischen Tradition ist der Begriff der Autonomie eng mit dem Verständnis des Menschen verknüpft, dem als Person eine spezifische Würde zuzuerkennen ist, die es in praktischen Kontexten in besonderer Weise zu wahren gilt. 4 Vgl. dazu z. B. Allen Buchanan / Dan W. Brock, Deciding for Others: The Ethics of Surrogate Decision Making, Cambridge: Cambridge University Press, 1990. Ferner: Hans-Georg Koch / Johannes Gobertus / Hans-Martin Sass, Patientenverfügung und stellvertretende Entscheidung in rechtlicher, medizinischer und ethischer Sicht, Bochum: Zentrum für medizinische Ethik, 1994. Vgl. auch Theda Rehbock, Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn: Mentis, 2005.
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Insofern ist die Frage nach der Verbindlichkeit des Autonomieprinzips für das Vertreterhandeln eng mit der Frage nach der Personalität von nicht oder nur eingeschränkt entscheidungs- und selbstbestimmungsfähigen Menschen verbunden. Der erste Teil des vorliegenden Textes wird zwei Personalitätskonzeptionen der philosophischen Tradition vorstellen, die für das Verständnis der Grundlagen des Vertreterhandelns von besonderer Bedeutung sind. Dabei soll verdeutlicht werden, dass die Übernahme einer Vertreterfunktion für Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen nicht mit einer Aberkennung ihrer Personalität einhergehen muss. Im Zuge dessen wird dafür plädiert, dass eine Anerkennung der Personalität von Menschen in Grenzsituationen einen ‚integrativen‘ Personalitätsbegriff erfordert, der dem Vertreterhandeln seine paternalistische Konnotation nehmen und zugleich dem wirklichen Hilfe- und Unterstützungsbedarf der Betroffenen gerecht werden kann. Dazu werden zwei unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs der Selbstbestimmung unterschieden, die zur Beurteilung eines angemessenen Vertreterhandelns in ein Verhältnis zu setzen sind. I. Traditionelle Personalitätkonzeptionen Der Personbegriff hat in der europäischen Philosophie seit der Aufklärung einen zentralen Stellenwert für die praktische Philosophie gewonnen. Er begründete in der Ethik das bis heute relevante Konzept der Menschenwürde und im Bereich des Rechts eine auf dieser Würde beruhende besondere Rechtswürdigkeit und Rechtsfähigkeit des Individuums. Insofern fand der Personbegriff mittelbar Eingang in moderne Verfassungs- und Grundrechtstexte, die unabhängig von theologischen Vorgaben auf eine juridische Fundierung egalitärer und demokratischer Gesellschaftsformen zielen. Die Frage nach dem Zusammenhang von erfüllten rsp. nicht-erfüllten Personalitätskriterien und gesetzlichem Vertreterhandeln wird auch in der entsprechenden Rechtsliteratur diskutiert.5 In medizinethischen Debatten findet sie demgegenüber eine vergleichsweise geringe Beachtung.6 Im Folgenden sollen daher die traditionellen Personalitätskriterien im Rahmen einer philosophisch-ethischen Betrachtung zunächst skizziert und dann ihr Zusammenhang mit dem Vertretungshandeln herausgearbeitet werden. Die begriffs- und ideengeschichtliche Entwicklung der Personbegriffs beginnt mit der antiken Bestimmung der ‚persona‘ als Theatermaske (lat. persona, gr. prosopon: Maske, Rolle, Mensch). Die Persona fungiert dabei als Symbol für den Menschen, sofern er in eine Sozietät und Öffentlichkeit eingestellt ist und hier als Bürger 5 Exemplarisch hier: Volker Lips, Freiheit und Fürsorge: Der Mensch als Rechtsperson, Tübingen: Mohr-Siebeck, 2000. 6 Neben Allen Buchanan / Dan W. Brock, Deciding for Others: The Ethics of Surrogate Decision Making, Cambridge: Cambridge University Press, 1990, befassen sich nur wenige Monografien explizit mit der Thematik.
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mit einklagbaren Rechten eine Rolle spielt.7 Die christliche Auffassung der Person als Einzelwesen wird durch Boethius ausformuliert8 und rekurriert auf die rationale Natur des Menschen.9 Diese rationale Natur wird zugleich substanztheoretisch als Garant einer beharrlichen Identität des Menschen angesehen, als unzerstörbare Seele, durch die der Mensch als Ebenbild Gottes an dessen metaphysischer Vernunftnatur partizipiert.10 Das moderne Personalitätsverständnis ist weitgehend geprägt von neuzeitlichen philosophischen Konzeptionen, die im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt wurden.11 Im Zuge dieser Entwicklung wurde der traditionelle substanztheoretisch fundierte Personbegriff durch prozessuale und formalistische Konzeptionen ersetzt. Von besonderer Bedeutung für diese Entwicklung ist John Lockes erkenntnistheoretischer Empirismus, der eine Neubestimmung der individuellen Identität des Menschen vornimmt. Unter der Prämisse, dass allein die Wahrnehmung die Basis wirklichkeitshaltiger Erkenntnis ist, zeigt Locke, dass und inwiefern personale Identität empirisch-psychologisch zu bestimmen ist. Der äußeren (sensation) stellt er eine innere Wahrnehmung (reflection) gegenüber, in der alle geistigen Gehalte: Vorstellungen aller Art, mentale Operationen, voluntative Akte und Emotionen unmittelbar erfassbar sind. Als Instanz dieser Erfassung führt Locke das Bewusstsein ein als den mentalen Vollzug der Reflexion auf die Gegebenheit von Vorstellungen sowie deren Zuschreibung zum eigenen Ich. Bewusstsein wird insofern als Selbstbewusstsein verstanden. Selbstbewusstsein wird von Locke bestimmt als Bewusstheit einer numerischen 7 Zur Geschichte des Person-Begriffs vgl. exemplarisch Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, S. 269 ff., Artikel ‚Person‘. Vgl. ferner Dieter Sturma (Hrsg.), Person, Paderborn: Mentis, 2001, S. 25 – 77. Vgl. ferner Manfred Fuhrmann, „Persona, ein römischer Rollenbegriff“, in: Odo Marquard / Karl-Heinz Stierle, Identität, München: Fink, 1979, S. 83 – 106 und Maximilian Forschner, „Der Begriff der Person in der Stoa“, in: Dieter Sturma, Person, ibid., S. 37 – 57, hier S. 47. 8 Person ist einer vernunftbegabten Natur individuelle Substanz. (Persona est „naturae rationabilis individua substantia.“) Boethius, „Contra Euthychen et Nestorium III, 1 – 5“, in: Boethius, Die fünf theologischen Traktate. Übers., mit einer Einleitung versehen von M. Elsässer, Hamburg: Meiner, 1988, S. 64 – 115. Vgl. auch: Martin Brasser (Hrsg.), Person, Stuttgart: Reclam, 1999, S. 47 – 53. 9 Zum Begriff der ‚Natur des Menschen‘ vgl. Jan P. Beckmann, „Natur und Person vor dem Hintergrund gegenwärtiger bioethischer Grundprobleme“, in: Mechthild Dreyer / Kurt Fleischhauer (Hrsg.), Natur und Person im ethischen Disput, München: Alber 1998. 10 Zum Personbegriff bei Boethius vgl. Johann Kreuzer, „Der Begriff der Person in der Philosophie des Mittelalters“, in: Dieter Sturma (Hrsg.), (Fn. 6), S. 59 – 78. 11 Diese Entwicklung begann mit der Konzeption von Thomas Hobbes, der den Personbegriff u. a. zur Bestimmung innerstaatlicher Vertretungsverhältnisse heranzog und ihn auf diese Weise in die politische Philosophie einbrachte. Vgl. hierzu Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, übers. von Walter Euchner, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, S. 123 ff. Vgl. auch: Martin Brasser (Hrsg.), (Fn. 7), S. 71 – 77.
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Identität des Selbst, das ein individuelles empirisches Ich von sich selbst hat, welches so lange es selbst bleibt, wie das Bewusstsein seiner Vorstellungen und Tätigkeiten über die Zeit hinweg fortdauert.12 Der Metaphysik einer gedachten Seelensubstanz wird damit eine rein psychologische Instanz, d. i. das empirisch-prozessuale Selbstbewusstsein der Introspektion, entgegengesetzt.13 Eben dieses sich seiner selbst in numerischer Identität bewusste Selbst bezeichnet Locke als Person. Er attestiert der Person zugleich Vernunft und Überlegung und knüpft so an ihre traditionelle Bestimmung durch die Vernunftnatur an.14 Eigenständig ist jedoch die Betonung des empirischen Bewusstseins in seiner dezidiert zeitlichen Dimension. Gerade dadurch gewinnt Lockes Personbegriff eine praktische Relevanz: Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstwahrnehmung beruht dieser Konzeption zufolge auf der Aneignung und Selbstzuschreibung vergangener, gegenwärtiger und zukunftsbezogener Vorstellungen und Intentionen, Willensbestimmungen und dem Bewusstsein von entsprechend ausgeführten Handlungen.15 Lockes bewusstseinstheoretischer Ansatz liefert damit die Basis für eine neue Theorie der Zurechenbarkeit, der Verantwortlichkeit und der individuellen Selbstbestimmung des Staatsbürgers im rechtlich geregelten öffentlichen Raum.16 Bezogen auf den Bereich menschlicher Praxis besteht die Zurechenbarkeit im Bewusstsein einer Urheberschaft eigenen Handelns. Den Zukunftsbezug des praktischen Selbstbewusstseins erklärt Locke im Ausgang von der anthropologischen Bestimmung, gegenwärtiges Leid und Unbehagen zugunsten künftigen Wohlergehens überwinden zu wollen. Indem das gegenwärtige Wollen durch eine Sorge um das künftige Glück (concern for happiness)17 bestimmt werden kann, ist personale Identität auch auf die Zukunft 12 Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. XXVII, Nr. 25, Hamburg: Meiner, 1981, S. 434. 13 Vgl. ders., ibid., Buch II, Kap. XIV, Nr. 9, S. 214. 14 „Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort [Person, K. M.] ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfasst sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewusstsein, das vom Denken untrennbar ist und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört.“ John Locke, ibid., Buch II, Kap. XXVII, Nr. 9, S. 419. 15 Vgl. John Locke, ibid., Buch II, Kap. XXVII, Nr. 26, S. 436. 16 Lockes Theorie weist über die Bestimmung des Zurechenbarkeitsbegriffs von Samuel von Pufendorf hinaus. Es geht Locke nicht allein um die Frage der Handlungsurheberschaft und strafrechtlichen Relevanz von Handlungen, sondern auch und gerade um das Selbstbewusstsein als Bedingung gelingender menschlicher Selbstgestaltung mit Blick auf das Lebensganze. Die Orientierung an der juridischen Zurechenbarkeit bleibt dabei allerdings stets Thema. Vgl. ergänzend: Joachim Hruschka, „Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf “, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 96, Heft 3, S. 661 – 702. 17 Locke zufolge erstreckt sich die „Persönlichkeit […] vom gegenwärtigen Dasein in die Vergangenheit zurück nur durch das Bewusstsein, durch das sie beteiligt und verantwortlich wird und sich vergangene Handlungen mit derselben Begründung und aus derselben Ursache zueignet und zurechnet wie die gegenwärtigen. Das alles beruht auf einem Interesse am Glück,
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bezogen. In dieser Extension sieht Locke den Einsatzpunkt für eine Begründung der Freiheit der Person: Er attestiert dem Menschen als bewusstem Wesen auch die Fähigkeit, die Befriedigung aktueller Bedürfnisse und die Linderung von Unbehagen zugunsten eines künftigen Glücks aufzuschieben. Der Aufschub gibt einer Überlegung und Überprüfung Raum, welche Handlungsoptionen dem künftigen Glück wirklich dienen und insofern vorzuziehen sind. Aufschub und Überlegung ermöglichen es Locke zufolge dem Menschen, seinem Leben aus eigener Kraft eine den eigenen Vorstellungen entsprechende Form zu geben.18 Die Freiheit als Fähigkeit zur rationalen Auswahl von Optionen verantwortlicher Wunsch- und Bedürfnisgestaltung im Hinblick auf das Lebensganze in Übereinstimmung mit einer gegebenen Gesetzlichkeit macht hier die Selbstbestimmung der Person aus. Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gegenüber dem Gesetz avancieren bei Locke zu zentralen Bestimmungen von Personalität. Person ist der Mensch als intelligent handelndes Wesen, das gegenüber dem Gesetz für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann und darum auch für sie zur Rechenschaft zu ziehen ist. In der Entfaltung seiner Personalitätstheorie hebt Locke hervor, dass der Mensch als Person dem Recht unterworfen ist, wobei das Recht als Korpus von Regeln zu betrachten ist, das der Sicherung des Lebens, des Eigentums und der Selbstbestimmung dient und Regelbrechungen durch Strafen sanktioniert. ‚Person‘ fungiert insofern bei Locke nicht nur als ein ethischer sondern vor allem als ein ‚forensischer‘ Ausdruck, der sich auf die die rechtlichen Konsequenzen von Handlungen bezieht; er findet also“, wie es bei Locke heißt, „nur bei vernunftbegabten Wesen Anwendung, für die es Gesetze geben kann und die glücklich und unglücklich sein können.“19 In der Verknüpfung der bewusstseinstheoretischen Ausgestaltung des Personbegriffs mit imputations- und responsibilitätstheoretischen Momenten vereint Locke Ethik und Recht. Das Konzept der Selbstzuschreibung von Vorstellungen und Handlungen wird dabei als Basis für eine naturrechtliche Konzeption genutzt, die ein angeborenes Recht zu einer umfassenden Disponierbarkeit über die eigene Person geltend macht: Herr über sich selbst zu sein heißt, sich selbst zu bestimmen, über sich selbst zu verfügen.20 Locke betont dabei jedoch, dass die individuelle das die unvermeidliche Begleiterscheinung des Bewusstseins ist; denn das Wesen, das sich der Freude und des Schmerzes bewusst ist, wünscht, dass dieses bewusste Selbst glücklich sei.“ John Locke, ibid., Buch II, Kap. XXVII, Nr. 26, S. 436. 18 Vgl. dazu Martin Seel, „Rhythmen des Lebens. Kant über erfüllte und leere Zeit“, in: Wolfgang Kersting / Claus Langbehn (Hrsg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 181 – 200. Der oben verwendete Ausdruck „seinem Leben aus eigener Kraft eine den eigenen Vorstellungen entsprechende Form zu geben“ wurde hier in Anlehnung an eine Formulierung Martin Seels gewählt, um Lockes Konzeption von Selbstbestimmung aktualisierend zu kennzeichnen. Der Formbegriff sollte in unserem Kontext allerdings nicht terminologisch gelesen werden. 19 John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. XXVII, Nr. 9, Hamburg: Meiner 1981, S. 435. 20 Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 2. Abhandlung, § 169 ff., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 172007, S. 307 ff.
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Selbstbestimmung an einer Verpflichtung zum Selbsterhalt und dem Erhalt anderer eine Grenze findet. Freiheit ist kein Zustand der Zügellosigkeit.21 Die Verpflichtung selbst wird theologisch-metaphysisch begründet: „Alle Menschen sind Werk und Eigentum des unendlich weisen Schöpfers.“22 Aus diesem Grund ist es ihnen prinzipiell verwehrt, sich selbst oder einander vernichten. Mit diesem Gedanken überführt Locke sein freiheitstheoretisches Programm in eine theologisch fundierte Menschenrechtskonzeption. Diese Konzeption stellt ein universales Erhaltungsgesetz in den Vordergrund, das für jedes menschliche Individuum einen umfassenden Schutz von Leib und Leben verbürgt. Die theologische Fundierung sichert hier den absoluten Status und die Unveräußerlichkeit grundlegender Rechte.23 Insofern die Anwendung und Durchsetzung dieser Rechte eine konkrete Rechtsprechung und Sanktionierung verlangt, leitet Lockes Grundrechtskonzeption über in eine Staatstheorie.24 Lockes bewusstseinstheoretischer Ansatz wirft hinsichtlich der darin zugrunde gelegten spezifischen Identitätsauffassung ein gravierendes Problem auf: Die Bewusstseinseinheit als Identitätskriterium wird durch Funktionseinschränkungen der integrierenden Bewusstseinsleistung grundlegend gestört: Eine schwerwiegende Amnesie, ein komatöser Zustand, eine Demenz oder eine psychische Erkrankung setzen die kontinuierliche Bewusstseinshistorie und damit die Fähigkeit zur rationalen Bedürfnisgestaltung außer Kraft.25 In konsequenter Durchführung würde Lockes Ansatz dem Individuum bei Bewusstseinsstörungen die Unterbrechung oder gar die Aufhebung seiner Personalität attestieren. Locke ist die genannte Problematik bewusst. Er sucht hierfür eine spezifische Lösung: Er weist zunächst generell darauf hin, dass für die Personalität in ihrer Bewusstseinsbindung kein äußerliches Identifikationskriterium auszumachen ist: Die phänotypische Identität des Menschen garantiert nicht notwendig die Identität der Person. Konsequenterweise unterscheidet Locke Mensch und Person.26 Ist aber Personalität an die Identität des Bewusstseins geknüpft und sind Mensch und Person unterschieden, so folgt, dass der von Bewusstseinsstörungen betroffene Einzelne zwar als derselbe Mensch gelten kann, nicht aber als dieselbe Person. Das aber bedeutet, dass Locke zufolge einige Menschen keine Personen sind.27 21 John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 2. Abhandlung, § 6, ibid., S. 203: „Freiheit ist … kein Zustand der Zügellosigkeit. Der Mensch […] hat nicht die Freiheit, sich selbst […] zu vernichten […]. 22 Ibid. 23 Es handelt sich hier „um ein Gesetz der Natur, das den Frieden und die Erhaltung der ganzen Menschheit verlangt.“ John Locke, II. Abhandlung über die Regierung, ibid., S. 203. 24 Vgl. Wolfgang Kersting, Kant über Recht. Paderborn: Mentis, 2004, S. 101. 25 Vgl. John W. Yolton, John Locke: Problems and Perspectives: A Collection of New Essays, Cambridge: Cambridge University Press 1969. 26 John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. XXVII, Nr. 8 und 9, Hamburg: Meiner 1981, S. 435. ff. 27 Vgl. Theda Rehbock, Personen in Grenzsituationen, Paderborn: Mentis, 2005, S. 216 ff.
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Eine weitere maßgebliche Personalitätskonzeption der Neuzeit wurde von Immanuel Kant entwickelt. Im Rahmen der Philosophie Kants erfährt die Begründung des Personbegriffs eine bedeutende Verschiebung: Kant rekurriert zwar auch auf das Selbstbewusstsein als Kriterium der Identität des Ich und damit der Personalität, im Gegenzug zu Locke macht er jedoch geltend, dass sich das Bewusstsein des eigenen identischen Selbst nicht infolge einer reflexiven Wahrnehmung konstituiert. Er macht vielmehr geltend, dass das Ich-Bewusstsein die logische Voraussetzung oder Bedingung der Möglichkeit für jedes reflexive Selbstverhältnis darstellt und insofern als nicht-empirische Bedingung der Selbstwahrnehmung angesehen werden muss. Kant verdeutlicht diesen Gedanken durch eine Strukturanalyse des Selbstbewusstseins als Fähigkeit, zu sich selbst ‚Ich‘ sagen zu können.28 Er zeigt, dass darin das Ich zum einen als Subjekt fungiert, das sich seiner selbst auch unabhängig von seinen Prädikaten in dem Gedanken ‚Ich denke ...‘ als logisches Subjekt seiner Gedanken denken kann. Dieses Ich bestimmt Kant als ein inhaltlich unbestimmtes Subjekt des eigenen Denkvermögens, das sich selbst als notwendige Voraussetzung für die Herstellung eines Zusammenhanges unter allen möglichen Gedanken und somit als notwendige Voraussetzung für das Bewusstsein jedes bestimmten Denkens denkt und sich als solche bewusst ist. Kant bezeichnet dieses so seiner selbst bewusste Subjekt als ‚logisches Ich‘, oder auch als ‚Subjekt der Apperzeption‘, sofern dieses Ich als ein Vermögen selbsttätiger Erzeugung allgemeiner Vorstellungen gelten kann: von Begriffen und Ideen und deren Verbindung zu Urteilen und zu Schlüssen. Kant macht zum anderen geltend, dass sich das Ich im Selbstbezug auch anschauen kann, dass es sich insofern seiner selbst als ‚psychologisches Ich‘ oder ‚Subjekt der Perzeption‘ bewusst ist und sich dabei selbst als einen Gegenstand vorstellt. Hier handelt es sich um das empirische Bewusstsein des Ich als des Subjekts der in der inneren Anschauung gegebenen Vorstellungen, die es sich als die eigenen bewusst machen (mit dem Ich-denke-Bewusstsein begleiten) und sie dann auf sich beziehen kann, indem es sie sich selbst als Prädikate zuschreibt. Den Doppelaspekt des Selbstbewusstseins als logisches und psychologisches Ich stellt Kant in das Zentrum seiner Fassung des Personbegriffs: Der Mensch ist Person und von einer Sache unterschieden, sofern er sich der Identität seiner selbst in wechselnden Vorstellungszuständen bewusst sein, d. h. sich sowohl als Subjekt denken wie auch als eine Art Gegenstand anschauen kann. Indem Kant geltend macht, dass das psychologische Ich das logische voraussetzt, hält er Lockes Personalitätskonzeption entgegen, dass sich die bewusstseinstheoretische Bestimmung von Identität und Personalität nicht allein auf die innere Anschauung und eine daran anknüpfende Psychologie stützen kann, sondern auf ein logisches Ich-denke-Bewußtsein rekurrieren muss als eine selbst unerfahrbare Bedingung der Möglichkeit der Selbsterfahrung.29 28 Vgl. Manfred Baum, „Logisches und personales Ich bei Kant“, in: Dietmar H. Heidemann (Hrsg.), Probleme der Subjektivtät in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2002, S. 107 – 123. 29 Vgl. ibid.
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Die Unterscheidung von logischem und psychologischem Ich bietet Kant die Basis für eine freiheits- und imputationstheoretische Fortbestimmung des Personbegriffs. Anknüpfungspunkt ist dabei die Bestimmung des logischen Ich als Subjekt spontaner Vorstellungsbearbeitung und -erzeugung: Indem das Ich als Quelle des begrifflichen Denkens bestimmt wird, kann es auch als Grund des Denkens von Zweckbegriffen, d.h. von Begriffen selbst gesetzter, frei gewählter Handlungsziele gelten. Eines der zentralen Ergebnisse von Kants theoretischer Philosophie besteht darin, dass das Ich als Gegenstand der empirischen Selbstbeobachtung aufgrund der unaufhebbaren Zeitbedingtheit der inneren Anschauung nur als kausal determiniert vorstellbar ist. Für das logische Ich als Subjekt der Apperzeption gilt diese Restriktion dagegen nicht: Insofern Kant es als anschauungs- und zeitunabhängiges Selbstbewusstsein bestimmen kann, muss er für dieses Ich nicht ausschließen, sich als selber nicht kausal bedingte, d. h. freie Ursache der Zwecksetzung und der Ausführung zweckrealisierender Handlungen zumindest denken zu können. Das Subjekt der Apperzeption kommt damit auch als Subjekt freier Handlungen in Frage. In seiner Konzeption der Ethik erweist Kant die personale Freiheit im Rückgang auf die Möglichkeit einer Orientierung an einem ‚Sittengesetz‘, das er als ein von empirischen Faktoren unabhängiges Vernunftgebot zur Selektion gesetzesförmiger, allgemeingültiger Handlungsmaximen bestimmt. Er begründet die Behauptung der Freiheit dadurch, dass ein Wille, der sich nach einem reinen Vernunftgebot richten kann, ein reiner, d.h. nicht durch empirische Beweggründe bedingter Wille ist, der demnach nicht der Kausalität der Natur, sondern nur einer Kausalität der reinen Vernunft untersteht, die es möglich macht, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen. Ein solcher Wille kann demzufolge als freier Wille gelten. Kants Argument revidiert die herkömmliche Bestimmung der Freiheit als Fähigkeit der rationalen Wahl geeigneter Mittel zur Verwirklichung naturgegebener, durch die eigene Bedürfnisstruktur vorgegebener empirischer Zwecke. Kant fasst Freiheit als Vermögen des vernünftigen Subjekts auf, sein eigener Gesetzgeber zu sein und zugleich und eben dadurch in seinem Wollen und Handeln nicht durch externe, vernunftfremde Faktoren, sondern nur durch sich selber determiniert zu sein. Freiheit wird auf diese Weise negativ als Unabhängigkeit des Willens von der Fremdbestimmung und positiv als Selbstbestimmung oder Autonomie bestimmt.30 Im Kontext dieser Bestimmung erweitert Kant den Personbegriff: Er betont, dass das Ich als autonomes Subjekt nicht nur selbstbewusste Person ist, sondern auch Persönlichkeit hat, die es als freies Vernunftwesen über die Mechanismen der äußeren wie der inneren Natur erhebt und in diesem Sinne die ‚Menschheit‘ in jeder Person ausmacht. Nicht das Selbstbewusstsein allein, sondern der Charakter des reinen praktischen Vernunftwesens, die Fähigkeit zur Autonomie, hebt Kant zufolge den Menschen 30 Vgl. Manfred Baum, „Positive und negative Freiheit bei Kant“, in: B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Ethik und Recht Bd. 16, Berlin: Duncker & Humblot, 2008.
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gegen die ‚Tierheit‘, auch gegen seine eigene, und gegen die ‚Sachen‘ ab.31 Auf der Grundlage des Begriffs der so verstandenen Persönlichkeit wird jeder Person ein absoluter Wert zuerkannt: Sofern nämlich die Person Persönlichkeit hat, sich das Gesetz zur Bestimmung von Zwecksetzungs- und Handlungsprinzipien selber gibt und sich dadurch zum Handeln bestimmen kann, ist sie Selbstzweck, d.h. nicht auf eine Sache, die nur ein Mittel für fremde Zwecke sein kann, zu reduzieren. Der Person wird damit eine unantastbare Würde zugesprochen, die von ihr selbst und jeder anderen Person zu achten ist.32 Kant formuliert damit einen von Lockes Konzeption deutlich unterschiedenen Personbegriff. Aber auch Kant verknüpft die bewusstseinstheoretische und ethische Dimension des Personbegriffs mit einer juridischen Bestimmung: Während Locke die genannten Dimensionen nicht explizit trennt, unterscheidet Kant klar zwischen Ethik und Recht: Die Ethik thematisiert die rein rationalen Bedingungen des inneren Handelns der Zwecksetzung und Maximenwahl und damit ein praktisches Binnen- oder Selbstverhältnis des Subjekts, das auch seinem äußeren Handeln zugrunde liegt. Dem Recht behält Kant allein die Regulierung der äußeren Freiheit vor: Recht bezieht sich auf die Freiheitsausübung des Einzelnen relativ auf die eines jeden anderen und die damit notwendigen Freiheitsbeschränkungen wie auch die Ahndung von Freiheitsmissbräuchen.33 So wie die Ethik bezieht Kant auch das Recht auf Personen und deren äußere Handlungen unter Vernunftgesetzen. Das Recht bleibt dabei in seiner Geltung hauptsächlich auf die Interaktionen von Personen beschränkt: Als auch leiblich-empirische Wesen sind Personen durch Handlungen anderer affizierbar – verletzbar. Ihre Handlungsspielräume müssen insofern geschützt und gegebenenfalls auch verteidigt werden können.34 Der Schutz von Grenzen und die Verhinderung von Grenzverletzungen35 ist insofern ein Anspruch, der sich mit dem Personsein und dem Status als Freiheitswesen notwendig verbindet. Eine Verhinderung von Grenzverletzungen ist aber nicht denkbar ohne Zwang. Die Zwangsbefugnis ist Kant zufolge kennzeichnend für das Recht. Der Zwang ist legitime Anwendung von Gewalt, nur sofern diese der „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“36 dient. Der Zwang fungiert bei Kant als Gegenstück zur moralischen Nötigung des kategorischen Imperativs im Bereich der äußeren Freiheit.37 Gewalt und Zwang als Basis für die Regulierung sozialer Verhältnisse einzusetzen, erscheint prima vista der Grundinten31 Vgl. dazu auch: Immanuel Kant, Kants Werke (Akademie-Ausgabe), Berlin: Reimer 1910 – 1997, Bd. XIX, S. 543, Refl. 7879. y – f? k? J 36, Bd. VI, S. 387, Bd. V, S. 126, 32 Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 462, Bd. VI, S. 449, Bd. IX, S. 489. 33 Vgl. Wolfgang Kersting, Kant über Recht, Paderborn: Mentis, 2004, S. 17. 34 Vgl. Rainer Friedrich, Eigentum und Staatsbegründung in Kants „Metaphysik der Sitten“, Berlin: De Gruyter 2004, S. 50. 35 Vgl. Wolfgang Kersting, ibid., S. 41. 36 Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. V, S. 231. 37 Vgl. Wolfgang Kersting, Kant über Recht, ibid.
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tion einer Ethik der Autonomie radikal zu widersprechen, zielt doch der Zwang auf eine Fremdbestimmung des Gezwungenen, die seine Anerkennung als Person in Frage stellt. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn Zwang selbst als freiheitsermöglichend und freiheitswahrend auftritt, dann nämlich, wenn er eine Schutzfunktion erfüllt: Zwang ist allein dann legitim, wenn er einen Freiheitsgebrauch verhindert, der nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden kann. Aufgrund des kategorischen Imperativs ist aber das Unterlassen von Handlungen, die nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden können, moralisch notwendig, d. h. Pflicht. Insofern kann der kategorische Imperativ sowohl als Prinzip des moralisch Notwendigen wie auch des rechtlich Erzwingbaren gelten. Das Prinzip, dass des Einzelnen Freiheitsgebrauch mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann38, Kants „Rechtsgesetz“39 ist, wie es bei Wolfgang Kersting heißt, „folglich eine Version des kategorischen Imperativs […]“40 Kants vernunftrechtlicher Ansatz weist die Rechtsgesetzlichkeit als Prinzip des intersubjektiven Freiheitsgebrauchs unabhängig von den subjektiven und empirischen Bedingungen jedem Einzelnen als praktisch-rationalem Wesen, d. h. als Person zu. Das a priori im kategorischen Imperativ begründete Recht bezeichnet Kant auch als Menschheitsrecht (als „jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“41) ‚Menschheit‘ fungiert hier als Titel nicht für die biologische Gattung, sondern für eine Rationalitätszuweisung, die selbst nicht biologisch fassbar ist, weil sie allen biologischen und empirischen Erklärungen voraus liegt. Unter dem Recht der Menschheit versteht Kant das jedem Menschen gleichermaßen zuzuerkennende Freiheitsrecht, das sowohl Fremdbestimmung als auch Rechtsungleichheiten ausschließt. Kants Menscheitsrecht als inhaltlich nicht näher bestimmtes natürliches Recht wird hier auf die Selbstgesetzgebungsoption praktischer Vernunft zurückgeführt und auf die durch sie mögliche reziproke Regelung egalitärer Freiheit.42 Im Unterschied zu Locke greift Kant nicht auf eine theologische Fundierung des Menschenrechtsgedankens zurück. Aber ebenso wie Locke bindet Kant den Rechtsbegriff an die Personalität und ebenso wie Locke überführt auch Kant die Rechtsbegründung in eine staatstheoretische Dimension: Das Menschenrechtsprinzip bedarf einer praxisbezogenen Konkretisierung und einer Instanz der Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung. Dazu aber bedarf es wiederum einer staatlichen Organisation, die Rechtssicherungsinstanzen koordiniert und damit den Freiheitsgebrauch regelt.43
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Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. V, S. 230. Immanuel Kant, ibid. Wolfgang Kersting, ibid., S. 41 Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 237. Vgl. Wolfgang Kersting, ibid. Vgl. Wolfgang Kersting, Kant über Recht, ibid., S. 50 ff.
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II. Personalitätskonzepte im Vergleich Betrachtet man die soeben vorgestellten Personalitätskonzeptionen im Vergleich, so wird Folgendes deutlich: Lockes Konzeption fokussiert das selbstbewusste, sich am Leitfaden natürlicher und darin legitimer Glücksinteressen selbst intelligent steuernde Individuum, das sich mit anderen Individuen zum Schutz und zur Durchsetzung seiner Interessen in einem komplexen Geflecht wechselseitiger Verträge politisch-rechtlich vergesellschaftet.44 Die moralische Wertigkeit, Rechtsfähigkeit und Rechtswürdigkeit des Individuums leitet Locke aus faktisch gegebenen personalen Eigenschaften her. Sieht man dabei allein auf die bewusstseinstheoretischen Implikate seines Personbegriffs, so wäre zu schließen, dass Menschen, die personale Eigenschaften faktisch nicht oder nur in eingeschränkter Weise zeigen, zwar als Menschen gelten können, aber nicht oder in nur eingeschränkter Weise als Person. Die Geltung des Personbegriffs wäre damit eingeschränkt: Nicht alle Menschen sind Personen. Menschen in komatösen Zuständen, im fortgeschrittenen Stadium einer Demenzerkrankung oder in der Akutphase einer Psychose fielen so aus der Personalitätssphäre insgesamt heraus. Eben diese auf die Bewusstseinstheorie abhebende Lesart des Personbegriffs vertritt z. B. Peter Singer.45 Singer leitet hieraus viel diskutierte praktische Konsequenzen ab. Bei seiner Bestimmung des moralischen Status von menschlichen Embryonen46, spina-bifida-Kindern und Komapatienten knüpft Singer ausdrücklich an den Personbegriff Lockes an. Singer spricht diesen Menschen keinen Personalitätsstatus zu. Er macht die Zuerkennung eines Lebensrechtes für diese Menschen zwar von Bewusstseinsphänomenen, von LustSchmerzempfindungen und von einer darauf bezogenen Bilanzierung abhängig, die allerdings indirekt vonseiten Dritter für sie zu erstellen wäre.47 Die naturrechtliche Dimension von Lockes Personbegriff lässt Singer dabei außer Acht. Allerdings würde die Einbeziehung auch dieser Dimension der Lockeschen Personalitätstheorie trotz ihrer Trennung von Mensch und Person über die geltend zu machenden Erhaltungsrechte und -verpflichtungen den Menschen- und Grundrechtsschutz auch bei faktischer Nicht-Erfüllung der Bewusstseinskriterien theoretisch gewährleisten können. Dies würde freilich eine gleichzeitige Übernahme der theologischen Fundierung von Lockes Rechtsbegründung voraussetzen, ein Element, das Peter Singer in seine Reflexion nicht mit einbezieht. Dafür übernimmt Singer eine weitere Schwierigkeit des Lockeschen Personbegriffs: Lockes Konzeption versteht Personalität als Schwellenbegriff.48 Personale Fähigkeiten lassen sich in unterschiedlichen Graden beobachten. Daraus wird z. B. von Singer und verwandten Theoretikern geVgl. Wolfgang Kersting, ibid., S. 101. Vgl. Peter Singer, praktische Ethik, Stuttgart: Reclam, 2006, S. 232 ff, S. 244 ff. 46 Vgl. Hierzu Dieter Schönecker / Gregor Damschen, Der moralische Status menschlicher Embryonen. Berlin: de Gruyter 2002. 47 Vgl. Peter Singer, ibid., 232 ff., S. 244 ff. 48 Vgl. dazu Allan Buchanan / Dan W. Brock, Deciding for Others: The Ethics of Surrogate Decision Making, Cambridge, Cambridge University Press 1990, S. 18 ff. 44 45
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schlossen: In dem Maße diese Fähigkeiten faktisch vorliegen und realisierbar sind, ist dem Individuum Selbstbestimmung zuzugestehen, in dem Maße sie faktisch fehlen, ist Fremdbestimmung legitim. Mit dieser Doppelbestimmung hält sich die empiristische Doktrin bezüglich einer Anwendung auf den Einzelfall überaus flexibel: Sie trägt vor, dass Glücksmöglichkeiten und persönliche Lebensentwürfe von Individuen gemäß der jeweils faktischen Ausprägung ihrer personalen Fähigkeiten zu würdigen und zu fördern sind. Bei gegebenen mentalen Dysfunktionen stellt für den empiristischen Ansatz die Übernahme personaler Funktionen in Stellvertretung für das Individuum kein grundlegendes Problem dar. Damit kann sich je nach der jeweils bilanzierenden Beurteilung der jeweiligen Situation allerdings auch eine sehr rigorose Einschränkung der Freiheitsspielräume des Vertretenen verbinden. Auch Kants Personalitätskonzeption stützt sich auf die Begriffe des Selbstbewusstseins, der Rationalität und Selbstbestimmung. Auch für Kant gelten diese Bestimmungen als Quelle der Handlungszurechnung und moralisch-juridischen Dignität. Imputabilität und Dignität sind hier jedoch nicht als faktische Eigenschaften verstanden, sondern als Bestimmungen, die ein nicht-empirisches Subjekt in seiner praktischen Vernunft, Autonomie und Selbstzweckhaftigkeit auszeichnen. Kant vertritt einen streng allgemeinen Personbegriff mit einem Anspruch auf absolute Geltung. Die Trennung von Mensch und Person ist hier obsolet: Alle Menschen sind Personen – so wie alle anderen selbstbewussten und autonomiefähigen Wesen auch. Der Mensch ist Kant zufolge aber nicht nur Person als intelligibles, sondern auch als angeschautes psychologisches Subjekt, das als leiblich in der Welt situiertes Wesen denkt, empfindet, fühlt und handelt. Für Kant konstitutiert sich Personalität insofern aus einer auch praktisch relevanten reflexiven Beziehung von nicht-empirischen und empirischen Aspekten des Ich. Im Rahmen dieser Doktrin stellt die faktische Einschränkung oder das Fehlen personaler Eigenschaften den Personalitätsstatus und damit auch die moralisch-rechtliche Dignität des Einzelnen in keiner Weise in Frage. Kants apriorische und geltungstheoretisch orientierte Konzeption impliziert, dass die faktischen Entstehens- oder Vergehensbedingungen von Personalität für die Zuerkennung des Personalitätsstatus unerheblich sind. Sofern der Mensch im Allgemeinen als rationales Wesen gelten soll, das als solches in der Lage ist, sich für sein Handeln selbst die Gesetze zu geben, ist jedem individuellen Menschen Freiheit und damit auch Personalität a priori zuzusprechen.49 Freiheit und Personalität sind notwendige Bestimmungsstücke der Autonomie.50 Das aber bedeutet: Auf der Grundlage eines universalistischen Personbegriffs ist der Ausschluss von Menschen mit veränderten Mentalfunktionen aus der Sphäre moralischrechtlicher Subjektivität und eine damit einhergehende Okkupation ihrer EntscheiVgl. Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 462. Auch wenn Freiheit in theoretischer Hinsicht nicht zu beweisen ist, so ist sie doch die für eine ethisch relevante Praxis notwendige Voraussetzung. Vgl. Immanuel Kant, AkademieAusgabe, Bd. IV, S. 440 ff., Bd. XV, S. 458, Bd. XVII, S. 315. Vgl. auch Dieter Schönecker, Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit: eine entwicklungsgeschichtliche Studie, Berlin: de Gruyter 2005, S. 58 ff. 49 50
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dungskompetenz durch Dritte ethisch nicht zu rechtfertigen. Allerdings bedeutet dies auch: Für einen Personbegriff, der eine ausnahmslose Anerkennung der Personalität fordert, wird die flexible Anwendung auf den Einzelfall zum Problem. Indem hier auch Menschen ohne faktisches Selbstbewusstsein oder mit faktischen mentalen Dysfunktionen und Einschränkungen der Steuerungsfähigkeit zumindest potentiell auf eine freie Willensbestimmung hin und insofern als gleichwertiges Gegenüber anzuerkennen sind, scheint prima facie die Übernahme einer personalitätssubstituierenden Funktion selbst in Krisensituationen nicht ohne Weiteres vertretbar.
III. Personalität und Stellvertretung Im Folgenden möchte ich näher auf die Bedeutung der genannten Personalitätskonzeptionen für die Begründung und moralische Beurteilung des Stellvertreterhandelns eingehen. Aus dem relativierten Personbegriff John Lockes lässt sich schließen, dass Menschen mit faktisch eingeschränktem oder aufgehobenem Personalitätsstatus eines Stellvertreters in einem starken Sinne bedürfen, der surrogativ für sie entscheidet und auch handelt, der also gewissermaßen als Person an ihre Stelle tritt. Dabei ist die Selbstbestimmung des Betroffenen je nach Grad seiner Beeinträchtigung zurückzustellen. Soweit personale Fähigkeiten faktisch vorhanden bzw. beobachtbar sind, genießt die Selbstbestimmung in der Locke mehr oder weniger nachfolgenden Theorie des ‚Surrogate-Decision-Making‘51 einen hohen Stellenwert. Erscheint die Ausübung dieser Fähigkeiten aber stark vermindert oder gar ganz ausgefallen, kann hier für einen strikten Paternalismus plädiert werden. So heißt es beispielsweise bei Peter Singer explizit: „Wo keine Autonomie vorhanden ist, kann die Respektierung der Autonomie nicht gelten.“52 Die Bezugnahme auf faktisch sich äußernde personale Fähigkeiten lässt es insofern legitim erscheinen, Betroffene den Entscheidungen anderer zu unterwerfen. Die empiristische Konzeption verweist dabei die Entscheider zur rationalen Orientierung auf eine Lust-Schmerz-Bilanzierung. Als ethisches Kriterium für das Vertreterhandeln wird die Glücksmaximierung bzw. Leidensminimierung im besten Interesse der Betroffenen geltend gemacht – durch Entscheidungen an ihrer Stelle. Aus dem Ansatz einer absoluten Geltung des Personenstatus scheint dagegen zu folgen, dass moralisch-rechtliche Stellvertretung im surrogativen Sinne ganz und gar unzulässig ist. Ebenso wenig wie das Bewusstsein seiner selbst durch das eines anderen ersetzbar ist, ist auch Freiheit prinzipiell nicht vertretbar. Die Freiheitsausübung einer Person ist nicht durch die einer anderen ersetzbar. Eine Stellvertretung wäre hier nur dann zu befürworten, wenn die Betroffenen die andere Person aus51 Allan Buchanan / Dan W. Brock., ibid., S. 87 ff.; Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of biomedical ethics. Oxford: Oxford University Press 2009. 52 Peter Singer, Praktische Ethik, ibid., S. 235.
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drücklich selbst dazu autorisiert haben (beispielsweise in der Form einer Bevollmächtigung oder einer Patientenverfügung). Der faktischen Beeinträchtigung durch eine – wie es bei Kant in der Anthropologie heißt53 – Schwächung des Verstandes „in Ansehung seiner Ausübung … in bürgerlichen Geschäften“ könnte demnach mit einer Übernahme der rationalen Funktionen durch eine andere Person nicht begegnet werden. Eine Stellvertretung in einem starken Sinne scheint hier ausgeschlossen. Zulässig erschiene allenfalls eine Stellvertretung in dem ‚schwachen Sinne‘ einer ‚advokatorische Assistenz‘54, d. i. eine Beratung von und Fürsprache für Betroffene, die sich an deren personalen Ressourcen orientiert und sich um die Aktivierung ihres Potentials, um ihre ‚Bemündigung‘ bemüht. Diese Bemühung müsste einer Restitution der Fähigkeit gelten, das Handeln unter Anerkennung eigener Wertigkeit und dem Respekt vor anderen an selbstgewählten Grundsätzen auszurichten, wobei die Fähigkeit dazu stets auch gegebenenfalls kontrafaktisch unterstellt werden muss. Die Träger dieser Assistenz wären dabei nicht befugt, anstelle der Betroffenen zu entscheiden, sondern lediglich dazu, eine Hilfestellung dafür zu leisten, dass letztere frei von Fremdbestimmung im eigenen Lebenskontext für sich selbst praktisch valide Entscheidungen treffen können. Freilich sollte eine solche grundsätzliche und ggf. kontrafaktische Anerkennung von Personenstatus und Autonomie sich nicht gegen die oftmals schwierigen faktischen Bedingungen der Freiheitsausübung abschließen: Menschen mit Beeinträchtigungen ihrer geistig-seelischen Fähigkeiten verfügen oft tatsächlich nicht mehr voll und ganz über ihre personalen Ressourcen. Umso wichtiger ist es dann, nach Maßgabe eines universalistischen Personbegriffs den personalen Status der Betroffenen und seine Voraussetzungen uneingeschränkt zu schützen. Dazu kann gehören, für die Betroffenen vertretungsweise Rechtshandlungen durchzuführen. Gegebenenfalls kann es hier auch von existenzieller Bedeutung für die Betroffenen sein, in einem ‚starken‘ Sinn für sie Entscheidungen zu treffen und dann auch ohne oder sogar gegen ihren aktuellen Willen durchzusetzen. In dem mit Kants Theorie in einem zentralen Sinn übereinstimmenden Modell der advokatorischen Assistenz scheint jeVgl. Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VII, S. 208. So heißt es beispielsweise in Georg Theunissen, Erwachsenenbildung und Behinderung : Impulse für die Arbeit mit Menschen, die als lern- oder geistig behindert gelten, Bad Heilbrunn (Obb.): Klinkhardt, 2003, S. 77: „nicht wenige Menschen mit Lernschwierigkeiten haben Schwierigkeiten, ihre Situation oder Lebensperspektive zu überschauen, zu antizipieren sowie Normen, die an sie herangetragen werden, kritisch zu reflektieren. Hier gilt es eine advokatorische (stellvertretende) Assistenz anzubieten. Ihre Aufgabe ist es, eine Fürsprecherfunktion, die Parteinahme und politisches Engagement verlangt, zu übernehmen und individuelle Übersetzungs- und Mitteilungshilfe zu leisten. Eine solche Interessensvertretung muss authentisch sein und hat die Vorstellungen, Wahl- und Entscheidungsrechte sowie LebensstilEntwürfe der Betroffenen zu respektieren.“ Vgl. ferner: Georg Theunissen, „Assistenz und Förderung aus der Empowerment-Perspektive: zur Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert gelten“ in: Georg Theunissen, Betreuung? Förderung? Assistenz? (2003), S. 84 – 108, ders., Empowerment und Professionalisierung – unter besonderer Berücksichtigung der Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert gelten//Theunissen, Georg. – In: Heilpädagogik online, ISSN 1610-613X, Bd. 2 (2003), 4, S. 45 – 81. 53 54
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doch ein Stellvertreterhandeln, von allem ein solches mit Zwangsbefugnissen, theoretisch gar nicht gedeckt bzw. letztlich unzulässig zu sein. Setzt also der Ansatz einer advokatorischen Assistenz mit seinen Bezügen zur Personalitätskonzeption Kants gewissermaßen ein ‚Zuviel‘ an Personalität voraus, so wie der Ansatz des surrogate-decision-making im Gefolge Lockes ‚zu wenig‘? Den bisherigen Überlegungen zufolge scheint es sich so darzustellen. In ihnen sind allerdings die rechtlichen Aspekte des Personbegriffs noch nicht hinreichend berücksichtigt worden. Auf diese Aspekte soll im Folgenden eingegangen werden. Zuvor soll allerdings gezeigt werden, inwiefern sich aus der eben genannten Fragestellung, die sich im Hinblick auf die konkrete Praxis des Vertreterhandelns stellt, ein systematischer Gewinn für die Bestimmung des Personbegriffs ziehen lässt. Will man am Begriff der Personalität als einem allgemeingültigen, nicht-exkludierenden Konzept festhalten, so ist unter Personalität mit Kant etwas ‚Ideales‘ zu verstehen, das nicht auf neurologische oder psychologische Fakten reduzierbar ist. Der Personbegriff bezieht sich dann nicht auf objektiv bestimmbare Eigenschaften, die Menschen zukommen können oder nicht. Er wäre vielmehr ein normatives Konzept von starker präskriptiver Relevanz. Will man zugleich den empirischen und spezieller den einschränkenden Bedingungen der Ausübung personaler Fähigkeiten gerecht werden, so kann Personalität nicht etwas ‚bloß‘ Ideales sein, sondern müsste auch in ihrer ‚empirischen Realität‘ Beachtung finden. Die Verabsolutierung beider Aspekte führt in die oben angesprochenen Probleme hinsichtlich der Bestimmung und der Reichweite einer Stellvertretung.55 Diese Probleme würden jedoch vermieden, wenn der Personbegriff bezogen wird auf beides: Sowohl auf das psychologisch, leiblich, intersubjektiv und kulturell bedingte empirische Subjekt als auch auf das nicht-empirische Subjekt im Kantischen Sinne, verstanden als logische Voraussetzung aller Selbsterfahrung und praktisch freier Urheber von Handlungen. Vor dem Hintergrund eines beide Aspekte einbeziehenden Personbegriffs wäre unter Selbstbestimmung zweierlei zu verstehen: a) die individuelle Selbstbestimmung in der selbstbewusst-rationalen Auswahl persönlicher Glücksmöglichkeiten im Sinne Lockes, b) die Autonomie eines im ursprünglichen Sinne freien Subjekts im Sinne Kants. Kant selbst ist ein solcher doppelt orientierter, ‚integrativer‘ Personalitätsbegriff nicht fremd. Er attestiert dem Verhältnis von empirischem und nicht-empirischem Subjekt in seiner Fähigkeit zu sich selber Ich zu sagen auch eine dezidiert praktische Dimension. Diese wird thematisiert im Begriff der „praktischen Freiheit“.56 Der Begriff besagt, dass die empirisch-psychologische Selbstbestimmung auf eine transzendentale Freiheit verweist, sofern es ein empirisches Bewusstsein davon ge55 Vgl. hier auch: Theda Rehbock, Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn: Mentis, 2005., S. 312 ff. 56 Vgl. Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. I, Kritik der reinen Vernunft, B562 / A534. Vgl. auch Manfred Baum, „Positive und negative Freiheit bei Kant“, in: B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Ethik und Recht Bd. 16, Berlin: Duncker & Humblot, 2008.
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ben kann, sich selber von physischen und psychischen Determinanten distanzieren und sich temporär oder gar vollständig davon frei machen zu können. Was sich in der empirischen Ausübung der Freiheit aber positiv zeigt, ist eben jene Fähigkeit zum Selbstanfang und zur Selbstgestaltung, zur Änderung des eigenen Verhaltens in Orientierung an einem allgemeinen Wert, welche die transzendentale Freiheit auszeichnet.57 Ein solchermaßen integrativer Personbegriff wäre für die Frage der ethischen Orientierung des Vertreterhandelns dementsprechend wie folgt fruchtbar zu machen: Unter Voraussetzung eines normativ-allgemeinen Personalitätsverständnisses sind Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Hirnfunktionsstörungen als Personen im vollen Sinne und damit als Selbstzweck und gleichwertiges Gegenüber zu betrachten. Insofern sind sie vor Funktionalisierungen durch andere zu schützen. In der Weise einer advokatorischen Assistenz gilt es, für die Wahrung ihrer Grundrechte einzutreten und die Betroffenen mit dem Ziel der Förderung ihrer Autonomie und Mündigkeit beratend zu unterstützen. Zum anderen sind diese Menschen auch in der Ausübung ihrer praktischen Freiheit, d. h. als empirische Subjekte mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und persönlichen Glücksvorstellungen zu respektieren und zu fördern. Bei ihrer Beratung könnten ganz konkrete Hinweise auf Hilfsmöglichkeiten, aber auch Beratungen beispielsweise unter der Hinsicht von Lebenskunst- und Glückskonzepten eine Rolle spielen. Dabei ist grundsätzlich vorauszusetzen, dass den Betroffenen praktische Freiheit eignet, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Die Akzeptanz dieser Grade gesteht dann den Betroffenen die Auswahl selbst gewählter Handlungsoptionen zu, die durchaus auch irrational sein können. Der Fokus liegt hier nicht bei der Stellvertretung für Betroffene, sondern bei einer auf sie als konkrete Personen bezogenen Beratungs- und Entscheidungshilfe. Ein advokatorisches Handeln unter Voraussetzung eines integrativen Personbegriffs wäre primär Assistenz und insofern strikt antipaternalistisch. Die advokatorische Assistenz stößt jedoch an eine Grenze, die zugleich Grenze der psychologischen wie auch der äußeren Freiheit ist. Denn eine psychische Erkrankung oder Demenzerkrankung kann die praktische Freiheit einer Person bis zum Verlust aller Selbstbestimmungsmöglichkeiten einschränken. Die Beeinträchtigung aber der Urteilsfähigkeit, der Fähigkeit zur unabhängigen Bestimmung des eigenen Wollens und der rationalen Handlungssteuerung kann dazu führen, das eine Person durch ihr Handeln und Verhalten die Integrität von Leib, Leben und Gesundheit ihrer selbst und anderer und damit die existenziellen Voraussetzungen für die tatsächliche Ausübung sowohl der individuellen Selbstbestimmung als auch der Autonomie ihrer selbst oder anderer unterminiert. Die traditionellen Personalitätskonzeptionen eröffnen auch Felder, die den Schutz von Personalität jenseits der Grenzen für die psychologische und äußere Freiheit 57
Vgl. ibid.
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gewährleisten: Die Lösungen, die sich aus diesen Konzeptionen für das Problem der faktischen Beeinträchtigung oder gar Einbuße praktischer Freiheit ableiten lassen, weisen über den Bereich der Ethik hinaus in die Sphäre des Rechts. Locke behandelt Fragen der Gefährdung konkreter Personalität im Kontext einer Naturrechtslehre. Darin macht er nach Maßgabe eines ‚Gesetzes der Natur‘ geltend, dass die individuelle Disponierbarkeit über die eigenen Person und über Leib und Leben als Voraussetzungen des konkreten Personseins an einer metaphysisch begründeten Erhaltungsverpflichtung eine unverrückbare Grenze findet. Er fordert aus dem gleichen Grund, Eingriffe in die Personalitätssphäre anderer zu unterlassen bzw. abzuwehren. Lockes Grundrechtskonzeption fokussiert auf diese Weise die Sicherung der personalen Identität, für die eine Integrität von Leib, Leben und Gesundheit eine notwendige Voraussetzung ist. Dieser aus dem Naturrecht Lockescher Prägung in moderne Menschenrechtskonzeptionen eingehende Grundgedanke, jedem Menschen eben als Person subjektive Freiheits- und Schutzrechte zuzuerkennen, wird in der konkreten Gesetzgebung und Rechtsprechung zahlreicher Staaten verbindlich festgehalten. Hierzu gehören spezielle Rechtsnormen, die den Schutz von Personen betreffen, die aufgrund von Beeinträchtigungen ihrer Steuerungs-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit erheblichen Gefährdungen ausgesetzt sind. Diese Normen regeln Verfahren einer strikten Surrogation. Eine Stellvertretung im starken Sinne befugt Personen im Rahmen einer rechtlichen Legitimation für andere Personen ohne oder gegen deren aktuell erklärten Willen zu entscheiden und für sie zu handeln. Die strikte Surrogation ohne Einbeziehung des Willens der Betroffenen ist jedoch nur in den extremen Fällen konkreter und erheblicher Gefährdungen personaler Freiheit und nur nach Maßgabe bestimmter rechtsstaatlich getragener und kontrollierbarer Verfahren zu legitimieren. Auch auf der Grundlage der Rechtskonzeption Kants ist eine strikte Surrogation als legitimierbar anzusehen. Wie Locke macht Kant für jeden Menschen eine moralische Verpflichtung zum Erhalt der eigenen Person geltend. Als verpflichtend wird hier jedoch nicht der Erhalt einer empirischen Bewusstseinseinheit angesehen, sondern die Erhaltung der Menschheit jeder Person im Sinne des „Subjekts der Sittlichkeit in der eigenen Person“, wie es bei Kant heißt, wobei der Person, wie es dann weiter heißt, „der Mensch zur Erhaltung anvertrauet war.“58 Aufgrund dieser Verpflichtung ist Kant zufolge die Selbstschädigung und auch der Suizid nicht zu rechtfertigen, da die zugehörigen Handlungen der Selbstachtung des Menschen, deren Wahrung ihm aufgrund seiner Selbstzweckhaftigkeit unbedingt geboten ist, widersprechen. Kant beschränkt seine Begründung des Selbstschädigungs- und Selbsttötungsverbotes auf den Bereich der inneren Freiheit, d. h. auf den Bereich der Ethik. In diesem Bereich aber kann nur eine Selbstbindung des Subjekts, d. h. das Subjekt selbst, nicht aber ein auf das Subjekt auszuübender äußerer Zwang der Norm Geltung verschaffen. Anders im äußeren Verhältnis der Subjekte zueinander: 58
Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 423.
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Hier macht Kant ein jedem Menschen kraft seiner Menschheit, d. h. kraft seiner Personalität, zustehendes grundlegendes Recht geltend: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“59 Wohlgemerkt gilt das jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht allein der Wahrung der äußeren Freiheit. Nur diesbezüglich sind Kant zufolge auch Zwangsmaßnahmen zur Sicherung und Regulierung des Freiheitsgebrauches geboten. Kants Menschenrechtsbegründung leistet im Unterschied zu John Lockes Konzeption Verzicht auf eine theologische Begründung. Sie rekurriert stattdessen auf die Selbstgesetzgebung praktischer Vernunft. Im Kontext ihres umfassenden Begründungsanspruches behandelt sie Fragen des Personalitäts- und Freiheitsschutzes jenseits der Grenzen, die intrinsische Faktoren wie etwa psychische Erkrankungen setzen, nicht. Kants Menschenrechtskonzeption lässt sich jedoch durchaus auf ihre diesbezügliche Fruchtbarkeit hin befragen: Enthält auch sie Legitimationsgründe für eine Surrogation im strengen Sinne? Kants Rechtskonzeption sieht generell vor, Handlungen, welche die Grenzen der äußeren Freiheit anderer verletzen, mit reglementiertem Zwang zu begegnen. Dieser Anforderung werden die konkreten Ausgestaltungen legaler Gewaltausübung im Rahmen der entsprechenden Rechtsbereiche gerecht. Stellvertreterverhältnisse spielen hinsichtlich der Rechte und Pflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern keine Rolle. Die Surrogation im strengen Sinne jedoch als die Befugnis für und auch über eine Person zu entscheiden, ist im Kontext der Kantischen Überlegungen dann legitimierbar, wenn eine Person aufgrund einer faktischen Einschränkung ihrer Autonomie sich selbst erheblich schädigt oder zu schädigen droht. Die Autonomiebeschränkung beispielsweise durch eine psychische Erkrankung verweist die Behandlung von Fragen der Selbstschädigung nicht allein in den ethischen Bereich, sondern stellt sie auch als eine rechtliche Problematik. Denn der Person ist konsequenterweise nicht nur ein Rechtsanspruch auf den Schutz vor schädigenden Handlungen anderer Personen einzuräumen, sondern auch auf einen Schutz vor schädigenden Handlungen an sich selbst, zumindest dann, wenn eben diese Handlungen nicht selbstbestimmt vollzogen werden. Um diesen Schutz zu gewährleisten, sind entsprechende Instrumente im Rahmen des Rechts zur Verfügung zu stellen. Eine nicht-selbstbestimmte Schädigung kommt einer Schädigung durch externe Faktoren gleich. Um dieses zu verhindern, ist gegebenenfalls auch der Einsatz von Zwang als notwendig und legitim anzusehen, sofern er auf die „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ zielt.60 In dieser Hinsicht ist eine Stellvertretung im starken Sinn geboten: Ist die faktische Autonomieausübung einer Person bis an die Grenze der Selbstschädigung beeinträchtigt, so kann ihre Autonomie nur durch den Einsatz der Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung einer anderen Person an ihrer Stelle ge59 60
Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 237. Vgl. noch einmal Immanuel Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 231.
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wahrt werden. Insofern ist von einer Stellvertreterfunktion zu sprechen, aus der heraus entsprechende Entscheidungen und Vorkehrungen zum Schutz des Vertretenen getroffen werden können. Entsprechend ist der Stellvertretung auch ein Weg zur Zwangsbefugnis zu eröffnen, der im vitalen Interesse der Vertretenen beschritten werden kann, auch wenn dies ihrem aktuellen Willen widerspricht. Die Stellvertretung in diesem starken Sinn kann somit auch im Hinblick auf Kants Rechtskonzeption nur auf eine Sicherstellung und Restitution der personalen Integrität und Freiheitsmöglichkeiten der Vertretenen zielen. Dabei wirkt die Stellvertretung zugleich einer rechtlichen Benachteiligung gegenüber denjenigen Personen entgegen, deren Selbstbestimmungsmöglichkeiten nicht eingeschränkt sind. Die Surrogation ist dabei auf einen relativ eng umrissenen Bereich zu beschränken. Außerhalb der Gefährdungsgrenze sind bei graduell differenten Selbstbestimmungsmöglichkeiten für die Autonomiewahrung nicht-surrogative Assistenzen unter Einbeziehung der Betroffenen hinreichend und geboten. Nicht die Einschränkung der freien Willensbestimmung als solche, sondern nur die Gefährdung wie auch die mögliche Rechtsungleichheit, die aus dieser Einschränkung erwächst, legitimiert stellvertretende Entscheidungen.
Summary The paper examines the close connection between personhood, human dignity and self-determination by consulting John Locke and Immanuel Kant as two major philosophers of the Europen tradition of thougt. It aimes to an application of the outcome of this examination to the problem of surrogate decision-making. The result gained by this application is that surrogate decision-making is ethically and leagally adequate only in order to regard or to restitute personal autonomy. By this it confirmes the main purpose of the Convention on the Rights of Persons with Disabilities adopted on 13 December 2006.
Auf wen oder was antwortet ‚Verantwortung‘? Zur Genealogie (und Pathologie) des Verantwortungsdenkens Tatjana Schönwälder-Kuntze* Sich die Frage zu stellen, auf wen oder was ‚Verantwortung‘ antworte, erscheint angesichts der diskursiven Konjunktur, die der Begriff in den letzten Jahren erfahren hat, vielleicht eher merkwürdig. Ist doch ‚Verantwortung‘ spätestens seit Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung von 1979 in aller Munde bzw. Feder. In unseren Zeiten bedeutet das, dass dieser Begriff medial überall vertreten ist: In politischen Absichtserklärungen, in wissenschaftlichen Projekten, in werbenden Selbstbeschreibungen der Wirtschaftsvertreter, vor allem aber in Schuldzuweisungen aller Art. ‚Verantwortlich zu handeln‘ adelt; ‚verantwortlich zu sein‘ kann für den Betreffenden auch negativ sein; dennoch keine Verantwortung übernehmen zu wollen, diskreditiert; und nicht mal ein Gefühl für sie zu haben, schließt den so Bezeichneten eigentlich aus der Menge derjenigen aus, die als Menschen ethisch Ernst genommen werden können. Die schwer wiegenden Wertungen und häufigen Verwendungen scheinen darauf hin zu deuten, dass wir genau wissen – und immer genauer wissen – was gemeint ist, wenn wir von ‚Verantwortung‘ sprechen bzw. hören und lesen: Ein handelndes Subjekt ist ursächlich verknüpft mit einer Tat und insofern für diese Tat und meistens auch für die Folgen verantwortlich – sei es sich dessen bewusst, oder nicht. Die beobachtbare diskursive Konjunktur – womit sowohl die unerschöpfliche Ausdehnung seines Geltungsbereiches als auch seiner Anwendungsgebiete gemeint ist, wie auch seine prominente diskursive Präsenz1 – hat den Anstoß gegeben, mich mit der Genealogie des Begriffs eingehender zu beschäftigen.2 Die gängige Auffas* Für zahlreiche Hinweise und Diskussionen, deren Erträge in diesen Artikel eingeflossen sind, danke ich Galia Assadi und Ingo Pies – letzterem besonders auch für den Untertitel. Für kritische Kommentare danke ich Stefan Gosepath. 1 In den letzten Jahren sind zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die gerade dieses Konjunktur-Phänomen in den Blick nehmen; vgl. beispielhaft Ludger Heidbrink / Alfred Hirsch (Hrsg.), Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt a. M.: Campus, 2006. Der Band versammelt Aufsätze einer interdisziplinären Forschungsgruppe zu verschiedenen Aspekten des Begriffs und Kontexten, in denen ‚(Eigen-) Verantwortung‘ zunehmend gebraucht wird. Dabei gehe es vor allem um die „Frage durch welche Widersprüche das soziale Verantwortungsprinzip gekennzeichnet ist“ (ebd., 10.), „das zu einer neuen Leitkategorie sozialer und politischer Reformprozesse geworden ist.“ (ebd., 13). 2 Die ersten Überlegungen dazu habe ich 2007 auf dem DGPhil-Kongress in Essen vorgetragen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die herausragende kurze Studie von Kurt Bayertz,
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sung zu seiner Geschichte lautet, dass dem ‚Verantwortungsbegriff‘ bereits bei Aristoteles eine tragende Rolle zukommt – wenn auch nicht unter diesem Namen – wie auch, dass er im Kantischen Œvre einen systematischen Stellenwert inne habe.3 Im Gegensatz dazu wird im Folgenden jedoch eine andere Auffassung vertreten. Eine analytische Untersuchung, die der Frage nach den begrifflichen und konzeptionellen Möglichkeitsbedingungen von ‚Verantwortung‘ in älteren Theorien der Moderne gewidmet ist, hatte sich nämlich überraschender Weise als eher unergiebig erwiesen. Anders gesagt: Eine historisch orientierte Offenlegung einer systematischen Konstruktion bzw. wechselseitig aufeinander verweisender Bestimmungen von Begriffen wie ‚Subjekt‘, ‚Freiheit‘, ‚Vernunft‘, ‚Handeln‘ und ‚Verantwortung‘ in den verschiedenen neuzeitlichen Theorien kann gar nicht geleistet werden. Der Grund dafür ist, dass ‚Verantwortung‘ erstens ein relativ junger Begriff ist und dass er zweitens in den grundlegenden, moralphilosophischen Theorien der Moderne – in Kants Kritischer Theorie, aber auch bei Fichte oder Hegel –, eigentlich überhaupt bis zur Mitte des 19. Jhdts. so gut wie nicht vorkommt. Jedenfalls nicht in einer systematischen Funktion. Das macht eine Analyse, aus welchen begrifflich-philosophischen Kontexten und Verweisungszusammenhängen er seine Bedeutung holt, eigentlich unmöglich.4 Der Verantwortungsbegriff scheint also eigentlich erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts sowohl im Alltagsgebrauch als auch im sozialwissenschaftlich-philosophischen Gebrauch so prominent geworden zu sein und er hat eben entgegen der gängigen Vermutung keinen Platz in den großen moralphilosophischen Entwürfen am Höhepunkt der Aufklärung – und das, obwohl sowohl Max Weber mit seiner Unter‚Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung‘ in: Ders., Verantwortung. Prinzip oder Problem. Darmstadt: WBG, 1995, 3 – 71, noch nicht, die ebenfalls mit einer Genealogie beginnt und z. T. mit den gleichen Quellen arbeitet mit entsprechend ähnlichen bis gleichlautenden Resultaten. Da beide Analysen aber unterschiedliche Intentionen verfolgen und andere Schwerpunkte setzen, habe ich mich entschlossen, meine Ausführungen dennoch nicht zu streichen. 3 Vgl. zu Aristoteles den sehr differenzierten Artikel von Christof Rapp (1995), „Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1 – 7)“. In: Otfried Höffe (Hrsg.), Nikomachische Ethik. Berlin: Akademie Verlag, 20062, 109 – 133. Vgl. zu Kant punktuell Bayertz, der zwar darauf verweist, dass Kant den Begriff nicht gebrauche, aber dessen systematische Funktion in Kants ‚Zurechnung‘ sieht. Oder auch Ludger Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns. Weilerswist: Velbrück, 2003, 63 – 68. 4 Dieser Befund leugnet nicht die zahlreichen systematischen Ausarbeitungen im 20. Jahrhundert – diese sind ja gerade wesentlicher Bestandteil der begrifflichen Konjunktur. Bayertz sieht im „Aufstieg des Verantwortungsbegriffs zu einer ethischen Zentralkategorie […] eine philosophische Reaktion auf den grundlegenden Wandel […], den das menschliche Handeln seit dem 18. Jhdt. durchlaufen hat.“ (Fn. 2, 24, sinngemäß auch 27, 36, 43). Anders als in der hier vorgetragenen Interpretation sieht Bayertz die „sozialen Konstruktion“ (ebd., 23) des Verantwortungsbegriffes durch die zunehmende Arbeitsteilung und den technischen Fortschritt bedingt, also eine Antwort auf die Wahrnehmung „daß die normative Steuerung des menschlichen Handelns unter den neuen sozialen Bedingungen komplexere Anforderungen stellt.“ (ebd., 43). Er fordert eine Rückkehr und Einschränkung zur Zurechnungsbedeutung von Verantwortung auf ein je konkret handelndes Subjekt (ebd., 65).
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scheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethos5 wie auch Hans Jonas6 und viele mehr den Eindruck vermitteln, als arbeiteten sie mit einem elaborierten Verantwortungsbegriff kantischer Herkunft, den es längst als theoretisch ausgereiftes Konzept gab. Seit geraumer Zeit gibt es Bemühungen, diese konzeptionelle Lücke durch Ausarbeitung systematisch fundierter Verantwortungskonzepte zu schließen. Das reicht vom Nachweis, dass es die gängige Bedeutung von Verantwortung ‚immer schon gab‘, nur den Namen noch nicht, bis zur analytischen Aufzählung, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um sinnvoll über Verantwortung sprechen zu können.7 Oder aber im Angesicht seiner deflationären Verwendung wenigstens einen Verantwortungsbegriff zu denken, der auf das Wesentliche eingeschränkt wird.8 Weit davon entfernt, diese Konzepte kritisieren oder gar überbieten zu wollen, soll im Folgenden vielmehr von der These ausgegangen werden, dass das historisch betrachtet relativ junge Alter des Begriffes ein Hinweis darauf sein könnte, dass dies genuin an seiner ebenfalls jungen Bedeutung liegt. Dadurch kann deutlich werden, dass es gerade die unzutreffende Verschmelzung von ‚souveränem, verursachendem Subjekt‘ und ‚Handlungsverantwortung‘ ist, die dazu (ge)führt (hat), dass über den Verantwortungsbegriff dem konkreten Individuum oder dem einzelnen Akteur immer mehr zugemutet wird. Die Aufmerksamkeit soll also in eine andere Richtung gelenkt werden: Nicht die (Neu-)Konzeption des Verantwortungs5 Max Weber nimmt die Kantische Unterscheidung der Bestimmungsgründe Absicht und Zweck einer Handlung und stellt ihr zwei verschiedene Arten von Ethos beiseite – gesinnungsund verantwortungsethische Haltung. Damit trennt er eigentlich ganz im Sinne Kants den ethischen Begründungsdiskurs, der über die praktische Vernunft als Freiheit frei von jeder Situation konzipiert worden ist, vom immer auch empirisch zu verankernden Rechtsdiskurs. Denn ‚Verantwortung‘ bedeutet in Webers konsequenzialistischem Ansatz, die Folgen der Handlung in den Blick zu nehmen. Max Weber (1919), „Politik als Beruf“ in: Ders., MWS I / 17. Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, insbes. 77 ff. 6 Hans Jonas plädiert – in scheinbarer Anlehnung an ein Kantisches Konzept – für eine zeitlich und räumlich unbegrenzte Erweiterung des Verantwortungsbegriffes. Im Kern argumentiert Jonas damit, dass Ethikkonzepte sich nicht mehr auf das Kantische ‚Du kannst, weil Du sollst‘ stützen dürften, d. h. auf die Möglichkeit, sich gegen die Willensbestimmung aus Neigung zugunsten der Pflicht zu entscheiden. Stattdessen müsse es heißen „Du sollst, weil Du kannst“, aber nicht in einer einfachen Umkehrung, sondern weil Verantwortung bei Jonas aus dem erwachse, was möglich geworden ist, d. h. das Können wird hier in seiner (Zerstörungs)potentialität betrachtet, und deshalb ist das Sollen ein Vermeiden-Sollen. In diesem Sinne zieht dann Können bei ihm Sollen nach sich: etwas nicht tun, können wir immer, insbesondere, wenn wir keine Rücksicht auf die daraus erwachsenden Folgen nehmen. Wir tragen also Verantwortung, weil wir auch anders könnten. Vgl. Hans Jonas (1979), „Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, 230 ff. Vgl. zu einer fundierten Kritik an Jonas’ Vorschlag Bayertz (Fn. 2). 7 Vgl. beispielhaft Gosepaths Aufzählung von drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um sinnvoll davon sprechen zu können, dass eine Person ‚verantwortlich‘ sei für ihr Handeln: Stefan Gosepath, „Die Beseitigung von Übeln“ in: Heidbrink / Hirsch (Fn. 1), 389. 8 Vgl. etwa Ludger Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns. Weilerswist: Velbrück, 2003.
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begriffes steht im Mittelpunkt der anschließenden Überlegungen, sondern die Frage, inwiefern die Idee individueller ‚Verantwortung‘ ein Defizite kompensierendes Produkt moderner Moraltheorieinterpretationen darstellen könnte. Damit ist insbesondere die nicht Ernst genommene Kantische Unterscheidung zwischen dem wirkungsvollen Denken einer Orientierung bietenden Idee und empirisch-moralischen Fragen gemeint. Als Leitfaden dienen die folgenden zwei zusammenhängenden Fragen: Wie und warum taucht der Verantwortungsbegriff historisch in der (späten) Moderne auf? Und: Kompensiert er möglicherweise ein (scheinbares) konzeptionelles Defizit in modernen Moraltheorien, wodurch auch seine derzeitige Konjunktur erklärbar wird? Dazu schlage ich zur oben erwähnten systematischen Analyse einen komplementären Weg vor, der die genealogische Frage nach der Herkunft und Entwicklung des Begriffes stellt, indem die faktischen Verwendungskontexte betrachtet werden.9 Obwohl methodologisch an Foucault anschließend, dient die Analyse nicht dazu, anhand des Verantwortungsbegriffes erneut den Zusammenhang von Macht-Subjekt-Wissen innerhalb der modernen gesellschaftlichen Formationen zu belegen. Stattdessen kann die Skizze der Genealogie des Begriffes ‚Verantwortung‘ eine Foucaultsche Resultate ergänzende und kompatible Interpretation des so gezeichneten Befundes vorstellen. Diese lautet in einem Satz: Die Idee der ‚Verantwortung‘ taucht auf, um die (scheinbar) von aller faktischen Bedingtheit und Relationalität vollkommen losgelöste Souveränität des einzelnen Subjekts zu kompensieren.10 Die Kompensation ist aber nicht etwa der Kantischen Konzeption geschuldet, sondern einer falsch verstandenen, extrapolierten Idee von unbedingter und losgelöster, ursprünglicher und verursachender Souveränität, die von Kant an keiner Stelle dem konkreten, empirischen Menschen zugemutet worden ist. Der Verantwortungsbegriff erscheint so als falsche Therapie, die einer falschen Diagnose geschuldet ist. Anders formuliert: Der Ruf nach Verantwortung wird laut, weil der Einzelne in der 9 Eine ausführlichere Studie würde das Auftauchen des Verantwortungsbegriffes nicht nur als ein Ereignis im theoretisch-philosophischen Diskurs betrachten, sondern auch die Strategien, die hinter seinem Einsatz stehen könnten, analysieren; kurz: Die Geschichte der strategisch motivierten Entkernungen und Neubestimmungen eines Begriffes verfolgen. In diesem Rahmen geht es mir aber lediglich um das Aufzeigen einer Tendenz. 10 Badie vertritt eine sehr ähnliche These. Dabei hat er aber erstens ein anderes Anwendungsgebiet im Auge, weil er über ‚Souveränität‘ und ‚Verantwortung‘ in Bezug auf ihren politischen Erklärungs- und Begründungsstatus in völkerrechtlichen Fragen und internationalen Beziehungen nachdenkt. Zweitens analysiert er den Zusammenhang nicht vom Verantwortungsbegriff her, sondern geht von der – viel älteren – Souveränitätsidee aus. Diese bezeichnet er als „nützlich[e] […] früher heilbringende Fiktion“, (Bertrand Badie [1999], Souveränität und Verantwortung. Politische Prinzipien zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Hamburg, Hamburger Edition, 2002, 11 f., sowie 9, 17 – 107), der er „eine optimistische und leicht normative Sichtweise [… d. h.] die Idee der staatlichen Verantwortung entgegen[setzt]“ (ebd., 13), die er auch das „Double“ (ebd., 46) der Souveränität nennt, insofern sie gerade nicht aus der Souveränität abgeleitet wird, sondern einen Komplementärbegriff darstellt, denn „Souveränität [führte] zwangsläufig zur Verantwortungslosigkeit gegenüber dem anderen, dem Außenstehenden, der wiederum nur von seiner eigenen Souveränität abhängig war.“ (ebd., 9).
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Moderne scheinbar als nur sich selbst verpflichtet konzipiert worden ist! Und hier findet sich vielleicht auch der Grund, warum ‚Verantwortung‘ und ‚souveränes Subjekt‘ im Nachhinein so eng miteinander verbunden werden. Der Vorschlag lautet also, den ‚Hype‘ des Verantwortungsbegriffes auf eine vollkommen überzogene Interpretation des Souveränitätsbegriffes zurückzuführen. Dies vorausgesetzt, lässt sich dann fragen, inwiefern ein Verantwortungsbegriff denkbar ist, der gerade nicht aus einer Hyper-Souveränität abgeleitet wird und der dann auch nicht ihre Mängel kompensieren muss. Sondern der stattdessen die wechselseitige, vielschichtige Bedingtheit der Menschen zum Ausgangspunkt der ethischen Theoriebildung machte – diese andere Konzeption kann hier aber noch nicht ausgeführt werden, weil sie über das Thema des vorliegenden Aufsatzes hinausführt. Die Untersuchung erfolgt in fünf Schritten: Im ersten (I.) skizziere ich semasiologisch die Etymologie von ‚Verantwortung‘ im Anschluss an Grimms Wörterbuch. Im zweiten Schritt (II.) wird die systematisch-konzeptionelle Abwesenheit des Begriffes in den Theorien Kants, Fichtes und Hegels deutlich gemacht,11 indem kurz die Semantiken der spärlichen Verwendung von ‚Verantwortung‘ vorgestellt werden. Der Begriff hat dort einen konservativ-juridischen Sinn und im weitesten Sinne den einer ‚zu erledigenden Aufgabe‘. Im dritten Schritt (III.) wird dann von seiner Bedeutung ausgehend ein Eintrag des Eisler, dem Philosophischen Lexikon Ende des 19. und Anfang des 20. Jhdts., analysiert, in dem unter dem Stichwort ‚Verantwortlichkeit‘ auf das Lemma ‚imputatio‘ bzw. ‚Zurechenbarkeit‘ verwiesen wird. Beide etymologischen Entwicklungsstränge zusammen betrachtet zeigen, dass sich exponiert im deutschen Sprachraum erst in Schopenhauers Werk, also etwa in der Mitte des 19. Jhdts., eine Zusammenführung von Nomen und Semantik findet, die dem Grundmuster des heutigen Gebrauchs von individueller ‚Verantwortung‘ nahe kommt. Im vierten Schritt (IV.) wird der genannte Interpretationsvorschlag näher erläutert. Vor diesem Hintergrund lassen sich schließlich (V.) zwei Imperative für die praktische Theoriebildung formulieren.
I. ‚Verantwortung‘ als verteidigender Akt Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird ‚Verantwortung‘ erst ab der zweiten Hälfte des 15. Jhdts. nachgewiesen und zwar im Sinne von ‚jemandem Ant11 Die Auswahl gerade dieser drei Philosophen ist motiviert durch die Tatsache, dass die Kantische Ethik den häufigsten Referenzpunkt ausmacht, wenn es heutzutage um philosophische Ethik, d. h. um Moralbegründung geht; Fichte steht für eine Radikalisierung der Kantischen Praktischen Philosophie und Hegel stellt seinen ersten großen Gegenspieler dar, der bereits den Zusammenhang von sozialer und individueller Disposition des Geistes theoretisiert. Insofern bilden die drei Theoriegebäude nicht nur ein großes Verwendungsspektrum von ‚Verantwortung‘ im fraglichen Zeitraum ab, sondern sie können auch sehr wirkmächtig genannt werden.
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wort geben‘.12 Ab der zweiten Hälfte des 17. Jhdts. findet sich ‚Verantwortung‘ in der Bedeutung von ‚Sich Rechtfertigen oder Sich Verteidigen‘, d. h. als apologia oder defensio vor einem weltlichen Gericht. Hier geht es aber in einem performativen Sinne um die rechtfertigende Handlung selbst und nicht etwa um die Verantwortung für eine andere Tat: ‚Verantwortung‘ ist und heißt die Rechtfertigung selbst. Dass Verantwortung einmal die Handlung selbst bezeichnet hat, bestätigt auch das Suffix ‚-ung‘, das im Deutschen generell auf einen Verlauf, einen Prozess hinweist. Zudem richtete sich das Gelingen oder die Güte der Handlung ‚Verantwortung‘ auch nicht danach, ob eine in der Vergangenheit liegende Handlung tatsächlich einer Person zugerechnet werden konnte, und wenn ja, aus welchen Gründen sie vollzogen worden war, sondern allein danach, ob der verantwortende oder rechtfertigende Akt selbst überzeugte oder nicht. Damit ist ‚Verantwortung‘ sowohl ein performativer Akt als auch ein (illo)kutionärer Sprechakt im Sinne Austins, wie etwa die ‚Bitte‘ oder die ‚Entschuldigung‘, weil der Name hier den Akt selbst bezeichnet, mithin autodeskriptiv ist.13 ‚Verantwortung‘ hat hier demnach noch nicht die Bedeutung von (prinzipiell) Verantwortung Haben oder Tragen angenommen. Die unmittelbare Verbindung von faktischer Handlung und Verantwortung erfährt laut Grimms Wörterbuch aber bereits im gleichen Zeitraum sowohl in weltlichem als auch in religiösem Zusammenhang eine Bedeutungslockerung bzw. -erweiterung: Einmal, wenn ‚Verantwortung‘ im Sinne einer Rechtfertigung vor Gottes Richterstuhl gebraucht wird, wie etwa bei J. B. Schuppius (1620 – 1661). Und einmal, wenn in Hans J. C. von Grimmelshausens (1622 – 1676) Simplicissimus von 1668 die Bedeutung von ‚Verantwortung‘ auf eine bloß mögliche Verantwortungshandlung ausgedehnt wird. Hier kommt eine zweifache zeitliche Verschiebung ins Spiel: Im religiösen Zusammenhang verantwortet jemand zu einem späteren Zeitpunkt vor dem jüngsten Gericht ein Handeln, das er/sie früher vollzogen hat, so dass der Akt des Verantwortens nun zusätzlich auf eine andere, bereits vergangene Handlung referiert. ‚Verantwortung‘ erhält damit eine nicht mehr bloß aktuale Bedeutung. Dennoch geht es hier immer noch um tatsächlich stattgefundene Handlungen, deren Faktizität nicht in Frage steht, weil sie von Gott bezeugt werden. Zur Aufweichung des unmittelbaren oder aktualen Charakters durch die zeitliche Ausdehnung tritt hier auch noch die Wahrheitsfrage hinzu. So dass man auch noch eine epistemische Erweiterung ausmachen kann, die uns hier aber nicht weiter beschäftigt. 12 Jacob Grimm / Wilhelm Grimm (1854 – 1971), Deutsches Wörterbuch in 33 Bänden. Hrsg. vom Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier 1998 – 2010. http://www.woerterbuchnetz. de/DWB/wbgui_py?lemid=GA00001. 13 Austin unterscheidet zunächst ‚deskriptive‘ bzw. ‚konstative‘ Sätze von solchen, die das tun, was sie bezeichnen; diese nennt er ‚performativ‘; vgl. die erste Vorlesung in: J. L. Austin (1962), Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Stuttgart: Reclam, 1972, 29. In der achten Vorlesung unterscheidet Austin (illo)kutionäre von perlokutionären Sprechakten, wobei erste Akte sind, die „man vollzieht, indem man etwas sagt, im Unterschied zu dem Akt, daß man etwas sagt“, ebd., 117.
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Auch wenn die Simultaneität zwischen dem verantwortenden Akt selbst und der zu verantwortenden Handlung im religiösen Verwendungskontext aufgehoben wird, steht ‚Verantwortung‘ in den drei zuerst genannten Fällen, d. h. als reines Antwortgeben, als Rechtfertigung oder Verteidigung und als Rechtfertigung vor dem jüngsten Gericht, in einem unabweislichen Verhältnis zum tatsächlichen Vollzug einer Handlung, sei es, dass sie gerade ausgeführt wird, sei es, dass sie in der Vergangenheit ausgeführt worden ist.14 Der Akt des Verantwortens bleibt mithin einem faktischen Handeln verbunden. Im weltlichen Zusammenhang kommt es zu einer Ausdehnung in die andere Richtung: ‚Verantwortung‘ kann dort nun auch eine zukünftige, potentielle Handlung sein oder betreffen, die noch gar nicht stattgefunden hat und die vielleicht auch niemals stattfinden wird. Denn im Simplicissimus wird die Verantwortung so von der faktischen Handlung losgelöst, dass es zu einer weiteren Verschiebung kommt, durch die ‚Verantwortung‘ nicht mehr bloß in der Bedeutung einer faktischen Handlung des Rechtfertigens verwendet wird – sei sie vergangen, gegenwärtig oder zukünftig –, sondern als Zustand oder Eigenschaft einer Person verstanden werden kann, wodurch dann auch potentielle, zukünftige Handlungen und deren Effekte zurechenbar werden. Der Verantwortungsbegriff erfährt also eine weitere Lockerung, die ihn aus der Bindung an die Faktizität löst und seine Extension auch auf mögliche Ereignisse erweitert. Es zeigt sich demnach zum einen eine semantische Verschiebung weg von der unmittelbaren Handlung hin zu einer vergangenen Handlung und schließlich zu einer zukünftigen, auch nur möglichen Handlung. Mit dieser Verschiebung geht eine Ausdehnung des Skopus einher, über den sich ‚Verantwortung‘ erstreckt: Von der Aktualität über die Faktizität zur Potentialität einer Handlung; oder, wenn man es in zeitlichen Begriffen ausdrücken möchte: Von der Gegenwart auf die beiden weiteren zeitlichen Dimensionen Vergangenheit und Zukunft. Der Bedeutungswandel vom aktualen Prozess oder performativen Sprechakt ‚Verantwortung‘ zur ‚Verantwortlichkeit‘ macht deutlich, dass die einzelne Person nicht mehr nur für ihr aktuales Handeln steht, sondern zunehmend mit über die Zeit reichenden oder einzelnen Ereignissen verbunden wird, die auf diese Weise angeeignet werden können: Verantwortung kann dann besessen werden, man ist verantwortlich oder kann verantwortlich gemacht werden für ein anderes Handeln. Wie sieht nun vor diesem Hintergrund die Genese des Verantwortungsbegriffes in der philosophischen Theoriebildung aus?
14 In diesem Sinne gehört ‚Verantwortung‘ bis ins 18. Jhdt. zu denjenigen Begriffen, die Koselleck als zur „Erfahrungsregistratur“ gehörig bezeichnet, und die vor allem aus der Rechtssprache stammen, vgl. Reinhart Koselleck, „Zur Semantik und Pragmatik der Aufklärungsbegriffe“. In: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, 336 f.
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II. ‚Verantwortung‘ als Aufgabe und (Verteidigungs-)Rede Der Verantwortungsbegriff ist – wie bereits erwähnt – in den ‚einschlägigen großen Systemen‘ kaum zu finden. In der bis heute für das Denken des Subjekts, d. h. mithin des Individuums maßgebenden Praktischen Philosophie Kants etwa finden sich kaum mehr als zehn Vorkommnisse des Nomens ‚Verantwortung‘. Freilich trifft man auf Familienmitglieder, wie etwa ‚verantwortlich‘ oder ‚Verantwortlichkeit‘, aber auch diese finden sich beispielsweise in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nur selten – im Gegensatz zu ‚Verantwortung‘ selbst, ein Wort, das hier von Kant kein einziges Mal gebraucht wird. Betrachtet man die wenigen Vorkommnisse von ‚Verantwortung‘ im Kantischen kritischen Werk, dann findet sich dieser Begriff in der Kritik der reinen Vernunft jenseits des moralischen oder juridischen Kontextes.15 In den nachkritischen Schriften gebraucht ihn Kant dann im religiösen Zusammenhang zu seiner Zeit ganz konservativ, wie etwa in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre synonym zum ‚Gewissen vor Gott‘ bzw. als ‚Antwort geben‘16 – aber auch das nur ins15 Von Kant wird Verantwortung in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: zum einen als mögliche, im Sinne von prinzipiell erfüllbare, aber dann auch einzulösende ‚Arbeitsaufgabe‘. So etwa in beiden Vorkommnissen von ‚Verantwortung‘ in der „Kritik der reinen Vernunft“: In den Einleitungen schreibt Kant sein Programm kommentierend, die KrV enthalte sich „der ausführlichen Analysis dieser Begriffe […], weil es der Einheit des Planes zuwider wäre, sich mit der Verantwortung der Vollständigkeit einer solchen Analysis und Ableitung zu befassen, deren man in Ansehung seiner Absicht doch überhoben sein könnte.“ (KrV A 14 / B 28). Wiederum als Kommentar zur eigenen Arbeit heißt es in der Elementarlehre: „daß unsere Absicht, die lediglich auf den synthetischen Gebrauch derselben geht, sie [die Definition der Kategorien] nicht nötig mache, und man sich mit unnötigen Unternehmungen keiner Verantwortung aussetzen müsse, deren man überhoben sein kann.“ (KrV A 241 / B 300 Hervorhebung im Original). Gleichbedeutend auch in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft: „Aber hiezu bedarf man eines Gesetzes des Verhältnisses sowohl der ursprünglichen Anziehung, als Zurückstoßung in verschiedenen Entfernungen der Materie und ihrer Theile von einander, welches […] eine reine mathematische Aufgabe ist, die nicht mehr für die Metaphysik gehört, selbst nicht was die Verantwortung betrifft, wenn es etwa nicht gelingen sollte, den Begriff der Materie auf diese Art zu construiren.“ MAN, AA Bd. 4, 517. 16 Im Zusammenhang mit der theorietechnischen Tatsache, dass Kant den Menschen in praktischer Hinsicht sowohl als Richter als auch als Beklagten bestimmt, heißt es dort „Da nun ein solches moralisches Wesen zugleich alle Gewalt (im Himmel und auf Erden) haben muß, weil es sonst nicht (was doch zum Richteramt nothwendig gehört) seinen Gesetzen den ihnen angemessenen Effect verschaffen könnte, ein solches über Alles machthabende moralische Wesen aber Gott heißt: so wird das Gewissen als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen: ja es wird der letztere Begriff (wenn gleich nur auf dunkele Art) in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten sein.“ (Kant [1797], „Die Metaphysik der Sitten“. MS, AA Bd. 6, 439) oder auch „Denn daß einer sich erböte schlechthin zu beschwören, daß ein Gott sei: scheint zwar kein bedenkliches Anerbieten zu sein, er mag ihn glauben oder nicht. Ist einer (wird der Betrüger sagen), so habe ichs getroffen; ist keiner, so zieht mich auch keiner zur Verantwortung, und ich bringe mich durch solchen Eid in keine Gefahr.“ (MS, AA Bd. 6, 486, Anmerkung). In Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee verwendet Kant dann ‚Verantwortung‘ wieder nur in der ursprünglichen Verwendung als Antwort geben: „Es wird
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gesamt drei Mal. Im sogenannten Spätwerk findet sich ‚Verantwortung‘ wiederum im ursprünglichen Sinne von ‚Antwort geben‘.17 In keinem Fall hat Kant aber der ‚Verantwortung‘ einen systematischen Ort oder eine theorietragende Rolle zugewiesen. Es gibt also bei Kant keine Auseinandersetzung mit ‚Verantwortung‘, sie wird nicht von ihm in ein theoretisches Verhältnis zum Begriff praktischer Freiheit gesetzt, der die Ethik trägt und von dem sie ausgeht. So scheint der Begriff im philosophischen Kontext des ausgehenden 18. Jhdts. keine Brisanz gehabt zu haben – weder im juridischen noch im moralischen Zusammenhang, seien diese religiös oder nicht religiös konnotiert. Das gilt auch für die Texte von Fichte und Hegel. Obwohl wir im Werk Fichtes auf ‚Verantwortung‘ sogar im Titel eines Aufsatzes treffen, namentlich: Der Herausgeber des philosophischen Journals gerichtliche Verantwortungsschriften gegen die Anklage des Atheismus (1799)18, zeigt dieser bereits, dass hier ‚Verantwortung‘ in jenem Sinne einer gerichtlichen Verteidigungsrede gebraucht wird. In dieser defensio selbst verwendet Fichte ‚Verantwortung‘ sogar noch unspezifischer nur im Sinne von Rede überhaupt.19 Im Deducierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt (1807) finden wir wiederum die Verwendung als zu erfüllende Aufgabe durch die Staatsbeamten bzw. Lehrer, aber auch im Sinne einer Haltung dem eigenen Gewissen gegenüber.20 Ohne hier den Anspruch zu erheben, eine dezidierte Interpretation der Fichteschen Verwendung von ‚Verantwortung‘ vorzulegen, scheint es mir doch ersichtlich, dass auch Fichte weder ein philosophisch fundiertes Verantwortungskonzept also gegen jene drei Klagen die Verantwortung auf die oben erwähnte dreifach verschiedene Art vorgestellt und ihrer Gültigkeit nach geprüft werden müssen.“ (MpVT, AA Bd. 8, 258.). 17 Im Streit der Fakultäten wird ‚Verantwortung‘ von Kant – nicht von seinen Anklägern – ausschließlich im ursprünglichen Sinne einer aktuell zu haltenden Verteidigungsrede verwendet, wie bspw. gleich zu Beginn: „so ist meine gewissenhafte Verantwortung folgende“ (SF, AA Bd. 7, 7 ff.). In Unrechtmäßiger Büchernachdruck gibt es einen Verweis darauf, was es für einen Verleger bedeuten würde, wenn er bestimmten Vertragsbedingungen zustimmte: „Schwerlich würde jemand dazu einwilligen: weil er sich dadurch allerlei Beschwerlichkeit der Nachforschung und Verantwortung aussetzen würde.“ (AA Bd. 8, 79). Hier haben wir also wieder wie in der KrV mit der Bedeutung von einer einzuhaltenden Aufgabe zu tun. 18 Johann G. Fichte, „Fichtes sämtliche Werke und Nachlass“ Bd. V, 239 – 333. (Electronic Edition nach: I. H. Fichte (Hrsg.), „Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke“. Bonn: A. Marcus, 1834 – 35 sowie I. H. Fichte (Hrsg.), „Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke“. Berlin: Veit und comp., 1845 – 46). 19 Wie etwa in „Aus einem Privatschreiben“ (1800) in: Philosophisches Journal Bd. IX. 358 – 390. (ebd., Bd. V, 375 – 396, hier: 383) oder auch in „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Zweite Vorlesung“ (ebd., Bd. VII, 19). 20 § 35: „Da die Anstalt in gar kein anderes Verhältniss mit den Zugewandten eingeht, als auf die Erlaubniss des Zutrittes, so bleibt ihr auch kein anderes Zwangsmittel übrig, als die Zurücknahme dieser Erlaubniss. […] In Absicht des ersteren muss es jedem einzelnen Lehrer, auf seine eigene Verantwortung vor seinem Gewissen, freistehen […] den Zutritt zu seinen Lehrübungen für eine gewisse Zeit, oder auch auf immer, zu untersagen; und das ganze lehrende Corps muss ihn hiebei, durch die Verwarnung vor grösserem Uebel, auf seine blosse Anzeige unterstützen.“ (ebd., Bd. VXIII, p. 148 f.).
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gedacht noch ihm einen systematischen Ort in der praktischen Philosophie zugeschrieben hat.21 Sieht man sich die Vorkommnisse von ‚Verantwortung‘ im Hegelschen Textbestand an, erscheint die Sache keineswegs interessanter. Hier finden sich vier Fundstellen, in denen Hegel ‚Verantwortung‘ benutzt, sieben mit ‚Verantwortlichkeit‘ und weitere vier mit dem Adjektiv ‚verantwortlich‘. Hegel verwendet diese Wörter in drei unterschiedlichen Bedeutungsfacetten: Erstens scheint hier Hegel ähnlich wie Kant und Fichte einfach eine aufgetragene Aufgabe zu meinen, die es zu erledigen gilt, vornehmlich von Staatsdienern.22 Zweitens erweitert er diese Bedeutung, indem er sie mit ‚Objektivität‘ im Gegensatz zu ‚subjektiver Willkür‘ verbindet. So heißt es in § 284 der Grundlinien zur Philosophie des Rechts: „Insofern das Objektive der Entscheidung, die Kenntnis des Inhalts und der Umstände, die gesetzlichen und andere Bestimmungsgründe, allein der Verantwortung, d. i. des Beweises der Objektivität fähig ist und daher einer von dem persönlichen Willen des Monarchen als solchem unterschiedenen Beratung zukommen kann, sind diese beratenden Stellen oder Individuen allein der Verantwortung unterworfen; die eigentümliche Majestät des Monarchen, als die letzte entscheidende Subjektivität, ist aber über alle Verantwortlichkeit für die Regierungshandlungen erhoben.“23
Der § 284 gehört zu einer ganzen Reihe von Paragraphen, die die Souveränität des Monarchen bestimmen. Letztlich geht es darum herauszustellen, dass der Monarch keine Aufgaben zu erledigen habe, im Gegensatz etwa zur Friedrichschen Auffassung, der sich selbst als obersten Staatsdiener bzw. Beamten bezeichnet hatte. Der ‚Verantwortung fähig sein‘ und ‚ihr unterworfen sein‘ bedeutet hier demnach so etwas wie gebunden sein an faktische, gesetzliche Vorgaben bzw. dass das Handeln mit diesen übereinstimmen muss – was eben für die Regierungshandlungen notwendig ist, aber nicht für den Monarchen. ‚Verantwortung‘ oder ‚Verantwortlichkeit‘ ist dann gegeben, wenn äußere, objektive Nachprüfbarkeit sinnvoll ist – das hat der Monarch bei Hegel nicht nötig, denn er bzw. sein Wille ist vernünftig und damit in gewisser Weise unfehlbar.24 21 Mit der Suchefunktion lassen sich 34 Vorkommnisse von ‚Verantwortung‘ im Fichteschen Œuvre finden. 22 So schreibt Hegel über Hamann: „Er hatte wenig oder, nach seinen Ausdrücken, gar nichts zu arbeiten, ‚im Grunde weder Geschäfte noch Verantwortung‘“ (G. W. F. Hegel, „Werke“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, Bd. 11, 307 f.). Im gleichen Sinne schreibt er in einem Essay über die Aufgaben der Lehrer: „Die öffentlichen Studieninstitute sind vornehmlich Pflanzschulen für Staatsdiener; sie sind der Regierung dafür Verantwortung schuldig, ihr nicht unbrauchbare zuzuführen“. (ebd., Bd. 4, 362); vgl. sinngleich auch Berliner Schriften (ebd., Bd. 11, 116), § 295 der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) (ebd., Bd. 7, 463), die Vorlesungen über die Philosophie der Religion I (ebd., Bd. 16, 246) und schließlich noch die Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, wo es um die Verantwortung der Mandarine geht, d. h. dass sie bestimmte Handlungen auszuführen haben (ebd., Bd. 12, 160). 23 Ebd., Bd. 7, 455. Das Objektive sind nach § 283 Entscheidungsgründe, Gesetze etc. ‚Verantwortung‘ oder ‚Verantwortlichkeit‘ bedeutet mithin, an etwas äußeres, objektives, Nachprüfbares gebunden zu sein – das hat der Monarch bei Hegel eben nicht nötig, denn er bzw. sein Wille ist vernünftig und damit in gewisser Weise unfehlbar.
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Im dritten Verwendungskontext wird der Schwerpunkt weg von den zu erledigenden Aufgaben hin zur Zuschreibung bestimmter Taten an bestimmte Täter verschoben – dazu mehr weiter unten. Als letztes schließlich spricht Hegel in einem Zitat von ‚Verantwortung‘ als einer Leidenschaft.25 Alle Vorkommnisse haben ebenso wenig wie bei Kant oder Fichte einen systematischen Status; auch zeichnen sie sich nicht als Denkfiguren in der Entwicklung des Geistes aus – in der Phänomenologie des Geistes kommen diese Begrifflichkeiten nicht vor. Damit werden sie auch weder bei Kant noch bei Fichte oder Hegel an die theorietragenden bzw. -leitenden Begriffe wie ‚Freiheit‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘ oder ähnliches gebunden. Auch wenn sich bei Hegel bereits eine wenigstens thematische Nähe zur Souveränität des Herrschers findet, so zeichnet sich diese Nähe gerade dadurch aus, dass der Monarch keine Verantwortung schuldig ist, weil er eben keinen an ihn von Außen herangetragenen Aufgaben nachkommen muss und seine Entscheidungen auch keiner Überprüfung ausgesetzt sein müssen: sie sind per se vernünftig. Der Befund, dass der Begriff ‚Verantwortung‘ im 18. und im frühen 19. Jhdt. auch in anderen Theorien keine oder keine große Rolle gespielt hat, wird durch einen Blick in ein einschlägiges Lexikon bestätigt. Statt mit Fundstellen zu ‚Verantwortung‘ bedient zu werden, wird man auf den Begriff ‚Zurechnung‘ verwiesen, der eine illustre Bedeutungsvielfalt hervorgebracht hat, die von der Be- und Verurteilung einzelner Handlungen bis zur Eigenschaft von Handelnden oder Tätern führt.
24 Das bedeutet aber keinesfalls, dass Hegel dem Monarchen vollkommene Willkür zusprechen würde. Denn in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III heißt es im Zusammenhang mit der Begründung des Hobbesschen Staatsmodells, Rixner habe gesagt „Handbuch der Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 30 ‚Das Recht ist ihm nichts anderes als der Inbegriff der durch die eiserne Notwendigkeit der ursprünglichen Bösartigkeit der Menschen abgezwungenen Bedingungen der Pazifikation‘, – des belli omnium contra omnes. – Es ist wenigstens dies in Hobbes vorhanden, daß auf die Grundlage der menschlichen Natur, menschlicher Neigung usf. die Natur und der Organismus des Staats gesetzt werden soll. Die Engländer haben sich viel mit diesem Prinzip der passiven Obedienz herumgeschlagen, wonach gesagt wird, die Könige haben ihre Gewalt von Gott. Dies ist nach einer Seite ganz richtig; aber es wird so verstanden, daß sie keine Verantwortlichkeit haben, ihre blinde Willkür, ihr bloß subjektiver Wille das ist, dem gehorcht werden müsse.“ (ebd., Bd. 12, 229). Das aber widerspricht gerade der Hegelschen Idee davon, dass sich im Monarchen von Gottes Gnaden immer zugleich der objektive und subjektive Wille findet; der Herrscher gleichsam der inkarnierte objektive Wille ist: „Der gesetzliche Zustand ist aber etwas anderes, als daß die Willkür Eines schlechthin Gesetz sein soll; dieser allgemeine Wille ist damit nicht Despotismus, sondern vernünftig, in Gesetzen ausgesprochen und in Konsequenzen bestimmt.“ (ebd., Bd. 12, 228 f.). 25 Wiederum geht es um Hamann: „In dem oft angeführten Kampfe mit seinen Freunden spricht er vielfach diese Verknüpfung seiner Frömmigkeit und seiner eigentümlichen Lebendigkeit aus; so sagt er […]: ‚Wie Paulus an die Korinther in einem so harten und seltsamen Tone geschrieben‘ (was er mit seinem eigenen Benehmen in Parallele setzt), ’was für ein Gemisch von Leidenschaften habe dieses sowohl in dem Gemüte Pauli als der Korinther zuwege gebracht? Verantwortung, Zorn, Furcht, Verlangen, Eifer, Rache.“ (ebd., Bd. 11, 314).
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III. Verantwortung im Sinne von ‚Zurechnung‘ (imputatio) In Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe findet sich in der Auflage von 1904 kein Stichwort ‚Verantwortung‘, sondern lediglich ‚Verantwortlichkeit‘.26 Dort taucht also bereits nur noch das de-prozessualisierte Nomen auf. Schlägt man dann unter ‚Verantwortlichkeit‘ nach, so zeigt sich die philosophische Nichtpräsenz und Nichtbrisanz des Begriffes daran, dass man von dort auf den Begriff ‚Zurechnung‘ (imputatio) weiterverwiesen wird. Offensichtlich war die Bedeutungsvariante der zu erledigenden Aufgabe zu diesem Zeitpunkt verloren gegangen und hatte auch im philosophischen Zusammenhang der bei Hegel im Adjektiv ‚verantwortlich‘ angedeuteten Verbindung mit der Verursachungs- und damit Zurechnungsfähigkeit einer Handlung Platz gemacht. Dem Lemma im Eisler folgend zeigen die unterschiedlichen, kurz skizzierten Theoriekonstrukte von Kant bis Schopenhauer die Bedeutungsvielfalt, in der ‚Verantwortlichkeit‘ als ‚Zurechnung‘ konzeptionell auftaucht. Hauptgedanke ist hier die Zurechnungsfähigkeit des Subjekts, weil es zurechnungsfähige Handlungen, also die Objekte der Zurechnung, aus Freiheit bestimmen kann, die unter einem Gesetz stehend zur Tat werden. Zurechnung knüpft dadurch ‚Verantwortung‘ an das Sein, das Potential des Einzelnen – nicht mehr an seine (staatstragende) Rolle, die mit bestimmten, ‚objektiven‘ Aufgaben verbunden ist. Das führt schließlich dazu, dass ‚schlechte Taten‘ theoretisch mit dem ‚schlechten Sein schlechter Menschen‘ verbunden werden, also die Qualität der Wirkung auf die Qualität ihrer Ursache zurückgeführt wird. Der Eisler verweist zwar darauf, dass so etwas wie personale ‚Zurechnung‘ schon bei Platon und Aristoteles angedeutet sei – was ich hier weder bestätigen noch abweisen will –, aber als erster ‚richtiger‘ Beleg wird auf Christian Wolff verwiesen. So heiße es bei Kant – analog zu Wolff – in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre: „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird.“27 Zurechnung bezeichnet demnach einen Akt, durch den jemandem eine Handlung als durch ihn verursacht zugeschrieben wird. Erst durch diesen Zuschreibungsakt wird aus der Handlung eine Tat, die ‚unter Gesetzen steht‘, so dass die Zurechnungsmöglichkeit einer Handlung darüber entscheidet, ob sie überhaupt strafbar oder belohnbar ist.28 Das 26 Rudolf Eisler, „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“. Berlin, 19042. Der Eisler ist der Vorläufer des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, das seit 1971 von Joachim Ritter et al. herausgegeben wird. Laut Auskunft der Herausgeber, ging es ihnen besonders darum, den „Wechsel in der Bedeutung der Begriffe und Ausdrücke, diese Veränderung von Quantität, Qualität, Wert der Begriffsinhalte […] erkennen [zu] lassen.“ (ebd., 5). 27 Kant, MS, AA Bd. 6, 227. 28 Eine rein affektgesteuerte Handlung gibt es allerdings für Kant nur im pathologischen Sinne, d. h. man müsste hier Grade von Fremdbestimmung unterscheiden – was ja auch im Recht der Fall ist.
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Verhältnis zwischen Tat und Gesetz, d. h. ob die Tat gegen es verstößt, ihm angemessen ist oder über es hinausgeht, entscheidet dabei über Strafe, Belohnung oder das Ausbleiben einer rechtlichen Belangung.29 Hier haben wir es also mit einer juridischen Interpretation zu tun, die bei Kant auf der im weitesten Sinne sittlichen Zurechnungsfähigkeit des Subjekts beruht, und damit auf der Konzeption der freien praktischen Vernunft.30 Eine Handlung ‚zurechnen‘ heißt nämlich, eine Handlung als Wirkung mit einer Vernunft als deren Ursache durch ein Urteil verbinden. Um aber als Tat zum Gegenstand juristischer Urteile werden zu können, muss die Handlung selbst bereits Gegenstand eines Gesetzes sein – im Sinne des Rechtsgrundsatzes nulla poena sine lege.31 D. h. dass die zurechnungsfähige Handlung, mithin das zurechenbare Objekt, das einem zurechnungsfähigen Subjekt als dessen Ursache zugeschrieben wird, bei Kant zunächst neutral bleibt: Denn ‚legal‘ oder ‚illegal‘ können Handlungen nur dann genannt werden, wenn sie dem bereits etablierten Gesetz ent- oder widersprechen. Diese Prädikate sind streng an das historisch etablierte Recht gebunden, und sie bezeichnen so auch keine Eigenschaften des Willens oder der Person.32 ‚Zurechnung‘ heißt die Verknüpfung einer Handlung mit ihrer Verursachung aus praktischer Freiheit und dem geltenden Gesetz. Denn für Kant kommt faktische Zurechnung nur durch ein bereits vorhandenes Gesetz zum Tragen – und wird nicht schon aus der freien Verursachung hergeleitet. Folglich gibt es auch keinerlei Pflicht, über die gesetzlich geforderten Verhaltensweisen hinaus tätig zu werden – das sei zwar ‚verdienstlich‘, aber die schlechten Folgen einer Unterlassung seien dennoch nicht zurechenbar! Gesetzt man akzeptiert die im Eisler vorgeschlagene Synonymität, dann zeigt sich bei Kant eine Bedeutung von ‚Verantwortung‘ im Sinne der ‚Zurechnungs29 Weiter heißt es dort: „Die guten oder schlimmen Folgen einer schuldigen Handlung [d. i. eine dem Gesetz angemessene Handlung] – imgleichen die Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen [Handlung] – können dem Subject nicht zugerechnet werden (modus imputationis tollens). Die guten Folgen einer verdienstlichen – imgleichen die schlechten Folgen einer unrechtmäßigen Handlung können dem Subject zugerechnet werden (modus imputationis ponens).“ Kant, MS, AA Bd. 6, 228. 30 Vgl. Kant, „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft“. RGV, AA Bd. 6, 31. 31 Dieser Rechtsgrundsatz meint die Bindung des Gesetzgebers an bereits formulierte Gesetze und heißt heute: Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG: „(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Die Norm beschränkt den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, indem sie ihm verbietet, Normen zu schaffen, die nicht hinreichend bestimmt sind und die es dem Rechtsanwender überließen, den Umfang der Strafbarkeit zu erweitern, etwa durch Klauseln wie: „oder ähnliche Handlungen“ oder „sonstige Handlungen“. Es besteht ein Analogieverbot für die Judikative (Gerichte) und ein Rückwirkungsverbot für die Legislative: Jede Tat kann nur bestraft werden, wenn sie schon zur Zeit ihrer Ausführung mit Strafe bedroht war. 32 Ebenso wie etwa in der Kantischen Konzeption die Prädikate ‚gut‘ und ‚böse‘ über die Konstellation der Willensbestimmung ermittelt und erst daraus folgend der Handlung zugeschrieben werden. So sind sie ebenfalls keine Eigenschaften des Willens oder der Person schlechthin; vgl. Kant (1788), „Kritik der praktischen Vernunft“. KpV, AA Bd. 5, 61 ff. passim sowie RGV, AA Bd. 6, 36 f.
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fähigkeit‘, die sich nicht in die Zukunft erstreckt und die auch keinem Täter als Verantwortungsträger zugeschrieben wird, sondern die ‚Verantwortung‘ von der Handlung und den gegebenen Umständen, sprich Gesetzen, ableitet. Damit bewegt sich auch der Gebrauch von ‚Zurechung‘ nahe an der Bedeutung von ‚Verantwortung‘ als zu verrichtender Aufgabe bzw. Handlung und auch weiterhin in der Nähe der Hegelschen Idee von staatstragenden und -konformen Aufgaben, die es in bestimmten Formen durchzuführen gilt. Nicht die handelnde Person, sondern die Handlungen selbst sind Gegenstand der Beurteilung, sofern die Handlungen bereits als gesetzeskonform, und damit als allgemein gewollt definiert sind, bzw. als gesetzeswidrig, d. h. als allgemein unerwünscht. Bei Hegel waren wir aber noch auf eine weitere Bedeutungsvariante gestoßen: durch die explizite Verknüpfung von ‚Zurechnung‘ und ‚Verantwortung‘. Zurechnung meint hier aber wiederum nicht, eine Handlung ihrem Verursacher zuzuschreiben, sondern wird nur in der zweiten Bedeutung als Zuschreibung des Urteils gebraucht. Hegel scheint verblüffender Weise nicht verwundert gewesen zu sein, dass der tatsächlich Handelnde und die Zuschreibung der daraus folgenden Würden oder Strafen nicht ein und dieselbe Person betreffen müssen. So stellt Hegel in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte über den chinesischen Kaiser fest: „Die Verdienste des Sohnes werden nicht diesem, sondern dem Vater zugerechnet. […] Auf diese Weise gelangen die Voreltern (umgekehrt wie bei uns) durch ihre Nachkommen zu Ehrentiteln. Dafür ist aber auch jeder Familienvater für die Vergehen seiner Deszendenten verantwortlich. Es gibt Pflichten von unten nach oben, aber keine eigentlich von oben nach unten.“33
Die Aufhebung der für uns heute so notwendig erscheinenden Verknüpfung von Handlung und Täter interessiert ihn hier gar nicht, weil es ihm um die Verbindung von Lob und Tadel allein mit den jeweiligen Handlungen geht. Die Zurechnung von Handlung und Täter ist hier offensichtlich aufgehoben bzw. gehorcht sie einer paternalistischen Unterschiedslosigkeit zwischen Söhnen und Vätern. Damit zeigt sich aber auch hier noch, dass ‚verantwortlich sein‘ weniger mit der Verursachung einer Handlung zu tun hatte als vielmehr überhaupt mit Handlungen, die ggf. durch das Besetzen eines Staatsamtes vollzogen werden (müssen).34 Es zeigt sich also, dass weder das Nomen noch die systematische Bedeutung von ‚Verantwortung‘ im heutigen Sinne bei Kant, Fichte und Hegel wirklich zu finden Hegel (1986), Bd. 12, 154 f. Der Vorschlag von Gosepath, die Beseitigung von Übeln von dem Verursachungsprinzip abzukoppeln, sofern sich kein zurechnungsfähiger Täter finden lässt, lässt sich wie eine Rückkehr zu einem praktischen Verständnis von Verantwortung verstehen, das sie an die zu erfüllenden Aufgaben bindet – und auf diese Weise effizienter sein könnte. Gosepath will „in Analogie zum Haftungsrecht […] für die Auffassung argumentieren, dass sich verantwortungsbewusste Individuen zu Kollektiven zusammenschließen sollten, um effektiv Verantwortung für die Beseitigung von Übeln übernehmen zu können, auch wenn sie an deren Zustandekommen keine Schuld tragen.“ Stefan Gosepath (Fn. 7), 388; vgl. auch 401. 33 34
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ist.35 Dennoch gibt es bereits zeitgleich mit Kant auch Theoretiker, denen das Verhältnis der Handlung zum Gesetz oder zu den Erfordernissen des Staates relativ gleichgültig gewesen zu sein scheint, da sie gerade das Verhältnis von Ursache und Handlung im Blick hatten. Das erfolgt aber nicht etwa so, wie das bei Kant der Fall ist, der nach den begrifflichen, in moralischer Hinsicht neutralen Möglichkeitsbedingungen der Zurechenbarkeit fragt, sondern so, dass es zu einer Zuschreibung von moralischen Attributen an das Sein der handelnden Person kommt. Im Unterschied zum Simplicissimus geht es hier aber nicht nur um das prinzipielle Potential, zukünftige Handlungen vollziehen zu können, sondern um eine Wertekongruenz zwischen dem Träger des Potentials und dessen Handlungen. So findet sich beispielsweise bei Kants 20 Jahre jüngerem Zeitgenossen und – dem Eisler zufolge auch – Kritiker Ernst Platner (1744 – 1818) folgender Aphorismus: „Der Zurechnung ist eine Handlung fähig, wenn gesagt werden kann, daß nicht allein sie selbst, sondern auch ihr Urheber gut oder böse ist. Danach beruht Zurechnung auf der Freyheit und Sittlichkeit; und was die Freyheit anbelangt, vornehmlich auf der Selbstthätigkeit“.36
Hier wird der Wert der Handlung nicht über ihr Verhältnis zum juridischen Gesetz bestimmt, sondern das Sein des Menschen selbst wird zur Ursache, mithin zum Gegenstand moralischer Qualifizierung und stellt als solches die Bedingung der Zurechenbarkeit dar. Das Sein des Menschen meint hier aber nicht das uns allen prinzipiell gleiche Vermögen einer intelligiblen praktischen Vernunft, die über die Willensbestimmung Handlungen bestimmt, sondern den – in Kantischen Begriffen – empirischen Charakter eines Menschen. Exponiert findet sich diese Bedeutungsvariante bei Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), der etwa 1839 in seiner preisgekrönten Antwort auf die Frage, ob sich die Freiheit des menschlichen Willens aus dem Selbstbewusstsein beweisen lasse, die Beurteilung einer Tat streng mit dem charakterlichen, unausweichlichen und dem Gesetz der Kausalität unterworfenen, in diesem Sinne ursächlichen Sein des Täters verknüpft. Und: Bei Schopenhauer ist 35 Soll heißen, dass sie bei den genannten Autoren gerade nicht in einen Zusammenhang gebracht werden mit dem ‚freien, souveränen Subjekt‘ und dass ‚Verantwortung‘ dort keiner exponierten, begrifflichen Analyse bzw. Konzeption unterzogen worden ist. Es wäre hingegen irrig zu behaupten, dass die Verwendungsvarianten von ‚Verantwortung‘ nicht vorkämen. Günter identifiziert bspw. zwei aktuell grundsätzliche Verwendungsweisen, „die aus der alltäglichen sozialen Praxis vertraut seien“. Klaus Günter. „Aufgaben- und Zurechnungsverantwortung“. In: Heidbrink / Hirsch (Fn. 1), 295. Die erste „soll zum Ausdruck bringen, dass Verantwortung […] das Ergebnis einer Zurechnung der Normverletzung oder des Schadens zu einer Person ist. […] Der Ruf nach (mehr) Verantwortung meint vor allem die Aufgabenverantwortung.“ (ebd., 296 f.). Das Interessante bleibt aber, in welchem Begründungszusammenhang sie stehen bzw. wie ‚Verantwortung‘ konstruiert wird – und hier wird in beiden Fällen ‚Verantwortung‘ an die aus Freiheit verursachenden Person geknüpft: Im ersten Fall wäre eine Unterlassung aus freier Bestimmung möglich gewesen (vgl. ebd., 298); im zweiten Fall ist Freiwilligkeit eine notwendige Bedingung, um der Aufgabe auch angemessen nachzukommen (vgl. ebd., 312). 36 Ernst Platner (1776 – 82), „Philosophische Aphorismen I, § 877“. In: H. Gliwitzky / R. Lauth et al. (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte. Supplement zu den Nachgelassenen Schriften Bd. 4, 249. Stuttgart: frommann-holzboog, 1964 – 2008.
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nicht mehr die Rede von ‚Zurechnung‘ – sei es auf die Handlung oder auf den Handelnden –, sondern explizit von ‚Verantwortlichkeit‘ und ‚verantwortlich‘: „Die Verantwortlichkeit, deren er [der Täter] sich bewußt ist, trifft daher bloß zunächst und ostensibel die That, im Grunde aber seinen Charakter: für diesen fühlt er sich verantwortlich. Und für diesen machen ihn auch die Andern verantwortlich, indem ihr Urtheil sogleich die That verläßt, um die Eigenschaften des Thäters festzustellen: »er ist ein schlechter Mensch, ein Bösewicht«, – oder »er ist ein Spitzbube« – oder »er ist eine kleine, falsche, niederträchtige Seele«, – so lautet ihr Urtheil, und auf seinen Charakter laufen ihre Vorwürfe zurück. Die That, nebst dem Motiv, kommt dabei bloß als Zeugniß von dem Charakter des Thäters in Betracht, gilt aber als sicheres Symptom desselben, wodurch er unwiderruflich und auf immer festgestellt ist. […] Also nicht auf die vorübergehende That, sondern auf die bleibenden Eigenschaften des Thäters, d. h. des Charakters, aus welchem sie hervorgegangen, wirft sich der Haß, der Abscheu und die Verachtung.“37
Nach Schopenhauer haben wir also zu Recht das Gefühl, ‚verantwortlich‘ für unser Handeln zu sein, dennoch können wir nichts dafür, wie wir unser Handeln bestimmen, weil uns das charakterlich angeboren ist. Das beschreibt die „empirisch-transzendentale Dublette“38 Foucaults par excellence: Der Mensch denkt sich selbst als nicht-phänomenales Sein, gleichwohl aber als angeborenen Charakter, dem er sich dann als durch ihn bestimmt vollkommen ausgeliefert sieht.39 Die Unausweichlichkeit, mit der der Einzelne an sein ‚Sein‘ und an seine Taten über diese und über die Zeit hinweg stabil gebunden wird, indem er zunehmend mit ihnen identifiziert wird, zeitigt allerdings in der Theoriebildung eine Gegenbewegung, durch die zum einen Nachsicht möglich und zum anderen die Unausweichlichkeit gelockert und damit trotz aller Seinsfestschreibung Besserung ermöglicht wird. Damit meine ich die Psychoanalyse wie auch die Soziologie, die beide Ende des 19. / Anfang des 20. Jhdts. mit ihren speziellen Wissensobjekten erstarken. Georg Simmel (1858 – 1918) etwa dreht die Glieder gewisser Maßen wieder um, wenn er in der Einleitung in die Moralwissenschaft (1892) schreibt, dass ein Individuum dann zurechnungsfähig sei, „wenn die strafende Reaktion auf seine Tat bei ihm den Zweck der Strafe erreicht“40, d. h. dass „[d]erjenige […] frei [ist], den man 37 Arthur Schopenhauer (1839), „Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften“. In: Ders., Hauptwerke Bd. 3. Hrsg. von Paul Deussen. München: Piper, 1912, 563 f. 38 Vgl. Michel Foucault (1966), Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, 384. 39 Schopenhauer wähnt sich hier vermeintlich im Einklang mit der sogenannten ‚Zwei-Welten-Theorie‘ Kants, und reifiziert damit den intelligiblen Charakter, der sich dadurch auszeichnet, ursächlich wirksam werden zu können im rein formalen Sinne praktischer Freiheit, zu einem individuellen jenseits der formalen Freiheitsstruktur bestimmten Charakter. Vgl. bspw. Kant, KrV A 538 / B 566 ff. sowie Tatjana Schönwälder-Kuntze, „Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung und der Effekt Kantischer Moralphilosophie“, Bielefeld: transcript, 2010, 170 ff. 40 Georg Simmel (1893), „Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Bd. 2.“ Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, 213.
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mit Erfolg verantwortlich machen kann“.41 Das zeige sich u. a. daran, dass es möglich ist, auf die Handlungen eines Menschen durch Sanktionen einzuwirken – ihn also allen charakterlichen Widrigkeiten zum Trotz zu verändern. Ist aber der Einzelne verantwortlich, weil er sein Handeln angesichts angedrohter Sanktionen ändern kann, dann ist er auch für sein verursachendes Sein verantwortlich, das dann akkumulativ entsteht und sich so gewissermaßen beliebig formen lässt. Das entspricht nun nicht mehr der Idee eines unausweichlichen, angeborenen Charakters, behält aber die Figur des initiierenden, ursächlichen, für seine Taten – und sogar für sein Sein verantwortlichen Täters bei.
IV. ‚Verantwortung‘ kompensiert scheinbare theoretische Mängel Lässt man die verschiedenen Bedeutungen und Verwendungen von ‚Verantwortung‘ bzw. ‚Zurechnungsfähigkeit‘ noch einmal Revue passieren, dann zeigt sich so ein grundlegender semantischer Wandel, der von der performativen Sprechhandlung in juridischen Kontexten über eine religiös begründete Verantwortung vor Gott bis zur inneren, empirisch verschiedenen Disposition jedes Einzelnen reicht. In der ursprünglichen Verwendung von ‚Verantwortung‘ hatten wir eine semantische Verschiebung des Verantwortungsbegriffes ausgemacht, die sich von der Aktualität / Gegenwart über die Faktizität / Vergangenheit zur Potentialität / Zukunft einer Handlung vollzogen hat. Stand also ehemals die Handlung oder die Tat selbst im Fokus der Aufmerksamkeit, so zeigte sich in der Theoriebildung parallel zu Kant, aber auch nach-kantisch eine semantische Verschiebung, die weniger die Handlung selbst als vielmehr die Handlungsursache in Form eines Täters fokussiert. Zwar verknüpft auch Kant das Handeln mit einer sie verursachenden Person, aber zur Tat wird die Handlung nur, wenn diese Verknüpfung möglich ist und wenn es bereits ein Gesetz gibt, gegen das sie verstößt oder dem sie folgt. So dass die Bewertung einer Handlung hier sowohl von der gegebenen Situation als auch von der Zurechnungsmöglichkeit abhängt. Das Bedeutungsspektrum verschiebt sich so von einer rein aktualen Handlung bis hin zu einer Handlung, die nur zurechenbar ist, wenn bereits der unabänderliche Wert des sie vollziehenden Täters feststeht. Bei Schopenhauer finden wir prominent diese Verbindung von Nomen und Semantik, die den konkreten Einzelnen voll verantwortlich macht für seine Taten, auch wenn er oder sie den Bestimmungen seines charakterlichen Seins unausweichlich ausgeliefert ist bzw. folgen muss. Eine erneute Volte führt dann zu der Idee, das nur demjenigen eine Handlung zurechenbar ist, dessen Handlungen intendierter Maßen veränderbar sind und der aus diesem Grunde ‚frei‘ genannt werden darf. Von dort ausgehend wird der Fokus dann wieder auf die Handlungen bzw. die Handlungsfolgen gerichtet, für die es Verantwortung zu übernehmen gelte (Weber), was schließlich nicht nur für die tatsächlichen, sondern auch mögliche Folgen (Jonas) inkludiert.
41
Ebd., 217.
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Aus dieser Perspektive durchläuft der Verantwortungsbegriff paradigmatisch den Wandel in der Theoriebildung der (praktischen) Philosophie, aber auch anderer Humanwissenschaften, wie Foucault gezeigt hat. Diese europäische Denkbewegung besteht in einer Fokussierung auf den einzelnen Akteur, durch die zunehmend nicht nur das einzelne, souverän handelnde Subjekt zum Zentrum ihrer Überlegungen avanciert, mithin zum exponierten Ausgangspunkt aller ihrer Überlegung gemacht wird, sondern durch die nach Foucault das Subjekt in dieser Form allererst konstituiert wird. So sind aus einer einzigen Handlung und später aus gleichsam anonym zu erledigenden Aufgaben Taten geworden, die die sie verursachenden Täter retrospektiv qualitativ bestimmen, aber auch prospektiv die Handlungen bewertbar machen. Die gezeigte semantische Verschiebung des Verantwortungsbegriffes stützt damit die Foucaultsche Diagnose, dass wir es mit einer Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus von der konkreten, immer einmaligen Handlung oder Tat zum Sein, zur Konstitution des sie verursachenden Täters zu tun haben. Im Zusammenhang mit einer sich ändernden Strafpraxis heißt es bei Foucault: „Als Verbrechen und Vergehen beurteilt man immer noch Rechtsgegenstände, die vom Gesetzbuch definiert sind, aber gleichzeitig urteilt man über Leidenschaften, Instinkte […], man bestraft Aggressionen, aber durch sie hindurch Aggresivitäten; […] Morde, die auch Triebe und Begehren sind. Nun wird man sagen: darüber wird nicht geurteilt, man zieht es heran, um die zu beurteilenden Tatsachen zu erklären und um zu bestimmen, inwieweit der Wille des Subjekts am Verbrechen beteiligt ist. Die Antwort ist ungenügend, denn es sind diese Schatten hinter den Tatsachen des Verfahrens, die in Wirklichkeit beurteilt werden und bestraft werden.“42
So handelte es sich nicht mehr einfach um Fragen wie: „»Ist die Tat festgestellt und handelt es sich um ein Vergehen?« […] [oder] »Wer ist der Täter?«, sondern: »Wie kann man einen Kausalprozeß, der zur Tat geführt hat, einordnen? Wo ist sein Ursprung im Täter selbst? Instinkt, Unbewußtes, Milieu, Erbanlage?«“43 Ohne die Foucaultsche Analyse in irgend einer Weise bestreiten oder korrigieren zu wollen, interessiert mich – im Gegensatz zu Foucault – an dieser Stelle weniger der Zusammenhang von intendiertem Macht(erhalt) und Kontrolle als vielmehr die Frage danach, ob dieser Bedeutungswandel wie auch die Bedeutungsaufladung nicht auf eine Art Bedürfnis hinweisen, das einem scheinbaren Mangel oder blindem Fleck der (Kantischen) Moralphilosophie geschuldet ist: Der zeitgenössische, den Verantwortungsbegriff zunehmend aufladende Gebrauch scheint mir auf das hybride Ansinnen hinzuweisen, ein bindungsloses, allein ursächliches, mithin souverän sein Handeln bestimmendes Subjekt denken zu wollen, das aber zugleich über sein Handeln mit seiner Situation, seiner Umwelt und den anderen Menschen so verbunden ist, dass es sie trotz aller Souveränität dennoch irgendwie bei seinen Handlungsbestimmungen berücksichtigt. ‚Hybrid‘ muss dieses Ansinnen genannt werden, weil die von Kant aus theoretischen Gründen wohl unterschiedenen Sphä42 43
Michel Foucault (1975), „Überwachen und Strafen“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, 27. Ebd., 29.
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ren menschlichen Handelns – das freie, souveräne Denken und das empirische, phänomenale Handeln – auf diese Weise einfach irgendwie in eins gesetzt werden, ohne deren theoretischen Status und vor allem die Funktion ihrer Differenzierung zu berücksichtigen. Denn eine Vermischung von souveränem Denk- und empirischem Handlungsspielraum ist von Kant gar nicht vorgesehen – dies widerspräche auch der gesamten Theoriearchitektur.44 Die Kantische Unterscheidung in zwei Sphären lässt sich übersetzen in eine rein formale Begründungssphäre, die sich aus der Denkbarkeit freier Vernunft speist und das denkbare, orientierende Sollen formuliert, und in eine konkrete empirische Handlungssphäre, die den Naturgesetzen unterliegt und das realisierbare Können bestimmt.45 Während nun Kant zu Zwecken der Begründung des bereits gegebenen Sittengesetzes aus systematischen Gründen glaubte, von absoluter Unbedingtheit ausgehen zu müssen, war er zugleich keinesfalls bereit, dem konkreten Einzelnen die volle ‚Verantwortung‘ für sein tatsächliches Handeln und die daraus resultierenden Folgen ohne Einschränkung aufzubürden. Erfolgt dies dennoch wie gezeigt in der Theoriebildung des Verantwortungsbegriffes, kann man sagen, dass die von Kant als theoretisch notwendig angenommene Unabhängigkeit, Unbedingtheit oder Situationslosigkeit im Denken empirisierend reifiziert wird. Auf diese Weise eröffnet sich mit dem ‚Verantwortungsbegriff‘ ein semantischer Raum, der ganz unkantischen Allmachtsphantasien und Schuldzuschreibungen Platz zur Ausdehnung lässt. 44 In aller Kürze lässt sich der Kantische Standpunkt wie folgt beschreiben: Handlungen, die von der praktischen Freiheit bestimmt sein könnten, dürfen gleichwohl naturkausalen Zusammenhängen nicht widersprechen. Folglich muss die praktische Vernunft so gedacht werden, dass sie zwar als phänomenale Handlungsketten initiierend gedacht werden kann, diese aber dennoch prinzipiell und immer auch naturkausal erklärbar bleiben, unabhängig von einer möglichen Verursachung aus Freiheit! Vgl. Kant, KrV A 536 / B 564 sowie Schönwälder-Kuntze (Fn. 39), 172 f. Kant selbst findet drastische Worte: „Weil es indessen noch viele gibt, welche diese Freiheit noch immer glauben nach empirischen Prinzipien […] erklären zu können, und sie nicht als transzendentales Prädikat der Kausalität eines Wesens, das zur Sinnenwelt gehört […] betrachten […] und hiermit das moralische Gesetz selbst […] aufheben: so wird es nötig sein, hier noch etwas […] wider dieses Blendwerk des E m p i r i s m u s in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit anzuführen.“ Kant, KpV, Bd. 5, 94. Zwar geht es hier um Freiheitsverleugner – dennoch zeigt das Zitat deutlich, dass der empirische und der gedachte Raum zweierlei Möglichkeitsräume darstellen. 45 „Der Wille mag auch frei sein, so kann dieses doch nur die intelligible Ursache unseres Wollens angehen. Denn, was die Phänomene der Äußerungen desselben, d. i. die Handlungen betrifft, so müssen wir, nach einer unverletzlichen Grundmaxime, ohne welche wir keine Vernunft im empirischen Gebrauche ausüben können, sie niemals anders als alle übrigen Erscheinungen der Natur, nämlich nach unwandelbaren Gesetzen derselben, erklären.“! (KrV A 798 / B 826); noch pointierter: „Diese [Vernunft] gibt daher auch Gesetze, welche Imperative, d. i. objektive G e s e t z e d e r F r e i h e i t sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht niemals geschieht, und sich darin von N a t u r g e s e t z e n, die nur von dem handeln, w a s g e s c h i e h t, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.“ KrV A 802 / B 830.
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Es sei in aller Kürze daran erinnert, dass Kant am Ende einer bereits seit Jahrhunderten andauernden Aufklärungsbewegung stand, durch die der Mensch selbst immer mehr an die Stelle kirchlicher Dogmen gerückt ist. In dieser Situation war er auf der Suche nach einer Begründung des geltenden Sittengesetzes, die sich auf nichts anderes als auf den Menschen beziehen sollte, d. h. keinen anderen Ursprung als den Menschen selbst haben sollte.46 Der moralische Kanon bzw. die ‚moralischen Regeln‘, die sowohl das Recht als auch ethische Gebote im engeren Sinne umfassen, sollte für alle Menschen gelten, auch wenn er nicht (mehr) damit begründet werden konnte, von Gott gegeben worden zu sein – und folglich auch nicht damit, dass dessen Missachtung geradewegs in die Hölle führe. In dieser Situation ging es darum, etwas zu finden, was jeden Menschen dazu verpflichtete, sich den Sittlichkeitsregeln zu unterwerfen, ohne dabei eine andere Begründungsinstanz in Anspruch zu nehmen als eben jene Menschen selbst. Kant löst diese Aufgabe, indem er dem Denken ein Vermögen zuschreibt, das er praktische oder freie Vernunft nennt, dessen ‚Existenz‘ er über das ‚moralische Gesetz‘, d. h. auch über das Gewissen, den gleichsam als partikularen Gerichtshof in jedem einzelnen Menschen, bewiesen sieht.47 Diese praktische Vernunft wird nun von Kant so frei vorgestellt, dass sie keinerlei situativen Restriktionen unterliegt, noch nicht einmal einer körperlichen Situiertheit. Der Grund dafür ist eben, primär einen Begründungsmodus zu finden, durch den ausnahmslos alle Menschen an das Sittengesetz gebunden werden können. Anders formuliert: Die sittlichen Regeln sollten so begründet werden, dass sie immer, für alle und überall gelten sollten: darin liegt die Bedeutung universeller Geltung. Universalität, die aus dem Menschen heraus ihre Geltung begründen können sollte und nicht aus ihrer göttlichen Herkunft, war also von Kant offensichtlich nur um den Preis situationsloser Unbedingtheit zu haben. Die einzige Bedingung, auf die diese Ethik in ihrer Begründung zurückgreift, ist die Vernunft als praktische Freiheit selbst! Kant bietet damit eine selbstreferentielle Begründungsfigur, in der sich das reine, vernünftige, freie Denken nur auf sich selbst bezieht und sich keine anderen Gründe für die Bestimmung seines Willens leistet als eben nur sich selbst.48 46 Neben den historischen Umständen ist es natürlich den Ergebnissen der theoretischen Philosophie geschuldet, dass Kant eine Begründung der Sittengesetze durch Gott verwerfen muss. Nachdem Kant Gott aus der Sphäre des Wissbaren ausgeschlossen hat, und ihm auch nicht wie der Freiheit eine denkbare Existenz als praktische Vernunft zuschreibt, muss er Gott konsequenter Weise dieser Begründungsfunktion entheben; vgl. Schönwälder-Kuntze (Fn. 39), 68 – 72. 47 „Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori w i s s e n, ohne sie jedoch einzusehen, weil sie die Bedingung*) des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen. *) Damit man hier nicht Inkonsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung naher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit b e w u ß t w e r d e n können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes; das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei.“ Kant, KpV, AA Bd. 5, 5 (Hervorhebung im Original).
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Zugleich bedeutet das aber zweitens, praktische Freiheit vollkommen souverän zu denken. So kann sich die Vernunft „eine eigene Ordnung nach [ihren eigenen] Ideen“49 machen, weil sie im Denken keinerlei Restriktionen unterliegt. Das bedeutet, dass auch die Souveränität um den Preis der Situationslosigkeit, die auf jegliche sozio-historische Bedingtheit oder Partikularität verzichtet, erkauft wird. Denn jede situative Bindung oder Bedingtheit unterwirft die Menschen – der Kantischen Theorie zufolge – den Naturgesetzen, weil sie das irdisch oder empirisch ‚verortet‘, d. h. in die kausalen Zusammenhänge der Natur einschreibt. Das reine Denken oder die praktische Vernunft als Freiheit wird hingegen vollständig abgekoppelt von jeglicher Situation konzipiert: sei sie historisch, sei sie sozial, sei sie körperlich. Reines praktisches Denken ist nur sich selbst bzw. der Realisation seiner selbst als Freiheit verpflichtet und unterliegt keinerlei anderen Gesetzmäßigkeiten außer den ‚Gesetzen der Freiheit‘. Durch diese strikte Trennung leistet Kant konzeptionell das, was er wollte: eine Begründung für sittliche Regeln und Gesetze zu finden, die allein aus den Menschen kommt und ihnen zugleich die Souveränität über die von ihnen gewollte soziale Ordnung verleihen konnte, die ihm nach Kant und der Aufklärung gebührte. So wird jede Bedingtheit aus der ethischen Begründung ausgeschlossen, weil sie der Universalitätsbegründung, aber auch der freien, weil unbedingten Souveränität des Subjekts im Wege steht. Dass wir das können, uns selbst ‚eine Ordnung machen‘, d. h. Regeln geben, die aus der allgemeinen und freien, weil unabhängigen Vernunft stammen, macht uns für Kant zu dem, was wir sind: zu freien Menschen, die sich den Regeln unterwerfen, die sie sich gegeben haben. Das meint dann auch Auto-nomie: Selbstgesetzgebung – eine Kompetenz, die nach Kant die Würde des Menschen begründet. Dass mit der Selbstgesetzgebung keinesfalls das je individuelle, konkrete Selbst gemeint ist, sondern das universelle Potential aller Menschen, sich die Regeln, nach denen sie leben wollen, selbst zu geben, impliziert für Kant, dass alle (anderen) Menschen gleichermaßen qua Vernunftpotential inkludiert sind: „Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen und auch […] gegen sich selbst, und dies zwar nicht um irgend eines praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils Willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt.“50 48 Für Kant gibt es nur einen richtigen Gebrauch der reinen Vernunft, und der sei praktisch; vgl. KrV A 797 / B 825. 49 Vollständig lautet das Zitat: „so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.“ KrV A 548 / B 576 (T.S.-K.). Vgl. auch KrV A 808 / B 836, wo es heißt, eine moralische Welt sei eine rein intelligible, die von allen Hindernissen absieht! 50 Kant, MS, AA Bd. 4: 434.
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Selbst im denkmöglichen Raum freier Vernunft handelt es sich um eine Souveränität, die zwar von der Empirie absieht, nicht aber von einer gleichsam pränumerischen Pluralität vernunftbegabter Teilhaber und -nehmer: von allen möglichen vernünftigen Wesen für alle möglichen vernünftigen Wesen, insofern sie eben mit einer freien Vernunft ausgestattete Wesen sind, lautet die Idee kantischer Selbstgesetzgebung. Es sind also rein konzeptionelle Gründe, die dazu geführt haben, dass Kants Ethik von einer Vernunft ausgeht, die nichts, aber auch gar nichts mit der Empirie zu tun haben darf, wenn es um die Begründung und die Form der sittlichen Regeln und Gesetze geht. Die praktische Vernunft ist absolut frei von störenden Einflüssen situativer Art und sie ist frei für das Entwerfen einer sozialen Welt nach Ideen, die nach Kant letztlich zur Glückseligkeit aller Menschen führen kann. Denn nach Kant könnten die Menschen aus sich selbst heraus für sich selbst eine soziale Ordnung schaffen, in der alles, was Leid und Elend verursacht, nicht mehr von den vernünftigen Menschen, sondern nur noch aus der Natur käme. Welche konkreten Handlungen dann ge- bzw. verboten sind, wenn es um das Begründungsmodell geht, ist zunächst absolut zweitrangig. Das zeigt auch die eben zitierte Textstelle: es geht nicht um andere praktische Bewegungsgründe und auch nicht um einen Vorteil!51 In Erinnerung dieser Zusammenhänge lässt sich genauer spezifizieren, welches Bedürfnis das Auftauchen des Verantwortungskonzeptes möglicherweise befriedigt haben könnte: Die Kantische Souveränität, die uns über unsere allgemeine Selbstgesetzgebungskompetenz Würde verleiht und dadurch zu Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes macht, die gerade daran hängt, ungebunden allein der denkmöglichen Idee der Freiheit verpflichtet zu sein und nicht etwa irgendwelchen situativen Notwendigkeiten zu unterliegen, scheint zunehmend so interpretiert worden zu sein, als sei damit ein durch und durch souveräner Mensch gemeint, der jederzeit vollkommen unabhängig, d. h. bindungs- und bedingungslos handelte. Die Theoriebildung hat aber offensichtlich auch das Bild eines allein aus sich heraus handelnden Täters generiert, der so frei gedacht wird, dass er immer und zu jeder Zeit auch hätte anders handeln können, und der – worauf es hier ankommt – scheinbar nur aus sich selbst als konkrete empirische Person, d. h. als seinen je eigenen, subjektiven Bedürfnissen folgend, vollkommen bindungslos sein Handeln bestimmen zu können glaubt. Und genau an diesem Punkt falsch verstandener Souveränität könnte sich das Bedürfnis nach einem moraltheoretischen Begriff eingestellt haben, der sowohl die vermeintlich vollkommen losgelöste ursächliche Souveränität des 51 So hat Kant bspw. zum Entsetzen Hegels keinerlei Problem damit, die Todesstrafe zu verteidigen, weil er angesichts der historischen Situation der Meinung war, der Mensch könne seine Würde selbstverständlich verwirken. Und das, obwohl die Gesetzgebungskompetenz die Würde des Menschen begründet und diese doch immer und prinzipiell jeder vernünftigen Natur zukommt: „Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ Kant (1785), „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. GMS, AA Bd. 4: 436.
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konkreten Einzelnen als auch die Verbundenheit mit den konkreten anderen und seiner Situation zu denken vermag.52 Aus dieser Perspektive erscheint ‚Verantwortung‘ als Ausgleich für die Verluste, die einem extrapolierenden Verständnis der Konzeption des universellen und souveränen Subjektes geschuldet sind. Eine umfassende ‚Verantwortung‘ rückt an die Stelle von empirischer, situativer Gebundenheit, weil die theoretische Rolle, die der praktischen Vernunft bei Kant als denkbare Orientierung zukommt, nicht anerkannt wird, und ihre situationslose Ungebundenheit stattdessen als ‚Emanzipation‘ und ‚Individualisierungsstreben‘ missverstanden werden.53 Je souveräner wir uns denken, umso verantwortlicher müssen wir uns denken, weil wir dadurch umso bindungs- und bedingungsloser erscheinen! Mit Foucault formuliert könnte man sagen, dass in scheinbarer Anlehnung an Kant ein wesentlicher Aspekt der das europäische Denken formierenden episteme darin besteht, vom konkreten Einzelnen als 52 Mir scheint, als gäbe es eine parallele Theorieentwicklung in der wirtschaftsethischen Theoriebildung, in der gerade die corporate social responsibility Konjunktur feiert. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte dieses ‚Begriffes‘ lehrt, dass der Begriff in den 30er Jahren des 20. Jhdts. zum ersten Mal in der US-amerikanischen Literatur auftaucht, vgl. Adolf Berle / Gardiner Means (1932), Modern Corporation and Private Property. New York: The MacMillan Company, 195017. Spätestens ab den 50er Jahren dient er vor allem einer Intention: Er soll die Manager und Firmenlenker an ihre Verbundenheit mit ihrer Umgebung und insbesondere mit der Gesellschaft erinnern: Corporate Social Responsibility „refers to the obligations of businessmen to pursue those policies, to make those decisions, or to follow those lines of action which are desiderable in terms of objectives and values of our society.“ Archie B. Caroll, „Corporate Social Responsibility: Evolution of a Definitional Construct“ in: Business & Society 38:3, 1999, 270. Evtl. ließe sich auch hier ein Zusammenhang mit einem empirisch virulent gewordenen Defizit konstatieren, das dadurch zustande gekommen ist, dass die Funktion des Managers nach der Umstellung auf AGs im letzten Viertel des 19. Jhdts. nicht mehr an den Besitz einer Firma gekoppelt war. Auch hier könnte CSR strategisch als Mittel zur Mangelkompensation gedient haben und bis heute dienen. Vgl. zu einem kritischen und dennoch konstruktiven Umgang mit CSR u. a. Ingo Pies (2001), „Können Unternehmen Verantwortung tragen? – Ein ökonomisches Gesprächsangebot an die philosophische Ethik“. In: Ders. Moral als Produktionsfaktor. Ordonomische Schriften zur Unternehmensethik. Berlin, wvb, 2009, 89 – 113, sowie Markus Beckmann, Ingo Pies, „Ordo-Responsibility – Conceptual Reflections towards a Semantic Innovation“ in: Jesús Cornill, Cristoph Lütge und Tatjana SchönwälderKuntze (ed.). Corporate Citizenship and Ethical Theory. Aldershot / London: Ashgate, 2008. 53 Dass dieses Verständnis von Souveränität auch in einem positiven Sinne Kräfte freisetzt, sei damit nicht geleugnet; die Frage ist, welchen Preis es kostet (und ob die positiven Kräfte nicht auch anders begründet und folglich frei gesetzt werden könnten). In diesem Sinne nennt Badie den politischen Souveränitätsbegriff einen, der zwei widersprüchliche Logiken bedient: „Vous savez que la souveraineté est un concept étrange qui renvoie en fait à deux logiques contradictoires. D’une part, une contestation récurrente qui mobilise tous ceux qui entendent s’émanciper d’une domination. […] Mais d’autre part, la souveraineté désigne aussi une forme absolue de puissance, celle-là même qui prétend n’être soumise à aucune autre et détenir une capacité d’autonomie absolue par rapport aux Etats rivaux. Cette lecture institutionnelle de la puissance est pour sa part largement fictive : nous sommes dans un monde où l?interdépendance entre les Etats est telle que le jeu de souverainetés apparaît tour à tour comme relevant de l’Histoire ou de l’illusion.“ Bertrand Badie, „Nous sommes entrés dans l’ère des relations intersociales“. In: Le monde. Online-Augabe 09. 07. 2010.
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konkretem Einzelnem auszugehen, weil die Kantische Unterscheidung zwischen souveränem Denken und bedingtem Handeln kaum Anschlüsse erzeugt hat. Ist das ‚souveräne Subjekt‘ aber theoretisch wie praktisch erst mal zum empirisch vorfindlichen, konkreten Einzelnen avanciert, der insbesondere sich selbst und seinen subjektiven Zwecke im Blick hat, wird es schwierig, ihm seine Bindungen und Bedingtheit wieder einzuschreiben. Anders gesagt: Wenn übersehen wird, dass das die gesellschaftliche Ordnung begründende Denken darauf beruht, das freie Denken seiner sozio-kulturell-historischen wie empirischen Verwobenheit zu entledigen, das auf diese Weise nur eine formale Orientierung leisten will und kann, scheinen Mittel und Wege gesucht zu werden, die Empirie doch wieder dort hinein zu theoretisieren. Oder nochmals anders: Wer die Handlungen des einzelnen Akteurs fälschlicherweise immer nur als souveränen Entscheidungen folgend, selbstreferentiell, isoliert und unbedingt betrachtet, muss sich nicht wundern, wenn die Bindungen zu den anderen, der Gesellschaft, der Umwelt außen vor bleiben und erst umständlich wieder über Begriffe wie ‚Verantwortung‘ ins Kalkül re-importiert werden müssen.54 Um es nochmals zu betonen: Für Kant stand die Bedingtheit jeglichen phänomenalen oder empirischen Handelns außer Frage, ja er hat es sogar so in die natürlichen Zusammenhänge eingebunden, dass es jederzeit aus seinen naturkausalen Ursachen erklärbar sein sollte. Die handlungsbestimmende Ursächlichkeit freien Denkens zu denken aber schien ihm unumgänglich, um die ‚sittlichen‘ Regeln des Miteinander auf dem Höhepunkt der Aufklärung auch ohne Bezug auf einen Gott universell begründen und formal bestimmen zu können. Das, was heute den Verantwortungsbegriff ausmacht, nämlich durch die Fokussierung auf den vereinzelten, verursachenden Täter dem konkreten Individuum nicht nur seine Handlungen, sondern auch mögliche Folgen zuzuschreiben, führt meines Erachtens dazu, den Blick dafür zu verlieren, dass niemand in dieser Form souverän ist, dass die Kantische Souveränität eine Orientierungsidee und keine empirisch-ontologische Größe ist und dass die Menge der konkreten Handlungsoptionen nicht unbedingt mit der Menge der denkmöglichen Handlungen kongruent ist.
54 So schreibt Heidbrink in seinem einleitenden Aufsatz „Verantwortung in der Zivilgesellschaft“ paradigmatisch, wenn auch in kritischer Absicht: „Das Verantwortungsprinzip spielt […] die Rolle eines Brückenschlages zwischen den unterschiedlichen Dimensionen der Zivilgesellschaft. […] Unter dem Leitbegriff der Verantwortung wird die politische Ebene demokratischer Selbstregulierung an die soziale Aufgabe der Wohlfahrtsproduktion zurückgebunden und in einer Kultur der Solidarität und Selbsthilfe verankert. Das Verantwortungsprinzip bildet gewissermaßen das einigende Band, das die zentrifugalen Kräfte pluralistischer Gesellschaften zusammenhält.“ Heidbrink / Hirsch (Fn. 1), 24.
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V. Folgerungen für die Theoriebildung Der hier zur Diskussion gestellte Befund lautet also: Die falsche Diagnose, das souveräne Aufklärungssubjekt als in seinen Handlungen prinzipiell empirisch Unbedingtes und Ungebundenes zu verstehen, hat zu der falschen Therapie geführt, dem empirischen Individuum für alles und alle eine in ihm selbst zu verortende ‚Verantwortung‘ anzudichten. Verantwortlich ist dann jeder und jede nicht nur – mit Kant – für die reinen Denkmöglichkeiten, sondern auch – über Kant hinaus – für alle Handlungen und Folgen, wodurch sie nachträglich wieder mit allen konkreten und möglichen anderen und ihrer Umwelt verbunden werden. Diesem therapeutischen Muster folgend lässt sich (fast) alles, was dem je einzelnen in seinem Leben widerfährt, seiner oder ihrer Ursächlichkeit und folglich Verantwortung zuschreiben: ‚Glück‘ oder ‚Unglück‘, ‚Gesundheit‘ oder ‚Krankheit‘, ‚Erfolg‘ oder ‚Misserfolg‘, ‚Schönheit‘ oder ‚Hässlichkeit‘, ‚Klugheit‘ oder ‚Dummheit‘ etc. – was auch immer diesen Wörter gerade für eine Bedeutung zugeschrieben wird. In so einem Denkraum ist kein Platz für Zufälle oder gesellschaftliche (Bedeutungs-)Normierungen, ebenso wenig wie bspw. im Denkraum des Prädeterminismus. An dieser Stelle lassen sich meines Erachtens zwei unterschiedliche Imperative für den theoriebildenden Diskurs ableiten, die eng miteinander verbunden sind: Erstens gilt es erneut darauf zu insistieren, dass es in der Kantischen Denktradition ethischer Couleur strikt zwischen zwei verschiedenen Ebenen oder Geltungsbereichen zu unterscheiden gilt. D. h. zwischen einem Begründungsdiskurs auf der einen Seite, der aus guten Gründen auf jegliche Empirie verzichtet, um die Universalität der Geltung und die Souveränität der praktischen, freien Vernunft einzulösen. Dem steht auf der anderen Seite ein Anwendungs- oder, wenn man lieber will, ein je konkreter Implementierungsdiskurs gegenüber, für den es unabdingbar ist, bei der Suche nach den konkreten sittlichen Regeln von den situativen empirischen Gegebenheiten auszugehen. Das Begründungsmodell Kantischer Provenienz will und kann hier nur Orientierung bieten in Bezug auf deren Form: Regeln müssen vor allem eins sein: konsistent; weil sie sich sonst selbst im Wege stehen. Den Implementierungsdiskurs, also die Frage nach den Umsetzungsmöglichkeiten wie -wahrscheinlichkeiten, vom Begründungsdiskurs zu trennen, ist schon aus pragmatischen Gründen sinnvoll, weil so das Denken offen wird für überraschende andere Lösungen als die bisher gedachten.55 55 So unterscheiden Beckmann und Pies zwischen Handlungs-, Steuerungs-, und Aufklärungsverantwortung: Handlungsverantwortung bezieht sich spieltheoretisch betrachtet auf das Befolgen der Regeln; Steuerungsverantwortung wird aufgeteilt in (1) die Pflicht, an den Spielregeln mitzuwirken, um dem Interaktionsdilemma geschuldete unerwünschte Effekte abzuhalten (= Ordnungsverantwortung auf der Metaebene von den Handlungen aus betrachtet), und (2) Aufklärungsverantwortung, die letztlich eine Diskursverantwortung ist und den Wissenschaftlern zukommt. Letztere wird auch als Meta-Meta-Verantwortung bezeichnet, weil hier die Weichen gelegt werden für das Theoriesetting und damit für die angebotenen Lösungen. Vgl. Markus Beckmann / Ingo Pies, „Steuerungs-, Ordnungs- und Aufklärungsverantwortung –
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Das impliziert aber, dass die aktuelle oder moderne Idee davon, was den Menschen eigentlich ausmacht, ebenfalls zu den gleichsam situativen Gegebenheiten gehört, von denen es auszugehen gilt. Hier ist, so könnte man sagen, die Theoriebildung praktisch wirksam geworden und hat gleichsam ontologisierende Effekte gezeitigt, die nun ihrerseits zu den Bedingungen weiteren Nachdenkens gezählt werden müssen.56 So betrachtet gibt es aber auch keine unabweislichen Gründe, die Kantischen Begründungsvorschläge nicht ihrerseits zu historisieren und sie ihrerseits als Effekte bestimmter theoretischer wie praktischer Bedingungen zu betrachten, oder sie wenigstens erneut zu analysieren. Unter dieser Perspektive kann dann gefragt werden, ob es evtl. sinnvoller und vor allem (denk-)möglich wäre, statt der unbedingten Begründungs- und Universalisierungssouveränität ein kompensierendes Verantwortungskonzept zur Seite zu stellen, lieber gleich das, was ‚Verantwortung‘ einholen möchte, in die Theorie der Subjektkonstitution zu integrieren. Dabei könnte so etwas wie die Idee einer bedingten Souveränität konzipiert werden, die die konkreten einzelnen immer schon in der Subjekt- oder Menschwerdung an die anderen und unsere Umwelt bindet, d. h. auch und insbesondere in Bezug auf die Entwicklung ihrer Souveränität. Anstöße, Teilaspekte und philosophische Versuche, die in diese Richtung gehen, gibt es ja auch seit geraumer Zeit in nicht geringer Anzahl: Das beginnt spätestens im Hegelschen Denken und bahnt sich über Marx, Nietzsche und Freud seinen Weg unter anderem in die französische Gegenwartsphilosophie über Sartre und Levinas zu Foucault und Derrida und von dort zu Butler u. a.57 Hier gilt es nun anzusetzen, auch indem evtl. dort aufzufindende Denkblockaden offen gelegt werden,58 und nach einem passenderen Modell zu suchen. Konzeptionelle Überlegungen zugunsten einer semantischen Innovation“. In: Ingo Pies (Fn. 52 [2009]), S. 192 – 222. 56 Die Vorstellung, Theorien als wirksam und (menschen-)bildend zu verstehen, ist konstitutiver Bestandteil jeder Pädagogik, die dem Wunsch des Prometheus nachkommt, ‚Menschen zu formen‘. Das ist hier nicht gemeint. Es geht gerade nicht um eine theoretische Formulierung oder Definition des ‚perfekten Menschen‘, in die sich die Individuen einzupassen hätten. Gerade im Gegenteil stehen hier die grundsätzlichen Zusammenhänge von Gesellschaftsformierung – und Selbstformierung(smöglichkeiten) im Fokus der Überlegungen. Wenn Theorie (gesellschafts-)formierende Effekte zeitigt, dann sollte das vielleicht auch unmittelbare Konsequenzen für den Umgang mit den eigenen Ideen haben – und sei es nur, dass deren Wirkungspotential mit in Betracht gezogen wird. In Bezug auf die Formierungswirkung auf Gesellschaften oder die Menschheit im Ganzen findet sie sich auch bei Kant exponiert an zwei Stellen: In Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) IaG, AA Bd. 8, 32 sowie im Mutmaßliche(n) Anfang der Menschheitsgeschichte (1786) MAM, AA Bd. 8: 123 und aktueller bei Judith Butler in dem 2002 publizierten Aufsatz „Die Frage nach der sozialen Veränderung“. In: Dies., (2004). „Die Macht der Geschlechternormen“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, 204 f. / 325 f. Koselleck nennt diejenigen Begriffe ‚Erfahrungsstiftungsbegriffe‘, die erst in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. auftauchen und die Erfahrung, die sie behaupten, erst auslösen; vgl. Koselleck (Fn. 14), 337 f. 57 Keinesfalls ist die Aufzählung erschöpfend und sie soll auch nicht suggerieren, es handle sich bei den hier genannten Philosophen des 20. Jhdts. um lauter gleichartige Theorieentwürfe. Dennoch bieten sie bei aller Differenz andere Konzepte als das atomare Subjektkonzept an, wenn es darum geht, Relationalität zwischen den Menschen zu denken.
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Der zweite Imperativ an die Theoriebildung lautet demnach: Setze einen anderen, adäquateren bzw. die empirische Bedingtheit menschlichen Daseins integrierenden Begründungsdiskurs in Gang, indem nach erweiterten Begründungsmodellen für ein allen erträgliches Miteinander gesucht wird! Ein angemesseneres Modell wäre dann eines, das die Bedeutung von ‚Verantwortung‘, die hier schlicht die situative Verbundenheit mit den anderen im weitesten Sinne meint, bereits als konstitutiv für die Souveränität betrachtet, und sie so zu einer Konzeption bedingter Souveränität ausarbeitet.59 Solange es aber keine anderen, akzeptablen Modelle gibt, nimm das, was (historisch geworden) bereits vorhanden ist, und versuche die vorgegebenen, funktionalen Unterscheidungen wirksam werden zu lassen. Das bedeutet, wie auch die konzeptionellen Einschränkungsversuche des Verantwortungsbegriffes zeigen: keine Aufladung des Verantwortungsbegriffes durch Rückbindung an einen extrapolierten Souveränitätsbegriff. Summary This essay focuses on the current boom of the notion of ‘responsibility’ and asks for what reasons it has emerged. Nowadays, we use the term if we want to express that a person causes an effect, as in the case of an action, or far-reaching repercussions, and is therefore responsible for these. Philosophers of the 20th century refer back to an apparent Kantian notion of responsibility – others refer back to Aristotle. Thus one can get the impression that one elaborate systematic meaning of that notion has been underlying all its theoretical and political uses for hundreds of years. By contrast, the following argument will take the position that ‘responsibility’ is a rather young name for something that had no philosophically systematic meaning until the second half of the 19th century. That is to say, it was not initially linked to fundamental modern notions like ‘subject’ or ‘freedom’. Even if one can find its semantics in the notion of ‘imputatio’, i.e. liability, as used by Kant and others, it will be outlined that he uses liability in a strictly juridical sense differing from the broad use of today. This will be shown in a short genealogy of the notion and the term. Then, the claim will be defended that there nevertheless exists a deep relation between the – pretended and inflated – modern idea of the sovereign subject and the 58 Hiermit meine ich bspw. das scheinbar unumgängliche Festhalten an der Idee eines ursprünglichen Antagonismus, wie er sich bei fast allen Denkern Hegelscher Tradition bis Judith Butler und Karl Homann findet. Es ist wirklich noch mal zu fragen, ob die Hobbessche Wolfmetaphorik, die sich freilich ihrerseits auf antike Vorläufer von Heraklit bis Thukydides berufen kann, als anthropologische, wenn auch erst gesellschaftlich induzierte Naturkonstante aufgefasst werden muss, oder ob sie nicht vielmehr ihrerseits bereits als Effekt – auch der Theoriebildung – betrachtet werden kann. 59 Ein weithin fast vergessener Autor, der ebenfalls in dieser Richtung gedacht hat, ist der Philosoph, Nationalökonom und Pädagoge Friedrich Wilhelm Förster (1869 – 1966). ‚Verantwortlichkeit‘ ist für Förster eine Reaktion des Einzelnen auf die sittlichen Normen und Ansprüche der Gesellschaft, durch die er zugleich allererst seine Freiheit erfährt / konstituiert, vgl. Friedrich Wilhelm Förster, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. Berlin, 1898.
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contemporary notion of responsibility, which has to compensate its – apparent – defects. This will be proved by pointing out the Kantian distinction between intelligible ideas and empirical problems, which theorists are advised to take seriously – at least as long as we have created another notion of sovereign subjectivity which depends on responsibility instead of constituting it.
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Günther, Klaus (2006): „Aufgaben- und Zurechnungsverantwortung“. In: Ludger Heidbrink / Alfred Hirsch (Hrsg.), Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt a. M.: Campus, 295 – 329. Hegel, G. W. F. (1801 ff.): Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. Heidbrink, Ludger (2003): Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns. Weilerswist: Velbrück. Heidbrink, Ludger / Hirsch, Alfred (Hrsg.) (2006): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt a. M.: Campus. Jonas, Hans (1979): Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006. Kant, Immanuel (1781 / 1787): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner, 1956 (zitiert nach der ersten und zweiten Ausgabe). – (1901 ff.): Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Bd. 1 – 22). Berlin (zitiert nach der üblichen Siglen der Kant-Studien). Koselleck, Reinhart (2006): Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Pies, Ingo (2009): Moral als Produktionsfaktor. Ordonomische Schriften zur Unternehmensethik. Berlin, wvb. Platner, Ernst (1776 – 82): Philosophische Aphorismen I. In: H. Gliwitzky / R. Lauth et al. (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte. Supplement zu den Nachgelassenen Schriften Bd. 4. (J. G. Fichte Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in 42 Bänden). Rapp, Christof (1995): „Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1 – 7)“. In: Otfried Höffe (Hrsg.), Nikomachische Ethik. Berlin: Akademie Verlag, 20062, 109 – 133. Schönwälder-Kuntze, Tatjana (2010): Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung und der Effekt Kantischer Moralphilosophie. Bielefeld: transcript. Schopenhauer, Arthur (1839): „Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften.“ In: Ders., Hauptwerke Bd. 3. Hrsg. von Paul Deussen, München: Piper, 1912, 429 – 746. Simmel, Georg (1893): Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. Weber, Max (1919): „Politik als Beruf“ in: MWS I / 17. Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, 25 – 88.
Muss die Willensfreiheit bewiesen werden, damit sich das Schuldprinzip rechtfertigen lässt? Héctor Wittwer*
I. Einleitung In Deutschland wird bekanntlich seit einigen Jahren eine intensive Debatte über Determinismus und Willensfreiheit geführt. Innerhalb dieser Diskussion, die vor allem von Neurowissenschaftlern angestoßen wurde, haben einige Autoren aufgrund des vermeintlich wissenschaftlich erwiesenen Determinismus die Forderung nach einer Reform des deutschen Strafrechts erhoben. Da die Voraussetzung, auf welcher das Schuldprinzip beruhe, nämlich die Möglichkeit, frei zwischen einer Straftat und ihrer Unterlassung wählen zu können, nicht erfüllt sei, müsse das Schuldprinzip aufgegeben und das Strafrecht auf eine andere ideelle Grundlage gestellt werden.1 Genannt werden in diesem Zusammenhang vornehmlich die Grundsätze der Prävention und der Therapie. In diesem Sinne schreibt etwa Gerhard Roth, einer der bekanntesten Vertreter des Neurodeterminismus: Der Verzicht auf die Annahme einer Willensfreiheit im Sinne des Anders-Handeln-Könnens bedeutet auch den Verzicht auf einen subjektiven Schuldbegriff. Menschen können als bewusste Individuen nichts für das, was sie tun, denn ihr bewusstes Handeln wird durch das emotionale Erfahrungsgedächtnis geleitet, das nicht dem Willen unterliegt. Entsprechend müssen sich Strafrecht und Strafvollzug anstelle einer moralischen Verdammung auf den Erziehungs- und Besserungsaspekt konzentrieren, sofern ein Straftäter besserbar erscheint, bzw. auf den Schutz der Gesellschaft vor ‚unverbesserlichen‘ Straftätern. Dies schließt nicht den Gedanken der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln und dessen Konsequenzen aus. Diese Verantwortlichkeit ist aber selbst ein Erziehungsprodukt und legt fest, was ein Mensch ohne Nachteile für sich und andere in der Gesellschaft tun darf und was nicht.2
Aufgrund dieser Herausforderung vonseiten der Hirnforschung werden das Problem der Willensfreiheit und die Berechtigung der Schuldzuschreibung in der Rechtswissenschaft, in der diese Probleme seit Langem erörtert wurden, erneut und diesmal * Für hilfreiche Kommentare danke ich Gunnar Duttge und Jan C. Joerden. 1 So äußert sich z. B. K.-J. Grün 2008: 29 ff. u. 51 f. Vgl. insgesamt die Beiträge in Grün / Friedman / Roth 2008. Vgl. auch Roth 2004b: 222. Weitere Nachweise bei Hillenkamp 2006: 92 ff. 2 Roth 2003: 554.
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mit besonderem Engagement diskutiert.3 Davon zeugt die Vielzahl der neueren juristischen Veröffentlichungen zu diesen Themen. Auch Philosophen reagieren gelegentlich auf die Forderung nach einer Reform des Strafrechts. Diese Reaktion fällt in der Regel gelassen aus, weil innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsphilosophie der Kompatibilismus die herrschende Meinung zum Problem der Willensfreiheit ist. Da Kompatibilisten der Auffassung sind, dass strikter Determinismus und Verantwortlichkeit miteinander vereinbar sind, gibt es ihrer Meinung nach keinen Grund, das Schuldprinzip aufzugeben – vorausgesetzt, dass dieses Prinzip richtig gedeutet wird. Aus Gründen, die im nächsten Abschnitt dargelegt werden, halte ich diese kompatibilistische Reaktion auf die Forderungen der Hirnforscher für nicht überzeugend. Wenn sich – wie ich hier in Übereinstimmung mit den sogenannten „harten Deterministen“ annehme – Determinismus und Willensfreiheit ausschließen, dann stellt sich die Frage, ob man am Schuldprinzip als Grundlage des deutschen Strafrechts festhalten darf, obwohl empirische Indizien dafür zu sprechen scheinen, dass wir nicht willensfrei sind. Angesichts der Tatsache, dass die Willensfreiheit empirisch nicht nachgewiesen werden kann, lässt sich diese Frage noch verschärfen: Darf man am Schuldprinzip festhalten, obwohl die Willensfreiheit empirisch nicht beweisbar ist? Meine These lautet, dass es dafür gute Gründe gibt. Für diese These werde ich in folgenden Schritten argumentieren: Zuerst werde ich die Rechtslage in Erinnerung rufen und darlegen, welche Rolle die Annahme der Willensfreiheit für das deutsche Strafrecht spielt (Abschn. II.). Im Anschluss daran werden der harte Determinismus und der Libertarismus im Hinblick auf ihre Implikationen für das Strafrecht miteinander verglichen (Abschn. III.). Danach werde ich in aller Kürze erläutern, warum sich weder die Annahme der Willensfreiheit noch der Determinismus empirisch bestätigen lassen (Abschn. IV.). Nach diesen Vorbereitungen werde ich ein Argument für die These entwickeln, dass wir am Schuldprinzip festhalten sollen, obwohl sich die Willensfreiheit empirisch nicht nachweisen lässt (Abschn. V.).
II. Die Bedeutung der Annahme der Willensfreiheit für das deutsche Strafrecht Die Fragen, ob sich das strafrechtliche Schuldprinzip nur rechtfertigen lässt, wenn man unterstellt, dass geistig gesunde Erwachsene in der Regel willensfrei sind, und was in diesem Fall unter „Willensfreiheit“ zu verstehen ist, werden in der Rechtswissenschaft kontrovers diskutiert. Ob es in Bezug auf diese Probleme innerhalb der Rechtswissenschaft eine herrschende Meinung gibt, muss hier nicht geklärt werden. Stattdessen sollen hier nur die vier Auffassungen erörtert werden, die für die Rechtfertigung des Schuldprinzips relevant sind: (A) die libertarische Deutung, (B) die deterministisch-kompatibilistische Interpretation, (C) die agnostisch-kompatibilistische Deutung und (D) die Lehre von der Maßgeblichkeit der subjektiven Freiheit. 3
Vgl. den Überblick bei Duttge 2009.
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(A) Die libertarische Deutung: Obwohl der Begriff „Willensfreiheit“ im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland nicht verwendet wird, vertritt man sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der Rechtsprechung die Auffassung, dass die Annahme der Willensfreiheit für das deutsche Strafrecht unverzichtbar ist. Diese Deutung lässt sich vor allem durch den Verweis auf § 46 StGB stützen. Dort heißt es: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ Da man im Allgemeinen davon ausgeht, dass ein Mensch nur dann Schuld auf sich geladen haben kann, wenn er sich frei für seine Straftat entschieden hat, wird unterstellt, dass Willensfreiheit eine notwendige Voraussetzung der rechtlichen Schuldfähigkeit ist.4 Eine bekannte Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass das deutsche Strafrecht keine Legaldefinitionen der Begriffe „Schuld“ und „Schuldfähigkeit“ enthält. Was der Gesetzgeber unter „Schuld“ und „Schuldfähigkeit“ versteht, lässt sich nur ex negativo aus den rechtlichen Regelungen zur „Schuldunfähigkeit“ erschließen. Einschlägig ist hier v. a. der Paragraph 20 des Strafgesetzbuches: § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.5
Schuldunfähig ist also, wer entweder außerstande ist, das Unrecht der Tat „einzusehen“, oder unfähig ist, der Einsicht in den Unrechtscharakter der Tat gemäß zu handeln. Daraus darf man im Umkehrschluss entnehmen, dass ein Mensch dann schuldfähig ist, wenn folgende zwei Bedingungen erfüllt sind: (i)
die kognitive Bedingung: Einsicht in den Unrechtscharakter der Tat
(ii) die volitionale Bedingung: Fähigkeit des Täters zum Zeitpunkt der Tat, aufgrund der Einsicht in den Unrechtscharakter einer Tat diese zu unterlassen. Interpretationsbedürftig ist nur die zweite Bedingung. Was bedeutet es, dass der Täter „bei Begehung der Tat“, also zum Tatzeitpunkt fähig gewesen sein muss, der Einsicht in den Unrechtscharakter der Tat gemäß zu handeln? Erstens wird hier offensichtlich vorausgesetzt, dass der Täter überhaupt in der Lage ist, sich bei seinen Entscheidungen von seinen Urteilen darüber, was rechtlich erlaubt ist, leiten zu lassen. Welches Verhalten ist nun der „Einsicht“ in „das Unrecht der Tat“ gemäß? – Offensichtlich nur die Unterlassung der Tat, deren Unrechtscharakter der Akteur erkannt hat. Zweitens muss daher ein schuldfähiger Täter zum Zeitpunkt der Tat fähig gewesen sein, 4 Vgl. z. B: Jescheck / Weigend 1996: 407 f. (die „Entscheidungsfreiheit“ sei „logische Voraussetzung der Schuld“); Heinrich 2005: 186; Hillenkamp 2005: 316; Gropp 2005: 264, Rn. 31. Bei Wessels / Beulke heißt es: „Grundlage des Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähigkeit des Menschen, sich frei und richtig zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Nur wenn diese Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben.“ (2007: 142, Rn. 397) 5 Strafgesetzbuch 2009: 18.
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die Tat zu unterlassen. Da aus der Wirklichkeit der begangenen Straftat deren Möglichkeit folgt und da der Täter die Tat auch hätte unterlassen können müssen, mussten zum Zeitpunkt der Tat des schuldfähigen Täters zwei Bedingungen erfüllt sein: (1) Es war dem Täter möglich, die Straftat, die er beging, zu vollziehen. (2) Es war dem Täter möglich, die Straftat, die er beging, zu unterlassen. Die Konjunktion von (i) und (ii) fällt unter das, was man in der Philosophie gewöhnlich als alternative Möglichkeiten bezeichnet. Bezogen auf die Straftat eines schuldfähigen Täters bedeutet dies: Bevor er die Tat beging, war noch nicht determiniert, ob er sie begehen würde oder nicht. Da es alternative Möglichkeiten nur dann gibt, wenn nicht alles, was in der Welt geschieht, durch die Vorgeschichte des Universums kausal festgelegt ist, beruht das Schuldprinzip somit auf der Annahme des Indeterminismus.6 Darüber hinaus setzt das Schuldprinzip offensichtlich den Inkompatibilismus voraus. Anders lässt sich die volitionale Bedingung der Schuldfähigkeit kaum deuten. Wer zum Zeitpunkt der Tat nicht anders handeln konnte, als er handelte, der ist gemäß § 20, weil er so handeln musste, wie er handelte, nicht schuldfähig. Das bedeutet, dass das Fehlen einer alternativen Handlungsmöglichkeit Schuld ausschließt. Diese Annahme entspricht der philosophischen These, dass niemand für seine Handlung verantwortlich sein kann, wenn diese Handlung unausbleiblich war. Die Interpretation von § 20 StGB führt somit zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der Kriterien für die Schuldunfähigkeit sowohl den Indeterminismus als auch den Inkompatibilismus vorausgesetzt hat. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber offensichtlich unterstellt hat, dass erwachsene, geistig gesunde Menschen in der Regel schuldfähig sind. Nur so lässt sich erklären, dass die Schuldfähigkeit vor Gericht nicht erwiesen werden muss. Nachgewiesen werden muss vielmehr nur in Ausnahmefällen, dass eine Täterin nicht schuldfähig war. Demnach liegt dem deutschen Strafrecht die Annahme zugrunde, dass erwachsene Menschen gewöhnlich willensfrei sind und daher für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können. Verknüpft man diese Feststellung mit dem Resultat der Interpretation von § 20, so ergibt sich Folgendes: (i)
Erwachsene, geistig gesunde Menschen sind in der Regel im Stande, sich aufgrund vernünftiger Überlegungen für oder gegen eine Handlung zu entscheiden (Willensfreiheit als Normalfall, fehlende Willensfreiheit als Ausnahme).
(ii) Straftaten sind durch die Vorgeschichte des Universums nicht kausal festgelegt (Indeterminismus). (iii) Wenn Täter in Ausnahmefällen nicht anders handeln konnten, als sie handelten, sind sie, weil sie so handeln mussten, wie sie handelten, nicht schuldfähig (Inkompatibilismus). 6 Krey zufolge ist das Bekenntnis des BGH zum Indeterminismus in dem bekannten Urteil von 1952 „für das Strafrecht eine blanke Selbstverständlichkeit“ (Krey 2008: 243, Rn. 650).
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Die Auffassung, dass es in der Welt alternative Möglichkeiten gibt, dass Menschen in der Regel willensfrei sind, weil sie sich aufgrund vernünftiger Überlegungen zum Handeln entschließen können, und dass es in einer determinierten Welt keine Willensfreiheit geben könnte, hat einen philosophischen Namen. Man nennt sie Libertarismus. Gemäß der hier vorgenommenen Analyse des § 20 beruht das deutsche Strafrecht im Allgemeinen und insbesondere das Schuldprinzip auf dem sogenannten Libertarismus.7 Diese Auffassung wird übrigens auch von einigen derjenigen Autoren vertreten, die sich für die Aufgabe oder Modifikation des Schuldprinzips einsetzen. Sie stimmen mit der hier vorgelegten Deutung des Schuldprinzips im deutschen Strafrecht darin überein, dass dieser Grundsatz auf der Annahme der Willensfreiheit im starken Sinne und somit auch auf dem Inkompatibilismus und dem Indeterminismus beruht.8 Da diese Voraussetzungen ihrer Meinung nach jedoch nicht erfüllt sind, fordern sie, dass das Schuldprinzip abgeschafft oder so modifiziert werden soll, dass es nicht mehr auf der Annahme des Anders-Entscheiden-Könnens beruht.9 (B) Die deterministisch-kompatibilistische Interpretation: Die hier vertretene Deutung des Schuldprinzips im deutschen Strafrecht ist nicht unumstritten. Einige Autoren sind der Auffassung, dass die rechtliche Schuldfähigkeit weder den Indeterminismus noch den Inkompatibilismus voraussetzt. Stattdessen lasse sich die Zuschreibung rechtlicher Schuld durch die Annahme rechtfertigen, dass die Rechtssubjekte in einem schwachen Sinne willensfrei sind. Dabei wird erstens angenommen, dass der Determinismus wahr ist, und zweitens ein Begriff der Willensfreiheit zugrunde gelegt, der mit dem Determinismus vereinbar ist.10 Diese kompatibilistische Rechtfertigung des Schuldprinzips lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: (P 1) Willensfreiheit im schwachen (aber nicht im starken) Sinne ist eine notwendige Bedingung der Schuldfähigkeit. (P 2) Willensfreiheit im schwachen Sinne und Determinismus sind miteinander vereinbar (Kompatibilismus). (K)
Also schließt der Determinismus Schuldfähigkeit nicht aus.
Diese Interpretation vermag aus zwei Gründen nicht zu überzeugen. Wie ich bereits gezeigt habe, lässt sich diese Deutung nicht durch den Wortlaut des § 20 stützen. Darüber hinaus ist sie, ganz unabhängig vom Gesetzestext, nicht stichhaltig. Die deterministisch-kompatibilistische Deutung des Schuldprinzips ist sachlich unhaltbar, weil sie mit dem allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz ultra posse So auch Keil 2009: 157 f. Vgl. etwa Merkel 2008: 112 f.; Roth 2009: 200f. u. 204. 9 Vgl. z. B. Roth 2003: 554; Singer 2004: 62 – 64; Spilgies 2005; Schiemann 2008: insbes. 141; Merkel / Roth 2008: 86 f.; Roth 2009: 200 – 204. 10 Vgl. z. B. Pauen / Roth 2008: 141 ff.; Pauen 2008: 241 ff.; Willaschek 2009a. 7 8
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nemo obligatur unvereinbar ist. Gemäß diesem Grundsatz kann niemand zu etwas verpflichtet sein, was für ihn unmöglich ist. Verknüpft man diesen Gedanken mit dem Determinismus, so wird deutlich, dass die Annahme der Willensfreiheit im schwachen Sinne keine zureichende Grundlage für die Rechtfertigung des Schuldprinzips abgibt: (P 1) Alles, was geschieht, geschieht notwendigerweise (Determinismus). Das impliziert: Alle menschlichen Entscheidungen erfolgen notwendigerweise; niemand kann jemals anders entscheiden, als er es tut. (P 2) Ultra posse nemo obligatur. (Über das Können hinaus ist niemand zu etwas verpflichtet.) (K)
Also kann niemand jemals verpflichtet sein, anders zu entscheiden, als er entscheidet.
Diese Schlussfolgerung kann nun als erste Prämisse eines weiteren Schlusses dienen: (P 1) Niemand kann jemals verpflichtet sein, anders zu entscheiden, als er entscheidet. (P 2) Wer niemals verpflichtet ist, anders zu entscheiden, als er es tut, der kann mit seinen Entscheidungen niemals gegen eine Pflicht verstoßen. (P 3) Der Verstoß gegen eine Pflicht ist eine notwendige Bedingung für das Vorliegen von Schuld. (K)
Also kann niemand jemals schuldig sein.
Dieser einfache Gedankengang macht deutlich, dass der Determinismus und die Annahme, dass Menschen schuldfähig sein können, nicht widerspruchsfrei miteinander vereinbar sind, weil der Grundsatz ultra posse nemo obligatur nicht sinnvollerweise bezweifelt werden kann.11 Schuldig kann ein Täter nur dann sein, wenn es ihm zur Tatzeit tatsächlich möglich war, die Tat, die er beging, zu unterlassen. Diese Schlussfolgerung lässt sich auch nicht durch die in der deutschen Gegenwartsphilosophie verbreitete sogenannte konditionale Analyse des Könnens umgehen. Ansgar Beckermann fasst diese Deutung des Könnens folgendermaßen zusammen: Jemand hat die Fähigkeit, X zu tun, wenn er X tun würde, falls er sich dazu entschiede, X zu tun. […] Eine Person kann genau dann X tun (hat genau dann die Fähigkeit, X zu tun), wenn sie X tut, falls sie sich entscheidet, X zu tun. Offenbar ist dieser Analyse zufolge Anders-Handeln-Können oder Sich-Anders-Entscheiden-Können mit dem Determinismus vereinbar. Denn auch wenn determiniert ist, was ich tue, weil determiniert ist, wie ich mich entscheide, kann es immer noch wahr sein, dass ich etwas anderes täte, wenn ich mich anders entschiede.12
11 Die Bedeutung dieses Grundsatzes für das Schuldprinzip betont auch Duttge (vgl. Duttge 2009: 38). 12 Beckermann 2008: 99.
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Beckermann erläutert diesen Gedanken an einem Beispiel: Auch wenn ich im Augenblick sitzen bleibe, kann ich von meinem Stuhl aufstehen und in den Garten gehen. […] Dass ich von meinem Stuhl aufstehen kann, d. h., dass ich die Fähigkeit habe, dies zu tun, ist von bestimmten Voraussetzungen abhängig. Ich hätte diese Fähigkeit nicht, wenn ich gelähmt oder an den Stuhl gefesselt wäre. Offenbar ist es aber für das Haben der Fähigkeit irrelevant, ob ich mich entscheide, sitzen zu bleiben. Auch wenn ich mich entscheide, sitzen zu bleiben, habe ich die Fähigkeit aufzustehen. Ja, selbst wenn ich dazu determiniert bin, mich zu entscheiden, sitzen zu bleiben, ändert das an meiner Fähigkeit nichts. In diesem Sinne kann jemand also auch dann die Fähigkeit besitzen, Y zu tun, wenn determiniert ist, dass er X tut, weil er dazu determiniert ist, sich für X zu entscheiden.13
Ein kurzer Gedankengang genügt, um zu zeigen, warum die konditionale Analyse des Könnens dem Schuldverständnis des deutschen Strafrechts nicht gerecht wird. Die Kompatibilisten, die sich dieser Analyse bedienen, um die Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit nachzuweisen, gehen von folgenden Voraussetzungen aus: (i)
Die Fähigkeit, so oder anders zu handeln, hat eine Person P dann, wenn sie zu einem Zeitpunkt tx zwar nicht anders gehandelt hat, aber anders gehandelt hätte, wenn sie zu tx anders entschieden hätte (konditionale Analyse des Könnens).
(ii) Zu tx konnte P nicht anders entscheiden (Determinismus). Nun schließen zweifellos, wie Beckermann betont, diese Prämissen nicht aus, dass P zu anderen Zeitpunkten anders gehandelt hätte, wenn sich P zu anderen Zeitpunkten dazu entschieden hätte. Wie sich bei der Interpretation von § 20 StGB bereits gezeigt hat, liegt jedoch gemäß dem deutschen Strafrecht Schuldfähigkeit nur dann vor, wenn der Täter „bei Begehung der Tat“ imstande war, die Tat zu unterlassen. Dass er zu anderen Zeitpunkten die Tat unterlassen hätte, wenn er zu diesen Zeitpunkten anders entschieden hätte, ist hingegen laut StGB keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen von Schuldfähigkeit. Dieser Einwand gegen die konditionale Deutung des Anders-handeln-Könnens lässt sich durch eine Paraphrasierung des Beckermann’schen Beispiels illustrieren: Auch wenn der Täter sich entscheidet, einen Mord zu begehen, hat er die Fähigkeit, den Mord zu unterlassen. Ja, selbst wenn er dazu determiniert ist, sich zu entscheiden, einen Mord zu begehen, ändert das an seiner Fähigkeit nichts. In diesem Sinne kann jemand also auch dann die Fähigkeit besitzen, Y zu tun, wenn determiniert ist, dass er X tut, weil er dazu determiniert ist, sich für X zu entscheiden.
Wenn man, wie Beckermann es tut, davon ausgeht, dass der Determinismus wahr ist, besagt diese Stelle Folgendes: Wer einen Mord beging, dessen Entscheidung zu morden war zum Zeitpunkt der Tat determiniert, d. h. er hätte sich zu diesem Zeit13 Ebd.: 100. – Ähnliche Argumente finden sich z. B. bei Pauen / Roth 2008: 51 f.; Willaschek 2009b: insbes. 143.
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punkt nicht anders entscheiden können. Dennoch besitzt er die Fähigkeit, sich für die Unterlassung eines Mordes zu entscheiden. Allerdings konnte diese Fähigkeit laut Voraussetzung nicht zum Zeitpunkt der Tat, sondern nur zu anderen Zeitpunkten realisiert werden. Übrigens stand gemäß der deterministischen Prämisse bereits seit jeher fest, zu welchen Zeitpunkten der Täter von dieser Fähigkeit Gebrauch machen wird. – Da aber der Gesetzgeber in § 20 StGB, wie bereits gezeigt, die Schuldfähigkeit an die Bedingung geknüpft hat, dass der Täter sich „bei Begehung der Tat“ gegen diese entscheiden konnte, wird die konditionale Analyse des Könnens der strafrechtlichen Auffassung der Schuldfähigkeit nicht gerecht. Aus diesem Grund stellt auch die konditionale Analyse des Könnens keine überzeugende Alternative zur libertaristischen Deutung des Schuldprinzips dar. Somit lässt sich dieser Grundsatz nicht ohne die Annahme der Willensfreiheit im starken Sinne, die ihrerseits den Indeterminismus voraussetzt, rechtfertigen. Daher scheitern alle deterministisch-kompatibilistischen Deutungen des Schuldprinzips daran, dass sie nicht erklären können, wie es in einer determinierten Welt überhaupt Schuld geben kann. (C) Die agnostisch-kompatibilistische Deutung: Im Unterschied zur soeben erörterten deterministisch-kompatibilistischen Lesart beruht diese Deutung des Schuldprinzips nicht auf der Annahme, dass der Determinismus wahr ist. Stattdessen gehen die Agnostiker davon aus, dass die Frage, ob Menschen frei entscheiden können, mit wissenschaftlichen Mitteln nicht beantwortet werden kann. Ihrer Meinung nach lassen sich weder der dem Libertarismus zugrunde liegende Indeterminismus noch der Determinismus empirisch verifizieren.14 Dieser Agnostizismus verbindet sich nun mit der Annahme, „dass das Strafrecht sich im philosophischen und naturwissenschaftlichen Streit um die Willensfreiheit einer Stellungnahme enthalten kann“15, weil an die Stelle der Annahme der Willensfreiheit im starken Sinne eine schwächere Voraussetzung tritt: die Zuschreibung der Fähigkeit zur „normativen Ansprechbarkeit“. Claus Roxin, der einflussreichste Vertreter dieser Auffassung, erläutert sie so: Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist Schuld zu verstehen als unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit. Damit ist gemeint, daß die Schuld eines Täters zu bejahen ist, wenn er bei der Tat seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm disponiert war, wenn ihm „Entscheidungsmöglichkeiten zu norm-orientiertem Verhalten“ psychisch (noch) zugänglich waren, wenn die (sei es freie, sei es determinierte) psychische Steuerungsmöglichkeit, die dem gesunden Erwachsenen in den meisten Situationen gegeben ist, im konkreten Fall vorhanden war.16 […] Wenn diese normative Ansprechbarkeit gegeben ist, gehen wir davon aus, ohne dies im Sinne der Willensfreiheit beweisen zu können und zu wollen, daß der Täter auch die Fähigkeit hat, sich normgemäß zu verhalten und sich schuldig macht, wenn er keine der ihm psychisch zugänglichen Verhaltensalternativen ergreift.17 14 15 16 17
Roxin 2006: 868, Rn. 37. Ebd.: 869, Rn. 39. Roxin 1997: 740, Rn. 36 (Hervorh. v. mir). Ebd.: 740 f., Rn. 37.
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Die Unterstellung der normativen Ansprechbarkeit besage nicht, „daß der Täter tatsächlich anders handeln konnte – was wir eben nicht wissen können –, sondern nur, daß er bei intakter Steuerungsfähigkeit und damit gegebener normativer Ansprechbarkeit als frei behandelt wird“18. Roxin zufolge kann diese Deutung der Freiheit sowohl vom Deterministen als auch vom Indeterministen akzeptiert werden.19 Roxin ist also der Meinung, dass zwei Fragen offengelassen werden können. Erstens könne und müsse aufgrund der empirischen Unentscheidbarkeit offenbleiben, ob es in der Welt alternative Möglichkeiten gibt. Wie sich später zeigen wird, stellt dieser Agnostizismus kein unüberwindbares Hindernis für die Rechtfertigung des Schuldprinzips dar. Anders verhält es sich mit dem zweiten Problem. Nach Roxin muss auch nicht entschieden werden, ob die „normative Ansprechbarkeit“ deterministisch oder indeterministisch verstanden werden muss. Er will beide Deutungen zulassen. Ausschlaggebend sei allein, dass dem Täter „Entscheidungsmöglichkeiten“ offenstanden, „seien es freie, seien es determinierte“ (siehe das obenstehende Zitat). Die normative Ansprechbarkeit soll also nicht nur mit dem Indeterminismus, sondern auch mit dem Determinismus vereinbar sein. Daher handelt es sich bei Roxins Auffassung nicht nur um eine agnostische, sondern auch um eine kompatibilistische Position. Nun ist leicht einzusehen, wie es unter der Vorrausetzung des Indeterminismus Entscheidungsmöglichkeiten geben kann, hingegen verdienen die sogenannten „determinierten Entscheidungsmöglichkeiten“ ihren Namen nicht. Indem Roxin die normative Ansprechbarkeit als Voraussetzung der Schuldfähigkeit so interpretiert, dass sie auch mit dem Determinismus kompatibel sein soll, setzt er sich daher dem bereits erörterten, auf dem Ultra-posse-Grundsatz beruhenden Einwand aus: Wenn niemand jemals anders entscheiden kann, als er es tut, dann kann niemand jemals schuldig werden. Daher ist auch die agnostisch-kompatibilistische Deutung des Schuldprinzips zu verwerfen. (D) Die Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit: Einer anderen Interpretation des Schuldprinzips zufolge wird die Schuldfähigkeit nicht durch die Willensfreiheit, sondern durch das Freiheitsbewusstsein konstituiert.20 Björn Burkhardt vertritt beispielsweise die Auffassung, dass der strafrechtliche Schuldvorwurf nicht auf der Annahme gründet, dass der Täter anders handeln konnte – diese Annahme sei aufgrund des Determinismus falsch –, sondern nur auf der Voraussetzung, dass der Täter der Überzeugung war, dass er anders handeln konnte.21 Den Kern dieser „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“22 bildet die These, „daß bei der Schuldfrage die Innenperspektive des handelnden Subjekts der maßgebliche Beurteilungsgegenstand ist. Es ist also grundsätzlich nicht entschei18 19 20 21 22
Ebd.: 741, Rn. 37. Vgl. ebd.; vgl. auch Roxin 1987: 369. Nachweise bei Streng 2003: 767 (Rn. 56), Fn. 129. Vgl. Burkhardt 2004. Burkhardt 2010: 11.
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dend, wie die Welt tatsächlich ist, sondern wie der zu beurteilende Täter sie gesehen hat“23: Persönliche Schuld setzt zwar nicht voraus, dass der Täter sich unter genau denselben Umständen anders hätte entscheiden können. Erforderlich ist aber, dass er seine Tat im Bewusstsein des Anderskönnens vollzogen hat. Mit anderen Worten: Nicht objektive, indeterministische, sondern subjektive, erlebte Freiheit ist maßgeblich, wenn es darum geht, ob eine rechtswidrige Tat persönlich vorwerfbar ist.24
Da dem Akteur seine eigenen zukünftigen Entscheidungen, obwohl alle Ereignisse in der Welt determiniert sind, notwendigerweise indeterminiert erscheinen,25 sei es gerechtfertigt, geistig gesunde Erwachsene in der Regel als schuldfähig anzusehen. Als weiterer Grund dafür wird angeführt, dass die Rechtswissenschaft an das „Selbstverständnis“ der von den Rechtsnormen Betroffenen anknüpfen müsse, damit das Recht die Menschen erreichen könne.26 Gegen diese Auffassung sprechen zwei Gründe. Erstens kann gemäß dem Ultraposse-Grundsatz jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt nur dann zu einer Handlung verpflichtet sein, wenn er die Handlung zu diesem Zeitpunkt vollziehen konnte. Bezogen auf das Schuldprinzip bedeutet dies, dass ein Täter nur dann zur Unterlassung der von ihm begangenen Tat verpflichtet sein konnte, wenn es ihm möglich war, diese Tat zu unterlassen. Nun geht aber Burkhardt von der deterministischen Prämisse aus, dass sich der Täter nicht anders verhalten konnte, als er es tat. Wenn der Täter nicht anders handeln konnte, als er handelte, dann konnte er gegen keine Pflicht verstoßen; und wenn er gegen keine Pflicht verstoßen konnte, dann konnte er auch nicht schuldig werden. Die Tatsache, dass er der Überzeugung war, dass er anders hätte entscheiden und handeln können, ist in diesem Zusammenhang völlig irrelevant. Darüber hinaus findet Burkhardts Interpretation keine Unterstützung im Wortlaut des § 20. Wenn es dem Gesetzgeber tatsächlich nicht darauf angekommen wäre, „wie die Welt tatsächlich ist, sondern wie der zu beurteilende Täter sie gesehen hat“, dann hätte er dies im Gesetzestext ohne Weiteres eindeutig zum Ausdruck bringen können. Der Paragraph hätte dann beispielsweise so lauten können: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer sich bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit für unfähig hält, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Die Tatsache, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der Schuldausschließungsgründe nicht auf die Überzeugungen, sondern auf die Fähigkeiten des Täters 23 24 25 26
Burkhardt 2007: 110. Ebd.: 109. Vgl. ebd.: 101 – 109. So Hirsch 2007: 321.
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Bezug genommen hat, spricht zweifellos gegen Burkhardts Lehre von der Maßgeblichkeit der subjektiven Freiheit. Es wäre ja ein Leichtes gewesen, deutlich zu machen, dass nicht das Bestehen alternativer Möglichkeiten, sondern die Überzeugung, dass es (in einer determinierten Welt) alternative Möglichkeiten gebe, eine notwendige Bedingung der Schuldfähigkeit sei. Somit kann festgehalten werden, dass Burkhardts Deutung erstens keine Erklärung dafür zu geben vermag, wie es in einer determinierten Welt überhaupt so etwas wie Schuld und Unschuld geben kann, und dass sie zweitens nicht mit dem Wortlaut des Gesetzestextes vereinbar ist. Ich fasse die Ergebnisse der vorstehenden Analysen zusammen: (i) Die libertarische Interpretation wird dem Wortlaut des § 20 am besten gerecht. (ii) Die libertarische Deutung ist mit dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur vereinbar. Sie kann überzeugend erklären, wie Schuld zustande kommen kann. (iii) Die deterministisch-kompatibilistische Interpretation und die agnostisch-kompatibilistsche Deutung sind mit dem Ultra-posse-Grundsatz unvereinbar. Daher können sie keine plausible Begründung dafür geben, dass Menschen sich im rechtlichen Sinne schuldig machen können. (iv) Die Lehre von der Maßgeblichkeit der subjektiven Freiheit widerspricht ebenfalls dem Ultra-posse-Prinzip. (v) Darüber hinaus spricht gegen sie, dass der Gesetzgeber, obwohl er den Vorrang der „subjektiven Freiheit“ leicht explizit zum Ausdruck hätte bringen können, stattdessen darauf Bezug genommen hat, „wie die Welt tatsächlich ist“. Bisher war nur davon die Rede, ob und gegebenenfalls welchen Begriff der Willensfreiheit das deutsche Strafrecht voraussetzt. Aus der hier vertretenen Auffassung, dass das Schuldprinzip auf dem Libertarismus beruht, lassen sich zwei konträre Schlussfolgerungen ziehen, je nachdem ob man vom Determinismus oder vom Indeterminismus ausgeht. Für harte Deterministen stellt sich die Lage so dar: Einerseits wird im Strafrecht vorausgesetzt, dass nicht alle Ereignisse in der Welt determiniert sind und dass Menschen daher anders entscheiden können, als sie es tun. Andererseits ist diese Voraussetzung in der Wirklichkeit nicht erfüllt. Daher muss das Schuldprinzip entweder aufgegeben oder so modifiziert werden, dass Schuld nicht die Möglichkeit des Anders-Entscheiden-Könnens voraussetzt. Dagegen besteht aus der Sicht der Libertarier kein Reformbedarf, weil die Voraussetzung, auf der das Schuldprinzip des deutschen Strafrechts beruht, tatsächlich erfüllt ist. Bevor ich mich der Frage zuwende, ob eine der beiden genannten Auffassungen, also der harte Determinismus und der Libertarismus, empirisch bestätigt werden kann, soll kurz dargelegt werden, welche Implikationen die beiden Positionen im Hinblick auf das Strafrecht haben.
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III. Implikationen des Determinismus und des Libertarismus im Hinblick auf das Strafrecht Im vorigen Abschnitt hat sich gezeigt, dass die deterministisch-kompatibilistische Interpretation und die agnostisch-kompatibilistische Deutung des Schuldprinzips daran scheitern, dass sie mit dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur unvereinbar sind. Aus diesem Grund soll die philosophische Auffassung, die sich aus der Verknüpfung von Determinismus und Kompatibilismus ergibt, der sogenannte weiche Determinismus, im Folgenden außer Acht gelassen werden. Von nun an soll, wenn vom Determinismus die Rede ist, immer der sogenannte harte Determinismus gemeint sein, d. h. die Kombination aus Determinismus und Inkompatibilismus. Harter Determinismus und Libertarismus haben im Hinblick auf das Strafrecht und das Schuldprinzip unterschiedliche Implikationen. Da diese Implikationen für meine spätere Argumentation von Bedeutung sein werden, sollen sie hier kurz dargestellt werden. Was zunächst den Determinismus betrifft, so handelt es sich bei ihm um eine universalistische These, d. h. um eine Aussage über alle Ereignisse in der Welt einschließlich aller menschlichen Entscheidungen und Handlungen. Wenn die Annahme, dass alle Ereignisse durch die Vorgeschichte des Universums kausal eindeutig festgelegt sind, richtig wäre, dann würde daraus folgen, dass niemand jemals anders entscheiden kann, als er es tut. Dies gälte dann nicht nur für Straftäter, sondern auch für Richter, Staatsanwälte und Vollzugsbeamte. Determiniert wären darüber hinaus auch alle Entscheidungen derjenigen Theoretiker, die sich für oder gegen die Abschaffung des Schuldprinzips aussprechen. Neurowissenschaftler, Rechtswissenschaftler und Philosophen wären genauso determiniert wie Diebe und Mörder. In Bezug auf die Willensfreiheit würden sich daher Straftäter nicht von Rechtspraktikern und Wissenschaftlern unterscheiden. Das müssen diejenigen berücksichtigen, die der Meinung sind, dass man aufgrund des Determinismus anders als bisher über Straftäter urteilen sollte. Aus der Allgemeinheit des Determinismus folgt nämlich, dass diese Theoretiker auch ihr eigenes Verhalten anders beurteilen sollten. Darüber hinaus hätte der harte Determinismus eine weitere bemerkenswerte Konsequenz: Wenn kein Mensch willensfrei wäre, dann wäre ausgeschlossen, dass einige Täter voll schuldfähig und andere nur in geringerem Maße schuldfähig sind. Aus diesem Grund ließe sich die rechtliche Unterscheidung zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit ebenso wenig aufrechterhalten wie die Regelungen zur verminderten Schuldfähigkeit, wenn der harte Determinismus wahr wäre. Kurz: Wenn alle menschlichen Entscheidungen und Handlungen determiniert wären, dann könnte gemäß dem Ultra-posse-Grundsatz niemand jemals schuldig sein. Damit entfiele die wichtige Unterscheidung zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit sowie die Annahme, dass die Schuldfähigkeit vermindert sein kann. Die Aufgabe der Lehre von der verminderten Schuldfähigkeit und von der Schuldunfähigkeit würde einen tiefgreifenden Einschnitt in unsere Rechtspraxis darstellen, weil
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die Annahme, dass einige Täter aufgrund schwerer psychischer Störungen gar nicht oder nicht im selben Maße wie andere für ihre Taten verantwortlich gemacht werden dürfen, eine wesentliche Voraussetzung unserer Rechtspraxis bildet. Beispielsweise gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass psychisch gestörte Menschen anders beurteilt und behandelt werden müssen als gesunde. – Damit soll nicht behauptet werden, dass sich eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von geistig Gesunden und Kranken vom Standpunkt des Determinismus aus überhaupt nicht rechtfertigen ließe. Wenn die Verhängung staatlicher Sanktionen gegen Gesetzesbrecher nur durch die Notwendigkeit der Gefahrenabwehr gerechtfertigt würde (de lege ferenda gesprochen), gäbe es sicherlich gute Gründe dafür, nicht oder nicht völlig zurechnungsfähige Menschen auf andere Weise zu sanktionieren als zurechnungsfähige. Hier kommt es jedoch darauf an, dass der Determinismus mit Bezug auf das geltende Recht mit dem ihm zugrunde liegenden Schuldprinzip (de lege lata gesprochen) eine solche Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen kann. Ganz anders verhält es sich mit dem Libertarismus. Dieser Auffassung zufolge ist der angenommene Indeterminismus keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen von Willensfreiheit. Vielmehr werde Willensfreiheit durch zwei notwendige Bedingungen konstituiert, die in ihrer Verbindung hinreichend sind: Erstens muss es in der Welt alternative Möglichkeiten geben. Zweitens muss ein Mensch imstande sein, sich aufgrund praktischer Überlegungen durch die Abwägung von Gründen für eine Handlung zu entscheiden und gemäß dieser Entscheidung zumindest einen Handlungsversuch zu unternehmen.27 Während die erste Bedingung dem Libertarismus zufolge immer erfüllt ist, können Menschen die Fähigkeit zur praktischen Überlegung und Entscheidung offensichtlich zeitweise oder endgültig verlieren. Deshalb sind gemäß dem Libertarismus nicht alle Menschen jederzeit willensfrei. Manche Menschen sind es – vorübergehend oder ständig – nicht. Aus diesem Grund bietet der Libertarismus eine plausible Erklärung dafür, dass manche Menschen schuldfähig und andere schuldunfähig sind. Darüber hinaus kann die Fähigkeit, sich mittels der Abwägung von Gründen zum Handeln zu entscheiden und dementsprechend zu handeln, in unterschiedlichem Maße ausgeprägt sein. Kinder und Jugendliche verfügen beispielsweise im Allgemeinen noch nicht in dem Maß über sie wie geistig gesunde Erwachsene. Auch bei Erwachsenen kann sie, z. B. aufgrund einer schweren seelischen Störung, stark beeinträchtigt sein. Somit lässt sich mithilfe des Libertarismus auch erklären, warum die Schuldfähigkeit vermindert sein kann. Der Vergleich der Implikationen, die der harte Determinismus und der Libertarismus im Hinblick auf das strafrechtliche Schuldprinzip haben, hat zu folgenden Ergebnissen geführt: (i) Da der harte Determinismus eine universalistische These ist, kann dieser Lehre zufolge kein Mensch jemals anders entscheiden und somit gemäß dem Ultra-posse-Grundsatz auch nicht schuldig werden. Dies gilt nicht nur für Straftäter, sondern auch für Wissenschaftler, die über die Berechtigung des Schuld27
Vgl. dazu Keil 2007: 119 u. 130.
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prinzips debattieren. (ii) Wenn der Determinismus wahr wäre, gäbe es keine sachliche Grundlage für die Unterscheidung zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit. (iii) Dem Determinismus zufolge kann es auch keine Grade der Schuld geben, sodass die rechtlichen Regelungen zur verminderten Schuldfähigkeit aufgegeben werden müssten. (iv) Der Libertarismus bietet eine plausible Erklärung dafür, dass nicht alle Menschen jederzeit willensfrei und somit auch nicht jederzeit schuldfähig sind. (v) Der Libertarismus kann auch erklären, warum die Schuldfähigkeit vermindert sein kann.
IV. Lässt sich der Streit zwischen Determinismus und Libertarismus empirisch entscheiden? Die Vertreter des harten Determinismus, die sich für die Abschaffung oder Modifikation des Schuldprinzips einsetzen, stimmen mit den Libertariern darin überein, dass das deutsche Strafrecht auf der Annahme der Willensfreiheit im starken Sinne und daher auch auf der Annahme des Indeterminismus beruht. Jene bestreiten, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, diese hingegen meinen, dass das Schuldprinzip auf realistischen Annahmen gründet. Lässt sich der Streit zwischen beiden Positionen empirisch entscheiden? – Aus verschiedenen Gründen ist dies nicht möglich: Weder der Determinismus noch der Libertarismus lassen sich empirisch verifizieren. Es handelt sich bei beiden Positionen um metaphysische Lehren. Im Folgenden soll in aller Kürze dargelegt werden, warum sich die beiden konträren Auffassungen der empirischen Verifizierbarkeit entziehen. Dabei müssen zwei Fragen unterschieden werden: Die ontologische Frage lautet, ob alle Ereignisse durch die Vorgeschichte des Universums kausal festgelegt sind. Sie darf nicht mit der epistemologischen Frage, ob sich alles, was geschieht, exakt vorhersagen lässt, verwechselt werden. Auch wenn niemand imstande sein sollte, die Zukunft vollständig vorherzusagen, könnten alle Ereignisse determiniert sein. Daher stellt der Verweis auf die begrenzte Vorhersagbarkeit bestimmter Prozesse keinen gültigen Einwand gegen den Determinismus dar. Aus der Tatsache, dass die Frage nach der Determiniertheit des Weltgeschehens sachlich unabhängig vom Problem der Vorhersagbarkeit ist, folgt allerdings nicht, dass zwischen beiden Themen keine Zusammenhänge bestehen. Im Gegenteil: Wie sich gleich zeigen wird, würde der einzige Weg zur empirischen Bestätigung des Determinismus über die Vorhersagbarkeit führen. Welche Gründe sprechen nun gegen die Möglichkeit, die These des Determinismus empirisch zu verifizieren? Diese Gründe ergeben sich daraus, dass es sich bei der These des Determinismus um eine Allaussage über alle Ereignisse in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft handelt. Zur Erinnerung: Der moderne Determinismus besagt, dass alles, was geschieht, durch einen beliebig ausgewählten Zustand des Universums und eine Menge strikter Verlaufsgesetze kausal eindeutig festgelegt ist. Dies ist eine Aussage darüber, was tatsächlich geschieht, genauer: über alles,
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was tatsächlich geschieht. Im Unterschied zum religiösen und fatalistischen Determinismus will der moderne, naturalistische Determinismus die Notwendigkeit des Weltgeschehens weder aus Gottes Willen noch aus dem Schicksal, sondern aus der Gültigkeit ausnahmsloser Naturgesetze herleiten. Dafür kommen allerdings nur strikte Verlaufsgesetze in Frage. Der Versuch, den Determinismus auf empirischem Wege zu bestätigen, stößt nun auf verschiedene Hindernisse28: (i) Zahlreiche Naturgesetze sind keine Verlaufsgesetze, sondern Koexistenzgesetze, Erhaltungssätze und Aussagen über Kräftegleichgewichte.29 (ii) Viele Naturgesetze lassen keine deterministische Interpretation zu.30 (iii) Physikalische Gesetze wie etwa das zweite Newton’sche Gesetz implizieren – im Unterschied zur Lehre des Determinismus – gar keine Aussagen darüber, was wirklich geschieht. Vielmehr lassen sich aus derartigen Gesetzen nur hypothetische Aussagen ableiten, z. B. ‚Wenn auf einen bestimmten Körper mit einer bestimmten Masse eine bestimmte Kraft einwirkt, dann wird seine Beschleunigung dem Quotienten aus Kraft und Masse entsprechen‘. Ob eine Kraft auf einen bestimmten Körper einwirken wird, wann dies gegebenenfalls geschehen wird und wie groß diese Kraft sein wird – darüber sagt das Newton’sche Gesetz nichts aus. (iv) In vielen Fällen beziehen sich Gesetzesaussagen nicht auf reale, sondern auf ideale, also nicht existierende Gegenstände. Daher gelten sie nur annäherungsweise für die Wirklichkeit. Beispielsweise beziehen sich alle Bewegungsgesetze auf Massepunkte. Ein Massepunkt ist eine theoretische Idealisierung, also ein abstrakter Gegenstand. In der Wirklichkeit kommen Massepunkte nicht vor. (v) In der Regel enthalten Gesetzesaussagen Ceteris-paribus-Klauseln, durch die von veränderlichen Bedingungen in der Wirklichkeit abstrahiert wird. (vi) Aufgrund der Überlagerung der vier physikalischen Grundkräfte sind alle Naturgesetze Ausnahmen und Störungen unterworfen. Angesichts dieser Schwierigkeiten lässt sich der Determinismus nicht auf dem Wege der naturwissenschaftlichen Forschung verifizieren. Die einzig denkbare Möglichkeit, seine Wahrheit zu erweisen, steht uns nicht zu Gebote: Um den Determinismus wirklich auf den Prüfstand zu stellen, müsste man das Universum zweimal in exakt denselben Zustand versetzen können. Solange man dies nicht kann, lässt sich das unterschiedliche Verhalten eines Systems bei der Wiederholung eines Experiments stets den minimal unterschiedlichen Anfangs- oder Randbedingungen zuschreiben.31
Anders, als seine Anhänger gern suggerieren, handelt es sich beim Determinismus somit weder um eine naturwissenschaftliche Theorie noch um eine Lehre, die durch Rekurs auf naturwissenschaftliche Theorien gestützt werden könnte, sondern vielmehr um eine metaphysische Doktrin. 28 29 30 31
Vgl. zum Folgenden die detaillierte Darstellung bei Keil 2007: 30 – 39. Vgl. ebd.: 32. Vgl. Falkenburg 2006: 48. Keil 2007: 34.
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Dies gilt auch für den lokalen Determinismus, insbesondere für den heute verbreiteten Neurodeterminismus, also für die These, dass alle Prozesse im menschlichen Hirn ausnahmslosen Gesetzen unterliegen und somit strikt determiniert sind. Da es in der Welt keine kausal isolierten Systeme gibt und ein empirischer Beweis des globalen Determinismus ausgeschlossen ist, kann diese These nicht durch den Rekurs auf den Laplace-Determinismus gestützt werden. Deshalb ließe sich der Neurodeterminismus nur dann bestätigen, wenn es gelänge, Gehirnprozesse und das ihnen entsprechende Verhalten vollständig und exakt vorherzusagen.32 Die bisher vorliegenden Ergebnisse der Hirnforschung sind als Begründung der neurodeterministischen These jedoch unzureichend.33 Auch der Libertarismus entzieht sich aus zwei Gründen prinzipiell einer empirischen Bestätigung: (i) Der Libertarismus beruht auf der Annahme des Indeterminismus. Die Behauptung, dass das Weltgeschehen nicht determiniert ist, kann auf empirischem Wege zwar plausibel gemacht, aber nicht bewiesen werden. Der Determinist kann zu Recht immer darauf verweisen, dass die beschränkte Vorhersagbarkeit bestimmter Ereignisse möglicherweise nur aus der Begrenztheit unseres Wissens resultiert. Zumindest können wir niemals mit Sicherheit ausschließen, dass Ereignisse, die nach unserem Wissensstand kontingent waren, notwendigerweise eintraten. (ii) Die Behauptung, dass ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt so oder anders entscheiden konnte oder kann, lässt sich empirisch deshalb nicht bestätigen, weil sich ein und dieselbe Situation nicht wiederholen lässt. Aus den genannten Gründen kann die Auseinandersetzung zwischen dem harten Determinismus und dem Libertarismus nicht empirisch entschieden werden. Vielmehr haben wir es hier mit einem metaphysischen Disput zu tun. Dieser Befund sollte nicht im pejorativen Sinne missverstanden werden. Die Metaphysik ist eine unverzichtbare Teildisziplin der Philosophie. Man kann allerdings nicht erwarten, dass diejenigen, die über die Beibehaltung, Abschaffung oder Modifikation des Schuldprinzips entscheiden müssen, abwarten, bis die metaphysische Debatte über die Willensfreiheit abgeschlossen sein wird. Sie müssen eine Entscheidung fällen, obwohl sich weder der Determinismus noch der Libertarismus auf empirischem Wege bestätigen lassen. Wie das Problem vernünftigerweise gelöst werden kann und soll, wird im nächsten Abschnitt dargelegt.
V. Warum wir am Schuldprinzip festhalten sollen, obwohl sich die Willensfreiheit nicht beweisen lässt Sowohl der Libertarismus als auch der Determinismus haben sich als metaphysische Lehren erwiesen, die sich auf empirischem Wege nicht verifizieren lassen. Mit Blick auf die philosophische Debatte, die in den vergangenen Jahren zwischen 32 33
Vgl. Urbaniok et al. 2006: 436. Vgl. ebd.
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den Vertretern des harten Determinismus und den Libertariern geführt worden ist, wird man sagen dürfen, dass eine Einigung zwischen ihnen nicht absehbar ist. Daher befinden wir uns in folgender Situation: Einerseits setzt das Schuldprinzip des deutschen Strafrechts den libertarischen Begriff der Willensfreiheit und somit auch den Indeterminismus voraus. Andererseits ist die Frage, ob der Determinismus oder der Indeterminismus wahr ist, empirisch unentscheidbar, und es besteht wenig Hoffnung, dass die metaphysische Debatte über diese Frage zu einem Konsens führen wird. Diese Lage ist insofern beunruhigend, als die Frage, ob der Gesetzgeber berechtigt ist, am Schuldprinzip festzuhalten, offensichtlich von kaum zu überschätzender praktischer Relevanz ist. Wenn es, wie einige Autoren behaupten, richtig wäre, dass man in einer determinierten Welt Straftätern keine Schuld zuschreiben dürfte, dann würde das deutsche Strafrecht auf einem Grundsatz beruhen, der sich nicht rechtfertigen ließe. Die Legitimität des Schuldprinzips scheint also durch die Lehre des Determinismus zumindest bedroht zu sein. – Wie lässt sich das Problem, ob das Schuldprinzip beibehalten werden darf, unter diesen Umständen vernünftigerweise lösen? Eine Lösung, die sowohl in der Strafrechtswissenschaft als auch in der Philosophie vorgeschlagen wurde, besteht darin, dass die Annahme der Willensfreiheit als Postulat oder als normative Setzung aufgefasst wird. Da nicht nur die Willensfreiheit, sondern auch der Determinismus unbeweisbar sei, stehe es dem Gesetzgeber frei, sich für die Option zu entscheiden, die mit unserem Selbstverständnis übereinstimmt. Burkhard Jähnke beantwortet beispielsweise die Frage, „ob die Unbeweisbarkeit von Willensfreiheit der Schuldstrafe den Boden entzieht und ob der Gesetzgeber mit ihrer Verankerung im geltenden Recht seine Grenzen überschritten hat“34, folgendermaßen: Davon kann jedoch keine Rede sein. Auch Determination ist nicht beweisbar. Wäre das non liquet für das Recht ein Hindernis, hätte sich der Gesetzgeber der Schaffung von Sanktionen überhaupt enthalten müssen. […] Der Gesetzgeber […] ist darin frei, eine von mehreren wissenschaftlich begründbaren Alternativen zu wählen ([…]). Das hat er mit der Entscheidung für die Sanktion „Strafe“ getan, so daß die Freiheitsfrage für das geltende Recht – rechtstheoretisch – nicht offen ist. Sie ist es nur insoweit, als ein exakter Beweis für die Übereinstimmung der gesetzgeberischen Entscheidung mit letzten anthropologischen Gegebenheiten nicht zu führen ist. In diesem Sinne ist Willensfreiheit ein praktisches Postulat, welches aber durch die tägliche Erfahrung eine Bestätigung findet, sich im sozialen Leben als Realität darstellt und wohlbegründet ist.35
Unter der Voraussetzung, dass sich die These des Determinismus prinzipiell nicht empirisch bestätigen lasse, sei für die Rechtfertigung des Schuldprinzips kein Beweis der Willensfreiheit nötig; stattdessen genüge die Feststellung, dass die Unmöglichkeit der Willensfreiheit unbeweisbar sei, als Begründung des Schuldgrundsatzes.36 34 35 36
Jähnke 2003: 21 (Rn. 12). Ebd.: 21 f. (Rn. 12). Ähnlich Hillenkamp 2006: 110. So argumentiert Mohr 2008: 82 – 84; ähnlich Hillenkamp 2005: 319.
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Reinhard Merkel hat dieser verbreiteten Auffassung entschieden widersprochen. Die Behauptung, dass es dem Gesetzgeber ohne Weiteres freistehe, anzunehmen, dass Menschen in der Regel so oder anders entscheiden und handeln können, verstehe sich durchaus nicht von selbst, vielmehr bedürfe sie „einer besonderen Legitimation“37. Da Merkel davon ausgeht, dass der Grundsatz in dubio pro reo nicht nur den Rechtsanwender, sondern auch den Gesetzgeber bindet, gelangt er zu dem Ergebnis, dass sich das Schuldprinzip in seiner überkommenen Form nicht rechtfertigen lässt.38 § 20 StGB werfe ein „ungelöstes Problem“ auf: Einerseits setzt er (implizit) nach seinem klaren Wortlaut bei schuldfähigen Tätern ein tatsächliches Andershandelnkönnen im Moment der Tatbegehung voraus. Eine solche Voraussetzung unterliegt zu wesentlichen Teilen dem in-dubio-Grundsatz. Andererseits ist gerade diese Voraussetzung nicht (und nie) zu beweisen. Dass sie deshalb sinnvoll nur als „normative Setzung“ gedeutet werden könne, ist sachlich richtig, löst aber das Problem mit dem Zweifelssatz nicht. Denn selbstverständlich kann sich auch der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Gebot des in-dubio-Satzes nicht einfach dadurch entziehen, dass er irgendeine tatsächliche Voraussetzung von Unrecht oder Schuld in Zweifelsfällen als „normative Setzung“ postuliert. Darf er das nicht, dann der wissenschaftliche Ausleger der Norm erst recht nicht.39
Auf den ersten Blick scheint Merkels Einwand stichhaltig zu sein: Wenn es auch nur zweifelhaft ist, ob Menschen jemals frei entscheiden können, dann darf gemäß dem Grundsatz in dubio pro reo der Gesetzgeber nicht ohne zusätzliche Begründung unterstellen, dass Straftäter in der Regel schuldfähig sind. Bei genauer Prüfung zeigt sich jedoch, dass Merkels Einwand gegen die Lehre von der Willensfreiheit als Postulat oder normativer Setzung verfehlt ist, und zwar deshalb, weil Merkel wie die Vertreter dieser Lehre von einer falschen Voraussetzung ausgeht. Diese falsche Voraussetzung ergibt sich daraus, dass aus dem Determinismus eine falsche Schlussfolgerung gezogen wird: Wenn alle Ereignisse in der Welt determiniert wären, dann – so schließen einige Autoren – dürften die staatlichen Organe Straftäter nicht für schuldig halten. In diesem Sinne schreibt etwa Georg Mohr, der sich für die Beibehaltung des Schuldprinzips ausspricht: „Wenn wir nicht frei sind, d ü r f e n wir keine Zurechnungspraxis akzeptieren.“40 Mit diesem Satz bringt er eine Überzeugung zum Ausdruck, die man sowohl bei Kritikern als auch bei Verteidigern des Schuldprinzips findet. Angeblich wäre es uns in einer determinierten Welt nicht erlaubt, Straftäter als willensfreie und daher für ihre Taten verantwortliche Wesen zu behandeln. Demnach wären wir verpflichtet, uns für die Abschaffung des Schuldgrundsatzes einzusetzen. Dies behaupten zum Beispiel Gerhard Roth, einer Merkel 2008: 117. Vgl. ebd.: 115 ff. u. 134. – Merkel zufolge ist es jedoch gerechtfertigt, im Interesse des Normenschutzes am Schuldgrundsatz in einer modifizierten Form festzuhalten (vgl. ebd.: 127 f.). 39 Ebd.: 134. 40 Mohr 2008: 83 (gesperrte Hervorh. von mir). 37 38
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der prominentesten Kritiker des Schuldgrundsatzes, und Grischa Merkel in einem von ihnen gemeinsam verfassten Aufsatz: Eine Alternative zum derzeitigen Strafrecht ist […] sowohl denkbar als auch legitimierbar. Allein seine Durchführbarkeit krankt derzeit vor allem am Mangel geeigneter Therapiemethoden. Solche zu entwickeln bedarf es deshalb einer weit größeren Anstrengung als bisher. Genau darin besteht die Verpflichtung einer Gesellschaft, die auf einen Schuldvorwurf verzichtet und selbst Verantwortung übernimmt.41
Somit stimmen die Verteidiger und die Kritiker des Schuldprinzips im Großen und Ganzen darin überein, dass aus der Wahrheit des Determinismus folgen würde, dass der Schuldgrundsatz aufgegeben werden sollte.42 Sie sind sich also darüber einig, dass der Determinismus normative Implikationen für das Strafrecht hat. Diese Schlussfolgerung ist aus zwei Gründen falsch. Erstens beruht sie auf einem „halbierten Determinismus“43, der zwar für Straftäter, nicht aber für nicht straffällige Theoretiker und Rechtspraktiker gelten soll. Zweitens übersehen die Autoren, die diesen Schluss ziehen, dass sich gemäß dem Ultra-posse-Grundsatz aus der Wahrheit des Determinismus überhaupt keine normative Aussage ableiten lässt. Zur Erläuterung: (i) In Abschnitt III. habe ich betont, dass es sich beim sogenannten harten Determinismus – im Unterschied zum Libertarismus, der nicht behauptet, dass alle Menschen jederzeit frei entscheiden können – um eine universalistische These handelt. Er besagt, dass die Entscheidungen aller Menschen jederzeit determiniert und daher nicht frei sind. Nun wird deutlich, worin die Relevanz dieser Feststellung für die Debatte über das Schuldprinzip besteht. Viele Autoren, die sich für die Beibehaltung oder die Abschaffung des Schuldgrundsatzes aussprechen, übersehen, dass sie selbst zum Gegenstandsbereich der deterministischen Lehre gehören. Sie teilen die Bevölkerung auf in die Minderheit der Straftäter und die Mehrheit der gesetzestreuen Bürger. Jenen sprechen sie die Willensfreiheit ab; sich selbst und viele andere Menschen halten sie jedoch für frei, vernünftig darüber zu entscheiden, wie mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip verfahren werden soll. Diese Aufteilung der Bevölkerung stellt einen theoretischen Fehler dar, weil die These des Determinismus eine Allaussage ist. Das gilt auch für den teilweise vertretenen lokalen Neurodeterminismus, denn dieser besagt, dass die Prozesse in allen menschlichen Gehirnen jederzeit determiniert sind, nicht nur diejenigen in den Gehirnen von Straftätern. (ii) Im Unterschied zu den bereits in Abschnitt II. kritisieren Kompatibilisten halten die Inkompatibilisten Determinismus und Willensfreiheit für miteinander unvereinbar. Aus diesem Grund fordern die einen die Abschaffung Merkel / Roth 2008: 87 (Hervorh. von mir). Hillenkamp, ein Verteidiger des Schuldprinzips, fasst seine Antwort auf die Frage, „was für das Strafrecht folgt, wenn wir die Thesen und Forderungen der Hirnforschung ernstnehmen“, so zusammen: „Es bliebe von unserem geltenden Strafrecht nur eine ‚jämmerliche Ruine‘ oder – wie Eduard Dreher es jedem deterministisch geprägten Recht attestiert hat – nicht mehr als ein ‚Trümmerhaufen‘ zurück.“ (Hillenkamp 2006: 101) Vgl. auch ders. 2005: 320. 43 Vgl. dazu Keil 2007: 20. 41 42
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oder Modifizierung des Schuldprinzips; und aus demselben Grund halten es die anderen für nötig, die Willensfreiheit zu postulieren oder normativ zu setzen. Verbindet man (i) und (ii), so ergibt sich, dass, wenn der Determinismus wahr wäre, nicht nur Straftäter, sondern kein Mensch jemals frei entscheiden könnte. Dies gälte ebenso für die Theoretiker, die sich für oder gegen das Schuldprinzip aussprechen, wie für die Mitglieder der Legislative und die Gesellschaft, an die jene appellieren. Gemäß dem bereits in Abschnitt II. dargestellten Schluss würde laut dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur folgen, dass nicht nur Kriminelle niemals zu etwas verpflichtet sein können, sondern niemand. Wenn aber niemand jemals verpflichtet sein kann, anders zu entscheiden, dann kann es keine Pflicht des Gesetzgebers geben – weder die Pflicht, am Schuldprinzip festzuhalten, noch diejenige, es abzuschaffen oder zu modifizieren. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert. Man hat bereits darauf hingewiesen, dass sich aus dem Determinismus keine normativen Schlussfolgerungen ableiten lassen.44 Es wird jedoch selten bemerkt, dass der Determinismus eine wichtige meta-ethische Implikation hat: Wenn alle Ereignisse determiniert wären, dann könnte es überhaupt keine Verpflichtungen geben. Somit könnte niemand jemals gegen eine Pflicht verstoßen oder sie befolgen, denn die Befolgung setzt die Möglichkeit voraus, von ihr abzuweichen. Und daher könnte niemand jemals schuldig oder unschuldig sein. Mit diesen Überlegungen soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Folgen des Determinismus für die Rechtspraxis harmlos wären. Im Gegenteil: Die Einsicht, dass alle unsere Entscheidungen und Handlungen determiniert wären, könnte so weit reichende Implikationen haben, dass es uns aufgrund unserer Konstitution unmöglich wäre, unsere soziale Praxis dieser neuen Einsicht anzupassen.45 Dies soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Stattdessen geht es mir darum, einen weit verbreiteten Fehlschluss aufzudecken: die Annahme, dass aus der Wahrheit des Determinismus folge, dass es den staatlichen Organen moralisch „verboten“ wäre, Gesetzesbrecher für schuldig zu halten und zu bestrafen. Dieser Fehlschluss wird u. a. dadurch ermöglicht, dass nicht zwischen der inneren und der äußeren Verneinung unterschieden wird. Die hier kritisierte Auffassung lautet: (i) Wenn alle Entscheidungen determiniert wären, dann wäre es dem Staat nicht erlaubt, d. h. verboten, Gesetzesbrecher zu bestrafen. Hier wird das Prädikat „erlaubt“ im Sinne der inneren Verneinung abgesprochen. Tatsächlich folgt jedoch etwas anderes: (ii) Wenn alle Entscheidungen determiniert wären, dann wäre es nicht der Fall, dass es dem Staat erlaubt wäre, Gesetzesbrecher zu bestrafen. Da hier die äußere Verneinung vorliegt, ist dieser Satz vereinbar mit (iii): Wenn alle Entscheidungen determiniert wären, wäre es dem Staat nicht verboten, Gesetzesbrecher zu bestrafen. Der hier kritisierte Irrtum besteht also in der Annahme, dass es, wenn der Determinismus wahr wäre, den staatlichen Organen moralisch „verboten“ wäre, Strafen zu verhängen. Zwar wäre der Staat dann tatsächlich nicht berechtigt, Täter zu be44 45
Vgl. z. B. Keil 2007: 20 – 22. Vgl. Strawson 1978: 223 f.
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strafen. Übersehen wird jedoch häufig, dass ihm dies in diesem Fall auch nicht verboten wäre, weil es in einer determinierten Welt keinen logischen Raum für gerechtfertigte Verbote und Gebote gäbe. Aus ähnlichen Überlegungen wie den hier angestellten haben manche Autoren die übereilte Schlussfolgerung gezogen, dass der Determinismus selbstwidersprüchlich sei oder dass er sich selbst widerlege.46 Dieser Einwand trifft nicht zu, denn aus der Tatsache, dass sich einige Deterministen selbstwidersprüchlich verhalten, folgt nicht, dass der Determinismus selbstwidersprüchlich ist. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen Lehren bzw. Theorien auf der einen Seite und den Menschen, die sie vertreten, auf der anderen Seite unverzichtbar. Der Eindruck, dass der Determinismus sich selbst widerlege, entsteht, weil einige Vertreter des harten Determinismus zugleich zwei miteinander inkompatible Überzeugungen haben: (A) Alles, was geschieht, ist kausal determiniert. (B) Es ist sinnvoll, normative Anforderungen an Menschen zu stellen, z. B die Forderung, das Strafrecht zu reformieren, weil es keine Willensfreiheit gibt. Die Vertreter des harten Determinismus gehen davon aus, dass die von ihnen angenommene kausale Festgelegtheit aller Ereignisse impliziert, dass Menschen niemals Entscheidungsspielraum haben. Daher impliziert (A) in Verbindung mit dem Ultra-posse-Grundsatz, dass niemand jemals zu etwas verpflichtet sein kann. (B) setzt hingegen voraus, dass es Entscheidungsspielräume und Verpflichtungen geben kann. Deshalb widersprechen sich (A) und (B). – So richtig diese Beobachtung ist, so falsch ist es, aus ihr den Schluss zu ziehen, dass der Determinismus damit widerlegt sei. Gezeigt ist nämlich nur, dass (A) und (B) nicht zugleich wahr sein können. Dies schließt nicht aus, dass entweder nur (A) oder nur (B) wahr ist. Demnach folgt aus dem Hinweis darauf, dass die beiden Aussagen einander widersprechen, keineswegs, dass der Determinismus falsch ist. Der Einwand der Selbstwidersprüchlichkeit des Determinismus verfehlt sein Ziel deshalb, weil nicht zwischen dem an Personen gerichteten und dem auf Theorien bezogenen Vorwurf der Widersprüchlichkeit unterschieden wird. Zweifellos verhalten sich einige Vertreter des harten Determinismus selbstwidersprüchlich, der Determinismus ist jedoch in sich widerspruchsfrei. Zwar ist der Einwand der angeblichen Selbstwiderlegung des Determinismus falsch, er enthält aber ein Körnchen Wahrheit: Einige harte Deterministen stellen miteinander unvereinbare Aussagen auf. Einerseits behaupten sie, dass niemand jemals anders denken, entscheiden und handeln kann, als er es tut. Das gelte auch für theoretische Überlegungen und Argumentationen: „Welche Argumente und Gegenargumente uns in welchem Augenblick in den Sinn kommen, kann nicht von uns willentlich kontrolliert werden.“47 Andererseits fordern sie vom Gesetzgeber oder der Gesellschaft, sich anders zu verhalten, als sie es tun. Ein besonders aussagekräf46 Beispiele für diesen Einwand und Kritik an ihm bei Merkel 2008: 36 ff. Vgl. zur Kritik am Einwand der Selbstwidersprüchlichkeit auch Smith Churchland 1981. 47 Roth 2004a: 21.
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tiges Beispiel ist der Untertitel eines bekannten Artikels von Wolf Singer: „Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden“48. Wenn wir nicht frei sind, dann steht uns der Entscheidungsspielraum, den Singer bei seiner Aufforderung unterstellen muss, nicht zu Gebote; wenn wir diesen Spielraum jedoch haben, d. h. wenn wir frei sind, dann gibt es keinen guten Grund, aufzuhören, von Freiheit zu reden. Je nachdem, ob der Determinismus oder der Indeterminismus im Recht ist, befinden wir uns also in einer von zwei möglichen Situationen. Entweder sind tatsächlich alle menschlichen Entscheidungen durch die Vorgeschichte des Universums kausal determiniert. In diesem Falle wären alle normativen Forderungen gemäß dem Ultraposse-Grundsatz gegenstandslos, weil sie auf einer nicht erfüllten Voraussetzung beruhten. Dann wären sowohl der Appell, das Strafrecht zu reformieren, als auch die Forderung, am Schuldprinzip festzuhalten, sachlich ungerechtfertigt. – Oder wir verfügen über den Entscheidungsspielraum, der bei den genannten Forderungen vorausgesetzt wird. In diesem Falle wären aber nicht nur wir Theoretiker, sondern auch alle Straftäter, die zum Zeitpunkt der Tat nicht seelisch oder geistig gestört sind, willensfrei. Dies wäre ein normativer Grund für die Beibehaltung des Schuldprinzips. Aufgrund der im vorigen Abschnitt dargestellten Schwierigkeiten können wir zumindest auf empirischem Wege nicht herausfinden, in welcher der beiden Situationen wir uns befinden. Ist es dennoch möglich, eine vernünftig begründete Entscheidung zwischen der Beibehaltung und der Abschaffung oder Modifikation des Schuldgrundsatzes zu treffen? Meine These lautet, dass dies sehr wohl möglich ist. Bei der Entscheidung, die hier zu treffen ist, handelt es sich um eine Entscheidung unter doppelter Ungewissheit. Dies lässt sich durch die Beschreibung der Entscheidungssituation, in der wir uns befinden, verdeutlichen. Zur Auswahl stehen zwei Entscheidungsoptionen: Entweder wir halten am Schuldprinzip fest, oder wir schaffen es ab bzw. modifizieren es so, dass es die Möglichkeit, so oder anders zu entscheiden, nicht mehr voraussetzt. Welche Folgen jede der beiden möglichen Optionen zeitigen würde, hängt davon ab, ob unsere Entscheidung in einer determinierten oder in einer indeterminierten Welt umgesetzt würde (erste Ungewissheit). Aus der Kombination der beiden Optionen mit den beiden Rahmenbedingungen ergeben sich vier mögliche Konsequenzen: (i a) Wenn wir in einer determinierten Welt am Schuldprinzip festhalten, dann können gemäß dem Ultra-posse-Grundsatz die Straftäter nichts für ihre Straftaten und die staatlichen Organe nichts dafür, dass sie die Straftäter bestrafen. Niemand hat richtig oder falsch entschieden. (ii a) Wenn wir in einer determinierten Welt das Schuldprinzip abschaffen, dann können Straftäter nichts für ihre Taten und die Mitglieder der staatlichen Organe nichts dafür, dass sie Straftäter nicht bestrafen. Niemand hat richtig oder falsch entschieden. (i b) Wenn wir in einer nicht determinierten Welt am Schuldprinzip festhalten, dann werden Schuldige zu Recht bestraft, und wir haben richtig entschieden, weil wir uns dafür eingesetzt haben, dass Schuldige bestraft werden. 48
Singer 2004: 30.
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(ii b) Wenn wir uns in einer nicht determinierten Welt für die Abschaffung des Schuldprinzips entscheiden, dann werden Schuldige zu Unrecht nicht bestraft, und wir haben falsch entschieden, weil wir uns dafür eingesetzt haben, dass Schuldige nicht bestraft werden.
Die Tabelle fasst die Konsequenzen, die sich aus der Kombination der beiden Optionen und der beiden Rahmenbedingungen ergeben, zusammen: Rahmenbedingungen (a) Alle menschlichen Entscheidungen sind kausal determiniert. Daher sind unsere Entscheidungen niemals frei. Entscheidungsoptionen
(b) Menschliche Entscheidungen sind in der Regel nicht kausal determiniert. Deshalb sind wir gewöhnlich frei.
(i) Festhalten am Schuldprinzip
(i a) Die Straftäter können nichts für ihre Straftaten, und wir können nichts dafür, dass wir sie für diese Taten bestrafen. Niemand hat richtig oder falsch entschieden.
(i b) Schuldige werden zu Recht bestraft, und wir Theoretiker haben richtig entschieden, weil wir uns dafür eingesetzt haben, dass Schuldige bestraft werden.
(ii) Abschaffung des Schuldprinzips oder Modifikation desselben im Sinne des Kompatibilismus
(ii a) Die Straftäter können nichts für ihre Straftaten, und wir können nichts dafür, dass wir sie für diese Taten nicht bestrafen. Niemand hat richtig oder falsch entschieden.
(ii b) Schuldige werden zu Unrecht nicht bestraft, und wir Theoretiker haben falsch entschieden, weil wir uns dafür eingesetzt haben, dass Schuldige nicht bestraft werden.
Um eine vernünftige Entscheidung zwischen den Optionen (i) und (ii) zu fällen, müssen die Konsequenzen, die sie unter den Bedingungen (a) und (b) zeitigen würden, miteinander verglichen werden. Bei diesem Vergleich ergibt sich Folgendes. In Bezug auf die Möglichkeit, dass unsere Entscheidung in einer determinierten Welt umgesetzt wird, gibt es zwischen den Konsequenzen (i a) und (ii a) keinen wesentlichen Unterschied. Ob wir das Schuldprinzip nun beibehalten oder abschaffen, in beiden Fällen könnte niemand richtig oder falsch entscheiden (linke Spalte). Da sich (i a) und (ii a) nicht wesentlich unterscheiden, gibt uns die linke Spalte keinen Anhaltspunkt dafür, wie wir vernünftigerweise entscheiden sollen. Anders verhält sich mit der zweiten Möglichkeit. Falls unsere Entscheidung in einer nicht determinierten Welt umgesetzt wird, ergeben sich zwei verschiedene Ergebnisse. Wenn wir am Schuldprinzip festhalten, dann werden Schuldige zu Recht bestraft, und wir haben die richtige Entscheidung getroffen (i b). Schaffen wir es hingegen ab, dann werden Schuldige zu Unrecht nicht bestraft, und wir haben die falsche Entscheidung getroffen (ii b). Zu beachten ist hier vor allem ein wichtiger Unterschied: In einer nicht determinierten Welt bestünde die Gefahr, dass Schuldige zu Unrecht nicht bestraft würden. In einer determinierten Welt könnte hingegen nicht die Gefahr bestehen, dass Unschuldige zu Unrecht bestraft würden, weil in dieser Welt überhaupt nichts zu Recht oder zu Unrecht geschehen könnte. (Dies übersehen Autoren wie Gerhard
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Roth und Georg Mohr, die meinen, dass es in einer determinierten Welt moralisch verboten wäre, Straftäter für schuldig zu halten und sie deshalb zu bestrafen.) Es ist offensichtlich, dass wir uns unter diesen Umständen für die Option (i) entscheiden sollen. Wenn wir am Schuldprinzip festhalten, dann machen wir entweder nichts falsch oder wir treffen die richtige Entscheidung. Wenn wir es abschaffen, dann machen wir entweder nichts falsch oder wir treffen die falsche Entscheidung. Da (ii) mit einem schwerwiegenden Risiko verbunden ist, (i) hingegen nicht, sollten wir uns vernünftigerweise für (i) entscheiden. Bisher wurde nur eine Ungewissheit berücksichtigt, nämlich diejenige über die Bedingungen, unter denen unsere Entscheidung in die Tat umgesetzt werden wird. Die zweite Ungewissheit betrifft die Frage, unter welcher Bedingung diese Entscheidung selbst zustande kommt. Auch in diesem Fall können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob unsere Entscheidung für oder gegen die Beibehaltung des Schuldprinzips kausal determiniert ist oder ob wir sie aus freien Stücken anhand vernünftiger Überlegungen treffen. Dieses Problem lässt sich scheinbar lösen: Gemäß der Lehre von der doxastischen oder epistemischen Indeterminiertheit der Zukunft kann niemand jemals mit Gewissheit vorhersagen, wie seine eigenen Entscheidungen ausfallen werden, denn, wenn er über das entsprechende Wissen über seine kausal determinierten zukünftigen Entscheidungen verfügte, dann könnte er dieses Wissen in seine Entscheidung einfließen lassen. Aus dieser auf einen einflussreichen Aufsatz von MacKay49 zurückgehenden Überlegung ziehen einige Autoren den Schluss, dass möglicherweise zwar alle Ereignisse in der Welt determiniert sind, dass aber kein Akteur seine eigene Entscheidungen im Voraus kennen kann. Dieses Wissen kann nur ein anderer haben. Deshalb sei jeder Handelnde notwendigerweise davon überzeugt, dass seine Entschlüsse nicht kausal festgelegt sind.50 Anders ausgedrückt: Auch in einer determinierten Welt müssten wir uns selbst für frei halten. – Wenn man diesen Gedankengang auf die Frage bezieht, ob unsere Entscheidung für oder gegen das Schuldprinzip frei oder determiniert ist, so ergibt sich, dass wir gar nicht anders können, als diese Entscheidung für frei zu halten, und zwar selbst dann, wenn alle Entschlüsse determiniert wären. Dieses Ergebnis beruht jedoch auf einem Fehlschluss. Aus der Tatsache, dass ich nicht wissen kann, wie meine Entscheidungen im Einzelnen ausfallen werden, folgt nicht, dass ich der Überzeugung sein muss, dass diese Entscheidungen frei, d. h. nicht determiniert sind. Die beiden Aussagen bzw. Überzeugungen beziehen sich nämlich auf verschiedene Ebenen. Die Aussage, dass niemand den Inhalt seiner zukünftigen Entscheidungen mit Gewissheit voraussagen kann, bezieht sich auf die Objektebene der zu treffenden Entscheidungen. Die Überzeugung, dass alle menschlichen Entschlüsse im Voraus determiniert sind, betrifft jedoch die Metaebene der kausalen Beschaffenheit von Entscheidungen. Daher sind die beiden folgenden Überzeugungen widerspruchsfrei miteinander vereinbar: 49 50
Vgl. MacKay 1960. Vgl. z. B. Walde 2006: 108 ff.
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(Ü 1) Ich kann nicht wissen, wie meine zukünftigen Entscheidungen ausfallen werden. (Ü 2) Unabhängig davon, welchen Inhalt meine zukünftigen Entschlüsse haben werden, und ungeachtet der Tatsache, dass ich diesen Inhalt nicht mit Gewissheit voraussagen kann, sind aufgrund des universalen Determinismus alle menschlichen Entscheidungen, also auch die meinigen determiniert. Aus der doxastischen Unterbestimmtheit der eigenen Entscheidungen folgt also mitnichten, dass jeder von uns der Überzeugung sein müsste, dass seine Entscheidungen frei sind. Wenn man dieses Resultat auf die Frage anwendet, unter welcher Bedingung die Entscheidung für oder gegen die Beibehaltung des Schuldprinzips getroffen wird, so ergibt sich Folgendes: Auf der Objektebene können wir zwar nicht mit Gewissheit vorhersagen, wie wir uns entscheiden werden. Was hingegen die Metaebene betrifft, so müssen wir weiterhin zwei Möglichkeiten berücksichtigen: Entweder ist unsere Entscheidung frei, oder sie ist determiniert. Somit lässt sich festhalten, dass uns der Verweis auf die epistemische Indeterminiertheit der eigenen Entscheidungen keinen Hinweis darauf gibt, wie die Ungewissheit über die Bedingung unserer Entscheidung aufgelöst werden könnte. Das Problem lässt sich jedoch dadurch lösen, dass wir uns fragen, welche Auswirkungen es in Bezug auf die beiden möglichen Optionen hätte, wenn unsere Entscheidung determiniert oder frei wäre. Wenn wir keine Wahl haben sollten, d. h. wenn der Determinismus wahr sein sollte, dann können wir gemäß dem Ultraposse-Grundsatz weder richtig noch falsch „entscheiden“. In diesem Fall ist es, normativ betrachtet, gleichgültig, ob wir uns für oder gegen die Beibehaltung des Schuldprinzips aussprechen. Wir können unter dieser Voraussetzung nichts falsch machen. Falls wir hingegen frei sein sollten, kommt es darauf an, dass wir die richtige, durch die besten Gründe gestützte Entscheidung fällen. Angesichts der Tatsache, dass ungewiss ist, unter welcher Bedingung unsere Entscheidung verwirklicht werden wird, sollten wir uns – wie soeben dargelegt – für die Beibehaltung des Schuldgrundsatzes einsetzen. Wenn wir dies tun, machen wir selbst dann nichts falsch, wenn unsere Entscheidung kausal determiniert sein sollte. Ich fasse zusammen. Wenn man davon ausgeht, dass sich weder der Determinismus noch der Indeterminismus empirisch verifizieren lassen, handelt es sich bei der Entscheidung für oder gegen die Beibehaltung des Schuldprinzips als Grundlage des deutschen Strafrechts um eine Entscheidung unter doppelter Ungewissheit. Vernünftigerweise sollten wir Theoretiker uns dafür einsetzen, dass der Schuldgrundsatz bestehen bleibt, und zwar vor allem deshalb, weil wir ansonsten zwei schwerwiegende Risiken eingehen. Erstens könnte unser Votum dazu führen, dass Schuldige, obwohl sie Strafe verdienen, nicht bestraft würden. Zweitens laufen wir Gefahr, selbst moralische Schuld auf uns zu laden, indem wir uns dafür einsetzen, dass Schuldige nicht bestraft werden.
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Obwohl nicht empirisch nachgewiesen werden kann, dass geistig gesunde Menschen in der Regel frei entscheiden können, gibt es demnach gute Gründe dafür, dass wir am Schuldprinzip festhalten sollen. Somit lässt sich die Titelfrage meines Aufsatzes nun eindeutig beantworten: Die Willensfreiheit muss nicht bewiesen werden, damit sich das Schuldprinzip rechtfertigen lässt.
VI. Schluss Im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Stellungnahmen zum Schuldprinzip weist der hier entwickelte Vorschlag m. E. zwei Stärken auf. Erstens wird der Grundsatz ultra posse nemo obligatur konsequent angewendet. Dies führt zu der wichtigen meta-ethischen Folgerung, dass es in einer determinierten Welt weder erlaubt noch verboten sein könnte, Straftäter für schuldig zu halten. Zweitens wird der Determinismus als Allaussage ernst genommen; dabei wird insbesondere berücksichtigt, dass der Determinismus als universalistische These selbstbezüglich ist, d. h. dass er auch für diejenigen gilt, die seine Wahrheit behaupten. Dies wird häufig übersehen. Viele Autoren stützen sich auf einen „halbierten Determinismus“: Sie gehen davon aus, dass Straftäter nicht anders entscheiden können, als sie es tun, unterstellen aber bei sich selbst und bei den anderen Teilnehmern an der Diskussion über das Schuldprinzip, dass sie über einen Entscheidungsspielraum verfügen, der es ihnen erlaubt, so oder anders zu entscheiden. Wenn man diese Inkonsequenz vermeidet und die deterministische Lehre auf sich selbst anwendet, dann zeigt sich, dass es gute Gründe dafür gibt, am Schuldprinzip festzuhalten.
Summary In recent years, several authors have claimed that determinism, i. e. the thesis that all events in the world occur necessarily can be proven scientifically. Some of those authors even call for the modification or the abolition of the culpability principle. As no person could ever decide or act in another way than she actually does nobody could ever be responsible or culpable. The article tries to face this challenge to the foundations of German criminal law. Contrary to what some commentators say, it is first shown that German criminal law does indeed rest on the following two assumptions: (i) not all events in the world are causally determined by antecedent events and natural laws (indeterminism), (ii) adults are generally able do decide freely what to do (freedom of the will as the normal case). In the second step, I argue that neither determinism nor indeterminism can be empirically verified. Both positions are metaphysical doctrines. Although we cannot empirically decide whether we are free or not, we have to make a decision on whether or not to abolish the culpability principle. It is shown that this choice is a decision under a double uncertainty. Firstly, we cannot know whether our decision will be carried out in a determined or in an indetermined
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world. Secondly, we cannot know whether in deciding on the culpability principle we choose freely or not. It is argued that under these circumstances we must not give up the principle of culpability because abolishing that principle would involve serious risks whereas keeping it up does not involve any risk. This argument in favour of the culpability principle is a variant of Pascal’s famous wager.
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Muss die Willensfreiheit bewiesen werden?
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Zur Medizinethik – On Medical Ethics
Human Dignity and Nanotechnologies: Two Frames, Many Ethics Roger Brownsword*
I. Introduction In the Ministerial Foreword to a recent UK strategy document, we read that the government is determined “to develop the nanotechnologies industry while protecting the health of consumers and employees and avoiding damage to the environment.”1 With a spectacular predicted growth in the global revenue of nanotechnologies, especially in the field of ICT,2 the government has strong commercial reasons for wanting to see the UK positioned “at the forefront of nanotechnologies development, … maintain[ing] momentum and keep[ing] pace with the biggest players on the international stage.”3 The document presents four illustrative case studies: one concerning the development of nanofluids that can be used, with energy-saving effects, in motor car cooling systems; a second concerning the use of a hand-held nanosensoring device that will help asthma sufferers to monitor their condition; a third concerning the application of nanoscience to reduce the fat content in ice cream; and the fourth concerning the use of titanium dioxide nanoparticles in third generation solar cells. If nanotechnologies are applied in ways that are environmentally friendly as well as facilitating healthier lives, why should their development provoke any concern that human dignity might be compromised? In the body of the strategy document, there is no mention of a challenge to human dignity; and, in the four illustrative cases, there is seemingly no cause for dignitarian concern. By contrast, in its Opinion on the Ethical Aspects of Nanomedicine (2007), the European Group on Ethics in Science and New Technologies (the EGE) identified the following ethical questions relating to the development of nanomedicine: How should the dignity of people participating in nanomedicine research trials be respected? How can we protect the fundamental rights of citizens that may be exposed to free * Professor of Law and Director of TELOS, King’s College London, and Honorary Professor in Law at the University of Sheffield. 1 UK Nanotechnologies Strategy: Small Technologies, Great Opportunities, London, March 2010, at 2. 2 Ibid., at 12. 3 Ibid., at 2.
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particles in the environment? How can we promote responsible use of nanomedicine which protects both human health and the environment? And what are the specific ethics issues, such as justice, solidarity and autonomy, that have to be considered in this scientific domain?4
To be sure, the EGE Opinion, like the UK strategy document, expresses concern about matters of human health, safety, and the environment; but it also senses that there are issues relating to fundamental rights, justice, solidarity and autonomy ‒ and, at the start of its list, the EGE voices a concern about the dignity of humans. What should we make of this? Does the development and application of nanotechnologies present a threat to human dignity? In this short paper, I will sketch two rather different ways of framing our concerns about nanotechnologies. Whereas one frame (the HSE frame) highlights matters of health, safety, and the environment, the other (the ethical frame) highlights matters of human rights and human dignity. Given this distinction, I will suggest three things. First, I will suggest that the former frame, combining an explicit focus on prudential rather than ethical considerations together with an implicit underlying utilitarian ethic, tends to discourage or displace the articulation of concerns relating to human dignity. Secondly, I will argue that, while the latter frame explicitly invites the expression of ethical concerns, the way in which human dignity is understood (and articulated) depends upon the particular substantive ethic that is in play. Thirdly, I will suggest that the deepest challenge to human dignity lies in the employment of nanotechnologies (equally biotechnologies, neurotechnologies, or information technologies) in ways that corrode the practical preconditions for the ethical life (that is, the possibility of humans trying to do the right thing for the right reason). The paper is in four principal parts. First, I sketch the distinction between what I am calling “the HSE frame” and “the ethical frame”. Secondly, I explain how the HSE frame channels our thinking away from ethical to prudential concerns. Thirdly, I explain how competing ethical constituencies deploy the idea of human dignity in quite different ways. And, finally, I offer an account of human dignity that is presupposed by a broad spectrum of ethical thinking and that enables us to see how nanotechnologies most seriously threaten the human condition.
II. Concerns about Nanotechnologies: Two Frames One of the primitive concerns elicited by nanotechnologies is that they might be “dangerous”; that they might present significant risks to human health and to the environment. The question, “Might nanoparticles be the new asbestos?”, is a common way of capturing this concern. Accordingly, the early regulatory literature is dominated by discussions that advocate precaution while the full extent of the (still highly 4
At para 4.1.
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uncertain) risk is assessed.5 However, for present purposes, the point to note is that these concerns about danger are framed in a way that focuses on the threat that nanotechnologies might present to human health, safety and the environment (rather than any threat to cultural or moral values). This is how the recent UK strategy document presents the causes for concern; indeed, this is the recurrent motif in UK policy discussions of nanotechnologies;6 and this is what I am terming the HSE frame. The HSE frame is by no means unique to nanotechnologies; for instance, concerns about the development of plant and food biotechnology tend to be expressed in the same way; and we see the same frame in early debates about synthetic biology. It is a frame that speaks to our lowest common denominator concerns. No one welcomes technologies that present risks to human health and safety or to the environment on which we all depend. To have HSE concerns, we do not need to be moralists; it is enough to be a vulnerable human being. There is, however, another way of framing our concerns about the development and application of new technologies. This is an ethical framing. For example, when we express concern about the way in which on-line social networking technologies compromise our privacy, or about the use of human embryos for research purposes, or about the potential applications of nanomedicine (as in the EGE Opinion), we are raising issues that relate to matters of human rights and human dignity. As Mary Warnock put it some years ago: Technology has made all kinds of things possible that were impossible, or unimaginable in an earlier age. Ought all these things to be carried into practice? This is the most general ethical question to be asked about genetic engineering, whether of plants, animals or humans. The question may itself take two forms: in the first place, we may ask whether the benefits promised by the practice are outweighed by its possible harms. This is an ethical question posed in strictly utilitarian form. … It entails looking into the future, calculating probabilities, and of course evaluating outcomes. “Benefits” and “harm” are not self-evidently identifiable values. Secondly we may ask whether, even if the benefits of the practice seem to outweigh the dangers, it nevertheless so outrages our sense of justice or of rights or of human decency that it should be prohibited whatever the advantages.7
5 See, e.g., the Royal Society and the Royal Academy of Engineering, Nanoscience and Nanotechnologies: Opportunities and Uncertainties (London: The Royal Society, 2004) (RS Policy document 19 / 04); and, G. Hunt and M. Mehta (eds), Nanotechnology: Risk, Ethics and Law (London: Earthscan, 2006). 6 Starting with the seminal Royal Society and the Royal Academy of Engineering, Nanoscience and Nanotechnologies: Opportunities and Uncertainties (London: The Royal Society, 2004) (RS Policy document 19 / 04), this HSE framing runs through the Royal Commission on Environmental Pollution’s report, Novel Materials in the Environment: The Case of Nanotechnology (London, November, 2008) and the House of Lords Science and Technology Committee’s report, Nanotechnologies and Food (1st Report of Session 2009-2010, HL Paper 22-I, January 8, 2010). 7 Baroness Mary Warnock, “Philosophy and Ethics” in C. Cookson, G. Nowak, and D. Thierbach (eds), Genetic Engineering ‒ The New Challenge (Munich: European Patent Office, 1993) 67 at 67.
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Second-stage considerations of the kind adverted to by Warnock, considerations that go beyond the balance of benefit and harm, feature prominently in the thinking of UNESCO where there is a particular emphasis on respect for human rights and human dignity. Characteristically, one of the aims of the UNESCO Universal Declaration on Bioethics and Human Rights – a Declaration that is addressed specifically to “ethical issues related to medicine, life sciences and associated technologies”8 ‒ is said to be “to recognize the importance of freedom of scientific research and the benefits derived from scientific and technological developments, while stressing the need for such research and development to occur within the framework of ethical principles set out in this Declaration and to respect human dignity, human rights and fundamental freedoms.”9 The point to take from this is that, even if we judge that the HSE risks are acceptably managed and that a technological application is beneficial, we might still find it ethically problematic. However, because the ethic that is implicit in HSE thinking ‒ insofar as the prudentialism of the HSE frame recognises any kind of ethic ‒ is utilitarian, the more likely reason for us to find an application to be problematic is that we judge it to violate human rights or human dignity. In other words, if we have dignitarian reservations about the development and application of nanotechnologies, it is the ethical rather than the HSE frame that facilitates the articulation of these concerns. III. The HSE Frame One of the attractions of the HSE frame is that it appeals to all humans. Even in communities that are morally divided, there is a shared commitment to the integrity of the natural environment on which we, as humans, depend; and no one wants technological applications to be unnecessarily harmful to human health and safety. For each of us, our health, our safety, and our environment is a cause for concern; and we expect regulators to take steps to ensure that we are not unnecessarily or unacceptably exposed to HSE risks.10 However, these are prudential, self-interested, concerns rather than, other-regarding, ethical concerns. Imagine that developments in nanomedicine reach a point where it is possible to fit nanosensors in our bodies so that our health is monitored ‒ instead of a handheld device, asthma sufferers have the option of having an in vivo nanosensor fitted. Moreover, imagine that, where such sensors are fitted and where problems are detected, then nanometric drug release systems are activated. Now, let us suppose that, in the early stages of this medical breakthrough, there are some questions about 8 UNESCO, Universal Declaration on Bioethics and Human Rights (adopted by acclamation on 19 October 2005 by the 33rd session of the General Conference), Article 1. 9 See Article 2(d). In line with this general aim, Article 3(1) insists that “[h]uman dignity, human rights and fundamental freedoms are to be fully respected.” 10 Compare Susan W. Brenner, Law in an Era of “Smart” Technology (New York: Oxford University Press, 2007).
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the safety and reliability of the nanosensors such that patients are counselled carefully about whether they want to have the device fitted. Counsellors spell out the benefits as well as the risks. For each person, a prudential judgment has to be made: is the balance of anticipated benefit over feared harm attractive; is the risk acceptable? Each person makes his or her own judgment. Some will accept the device, others will reject it; but these are purely prudential judgments. Each person makes a judgment that takes account only of his or her personal welfare. Ethics plays no part in these calculations; the only judgment is one of self-interest. In the early stages of the development of a technology ‒ in the case of nanotechnologies, before nanomaterials are released for consumption or for clinical use ‒ regulators might judge that the HSE risks are simply too uncertain or too great to permit individuals to make their own prudential judgments. Here, regulators act as proxies for the prudential preferences that they assume their regulatees will have. If regulators make their prudential judgments without any public engagement, they are liable to be criticised for acting without being properly informed; but, prima facie, this is not an ethical complaint. Should regulators be called to account ethically for their caution, the obvious response (one that appeals to the summing of assumed regulatee preferences) is one that draws on utilitarian thinking. In such a context of regulatory caution, however, some regulatees might complain that there is a denial of dignity ‒ for example, terminally ill regulatees, who are unable to access an experimental nanomedicine or nanodevice that offers a desperate last chance, might criticise the regulatory restriction as illegitimate. By and large, however, it is characteristic of the HSE frame that ethical questions are either suppressed or treated as an invitation to offer a utilitarian justification; and, as a result, those concerns that relate to human rights and human dignity are pushed to the margins of deliberation and debate. We are comfortable with the HSE frame precisely because it immunises us against the discomfort of ethical reflection and division.
IV. Human Dignity and the Ethical Frame When we turn to the ethical frame, the question is whether those who develop and apply nanotechnologies in particular ways do the right thing, not relative to their own prudential interests but relative to the legitimate interests of others. As I have argued elsewhere,11 I take it that there are three basic forms of ethical reasoning: namely, goal-orientated (consequentialism), rights-based and duty-based forms. It follows that the form of an ethical argument will either prioritise some end state goals (other than respect for the rights of others or the performance of duties), or it will start with a declaration of rights or a declaration of duties. 11 Roger Brownsword, Rights, Regulation and the Technological Revolution (Oxford: Oxford University Press, 2008) Ch 2; “Regulating Nanomedicine ‒ the Smallest of Our Concerns?” (2008) 2 Nanoethics 73; and “Nanoethics: Old Wine, New Bottles?” (2009) 32 European Journal of Consumer Policy 355.
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Each form within the matrix is a mould or a shell, open to substantive articulation in many different ways: different goals, different rights, and different duties may be specified. Nevertheless, in principle, the basic pattern of ethical debate, whatever the particular technological focus ‒ whether it be biotechnology (and bioethics), ICT (and cyberethics), nanotechnology (and nanoethics), or neurotechnology (and neuroethics) ‒ is governed by this matrix. In practice, the matrix is not always fully expressed in debates about the ethics of new technologies. Sometimes, we find only a two-sided debate with utilitarian cost / benefit calculations being set against human rights considerations. By contrast, in relation to debates concerning the ethics of modern biotechnology, we have a threeway articulation of the matrix, the key substantive positions being utilitarian, human rights, and dignitarian. In this distinctive “bioethical triangle”, we find the “dignitarian alliance” taking issue with both utilitarians and human rights advocates.12 While the latter can sometimes find a common position, it is much more difficult to reach an accommodation with the dignitarians. For, according to the dignitarian ethic, some technological applications are, quite simply, categorically and non-negotiably unacceptable. In this sense, of the three ethical perspectives, it is only the dignitarian view that is genuinely “red light”. This three-way pattern of ethical debate is evident, too, in some of the early exchanges concerning the application of nanotechnologies. A good example is the debate about the use of nanotechnologies for the purpose of human enhancement. Utilitarians, such as John Harris, support this development, even arguing that in some cases there might be “a positive moral duty to enhance.”13 Diametrically opposed to this view, we find dignitarians, such as Michael Sandel, arguing against such technological applications to humans.14 And, between these positions, taking a qualified permissive view, we find exponents of the rights ethic.15 Somewhat confusingly, in these ethical debates, the idea of human dignity underlies both the human rights and the dignitarian view. As Deryck Beyleveld and I have argued, whereas one conception (human dignity as empowerment) protects the 12 Roger Brownsword, “Bioethics Today, Bioethics Tomorrow: Stem Cell Research and the ‘Dignitarian Alliance’” (2003) 17 University of Notre Dame Journal of Law, Ethics and Public Policy 15. 13 John Harris, Enhancing Evolution (Princeton: Princeton University Press, 2007) 3. 14 Michael Sandel, The Case Against Perfection (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2007). At 24, Sandel writes: “It is commonly said that enhancement, cloning, and genetic engineering pose a threat to human dignity. This is true enough. But the challenge is to say how these practices diminish our humanity”; and, at 96, “I am suggesting instead that the moral stakes in the enhancement debate are not fully captured by the familiar categories of autonomy and rights, on the one hand, and the calculation of costs and benefits, on the other”. Similarly, see Alastair V. Campbell, The Body in Bioethics (London: Routledge Cavendish, 2009). 15 See, e.g., Roger Brownsword, “Regulating Human Enhancement: Things Can Only Get Better?” (2009) 1 Law Innovation and Technology 125.
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right of individuals to make their own lifestyle and life and death choices, the other conception (human dignity as constraint) places limits on the choices available to individuals.16 Once this double-take is identified, it is easier to see which version of human dignity is being contended for or presupposed. Once again, consider the case of the nanosensors. If the State prohibits access to these devices, some might argue (as the terminally ill regulatees argued in the earlier hypothetical) that there is a denial of their dignity, that they have the right to choose, the right to take their chances with life and death (their own life and death). However, others might argue that the prohibition is precisely what is needed if human dignity is not to be compromised. As Bert Gordijn has put it:17 [S]uch developments will contribute to a more technologically inspired image of the body as something very similar to a machine. The body will increasingly be regarded as a whole, made up of many different components that might be fixed, enhanced or replaced if necessary. Development, functions, and appearance of the body will seem less and less fixed by nature and less frequently accepted without change, and more frequently controllable by technology. Instead of being in charge of our own health we might increasingly trust technology to take over this responsibility. In the process however, the body will be treated almost like the inanimate material of a machine. Hence, the body might become increasingly de-hallowed and de-mystified.
To the extent that nanomedicine adopts or encourages the functional view that is already evident in human genetics and the new brain sciences, this will compound dignitarian concerns about commodification. The promise of in vivo nanosensors and drug release systems, like the promise of regenerative medicine, sounds fine until it is set alongside the disaggregation of humans into their component parts. Is there really no distinction between humans and, say, a motor car or a computer ‒ just so many parts, so many functions, so many models? Moreover, if nanomedicine leads to a blurring of the boundary between man and machine and if this gives rise, in Gordijn’s words, to “feelings of uneasiness, creeping disorientation and even existential panic”,18 then the dignitarians will not be on their own in being anxious about such developments. What does all this amount to? Quite simply, once we debate nanotechnologies outside an HSE frame and focus explicitly on ethical concerns, we are likely to encounter appeals to human dignity. However, these appeals are liable to come from different, and competing, points of the bioethical triangle, some presupposing the conception of human dignity as empowerment, others the conception of human dignity as constraint. To put this another way, within the bioethical triangle (and in the 16 Deryck Beyleveld and Roger Brownsword, Human Dignity in Bioethics and Biolaw (Oxford: Oxford University Press, 2001). 17 Bert Gordijn, “Converging NBIC Technologies for Improving Human Performance: A Critical Assessment of the Novelty and Prospects of the Project” (2006) 34 Journal of Law, Medicine and Ethics 726, 729. 18 Ibid., at 731.
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matrix more generally), although there can be cases of convergence and consensus, we can expect disputation and division as protagonists argue from rival ethical axioms.19 Crucially, because those who argue from dignitarian principles regard some actions and practices as categorically wrong ‒ for example, where the use of nanotechnologies are seen as commodifying or commercialising the human body ‒ there is no room for compromise or accommodation.
V. Nanotechnologies, Human Dignity, and the Corrosion of Moral Community For regulators, ethical pluralism is much more problematic than prudential pluralism. Suppose that, while you elect (prudentially) to use a sun-screen that incorporates nanoparticles, I elect to avoid nanoproducts; in itself, this is no problem. However, if my avoidance of nanoproducts is based, not on prudential reasons, but on dignitarian values, then we have a problem ‒ because I will judge that your use of a nano sun-screen is not merely unsafe but unethical and, as such, should be prohibited (arguably, from your viewpoint, illegitimately interfering with your dignity). Nevertheless, there is some common ground between ethical protagonists; they are striving to do the right thing and, although they have competing criteria of right action, they at least agree that there are important questions beyond the HSE frame. Moreover, for many ethical protagonists, it will matter that the right thing is done for the right reason ‒ if I believe that the use of nanoproducts is unethical because it compromises human dignity, then I want your avoidance of such products to be for this reason and not because you make the prudential calculation that use is unsafe. If we focus on the proposition that it is important not only that humans try to do the right thing (that is, aspire to act ethically) but also try to act for the right reasons, then we can formulate a deeper conception of human dignity ‒ a conception that take us beyond the irreconcilable differences within the bioethical triangle. That conception holds that human dignity is expressed wherever humans try to do the right thing (because they judge it to be the right thing) in circumstances where they also have the option of doing the wrong thing. Human dignity, in this sense, is expressed in the turning away from the option of doing wrong. Now, one of the noteworthy features of emerging technologies (including the much-debated convergence between, for example, bio, nano, and information technologies) is that they have potential as regulatory instruments. Mireille Hildebrandt,20 for example, offers us a vision of a home of the not-too-distant future equipped with a smart energy meter: 19 Compare Roger Brownsword, “Stem Cells and Cloning: Where the Regulatory Consensus Fails” (2005) 39 New England Law Review 535. 20 Mireille Hildebrandt, “Legal and Technological Normativity: More (and Less) than Twin Sisters” (2008) 12.3 TECHNE 169.
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One could imagine a smart home that automatically reduces the consumption of energy after a certain threshold has been reached, switching off lights in empty rooms and / or blocking the use of the washing machine for the rest of the day. This intervention [this being what Hildebrandt terms a “constitutive” technological intervention] may have been designed by the national or municipal legislator or by government agencies involved in environmental protection and implemented by the company that supplies the electricity. Alternatively [this being what Hildebrandt terms a “regulative” technological intervention], the user may be empowered to program her smart house in such a way. Another possibility [again, a case of a “regulative” technological intervention] would be to have a smart home that is infested with real-time displays that inform the occupants about the amount of energy they are consuming while cooking, reading, having a shower, heating the house, keeping the fridge in function or mowing the lawn. This will allow the inhabitants to become aware of their energy consumption in a very practical way, giving them a chance to change their habits while having real-time access to the increasing eco-efficiency of their behaviour.21
The significance of these technological innovations is that they can change the regulatory environment in ways that reduce the significance of moral signals.22 The key changes occur in two stages. First, in the criminal justice or other securityfocused systems (such as airports), with the use of CCTV, DNA profiling, RFID tracking and monitoring devices, and the like, the message to regulatees is that the chances of detection (and correction) are significantly increased. The primary signal of the classical criminal code is still moral (these acts are prohibited because they are wrong) but, with introduction of these technologies, the secondary prudential signal is amplified. At the second stage, however, technologies are employed in ways that render deviation either impracticable or, in a future of perfect control, impossible. In this future, the constitutive domestic technologies of Hildebrandt’s smart home become the model for social control. At this stage, the regulatory environment is corrosive not just of moral agency but of agency and autonomy simpliciter.23 Yet, we might wonder whether this evinces an unwarranted concern with the reasons that we have for acting as we do. After all, if the application of these regulating technologies produces a pattern of behaviour that is in line with moral requirements, if the pattern is of people doing the right thing, does it really matter why they do it? To be sure, if humans were morally omniscient, and to the extent that moral requirements were beyond question, we might well reason that it would not matter. Indeed, even absent moral omniscience, we might reason that, where moral requirements are agreed, it does not matter ‒ for example, why should it matter whether train drivers respect the life and well-being of their passengers by freely choosing to stop when the signals are on red, or whether they stop because the train is designed in Ibid., at 174. See Roger Brownsword and Han Somsen, “Law, Innovation and Technology: Before We Fast Forward ‒ A Forum for Debate” (2009) 1 Law Innovation and Technology 1. 23 Roger Brownsword, Rights, Regulation and the Technological Revolution (Oxford: Oxford University Press, 2008). 21 22
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such a way that it cannot pass signals that are on red?24 However, for communities with moral aspirations, the moral development of humans does matter; and, as I have suggested, the much-maligned idea of human dignity is precisely about humans trying to do the right thing in the face of opportunities to do the wrong thing. This is not to say that we should turn our backs on nano and other emerging technologies. Far from it; we want to enjoy the benefits of technologies, including nanotechnologies; but we also need room for moral debate and development. In the coming decades, for parliamentarians and for the community at large, the fundamental question is this: How do we create regulatory environments that employ smart technologies (including nanotechnologies) to safeguard vital human interests while still cultivating the virtue of human dignity, of doing the right thing for the right reason?
VI. Conclusion In this paper, I have sounded two cautionary notes, both of which arise in a sense from a modern tendency to frame our thinking in the apparently neutral terms of assessing and managing risk. While the HSE frame, which resists ethical judgment, views emerging technologies, such as nanotechnologies, as potential risks to human health and safety and to the environment, the dash to use these technologies as regulatory instruments is an expression of our modern focus on managing risk. Reductively, we treat the hazards and threats that are presented by new technologies as HSE risks, and, at the same time, we see these technologies as tools of effective risk management. While the regulatory challenge presented by nanotechnologies is one of HSE risk, the regulatory opportunity is one of effective nanotechnological risk management. In this two-dimensional process, the dangers are that ethical questions either get squeezed out by HSE risk assessment or reduced to utilitarian reasoning; and that, insidiously, the practical opportunities for moral development get restricted by a technological approach to risk management. Against these impulses, we need to retrieve the ethical frame and understand the importance of leaving open the possibility of doing the right thing for the right reason. This will not make life smooth or easy. In the ethical frame, the notion of human dignity is bitterly contested; and, a regulatory environment that leaves open the possibility of doing the right thing also exposes us to the risk of being harmed, humiliated, or hurt by wrongdoing. However, as James Griffin has aptly remarked, we cannot earn reward or punishment unless we are responsible for our acts, … we cannot be responsible unless we are autonomous, and … we cannot be autonomous unless we can exercise our individual consciences. There is no dignity in mere submission to authority.25 24 There is a great deal that can be said about such a technological fix, especially where it is targeted at unintentionally harmful conduct. See, further, Roger Brownsword, “So What Does the World Need Now? Reflections on Regulating Technologies” in Roger Brownsword and Karen Yeung (eds), Regulating Technologies (Oxford: Hart, 2008) 23. 25 James Griffin, On Human Rights (Oxford: Oxford University Press, 2008) at 26.
Human Dignity and Nanotechnologies
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In a context of general technological acceleration and great nanotechnological uncertainty, of one thing we can be quite sure: a commitment to respect for human dignity is not an easy option.
Zusammenfassung Dieser Artikel erläutert zwei Perspektiven, etwaige Bedenken gegen die Entwicklung und die Anwendung von Nanotechnologie zu erfassen. Während eine Perspektive (die „HSE-Perspektive“)26 die Risiken für die menschliche Gesundheit, Sicherheit und die Lebensumwelt betont, hebt die andere Perspektive (die „ethische Perspektive“) die wertenden Grenzen wie den Respekt für Menschenrechte und Menschenwürde hervor. Während die erste Perspektive sich auf allgemeine vernünftige Erwägungen konzentriert, öffnet letztere die Tür zu ethischer Pluralität (vor allem in Bezug auf das umstrittene Konzept der Menschenwürde). In diesem Kontext wird argumentiert, dass moralische Gemeinschaften ernsthaft durch eine Kultur herausgefordert werden, in der Regeln auf einen Prozess des Risikomanagements reduziert werden. Einerseits neigt die HSE-Perspektive dazu, ethische Bedenken gegenüber neuen Technologien zu zerstreuen oder ihnen entgegen zu treten; anderseits kann die Verwendung von Nanotechnologie und anderen neu aufkommenden technologischen Werkzeugen als Gegenstände der Regulierung die praktischen Erwägungen (zulasten der ethischen Gründe) verstärken und in manchen Fällen sogar alle sich bietenden Möglichkeiten, außer die von dem Regulierenden erlaubten, ausschließen. Deshalb sollten aufstrebende moralische Gemeinschaften sich davor hüten, durch die Fixierung auf Risikobewertung und technologisches Management eine regulierte Umwelt zu erzeugen, die für diejenigen Menschen nicht länger erträglich ist, die ihre Würde dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie versuchen, das Richtige aus den richtigen Gründen zu tun. Eine deutschsprachige Version dieses Beitrages wird auch erscheinen in: Jan C. Joerden, Eric Hilgendorf, Felix Thiele (Hrsg.), Handbuch Menschenwürde und Medizin, Duncker & Humblot, Berlin 2012.
26
Die Abkürzung „HSE“ steht für „matters of health, safety, and the environment“.
Die Medizinethik und das Placebophänomen Psychosoziale Einflussfaktoren auf biologische Systeme Sebastian Gasde I. Kürzlich, in einer Mitteilung des Ärzteblattes an seine Leser … „Da der Placeboeffekt bei nahezu jeder Behandlung auftreten kann, kommt die Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirats zum Schluss, dass es absolut notwendig und dringlich ist, Ärztinnen und Ärzten bereits in der Ausbildung sowie in der Weiter- und Fortbildung Kenntnisse der Placeboforschung zu vermitteln, um Arzneimittelwirkungen zu maximieren, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten zu verringern und Kosten im Gesundheitswesen zu sparen.“1 Das Placebo und seine Effekte gerieten schon vor mehr als einem Jahrhundert in den Fokus der medizinischen Wissenschaften und wurden im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zu einem bedeutenden Instrument der medizinwissenschaftlichen Beweisführung. Parallel zu einem stetig zunehmenden Interesse der Öffentlichkeit und der Medien an diesem Phänomen erfuhr der Begriff, beziehungsweise die ihm zugrunde liegenden Bedeutungszuweisungen, zahlreiche Transformationen. Und so dienen Placebos schon lange nicht mehr nur als Kontrollwerkzeug zur Validierung pharmazeutischer Substanzen und medizinischer Interventionen, sondern die ihre Verabreichung begleitenden Phänomene gerieten alsbald selbst in den Fokus der Forschung und werden seitdem experimentell untersucht. Die pharmazeutische Industrie versteht unter Placebos wirkstofffreie Substanzen. Und sie nutzt deren Effekte, um die Wirkung eines zukünftigen Verums zu belegen. Auch die wissenschaftliche Evaluation komplexer therapeutischer Interventionen (wie Physiotherapie, Osteopathie oder Akupunktur) nutzt Placebos, beziehungsweise Placebointerventionen, als Kontrollwerkzeug, wobei fraglich ist, ob, wie im Falle einer wirkstofffreien Tablette, tatsächlich „wirkstofffreie“ Therapeuten konstruiert werden können, oder ob hier nicht primär den anerkannten Erkenntnismethoden Rechnung getragen wird. Ob also Mess- und Auswertungsmethoden wissenschaftliche Qualität konstituieren, während Wert und Verwertbarkeit der Ergebnisse nur selten debattiert werden. Denn bisher mangelt es der Medizintheorie und somit auch der Medizinethik an übereinstimmenden Modellen und Definitionen für den Placeboeffekt, und „es bleibt 1
http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=77606 (Stand: 2. 02. 2011).
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festzustellen, dass es kaum eine zusammenführende Forschung zu diesem Thema gibt.“2 Vielleicht führt sogar das gesamte Konzept des Placeboeffekts zu „der irrigen Vorstellung, es handle sich um ein einheitliches Phänomen (…)“3 und fördert so „Denkblockaden, Missinterpretationen und Missverständnisse.“4 So dass selbst in der wissenschaftlichen Diskussion die beobachteten Phänomene häufig in den Hintergrund treten, während die zugewiesenen Bedeutungen benutzt werden, um konkurrierende Modelle zu widerlegen oder zu verifizieren. Im Zentrum der folgenden Erörterungen stehen zunächst weder die Ethymologie des Begriffs noch die diesem Phänomen zugrunde liegenden Mechanismen oder die zahllosen Erklärungsmodelle und Definitionen. Vielmehr richtet sich der Fokus vorerst auf medizinethische Analysen der wesentlichen Spannungsfelder, also den Einsatz von Placebos in Wissenschaft und Praxis der Medizin.
II. Das Placebo und die Medizinwissenschaften Das naturwissenschaftliche Interesse am Placeboeffekt erwachte wahrscheinliche aufgrund von Irritationen durch die Erfolge alternativer Heilverfahren in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Diese wirkten nämlich auch in den Praxen schulmedizinische geprägter Ärzte, ohne dass die so erzielten Erfolge naturwissenschaftlich begründet werden konnten. Die Entwicklung eines Studiendesigns, das durch Randomisation und Kontrolle psychogene, unspezifische Einflussfaktoren ausschalten und so spezifische Wirkungen hervorheben sollte, kann als Reaktion des schulmedizinisch-pharmazeutischen Apparates auf diese Entwicklungen interpretiert werden. Denn nun konnte erstmals zwischen spezifisch wirksamen Ebenen und den als unspezifisch angenommenen, psychologischen Wirkebenen medizinischer Interventionen unterschieden werden.5 Letztere sollten dann schnell unter dem Begriff Placeboeffekt subsumiert werden. Diese Form der wissenschaftlichen Bewertung medizinischer Interventionen, die randomisierte kontrollierte klinische Studie (RCT), gilt heute gemeinhin als Goldstandard der Therapiewissenschaften, ist ein „Lackmustest für die Wahrheit“ und fundiert so „die beste medizinische Behandlung aufgrund der besten verfügbaren Wirksamkeitsnachweise“6. Die gezielte Erforschung des Placebophänomens begann annähernd zeitgleich, allerdings eher zufällig und durch die Umstände erzwungen: Der amerikanische Militärarzt H. K. Beecher verabreichte verletzten Soldaten während des 2. Weltkrieges aufgrund eines Mangels an Morphium eine wirkstofffreie Scheinmedikation zur Linderung ihrer Schmerzen. Diese setzte überraschenderweise die Schmerzen deut2 3 4 5 6
Ebd. (Fn. 1). Linde 2006. Ebd. (Fn. 3). Kiene 2001: S. 165 f. Ernst / Singh 2009: S. 15.
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lich herab, und 1955 veröffentlichte Beecher hierzu seinen richtungweisenden Artikel „The powerful Placebo“.7 Ziel der folgenden Abschnitte ist es, die ethischen Spannungsfelder hinsichtlich der Verwendung von Placebos in der medizinischen Forschung näher zu untersuchen, um dann Gleiches für die medizinisch-therapeutische Praxis vorzunehmen.
1. Das Placebo als Kontrollinstrument In der klinischen Forschung werden Placebos gemeinhin als Mittel zur Untersuchung neuer Interventionen herangezogen. Dabei wird ein als wirksam erhofftes Mittel, das sogenannte Verum, mit den Wirkungen eines Scheinmittels, dem Placebo, verglichen, um so die Wirkkraft des Verums möglichst klar abgrenzen zu können. In der Regel werden die Patienten oder Probanden mittels Randomisation in mindestens zwei Gruppen eingeteilt und wissen in der Folge nicht, ob sie das Verum oder das Placebo erhalten. Diese einfache Verblindung wird meist durch eine Verblindung der verabreichenden Ärzte oder Experimentatoren ergänzt. Unabhängige und häufig ebenfalls verblindete Prüfer evaluieren in der Folge die messbaren Veränderungen. Kontrollierte Studien waren in der Vergangenheit häufig der Ausgangspunkt bedeutender Entwicklungsschritte der medizinischen Versorgung. Die Ursachen von Skorbut (und später die Therapie dieser Mangelerscheinung), die Zurückdrängung des Aderlasses als omnipotente Intervention für nahezu alle Erkrankungen oder die Einführung von Hygienemaßnahmen in britischen Militärkrankenhäusern durch Florence Nightingale erfolgten schon im 18. und 19. Jahrhundert im Anschluss an kontrollierte Vergleichsstudien und deren statistische Auswertung.8 Damals und heute erzeugen kontrollierte klinische Studien also erstens Sicherheit, da sie Verfahren und Interventionen verhältnismäßig exakt miteinander vergleichen. Sie ermöglichen zweitens gezielte Rückschlüsse auf die Wirksamkeit einzelner chemischer oder physikalischer Interventionen, insofern diese (zumindest im Modell) zu linearen, monokausalen Prozessen reduziert werden können. Und sie können drittens die Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention innerhalb größerer Patientenpopulationen messen. Auch deshalb gelten sie als Goldstandard der klinischen Forschung. Trotz ihrer potenziellen Aussagekraft verletzt diese Methode des medizinischen Erkenntnisgewinns die ethischen Grundlagen des ärztlichen, des therapeutischen und auch des wissenschaftlichen Handelns. So legt die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes fest, dass Versuchspersonen über das Forschungsvorhaben aufgeklärt und ausführlich über die forschungsbezogenen Aspekte der jeweiligen Behandlung informiert werden müssen. Und eine Placebobehandlung ist bei einwilligungsfähigen Patienten nur dann gerechtfertigt, wenn es keine andere wirksame Behandlung gibt. Zudem dürfen die Patienten in der Placebogruppe, wobei das Pla7 8
Kiene 2001: S. 138. Ernst / Singh 2009: S. 27 f.
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cebo sowohl ein Medikament als auch eine Scheinintervention oder Scheinoperation sein kann, nicht dem Risiko einer schweren oder irreversiblen Schädigung ausgesetzt sein.9 Mit diesen Vorgaben soll sichergestellt werden, dass die Probanden oder Patienten frei und selbstbestimmt über ihre Teilnahme an der Studie entscheiden können. Die Autonomie und Unabhängigkeit ihrer Person wird gewahrt. Aber eine Täuschung findet trotz dieser Maßnahmen statt. Denn keiner der beteiligten Patienten weiß, ob er eine potenziell wirksame oder aber eine wirkarme beziehungsweise gänzlich wirkstofffreie (Vergleichs-)Substanz erhält, denn die Darreichungsform darf keine Rückschlüsse auf mögliche Inhaltsstoffe zulassen. Die American Psychological Association (APA) empfiehlt deshalb (ergänzend) folgendes methodisches Vorgehen: Jede Täuschung muss zwingend durch die Studienziele gerechtfertigt sein und kann nur dann Verwendung finden, wenn nachweislich keine Alternativen vorliegen. Es muss sichergestellt werden, dass die abschließende Aufklärung der Teilnehmer weder Schmerzen noch emotionalen Stress auslöst. Sie sollte deshalb idealerweise so früh wie möglich, also nach Abschluss der Datenaufnahme, erfolgen. Und die Teilnehmer müssen zudem im Rahmen des informed consent schon zu Beginn der Studie darüber aufgeklärt werden, dass sie unter Umständen der Placebogruppe zugewiesen werden. Ferner empfiehlt die APA die sogenannte autorisierte Täuschung, bei der die Teilnehmer zu Beginn der Studie darüber aufgeklärt werden, dass die Vorgehensweise und die Ziele vorerst nicht genauer erklärt werden können, und dass unter Umständen falsche Informationen weitergegeben werden.10 Mittels dieser Ergänzungen werden die ethischen Spannungsfelder zwar nicht aufgelöst, aber zumindest können die Patienten frei und selbstbestimmt über ihre Teilnahme entscheiden. Ob die Verletzung von Patienten- oder Probandenrechten ethisch durch den prognostizierten wissenschaftlichen Fortschritt gerechtfertigt ist und ob dieser Fortschritt nicht auch mittels anderer Methoden erreicht werden könnte, muss also grundsätzlich abgewogen werden. Denn das beschriebene Vorgehen ist keineswegs alternativlos, nur waren und sind die kritischen Stimmen in der Unterzahl, so dass sie bisher mehr oder weniger unbemerkt im wissenschaftlichen Blätterwald verhallten. So reduzieren RCTs grundsätzlich natürliche Komplexität, um überhaupt Messbarkeit zu gewährleisten und gegebene Umwelten experimentell beeinflussen zu können. Sie verschaffen damit zwar dem Bedürfnis der modernen Wissenschaften nach Objektivität maximale Befriedigung, denn sie randomisieren, kontrollieren und verblinden. Doch schließen diese technischen Vorgaben individuelle und interaktive Einflüsse auf die Ergebnisse nicht aus. Vielmehr handelt es sich um einen kollektiven Neglect11, der diese Einflüsse unter Umständen potenzieren und somit http://www.wma.net/en/30publications/10policies/b3/index.html (Stand: 20. 01. 2011). http://www.apa.org/ethics/code/index.aspx (Stand: 15. 01. 2011). 11 Definition lt. Pschyrembel (2002): „(engl. Vernachlässigen); Bezeichnung für eine oft halbseitige Vernachlässigung des eigenen Körpers oder der Umgebung bezüglich einer oder mehrerer Sinnesqualitäten, …“ 9
10
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die Ziele dieser Studien konterkarieren kann und sie gleichzeitig der wissenschaftlichen Deutung entzieht. Denn die Erwartungen der Probanden bestehen auch trotz Verblindung und können so kompensatorische Placeboeffekte hervorrufen. Ferner beeinflussen psychologische Phänomene wie die experimentelle Unterordnung und der Gruppenausgleich, also die Interaktionen der Probanden innerhalb und zwischen den Gruppen und ihre gegenseitige Beeinflussung hinsichtlich der Bereitschaft, bestimmte Symptome anzugeben, die Ergebnisqualität.12 Kienle (2005) stellte zudem fest, dass RCTs etlichen weiteren (und nur selten diskutierten) Beschränkungen unterliegen: Die Kosten für diese Studien sind verhältnismäßig hoch und die klinische Forschung wird zunehmend von der (pharmazeutischen und medizinisch-technischen) Industrie finanziert, so dass „prioritär nur Therapien erforscht werden, die patentierbar und gewinnversprechend sind.“13 Nichtpharmakologische Therapien (wie Physiotherapie oder Kreativtherapien) könnten so unbemerkt und schleichend aus der Patientenversorgung verschwinden. Zudem bedeutet eine hohe Anzahl von methodisch hochwertigen Studien zu einem bestimmten Verfahren nicht zwangsläufig eine hohe Qualität des Verfahrens, sondern repräsentiert auch die „Brauchbarkeit des Verfahrens im Rahmen universitärer Karrieremuster.“14 Und auch die meist kurzen Beobachtungszeiten sowie in der Regel hochselektierte Patientengruppen entsprechen häufig nicht dem medizinischen Alltag. Zudem können die Ergebnisse je nach Analysemethode divergieren, was insbesondere bei Meta-analysen von zahlreichen RCTs zu widersprüchlichen Ergebnissen führen kann. Kienle (2005) schlussfolgert deshalb: „Unter Idealbedingungen ist die RCT ein perfekt zuverlässiges Evaluationsmodell. Unter Realbedingungen jedoch ist die RCT zwar manchmal die Methode der Wahl, oft aber ist sie ungeeignet, unethisch, nicht realisierbar (…) oder führt zu unzuverlässigen Ergebnissen.“15 Und natürlich können auch RCTs die gezielte (auf subjektiven Interessen von Einzelpersonen oder Konzernen beruhende) Manipulation von Forschungsergebnissen und somit Täuschungen von Patienten, Ärzten und Therapeuten nicht verhindern. So belegte zum Beispiel im Jahre 2003 ein systematisches Review, dass klinische Studien, die von einem pharmazeutischen Unternehmen finanziert wurden, mit viermal größerer Wahrscheinlichkeit das gewünschte Ergebnis erbrachten als unabhängige Studien.16 Die Manipulation von Studien und deren Ergebnissen erfolgt dabei unter anderem durch die nachträgliche Erzeugung von Korrelationen durch Statistikprogramme (die häufig nicht dem Studienprotokoll entsprechen und somit Kausalbeziehungen herstellen, die ursprünglich nicht Gegenstand der Studie waren), das Verheimlichen von Drop-Out-Raten, das Glätten von Daten, nicht nach12 13 14 15 16
Kiene 1993: S. 38 ff. Online: http://www.ifaemm.de/Abstract/PDFs/GK05_1.pdf (Stand: 10. 01. 2011). Ebd. (Fn. 13). Ebd. (Fn. 13). Lexchin et al. 2003.
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vollziehbare oder variable Festlegungen von Endpunkten (je nach gewünschten Ergebnissen) oder Fehler im Rahmen der Veröffentlichung.17 Zusammenfassend lässt sich aus einer forschungsethischen Perspektive schlussfolgern, dass: 1. die Verwendung von Placebos in Kontrollgruppen die betroffenen Patienten (also Erkrankte) meist gegenüber der Interventionsgruppe benachteiligt. 2. eine Täuschung der Patienten deren Grundrechte grundsätzlich verletzt. Gleichzeitig bewirkt die Verblindung fast aller Beteiligten, dass psychogene Einflüsse nur scheinbar ausgeschlossen werden. Tatsächlich wirken sie weiter, nur wurden sie mittels methodischer Scheuklappen perspektivisch gelöscht. Ob dieses Vorgehen und die daraus resultierenden Ergebnisse einer ethischen Kritik standhalten können, bleibt offen. 3. die medizinische Forschung zunehmend industriegesteuert ist, so dass bezweifelt werden kann, ob tatsächlich Patienteninteressen im Vordergrund stehen, oder ob diese nur vorgeschoben sind, um Rendite- und Gewinnziele zu erreichen oder aber Vorgaben der Gesundheitsverwaltung zu bedienen. 4. Qualität und Güte von medizinischen Forschungsergebnissen sich erst beim Transfer in die Praxis offenbaren und eben nicht durch quantitative Kriterien, wie eine möglichst große Anzahl von Probanden oder Kontrollmechanismen und eine trügerische Objektivität. Quantitative Forschungsergebnisse sind hervorragend geeignet, um umfangreiche Verwaltungsoperationen und kommerziellbetriebswirtschaftliche Zieldefinitionen zu untermauern und zu rechtfertigen. Individuell erfolgreiche Medizin kann durch sie nicht gewährleistet werden, denn dabei handelt es sich in der Regel um das Zusammenwirken von Individuen und nicht von Statistiken oder Variablen. Bisher findet eine ethische Debatte dieser Punkte nur begrenzt statt und eine zunehmend leitlinienbasierte Patientenversorgung in Deutschland orientiert sich primär an den so gewonnenen Daten. Zudem ist weiterhin offen, ob der Wirksamkeitsnachweis anhand der Differenzen aus Verum- und Placebogruppe tatsächlich die größtmögliche Wirksamkeit misst. So stellte Walach (2001) fest, dass die unspezifischen Therapieeffekte die als spezifisch angenommenen hinsichtlich ihrer Wirkkraft durchaus übersteigen können, so dass erstere eine wesentliche Erfolgsbedingung darstellen, aber letztlich mittels Subtraktion der Effektstärken in Verum- und Placebogruppe heraus gerechnet werden, um mittels der Differenz die Wirkung des Verums zu belegen.18
17 18
Goldachre 2010: S. 231 f. Walach 2001.
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2. Das Placebo als Erkenntnisinstrument Die oben erwähnten Erkenntnisse von Beecher stimulierten die Erforschung eines Phänomens, das bis heute zwar umfangreich beschrieben und untersucht, aber bisher nach Meinung des Autors nicht hinreichend verstanden wurde, so dass die Erkenntnisse schwer in die Praxis integriert werden können und gleichzeitig kontrovers diskutiert werden. Wobei die Kontroversen häufig auf Missverständnissen, einem Mangel an definitorischen Übereinkünften und intellektuellen Schnellschüssen beruhen. Und die zunehmend schlecht informierten, von der digitalen Informationsflut gehetzten, klassischen Medien tragen ihren Teil dazu bei, eine tiefergehende Diskussion zu verhindern. Hierzu einige Beispiele: Der Tübinger Arzt und Wissenschaftler „Paul Enck braucht bei seinen Patienten keine Spritze und kein Skalpell. Das wichtigste Werkzeug des Tübinger Mediziners ist die Manipulation (…). Was Enck seinen Probanden tatsächlich verabreicht, sind falsche Informationsreize. Sie täuschen dem Menschen die Einnahme eines Medikaments vor (…).“19 Die ZEIT stellte kürzlich fest, dass die Erfolge von Alternativheilern häufig auf dem Placeboeffekt beruhen „und nicht auf der Therapie selbst. Nun könnte man auch hier wieder sagen: Hauptsache, es hilft. Doch auch die Methoden der Schulmedizin mit einem nachgewiesenen Nutzen lösen einen Placebo-Effekt aus, der ihre Wirkung noch verstärkt. Warum also sollte sich ein Patient nur auf den Placebo-Effekt einer ansonsten wirkungslosen Methode stützen, wenn er bei einer Therapie mit belegtem Nutzen beides haben kann: eine nachgewiesene Wirkung plus den Placebo-Effekt?“20 Ben Goldachre, ein britischer Arzt und Wissenschaftsjournalist, meint zu diesem Thema: „Die Leute zahlen, um von einer vermeintlichen Autoritätsperson belogen zu werden. Die Patienten sind verwirrt, aber glücklich.“21 Und der bereits im vorigen Abschnitt zitierte Arzt und Forscher Etzard Ernst gab folgendes zu bedenken:„In gewissem Sinne ist jede Form von medizinischer Behandlung, die sich stark auf den Placeboeffekt stützt, betrügerisch.“22 Und schlussfolgerte daraus: „Der Placeboeffekt lässt sich am besten nutzen, wenn man exzessiv lügt.“23 Claudia Witt wiederum, Professorin für Komplementärmedizin an der Charité, verkündete via Die Welt: „Wir wissen aus der Forschung auch, dass ein Placebo stärker wirkt, wenn ein höherer Preis angenommen wird (…)“, während Eckhart Hahn, seines Zeichens Dekan der Universität Witten-Herdecke, im gleichen Artikel feststellte: „Ich fürchte, die meisten Ärzte in Deutschland sind ein Nocebo.“24 19 Online: http://www.welt.de/wissenschaft/article12003324/Warum-Placebos-oft-genausogut-wirken-wie-Medizin.html (Stand: 2. 02. 2011). 20 Online: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2010/02/Naturmedizin-Leserfragen?page=2 (Stand: 2. 02. 2011). 21 Online: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/bin/dump.fcgi/2010/0330/wissenschaft/0001/index.html (Stand: 2. 02. 2011). 22 Ernst / Singh 2009: S. 75. 23 Ebd.: S. 299. 24 Online: http://www.welt.de/gesundheit/article8603525/Aerzte-greifen-immer-oefter-zu-Placebo-Medikamenten.html (Stand: 2. 02. 2011).
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Während also die einen den Placeboeffekt nutzen, um zum Beispiel den Vertretern eines alternativen Heilverfahrens ihre fachlichen oder gesundheitsdienlichen Kompetenzen abzusprechen, scheinen andere durchaus an den zugrundeliegenden Mechanismen interessiert zu sein, stiften jedoch mit ihren Aussagen eher Verwirrung, da sie Zusammenhänge so lange verdichten und vereinfachen, bis die durch diese potenziell auslösbaren Irritationen und Diskussionen mittels schlagkräftiger und scheinbar abschließender medientauglicher Verkündigungen hinter einfachen Antworten auf eigentlich schwierige Fragen verschwinden. Es wird weder debattiert, inwieweit die Methoden zum Gewinn dieser Erkenntnisse angemessen und zweckhaft sind, noch wird versucht, diese Ergebnisse zielgerichtet in die berufliche Praxis zu integrieren. Zur besseren Übersicht und um Missverständnissen vorzubeugen, soll zunächst der aktuelle Stand der Forschung komprimiert wiedergegeben werden. Anschließend werden, wie im vorangegangenen Abschnitt, die zugrunde liegenden Methoden, ihre ethische Rechtfertigung und ihr erkenntnistheoretischer Wert kritisch analysiert. Als maßgeblich für die Auslösung eines Placeboeffektes werden psychologische Mechanismen wie die klassische Konditionierung, der Aufbau einer positiven Erwartungshaltung und Angstreduktion angenommen.25 Während die klassische Konditionierung über Kontextfaktoren erfolgt (Zum Beispiel beim Pawlowschen Hund durch wiederholtes Läuten einer Glocke und die gleichzeitige Präsentation von Nahrung, wobei ersteres mit etwas Übung später auch ohne Nahrungsangebot Speichelfluss hervorruft), aktivieren positive Erwartungen, also der Glaube an den Erfolg einer Behandlung, das Belohnungssystem und erzeugen ein Gefühl von Sicherheit.26 Zudem konnte belegt werden, dass Placeboeffekte Hirnzentren aktivieren, die an der Herunterregulierung negativer Emotionen beteiligt sind. Der Placeboeffekt ist somit auch eine emotionale Erfahrung.27 Entscheidend für die Effektstärke sind wahrscheinlich die individuelle Suggestibilität und die suggestive Kraft des therapeutischen Gegenübers.28 In klinischen Versuchen konnten Placeboeffekte unterschiedlicher Stärke bei Patienten mit Morbus Parkinson29, Depressionen, Schlaflosigkeit und Epilepsie30, Asthma, Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa31 und chronischem lumbalen Rückenschmerz32 experimentell belegt werden. Zudem scheinen chirurgische Interventionen hochpotente Auslöser von Placeboeffekten zu sein. Zahlreiche Versuche, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale herauszuarbeiten, die über die Empfänglichkeit für Placeboeffekte entscheiden, wurden zwar durchgeführt, liefer25 26 27 28 29 30 31 32
Roche 2002: S. 26. Pacheco-Lopèz et al. 2006. Petrovic et al. 2005. Zimmermann-Viehoff 2008. Benedetti 2005. Cavanna 2007. Schedlowski 2006. Weiß 2004.
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ten jedoch keine allgemein gültigen, klinisch verwertbaren Ergebnisse.33 Als wesentlich werden der Glaube an die Behandlung, das Vertrauen in die Kompetenz des Therapeuten34, Faszination für Therapeut und Therapie, die Hoffnung auf Besserung, eine vermehrte Aufmerksamkeit für die Symptome, ein ausgeprägtes Körperbewusstsein und Compliance angenommen.35 Kulturelle, spirituelle und religiöse Faktoren scheinen ebenso Einfluss auszuüben36 wie die frühkindliche Entwicklung und die sich in dieser Phase ausprägende Bindungsfähigkeit des Menschen.37 Ein Teil der experimentell gewonnenen Ergebnisse wurde aus den Daten randomisierter kontrollierte klinischer Studien extrahiert. Die damit einhergehenden ethischen Bedenken wurden unter II.1 analysiert. Allerdings bedarf es auch zur gezielten Erforschung des Placeboeffektes an gesunden Probanden ethisch bedenklicher Verfahrensweisen: Denn auch hier werden die Erwartungen der Probanden bezüglich einer positiven oder negativen Wirkung (zum Beispiel Schmerzlinderung oder Schmerzsteigerung) einer Intervention manipuliert. Und die gezielte Konditionierung von Studienteilnehmern erfordert deren Täuschung beziehungsweise die Verheimlichung von Studienzielen, denn die Konditionierung einer Reizantwort muss klassischerweise unbewusst erfolgen, um eine willentliche Beeinflussung der Ergebnisse durch die Probanden zu verhindern. Zudem werden viele dieser Untersuchungen wegen ethischer Bedenken zu einem großen Teil an gesunden Probanden vorgenommen, so dass die Relevanz der Ergebnisse für die therapeutische Praxis fragwürdig ist, schließlich werden hier in der Regel Erkrankte behandelt. Trotz dieser Bedenken eröffnen insbesondere die Ergebnisse der experimentellen Placeboforschung zahlreiche neue und aus eben diesem Grund irritierende und deshalb interessante Perspektiven auf einzelne Facetten komplexer biopsychosozialer Kommunikations- und Regulationsmechanismen. Die dabei zu Tage tretenden vielgestaltigen und chaotischen Verflechtungen von zellulären, organischen, organismischen, psychologischen und sozialen Funktionskreisläufen deuten darauf hin, dass neben feinstofflichen, mono-kausal modellierbaren Mechanismen auch interaktive Komponenten jeglicher therapeutischer Interventionen, sowie individuelle Heilkompetenzen und Coping-Mechanismen zu messbaren Veränderungen führen, woraus sich zahlreiche neue Reibungspunkte für die bestehenden medizinisch-therapeutischen Handlungs- und Wirkmodelle ergeben. Die Täuschungen der Probanden durch die verdeckte Variation der experimentellen Parameter (zum Beispiel die unbemerkte Veränderung der Intensität schmerzhafter Stimuli oder das Ersetzen eines wirksamen Schmerzmittels durch ein Placebo) wiegen nach Meinung des Autors ethisch deshalb nicht so schwer, weil die Probanden in der Regel gesund sind, und weil die Forschungsergebnisse tatsächlich das „Feld“ erweitern, anstatt 33 34 35 36 37
Zimmermann-Viehoff 2008. Schedlowski 2006. Kaptchuk 2002. Hafner 2002. Zimmermann-Viehoff 2008.
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wesentliche Einflüsse methodisch zu verdrängen. Der ethischen Reflexion bedürftig sind eher Fragen nach der Kommunikation und Darstellung der Ergebnisse innerhalb der Wissenschaftsgemeinde und der mediale Transfer der gewonnenen Erkenntnisse in die Öffentlichkeit, sowie das allgemeine Unvermögen anhand interprofessioneller Modelle die Vielzahl an Forschungsergebnissen sinnstiftend zu verwalten, denn diese Faktoren haben – neben anderen – maßgeblichen Einfluss auf die medizinisch-therapeutische Praxis: „… die öffentliche Repräsentation ist auch für viele Vorannahmen der Wissenschaftler über ihre Forschungsgegenstände verantwortlich. So ist diese Schleife bei Weitem kein bloßes Anhängsel der Wissenschaft, sondern Bestandteil und Posten der Faktenfabrik.“38
III. Das Placebo in der medizinisch-therapeutischen Praxis Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss berichtete schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Titel „Der Zauberer und seine Magie“39 von folgendem Erlebnis im Amazonasgebiet: „Ein Mann namens Quesalid (…) glaubte nicht an die Macht der Zauberer oder besser der Schamanen …“40 Um ihre Betrügereien aufzudecken und um herauszufinden „worin die Kraft dieser Schamanen besteht, ob sie wirklich vorhanden ist, oder ob diese nur vorgeben, Schamanen zu sein …“41, suchte er engeren Kontakt zu einem von ihnen und wurde später tatsächlich aufgefordert, selbst eine Ausbildung zum Schamanen aufzunehmen. Er beschrieb detailliert, wie seine ersten Lektionen verliefen: „… eine seltsame Mischung aus Pantomime, Gaukelei (…), darunter die Kunst, Ohnmachten zu heucheln, Nervenanfälle vorzutäuschen (…), die Technik, sich selbst zum Speien zu bringen, …“42 Quesalid selbst nutzte später die Technik der „blutigen Feder“, die zunächst in der Mundhöhle versteckt und am Ende einer Zeremonie ausgespien wurde, um so das Austreiben der Krankheit aus seinen „Patienten“ zu symbolisieren. Bald galt er als ein großer Schamane, errang überregionale Bekanntheit, behandelte mehr und mehr Kranke erfolgreich, blieb jedoch weiterhin kritisch gegenüber den eigenen Methoden und denen anderer Schamanen. Dem Medizinethiker stellt sich hier die Frage, ob und inwieweit Heilerfolge ein im Grundsatz unethisches, da täuschendes, Verhalten rechtfertigen und ob primär ethisch korrektes Verhalten oder aber medizinisch erfolgreiches Handeln die medizinisch-therapeutische Praxis moralisch steuern sollte. Dies soll zunächst bezüglich der Verabreichung von medikamentösen Placebos untersucht werden. Anschließend sollen komplexere Interventionen analysiert werden. 38 39 40 41 42
Latour 2002: S. 128. Lévi-Strauss 1977: S. 184 – 203. Ebd.: S. 192. Ebd.: S. 193. Ebd.: S. 192.
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1. Die Verabreichung medikamentöser Placebos Unter medikamentösen Placebos verstand man im deutschen Sprachgebiet zunächst Nosokomial-, Schein- oder Leermittel, die verwendet werden, um „… einem subjektiven Bedürfnis nach medikamentöser Therapie zu entsprechen.“43 Desweiteren handelt es sich dabei um Maßnahmen, bei denen die „subjektive Beeinflussung das Befinden des Patienten verbessert; dazu gehören auch das Einbringen der Persönlichkeit des Behandelnden, sowie die menschliche Zuwendung bei aufwendigen diagnostischen und therapeutischen Verfahren …“44 Zudem wird zwischen aktiven (wirkstoffhaltigen) und passiven (wirkstofffreien) Placebos unterschieden, sowie den sogenannten Pseudoplacebos, also Medikamenten deren Wirkmechanismus bisher nicht nachgewiesen werden konnte. In der Schweiz gaben kürzlich 57% der Hausärzte in einer repräsentativen Umfrage an, regelmäßig Pseudoplacebos an Patienten abzugeben. 17% verabreichen sogar regelmäßig reine Placebos.45 Die gezielte Gabe von Placebos in der (meist) ärztlichen Praxis kann theoretisch nur dann gelingen, wenn der Patient nicht darüber aufgeklärt ist. Dies widerspricht der Aufklärungspflicht des Arztes. Allerdings soll mit der Placebogabe ja meist eine psychologische Wirkung erreicht werden, die wiederum nur durch die Täuschung erzeugt werden kann, so dass ein altbekanntes Dilemma zutage tritt: hat, wer heilt, tatsächlich recht? Und bei Weitem gravierender: Was geschieht, wenn die Täuschung dem Patienten bekannt wird, wenn er also feststellen muss, dass eine möglicherweise erlebte Verbesserung auf der Lüge einer durch ihn aufgesuchten und anerkannten Autoritäts- und Vertrauensperson beruht? Die in den Grundrechten verankerte Würde des Menschen wird im Rahmen solcher Täuschungen verletzt. Denn die Patienten werden (auch wenn es sich seitens des Arztes um wohlmeinende Absichten handelt) entmündigt und so der freien Entscheidungsfindung beraubt. Schließlich wird ihnen das Placebo in der Regel als potentes Heilmittel vorgestellt. Das heißt, es werden Hoffnungen geweckt. Das ärztliche oder therapeutische Handeln orientiert sich jedoch an Werten wie Fürsorge, Mitgefühl, Schadensvermeidung, Verantwortung für den Patienten und der Verpflichtung zum Heilen und Helfen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist von Vertrauen geprägt. Offenbart sich dem Patienten eine Täuschung, so löst dies unter Umständen erheblichen emotionalen Stress, Angst, Sorge oder Schmerzen aus und bewirkt somit persönlichen Schaden. Das heißt, die Aufdeckung könnte so den positiven Effekt einer Placebointervention umkehren und langfristig zu einem allgemeinen Vertrauensverlust des Betroffenen gegenüber der Medizin und ihren Protagonisten führen. Ethisch ist eine Placebogabe also nur schwer zu rechtfertigen. Doch praktisch steht das Wohl des Patienten im Vordergrund. (Auch die InformatioWörterbuch Psychologie 2005: S. 384. Gesundheitsbrockhaus 1999: S. 996. 45 Online: http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psychologie/Ein-Loeffel-Placebo-gegen-den-Husten-/story/26157778 (Stand: 1. 02. 2011). 43 44
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nen über die Nebenwirkungen von Medikamenten erzeugen ein ethisches Dilemma, denn hier erweist sich die Informationspflicht des Arztes oder des Pharmazeuten und das Informationsrecht des Patienten als ein schmaler Grat, da die psychologischen Folgen einen Schaden anrichten können, den sogenannten Nocebo-Effekt, der das Grundrecht auf körperliche und nach modernem Verständnis auch psychische Unversehrtheit verletzt.) Es zeigt sich erneut, dass bestehende Begriffe und Definitionen rund um das Thema Placeboeffekt nicht nur die Diskussion, sondern auch die praktische Synthese von ethisch korrektem und medizinisch erfolgreichem Handeln erschweren. Es deutet also tatsächlich einiges darauf hin, dass das gesamte Modell tiefgreifende Mängel aufweist, die bisher nicht ausreichend debattiert wurden. Zumal der amerikanische Wissenschaftler T. Kaptchuk kürzlich eine Studie veröffentlichte, deren auf den ersten Blick paradoxe Ergebnisse belegen, dass eine Täuschung vielleicht gar nicht nötig ist. Denn er verabreichte seinen Patienten, die an einem Schmerzsyndrom des Verdauungstraktes litten, Placebos gegen die Schmerzen und klärte sie darüber auf. Die Placebos wirkten trotzdem, linderten also nachweislich den Schmerz.46 Viele der bisher angeführten Erkenntnisse weisen zudem auf ein weiteres epistemologisches Problem hin: Bei Begegnungen zwischen Behandlern und Patienten übersteigt die Komplexität der Interaktionen das wissenschaftliche Beobachtungsvermögen, so dass der Blick des wissenschaftlichen Beobachters begrenzt werden muss. Doch inwieweit sind diese Ergebnisse dann überhaupt in die therapeutische Praxis übertragbar?
2. Placebokomponenten komplexer therapeutischer Interventionen Noch einmal zur Erinnerung: Placeboeffekt meint, dass die „subjektive Beeinflussung das Befinden des Patienten verbessert; dazu gehören auch das Einbringen der Persönlichkeit des Behandelnden, sowie die menschliche Zuwendung bei aufwendigen diagnostischen und therapeutischen Verfahren …“47 Insofern erscheint es sinnfrei, darüber zu diskutieren, ob Placeboeffekte immer wirken. Man kann sogar behaupten, dass sie offensichtlich überhaupt nicht ausgeschlossen werden können. Ihre Bedeutung für die Praxis variiert jedoch entsprechend der eingenommenen Perspektive auf dieses Phänomen. So könnte ein konservativer Schulmediziner argumentieren, dass es sich hierbei eben um unspezifische Wirkebenen handelt, wobei die Erfolge der durch ihn vertretenen Medizin gerade auf den spezifischen, kausal modellierbaren Mechanismen beruhen. Dabei erzielt ein von extern zugeführtes Agens eine vorhersagbare und 46 Online: http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0015591 (Stand: 4. 02. 2011). 47 Gesundheitsbrockhaus 1999: S. 996.
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experimentell bestätigte Wirkung. Für ihn wirken die Homöopathen und das Gedächtnis des Wassers, die Akupunkteure, das Qi und die Meridiane oder die Osteopathen und der kraniosakrale Rhythmus ausschließlich über die unspezifischen Wirkebenen, da die postulierten Mechanismen und Wirkungen (zumindest bisher) experimentell nicht belegt werden konnten und deshalb als widerlegt gelten. Trotzdem sieht auch er sich ab und an Behauptungen von Patienten ausgesetzt, denen es nach Interventionen dieser Art tatsächlich besser ging, die sich im (für ihn) ungünstigsten Fall sogar als geheilt bezeichnen. Aus seiner Sicht handelt es sich dabei jedoch nur um Ausnahmen – und das zu Recht. Denn er behandelt seine Patienten nach den Regeln der Schulmedizin und gerade deshalb trifft er nur in Einzelfällen auf Patienten, die dergleichen behaupten, vielleicht liest er auch nur von ihnen. Und er kann sofort auf kontrollierte Studien verweisen, die zeigen, dass diese Verfahren nicht wirken, zumindest nicht besser als ein Placebo. Und da die Medizin nicht nur im Einzelfall, sondern auch in Populationen wirken muss, hätten diese Einzelfälle kaum Relevanz für die Gesamtheit der Betroffenen. Vielmehr seien hier eindeutig Placeboeffekte im Spiel, die ja ganz offensichtlich vom Patienten mobilisiert werden und gerade nicht vom alternativen Therapieverfahren. Der Vertreter eines alternativen Heilverfahrens wiederum reagiert möglicherweise verärgert auf diese Argumentation: Er selbst hätte schon so oft erlebt, wie gut es den Patienten nach seiner Behandlung ging. Und deshalb ist für ihn offensichtlich, dass sein Verfahren wirkt. Und wenn es wirkt, muss auch die dazugehörige Theorie stimmen, zumal diese häufig viel älter als die meisten Theorien der Schulmedizin ist. Und deren Forschungsmethoden sind aus seiner Sicht gänzlich ungeeignet, um das von ihm verwendete Verfahren zu untersuchen, denn sie zerlegen den Menschen künstlich in Einzelteile, während er immer das ganze Wesen behandeln würde, und das ist eben mit diesen Methoden nicht darstellbar. Da ihn jedoch das Placeboargument verärgert, sieht er sich unter Umständen veranlasst – wahrscheinlich ohne dies zu bemerken – ebenfalls das Modell eines spezifischen, monokausal wirkenden Mechanismus anzuführen oder zu entwerfen. Er weist also bestimmten Akupunkturpunkten eine spezifische Wirkung zu, behandelt Ähnliches mit hochverdünntem Ähnlichen oder mobilisiert Schädelknochen um psychologische Blockaden zu beseitigen. Zu seiner Ehrenrettung entwirft er also Modelle im Sinne der klassischen Schulmedizin naturwissenschaftlicher Prägung und schaufelt sich so unbemerkt sein eigenes, argumentatives Grab. Denn häufig können diese Modelle sehr schnell experimentell widerlegt werden.48 Und so wird auch er sich alsbald wieder auf eine Position des Beharrens zurückziehen: Die Schulmedizin ist dann mechanistisch, aus 48 So zeigte sich zum Beispiel im Rahmen der sog. GERAC Akupunktur-Studien (http:// gerac.de/), dass Akupunktur bei Knieschmerz der Standardbehandlung deutlich überlegen war. Allerdings konnten keine nennenswerten Unterschiede der Effektstärken zwischen traditioneller Akupunktur und Scheinakupunktur festgestellt werden. Diese Ergebnisse wurden durch etliche Folgestudien bestätigt. Akupunktur wirkt also tatsächlich, allerdings nicht nach den von den Anwendern vertretenen Regeln. Interessanterweise zahlt die Gesetzliche Krankennversicherung Akupunktur bei Knie- und Kreuzschmerz trotzdem, nicht jedoch bei Kopfschmerz.
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evidenzbasierter wird eminenzbasierte Medizin, und hinter allem steckt die Pharmaindustrie. In diesem imaginierten Gesprächskreis fehlen nur noch die Patienten: Bedingt durch ihre sozialen, intellektuellen, psychologischen und biologischen und heute sicherlich auch durch ihre technischen Biographien entwickeln Menschen Vorlieben für bestimmte Interventionen, probieren vielleicht einiges aus und stoßen schließlich auf eine Heilerpersönlichkeit oder ein Verfahren, die ihnen als omnipotent erscheinen. Sie binden sich fortan in Situationen von Kranksein an diese Personen oder Institutionen, die nun eine Rolle übernehmen, die, zumindest bis zur Pubertät, in der Regel durch die Mutter ausgefüllt wurde. So ist ein erster Patient vielleicht daran gewöhnt, im Falle von Krankheit zunächst grundsätzlich die Mittel der Natur anzuwenden. Für den einen mögen das Globuli sein, für einen anderen Bachblüten und für einen dritten ist es die manuelle Aktivierung der Chakren. Er misstraut der Schulmedizin und den Schulmedizinern, denn in ihren Praxen ist die Atmosphäre kühl, steter Zeitdruck bestimmt das Geschehen. Das Wort und die Berührung weichen der Verwaltung. Es wird verordnet anstatt zu kommunizieren. Und aus diesem Grund schätzt er die Hauptmerkmale der meisten komplementärmedizinischen Verfahren: zeitlich und inhaltlich umfangreichere Befunde, geringerer Zeitdruck (da es sich in der Regel um privat finanzierte Zusatzleistungen handelt), die vielzitierte ganzheitliche Perspektive, die Sanftheit der Verfahren etc. Im Notfall, zum Beispiel bei akuter bakterieller Infektion, Knochenbruch oder Herzinfarkt, würde er sicherlich, wenn auch widerwillig, auf die Mittel der Schulmedizin zurückgreifen, ihre Wirkung jedoch weiterhin gering schätzen und deshalb die Maßnahmen durch alternative Methoden ergänzen, die dann meist eindeutig die Heilung beschleunigen. Ein anderer Patient wiederum glaubt fest an die Methoden und Erfolge der Schulmedizin, denn schließlich ist er selbst Ingenieur. Er vertraut seinem Arzt und dessen diagnostischen Mitteln und ist sich der passenden Tablette für jedes Wehwehchen gewiss. Und so überträgt er, im Falle von Unstimmigkeiten zwischen gewünschtem und empfundenem Leib, die Verantwortung für seinen Körper der Schulmedizin und wird mit zunehmendem Alter und zunehmender Diagnostik kränker, steigert die Tablettenanzahl, sucht mehr und mehr Fachärzte auf, um diese oder jene Schmerzen, nächtliche Unruhe, ein generalisiertes Unwohlsein oder das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, abzuklären und möglichst schnell zu beheben. Unbemerkt wirkt hier der Kulisseneffekt: „Wird eine Krankheitsart erfolgreich bekämpft (…), ist dies, als wurde nur eine Kulisse beiseite geschoben, wodurch dann der Blick auf eine weitere und nächste Kulisse frei wird.“49 Zur weiteren Abklärung wird dann ein Facharzt nach dem anderen aufgesucht, eine Tablette wird durch zwei neue ersetzt, und zumindest, wenn er seinen Arzt oder Apotheker verlässt, empfindet dieser Patient kurzfristig Geborgenheit in seinem zunehmend schwieriger wer49
Achenbach 2011.
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denden Leben. Dabei hat er für Homöopathie oder Magnetfeldtherapie nur wenig übrig, schließlich zähle dort doch nur, dass man daran glaubt. Und überhaupt würde er diese ganze „Psychoschiene“ für veraltet und überholt halten. Anhand dieser fiktiven Beispiele sollte gezeigt werden, dass je nach gewählter Perspektive ein Verfahren gänzlich ohne Placeboeffekt auskommt, während ein anderes ausschließlich darüber wirkt. Und die Vertreter beider Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber, während die Patienten dazwischen lavieren. Aus einer für alle Seiten wohlwollenden Perspektive lässt sich sagen, dass Vertrauen, Empathie, Selbstheilungskräfte etc. natürlich immer wirken und deshalb auch immer ein wesentlicher Bestandteil jeglicher ärztlicher oder therapeutischer Interaktionen mit dem Patienten sind. Und gerade deshalb ist es auch für die Medizinethik schwierig, im Kontext des Placebophänomens verlässliche und vor allem nützliche Handlungsanweisungen für die medizinisch-therapeutische Praxis zu entwerfen. Denn schon der oben angeführte Bericht von Lévi-Strauss über Quesalid, den Schamanen wider Willen, erzählt von den Stolperdrähten und Falltüren, die es dem Medizinethiker nahezu unmöglich machen, konsistente und praktisch nachvollziehbare Aussagen zu treffen. Schließlich kann Heilung doch grundsätzlich nichts unethisches oder moralisch verwerfliches sein. Als ethisch einwandfrei erscheinen plötzlich nur noch klinische Maschinen, die dem Kranken Interventionen verabreichen, um jegliche interaktive Komponente, also jede mögliche Täuschung durch zum Beispiel übertriebene Zuversicht und somit potenziell betrügerische Placeboeffekte, vorsorglich auszuschließen. Doch was, wenn die Kranken auch an die Maschinen glauben und wenn diese dann plötzlich auch mit Scheintabletten wirken? Oder tun sie das schon längst? Inwieweit besteht überhaupt eine Verantwortlichkeit des Systems, des Staates oder stellvertretend des hier imaginierten Ethikers für die Gesundheit (und Sicherheit) aller zu sorgen und gleichzeitig die stets klammen Kassen zu schonen? Wer zahlt, wenn jeder Kranke das macht, was ihm hilft oder auch nicht hilft, also zumindest das tut, was ihm geeignet erscheint? Sollte an diesem Punkt des Gedankenspiels überhaupt eine ethische Analyse gewagt werden? Muss hier nicht jede Ethik im Ungefähren verbleiben, um nicht praktisch zu scheitern? Und verbirgt sich vielleicht im Dunkel hinter den bestehenden Vorstellungen von Medizin, Therapie, von kranken und gesunden Menschen ein tiefer Riss, der die verschlungenen und höchst unstrukturierten Pfade des modernen medizinischen Selbstverständnisses durchkreuzt und so schlüssiges (also sowohl fachliches als auch ethisches) Argumentieren fortwährend in der Wüste unklarer Begrifflichkeiten versiegen lässt? Könnte es also ein durchaus gewinnbringender Versuch sein, das Placebophänomen zunächst zu dekonstruieren, um dann zu schauen, ob aus der entstandenen Unordnung neue Ideen und Ansätze gewonnen werden können? Nun denn, den Versuch ist es sicherlich wert!
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IV. Die Dekonstruktion eines Missverständnisses Insofern wir den Placeboeffekt oder das Placebophänomen zunächst als ein sprachliches Symbol betrachten, repräsentiert es nach meiner Ansicht zuallererst ein allgemeines Unverständnis des Phänomens Therapie. Denn es verringert natürliche Komplexität, indem es eine Spaltung von Therapie in spezifische und unspezifische Wirkebenen konstruiert, die letztlich für den therapeutischen Alltag, die Therapieforschung und die therapeutische Ausbildung nur wenig Relevanz hat. Es reduziert ein facettenreiches, interaktives Phänomen auf eine Beobachterperspektive, um anschließend Rückschlüsse auf die Qualität des Gesamtsystems zu ziehen. Und es entwertet interaktiv errungenen therapeutischen Erfolg zu einem Begleitphänomen, das eine wirksame Intervention gewissermaßen ausschmückt und als eine Art ideelle Beilage verabreicht, beziehungsweise vom Patienten selbst und somit unabhängig von einem Therapeuten erzeugt wird. Auch deshalb nutzen orthodoxe Vertreter der konventionellen Medizin das Placeboargument häufig, um komplementären therapeutischen Verfahren jegliche Wirksamkeit abzusprechen, indem zum Beispiel behauptet wird: „Placeboeffekte machen sehr wahrscheinlich einen Teil, wenn nicht die Gesamtheit der Wirkung von Alternativ- und Komplementärmedizin aus.“50 Während wiederum Komplementärmediziner dazu neigen, sich komplexe Veränderungen der individuellen Situation des Patienten auf die eigenen Fahnen zu schreiben. Und häufig werden sogar negative Veränderungen als so genannte (und so erwartete) Erstverschlimmerung interpretiert, die dann wiederum ein deutliches Zeichen für die Wirksamkeit repräsentiert und deshalb erwünscht ist. Demgegenüber behaupte ich, dass nicht nur die Interventionen darüber bestimmen, wie das System Mensch reagiert, sondern dass auch die Interaktion von Therapeut und Patient innerhalb der therapeutischen Beziehung komplexe Phänomene wie Behandlungserfolg und -misserfolg erzeugt. Das „Wie“ der therapeutischen Wirkung entzieht sich aufgrund seiner Komplexität und unserer komplexitätsvermeidenden Erkenntnisstrategien (noch) unserer Beobachtung. Es kann zwar im Einzelfall konstruiert, nicht jedoch ins Allgemeine übertragen werden. Zudem erzeugt jede dieser Interaktionen emergente Phänomene, die nur schwer vorhergesagt werden können, da Individuen miteinander agieren, keine Maschinen. Einem festgelegten Input folgt also nicht zwangsläufig ein ebenso vorhersagbarer Output. Doch leider neigen wir dazu, „in einer Welt voller Gewissheit, voller unbestrittener Stichhaltigkeit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, dass die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiss erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alltag, unter unseren kulturellen Bedingungen, ist dies die übliche Art Mensch zu sein.“51 Und nicht nur Wissenschaftler, auch Therapeuten, Ärzte und Patienten – auch ich – bevorzugen und erwarten einfache und schlüssige Antworten auf komplexe Problemkonstellationen. Denn Un50 51
Breidert et al. 2009. Maturana / Varela 1984: S. 20.
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sicherheit und Unwägbarkeit erzeugen zunächst Angst. Allerdings bedeutet Unsicherheit auch eine Vielfalt der Möglichkeiten, erfordert also kreative Kompetenzen. Leitlinien, Standards, Paradigmen, Dogmen und Mythen lindern zwar das Gefühl der Unsicherheit und stabilisieren so gesellschaftliche Subgruppen. Sie hemmen jedoch gleichzeitig Kreativität, Querdenkerei, konstruktiven kritischen Diskurs, interdisziplinären Austausch und die professionelle Weiterentwicklung: „Da kann der Papst auf’m Vulkan tanzen: … Das ist ein unschlüssiges Leben hier, das genau aus dieser Unsicherheit seine Kraft zieht.“52 Und leider werden viele dieser theoretischen, unsicherheitsvermeidenden Gebäude oder Fundamente schon längst nicht mehr von den direkt Beteiligten oder Betroffenen des Gesundheitsversorgungssystems errichtet und erhalten, sondern repräsentieren zunehmend die Interessen einzelner, wirkungsmächtiger Akteure. Zu nennen wären hier die Gesundheits- und Pharmaindustrie, Kostenträger (Krankenkassen), Verwalter (Kassenärztliche Vereinigung), Parteien, Wissenschaftliche Institutionen, Berufsverbände etc. Eine funktionsfähige und vor allem glaubwürdige Ethik muss zunächst diese Zusammenhänge aufdecken und strukturieren, um schließlich unter Einbeziehung von Vertretern aller beteiligten und betroffenen Personen und Institutionen eine verbindliche, theorie- und praxistaugliche (wissenschaftliche, ärztliche, therapeutische, wirtschaftliche etc.) Ethik zu entwickeln, zu erhalten und anzupassen.
V. Die sozialhistorische Perspektive als möglicher Ausgangspunkt eines ethischen Diskurses Es gibt heute „keine Institutionen, die sich mit den ethischen oder sozialen Fragen, krasser ausgedrückt mit den ethischen oder sozialen Gefahren neuer Lehren befassen. Dahinter steckt die Idee, dass die Wahrheit auf jeden Fall nützlich ist. (…) Und Wissenschaftler meinen mit Wahrheit gewöhnlich das, was sie gefunden haben.“53 Zwar stammt dieses Zitat aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, doch hat sich an der Sachlage kaum etwas verändert. Eine fächerübergreifende Institution zur Bewertung historischer, sozialer und ethischer Bedingungen und Auswirkungen wissenschaftlicher Aktivität existiert nur in gewissen Schutzräumen und nennt sich dort Wissenschaftsgeschichte oder Wissenschaftsphilosophie. Und ein dereinst lebendiger Kontakt zwischen dieser Disziplin und den Natur- und Geisteswissenschaften ist längst abgerissen. Man kocht meist auf beiden Seiten sein eigenes Süppchen. Ich will in den folgenden Abschnitten trotzdem versuchen, eine sozialhistorische Perspektive einzunehmen und das Phänomen erneut zu ergründen: Erste Ansätze zum Placebo-Konzept wurden im 19. Jahrhundert entwickelt. Man verglich Therapien erstmals mit Scheininterventionen, um vordergründig Sicherheit, 52 53
Schlingensief 2009: S. 64. Feyerabend 1986: S. 211.
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hintergründig jedoch auch wissenschaftliche Reputation und Anerkennung zu erlangen, Konkurrenten auszustechen oder die eigene Vita zu veredeln. Wahrheit wurde fortan durch die kontrollierte, experimentelle Scheidung von Richtigem und Falschem, Spezifischem und Unspezifischem gewonnen und so konnten – unter der Prämisse des bestehenden Maschinenmodells – mehr und mehr Stoffe und Interventionen hinsichtlich eines nachvollziehbaren und vorhersagbaren Outputs infolge eines experimentellen Inputs untersucht werden. Diese wissenschaftliche (und gesellschaftliche) Bewegung gewann im Verlauf der Jahrzehnte an Kraft und Macht. Und vor allem gewann sie an deutungspolitischer Hoheit über die gemeinen und professionellen Vorstellungen der Funktionsweisen von Mensch, Medizin, Gesundheit oder Krankheit. Jedes Individuum und jede Institution musste sich fortan den Deutungsstrukturen dieser Bewegung anpassen, um zukünftig selbst ein gestaltungsfähiges Element zu werden und so von ihr zu profitieren. Dies gelang, etwa ab der Mitte des letzten Jahrhunderts, besonders gut der Pharmaindustrie. Und man kann ihr dieses Gelingen sicherlich nicht vorwerfen. Sie konnte die maßgeblichen epistemologischen Werkzeuge benutzen, da ihre Agenzien grundsätzlich nur einen oder einige Wirkstoffe enthielten und deshalb durch kontrollierbare Variablen abgebildet und somit effektiv mittels anerkannter Methoden untersucht werden konnten. Psychologie und Sozialwissenschaften waren zu diesem Zeitpunkt noch jung und im Wachstum begriffen. Sie standen also nicht gleichberechtigt neben den klassischen Naturwissenschaften. Vielleicht erklärt sich so, warum man die Einflüsse der Psyche oder des Sozialen als primär störend und deshalb vernachlässigbar ansah und sie in der Forschung unter der Überschrift „unspezifische Effekte“ subsumierte oder sie dahinter verbarg. Geschah dies zu Beginn möglicherweise, weil man die Komplexität noch nicht erahnte, so geschieht es heute vielleicht, weil es bequemer ist, weil es also der dominanten Methodologie keine Veränderungen durch Irritationen, Inkommensurabilität oder Komplexität aufzwingt. Und weil es ganz offensichtlich erfolgreiches Handeln aus Sicht der beteiligten Akteure ermöglicht und immer wieder bestätigt. Alternativen Bewegungen, wie der Psychotherapie oder der Osteopathie, fehlte und fehlt möglicherweise die theoretische, politische und wahrscheinlich auch die finanzielle Kraft, um einen ähnlich einflussreichen Mythos zu erzeugen. Dabei treibt die Konkurrenz um die Vorherrschaft über Wahrheit, Deutungen, Meinungen, Märkte und Patienten alle beteiligten Personen und Institutionen fortwährend auseinander, wobei jeder (entsprechend seinen Möglichkeiten) seine theoretischen Gebäude weiter ausbaut, also größere Patientenpopulationen, fortlaufend weitere Diagnosen oder behandelbare Krankheitsbilder einschließt und den Zugang (z. B. durch Ausbildung, Fachtermini oder finanzielle Beschränkungen) verkompliziert. Und da diese (gesellschaftlichen) Strömungen auf Gegnerschaften beruhen, würde eine offene Diskussion, ein Aufeinanderzugehen, ein Kompromiss oder eine Synthese die Öffnung der Grenzen und somit die eigene Auflösung (Verlust von Einfluss, Privilegien, gesellschaftlichem Status etc.) bedeuten, während Gegnerschaft prinzipiell Unterschiede
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hervorhebt und somit das institutionelle Selbstbewusstsein stärkt. Denn: „Das Gefühl der eigenen Ganzheit ist, genau besehen, nichts anderes als das Resultat des Rückstoßes der gegen die anderen, die Fremden gerichteten Verfeindungsenergie.“54 Und so wühlen sich auch weiterhin alle täglich durch das gleiche um-weltliche und in-weltliche Chaos und stapeln ihre Erkenntnisse zu nur ihnen begreifbaren Haufen beziehungsweise Modellen, Dogmen oder Mythen. Denn letztlich wird – ob in den Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Onkologie oder der Pharmakotherapie – immer nur eine Wirkebene herausseziert, während alle anderen mit dem Verweis auf bestmögliche Objektivität oder Subjektivität ignoriert werden.
VI. Diskussion Es liegt auf der Hand, dass das derzeitig dominante System zur Erzeugung medizinischer Erkenntnis eines ist, das vor allem kommerzielle und administrative (volksgesundheitliche, volkswirtschaftliche oder modern: public health-)Bedürfnisse bedient. Dabei ergänzen sich ein zunehmender Ökonomisierungsdruck und der Ruf nach gesteigerter Effizienz optimal. Doch diese Effizienz bezieht sich primär auf eine mit Zahlen erfassbare, standardisierbare, kommerzialisierbare und somit dienstleistungsorientierte Medizin. Sie bezieht sich nicht oder nur begrenzt auf den einzelnen Patienten, auf Ärzte und Therapeuten und deren individuelle medizinische Erfahrungen und Kompetenzen. Denn diese Erfahrungen werden in der Forschung möglichst heraus gerechnet, also ignoriert. Schließlich sollen gültige Aussagen für viele und nicht für einzelne erzeugt werden. Hier lohnt sich ein erneuter Blick auf das einleitende Zitat: den Ärztinnen und Ärzten sollen „Kenntnisse der Placeboforschung vermittelt werden, um Arzneimittelwirkungen zu maximieren, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten zu verringern und Kosten im Gesundheitswesen zu sparen.“ Zahllose Irritations- und Veränderungspotenziale, wie die kritische Reflexion der eigenen Tätigkeit oder die Veränderung des Berufsbildes, werden so negiert, um das bestehende Modell nur marginal zu ergänzen, nicht jedoch den Mythos zu verändern. Zudem fällt auf, dass die Potenziale der Patienten weiterhin brachliegen. Sie bleiben die mehr oder weniger passiven Empfänger einer medizinischen Dienstleistung, die so oft mit Heilung verwechselt wird. Ihr Beitrag ist dann der Placeboeffekt. Und auch das nur sekundär. Denn primär ist das wesentliche Potenzial weiterhin der Krankenkassenbeitrag. Und das leider häufig auch nach dem Verständnis der Patienten. Die beschriebenen systemischen Eigenschaften fördern zudem, dass ein gemeinwirtschaftlich organisiertes System zunehmend von kapitalistischen Interessen gesteuert wird, die fortlaufend interne Ressourcen55 entziehen und so gleichzeitig den Safranski 2010: S. 152. Ressourcen meint zunächst Geld, das von privatwirtschaftlichen Gesundheitsunternehmen an Eigner oder Aktionäre ausgeschüttet wird. Der Gewinndruck bewirkt in der Folge häufig 54 55
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Druck auf alle erhöhen, ihre eigenen Ressourcen zu verteidigen. Der Fokus verschiebt sich so vom Allgemeinwohl auf das finanzielle Wohl von Einzelnen, Gesellschaften, Aktionären, Krankenkassen oder den prosperierenden Gesundheitskonzernen. Und so wird fast nur noch über Kosten debattiert und immer weniger über Inhalte. Dem Bürger erscheint das Gesundheitssystem als fremd, undurchschaubar, vor allem zu teuer, ineffizient, umständlich und von zunehmend schlechterer Qualität. Und so entzieht er sich lieber der Debatte. Denn gegen etwas, zum Beispiel einen Bahnhof in Süddeutschland, Position zu beziehen, ist in der Regel einfacher, als sich klarzumachen, was genau man von einem Gesundheitssystem erwartet und vor allem, welchen Beitrag (zur eigenen Gesundheit und zur systemischen Gesundheit) man selbst leisten könnte. Häufig regiert auch heute noch der Glaube an eine standardisierte Medizin, den Volhard bereits 1930 so treffend umschrieb: „Man kann es geradezu als Kriterium und höchste Leistung der rationalen Therapie bezeichnen, dass sie in einer Gruppe von Fällen ohne Rücksicht auf den individuellen Kranken, seine Persönlichkeit, seine seelische Verfassung (…) fertig wird. Der Satz: ‚Zwischen Medizin und Tierheilkunde besteht nur noch ein Unterschied bezüglich der Kundschaft‘, trifft heute tatsächlich für eine ganze Reihe von Krankheiten zu, bei denen (…) Heilung sozusagen garantiert werden kann, unabhängig von der Individualität der Kranken und der Persönlichkeit des Arztes.“56 Die Vorstellung von Medizin als industrialisierbare Dienstleistung förderte bis in die Gegenwart ein passives Verhalten der Patienten gegenüber den medizinischen Experten, welche, sei es aus Selbstüberschätzung oder aus geschäftlichen Interessen, bereitwillig die Maximalverantwortung für das gesundheitliche Wohl des Betroffenen übernehmen und so die trügerische Illusion von Gesundheit als Ware, von Heilung als Konsumgut, nähren und festigen. Wir kaufen und verkaufen Mittel und Maßnahmen gegen Krankheiten und wer „die Situation der Medizin unvoreingenommen betrachtet, stellt überrascht und beunruhigt fest, dass sie für das Problem der ärztlichen Ethik einen blinden Fleck entwickelt hat, (…)“ und deshalb Ethikkommissionen das „substituieren, was der Medizin abhanden gekommen ist.“57 Doch woran müsste sich eine theoretisch fundierte und praktisch anwendbare Ethik orientieren? Wer müsste einbezogen werden? Die sozialhistorische Perspektive, als möglicher Ausgangspunkt einer ethischen Reflektion, wurde bereits erläutert. Unbestreitbar erscheint zudem, dass Ärzte und Therapeuten grundsätzlich verpflichtet sind, die Gesundheit des anderen zu vermehren und nicht zu vermindern.58 Und die Gesellschaft ist ebenso zu einer solidariEinsparungen beim Personal, was einen Verlust von Humanressourcen (durch Entlassung oder Stress) bedeutet. Gleichzeitig lenken Gewinnziele die Weiterentwicklung, so dass primär in gewinnträchtige Behandlungsmethoden investiert wird und erst sekundär in nachhaltig wirksame Anwendungen oder Hilfestellungen, die Autonomie fördern und Abhängigkeit vorbeugen. 56 Volhard 1930 zitiert nach Uexküll 2008: S. 1342. 57 Uexküll et al. 2008: S. 1340. 58 Ebd.: S. 1344.
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schen Gemeinschaft mit Kranken und Hilfsbedürftigen verpflichtet, die zum Ziel hat, dem Individuum Gesundheit, Autonomie und Selbstverwirklichung zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Ärzte, Therapeuten, Pflegekräfte und Sozialarbeiter würden dann als Anwälte der Patienten fungieren und ihre Interessen gegenüber denen des Gesamtsystems verteidigen. Und wird die Autonomie des Patienten als maßgebliches Zielkriterium angenommen, so würde das bedeuten: 1. Fortan wird nicht mehr die Behandlung von Krankheiten, sondern der Erhalt von Autonomie zum primären Zielkriterium medizinisch-therapeutischer Aktivitäten. 2. Der Patient wird unterstützt, ein eigenes Bild seiner Erkrankung zu entwickeln und individuelle Maßnahmen zu ergreifen, um seine Autonomie bestmöglich zu erhalten. Insbesondere Kreativtherapien wie imaginative Therapien, Bibliotherapie, Musiktherapie oder Achtsamkeitstrainings und Entspannungsverfahren erscheinen mir hierfür besonders geeignet. 3. Der Bürger übernimmt mehr Verantwortung für sein persönliches Wohlsein (Und diese ist häufig schwerer zu tragen als ein monatlicher Krankenkassenbeitrag. Insofern sollte schon in Kindergärten und Grundschulen begonnen werden, ein Bewusstsein für diese Verantwortung zu entwickeln.) 4. Gesundheit wird nicht mehr als der trügerische Schein von Symptomfreiheit verstanden (und verkauft), vielmehr sollte sich das Interesse der Beteiligten auf Kohärenz im eigenen Lebensentwurf (und die individuellen Folgen, falls diese Kohärenz nicht bestand oder besteht) richten. 5. Der Einzelne ist sich der Verantwortung für das Gesamtsystem bewusst. Dies kann zum Beispiel durch dezentrale Versorgungs- und Verwaltungsstrukturen mit flachen Hierarchien und durch die Integration aller Beteiligten gefördert werden.59 6. Komplexe Veränderungen bedürfen komplexer Werkzeuge. Insofern müssten die Therapiewissenschaften zahlreiche Erkenntnismethoden triangulieren und ein zirkuläres Modell nutzen (s. auch Abb. 1 im Anhang). Evidenzhierarchien sollten variabel sein und durch qualitative Merkmale ergänzt werden. Die Therapieforschung muss sich zudem fragen, ob der Nachweis einzelner Kausalbeziehungen, insofern er denn möglich ist, überhaupt einen praktischen Wert hat und ob ursprünglich pharmazeutische Forschungsmethoden tatsächlich die praktische und theoretische Weiterentwicklung fördern, oder ob sie nicht eher die Bedürfnisse der Kostenträger im Gesundheitswesen bedienen. 59 So initiierte zum Beispiel die AOK in Baden- Württemberg das Projekt „Gesundes Kinzigtal“. Die Versicherten wurden dabei in ein integriertes Versorgungskonzept einbezogen und die Leistungserbringer erhalten seitdem ein jährliches Budget für alle Leistungen und Maßnahmen, das sie selbstbestimmt und verantwortlich verwalten. Mittels dieser Dezentralisierung von Verantwortung konnten im Bundesvergleich deutliche Einsparpotenziale aufgedeckt werden. Online: http://www.gesundes-kinzigtal.de (Stand: 15. 01. 2011).
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7. Ein solidarisches Gesundheitssystem bedarf der gemeinwirtschaftlichen Organisation, um so den Abfluss gemeinwirtschaftlichen Kapitals in privatwirtschaftliche Bereiche zu verhindern. Die finanzielle Existenz der Leistungserbringer muss unabhängig von ihren Tätigkeiten gesichert werden (zum Beispiel durch fixe Stundenlöhne anstatt verfahrensbezogene Honorare). 8. Für die Ausbildung von Therapeuten würde die Integration dieses Modells bedeuten, dass sie zuerst eine allgemeine Theorie des Menschen vermitteln sollte, anhand derer dann die berufsspezifischen theoretischen und praktischen Fächer erschlossen werden können. Denn auch in der Medizin stehen sich Natur- und Geisteswissenschaften weiterhin uneins gegenüber. Die einen huldigen dem Primat experimenteller Objektivität, während die anderen das Individuum und dessen subjektive Bedeutungssphären in den Mittelpunkt rücken. Idealerweise sollten also alle therapeutischen Berufe ein gemeinsames Grundstudium absolvieren, um von Beginn an eine Brücke zwischen individualistischen und systematischen Herangehensweisen zu schlagen und so eine interprofessionelle und integrative Entwicklung zu gewährleisten. Dem Leser mag es auf den ersten Blick etwas verwegen erscheinen, diese Punkte aus einer Abhandlung über die Medizinethik und das Placebophänomen herauszuarbeiten, aber gerade hier illustrieren sich die in diesem Essay angedeuteten Widersprüchlichkeiten des medizinischen Selbstverständnisses besonders deutlich. Allerdings sind insbesondere die unter Punkt 5 beschriebenen Zusammenhänge nach meiner Ansicht so gestaltungsmächtig, dass eine zügige Veränderung des Systems zwar durchaus wünschenswert wäre, unter den gegebenen Bedingungen jedoch nur scheitern kann. Vielleicht ist also die Opposition kein kluger Standpunkt. Möglicherweise bedarf es subversiver Methoden. Und das Placebophänomen bietet auch hierfür einige interessante argumentative Hebel, also Werkzeuge, die als Erkenntnismethode akzeptiert sind und deshalb wissenschaftliche Tatsachen erzeugen können, die durch geschickte Argumentation zu Irritationen, Denkanstößen und so mit etwas Glück zu einem schleichenden Systemwandel führen könnten. So wird derzeit im Rahmen der Hanse-Neuropsychoanalyse-Studie (HNPS)60 untersucht, ob psychoanalytische Therapien bei Depressionen zu nachweisbaren hirnorganischen und hirnphysiologischen Veränderungen führen. Und auch für Angststörungen und das posttraumatische Belastungssyndrom gibt es bereits erste vielversprechende Ergebnisse, die individuellen therapeutischen Erfolg neurobiologisch belegen.61 Für viele der unter der Überschrift Placeboeffekt zusammengefassten Phänomene ist dies längst geschehen, nur gelten sie bisher nicht als Beleg einer effektiven Therapie. Vielleicht lohnt es sich also nicht nur für die Psychotherapie, 60 Online: http://www.medizin-im-text.de/blog/2391/hanse-neuropsychoanalyse-studie-hnps/ (Stand: 10. 12. 2010). 61 Online: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/wib/1274580/ (Stand 2. 01. 2011).
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die Neurobiologie – als eine der Leitwissenschaften des beginnenden 21. Jahrhunderts – zu engagieren, um die spezifische Wirksamkeit mittels anerkannter Erkenntnismethoden zu belegen und das Placebophänomen gewissermaßen unbemerkt und schleichend umzuinterpretieren, es schlicht und ergreifend als therapeutischen Erfolg zu bezeichnen. Vorerst jedoch sollten die gestaltungsmächtigen Illusionen geachtet und genutzt werden, anstatt sie direkt zu bekämpfen. Schon Galileo Galilei nutzte subversive Methoden, um das ptolemäische durch das heliozentrische Weltbild zu ersetzen. Und seine Propagandamanöver waren „oft von der Erkenntnis geleitet, dass etablierte Institutionen, gesellschaftliche Verhältnisse und Vorurteile die Annahme von neuen Ideen behindern können, so dass diese auf mittelbare Weise eingeführt werden müssen.“62 Eine neue Idee bedarf, insbesondere wenn sie alte Denkmuster gefährdet, zunächst anerkannter Methoden, um ihren Fortbestand zu sichern und ihre Verbreitung zu ermöglichen. Die Neurobiologie ist vielleicht eine solche Methode. Ob die hier vorgenommene Kritik am Placebokonzept, der daraus abgeleitete ethische Diskurs und die entsprechenden medizinisch-therapeutischen Handlungsmodelle tatsächlich „wahrer“ oder objektiver sind als das Bestehende, erscheint nebensächlich. Viel wichtiger ist, ob sie praktikabler sind. Epistemologische Grabenkämpfe sollten hier nur eine untergeordnete Rolle spielen, denn „was das Wort Wahrheit betrifft, so kann man an diesem Punkt nur sagen, dass es die Menschen sicherlich hypnotisiert, aber sonst nicht viel leistet.“63 Eine absolute Gewissheit im Sinne Descartes wird uns wohl auf ewig verwehrt bleiben. Und was die medizinische Ethik betrifft, so wird und wurde sie täglich an vielen Orten dieser Welt praktiziert. Doch das entbindet uns nicht davon, für sie einzutreten, sie fortlaufend zu formulieren, zu kritisieren und weiterzuentwickeln. Denn Ethik ist nur schwer verkäuflich, und deshalb ist ihr Bestand unter den heutigen Bedingungen zunehmend gefährdet.
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Feyerabend 1986: S. 138. Ebd.: S. 303.
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Sebastian Gasde
Quelle: Kienle 2005: Gibt es Gründe für pluralistische Evaluationsmodelle? Limitationen der randomisierten klinischen Studie. Online: http://www.ifaemm.de/Abstract/PDFs/GK05_1.pdf (Stand: 2. 02. 2011).
Abbildung 1: Informationssynthese aus verschiedenen Arten von Evidenz, die auch den Einbezug des wissenschaftlich aufgearbeiteten ärztlichen Urteils ermöglicht
Summary The effectiveness of a medical or therapeutic intervention is commonly measured by the differentiation of one specific and several unspecific levels of the examined intervention. The unspecific effects are typically summarized by the term placebo effect. This scientific approach relies on control groups, blinding and randomization and was founded in the late 19th and the early 20th century.
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This essay analyzes the consequences and inherent epistemological obstacles of this approach for medical and therapeutic science and practice from an ethical point of view. The placebo-phenomenon will be deconstructed from social-historical and philosophical perspectives, revealing weaknesses of medical theory, practice and ethics. Finally, hidden resources and chances of the placebo effect will be enlightened, which could establish a sustainable model of medicine as a highly subjective, interactive role play. This envisioned role play consists of numerous micro- and macrolevels, which need to be considered with equal importance, instead of declaring one level as the only therapeutically useful level.
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Diskussionsforum – Discussion Forum
Die Universalisierte Goldene Regel als Grundlage einer kulturübergreifenden Moral und Moralerziehung* Hans-Ulrich Hoche
I. Das Erfordernis einer kulturübergreifenden Moral und Moralerziehung 1. Wie besonders seit dem Beginn der großen Finanz- und Wirtschaftskrise im Herbst 2008 offenkundig geworden ist, scheint weiten Kreisen der internationalen ‚Elite‘ in Wirtschaft und Politik jedes Gespür für Solidarität, Gerechtigkeit und moralische Verpflichtung, um nicht zu sagen: für Anstand abhanden gekommen zu sein – wenn wir einmal (was wahrscheinlich überaus naiv ist) unterstellen wollen, dass es früher so etwas wirklich gegeben hat.1 Wer Abhilfe schaffen will, wird eine Vielzahl unterschiedlichster Maßnahmen nicht nur bedenken und fordern, sondern, soweit es in seiner Macht steht, auch durchsetzen helfen müssen; und dazu gehört neben rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Innovationen auch, und an erster Stelle, eine reformierte und möglichst ‚effiziente‘ Moralerziehung, die jenen andern als Fundament dienen kann. 2. Es dürfte unstrittig sein, dass uns heute – nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung und der weltweiten Migration – noch sehr viel weniger als in früheren Zeiten mit einer Moral gedient ist, die bloß innerhalb einer religiös und kulturell weitgehend homogenen Gesellschaft akzeptiert werden kann. Insbesondere die verschiedenartigen und teilweise miteinander unvereinbar scheinenden ‚Wertesysteme‘ der (zumindest ursprünglich, aber auch heute noch weithin) christlich geprägten west* Diesen Aufsatz widme ich dem Andenken meines langjährigen guten Freundes Professor Dr. Abdoldjavad Falaturi, geboren 1926 in Isfahan, gestorben 1996 in Berlin, der, von Hause aus schiitischer Theologe, in Köln über den Begriff der Achtung in Kants Ethik promoviert und als Philosoph, Orientalist, Religionswissenschaftler und Gründer / Leiter der Islamwissenschaftlichen Akademie zu Köln tatkräftig sehr viel Gutes zum islamisch-deutschen Dialog der letzten Jahrzehnte beigetragen hat. 1 Wie es in dieser Hinsicht in Deutschland und einigen seiner mitteleuropäischen Nachbarländer vor ungefähr einem halben Jahrtausend aussah, beschreibt in erschreckender Deutlichkeit zum Beispiel der 1807 geborene württembergische Theologe und Historiker Wilhelm Zimmermann in seinem an farbigen Details ungemein reichen Buch über den großen deutschen Bauernkrieg, dessen Originalausgabe wenige Jahre vor der 1848-er Revolution erschienen ist (Zimmermann 1952).
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Hans-Ulrich Hoche
lichen Welt und des Islam machen uns gegenwärtig zu schaffen, und das nicht nur im Kontext der internationalen Beziehungen (etwa der besonders brisanten zwischen den USA, dem Iran und Israel oder derer zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn), des Afghanistan-Konflikts und des internationalen islamistischen Terrorismus, sondern sogar schon in der Innen- und der Erziehungspolitik vieler europäischer Länder. Eine international und inter- oder transkulturell wirklich anwendbare normative Ethik oder Moral kann daher auf keinen Fall eine heteronome Ethik eines ‚Sollens‘ sein, das auf dem mutmaßlichen Willen oder den angeblichen Befehlen einer göttlichen Instanz gründet. 3. Leider muss man aber feststellen, dass gerade unter professionellen Ethikern die Rede von einem moralischen ‚Sollen‘ – anstatt der im Alltag, wenn ich recht sehe, viel üblicheren Rede von einem moralischen Müssen, von moralischen Pflichten oder moralischen Verpflichtungen – noch immer weit verbreitet ist. Diese Redeweise ist jedoch dazu angetan, die in gleichem Maße wichtigen, aber doch ganz unterschiedlichen Aufgaben einer – metaethischen – Moralbegründung und einer – politisch-rechtlichen – Moraldurchsetzung unnötig zu erschweren. Denn es dürfte kaum ein Geheimnis sein, dass die Rede von einem ‚moralischen Sollen‘ geeignet ist, uns in gefährlicher Weise in die Irre zu führen. Als Kronzeugen dafür möchte ich einen der einflussreichsten und zugleich scharfsinnigsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts aufrufen, nämlich Ludwig Wittgenstein, der hier allerdings in einer vielleicht nicht ganz authentischen Gesprächsniederschrift seines Schülers Friedrich Waismann wiedergegeben wird: „Ein Soll hat […] nur Sinn, wenn hinter dem Soll etwas steht, das ihm Nachdruck gibt – eine Macht, die straft und belohnt.“2 Wörtlich genommen, ist diese These natürlich im Wesentlichen richtig; denn tatsächlich beruht ein ‚Sollen‘ im strengen, nämlich durch den tatsächlichen Sprachgebrauch gedeckten Sinne des Wortes immer auf einem fremden Willen, und der muss allerdings durchsetzungsfähig sein. Dagegen scheint mir die moralische Verpflichtung – wiederum im strengen, nämlich durch den tatsächlichen Sprachgebrauch gedeckten Sinne des Wortes – nicht durch einen fremden, sondern durch den jeweils eigenen Willen dessen bestimmt zu sein, der sich persönlich zu dieser Verpflichtung bekennt. Deswegen sollte man nicht einfach resigniert schweigen, wenn Moralphilosophen den faktischen Gebrauch unserer moralischen Alltagssprache3 missachten und offenbar als (meta-)ethisch und moralisch irrelevant behandeln. Lässt sich doch, wie ich meine, zeigen, daß sich die Sprachlogik der (mehrdeutigen) Rede vom Sollen von der Sprachlogik der (ebenfalls mehrdeutigen) Rede vom 2 In: Wittgenstein 1967: S. 118; vgl. ebd. S. 115: „Gut ist, was Gott befiehlt.“, sowie die etwas differenziertere Darstellung in Wittgenstein 1922: 6.422. 3 Dazu ein purer Zufallsfund in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (4. Juli 2009, ‚Wochenende‘, ‚Wissen‘): die Erklärung des Wattenmeers zum ‚Weltnaturerbe‘ durch die UNESCO sei „eine zusätzliche moralische Verpflichtung zum Schutz des sensiblen Wattenmeers“. Damit wird offensichtlich etwas ganz Anderes gesagt als mit der Formulierung „das Wattenmeer soll geschützt werden“, und viel mehr als mit der Formulierung „das Wattenmeer sollte geschützt werden“.
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‚sollte‘ und der Sprachlogik der (nahezu eindeutigen) Rede vom moralischen Müssen oder der moralischen Pflicht oder Verpflichtung trotz einer Reihe von unbestreitbaren und offenkundigen Ähnlichkeiten deutlich unterscheidet.4 Das aber kann man – wenn nicht allein, dann auf jeden Fall am besten – mit Hilfe einer detailliert durchgeführten ‚vergleichenden Anatomie‘ der moralsprachlichen Prädikate „soll“, „sollte“ und „muss“ (oder: „ist moralisch verpflichtet“) in allen Details erkennen.5
II. Drei kulturübergreifende Moralprinzipien: Die Singuläre Goldene Regel, die Universalisierte Goldene Regel und der Kategorische Imperativ 1. Es gibt nun, soweit ich sehen kann, genau drei für die unmittelbare Anwendung im Alltag mehr oder minder gut geeignete metaethische Moralprinzipien, die sich ausschließlich auf den autonomen Willen des Handelnden oder zum Handeln Aufgerufenen selber stützen und die aus ebendiesem Grunde nicht an bestimmte Kulturen oder Religionen gebunden sind. Diese drei Prinzipien sind, neben dem Kategorischen Imperativ Kants, die beiden historisch überlieferten Grundformen der so genannten Goldenen Regel – nämlich, wie man sie kontrastierend nennen könnte, die Singuläre Goldene Regel und die Universalisierte Goldene Regel. 2. Der Sache, wenn auch nicht unbedingt dem Namen nach ist die (‚Singuläre‘) Goldene Regel wohl den allermeisten von uns bekannt: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ Dieses weit verbreitete deutsche Sprichwort beruht auf teilweise uralten Formulierungen aus dem alten jüdischchristlichen Kulturkreis, zu denen sich jedoch in sehr vielen anderen Religionen und Kulturen unabhängige Gegenstücke finden lassen.6 In ihrer handlichen, gereimten Merkspruch-Fassung ist diese Regel leider so ungenau, dass sie, wie man oft gesehen hat, Fehldeutungen und Fehlanwendungen Tür und Tor öffnet.7 Eine präzise und in vielen Fällen gut anwendbare, wenn natürlich auch etwas umständlichere, Fassung der Singulären Goldenen Regel scheint mir die folgende zu sein (man beachte unter anderem auch, dass hier der grammatische Imperativ durch die ‚deontische‘ Rede von einer moralischen Verpflichtung in der ersten grammatischen Person ersetzt ist): Vgl. bes. Hare 1952; 1963; 1981; Hoche 1992; 2001. Vgl. Hoche 1992: bes. Kap. 5. – Eine Vermengung gleich aller dreier Prädikate miteinander wird eklatant vorgeführt in Newen / Schrenk 2008: S. 155 – 157. (Dass die Autoren dieser Einführung in die Sprachphilosophie auf jene moralphilosophischen Fragen überhaupt eingehen, dürfte an einer zweiten gravierenden Vermengung liegen, nämlich derjenigen zwischen Sprachphilosophie und sprachanalytischer Philosophie. Zu deren bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts klar gesehenem Unterschied vgl. etwa Hoche / Strube 1985: S. 13 f., 25 f.; Hoche 1990: 3.6, 6.1.) 6 Belege etwa in Dihle 1962; Hoche 1978: Abschnitt II; Takahashi 2000; Bauschke 2010. 7 Zu Einzelheiten s. Hoche 1978: Abschnitte III – VII; 1992: 4.7. 4 5
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Hans-Ulrich Hoche Wenn ich [hier und jetzt] will, dass niemand in einer [hypothetischen] Situation von der und der Art mich soundso behandle, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer [wirklichen] Situation von der und der Art niemanden soundso zu behandeln.8
3. Mindestens genauso bekannt wie die Singuläre Goldene Regel dürfte im altgriechischen Kulturkreis die Universalisierte Goldene Regel gewesen sein.9 Bei Thales heißt es: „Wie können wir das beste und rechtschaffenste Leben führen? Dadurch, dass wir das, was wir bei anderen tadeln, nicht selbst tun.“ Bei Pittakos heißt es ganz ähnlich: „Worüber du beim Nächsten unwillig wirst, das tue selbst nicht!“ Und bei Herodot schließlich kann man lesen: „Was ich dem Nächsten zum Vorwurf mache, werde ich selber nach Kräften nicht tun.“10 Wie mir jedoch erst kürzlich klar geworden ist, finden sich auch außerhalb der griechischen Antike eine ganze Reihe mehr oder weniger expliziter Versionen dieser Universalisierten Goldenen Regel.11 Implizit allerdings scheint mir die Universalisierte Goldene Regel noch viel weiter verbreitet zu sein, als man vielleicht denken könnte. So habe ich es selbst erlebt, wie eine Sprecherin, bei der sich eine historische, philologische oder philosophische Beeinflussung ausschließen lässt, aus gegebenem Anlass einmal ganz spontan sagte: „Was einen an anderen stört, darf man doch nicht selber tun!“. Prägnanter kann man es wohl kaum sagen.12 Doch hier brauchen wir keine prägnante, sondern eine präzise Formulierung, die sich mit den Präzisierungen der beiden anderen Moralprinzipien gut vergleichen lässt. Wenn wir nun den gemeinsamen Grundgedanken der hier zitierten Äußerungen herausstellen und deontisch formulieren wollen, empfiehlt sich folgende Fassung der Universalisierten Goldenen Regel: (UGR)
Wenn ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht soundso zu handeln.
Vgl. bes. Hoche 1992: 4.6. s. bes. Bauschke 2010: S. 62 f. 10 Belege etwa in Dihle 1962; Hoche 1978: Abschnitt X; Bauschke 2010: S. 61 f. – Auch Bauschke (ebd.: bes. S. 90 – 93) sieht den Unterschied zwischen der Singulären und der Universellen Goldenen Regel, doch läuft dieser Unterschied für ihn im Wesentlichen auf den zwischen der „Einfühlungsregel“ und der „Autonomieregel“ im Sinne von Reiner (1948: bes. S. 82 – 99; s. u. IV.6.) hinaus. Statt von „Autonomieregel“ spricht Bauschke (ebd.: S. 91) allerdings lieber von „Kohärenzprinzip“ oder „Wahrhaftigkeitsregel“, und wenn er terminologisch zwischen „partieller“, „genereller“ und „universeller“ Goldener Regel unterscheidet (ebd.: S. 93 f.), so bloß im Hinblick darauf, ob die Goldene Regel „nur innerhalb einer ganz bestimmten Wir-Gruppe“, für „das gesamte Menschengeschlecht“ oder aber für „die Gesamtheit der Lebewesen unter Einschluß der Tiere (und der Natur)“ gelten soll. 11 So zitiert Bauschke 2010: S. 91 aus dem apokryphen Thomas-Evangelium das folgende, Jesus zugeschriebene Wort: „was ihr haßt, das tut nicht“ (Logion 6); s. ebd.: S. 27, 74, 90 – 95. 12 Als weitere Indizien dafür, dass sich viele Menschen der Universalisierten Goldenen Regel implizit oder dunkel bewusst sind, könnte man wohl geläufige Redensarten wie „Wasser predigen und Wein trinken“ anführen; und auch der alttestamentliche Prophet Nathan hat in seinem bekannten Gleichnis vom Reichen und vom Armen (s. u. Abschnitt IV.) von jenem Moralprinzip sicherlich implizit Gebrauch gemacht. 8 9
Die Universalisierte Goldene Regel
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4. Die gelegentlich von Kant selbst so genannte „erste Formel“ des Kategorischen Imperativs – „ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“; oder: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“13 – lässt sich, wie mir eine sorgfältige Untersuchung nahezulegen scheint, zu der folgenden deontischen Formulierung präzisieren: (KI) Wenn ich wollen muss, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht soundso zu handeln.14
5. Vergleicht man die Formulierungen (KI) und (UGR) miteinander, so kann man selbst bei elementarsten Kenntnissen der Aussagen- und der Modallogik ohne Weiteres sehen, dass (KI) aus (UGR) logisch folgt15. Denn modallogisch gilt notwendig: (1)
Wenn ich wollen muss, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle, dann will ich, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle.
Aus dieser logisch wahren – und daher stets als Prämisse zulässigen – Implikation (1) und der Implikation (UGR) folgt jedoch, nach dem aussagenlogischen Gesetz der Transitivität der Implikation, die Implikation (KI).16 6. Ganz ähnlich lässt sich zeigen, dass (UGR) aus (SGR) logisch folgt. Denn die folgende Implikation ist wollenslogisch17 wahr: (2)
Wenn ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art irgendjemanden soundso behandle, dann will ich, dass niemand in einer Situation von der und der Art mich soundso behandle.
Aus dieser logisch wahren – und daher stets als Prämisse zulässigen – Implikation (2) und der Implikation (SGR) folgt jedoch, wiederum nach dem aussagenlogischen Gesetz der Transitivität der Implikation, die Implikation Kant 1785: A 17 bzw. A 52. Vgl. Hoche / Knoop 2010: bes. Abschnitte IV– VII. 15 Streng genommen, sollte man im Bereich normalsprachlich formulierter Aussagen besser von ‚semantischer Implikation‘ sprechen; vgl. dazu bes. Hoche 2008: Abschnitte I – II, besonders II.2. Doch derartige Feinheiten, so unerlässlich sie für das Verständnis des Wesens der sprachlichen Begriffsanalyse in der Philosophie sind, spielen für das gegenwärtige Thema keine Rolle. 16 Zu einigen Hintergrundüberlegungen und einem streng formalen Beweis s. Hoche / Knoop 2010: Abschnitt IX. 17 Eine leistungsfähige Wollenslogik lässt sich niemals in Isolation von einer Glaubenslogik (doxastischen) Logik entwerfen. Nicht-triviale Ergebnisse kann sie nur als integrierte Glaubens- und Wollenslogik (‚doxastisch-theletische Logik‘) bringen. Was bei einer ‚reinen‘ Wollenslogik herauskommt, kann man aus Wohlhueter 1974 ersehen. Und dafür gibt es natürlich einen sachlichen Grund: Etwas wollen (beabsichtigen) kann man nur vor dem Hintergrunde und auf der Grundlage dessen, was man glaubt (wovon man überzeugt ist). Zu den Elementen einer doxastisch-theletischen Logik s. Hoche 2004. 13 14
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Hans-Ulrich Hoche
(UGR*) Wenn ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art irgendjemanden soundso behandle, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art niemanden soundso zu behandeln.
(UGR*) ist aber nichts anderes als eine geringfügig extendierte Fassung von (UGR), die nicht nur auf die handelnden, sondern zugleich auch auf die behandelten (oder zu behandelnden) Personen ausdrücklich Bezug nimmt.18 7. Wenn also die Singuläre Goldene Regel die Universalisierte Goldene Regel und diese den Kategorischen Imperativ logisch (oder genauer gesagt: ‚semantisch‘) impliziert, so würde eine Begründung der Singulären Goldenen Regel genügen, um auch die Universalisierte Goldene Regel und den Kategorischen Imperativ zu begründen. Nun ist mir eine strenge Begründung der Singulären Goldenen Regel – so plausibel dieses Prinzip auf den ersten Blick scheinen mag – allerdings nicht bekannt, und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie sie aussehen könnte. Dagegen kann man – wenn man eine glaubens- und wollenslogische Analyse des Begriffs der moralischen Verpflichtung für akzeptabel hält – sowohl der Universalisierten Goldenen Regel wie auch dem Kategorischen Imperativ eine optimale Begründung geben. Denn auf der Basis einer solchen Analyse lassen sich diese beiden Moralprinzipien als analytisch wahre Aussagen erweisen – nämlich als Aussagen, die allein aufgrund der Bedeutungen der in ihren Formulierungen verwendeten Ausdrücke wahr sind.19
III. Die Anwendbarkeit der drei Moralprinzipien 1. Hinsichtlich der Begründbarkeit ist die Singuläre Goldene Regel der Universalisierten Goldenen Regel und dem Kategorischen Imperativ also deutlich unterlegen, während die beiden letzteren den bestmöglichen Status überhaupt haben. Eine ganz andere Frage ist die, welches der drei Moralprinzipien sich in konkreten Entscheidungssituationen am besten anwenden lässt. 2. In dieser Hinsicht scheint mir nun der Kategorische Imperativ an letzter Stelle zu stehen. Denn wie kann ich mich davon überzeugen, dass ich wollen muss, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle? Da bietet sich doch eigentlich nur eine einzige Sorte von Fällen an, nämlich die, in denen es überhaupt nicht möglich ist, in einer solchen Situation so zu handeln.20 Man braucht sich gar 18 Zu Einzelheiten und einem formal durchgeführten Beweis vgl. Hoche / Knoop 2010: Abschnitt X. 19 s. ebd.: Abschnitt IX. 20 Vgl. dazu Kants Unterscheidung zwischen „vollkommenen (strengen)“ und „unvollkommenen (verdienstlichen)“ Pflichten: etwa Kant 1785: A 53 – 57. – Welcher Art die im „wollen müssen“ steckende Notwendigkeit und die entsprechenden Modalitäten der Unmöglichkeit und der Möglichkeit sind oder nach der Auffassung Kants sein sollen, brauchen wir hier nicht zu erörtern. Soweit ich sehe, tendieren Kantforscher zu ‚logischer‘ Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit.
Die Universalisierte Goldene Regel
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nicht in die fortwährenden Diskussionen um eine angemessene Kant-Exegese zu vertiefen, um in diesem Zusammenhang an Fälle denken zu dürfen, in denen eine menschliche Institution gar nicht Bestand haben könnte und in diesem Sinne unmöglich sein würde, wenn sie von jedermann missbraucht würde – sagen wir, die für das menschliche Miteinander so wichtigen Institutionen der behauptenden Rede und der verbindlichen Zusage durch Versprechen oder Verträge.21 Denn im Sinne eines in bestimmter Weise ‚rationalen‘ Wollens kann man Unmögliches nicht wollen.22 Allerdings wird man sich auch in solchen Fällen fragen, warum ich wollen muss, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle, wenn die in Rede stehende menschliche Institution doch nur durch den Missbrauch aller, der meisten, oder doch zumindest vieler Menschen untergraben und schließlich zerstört würde. Auf diese Frage gibt es zwar eine Antwort, nämlich die, dass der Kategorische Imperativ nur auf moralisch ‚nicht-indifferente‘ oder, wie man heute auch sagt, ‚deontisch definite‘ Handlungen anwendbar ist – also auf Handlungen, die, wenn sie moralisch erlaubt, dann zugleich auch geboten, oder die entweder geboten oder verboten sind.23 Doch auch wenn diese Antwort durch das (glaubensund wollenslogisch beweisbare)24 Universalisierbarkeits-, Gerechtigkeits- oder Fairness-Prinzip – was für einen moralisch geboten ist, ist ceteris paribus für jeden moralisch geboten – begründet werden kann, so dürfte doch schon die sich aufdrängende Fragestellung und der angemessene Umgang mit ihr den normalen, nämlich metaethisch nicht versierten, Benutzer eines Moralprinzips bei Weitem überfordern. Zudem würde man vermutlich große Schwierigkeiten haben, außer den wenigen von Kant selber exemplarisch herangezogenen „strengen (unnachlasslichen) Pflichten“ – nämlich den Geboten, nicht zu lügen und keine ‚lügenhaften‘ Versprechen zu geben – noch weitere solcher Pflichten namhaft zu machen. Kurz: Die Anwendbarkeit des Kategorischen Imperativs in moralischen Handlungs- oder Entscheidungssituationen scheint mir einerseits außerordentlich schwierig und andererseits recht begrenzt zu sein. 3. Wie steht es nun mit der Anwendbarkeit der Singulären Goldenen Regel? Mit anderen Worten: Wie kann ich mich davon überzeugen, dass ich [hier und jetzt] will, dass niemand in einer [hypothetischen] Situation von der und der Art mich soundso behandle? Nun, ich muss mir in der Phantasie vorstellen, dass mich jemand in einer bestimmten Weise behandelt, und ich muss mich dann fragen, ob ich dies hier und jetzt, also außerhalb einer Situation der fingierten Art, für den Fall einer solchen Situation billige oder will. Dass ein angetrunkener Gast, der noch mit dem eigenen Wagen nach Hause fahren will, nicht will – ja, nicht einmal wollen kann –, Vgl. etwa Kant 1785: A 54 f.; 1788: A 49 f.; Ebert 1976; Höffe 1977. Vgl. Hoche 2004: Abschnitte IX– X. 23 Zur Begründung dieses Ausschlusses moralisch indifferenter Handlungen (der antiken ‚adiaphora‘) aus dem Umkreis des Kategorischen Imperativs s. Hoche / Knoop 2010: Abschnitt V. 24 s. ebd.: III.2. 21 22
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dass ihm der Gastgeber oder Wirt den Autoschlüssel abnimmt, versteht sich von selbst und ist eine analytische Wahrheit: Wer mit dem Auto fahren will, will natürlich nicht, dass er daran gehindert werde. Aber das ist hier ja auch nicht die Frage. Diese lautet vielmehr: Will ich hier und jetzt, in nüchternem Zustand, dass mich in einem solchen hypothetischen Fall jemand daran hindert, mir selbst und anderen Schaden zuzufügen? Und die Antwort auf diese Frage dürfte im Allgemeinen leicht und ohne Zögern zu finden sein.25 (Dass man sich trotzdem als Gastgeber oder Wirt häufig nicht dazu durchringen kann, einem fahrunfähigen Gast den Autoschlüssel gewaltsam zu entwinden, hat viele Gründe und steht auf einem anderen Blatt.) Dieses eine Beispiel zeigt schon, dass sich die Singuläre Goldene Regel meistens recht gut anwenden lässt, vorausgesetzt, dass man die Frage nur richtig stellt – was mir aber nicht allzu schwierig zu sein scheint. Überdies: Wäre es anders, so würde sich dieses Moralprinzip auch wohl kaum zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten Teilen der Welt in anscheinend völlig unabhängiger Weise herausgebildet und allgemeine Verbreitung gefunden haben. Doch darf man sich durch diesen Umstand nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es für dieses so erfolgreiche Prinzip eine strenge Begründung leider nicht gibt und vielleicht auch nicht geben kann. 4. Während also die Singuläre Goldene Regel zwar gut anwendbar, aber, wie es aussieht, nicht streng zu begründen ist, lässt sich der Kategorische Imperativ, im genauen Gegenteil, hervorragend begründen, aber in der Lebenspraxis nur sehr begrenzt anwenden. Angesichts dieses Umstands scheint es mir erstaunlich, dass Moralphilosophen der vor allem, aber nicht nur im alten Griechenland anscheinend recht geläufigen Universalisierten Goldenen Regel nicht mehr Beachtung schenken. Und dabei ist dieses Moralprinzip doch nicht nur, wie ich bereits gesagt habe, optimal begründet, nämlich (genau wie der Kategorische Imperativ) eine analytische Wahrheit, sondern zudem mindestens genauso gut anwendbar wie die Singuläre Goldene Regel. Dies Letztere soll nun im Einzelnen gezeigt werden.
IV. Wie man die Universalisierte Goldene Regel anwenden kann: Das ‚Nathan-David-Verfahren‘ 1. Wie kann ich mich also davon überzeugen, dass ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle, oder, gemäß der schon leicht extendierten Form (UGR*): dass ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art irgendjemanden soundso behandle? Dafür gibt es ein leicht anwendbares Verfahren. Ein prototypisches Beispiel dafür kann man im Alten Testament finden. Dort führt der Prophet Nathan dem König David, dem es an Frauen und Konkubinen weiß Gott nicht mangelte, sein Vergehen an Bath-Seba und ihrem Gemahl Uria in Form einer gleichnishaft verfremdeten und anonymisierten Ge25
Vgl. Hoche 1978: Abschnitt V.
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schichte vor Augen (2. Buch Samuel, Kap. 11 – 12). Ein reicher Mann – so erzählt der Prophet dem König – habe, um seinen eigenen schönen Viehbestand nicht antasten zu müssen, das einzige Schaf seines armen Nachbarn geraubt und geschlachtet. „Da ergrimmte David mit großem Zorn wider den Mann und sprach: So wahr der Herr lebt, der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat!“ (12:5). „Da sprach Nathan: Du bist der Mann!“ (12:7). „Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt wider den Herrn.“ (12:13). Diese beiden Reaktionen des Königs scheinen mir methodologisch äußerst lehrreich zu sein. David kommt zuerst gar nicht auf den Gedanken, dass er selbst der Protagonist des empörenden Vorfalls sein könnte: Es ist für ihn einfach selbstverständlich, dass von jemandem anders die Rede ist. Doch nachdem Nathan ihm den Spiegel vor Augen gehalten hat, versucht er gar nicht erst, sich durch das Pochen auf angeblich bestehende individuelle oder – wie der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi nach der verfassungsgerichtlichen Aufhebung seiner Immunität im Oktober 2009 – amtsspezifische Sonderrechte zu rechtfertigen.26 Man wird daher annehmen dürfen, dass der Prophet beim König nicht Empörung über das Verhalten eines anderen, sondern Empörung über das Verhalten irgendeines Menschen wecken will, dessen Identität zunächst völlig offen bleibt – und dass das auch der ‚Entlarvte‘ selber nicht anders sieht. Mit einem an diesem klassischen Paradigma orientierten ‚Nathan-David-Verfahren‘27 will und kann man also jemanden dazu bringen, sich selber und seinen Mitmenschen über jeden Zweifel erhaben deutlich zu machen, dass er will, dass niemand – und nicht bloß: dass niemand anders – sich soundso verhalte.28 2. Nathans Geschichte hat die allgemeine Form „Jemand hat in einer Situation von der und der Art soundso gehandelt.“, und David zeigt durch seine aufgebrachte 26 In der Tat könnte eine halbwegs überzeugende Rechtfertigung in solchen Fällen allenfalls darin bestehen, die begriffliche Genauigkeit der gleichnishaft verfremdeten Geschichte anzufechten; s. u. Abschnitte V. –VII. 27 Recht ausführliche, aber unter anderem auch von glaubens- und wollenslogischen Formalisierungen und Ableitungen Gebrauch machende Darstellungen des Nathan-David-Verfahrens finden sich in Hoche 1992: 3.10–3.11 (bes. S. 240 – 243, 246 – 248), 4.4; 2001: Abschnitte XI –XII. Im Folgenden bin ich, dem moralpädagogischen Anliegen des hier vorliegenden Aufsatzes entsprechend, um eine wesentlich einfachere Darstellung bemüht. – Wie die Möglichkeit ganz anderer Beispiele zeigt (vgl. etwa Hoche 2001: Abschnitte XI –XII), wird dieses Verfahren der Evidenz-Gewinnung oder ‚Verifikation‘ nicht dadurch beeinträchtigt, dass man mit Recht einwenden könnte, die Moralvorstellungen nicht nur des Königs David, sondern auch des an seinem Hofe wirkenden Propheten Nathan und des biblischen Erzählers selbst seien archaisch und hetero-, nämlich theonom (vgl.: ‚Ich habe gesündigt wider den Herrn.‘) – also alles andere als das, worum es einer hier geforderten aufgeklärten und autonomen, nur auf den eigenen Willen des Handelnden selbst gestützten Moral geht. (Diesen Hinweis verdanke ich wiederholten Diskussionen mit Herrn Pierre Jaans, Luxemburg.) 28 Dudda scheint das etwas anders zu sehen; denn 1999: bes. S. 144 – 146, verwendet er in einer positiven Fassung dessen, was er ebenfalls als „universelle Goldenen Regel“ bezeichnet, die Wendungen „jeder andere“ und „jede Person [wie ao]“ promiscue. Aufgrund persönlicher Kommunikation weiß ich, dass er auch gegenüber der Analytizität der Universellen Goldenen Regel skeptisch ist – und das würde in der Tat berechtigt sein, wenn es „jeder andere“ bzw. „niemand anders“ heißen müsste.
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Reaktion ganz unmissverständlich, dass er eine solche Handlungsweise entschieden ablehnt, dass er nämlich – etwas umständlich, aber dafür auch ganz genau gesagt – will, dass es nicht der Fall sei, dass irgendjemand, wer auch immer es sei, in einer Situation von der und der Art soundso handle. Diese Methode der Prüfung und Selbstprüfung dient also der Gewinnung derjenigen – und zwar: emotionalen – Evidenz, die man braucht, um begründet behaupten zu können, dass man selber oder jemand anders ein gegebenes universelles Wollensprinzip vertritt.29 3. Damit man mit einer Anwendung dieser Methode zu wirklich aussagekräftigen und unverzerrten Ergebnissen gelangt, muss die vorgetragene Geschichte allerdings in der Regel30 noch drei weitere Eigenschaften aufweisen – und sie alle finden sich in Nathans Gleichnis vom Viehraub des reichen Mannes in paradigmatischer Weise. – Erstens erzählt der Prophet eine Geschichte, von der er (nach aller Lebenserfahrung: zu Recht) erwartet, dass der Zuhörer sie als unanständig oder moralisch negativ empfinden wird: eine Geschichte, die den König mit hoher Wahrscheinlichkeit empören und, nach seiner schließlichen Entlarvung, beschämen wird. Einer moralisch positiven Geschichte würde sein Zuhörer zwar vielleicht Lob und Bewunderung zollen; aber damit bliebe doch die wichtige Frage offen, ob er die dargestellte Handlungsweise ‚nur‘ für moralisch pflichtgemäß hält oder aber für eine solche, die in so hohem Maß selbstlos, ja selbstaufopfernd ist, dass man sie von niemandem wirklich erwarten – sie niemandem ernstlich zumuten – darf (in der Moralphilosophie und theologischen Ethik spricht man hier oft von ‚Werken der Übergebühr‘ oder ‚opera supererogationis‘). – Zweitens vermeidet Nathan mit gutem Grund jede Namensnennung, damit König David nicht von vornherein weiß, dass von ihm selbst die Rede ist, und so Gelegenheit findet, sich eine verharmlosende Umdeutung seiner Untat zurechtzulegen – oder, ganz allgemein gesprochen (denn es muss ja bei einem solchen Gleichnis durchaus nicht immer um eine Verfehlung des Zuhörers selbst gehen): damit keine persönlichen oder gruppenabhängigen Sympathien oder Antipathien des Zuhörers seine Reaktion beeinflussen und verfälschen können. – Und drittens geht Nathan sogar noch einen Schritt weiter: Indem er von einem Lamm und nicht von einer Frau spricht, verfremdet er den Vorfall, und eine solche Verfremdung ist nicht weniger erforderlich als die Anonymisierung; denn andernfalls könnte der Zuhörer vorzeitig merken, worauf die Sache hinauslaufen soll und welche seiner persönlichen, beruflichen oder standesegoistischen Vorlieben, Neigungen und Interessen dadurch berührt sein könnten. 4. Neben den drei Eigenschaften des Empörenden (und gegebenenfalls Beschämenden), der Anonymisierung und der Verfremdung weist die gleichnishafte Erzählung Nathans noch ein weiteres Charakteristikum auf: Sie stellt den geschilderten Vorfall als eine tatsächliche Begebenheit dar. Die vom Erzähler angestrebte nega29 Solche universellen Wollensprinzipien sind nichts anderes als die von Kants Methode des Kategorischen Imperativs geforderten Verallgemeinerungen subjektiver ‚Maximen‘; vgl. Hoche / Knoop 2010: IV.1, VII.1 – 2. 30 Zu partiellen Ausnahmen s. u. VIII.4.
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tive Reaktion seines Zuhörers bezieht sich in dessen eigenen Augen also nicht auf ein fiktives, sondern auf ein wirkliches Ereignis. Auch dadurch zeichnet sich die Anwendung der Universalisierten Goldenen Regel vor der Anwendung der Singulären Goldenen Regel aus. Denn in der letztgenannten bin ich ja dazu aufgefordert, auf eine von mir bloß vorgestellte – und mir auch durchaus als eine solche bewusste – Situation emotional zu reagieren; und deswegen könnte man gewiss daran denken, die Authentizität dieser meiner Reaktion für eine bloß eingeschränkte zu halten. 5. Wenn man nun, nach dem im Vorstehenden Gesagten, erstens die analytische Wahrheit der Implikation (UGR) beweisen und zweitens ihren Vordersatz der Form „Ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle.“ in geeigneten Fällen dadurch als wahr erweisen (‚verifizieren‘) kann, dass man die erforderliche und auch hinreichende emotionale Evidenz dafür in einem NathanDavid-Verfahren herstellt, dann ist damit auch der Nachsatz, nämlich der allgemeine Verpflichtungssatz der Form „Ich bin moralisch dazu verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht soundso zu handeln.“ in der einzigen Weise begründet, ja bewiesen, die man dafür überhaupt sinnvoll fordern kann. 6. Soeben, und auch zuvor wiederholt, habe ich von einer „emotionalen“ und noch nicht, wie es Reiner bezüglich der von ihm so genannten ‚Autonomieregel‘ tut, von einer moralischen oder „sittlichen“ Evidenz gesprochen.31 Dies war aber nur eine methodologisch bedingte Vorsichtsmaßnahme, die dem Bedenken geschuldet war, dass ich zunächst noch gar kein Kriterium dafür zu haben scheine, um angesichts einer mir vor Augen gestellten Nathan-David-Situation zu entscheiden, ob ich mich eher aus egoistischen, persönlich gefärbten Gründen oder jedoch aus Gründen empöre, die man bereits als ‚moralische‘ charakterisieren darf. Nun habe ich vor oder in Ermangelung einer glaubens- und wollenslogischen Analyse des Begriffs der moralischen Verpflichtung in der Tat nur ein ‚intuitives‘ – eben: ‚voranalytisches‘ – Verständnis dessen, was genau „ein sittlich bestimmtes Wollen“ sein und was Reiners Ausdruck „sittlich gesollt“ eigentlich heißen soll.32 Doch erweist sich jene Vorsichtsmaßnahme bei näherem Hinsehen vielleicht als entbehrlich. Denn die für ein aussagekräftiges Nathan-David-Verfahren zumindest in aller Regel erforderliche Anonymität und Verfremdung33 sollen ja dafür sorgen, dass ein eventuell intendierter Bezug auf den Hörer selber oder auf ihm nahestehende Personen nicht zu früh erkennbar wird. Deswegen wird man egoistische Einschläge, die bei der Singulären Goldenen Regel (oder Reiners ‚Einfühlungsregel‘) stets eine mehr oder weniger starke Rolle spielen, bei der Universellen Goldenen Regel gewöhnlich vernachlässigen dürfen. Nur unter dieser Voraussetzung, die ich bisher stillschweigend immer gemacht habe, kann man ja auch das Ergebnis der wollens- und glaubenslogischen Analyse plausibel finden, dass aus einem subjektiv vertretenen WolReiner 1948: S. 89 – 99, passim. s. ebd.: S. 89 bzw. 99. – Zu meinem Vorbehalt gegen die Wortverbindung „sittlich gesollt“ s. o. I.3. 33 s. o. IV.3. mit Fn. 30. 31 32
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lensprinzip der Form „Ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle.“ das universelle Verpflichtungsurteil „Ich bin moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht soundso zu handeln.“ logisch folgt.34 Deswegen kann man die emotionale Evidenz, die uns ein Nathan-DavidVerfahren an die Hand gibt, in der Tat wohl auch als eine moralische charakterisieren und, was damit eng zusammenhängt, einräumen, dass Hans Reiners „Autonomieregel“ oder Martin Bauschkes „Kohärenz-“ oder „Wahrhaftigkeitsregel“ mit dem, was ich die „Universalisierte Goldene Regel“ nenne, im Wesentlichen zusammenfällt.35 V. Die moralisch relevanten Eigenschaften von Handlungssituationen 1. Wie kann man nun die umgangssprachliche ‚Leerform‘ eines Wollensprinzips, nämlich die Aussageform „Ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handle.“, präzisieren, ohne dabei schon ihren rein formalen Charakter anzutasten? Mit anderen Worten: Wie kann man diese aus gutem Grunde möglichst ‚generisch‘ gewählte Leerform ‚spezifizieren‘ (nämlich ‚spezifischer‘ machen), ohne bereits damit anzufangen, sie mit diesen oder jenen inhaltlichen Details zu füllen? Gefragt ist damit nach einer von der jeweiligen Verwendungssituation unabhängigen begrifflichen Spezifizierung dessen, was im Rahmen eines Nathan-DavidVerfahrens mit den sehr allgemein gehaltenen Worten „in einer Situation von der und der Art soundso handeln“ vernünftigerweise gemeint sein kann. 2. An anderer Stelle habe ich – durch detaillierte Anwendungen pragmatischsemantischer Kombinations- oder Zustimmungstests auf der Grundlage meiner persönlichen Phantasie- und Idiolektkompetenz (kurz: meines ‚Sprachgefühls)36 – zu zeigen versucht, dass man nur dann von jemandem zu sagen geneigt ist, er sei moralisch zu einer bestimmten Handlung (die natürlich auch eine Unterlassung sein kann) verpflichtet, wenn er glaubt, dass diese Handlung erstens im ‚wohlverstandenen‘ Interesse mindestens einer (ihm bekannten oder unbekannten) Person liegt, zu der er in einer bestimmten naturwüchsigen oder institutionellen Beziehung steht; dass diese Handlung zweitens niemandes höherrangige Interessen verletzt (und in diesem Sinne ‚nicht gegen die guten Sitten verstößt‘); und dass ihm diese Handlung drittens in allen in Betracht kommenden Hinsichten – insbesondere hinsichtlich seiner angeborenen und seiner (etwa: sportlich, handwerklich, künstlerisch oder wissenschaftlich) ausgebildeten Fähigkeiten sowie hinsichtlich der Gegebenheiten der jeweiligen Handlungssituation – überhaupt möglich ist.37 34 s. Hoche 1992: Kap. 2 und 4, bes. 4.5. – Das Umgekehrte gilt allerdings nicht; Wollensprinzipien und universelle Verpflichtungssätze sind einander also nicht logisch äquivalent. 35 s. o. II.3. mit Anm. 10. – Die Einschränkung „im Wesentlichen“ möchte ich aber doch machen, da Reiners und Bauschkes Taxonomie verschiedener Wesensformen der Goldenen Regel ohne jede logische Analyse des Verpflichtungsbegriffs konzipiert ist. 36 Vgl. bes. Hoche 1981; 1990: 8.1 – 8.3; 2008: II.1; Hoche / Strube 1985: A.IV.4.
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3. Dem entspricht es, dass eine Nathan-David-Erzählung schwerlich die beabsichtigten emotionalen Reaktionen hervorrufen wird, wenn sie vom Hörer so ausgelegt werden kann, dass der Protagonist nach zumutbarer Prüfung zu der festen Überzeugung gelangt sei, die von ihm erwartete Handlung beim besten Willen nicht ausführen zu können, oder dass durch sein Tun oder Lassen niemandes Interessen in irgendeiner Weise berührt würden. Allenfalls könnte man ihn in solchen Fällen dafür tadeln, ja verurteilen, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, seine Überzeugungen mit der nötigen Sorgfalt den Tatsachen anzupassen.
VI. Die Rolle des subjektiven Überzeugtseins 1. Ein Leser, der aufgrund seiner etwas abweichenden idiolektischen Verwendung der Rede von „moralischer Verpflichtung“ bezüglich einiger der hier genannten Details Zweifel haben sollte, müsste – allerdings erst nach genauer Prüfung meiner Vorschläge – entsprechende Korrekturen vornehmen. Das dürfte bei einem religiös unvoreingenommenen Leser wohl am ehesten bei der Frage zu erwarten sein, ob es bei der moralischen Beurteilung einer Handlung wirklich darauf ankommt, wie der Handelnde oder zum Handeln Aufgerufene selber die Handlungssituation subjektiv einschätzt, oder nicht doch vielleicht eher darauf, wie diese Situation ‚tatsächlich ist‘ – was für uns zumindest im täglichen Leben aber meist nur besagen dürfte: wie sie sich in den Augen eines ‚besser unterrichteten Zuschauers‘,38 sagen wir: eines sorgfältig prüfenden Richters, darstellt. Ich selbst habe in dieser Hinsicht lange geschwankt. Bei der Prüfung dieser Frage könnte man zum Beispiel an einen Fall wie den folgenden denken: Ich habe jemandem versprochen, ihm unverzüglich zu helfen, sobald er in eine bestimmt geartete Lage gerät; er ist nun aber in eine solche Lage geraten, und ich habe nichts davon erfahren. Bin ich dann wirklich verpflichtet, ihm zu helfen, ohne dass ich dies glaube, geschweige denn weiß? Oder würde man nicht eher von mir sagen, ich würde zur sofortigen Hilfeleistung verpflichtet sein, falls ich nur wüsste oder wenigstens glaubte, eine solche Situation sei eingetreten? Und würde man mit der Verwendung dieses irrealen (‚kontrafaktischen‘) Konjunktivs nicht deutlich genug zu verstehen geben, dass ich zu der betreffenden Hilfeleistung eben doch nicht – oder zumindest: noch nicht – verpflichtet bin? Diese Fragen lassen sich, wie ich meine, am ehesten dadurch entscheiden, dass 37 Hoche 1992: Kap. 2 – 3. – Die fragliche Handlung wenigstens zu versuchen ist man allerdings schon dann verpflichtet, wenn man nicht mit den besten in der Handlungssituation zur Verfügung stehenden Gründen – nämlich auf Grund der besten Informationen, die man sich zum Zeitpunkt der fraglichen Handlung verschaffen kann – ausschließen kann, dass man in der Lage ist, die Handlung auszuführen; und „nicht ausschließen können“ heißt hier offensichtlich soviel wie „nicht glauben [davon überzeugt sein], dass nicht“, was natürlich viel schwächer ist als „glauben [davon überzeigt sein], dass“ (s. u. VII.4.). 38 Zur Bedeutsamkeit der Konzeption des ‚besser unterrichteten Beobachters‘ für die Analyse grundlegender philosophischer Begriffe vgl. Dudda 2007; Hoche 2009: Unterabschnitt 4.4 und Abschnitt 5.
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man darüber nachdenkt, unter was für Umständen man von einer Pflicht-Verletzung zu reden bereit ist. Also: Würde man mir ernstlich vorwerfen, dass ich gegen eine moralische Verpflichtung verstieße, wenn und weil ich einem anderen nicht helfe, der, ohne dass ich davon auch nur die geringste Ahnung hätte, in eine Notlage geraten ist? Ich halte das für ganz ausgeschlossen.39 2. Zu demselben Ergebnis dürfte uns, wie ich meine, auch die Betrachtung der folgenden Beispiele führen. Angenommen – einige aktuelle Vorfälle dieser Art sind ja zu trauriger Berühmtheit gelangt –, jemand wird unversehens Augenzeuge, wie ein paar junge Leute einen Farbigen überfallen, und unternimmt nicht den geringsten Versuch, ihm in zumutbarer und nach Lage der Dinge angemesssener Weise zu helfen. Dann würden wir das vermutlich selbst dann auf das Schärfste missbilligen, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, dass einige Kriminologen oder Schauspieler einen solchen Überfall nur ‚gemimt‘ haben, um etwa das ‚Bystander‘-Phänomen zu erforschen oder die Passanten für die zunehmende ‚Gefahr von rechts (oder: links)‘ zu sensibilisieren. Nun könnte man freilich vermuten, die Missbilligung beruhe in diesem Falle nur darauf, dass das gerügte Verhalten ein untrügliches Indiz dafür sei, dass man hier im Ernstfall tatsächlich eine Pflichtverletzung zu gewärtigen hätte. Doch lässt sich diese Vermutung, wie ich meine, dadurch entkräften, dass man eine Anzahl weiterer und möglichst unterschiedlicher Fälle durchspielt und sich dabei auch Fragen wie diese stellt: Wie würde, oder sollte nach meiner Meinung, die vorgesetzte Behörde etwa mit einem Feuerwehr-Chef verfahren, der es trotz einer unmissverständlichen Brandmeldung unterlassen hat, in einer augenscheinlich gefährlichen Situation den Einsatz zu befehlen – auch wenn sich das Ganze im Nachhinein zum Glück als blinder Alarm erweist? Auch der Unterschied zwischen Wollen und Wünschen ist in diesem Zusammenhang belangvoll: Es ist natürlich zu wünschen, dass der Einsatzleiter die Feuerwehr dann und nur dann ausrücken lässt, wenn es tatsächlich notwendig ist. Doch wenn sich ein ernstliches Wollen in (gegebenenfalls bloß vorbereitenden) Handlungen manifestieren muss40 – in diesem Falle etwa: in Erlassen, Schulungen, Übungen usw. –, dann wird man sicherlich zugeben müssen: Wirklich wollen kann man nur, dass der Feuerwehrchef den Einsatz dann und nur dann befiehlt, wenn er das nach seinem besten Wissen und Gewissen für notwendig hält. Dies alles spricht also dafür, dass jemand nach seinen eigenen normativen Maßstäben genau dann zu einer bestimmten Handlung – oder, wie man in vielen Fällen wohl eher sagen würde: zu dem Versuch einer bestimmten Handlung41 – moralisch verpflichtet ist, wenn er sich dazu moralisch verpflichtet glaubt. 39 Insofern scheint mir für die Ethik etwas Ähnliches zu gelten wie für das Strafrecht: „Ultra scire nemo tenetur“ oder „Ad ignorata nemo obligatur“: Achenwall 1758: § 16, zitiert nach Hruschka 1991: S. 455 mit Anm. 22. 40 Vgl. Hoche 1973: §§ 29 –3 1. 41 Ein Beispiel findet sich unten in Abschnitt VII.4. – Übrigens gilt generell, dass man nur zu Handlungen bzw. Handlungsversuchen, aber nicht auch zu Handlungserfolgen verpflichtet sein kann. (Ich spreche hier deshalb von Handlungen ‚beziehungsweise‘ Handlungsversuchen,
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3. Was man dem Handelnden oder Unterlassenden unter bestimmten Umständen vorwerfen könnte, würde allerdings dies sein, dass er es schuldhaft versäumt habe, seinen Wissensstand – genauer: den Stand seiner Überzeugungen – nach besten Kräften mit dem Stand der für ihn moralisch relevanten Tatsachen in Übereinstimmung zu halten oder zu bringen (wozu es manchmal sogar gehören mag, mobiltelefonisch erreichbar zu sein). Das stete Bemühtsein, eine solche Übereinstimmung seiner persönlichen subjektiven Glaubenswelt mit allen ihn ‚angehenden‘ Aspekten der objektiven oder wirklichen Welt (was auch immer das genau heißen mag) in allen relevanten Hinsichten aufrecht zu erhalten oder herzustellen, ist gewiss eine moralische Verpflichtung, die für jeden von uns ganz allgemein besteht – wenn man so will, eine Hyper-Verpflichtung oder, vielleicht noch besser gesagt, eine Obliegenheit oder sekundäre Hintergrundverpflichtung. Doch ohne Zweifel ist ein Verstoß gegen diese generelle Sekundärverpflichtung etwas ganz anderes als ein Verstoß gegen diese oder jene spezifische Primärverpflichtung.42 4. Die Frage dieser sekundären Hintergrundverpflichtung wird in der Öffentlichkeit, aber etwa auch in Fernseh-Serien, besonders oft anhand der Obliegenheit von Ärzten thematisiert, sich im Rahmen des Zumutbaren und Möglichen auf dem ‚Stand der Forschung‘ zu halten – vollständig ist das angesichts der täglich anschwellenden Flut medizinischer und anderer einschlägiger naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Publikationen ja gar nicht möglich. Hinzu kommt, dass Ärzte oft in kürzester Zeit entscheiden müssen, wie sie einen Patienten, der in kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, behandeln wollen. Um das dem objektiven Fachwissen tatsächlich am besten entsprechende Procedere bestimmen zu können, würden sie oft tage-, ja wochenlange Untersuchungen und Recherchen durchführen müssen, etwa im Hinblick auf extrem seltene Krankheiten oder auf mögliche Wechselwirkungen der erwogenen Medikation mit zuvor von anderen Ärzten verschriebenen oder unkontrolliert eingenommenen Medikamenten (einschließlich eventuell verabreichter Placebos oder Fälschungen) – aber so viel Zeit haben die behandelnden Krankenhausärzte eben gewöhnlich nicht. Streng genommen, können sie also häufig, wenn nicht sogar (fast) immer, nur nach dem Stand ihrer in der gegebenen Situation, oft also unter erheblichem Zeitdruck, so gut wie möglich begründeten subjektiven Überzeugung handeln, und deswegen darf – und wird gewöhnlich – im Falle eines unerwünschten Ergebnisses auch die moralische (und die rechtliche) Beurteilung eines mutmaßlichen ‚Kunstfehlers‘ nicht auf ‚die objektiven Tatsachen‘, sondern bloß auf die situativ optimal begründete Überzeugung des behandelnden Arztes abheben.43 Dementsprechend kann man auch nicht weil auch Versuche Handlungen sind, jedoch nicht dieselben, die man auszuführen versucht.) Das hängt aufs Engste damit zusammen, dass man Handlungserfolge, streng genommen, auch weder versprechen noch erbitten, befehlen oder wollen, sondern bloß wünschen kann; vgl. Hoche 1992: 2.3, S. 116 mit Fn. 170. 42 In den Abschnitten VI.1. – 3. habe ich mich weitgehend und teilweise wörtlich an Hoche 2001: Abschnitt X („Ad ignorata nemo obligatur“) angelehnt.
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ernstlich wollen, sondern sich allenfalls (was hier aber ganz müßig sein würde) wünschen, dass die Ärzte ‚objektiv richtig‘ (be)handeln – und natürlich kann man das auch nicht lehren oder lernen: Lehren und lernen kann man allenfalls Strategien und Techniken (ich denke zum Beispiel an die Benutzung der aktuellsten Datenbanken), um medizinische und andere ‚Entscheidungen unter Ungewissheit‘ möglichst rational und effizient zu treffen. 5. Auch aus einer Gruppe etwas anders gelagerter Fälle geht meines Erachtens hervor, dass sich die moralische Beurteilung de facto und de jure nicht etwa an den objektiven Tatsachen, sondern an dem subjektiven Wissens- und Glaubensstand des Handelnden orientiert. Nehmen wir einmal an, ein Familienvater müsse in einer bestimmten Situation fest davon überzeugt sein, dass sich seine Kinder in einem brennenden, aber (wenn auch nicht ohne großes Risiko) gerade noch zugänglichen Gebäude befänden, von dem ich jedoch wüsste, dass sich dort niemand mehr aufhält. Würde ich dann wollen, dass er – sofern er glaubt, das als Einziger oder als der Geeignetste tun zu können – unter Einsatz seines Lebens in das Haus einzudringen und seine Kinder zu retten versucht? Nun, ich würde das mit Sicherheit nicht wollen, sondern im Gegenteil versuchen, ihn an seiner gefährlichen und unnötigen Aktion zu hindern. Doch nehmen wir weiter an, eine solche oder ähnliche Intervention sei weder mir noch anderen möglich – würde ich auch dann wollen, dass er seine in Gefahr geglaubten Kinder nicht zu retten versucht? Diese Frage beantwortet sich, wie ich meine, sofort, wenn wir uns vorstellen, dass der Mann einfach tatenlos zusehe oder weitergehe – und zwar mit einem klaren Nein; denn ich würde ihn wegen seiner Feigheit oder Gleichgültigkeit verachten. Besonders deutlich wird das, wenn wir nun weiterhin annehmen, dass es sich bei dem Mann um einen nahen Angehörigen handle. Dann würde man sich zwar einerseits sicher darüber freuen, dass er sich nicht unnötig einem unkalkulierbaren Risiko ausgesetzt hat, und sich doch andererseits für seine ‚Pflichtvergessenheit‘ schämen.44 Dieses Gedanken43 Dass jemand etwas ‚unmöglich wissen‘ oder ‚beim besten Willen nicht damit rechnen‘ konnte, gilt oft als entscheidender Entlastungsgrund – wie umgekehrt „das haben [hätten] Sie doch wissen müssen“ oder „das kann Ihnen doch unmöglich entgangen sein“ oft als Belastungsargument dient. 44 Solche gegensätzlichen Reaktionen dürften im strengen Sinne Bohrs ‚komplementär‘ sein: Sie ergänzen einander insofern, als in einer ‚allseitigen‘ Beurteilung der fraglichen Situation keine von ihnen fehlen darf; doch sie schließen einander in dem Sinn auch aus, dass man sie nicht zu einer homogenen Gesamtsicht vereinen oder gar gegeneinander aufrechnen kann (vgl. etwa Hoche 2008: ‚Introduction‘, passim). Komplementäre Beurteilungen dieser Art werden meines Wissens besonders aus der altrömischen Geschichte berichtet. Ein aktuelles Beispiel ist der Widerstreit der Einschätzungen der deutschen Stimmenthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Frage einer Flugverbotszone über Libyen, die Muammar al-Gaddafi an seinem Vernichtungsfeldzug gegen das eigene Volk hindern soll. Es deutet einiges darauf hin, dass in der deutschen Öffentlichkeit Zorn oder Beschämung über das deutsche Abstimmungsverhalten mit deutlicher Erleichterung darüber streiten, dass ‚unsere Jungs‘ nicht in den schwer durchschaubaren Bürgerkrieg in Libyen verwickelt werden. (Für die Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz am 27. März 2011 scheint dieser Widerstreit, wie Umfragen zeigen, allerdings nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben.)
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experiment scheint mir Folgendes zu zeigen: In einem solchen Falle halten wir, als ‚besser unterrichtete Beobachter‘, den zum Handeln Aufgerufenen wegen seines Informationsstandes für zu einem Rettungsversuch moralisch (und übrigens auch rechtlich) verpflichtet und wollen daher auch,45 dass er einen solchen Versuch unternimmt – und zugleich hoffen wir, dass er es noch rechtzeitig schafft, seinen suboptimalen Informationsstand den Tatsachen anzupassen, sprich: unserem eigenen Informationsstand anzugleichen.
VII. Variation eines Fallbeispiels 1. Wenn man will, dass eine Nathan-David-Erzählung auf Seiten des Hörers (oder natürlich auch: Lesers oder Zuschauers; allgemein gesprochen also: des Rezipienten) die gewünschte Reaktion – nämlich die unverwechselbare emotionale oder moralische Evidenz dafür, dass er einen bestimmten Wollensgrundsatz persönlich vertritt – auch tatsächlich hervorruft, dann muss man den oben in den Abschnitten IV.– VI. zur Sprache gebrachten Aspekten in der Regel ohne Ausnahme Rechnung tragen. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle diese Punkte gleich von Anfang an vollständig und explizit zur Sprache gebracht werden müssten. Der Erzähler kann sie vielmehr, wenn sein Zuhörer zögert oder durch eine geeignete Interpretation des Erzählten ‚mildernde Umstände‘ geltend zu machen versucht – oder auch im Gegenteil: wenn der Hörer vorschnell ein negatives Urteil zu fällen geneigt ist – in einer Diskussion bei Bedarf und von Fall zu Fall ‚nachliefern‘. Ein etwas weniger antiquiertes Beispiel als das Gleichnis aus dem Alten Testament möge dies erläutern. 2. Angenommen, jemand erzählt mir, ein Landarzt sei um einen dringenden Hausbesuch im Nachbardorf gebeten worden, und es habe zweifelsfrei im (‚wohlverstandenen‘) Interesse des Patienten gelegen, so schnell wie möglich ärztliche Hilfe oder ärztlichen Rat zu bekommen, und niemandes Interesse an einer Verschiebung oder gar Unterlassung dieses Hausbesuchs sei von höherem Rang gewesen als das Interesse jenes Patienten, sobald wie möglich von einem Arzt untersucht und behandelt zu werden; und doch sei der Arzt nicht gekommen, obwohl er zu dieser Zeit tatsächlich keinerlei dringendere Pflichten gehabt habe. Wenn uns eine solche Geschichte zu Ohren kommt, dann werden wir vielleicht genau so empört reagieren wie im biblischen Gleichnis der König David. 45 Ich zumindest würde in meinem Idiolekt niemals sagen, jemand sei (nach meinen persönlichen normativen Maßstäben) zu einer Handlung moralisch verpflichtet, von der ich nicht auch will, dass er sie vollzieht (oder zu vollziehen versucht); vgl. Hoche 1992: bes. 2.2 – 2.3. Allerdings halte ich die sprachliche Implikation von „ich will“-Aussagen in moralischen Verpflichtungsaussagen jetzt nicht mehr, wie 1992, für bloß ‚pragmatisch‘, sondern für ‚semantisch‘ (zu diesem Unterschied vgl. ebd.: 1.11 und besonders Hoche 2008: II.2–3) – und so habe ich es letzthin auch ganz klar in Hoche / Knoop 2010: III.4 gesagt. Für bloß rechtliche Verpflichtungen gilt das Gesagte natürlich nicht.
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3. Doch könnte uns nun der Erzähler zu beschwichtigen versuchen und uns auffordern, unsere Empörung zum Mindesten solange zu zügeln, bis wir die genaueren Umstände der Geschichte in Erfahrung gebracht haben. Und in der Tat würde sich unser Zorn auf den Arzt sofort auf seine Mitarbeiterin verlagern, wenn wir etwa erfahren, dass diese schuldhaft versäumt habe, den Doktor in Kenntnis zu setzen. Einen ähnlichen Entlastungsgrund würden wir sicher auch dann sehen, wenn wir hören, dass der Arzt seinen Patienten schon seit Jahren als einen lästigen Hypochonder kenne und zudem gerade zu einem schweren Massenunfall gerufen worden sei – und diesen Entlastungsgrund würden wir wohl auch dann nicht wieder verwerfen, wenn wir anschließend hören, der Hypochonder sei dieses Mal wirklich ernstlich erkrankt und der Ruf zu einem angeblichen Unfall bloß fingiert gewesen: Für unsere moralische Beurteilung reicht die Information, dass der Arzt nach bestem Wissen und Gewissen überzeugt sein musste, die Abwägung der Interessen aller mutmaßlich Betroffenen spreche gegen den Hausbesuch. 4. Doch nehmen wir nun im Gegenteil einmal an, der Arzt sei vom Vorliegen aller soeben besprochenen Bedingungen subjektiv überzeugt gewesen: also davon, dass der Patient um einen dringenden Hausbesuch gebeten habe, dass dieser Besuch im wohlverstandenen Interesse des Patienten liege und dass er auch nicht gegen irgend jemandes höherrangige Interessen verstoße. Würden wir es nun als einen ebenbürtigen Entlastungsgrund betrachten, wenn wir hörten, der Arzt sei allerdings nicht gleichermaßen davon überzeugt gewesen, dass er den Hausbesuch auch wirklich habe machen können? Angenommen, ihm sei soeben erzählt worden, ein Bergrutsch habe vor Kurzem die einzige Straße zum Nachbardorf unpassierbar gemacht. Dann war er vermutlich nicht davon überzeugt, den Hausbesuch mit Erfolg zu Ende bringen zu können. Doch würden wir dies als Entschuldigung oder gar Rechtfertigung dafür durchgehen lassen, dass er nicht einmal den Versuch unternommen hat, dem in seinen Augen ernsthaft gefährdeten Patienten zu helfen? Sicherlich nicht. Dagegen würden wir es vermutlich sofort als guten Entlastungsgrund gelten lassen, wenn er – man beachte die nun ganz andere Stellung der Verneinung „nicht“ – mit guten, ja ‚situativ optimalen‘ Gründen (nämlich mit den besten Gründen, die ihm in seiner damaligen Situation zu Gebote standen) fest davon überzeugt war, den Hausbesuch nicht mit Erfolg zu Ende führen zu können – etwa auf Grund einer kurz zuvor über die Medien verbreiteten amtlichen Meldung, wegen eines Bergrutsches sei das Nachbardorf noch mindestens für den Rest des Tages von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Wenn dieser potentielle Entlastungsgrund aber fehlt – wenn der Arzt also nicht fest davon überzeugt war, seinen Patienten nicht erreichen zu können –, dann werden wir sein in der kurzen Geschichte beschriebenes Verhalten wohl ganz entschieden missbilligen.46
46 Vgl. die ausführlichere und teilweise formal-logische Darstellung in Hoche 2001: Abschnitt XII.
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VIII. ‚Nathan-David‘-Situationen im weiteren Sinne 1. Die Abwandlung solcher Geschichten, so hilfreich sie sicher auch für uns Erwachsene sein mag, ist natürlich vor allem Sache von Eltern und Erziehern. Insbesondere einem pädagogisch und didaktisch erfahrenen Lehrer des Faches „Ethik“, „Praktische Philosophie“ oder „Werte und Normen“ – vorausgesetzt, er erkennt, dass es mit dem Lehren und Lernen ‚abfragbaren‘ philosophie-, religions- oder sozialgeschichtlichen Wissens bei Weitem nicht getan ist – sollte es wesentlich leichter fallen als einem letztlich nur an den theoretischen Grundlagenfragen interessierten Metaethiker, den Nerv der Zeit wirklich treffende Beispiele des NathanDavid-Verfahrens zu entdecken oder zu erfinden, in ihren möglichen Varianten durchzuspielen und auf Kinder und Jugendliche in dem gewünschten Sinne einwirken zu lassen. Überdies ist selbstverständlich auch die Rolle der übrigen, insbesondere der philologischen, Schulfächer nicht zu unterschätzen: Viele Dramen und Theaterinszenierungen (nicht nur, sagen wir, von Schiller oder Brecht), viele Kinound Fernsehfilme und weite Teile der erzählenden Literatur47 sind im Sinne des vorstehend beschriebenen Verfahrens geradezu von Natur aus dazu prädestiniert, auf anonyme Weise Empörung und in manchen Fällen auch Beschämung hervorzurufen48 und so Anlass zu bieten, sich seiner eigenen Wollensprinzipien zweifelsfrei zu versichern und in weiterer Folge – dank der sozusagen als ‚Brückenprinzip‘ oder ‚Analytizitäts-Schiene‘ fungierenden Universalisierten Goldenen Regel – in der Frage, wozu wir von Fall zu Fall moralisch verpflichtet seien, einen festeren Standpunkt zu gewinnen.49 47 Damit schreibe ich der fiktionalen Literatur – die übrigens ja auch für den (auf die Variation bloßer Möglichkeiten und das Ausloten ihrer Grenzen ganz entscheidend angewiesenen) Philosophen insbesondere phänomenologischer oder sprachanalytischer Ausrichtung überaus hilfreich sein kann – eine noch viel größere, und zudem ganz anders begründete, Bedeutsamkeit für die Moralerziehung zu als Hare (bes. 1963: 9.8.). 48 Man denke etwa an Schillers theoretische Schrift über die ‚Schaubühne als moralische Anstalt‘ (Schiller 1784): „Die Schaubühne allein kann unsere Schwächen belachen, weil sie unsrer Empfindlichkeit schont, und den schuldigen Thoren nicht wissen will“ (S. 95); „Eine merkwürdige Klasse von Menschen hat Ursache, dankbarer als alle übrigen gegen die Bühne zu seyn. Hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören – Wahrheit“ (S. 97). 49 Meine Betonung des empörenden und in Sonderfällen beschämenden Charakters von Nathan-David-Episoden sollte natürlich nicht den Eindruck erwecken, ich schätzte solche Erzählungen, Filme etc. gering, die ein vorbildliches Verhalten (‚Werke der Übergebühr‘) oder ‚moralisch akzeptable‘ Handlungsweisen und Lebensentwürfe zum Gegenstand haben. Auch solche Werke der Literatur können selbstverständlich zur moralischen Erziehung des Menschen beitragen. Aber sie helfen uns nur zur Erkenntnis dessen, was wir persönlich für vorbildlich oder zumindest akzeptabel (‚moralisch erlaubt‘) halten, und nicht zur Erkenntnis des moralisch unbedingt Verpflichtenden. – Auch jedes fehlschlagende Nathan-David-Verfahren lehrt uns etwas: nämlich, dass wir das dargestellte Verhalten persönlich als nicht anstößig empfinden – insbesondere dann, wenn das Verhalten etwa nach landläufiger, kirchlicher oder religiöser Auffassung moralisch verwerflich ist (man denke etwa an Fragen der Sexualität, der Reproduktionsmedizin – z. B. In-vitro-Fertilisation, Eizellspende, Präimplantationsdiagnostik –, der Stammzellforschung, der Genmanipulation oder der Transplantationsmedizin).
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2. Man beachte ferner, dass sich die Nathan-David-Methode nicht auf Geschichten und szenische Darbietungen reduzieren lässt. Vielmehr wird man ja im täglichen Leben oft ganz unmittelbar – oder auch vermittelt durch Fernsehen, Rundfunk oder Presse – Augen- und Ohrenzeuge schlimmer (oder zunächst als schlimm erscheinender) Vorfälle, die auch Kinder nicht unbeeindruckt lassen und hinsichtlich der handelnden und behandelten Personen, ihrer wechselseitigen Beziehungen, ihrer individuellen Eigenschaften sowie ihrer Vorgeschichte für den Beobachter, Zuschauer oder Hörer oft weitestgehend namenlos bleiben. Auch hier eröffnet sich also ein weites Feld für unterschiedliche Interpretationen, Abwandlungen und emotionale Reaktionen. Daher wird man gar nicht früh genug damit anfangen können, Kinder von Fall zu Fall auf elementare Nathan-David-Situationen in einer ihrem Alter gemäßen Form aufmerksam zu machen. So dürften zum Beispiel unsere Kinder schon in sehr jungen Jahren wenig Verständnis für Leute aufbringen, die auch heutzutage noch Gewässer, aus denen sie selber und andere (wenn auch schwer überschaubar vermittelt durch die technischen Prozesse der zeitgenössischen Trinkwassergewinnung) trinken müssen, zugleich als ‚Kloake‘ benutzen. Das aber würde sie nicht nur ganz vordergründig für das – zumindest in Europa inzwischen meist auch juristisch verfolgte – moralische Unrecht der Fluss- oder Grundwasserverseuchung durch Industriebetriebe und Landwirtschaft sensibel machen, sondern sie vielleicht auch, dank dem für das Nathan-David-Verfahren typischen Verfremdungseffekt, auf leichten Denkanstoß hin noch etwas ganz anderes erkennen lassen: nämlich, dass sie im Grunde ebenfalls nicht wollen, dass wir heutigen Menschen die Luft, die wir, andere Tiere und alle nachkommenden Generationen noch atmen müssen, in unserer Gedankenlosigkeit und Selbstsucht tatsächlich ja kaum anders behandeln als unsere Vorfahren im ‚finstersten Mittelalter‘ (und, wie gesagt, durchaus auch noch manche unserer Zeitgenossen) das Wasser. So könnten sie vielleicht ein moralisches Gespür dafür entwickeln, dass gesellschaftlich weitestgehend akzeptierte, ja geradezu als Ausübung von Grundrechten geltende Aktivitäten und ‚Passivitäten‘ wie, sagen wir, der Kulturtourismus nach China oder Australien oder die hemmungslose Ferienfliegerei für ein paar behagliche ‚Wellness‘-Tage an einem Sonnenstrand auf den Kanaren oder in der Dominikanischen Republik moralisch eigentlich alles andere als indifferent sind.50 3. Das letztgenannte Beispiel könnte mancher natürlich als allzu ‚moralinsauer‘ empfinden, und vor dem Hintergrund der beispiellos verheerenden Umweltkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima, ausgelöst durch das ungeahnt schwere Erdbeben am 11. März 2011, sieht das wirklich schon fast wie eine Bagatelle aus. Besser geeignet, wenn auch eher für etwas ältere Kinder, sind daher sicher 50 Übrigens hat man neuerdings festgestellt, dass die Luftfahrt nicht nur die Luft verschmutzt, sondern durch die Bildung der kleinen Eiskristalle in den Kondensstreifen der Flugzeuge und die daraus resultierende Wolkenbildung weit stärker als bisher angenommen zur Erderwärmung beiträgt. (So erstaunlich es klingen mag: Der erhebliche Sauerstoffverbrauch durch die Kerosinverbrennung gilt im Hinblick auf die Gesamtbilanz meines Wissens eher als vernachlässigbar.)
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einige der berüchtigten Beispiele aus der Realität der kaum überwundenen und, wie man auf Grund des Verhaltens der Protagonisten befürchten muss, zu Rezidiven neigenden Wirtschafts- und Finanzkrise. Wenn man etwa den leitenden Bankern der 2009 verstaatlichten Hypo Real Estate, die die jüngste Krise nur durch öffentliche Subventionen und Garantiezusagen in Milliardenhöhe zu überleben vermocht hat, letztlich auf Kosten des Steuerzahlers stattliche Boni zubilligt, so erscheint dies auf Anhieb sicher für die meisten von uns als empörend. Kann diese Empörung abebben, wenn uns Fachleute aus Politik und Wirtschaft versichern, ohne die Bonizahlung dürften gerade die tüchtigsten Mitarbeiter die Bank verlassen und damit die Gefahr noch vergrößern, dass die öffentlichen Hilfen für die HRE am Ende doch bloß ‚für die Katz‘ waren? Ich finde, an diesem Beispiel kann man sehr gut die Notwendigkeit der Fallabwandlung, aber auch die Notwendigkeit der Interessenabwägung, von der ich oben in Abschnitt V gesprochen habe, illustrieren. – Ebenfalls aus dem trüben Dunstkreis der HRE stammt ein Beispiel für die Notwendigkeit der Rechtsgüterabwägung und die der Unterscheidung zwischen ‚recht‘ und ‚billig‘. Dass ausgerechnet Georg Funke, weiland Vorstandsvorsitzender der HRE und allem Anschein nach durch seine Inkompetenz der Hauptschuldige an ihrem Untergang, noch zwei Monatsgehälter in Höhe von je 75.000 Euro – für die allermeisten Steuerzahler, die nach Lage der Dinge dafür werden aufkommen müssen, noch mehr als ein Jahres-Gehalt – auch nur einzuklagen versucht (von seinen Rentenforderungen in Millionen-Höhe gar nicht zu reden), dürfte den meisten unbefangenen Bürgern abgrundtief unanständig vorkommen. Und dass er dabei vor einem Landgericht kürzlich sogar einen Etappensieg davontragen konnte, wirft zumindest für den Laien Fragen auf wie die, wie weit der elementare Rechtsgrundsatz ‚pacta sunt servanda‘ durch die ebenfalls grundlegende Rolle der ‚Billigkeit‘ und der ‚guten Sitten‘ in der Rechtsprechung eingeschränkt werden sollte, und wie viel das ‚Rechtsgefühl‘ der Menschen und ihr Vertrauen in Gesetzgebung und Justiz in einer Demokratie eigentlich unbeschadet aushalten kann. 4. In der zweiten Februarhälfte 2011 wurde der deutschen Öffentlichkeit ein moralisches Trauerspiel vorgeführt, das am 1. März zum Rücktritt des deutschen Verteidigungsministers Karl Theodor zu Guttenberg von allen seinen politischen Ämtern geführt hat. Enthielt diese Tragödie (oder war es bloß ein Schmierentheater?) Nathan-David-Elemente? Auf den ersten Blick möchte man vielleicht sagen: Nein – zumindest, was ihren Protagonisten angeht: Denn dieser war während der etwa anderthalb Jahre, die er im Rampenlicht gestanden hatte, zumindest in Deutschland schon so bekannt geworden, dass fast jeder politisch mehr oder auch weniger Interessierte seine Sympathien oder Antipathien für ihn entdeckt hatte. Von der für eine vorurteilsfreie emotionale oder moralische Reaktion weiter oben51 als so wesentlich herausgestellten Verfremdung oder gar Anonymität konnte also nicht mehr die Rede sein. Auf den zweiten Blick aber sieht das, wie ich meine, ganz anders aus, und das ist der Grund, warum ich glaube, diesen aktuellen Fall hier nicht still51
s. bes. Abschnitte IV.3. – 4., IV.6.
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schweigend übergehen zu können. Ich muss in diesem Zusammenhang an Schillers Missverständnis der Kantischen Ethik denken, das sich darin ausdrückt, dass er in seinen Xenien sagt: „Gern dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“ Denn nach meinem KantVerständnis kann man nicht ausschließen, dass eine Handlung, die man aus Neigung tut, zugleich auch aus Pflicht geschieht. Nur kann man sich in der von Schiller beschriebenen oder einer ähnlichen Situation niemals mit letzter Sicherheit davon überzeugen, ob man – auch – aus Pflicht handele. Etwas ganz Analoges scheint mir nun vorzuliegen, wenn jemand, der zu Guttenberg ‚noch nie mochte‘, über sein Verhalten in der Plagiats-Affäre empört ist: Auch dann lässt sich nicht methodologisch sauber entscheiden, ob er ein solches Verhalten generell oder aber vor allem (oder nur) in diesem Sonderfall ablehnt. Tatsächlich jedoch erfreute sich zu Guttenberg weithin ungewöhnlich großer Beliebtheit, und es ist anzunehmen, dass auch viele, die in ihm einen menschlich sympathischen und für neue Ansätze offenen politischen Hoffnungsträger sahen, das undurchsichtige Zustandekommen seiner Doktorarbeit und auch sein unaufrichtig und selbstgerecht wirkendes ‚Krisenmanagement‘, mit dem er sich, wie es scheint, vom Täter zum Opfer zu stilisieren versucht hat, auf das schärfste missbilligen. Mit Sicherheit kann ich das jedenfalls von mir selbst sagen. So wird man wohl feststellen dürfen, dass ein Nathan-David-Verfahren in Ausnahmefällen (aber mit Sicherheit nur in solchen) auch dann zu einem aussagekräftigen Ergebnis führen kann, wenn ‚Ross und Reiter‘ bekannt sind – ja, dass sie in solchen Ausnahmefällen vielleicht sogar ganz besonders aussagekräftig sind, weil sie sozusagen bergauf oder ‚gegen den Strom‘ arbeiten müssen. 5. Nun hatte – und hat – die Guttenberg-Affäre aber auch zahllose Nebenschauplätze. Wie es scheint, halten ja viele deutsche Bundesbürger zu Guttenbergs Plagiat für ein lässliches „Schummeln“ und eine „Lappalie“, und das braucht nicht allein an ihrer Sympathie für den „Polit-Star“ zu liegen.52 Vielmehr dürfte es vielen von ihnen einfach nicht gelingen, bei ihrer eigenen Anwendung rudimentärer NathanDavid-Verfahren, die allerdings der Entlastung dienen und daher negativ (‚befundlos‘) ausgehen sollen, das richtige ‚tertium comparationis‘ zu finden. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass wohl fast jeder von uns in der Schule schon einmal ‚geschummelt‘, sprich: ‚abgeschrieben‘ hat – was oft ja als sportlicher Wettkampf mit den manchmal wirklich allzu misstrauischen Lehrern, wenn nicht geradezu als ‚Ehrensache‘, empfunden wird –, dass jedoch nur wenige wissen (oder daran denken), dass ein Doktorand, in welchem genauen Wortlaut auch immer, auf Ehre und Gewissen schriftlich versichert, dass er die vorgelegte Dissertation selber verfasst und sich dabei keiner anderen als der in der Arbeit angegebenen Hilfsmittel bedient hat.53 Damit ist allerdings das Verhalten der selber promovierten deutschen Bundes52 Die in Anführungszeichen gesetzten wörtlichen Zitate kann man dieser Tage (ich habe die Abschnitte 8.4 – 8.5 Anfang März 2011 hinzugefügt) den Medien immer wieder entnehmen. 53 In der für die Beurteilung der Affäre Guttenberg in Betracht kommenden „Promotionsordnung für die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth […] in der Fassung […] vom 30. März 2000“, die im Internet leicht zugänglich ist, verlangt
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kanzlerin nicht zu entschuldigen, die einige Tage vor zu Guttenbergs Rücktritt vor laufenden Kameras sinngemäß erklärt hat, sie habe mit ihm ja einen Verteidigungsminister und nicht einen Wissenschaftlichen Mitarbeiter bestellt. Man könnte sich da leicht fragen: Würde sie in einem vergleichbaren Falle wohl auch von einem entlarvten Anlagebetrüger sagen, er solle ihr schließlich nicht als Finanzberater zur Seite stehen?54 Jedenfalls ist bei der Bundeskanzlerin, im Unterschied zum ‚Otto Normalbürger‘ – und auch zu einigen ihrer eigenen Parteifreunde –, zumindest für mich kein wie auch immer beschaffenes moralisches Argument zu erkennen. So scheint sie sich mir mit jenen Worten, vielleicht sogar aus Kalkül, ein sei es intellektuelles, sei es charakterliches Armutszeugnis ausgestellt zu haben, das, wie ich meine, nicht durch den (mehr als fragwürdigen) Hinweis darauf abgetan werden kann, schließlich sei sie in einem Lande – nämlich der DDR – aufgewachsen und sozialisiert worden, in dem man zwischen Moral und Opportunität fortgesetzt habe abwägen müssen (wie es ein Politologie-Professor im deutschen Fernsehen sinngemäß ausdrückte). Denn wenige Tage später haben durchaus bodenständige süddeutsche Politiker ganz ähnlich ‚argumentiert‘. Deshalb wird man möglicherweise sagen dürfen, der Fall Guttenberg habe der interessierten deutschen Öffentlichkeit etwas beschert, was man nicht alle Tage geboten bekommt: einen zuverlässigen ‚Lackmustest‘ für den ‚moralischen pH-Wert‘ unserer gegenwärtigen politischen Hauptakteure.
IX. Klärung einiger naheliegender methodologischer Bedenken 1. Abschließend möchte ich versuchen, einige Probleme zur Sprache und nach Möglichkeit einer Lösung näher zu bringen, die vielleicht das ganze Projekt einer kulturübergreifenden Moral und Moralerziehung von Grund auf in Frage zu stellen geeignet sind. Insbesondere werden sich viele Leser schon längst gefragt haben, ob § 8 Abs. 6 „eine ehrenwörtliche Erklärung des Bewerbers darüber, dass er die Dissertation selbständig verfasst und keine anderen als die von ihm angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt hat“. Es scheint mir bemerkenswert, dass in und nach der Barschel-Affäre im Herbst 1987 ein (mutmaßlich) lügenhaftes Ehrenwort in der deutschen Öffentlichkeit wesentlich negativer bewertet wurde. 54 Man hat sich im Februar / März 2011 wiederholt darauf berufen, dass Frau Dr. Angela Merkel am Welttag des Schutzes geistigen Eigentums am 26. April 2008 wörtlich gesagt hat: „Raubkopien sind kein Kavaliersdelikt“. Allerdings wird aus dem Zusammenhang klar, dass sie dabei nicht von wissenschaftlichen, sondern ausschließlich von „künstlerischen Leistungen“ auf der einen und „Erfindungen“ auf der anderen Seite spricht und nur von diesen beiden ausdrücklich sagt, dass „ihr Diebstahl“ – etwa durch Industriespionage oder „das Herunterladen von Computern“ – „nicht etwa ein Bagatelldelikt“ sei. (Quelle: http://www.bundeskanzle rin.de/Content/DE/Archiv16/Podcasts/2008/2008-04-26-Video-Podcast/2008-04-26-video-pod cast.html). Diese, wie ich finde, durch den Anlass keineswegs nahegelegte Verengung des Blicks auf geistigen Diebstahl unter rein materiellen Aspekten – nämlich denen des Interesses des Industriestandortes Deutschland und einzelner Firmen am Schutz von „Industriepatenten“ und des Interesses der Künstler an der Sicherung ihrer Honorare – ist mir allerdings unverständlich, und ganz besonders natürlich im Lichte der keine zwei Monate später (am 12. Juni 2008) von der Bundeskanzlerin geforderten „Bildungsrepublik Deutschland“.
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unsere emotionalen Reaktionen auf eine Nathan-David-Situation – statt sozusagen unserem ureigenen innersten ‚Wesenskern‘ oder ‚Wollen‘ zu entspringen – nicht ganz entscheidend durch unsere soziale und kulturelle Umgebung geprägt, ja determiniert seien. Wenn dies der Fall sein sollte, dann würde es offensichtlich vollkommen illusorisch sein, einer Moral und Moralerziehung ‚nachzujagen‘, die dem Menschen unabhängig von seiner Herkunft, Religion und Kultur zur Handlungsorientierung im täglichen Leben dienen könnte. 2. Vielleicht ist es für den Leser ebenso hilfreich, wie es für mich selber war, wenn ich hier, mit freundlicher Erlaubnis des Zitierten, zunächst einmal wörtlich ein paar Sätze aus der Kritik wiedergebe, die kein Theoretiker, sondern ein ‚alter Hase‘ auf dem Felde der Praxis von Finanzen und Politik (nämlich ein ehemaliger Chef der Luxemburger Bankenaufsicht) an einem früheren Entwurf des vorliegenden Textes geübt hat: „Die emotionale Gewissheit, die im Nathan-David-Verfahren die Schlüsselrolle innehat, ist kulturell und soziologisch bedingt und, wie die Geschichte zeigt, durch Religion und Politik eminent manipulierbar. Einige Beispiele: Indien, Kastenwesen und die [dort] als gänzlich unbedenklich, ja in der unteren Mittelklasse als geradezu geboten angesehene Abtreibung weiblicher Föten; der Wert der Jungfräulichkeit, insbesondere in monotheistischen Kulturen, der Ehrentötungen rechtfertigt und zum emotional evidenten Gebot macht; die moralische Gewissheit, mit der privates Eigentum an Produktionsmitteln in den letzten hundert Jahren rücksichtslos geschätzt und ausgeübt oder verfolgt wurde; die brutale Wucht, mit der Staaten der Nordhemisphäre (mit dem so genannten judeo-christlichen Erbe – ein Portemanteau-Wort für Schlimmes) die Menschenrechte in Afghanistan und nicht im Westjordanland verteidigen und ohne Rücksicht auf Verluste aufzwingen. Die Frage, die sich mir in Anbetracht des eben Gesagten aufdrängt, ist: Kann das Nathan-David-Verfahren, das durch eine geradezu empirische Verifikation von moralischen Grundsätzen in einem gegebenen Kulturkreis gute Ergebnisse bringen mag, auch kulturübergreifend zu überzeugenden Ergebnissen führen? Wären diese Ergebnisse mehr als die Schnittmenge von verschiedenen kulturspezifischen Ethiken? – Eine weitere Frage ist, ob man denn überhaupt eine solche kulturübergreifende Ethik erarbeiten und durch Moralerziehung verbreiten sollte. Wäre das nicht der alte verhängnisvolle Reflex des besserwissenden intolerant präskriptiven Monotheismus? Sollte man in der ‚globalisierten Welt‘ nicht vielmehr eine kulturübergreifende, die Spezifizität der Kulturen respektierende Toleranz anpeilen? Dem Frieden wäre damit eher gedient als mit unserer bedingungslosen Unterstützung des aggressiven zionistischen Kolonialunternehmens in Palästina und dem an ‚Kollateralschäden‘ reichen Kampf gegen die Burka am Hindukusch.“55 – Diese temperamentvolle Kritik lässt sich unter zwei Rubriken – oder auf zwei Kernfragen – bringen. Erstens: Ist die Nathan-David-Methode als ein Mittel der (intra- und sogar interkulturellen) Gewinnung emotionaler und moralischer Evidenz – letzten Endes also: ist Moralbegründung und Moralerziehung auf der Grundlage der Universalisierten Goldenen 55
Pierre Jaans, E-Mail an den Verfasser vom 20. Dezember 2009.
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Regel – überhaupt möglich? Und zweitens: Ist das Streben nach einer Begründung und Propagierung einer interkulturellen Moral überhaupt wünschenswert? 3. Was die erste dieser beiden Fragen betrifft, so sollte man sich zunächst klar machen, dass ein Nathan-David-Verfahren weniger als eine Art ‚Evidenz-Generator‘ als vielmehr als eine Art ‚Evidenz-Pumpe‘ in Betracht kommt. Damit will ich sagen: Man macht eine emotionale – und damit, dank dem analytischen Brückenprinzip der Universalisierten Goldenen Regel, moralische – Evidenz, über die man implizit bereits verfügt, nur explizit: Man fördert sie nur sozusagen an die Oberfläche seines Bewusstseins. In dieser Hinsicht gleicht die Gewinnung emotionaler und moralischer Evidenz recht genau der Gewinnung geometrischer Evidenz, wie sie in Platons Dialog Menon beschrieben wird.56 In beiden Fällen scheint mir das eigentliche Problem der Evidenz-Gewinnung in der Frage nach dem Charakter der ‚unbewussten Tiefenschicht‘ zu liegen, aus der man die sei es ‚praktische‘, sei es ‚theoretische‘ Evidenz sozusagen ‚mäeutisch‘ zutage fördert. 4. Im Falle der emotional-moralischen Evidenz ist es nun sicherlich unbestreitbar, dass diese Tiefenschicht gravierenden äußeren – insbesondere: pädagogischen, psychologischen, gesellschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen57 – Einflüssen unterliegt und daher natürlich auch ‚manipuliert‘ werden kann. Doch meine ich, dass sich jene Tiefenschicht von derartigen Einflüssen auch schrittweise wieder befreien und reinigen lässt, und zwar besonders effektiv gerade durch die Anwendung der Nathan-David-Methode – vorausgesetzt natürlich, man nimmt es mit ihren oben erörterten Charakteristika der Anonymisierung und vor allem der Verfremdung wirklich ernst. Zweifellos ist es alles andere als einfach, hinreichend verfremdete (und in diesem Sinne gleichnishafte) Nathan-David-Geschichten zu finden oder zu erfinden, die geeignet sind, gerade bei jenen Rezipienten, die die eigentliche Zielgruppe darstellen, die moralische Billigung oder Tolerierung von Phänomenen wie der geschlechtsspezifischen Abtreibung (in Indien), der Steinigung von Ehebrecherinnen oder von Homosexuellen (letzteres, was erstaunen mag, noch immer, ja wieder, in Mitgliedsstaaten des Britischen Commonwealth, namentlich in Nigeria und Uganda)58 oder den so genannten ‚Ehrenmorden‘ (heute besonders im islamischen Platon: Menon, 82b – 85e. Allerdings zeigt die ‚arabische Revolution‘, die – ausgelöst durch die (in ihren genauen Motiven freilich undurchsichtig gebliebene) Selbstverbrennung des jungen tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 – zu Beginn des Jahres 2011 im Nahen Osten um sich gegriffen hat, dass in dieser Hinsicht auch manches Vorurteil waltet. So schreibt der britische Historiker Timothy Garton Ash, ein renommierter Kenner zeitgenössischer Diktaturen und der europäischen Revolutionen des Jahres 1989, in The Guardian Weekly vom 18. Februar 2011 sicherlich zu Recht: „One leathery old victim of this revolution, at whose death we should rejoice, is the fallacy of cultural determinism – and specifically the notion that Arabs or Muslims are not really up for freedom, dignity and human rights“ („For Egypt, this isn’t 1989, 1979 or 1789“, S. 19; meine Hervorhebungen). 58 Zu Einzelheiten siehe The Guardian, 26. November 2009 (Peter Tatchell: „A Commonwealth of homophobes“) und 29. November 2009 (Xan Rice: „Uganda considers death sen56 57
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Einflussbereich) in Frage zu stellen oder gar nachhaltig zu erschüttern. Aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass ein Mensch von einiger Phantasie und erzählerischem Talent dazu durchaus sehr viel beitragen kann. 5. Sicherlich muss man hier auch die berühmt gewordenen Forschungen des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget und seiner Mitarbeiter zur moralischen Entwicklung des Kindes zu Rate ziehen.59 Aus diesen empirischen Forschungen – die sich weitgehend darauf stützen, dass man den Kindern Geschichten (wenn auch, soweit ich sehe, nicht unbedingt ‚Nathan-David-Geschichten‘) erzählt und ihre Stellungnahme dazu protokolliert und auswertet – scheint hervorzugehen, dass sich die Moralität des Kindes mit zunehmendem Alter immer mehr aus dem Umgang mit Seinesgleichen entwickelt und von der Autorität der Erwachsenen distanziert: Gleichaltrige, und nicht die Eltern, sind für Kinder die Hauptquelle moralischer Begriffe wie Gleichheit, Gegenseitigkeit oder Gerechtigkeit.60 Dies, und natürlich auch die Resultate der späteren und insbesondere unserer zeitgenössischen Psychologie und Erziehungswissenschaft, sollte man sorgfältig prüfen, bevor man die Nathan-David-Methode in Bausch und Bogen als angeblich nicht zum Ziele führend und in diesem Sinne untauglich verwerfen zu müssen glaubt – und das umso mehr, als es, soweit ich sehe, zu diesem Verfahren der Bewusstmachung und expliziten Ausformung ganz persönlich vertretener Wollensprinzipien und darauf basierender moralischer Verpflichtungsurteile keine ernst zu nehmende Konkurrenz gibt. 6. Zum Schluss noch ein kurzes Wort zu der zweiten der von Pierre Jaans aufgeworfenen Fragen, nämlich zu der Frage: Ist das Streben nach einer Begründung und Verbreitung einer interkulturellen Moral überhaupt wünschenswert? Oder sollte man statt einer interkulturellen normativen Ethik „nicht vielmehr eine kulturübergreifende, die Spezifizität der Kulturen respektierende Toleranz anpeilen“? Nun, ich meine, das Prinzip, eine – maßvolle – Toleranz walten zu lassen, ist kein Gegensatz zur Moral, sondern einer ihrer wichtigen, ja vielleicht wichtigsten, Bestandteile. Als ein solcher bedarf der moralische Grundsatz, auch Fremdes und Andersartiges – in vernünftigen Grenzen – zu dulden, ja zu respektieren, sicherlich nicht mehr und nicht weniger der evidenzbasierten Begründung als jedes andere Moralprinzip. Doch wie kann man sich selbst und andere über jeden vernünftigen Zweifel hinaus davon überzeugen, dass man persönlich auf – maßvolle – Toleranz Wert legt, oder, mit anderen Worten, dass man will, dass Toleranz – in vernünftigen Grenzen – allgemein geübt werde? Ich denke, auch hier ist ein Nathan-David-Verfahren gefragt: Man sollte versuchen, sich und andere mit anonymisierten und verfremdeten Fällen von Intoleranz zu konfrontieren, auf die man im Allgemeinen emotional entschieden negativ reagiert. Und es steht durchaus zu erwarten, dass das keineswegs alle tence for gay sex in bill before parliament“); oder online: http://www.guardian.co.uk/commen tisfree/2009/nov/26/commonwealth-homophobes; http://www.guardian.co.uk/world/2009/nov/ 29/uganda-death-sentence-gay-sex 59 Piaget 1932, dt. 1976: bes. Kapitel III, Abschnitte V–VII. 60 Vgl. bes. ebd.: S. 322 f., 356 – 363.
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Fälle möglicher Intoleranz sein werden, sondern nur solche, in denen man die Tolerierung nicht selber mit guten Gründen ablehnt: Was man ganz sicher nicht anstreben dürfte, ist ja die Tolerierung der Intoleranz und anderer inhumaner, zumal für das soziale Zusammenleben verheerender, Verhaltensweisen, etwa der gesellschaftlichen Ächtung oder staatlichen Bestrafung religiöser, kultureller, sexueller oder anderweitiger Praktiken oder Präferenzen, die von denen der – jeweiligen – Mehrheit abweichen, dem Gemeinwesen aber nicht schaden. Und das war natürlich der Grund, warum ich im Vorstehenden in wiederholten Parenthesen nur von maßvoller oder vernünftig begrenzter Toleranz gesprochen habe. Wie aber will man die Grenze zwischen erwünschter und unerwünschter Toleranz herausfinden, wenn nicht durch mannigfache und phantasievolle Anwendungen der Nathan-DavidMethode (oder irgendeines gleichwertigen Alternativ-Verfahrens, das ich persönlich aber nirgends zu sehen vermag)?61
Summary Principles of a transcultural and / or transreligious moral education can only be based on a normative ethics resting, not on some historically revealed Divine Will, but on the will of the person acting – or supposed to act – himself. There seem to exist exactly three immediately applicable principles of morals which do justice to this requirement of autonomy of the will: the traditionally so-called Golden Rule – in what follows, I will call it the Singular Golden Rule (SGR) –, the Universalised Golden Rule (UGR), and Kant’s Categorical Imperative (CI). As has been shown elsewhere by means of a detailed linguistic analysis of ‘ought’-statements of one’s own idiolect in co-operation with an integrated logic of believing and willing (doxastico-theletic logic), SGR entails UGR, and UGR (and hence also SGR) entails CI. UGR and CI admit of a strict justification, and optimally so; for both of these principles are analytically true, namely, true solely in virtue of the semantical properties of the expressions occurring in their ordinary-language wordings. In contradistinction, for SGR no sufficient theoretical justification has been offered yet. As for a simple, unambiguous, and comprehensive applicability, UGR seems to me to be unmatched. Together, both rankings certainly suggest to take UGR, which has been mostly neglected by moral philosophers, much more seriously than has been done so far. Explicit formulations of the UGR have been handed down to us not only from Greek antiquity; implicit uses of it seem to be rather wide-spread in daily 61 Ein Entwurf dieses Aufsatzes wurde am 22. Januar 2010 im Logisch-sprachanalytischen Kolloquium am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum gründlich erörtert. Für konstruktive Kritik und andere wertvolle Hinweise möchte ich allen Teilnehmern danken, insbesondere (in alphabetischer Reihenfolge) Frau Ilke Aydin; Frau Privatdozentin Dr. Tania Eden; Herrn Benedikt Fait; Herrn Michael Knoop, M.A.; Herrn Prof. Dr. Ulrich Pardey; Frau Dr. Christina Ruta; und Frau Daniela Zumpf, M.A. Für hilfreiche Kommentare zu früheren Fassungen danke ich weiterhin den Herren Dr. Martin Bauschke (Stiftung Weltethos, Berlin), Pierre Jaans (Luxemburg), Lothar Peskes (Bottrop) und Dr. Dr. Heiner Schwenke (Basel).
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life; and its method of application (let me call it the ‘Nathan-David procedure’) has best been unfolded in a parable in the Old Testament. This method consists in the presentation – and, if necessary, interpretation, discussion, and multiple variation – of suitable tales, novels, films, dramatic works and even everyday situations which, as a rule at least, are characterised by anonymity, alienation, and, above all, negativity, that is, the tendency to arouse in the hearer’s or eyewitness’s mind disgust, anger, or wrath. Such negative emotional reactions are the only evidence that can be meaningfully required in order for the recipient to convince himself beyond doubt that he once for all disapproves of behaviour of the kind presented to him, and hence that he decidedly intends anybody, including himself, to act otherwise, namely, precisely the other way around. In other words: Such emotional evidence can make up the only conceivable verification for one’s own subjectively endorsed individual principles of willing and hence, due to the analyticity of UGR, for moral ‘ought’-judgements. So I take it that a pre-eminent task for moral teachers, educators, and parents ought to consist in finding (or inventing), presenting, varying, and discussing Nathan-David situations suitably tailored to children and youngsters of our century. Historians, psychologists of development and other empirical researchers can contribute to defending the authenticity of emotional – and hence also of moral – evidence and verification against objections that are plausible but, I take it, untenable. Literatur Achenwall, Gottfried (1758): Prolegomena Iuris Naturalis. Göttingen. Bauschke, Martin (2010): Die Goldene Regel. Staunen – Verstehen – Handeln. Berlin: EBVerlag. Dihle, Albrecht (1962): Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dudda, Friedrich (1999): Die Logik der Sprache der Moral. Paderborn: mentis. – (2007): „Gettier-Beispiele und eine Gebrauchsdefinition des Begriffs des propositionalen Wissens“, in: Facta Philosophica 9 (2007), 161 – 176. Ebert, Theodor (1976): „Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen“, in: Kant-Studien 67 (1976), 570 – 583. Hare, Richard M. (1952): The Language of Morals. Oxford: Clarendon. – (1963): Freedom and Reason. Oxford University Press. – (1981): Moral Thinking. Its Levels, Method, and Point. Oxford: Clarendon. Hoche, Hans-Ulrich (1973): Handlung, Bewußtsein und Leib. Vorstudien zu einer rein noematischen Phänomenologie. Freiburg / München: Alber. – (1978): „Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 32 (1978), 355 – 375. (Englische Übersetzung: „The Golden Rule: New Aspects of on Old Moral Principle“, tr. by J. Claude Evans, in: Darrel E. Christensen et al. (eds.), Contemporary German Philosophy, Vol. 1 (1982), University Park and London: Pennsylvania State University Press 1982, 69 – 90.
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Norbert Campagna, Alfarabi – Denker zwischen Orient und Okzident. Eine Einführung in seine politische Philosophie, Parodos Berlin 2010, 212 S. Während die anschwellende Vervielfachung von Einführungen in alles und jeden inzwischen nachgerade absurde Züge annimmt, ist das Angebot, insbesondere an deutschsprachigen, einführenden Darstellungen klassischer muslimischer Philosophie oder des Werks einzelner Denker äußerst überschaubar. Trotz des seit längerer Zeit anwachsenden und häufig genug herausgestellten öffentlichen – politischen wie intellektuellen – Interesses an der islamischen Kultur bzw. den verschiedenen islamischen Kulturen und der damit fast ebenso häufig verbundenen, beinahe schon zum Gemeinplatz gewordenen Klage über das Ausbleiben einer wie auch immer gearteten Aufklärung im Islam sind dem interessierten Laien wie dem Fachwissenschaftler, sofern es ihm an der Beherrschung des Arabischen mangelt, wenig Mittel an die Hand gegeben, sein Interesse durch die Lektüre wissenschaftlich solide gearbeiteter und klar und übersichtlich geschriebener einschlägiger Studien zu befriedigen. Diesem Mangel hilft nun wenigstens im Blick auf einen der klassischen Autoren aus der frühen Blütezeit, d. h. der Phase vor dem letztendlich erfolgreichen Generalangriff auf eine gegenüber der Religion selbständige Philosophie durch Al-Ghazalis Inkohärenz der Philosophen (1095), muslimischer Philosophie Norbert Campagnas Einführung in die politische Philosophie Alfarabis mit Bravour ab. Dabei ist dieser Untertitel genaugenommen ein wenig irreführend. Dies jedoch aus einem erfreulichen Grund. Denn Campagna bietet um einiges mehr, nämlich einen veritablen Überblick über die gesamte Philosophie Alfarabis, und zwar anhand der Leitfrage des Verhältnisses von Philosophie und Religion (S. 26). Beides entspringt einem überzeugenden methodischen Zugriff: Zum einen läßt sich Alfarabis politische Philosophie schlicht nicht ohne ihre metaphysischen wie ethischen bzw. psychologischen Grundlagen verstehen, da ihr spezifischer Charakter und dessen Begründung aus einem systematischen Zusammenhang hervorgeht, der durch eine neuplatonistisch strukturierte, jedoch theologisch gewendete Kosmologie fundiert ist, die das Eine Plotins mit dem Einen Gott gleichsetzt (S. 65 ff.). Zum anderen rückt das Verhältnis von Philosophie und Religion ganz unwillkürlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn man Alfarabis systematischen Ansatz einer einheitlich metaphysisch fundierten Wissenschaft folgt, die nur eine Wahrheit kennt (S. 70 ff.), die allerdings auf verschiedenen Wegen erkannt und in verschiedenen Weisen mitgeteilt werden kann (S. 84 ff.). Daraus ergibt sich eine eindeutige Hierarchie, die – pointiert formuliert – darin besteht, daß zwar beide epistemischen Haltungen erkennend auf die eine Wahrheit bezogen sind, jedoch nur die Philosophie beanspruchen kann, diese auch adäquat erkennen und mitteilen zu können. Die Philosophie erfaßt die stets aktualen intelligiblen Gegenstände, die der Grund jeder weiteren Wahrheitserkenntnis sind unmittelbar durch den Intellekt und bringt sie in abstrakte, wahre und logisch demonstrable Aussagen und teilt sie in dieser Form auch mit, während die Religion bzw. alle Religionen dieselbe Wahrheit durch Offenbarung, d. h. durch ein verzerrendes Medium erfaßt und in konkretisierender metaphorischer Sprache mitteilt. Dies hat zur Folge, daß die Politik gleichfalls der Philosophie und nicht der Religion untergeordnet sein muß, sich mithin an philosophischen Erkenntnissen und nicht an religiösen Lehren zu orientieren hat. Campagna erfaßt dies treffend in einem einzigen Satz, wenn er schreibt: „Die Politik steht im Dienste der Philosophie und bedient sich der Religion.“ (S. 26)
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Dieser erstaunlich modern anmutende, an die europäische Aufklärung erinnernde Befund resultiert aus Alfarabis Konzeption des Kosmos als hierarchisch geordnete Einheit: Weil Glück – gut aristotelisch – in der Erreichung derjenigen Vollkommenheit besteht, die der Natur eines Wesens entspricht, und diese Vollkommenheit für den Menschen in der rationalen Einsicht in das aktual Intelligible durch sein höchstes Seelenvermögen, den Intellekt, d. h. in demonstrativ durch die logisch gültige Verknüpfung wahrer Propositionen rechtfertigbaren Wissens (S. 88 f.), besteht (S. 112 pass.), muß die Politik die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Menschen – und zwar potentiell alle – dieses Glück, das ihnen durch ihr Wesen vorgegeben ist, auch erreichen können. Dies gilt zumindest dann, wenn die politische Gemeinschaft tatsächlich der Einsicht in dieses Ziel folgt, das ihr ebenso vorgegeben ist wie dem Menschen jene Möglichkeit des Glücks. Der Staat ist daher nicht Selbstzweck, sondern steht im Dienst der Individuen, die ihm angehören (S. 126). Er ist daher weder national noch ethnisch noch religiös definiert (S. 131), sondern allein durch seine Einrichtung, die seinem eigentlichen Zweck entweder dient oder nicht dient. Dementsprechend kann Alfarabi auch zwischen tugendhaften und insgesamt sechs Arten von untugendhaften politischen Gemeinschaften unterscheiden (S. 135 ff.). Zu diesen kann sich der tugendhafte Mensch bzw. der Philosoph in dreifacher Weise verhalten: Er kann sie versuchen zu verändern und sich damit womöglich in Lebensgefahr bringen, er kann seine Tugendhaftigkeit verbergen oder er kann den Staat verlassen (S. 142). Bemerkenswerterweise billigt Alfarabi hierbei der Demokratie noch die größte Nähe zum Glück zu, indem er darauf hinweist, daß in einem solchen Gemeinwesen, dessen Untugendhaftigkeit darin besteht, daß es nicht auf eine einheitliche, universale Glücksvorstellung hin institutionell ausgerichtet ist, immerhin die Bedingungen gegeben sind, daß auch der Philosoph der Erreichung des wahren Glücks nachstreben kann, gerade weil die Ziele der Individuen keiner staatlichen Vorgabe unterliegen; anders als das bei den anderen untugendhaften Formen der Fall ist, die jeweils einheitliche Ziele vorgeben, die jedoch dem einen wahren Ziel widersprechen. Aus diesen Vorgaben läßt sich auch die Funktion der Religion in einem tugendhaften Gemeinwesen ersehen. Dabei ist klar, daß sie in einer Gemeinschaft tugendhafter Menschen, also solcher, die rationale Erkenntnis der Wahrheit besitzen, schlicht überflüssig ist, da ihnen weder vermittels Metaphern Wege zum Glück gewiesen noch das Glück in Phantasiebildern vorgestellt werden muß. Die Religion ist in einem Staat also „nicht an sich notwendig und auch nicht relativ zu einer abstrakten conditio humana“ (S. 183). Sie besteht vielmehr kontingent nach Maßgabe der intellektuellen Potentialitäten der einzelnen Menschen, die eine Gemeinschaft formieren. Sie und ihre konkrete Mitteilungsform muß daher ebenso an die historischen, kulturellen und intellektuellen Umstände angepaßt sein, in denen sie zum Einsatz kommt. Wittgenstein abwandelnd könnte man wohl sagen, daß das erhabenste Ideal der Religion wäre, sich selbst abzuschaffen, indem sie alle Menschen zur philosophischen Erkenntnis dessen führt, was sie mit ihren Mitteln lehrt. Freilich bleibt dies ein Ideal, das auch Alfarabi aufgrund der kontingenten Verteilung intellektueller Potentiale für nicht verwirklichbar hält. Er entwickelt daher Kriterien für die Notwendigkeit und Nutzen der Religion in einem Gemeinwesen (S. 183 ff.). Schon dies zeigt sein Beharren auf der Priorität der Philosophie vor der Religion auch in der kontingenten Wirklichkeit der Welt. Wie deutlich geworden sein sollte, verdient Campagnas Einführung in Alfarabis Philosophie diesen Namen mehr als zurecht: Sie ist auf dem Stand der Forschung, folgt einer klaren und aus der Sache begründeten methodischen Linie, argumentiert transparent und ist flüssig geschrieben. Nicht zuletzt ist zu betonen, daß ihre Lektüre so gut wie keine philosophiehistorischen Vorkenntnisse und ebensowenig Kenntnisse über die Geschichte des Islams und der
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muslimischen Philosophie vor Alfarabi voraussetzt, da der Autor den nötigen Hintergrund in seinen einleitenden Kapiteln vermittelt. Alexander Aichele
Mathis Bader, Organmangel und Organverteilung, Freiburger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 5, Mohr Siebeck, Tübingen 2010. In seiner Dissertation ‚Organmangel und Organverteilung‘ befasst sich Mathis Bader mit der Mangelsituation in der Transplantationsmedizin und der gerechten Verteilung von Spenderorganen. Die gerechte Verteilung knapper Güter – nach Bader eine der Kernfunktionen des Rechts – ist in diesem Bereich der medizinischen Versorgung von besonderer Bedeutung, da eine Transplantation für die bedürftigen Patienten häufig die einzige lebensrettende Therapieform darstellt. Im ersten Teil seiner Arbeit stellt der Autor mögliche Strategien zur Behebung des Organmangels vor. Er optiert zum einen für eine Ausweitung der Möglichkeiten der Lebendspende, da ihm die Begründung für die gesetzliche Beschränkung der Lebendspende auf nahe Angehörige nicht tragfähig erscheint. Zum anderen sieht er auch bei der postmortalen Organspende Verbesserungsmöglichkeiten, da derzeit das Potenzial an postmortalen Spenden nicht ausgeschöpft wird. Schon die Beseitigung organisatorischer Probleme und eine Verbesserung der Kooperation der an der Transplantationsmedizin beteiligten Institutionen könnten zu einer Steigerung der Spenderrate beitragen. Ferner könnte und sollte die Spendebereitschaft generell gesteigert werden, und zwar durch größere Rechtssicherheit für die Spender, sowie durch transparentere und gerechtere Verteilungsregelungen für Spenderorgane und entsprechende Aufklärungskampagnen. Da diese Maßnahmen den Organmangel nicht beheben können, untersucht der Autor desweiteren, inwieweit dies durch eine Änderung der Entnahmeregelungen für Leichenorgane erreicht werden könnte. Im ersten Schritt stellt er dazu die in Medizin, Politik und Rechtswissenschaft gegenwärtig diskutierten Regelungsmodelle kurz vor, und zwar: die enge und erweiterte Zustimmungslösung, eine Entscheidungsverpflichtung für alle Bürger, die enge und erweiterte Widerspruchslösung und schließlich die Notstandslösung. Von diesen Regelungen hält Bader nur die enge Widerspruchslösung und die Notstandslösung grundsätzlich für geeignet, das Aufkommen an postmortal gespendeten Organen spürbar zu erhöhen. Da aber umso weniger Organe zur Verfügung stehen, je mehr die Spenderautonomie berücksichtigt wird – hierin sieht Bader das grundlegende Dilemma jeder Regelung zur Organentnahme –, muss bei der Beurteilung der verschiedenen Modelle zwangsläufig unter Rücksicht auf Menschenwürde, Selbstbestimmungsrecht und Religionsfreiheit der Organspender und auf das Totensorgerecht ihrer Angehörigen auf der einen Seite, und der Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit der transplantationsbedürftigen Patienten auf der anderen Seite abgewogen werden. Vor diesem Hintergrund unterzieht der Autor jedes der genannten Modelle einer ausführlichen verfassungsrechtlichen Prüfung, mit dem Ergebnis, dass bis auf die Notstandslösung alle Regelungsvarianten so ausgestaltet werden können, dass die Grundrechte aller Betroffenen gewahrt werden. Der dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Gestaltungsspielraum erfordert in erster Linie eine rechtspolitische Entscheidung, bei der sich der Gesetzgeber allerdings nach Baders Ansicht davon leiten lassen sollte, welches Modell die in der Verfassung angelegten Intentionen am besten zur Geltung bringt, d. h. er sollte sich für diejenige Regelung entscheiden, die die Interessen von Spendern und Empfängern zum bestmöglichen Ausgleich bringt.
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Anhand dieses Kriteriums verwirft Bader die enge Zustimmungslösung und die Notstandslösung. Die erweiterte Zustimmungs- oder Widerspruchslösung sowie eine Entscheidungsverpflichtung in Kombination mit einer entsprechenden Aufklärung der Bevölkerung hält er dagegen für geeignet, den angestrebten Interessenausgleich zu gewährleisten. Allerdings kann bei diesen Modellen nicht mit einem nennenswerten Anstieg der Spenderrate gerechnet werden. Eine Lösung für das Problem des Organmangels könnte nur die enge Widerspruchslösung darstellen – ein Modell, das Bader für politisch nicht realisierbar hält, weil es in der Bevölkerung auf weitgehende Ablehnung stößt. Daher kann seiner Meinung nach dem Organmangel derzeit nur auf der Basis der geltenden erweiterten Zustimmungslösung abgeholfen werden. Die anschließende Frage, ob eine Ökonomisierung des Transplantationswesens in Betracht kommt, etwa durch die Setzung materieller Anreize zur Förderung der Spendebereitschaft in Form von staatlich gewährleisteten Vergünstigungen oder durch eine bevorzugte Behandlung von Organspendern bei der Organverteilung, wird negativ beschieden. Bader hält die positive Auswirkung solcher Anreizsysteme für nicht erwiesen. Es stehe vielmehr zu befürchten, dass dadurch mehr altruistisch motivierte Organspender abgeschreckt als Spender hinzugewonnen werden könnten. Letztlich hält Bader das Problem des Organmangels daher – trotz möglicher Verbesserungen – für unlösbar, so dass die gerechte und transparente Verteilung der vorhandenen Spenderorgane vorrangig bleibt. In der Lösung dieses ‚unlösbaren‘ Folgeproblems des Organmangels sieht der Autor die Kernaufgabe des Transplantationsrechts. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird im zweiten Kapitel zunächst die Entstehungsgeschichte des deutschen Organverteilungssystems nachgezeichnet, die den Hintergrund für das 1997 in Kraft getretene Transplantationsgesetz (TPG) bildet. Dieses Gesetz normiert die erweiterte Zustimmungslösung als Entnahmeregelung und baut bei der Regelung der Organverteilung in wesentlichen Punkten auf den zuvor gewachsenen Strukturen auf. Daher werden die Kriterien für die Organverteilung auch nur generalklauselartig geregelt und die Ausarbeitung detaillierter Regelungen der Bundesärztekammer (BÄK) übertragen. Trotz bestehender Einigkeit über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Organentnahme und -verteilung wurde an diesem Regelungsmodell von Anfang an kritisiert, der Gesetzgeber habe übersehen, dass es sich bei der Verteilung von Spenderorganen nicht um ein rein medizinisches Problem handelt. Zwar sei es Aufgabe der Medizin, die Notwendigkeit und Erfolgschancen einer Transplantation bei einem Patienten festzustellen. Bei der Entscheidung, ob ein bestimmtes Organ diesem oder einem anderen Patienten zugeteilt wird, handele es sich aber um eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, die allein aus medizinischen Gründen nicht zu entscheiden sei. Die hierfür ausschlaggebenden Kriterien hätte der Gesetzgeber angesichts der weitreichenden Bedeutung der Entscheidung für die betroffenen Patienten selbst detailliert festlegen müssen, anstatt dies der BÄK zu überlassen. Anschließend an diesen historischen Überblick über die Entstehung des TPG wird im dritten Kapitel das gesetzliche Organisationskonzept der Organverteilung im Einzelnen dargestellt und ein Überblick über die verbindlichen Rechtsquellen des Rechts der Organverteilung gegeben. Außerdem schildert der Autor ausführlich den üblichen chronologischen Ablauf einer Organtransplantation. Mit dem Problem der Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure in den Allokationsprozess befasst Bader sich im vierten Kapitel der Arbeit. Eine dogmatische Einordnung der Rechtsnatur der BÄK ergibt, dass es sich bei ihr um eine Beliehene handelt, die zum Staat in einem Auftrags- und Treueverhältnis steht und sowohl an die Grundrechte als auch an allgemeine Ver-
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waltungsgrundsätze gebunden ist. Die Richtlinien der BÄK sind Baders Meinung nach Verwaltungsvorschriften in Form antezipierter Sachverständigengutachten und damit Rechtsnormen im formellen Sinn. Auch in ihrer Wirkungsweise sind die Richtlinien Rechtsnormen zumindest vergleichbar, da ihnen de facto hoheitlicher Charakter zukommt. Allerdings ist die Beleihung der BÄK mit der Kompetenz zum Erlass von Rechtsnormen verfassungsrechtlich unzulässig, da eine Übertragung von Rechtssetzungskompetenzen an Private grundsätzlich ausgeschlossen ist. Schon aus diesem Grund können die Richtlinien eigentlich keine Verbindlichkeit entfalten. Darüber hinaus verstößt die Ermächtigung der BÄK gegen das Demokratieprinzip, da letztere weder in personell-organisatorischer noch in sachlichinhaltlicher Hinsicht hinreichend demokratisch legitimiert ist und dieses Legitimationsdefizit auch nicht durch eine effektive staatliche Kontrolle aufgefangen wird. Außerdem liegt ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt vor, wie ihn das Bundesverfassungsgericht in seiner Wesentlichkeitsrechtsprechung konkretisiert hat. Bader kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Richtlinienkompetenz der BÄK zumindest in dem gegebenen Umfang verfassungswidrig ist. Strukturell dieselben Bedenken bestehen gegenüber den gem. § 12 II TPG an Eurotransplant übertragenen Entscheidungskompetenzen. Auch diese Ermächtigung hält Bader für verfassungswidrig. Nach dieser grundsätzlichen Kritik an der Ausgestaltung der Organverteilung unter Geltung des TPG stellt Bader im fünften Kapitel der Arbeit das gegenwärtige Verfahren der Organallokation für verschiedene vermittlungspflichtige Organe im Einzelnen dar. Trotz gebotener Differenzierungen sind generell zwei Ebenen des Allokationsprozesses auseinander zu halten: die Entscheidung über die Aufnahme in die Warteliste einerseits und die Zuteilung eines konkreten Organs andererseits. Es lassen sich aber Leitprinzipien ausmachen, die allen diesen Entscheidungen zugrunde liegen. Für die Aufnahme in die Warteliste sind die wesentlichen Voraussetzungen die Notwendigkeit einer Transplantation, also die medizinische Indikation, und die Erfolgsaussicht im Sinn einer realistischen Chance, dem Patienten durch die Transplantation Linderung verschaffen zu können. Auch bei der Zuteilungsentscheidung spielt das Kriterium der Erfolgsaussicht eine Rolle, nun aber in einem strengeren Sinne, da vermieden werden soll, dass die ohnehin knappen Organe an Patienten vergeben werden, die davon nur einen kurzfristigen Nutzen hätten. Daneben ist vor allem das Kriterium der Dringlichkeit ausschlaggebend für die Allokationsentscheidung. Zusätzlich werden bei der Allokation Kriterien der Chancengleichheit berücksichtigt, d. h. Möglichkeiten des Ausgleichs unverdienter Nachteile bestimmter Patientengruppen. Zu diesen patientenbezogenen Kriterien kommt die Berücksichtigung von Faktoren hinzu, die die Funktionsfähigkeit des Transplantationswesens insgesamt betreffen, wie etwa nationale Austauschbilanzen innerhalb des Eurotransplant-Verbundes und die Zulassungsbeschränkung für Patienten von außerhalb des Verbundes. Soziale und gerechtigkeitsbezogene Kriterien werden zwar in der Literatur diskutiert, finden derzeit aber keine Anwendung. Im dritten Teil seiner Arbeit prüft Bader die dargestellten Kriterien zur Organverteilung auf ihre rechtliche Zulässigkeit. Dazu werden im sechsten Kapitel zunächst die verfassungsrechtlichen Vorgaben dargestellt, die für die Organallokation relevant sind, da alle einfachgesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen diesen genügen müssen. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben sich im Wesentlichen aus dem Recht der Patienten auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG und dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 I GG. Art. 2 II 1 GG schützt in seiner Funktion als Abwehrrecht die Patienten vor staatlichen Maßnahmen, die die Vorenthaltung einer prinzipiell möglichen Therapie zur Folge haben. Allerdings sind die Kriterien zur Organverteilung nicht als solche eingreifenden staatli-
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chen Maßnahmen zu qualifizieren. Neben dieser abwehrrechtlichen Funktion begründet Art. 2 II 1 GG eine Schutzpflicht des Staates für Leib und Leben seiner Bürger. Aus dieser lässt sich aufgrund des Organmangels zwar kein Anspruch des Einzelnen auf Erhalt eines bestimmten Spenderorgans herleiten. Der Staat ist aber zum einen verpflichtet, die Organtransplantation überhaupt zu ermöglichen und dem Organmangel nach seinen Möglichkeiten entgegenzuwirken, zum anderen haben die bedürftigen Patienten einen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am Verfahren der Organverteilung. Die Benachteiligung eines Patienten zugunsten eines anderen muss sachlich begründet sein und darf nur anhand verhältnismäßiger Differenzierungskriterien erfolgen. Die Allokationskriterien sind daher im ersten Schritt daraufhin zu prüfen, ob sie einem legitimen Zweck dienen. Im zweiten Schritt ist zu fragen, ob das in Frage stehende Differenzierungskriterium zur Erreichung des ihm zugrundeliegenden Zwecks überhaupt geeignet ist. Wenn dies der Fall ist, muss im dritten Schritt untersucht werden, ob die Ungleichbehandlung anhand dieses Kriteriums zu dem angestrebten Zweck auch erforderlich, d. h. ob nicht eine für die Patienten weniger belastenden Regelung möglich ist, die den Zweck gleichermaßen erfüllt. Schließlich hat im vierten Schritt eine Abwägung zu erfolgen, in deren Rahmen zu klären ist, ob die durch ein Differenzierungskriterium bewirkte Benachteiligung von Patienten zu dem jeweiligen Zweck in einem angemessenen Verhältnis steht. Im Übrigen dürfen die Allokationskriterien nicht gegen verfassungsrechtliche Differenzierungsverbote verstoßen. Solche ergeben sich zum einen aus Art. 3 III GG, zum anderen ergibt sich für den Bereich der Organallokation ein weiteres Differenzierungsverbot aus dem Prinzip der Lebenswertindifferenz, das aus einer Zusammenschau des Grundrechts auf Leben und der Garantie der Menschenwürde abgeleitet wird. Dieser Grundsatz verbietet die Bewertung menschlichen Lebens nach Qualität oder Quantität und steht damit allen Auswahlkriterien entgegen, die an eine solche Bewertung anknüpfen oder sie zur Folge haben. Mit diesen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen müssen die gesetzlichen Bestimmungen des TPG in Übereinstimmung gebracht werden. Dort ist festgelegt, dass die Organverteilung nach Regeln zu erfolgen hat, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen. Diese Formulierung ist nach Baders Ansicht dahingehend zu verstehen, dass sowohl die Leitprinzipien als auch das Verhältnis, in dem diese zueinander stehen, normativ festzulegen sind, da es medizinische Gründe, eine indizierte Behandlung zu unterlassen, nicht geben kann. Diese Festlegungen hat der Gesetzgeber zum Teil vorgenommen, indem er im TPG die Kriterien der Eignung, Erfolgsaussicht und Dringlichkeit als für die Organverteilung ausschlaggebend nennt. Medizinisch begründbar müssen dagegen diejenigen Parameter sein, anhand derer das Vorliegen dieser Kriterien festgestellt wird. So hängt die Eignung eines Patienten für die Transplantation eines konkreten Organs, die Grundvoraussetzung für die Zuteilung ist, allein von medizinischen Kriterien ab. Die Transplantationseignung dient nicht zur Auswahl zwischen mehreren Patienten und entspricht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, da hier eine sachlich / medizinisch begründete Benachteiligung von ungeeigneten Patienten vorliegt, die mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht in Konflikt gerät, weil es sich um eine (gebotene) Ungleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte handelt. Anders beim Kriterium der Erfolgsaussicht der Transplantation. Hier erfolgt zwar die notwendige Prognose anhand medizinischer Kriterien, die Bevorzugung eines Patienten aufgrund besserer Erfolgsaussichten ist aber nicht medizinisch begründbar, sondern fußt auf dem utilitaristischen Prinzip, die knappe Ressource ‚Organ‘ möglichst effizient zu nutzen. Dadurch werden wesentlich gleiche Sachverhalte aufgrund der zu erwartenden Organfunktionsdauer und
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Lebensqualität des Patienten ungleich behandelt. Es liegt also eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vor, die laut Bader eine Differenzierung nach dem Lebenswert der Patienten darstellt und damit gegen den Grundsatz der Lebenswertindifferenz verstößt. In der Literatur diskutierte Ansätze, diesen Verstoß durch kollidierendes Verfassungsrecht zu rechtfertigen, hält Bader nicht für tragfähig. Seiner Ansicht nach ist das Kriterium der Erfolgsaussicht daher für die Patientenauswahl verfassungsrechtlich unzulässig und daher trotz Nennung im TPG außer Betracht zu lassen. Das Kriterium der Dringlichkeit führt v. a. zur bevorzugten Behandlung von Patienten in unmittelbarer Lebensgefahr. Aber auch bei nicht akuter Lebensbedrohung ist eine Differenzierung möglich mit Blick auf die Schwere der dem Patienten drohenden Gesundheitsschäden und deren zeitliche Nähe. So führt zwar auch dieses Kriterium zu einer verfassungsrechtlich relevanten Ungleichbehandlung, diese Differenzierung hat aber einen sachlichen Grund in der unterschiedlich großen Gefahr für Leben und Gesundheit und entspricht damit der Logik der staatlichen Schutzpflicht für die Patienten. Eine Differenzierung anhand der Dringlichkeit der Transplantation ist daher verfassungsgemäß. Schließlich ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben das Kriterium der Chancengleichheit. Dieses im TPG nicht genannte Prinzip muss laut Bader im Wege einer verfassungskonformen Auslegung in die Norm hineingelesen werden. Daraus folgt, dass es Kriterien geben muss, die es ermöglichen, Patienten bevorzugt zu behandeln, die ansonsten aufgrund natürlicher Gegebenheiten bei der Organallokation derart benachteiligt wären, dass sie faktisch keine Chance auf den Erhalt des benötigten Transplantats hätten. Für die Besetzung der Wartelisten werden im TPG die Kriterien der Notwendigkeit und der Erfolgsaussicht als ausschlaggebend genannt. Die Notwendigkeit einer Transplantation ist dabei als rein medizinische Notwendigkeit zu verstehen. Auch das Kriterium der Erfolgsaussicht ist hier so zu deuten, dass bereits das Vorliegen einer minimalen Erfolgschance ausreichend für die Aufnahme in die Warteliste ist. Bei diesem Verständnis genügen die materiellen Vorgaben des TPG über die Besetzung der Wartelisten auch den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, v. a. dem Anspruch der Patienten auf Teilhabe am Verfahren der Organverteilung. Die Pflicht, die Wartelisten der einzelnen Zentren bei der Organverteilung deutschlandweit als einheitliche Liste zu behandeln, dient der Realisierung des Prinzips der Chancengleichheit und ist daher verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern notwendig. Trotzdem werden spezielle Vorschriften für die Verteilung schwer vermittelbarer Organe dadurch nicht unzulässig, da davon auszugehen ist, dass bei solchen Organen eine deutschlandweite Verteilung (aufgrund der eingeschränkten Funktionsfähigkeit) gar nicht möglich wäre. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben für die Organverteilung untersucht Bader schließlich im siebten Kapitel seiner Arbeit die Zulässigkeit der einzelnen Allokationskriterien in der Form, wie sie durch die Richtlinien der BÄK konkretisiert werden. Insofern einzelne Bestimmungen in den Richtlinien mit dem TPG oder der Verfassung in Konflikt geraten, sind sie nach Ansicht des Autors unverbindlich bzw. müssen in verfassungskonformer Weise ausgelegt und angewendet werden. Dies gilt v. a. für Regelungen, die auf die Erfolgsaussichten der Transplantation abstellen, aber auch für einige Vorschriften, die Bezug auf die Dringlichkeit nehmen. Die Umsetzung des Prinzips der Chancengleichheit ist dagegen in zulässiger Weise geregelt. Problematisch ist hier allenfalls das Kriterium der Wartezeit. Nach Baders Ansicht dient deren Berücksichtigung aber der Herstellung einer Art Verfahrensgerechtigkeit bei der Organallokation und ist daher verfassungsrechtlich zulässig, solange Dringlichkeitskriterien vorrangig berücksichtigt werden.
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Schließlich enthalten die Richtlinien einige Verteilungskriterien, die der strukturellen Funktionsfähigkeit des Transplantationswesens als Ganzem dienen. Diese ist im TPG nicht als Allokationsziel genannt, die Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit des Transplantationssystems zu erhalten, ergibt sich aber aus der staatlichen Schutzpflicht für Leib und Leben transplantationsbedürftiger Patienten. Diesem Zweck dient zum einen die Berücksichtigung des Distanzfaktors, da die einzelnen Transplantationszentren nur dann einen Anreiz haben, an der Organgewinnung mitzuwirken, wenn sie die realistische Aussicht haben, eine bestimmte Anzahl an Transplantationen auch selbst durchführen zu können. Die damit einhergehende Benachteiligung von Patienten, die sich zufällig in einem weiter entfernten Zentrum befinden, hält Bader für angemessen, solange Dringlichkeitskriterien vorrangig berücksichtigt werden. Aus den gleichen Gründen bewertet er auch die verschiedenen Formen der Berücksichtigung nationaler Austauschbilanzen als verfassungskonform. Die im Eurotransplant-Manual vorgesehenen Zulassungsbeschränkungen für sog. Non-ETResidents, denen bereits der Zugang zur Warteliste verwehrt wird, verstoßen dagegen sowohl gegen die Vorgaben des TPG als auch gegen die Verfassung, sofern sich der betroffene Patient bereits in Deutschland aufhält. Solche Zulassungsbeschränkungen lassen sich nach Baders Ansicht nicht mit der staatlichen Schutzpflicht für Leib und Leben der Patienten begründen. Eine Differenzierung aufgrund des Wohnsitzes des Patienten verstößt darüber hinaus auch gegen Art. 3 I GG. Wenn sich ein solcher Patient in Deutschland befindet, sind die Transplantationszentren daher verpflichtet, nach Maßgabe von § 10 II TPG und den entsprechenden Richtlinien der BÄK ohne Berücksichtigung seines Wohnsitzes über seine Aufnahme in die Warteliste zu entscheiden. Über die bereits gültigen Kriterien hinaus wird abschließend die Recht- und Verfassungsmäßigkeit einiger Verteilungskriterien untersucht, die Bader in soziale Kriterien und Gerechtigkeitskriterien unterteilt. Da soziale Kriterien in irgendeiner Weise am sozialen Wert des Patienten orientiert sind, bringen sie prinzipiell das Problem mit sich, dass entschieden werden muss, anhand welcher Maßstäbe der soziale Wert eines Menschen zu bestimmen ist. Den verschiedenen Ansätzen hierzu (z. B. die Interessen Dritter am Leben des Patienten, sein Alter, die zu erwartenden „Quality Of Life Adjusted Life-Years“ oder die finanzielle Leistungsfähigkeit) ist gemein, dass die verwendeten Kriterien keinerlei medizinischen Bezug aufweisen und damit sowohl gegen die Vorschriften des TPG verstoßen als auch gegen den Grundsatz der Lebenswertindifferenz. Eine Differenzierung anhand solcher sozialer Kriterien erweist sich im Bereich der Organverteilung daher als unzulässig. Unter Gerechtigkeitskriterien fasst Bader solche, die an das Selbstverschulden des Patienten, seine eigene Spendebereitschaft oder eine bereits früher erfolgte Transplantation anknüpfen, zudem die Berücksichtigung eines etwaig erklärten Willens des Organspenders und eine Entscheidung per Losverfahren. Bei Selbstverschuldenskriterien ist zum einen die praktische Umsetzung schwierig, da mit Sicherheit eine freiverantwortliche Handlung des Patienten sowie deren Kausalität für seine Erkrankung festgestellt werden können müssten. Selbst wenn dies möglich wäre, verstieße eine Benachteiligung dieser Patienten aber gegen den Grundsatz der Lebenswertindifferenz, der eine Herabwürdigung menschlichen Lebens auch dann verbietet, wenn der Einzelne die Gründe für diese Bewertung selbst zu vertreten hat. Alle Kriterien, die an eine Selbstverursachung des Patienten anknüpfen, sind daher als verfassungswidrig anzusehen.
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Auch die Verteilungskriterien, die eine Berücksichtigung der Spendebereitschaft des bedürftigen Patienten bei der Organallokation vorsehen, sog. Reziprozitätsmodelle, werden in verschiedenen Ausprägungen diskutiert. Denkbar ist zunächst ein privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich verfasstes Klubmodell, bei dem Bürger übereinkommen, ihre Organe nur unter der Bedingung zu spenden, dass diese ausschließlich oder zumindest bevorzugt an Patienten vergeben werden, die ihrerseits spendebereit sind, und dadurch einen Solidarverein bilden. Möglich wäre aber auch eine gesetzlich festgeschriebene Berücksichtigung der Spendebereitschaft (mit oder ohne Einbeziehung des Spenderwillens), und zwar sowohl im Sinne eines absoluten als auch eines relativen Vorrangs spendebereiter Patienten. Außerdem wäre eine bevorzugte Behandlung ehemaliger Lebendspender denkbar. Abgesehen von ethischen Bedenken, praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung und Zweifeln an der öffentlichen Akzeptanz verstoßen alle diese Modelle gegen das TPG in seiner gegenwärtigen Form, da es sich bei der Spendebereitschaft eines Patienten nicht um ein medizinisch begründbares Auswahlkriterium handelt. Insofern ein solches Reziprozitätsmodell öffentlich-rechtlich ausgestaltet wäre, würde die damit einhergehende Benachteiligung der Nicht-Spender bei der Organverteilung außerdem gegen das Prinzip der Lebenswertindifferenz verstoßen und wäre damit verfassungswidrig. Diesem Einwand sind lediglich privatrechtliche Spenderklubs nicht ausgesetzt. Deren Einführung hält der Autor aber wegen unüberwindlicher Startprobleme für nicht praktikabel. Im Ergebnis erteilt er damit allen Reziprozitätsmodellen eine Absage. Die Tatsache, dass der Wille des Organspenders bezüglich der Verteilung der von ihm gespendeten Organe bei der postmortalen Spende gegenwärtig nicht berücksichtigt werden darf, bedeutet eine Einschränkung des postmortalen Selbstbestimmungsrechts der Organspender, die sich nach Bader nicht rechtfertigen lässt. Er fordert daher eine Änderung des TPG und der Allokationsrichtlinien dahingehend, dass in Zukunft eine etwaige Spenderwidmung bei der Verteilung postmortal gespendeter Organe berücksichtigt werden kann. Eine Bevorzugung oder Benachteiligung von Patienten, die bereits einmal transplantiert worden sind und eine Retransplantation benötigen, wäre wiederum wegen Verstoßes gegen das Prinzip der Lebenswertindifferenz verfassungswidrig. Schließlich wird in der Literatur die Anwendung eines Losverfahrens für den Fall diskutiert, dass die Berücksichtigung der zulässigen sachlichen Differenzierungskriterien zu einem gleichberechtigten Anspruch mehrerer Patienten auf ein Organ führt. Dies wäre jedenfalls verfassungsrechtlich unbedenklich. Bader ist darüber hinaus sogar der Ansicht, dass auch eine Organverteilung allein aufgrund eines Losverfahrens zulässig wäre, da dadurch eine formale Chancengleichheit aller Patienten in Form reiner und unparteiischer Verfahrensgerechtigkeit gewährleistet würde. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der Kritik am TPG und einigen auf den herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Vorgaben beruhenden Änderungsvorschlägen. Allerdings hätte Bader deutlich weiterreichende Änderungen der Richtlinien zur Organverteilung fordern müssen. Einige Detailregelungen erklärt er im Verlauf seiner Arbeit für zulässig, obwohl er sich damit in Widerspruch zu seiner verfassungsrechtlich fundierten Argumentation setzt. Dadurch entsteht der Verdacht, dass er davor zurückschreckt, allzu viele in der Praxis etablierte Verteilungskriterien als verfassungswidrig zu markieren. Gerade die konsequente Durchführung einer solchen Kritik wäre aber die Aufgabe einer juristischen Arbeit. Anna Johanna Gethmann
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Frank Dietrich, Sezession und Demokratie. Eine philosophische Untersuchung, Reihe: Ideen & Argumente, De Gruyter, Berlin 2010. Spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Problem, unter welchen Bedingungen Sezessionsbewegungen einzelner (Teil-) Staaten aus einem Staatenverbund heraus, aber auch von einzelnen Bevölkerungsgruppen aus Nationalstaaten heraus, legitim sein können, zu einer auch im globalen Maßstab eminent wichtigen politischen Frage geworden. Abgesehen von ihrer politischen Dimension hat diese Frage aber auch eine (völker- und menschen-)rechtliche und eine philosophische Dimension. Vor allem der letzteren Perspektive widmet sich das Buch von Dietrich, allerdings nicht ohne auf die Diskussion in den angrenzenden Wissenschaften – etwa im Völkerrecht (S. 48 ff.) oder in der Politik (insbes. S. 362 ff.) – dort, wo es angemessen ist, ausführlich einzugehen. Die Fragestellung ist zudem natürlich wesentlich älter, als die eingangs hervorgehobene Zäsur dies charakterisieren könnte, und die Beispiele für erfolgreiche Sezessionen und erfolglose Sezessionsversuche seit der Zeit der Staatenbildung sind durchaus zahlreich. Auch die philosophische (und die völkerrechtliche) Diskussion darüber, ob überhaupt und, wenn ja, in welchen Fällen eine Sezession akzeptabel sein könnte, hat eine lange Tradition. (Man denke etwa an Kants Kommentar zum 5. Präliminarartikel in seiner Schrift Zum ewigen Frieden von 1795, in dem er die Einmischung von außen in nicht abgeschlossene Vorgänge einer Sezession als Autonomieverletzung verurteilt.) Gleichwohl lässt sich zurzeit eine verstärkte (rechts-)philosophische Auseinandersetzung mit der Thematik beobachten, auf die Dietrich hier Bezug nimmt und zu der er eigene Antworten formuliert. Dabei geht er allerdings nur der Frage nach, wie demokratische Gesellschaften auf der Basis ihrer eigenen Wertvorstellungen mit der Herausforderung des Separatismus umgehen sollten (vgl. S. 17 ff.). Insofern erhebt seine Theorie ausdrücklich nicht den Anspruch, als normative Grundlage für die Ausgestaltung des Völkerrechts dienen zu können (vgl. S. 25 f.). In sieben Kapiteln befasst Dietrich sich (nach einem Einleitungskapitel) detailliert mit der „Sezession im Völkerrecht“ (S. 48 ff.), der „Sezession als Maßnahme gegen ungerechte Herrschaftsausübung“ (S. 87 ff.), der „Sezession als Akt der nationalen Selbstbestimmung“ (S. 166 ff.), der „Sezession als individuelles Freiheitsrecht“ (S. 236 ff.), der „Legitimation territorialer Ansprüche“ (S. 315 ff.) und den „Auswirkungen eines freiheitlichen Sezessionsrechts“ (S. 362 ff.). Dietrichs durchwegs plausible Auseinandersetzung sowohl mit der älteren als auch mit der zeitgenössischen Diskussion des Sezessionsproblems kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Hervorgehoben sei aber sein die weitere Diskussion sicherlich anregendes Ergebnis: Dietrich verteidigt die Position einer „individualistischen ‚primary right theory‘ der Sezession“ (vgl. etwa S. 242 ff.), die darauf hinausläuft, „vergleichsweise niedrige Hürden … vor einer Gebietsabspaltung“ zu errichten (S. 363). Die Befugnis zur Sezession wird (nur noch) an zwei Bedingungen gebunden, die den legitimen Interessen der im Staat verbleibenden und der gegen ihren Willen austretenden (d. h. von den Separatisten gleichsam mitgezogenen) Personen Rechnung tragen sollen: „Zum einen muss die Bevölkerungsgruppe, die sich mehrheitlich für die Eigenständigkeit entscheidet, Verantwortung für ihre Mitwirkung in der früheren Gemeinschaft übernehmen und unter anderem eine faire Aufteilung der Staatsschulden gewährleisten. Zum anderen muss sie den Angehörigen der Minderheit, die sich in dem Referendum gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen haben, Schutz vor Unterdrückung oder sonstigen unzumutbaren Nachteilen zusichern“ (S. 362).
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Dietrich plädiert damit dafür, von weitergehenden Anforderungen für eine legitime Sezession abzusehen, wie dies von anderen Proponenten in der Diskussion gefordert wird. Insbesondere sei die Legitimation der Sezession nicht davon abhängig zu machen, dass eine Verletzung elementarer Menschenrechte der Separationswilligen durch ihren bisherigen Staat zu konstatieren ist; sog. „remedial right theories“, die eine spezielle Rechtfertigung für eine Sezession fordern. Hierdurch werde eine Sezession aus einem demokratischen Staatswesen heraus von vornherein ausgeschlossen, was eine unangemessene Einschränkung individueller Freiheitsrechte darstelle (vgl. S. 149 ff.). Auch einer Rechtfertigung des Rechts auf Selbstbestimmung nur für nationale Gemeinschaften, wie sie von kollektivistisch orientierten Vertretern der „primary rights theories“ gefordert werde, tritt Dietrich entgegen (S. 166 ff.) und plädiert stattdessen für ein individuelles Freiheitsrecht auf Sezession (vgl. S. 238 ff.), das plebiszitär ausgestaltet (vgl. S. 267 ff.) und sogar verfassungsrechtlich verankert werden sollte (S. 401 ff.). Eine naheliegende und in der Diskussion immer wieder herangezogene Ähnlichkeit zum individuellen Scheidungsrecht verwendet Dietrich dazu, für sein Modell einer legitimen Sezession zu argumentieren (vgl. S. 272 ff., 281 ff.), allerdings durchaus unter kritischer Reflexion dieser Analogie (vgl. S. 275 ff.). Immerhin zeigt die Analogie, dass ähnlich wie bei der Beurteilung der Sezession auch im individuellen Scheidungsrecht eine modifizierende Entwicklung zu konstatieren ist, vom „Verschuldungsprinzip“ als Leitbegriff hin zum „Zerrüttungsprinzip“, wobei letzteres eher den Interessenausgleich in den Vordergrund stellt und dabei die Frage nach einem ehelichen Verschulden in den Hintergrund tritt (vgl. S. 272 ff.). Damit ist auch die Auflösung einer Ehe heute erheblich leichter als früher möglich und erfordert – abgesehen von der gerichtlichen Feststellung des Scheiterns der Ehe, das nach einem Jahr des Getrenntlebens unwiderlegbar vermutet wird, sofern beide Ehegatten die Scheidung wünschen; nach drei Jahren des Getrenntlebens sogar unabhängig von einer diesbezüglichen Einigkeit der Ehegatten – in erster Linie eine faire Auseinandersetzung der vermögensrechtlichen Interessen der bisherigen Ehepartner (wenn man hier einmal von der Versorgung der Kinder absieht). Man mag einwenden, dass die individuelle Scheidung immerhin noch von einem zuständigen Gericht geprüft und vollzogen werden muss, während „Scheidungen“ von Bevölkerungsgruppen in Staaten sich gerade regelmäßig ohne gerichtliche Kontrolle vollziehen. Aber auch dieser Einwand ist nicht mehr ganz zeitgemäß, denn inzwischen beurteilen Gerichte durchaus schon die Legalität und Legitimität von Staatensezessionen, wie das (allerdings nicht bindende) Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag vom 22. Juli 2010 zur Frage der Unabhängigkeit des Kosovo gezeigt hat. Eine andere – aber im Völkerrecht stets virulente Frage – ist natürlich die nach der Umsetzbarkeit oder gar Erzwingbarkeit solcher „Scheidungsurteile“ und die Bereitschaft der bisherigen „Partner“, sich an die Beschlüsse und die Regelung der „Scheidungsfolgen“ auch zu halten. Aber die Option zur ggf. auch gerichtlichen „Scheidung“ von Staatsteilen ist jedenfalls dort zu erwägen, wo nicht ohnehin – wie etwa im Fall der Trennung von Tschechien und der Slowakei – allseitiges Einverständnis die Durchführung der „Scheidung“ trägt. Sehr schwierig wird es allerdings sein, Sezessionen politisch und rechtlich so zu gestalten, dass diese möglichst fair für alle Betroffenen ablaufen. Schwierig schon deshalb, weil es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, Fairness hier praktikabel zu definieren. Man bedenke nur den fiktiven Fall, dass unter Berlin-Kreuzberg überraschend sehr viel Erdgas gefunden würde; sollte es fair sein, wenn eine (hier einmal präsumierte) türkischstämmige Mehrheit in Kreuzberg sich von Berlin (und der Bundesrepublik Deutschland) trennte und dort einen eigenen (Klein-)Staat gründete? Sollte dieser Kleinstaat auch aus der EU austreten und ggf. mit der Türkischen Republik fusionieren dürfen? Ähnliche Probleme ergeben sich bekanntlich schon jetzt bei einer möglichen Trennung der Kurden vom Irak, von der Türkei und vom Iran.
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Sollte bei der Beurteilung einer Trennungsbestrebung als fair eine etwaige Zuzugspolitik in Rechnung gestellt werden, durch die die Bevölkerungsanteile gezielt verändert wurden, um darauf eine legitime Sezession zu gründen? Müsste man nicht sogar auch Sezessionsbewegungen anerkennen, die kein eigenes Staatsgebiet beanspruchen, sondern sich nur als „sich selbst regierende Gruppe“ verstehen (z. B.: Die meisten Angehörigen einer Religionsgemeinschaft auf deutschem Boden schließen sich zu einem neuen „Staat“ zusammen)? Lässt sich überhaupt hoffen, die Vielfalt der Sezessionsbestrebungen (im Baskenland, in Katalonien, in Schottland und Wales; in Teilen von Estland auf dem Weg zurück nach Russland, in Georgien, in Teilen des Kosovo zurück nach Serbien etc.) in ein halbwegs einheitliches Fairness-Raster zu fügen, oder bedarf es in solchen Situationen latenter Sezession eigentlich immer der Einzelfallentscheidung? Hat die Bewahrung des status quo als Element der Rechtssicherheit dabei einen eigenen evaluativen Rang in dieser Debatte? In welchen Stadien des Trennungsprozesses darf von außen gewaltsam eingegriffen werden (vgl. die Lage etwa in Libyen)? Der Arbeit von Dietrich ist es zu danken, dass diese und ähnliche Fragen nunmehr in einer wesentlich klarer strukturierten Weise, als das hier skizziert werden konnte, zu diskutieren sind. Zudem hat der an individualistischen Freiheitsrechten orientierte Ansatz für die Möglichkeit einer (plebiszitär begleiteten) Sezession durch Dietrichs Untersuchung eine nachdrückliche und eindrucksvolle Unterstützung erfahren. Interessant ist zudem, dass offenbar auch die Philosophen einer Einhegung der Politik durch genuin rechtliche Strukturen durchaus Positives abgewinnen können. Man kann abschließend nur der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Dietrichs Buch sowohl von Sezessionsbefürwortern als auch von Sezessionsgegnern gelesen und vielleicht sogar beherzigt wird. Für die Wissenschaft ist das Buch davon ganz abgesehen schon deshalb von enormer Bedeutung, weil es den vielstimmigen Chor der Sezessionsbegründungen zur rationalen Rechtfertigung zwingt. Jan C. Joerden
Andreas von Hirsch, Ulfrid Neumann, Kurt Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht: Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten, Baden-Baden 2010, 355 S. I. In den letzten Jahren wird die Debatte über die Möglichkeit paternalistischer Begründungen für staatliche Regelungen und Interventionen wieder verstärkt geführt.1 Darf der Staat dem Einzelnen zu dessen eigenem Wohl, aber gegen seinen Willen, ein bestimmtes Verhalten verbieten (direkter Paternalismus) bzw. darf er zu demselben Zweck einem Dritten untersagen, auf einen anderen einzuwirken, obwohl dieser der Einwirkung zugestimmt oder sie gar gefordert hat (indirekter Paternalismus)? Obwohl in der Diskussion strafrechtliche Fragestellungen wie jene nach der Rechtfertigung des Verbots der Tötung auf Verlangen stets einen prominenten Platz einnahmen, stand die spezielle Problematik des Paternalismus im Strafrecht und ob sich dort ggf. Unterschiede zu allgemeinrechtlichen Begründungstopoi finden lassen, bisher im Hintergrund.2 Der Sammelband „Paternalismus im Strafrecht“3 sucht diese Lücke zu füllen, 1 Siehe etwa Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, Berlin 2005; Anderheiden u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht. In memoriam Angela Augustin (1968 – 2004), Tübingen 2006; Fateh-Moghadam / Sellmaier / Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, Stuttgart 2010. 2 Zu diesem Themenkomplex ist jüngst auch eine Dissertation erschienen: Gkountis, Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, Berlin 2011.
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indem er das „Problem des strafrechtlichen Paternalismus als moralphilosophisches und rechtsethisches Problem … rekonstruier[t] und … diskutier[t]“. II. Der Band enthält gleichsam einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil: Einige Beiträge untersuchen verschiedene Begründungsmuster für Paternalismus, zum Teil unter Betonung allgemeiner ethisch-moralischer Fragestellungen (Simester, Vossenkuhl, Kleinig, Seelmann), zum Teil spezifisch die Rechtfertigung von Paternalismus im Strafrecht in den Blick nehmend (Birnbacher, von Hirsch, Husak, Peršak, Schünemann, Yamanaka). Der „Besondere Teil“ widmet sich einzelnen – insbesondere medizinrechtlichen – Problemen: Mehrere Beiträge befassen sich mit der Begründbarkeit des Verbots der Tötung auf Verlangen (von Hirsch / Neumann [S. 71 ff. u. S. 99 ff.]; du Bois-Pedain, von der Pfordten). Schroth exemplifiziert das Paternalismus-Problem anhand der Nierenlebendspende (siehe dazu sogleich). Hörnle unterzieht das indirekt paternalistische Verbot von Eizellenspenden einer Prüfung und wendet sich im Ergebnis mit überzeugender Begründung gegen das Verbot. Wohlers und Went schildern mit großer Ausführlichkeit die Situation der Betäubungsmittelgesetzgebung vornehmlich in den Niederlanden und vermuten hinter der immer weiter zunehmenden Kriminalisierung letztlich weder paternalistische noch sonstige ethisch oder rechtlich „ehrenwerte“ Motive, sondern allein die Bekämpfung der sich im Drogenkonsum angeblich äußernden „Nichtanerkennung der herrschenden sozialen Normen“ durch die Konsumenten. In zwei Beiträgen werden mögliche Zusammenhänge zwischen Paternalismus und Menschenwürde erörtert (Kleinig, Seelmann, siehe auch Hörnle, S. 129 ff.). Im Kern geht es bei dieser Fragestellung allerdings primär darum, ob dem Würdeträger die Verfügungsbefugnis über seinen Würdeschutz aus anderen als paternalistischen Gründen versagt werden könnte – explizit paternalistisch begründet sind die Auffassungen, die sich etwa gegen eine Einwilligungsmöglichkeit in die Teilnahme an einer „Zwergenweitwurf“-Veranstaltung oder an einer „Peepshow“ wenden, nämlich in aller Regel gerade nicht.4 Es ist überhaupt eine zentrale Frage – die in der Paternalismusdebatte bisweilen etwas zu kurz kommt –, ob hinter einzelnen Verboten tatsächlich paternalistische Begründungen stehen oder nicht doch ganz andere. Auch der vorliegende Band streift dieses Thema nur am Rande. Interessanterweise gehen die Einschätzungen dabei deutlich auseinander. Während Schünemann gleichsam hinter jedem Busch Paternalismus lauern sieht (S. 229 ff.) und andere vom Gesetzgeber angegebene Motive wie Drittschutz oder Schutz der Sozialsysteme allesamt für vorgeschoben hält, um den „harten“ Paternalismus dahinter zu „verstecken“ (S. 232), sehen es Wohlers und Went genau umgekehrt: Zumindest in der Betäubungsmittelgesetzgebung seien (angeblich vorzufindende) paternalistische Begründungen nichts weiter als „Fassade“, hinter der andere Erwägungen verborgen würden (S. 292). Der Wahrheit am nächsten kommen dürfte Kleinig, der berechtigterweise feststellt, dass rein paternalistische Begründungen in liberalen Staaten kaum zu finden sind und dass es sich regelmäßig vielmehr um Motivbündel handeln
3 Der Band enthält Vorträge einer Tagung aus dem Jahr 2007 in Frankfurt / Main mit demselben Titel sowie Diskussionsbeiträge. 4 Ein Aspekt, den Kleinig durchaus wahrnimmt (S. 147 f.) und den Seelmann ganz deutlich macht, indem er sich ausdrücklich und ausführlich mit einem Verständnis der Menschenwürde als Gattungswürde auseinandersetzt, mit der das Wohl anderer geschützt werden soll (S. 246 ff.).
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wird (S. 149; ebenso dann Wohlers und Went auf S. 293, die richtigerweise feststellen, dass es dann darum geht, die Legitimationsfähigkeit des paternalistischen Begründungsanteils zu untersuchen). Eine weiterer der roten Fäden, die sich durch den Band ziehen, ist die Auseinandersetzung mit der These Kleinigs (und, mit anderer Nuancierung, Dworkins), dass „harter“ Paternalismus5 – wenn auch in sehr begrenztem Rahmen – dann gerechtfertigt sein könnte, wenn die beabsichtigte Handlung des Rechtsgutsträgers offenkundig nicht im Einklang mit seinen Werten und längerfristigen Interessen steht.6 Die Autoren wenden sich gegen die Versuche, das Selbstbestimmungsrecht in einer Weise zu interpretieren, die diese Form paternalistischer Eingriffe – zumindest im Strafrecht – ermöglichen würde (von Hirsch, S. 61 ff., Peršak, S. 179). III. Aus der Fülle der Beiträge seien zumindest drei etwas ausführlicher skizziert. Schroth untersucht, inwieweit die Verbote für Organhandel und (auch unentgeltliche) Nierenspenden an unbeteiligte Dritte gerechtfertigt werden könnten. Er wendet sich dabei gegen die meisten Formen paternalistischer und „rechtsmoralistischer“ Begründungsansätze (die etwa auf eine Verletzung einer objektiv verstandenen Menschenwürde rekurrieren). Allein die Rechtfertigung des Organhandelsverbots zu dem Zweck, die „Ausnutzung gesundheitlicher Notlagen potentieller Empfänger und wirtschaftlicher Notlagen potentieller Spender“ (S. 216) zu verhindern, hält Schroth für plausibel, letztlich aber in seiner Weite nicht begründet. Dieses Argument ist aber ohnehin kein „hart“ paternalistisches, sondern bestenfalls ein „weich“ paternalistisches, weil es Spender und Empfänger vor Entscheidungen bewahren will, die letztlich nicht als authentisch bzw. freiwillig anerkannt werden könnten. Wo diese Gefahren ausgeschlossen werden können, sieht Schroth konsequenterweise die Möglichkeit einer teleologischen Beschränkung des gesetzlichen Organhandelsverbotes (S. 218). Der Beitrag von Schünemann zeichnet sich durch seine deutliche Sprache aus. Nach einer ausführlichen Schilderung der Dogmengeschichte der Paternalismuskritik im Strafrecht – von Beccaria und Hommel über den – von Schünemann als inkonsequent entlarvten – Kant (S. 225 ff.), von Feuerbach und Mill hin zu den Vertretern des 19. Jahrhunderts, in dem das kontinentaleuropäische Strafrecht weniger paternalistische Züge trug als heute. Deutlich formuliert ist auch Schünemanns Darstellung des verheerenden Einflusses der christlichen „Leibfeindlichkeit“ und „Irrationalität“ (S. 223), die zu „Willkür“ und „Brutalität“ bis hin zu „jede [m] bestialische[n] Unfug“ (S. 222) im Strafrecht führte. Als heutige paternalistisch motivierte Normen identifiziert Schünemann u. a. die Bestimmungen des Transplantationsgesetzes (siehe dazu auch Schroth), das Verbot der Einwilligung in „sittenwidrige“ Körperverletzungen (§ 228 StGB), die Vorschriften der §§ 29 ff. Betäubungsmittelgesetz sowie im nichtstrafrechtlichen Bereich etwa das Rauchverbot in Gaststätten. Schünemann geht zwar darauf ein, dass in allen genannten Fällen auch nicht-paternalistische Begründungen für die Kriminalisierung möglich wären. Er hält diese aber, wie bereits angesprochen, für samt und sonders vorgescho-
5 Also Eingriffe zur Verhinderung von Selbstschädigung in Fällen, in denen der Handelnde als voll entscheidungskompetent angesehen wird. Mit einiger Berechtigung will i. Ü. Birnbacher (im Anschluss an Beauchamps) die auf Feinberg zurückgehende Unterscheidung zwischen „hartem“ und „weichem“ (bzw. „starkem“ und „schwachem“) Paternalismus aufgeben und nur ersteren als „Paternalismus“ bezeichnen (S. 13). 6 Siehe dazu Kleinig, Paternalism, Totawa (New Jersey) 1984, S. 67 f.
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ben, ebenso wie die „Konstruktion“ von „kollektive[n] Scheinrechtsgüter[n]“ (S. 231) wie etwa der Volksgesundheit zur Rechtfertigung des Rauchverbotes. Letzteren Befund belegt Schünemann allerdings nicht; auch aus diesem Grund erscheint es als zu pauschale Vermutung, dass hinter allen Verboten selbstschädigenden Verhaltens ausschließlich paternalistische Motive stünden, seien diese auch – angeblich – noch so nicht-paternalisusch verbrämt. Neben dem weitgehend anerkannten „weichen“ Paternalismus hält Schünemann indirekten „harten“ Paternalismus in zwei Fällen für verfassungsrechtlich gerechtfertigt: Bei „Überkreuzverhalten“ (z. B. Gladiatorenwettkämpfe), bei dem die aufeinander bezogenen Handlungen so gefährlich sind, dass sie in den Bereich des Straftatbestands der Tötung auf Verlangen reichen; sowie möglicherweise in Fällen, in denen der Dritte die menschliche Schwäche des Einwilligenden zu seinem eigenen Vorteil nutzt (z. B. manifestiert im Wuchertatbestand, § 291 StGB) (S. 238 f.). Seelmann fragt in seinem Beitrag danach, ob sich die in einigen Diskursen prominente Berufung auf eine Menschenwürde als Würde der Gattung Mensch (zugleich) als PaternalismusProblem darstellt. Für Seelmann kann „Gattungswürde“ auf grundsätzlich zwei verschiedene Weisen verstanden werden: Als Pflicht gegen sich selbst oder als Pflicht gegen andere. Seelmann tritt zunächst der Annahme entgegen, Würdeschutz gegen sich selbst sei erlaubt, weil der sich „würdelos“ Verhaltende, z. B. derjenige, der einer Selbstversklavung zustimmt, davor bewahrt werden müsse, sich in einen Selbstwiderspruch zu begeben (S. 243). Auch eine konkludente Einwilligung im Sinne des oben skizzierten „harten“ Paternalismus Kleinigs kommt für Seelmann als Rechtfertigung nicht in Betracht, er zeigt sich hier als „harter Antipaternalist“: Der aktuelle Wille des (als urteilsfähig vorausgesetzten) Würdeträgers gehe, wie übrigens sonst im Recht auch, dem konkludenten Willen stets vor, möge der Betroffene sich durch seine Entscheidung auch nur so sehr in Widerspruch zu seiner „personalen Integrität“ setzen (S. 244). Mit überzeugenden Argumenten verwirft Seelmann (von ihm richtigerweise explizit als nicht-paternalistisch gekennzeichnete) Ansichten, die die Gattungswürde als Würde der gesamten menschlichen Gattung verstehen, welche der einzelne durch seine Handlung nicht verletzen dürfe (S. 246 ff.). Allerdings verbleibt für Seelmann schließlich ein ganz eng umgrenzter Bereich, in dem die Berufung auf die Gattungswürde als Rechtfertigung für Interventionen gültig sein kann: Wenn durch eine Handlung die „Orientierungskompetenz“ eines Individuums auf eine Weise geschädigt würde, dass es „überhaupt nicht mehr als Rechtssubjekt und damit im Kern seiner rechtlich relevanten Würde anerkannt wird.“ (S. 250) Dies sei – möglicherweise bei der Zustimmung zur Herstellung von Chimären / Hybriden – aber „in aller Regel“ erst dann der Fall, „wenn angesichts der Art und Intensität des Eingriffs auch im herkömmlichen Sinn von einer Rechtsverletzung gesprochen werden kann.“ (S. 251) Seelmann ist sich aber selbst im Unklaren darüber, ob für diese Art der „Gefühlsschutzdelikte“ überhaupt noch Raum bleibt, denn es könnte sich herausstellen, „dass Verletzungen der Orientierungskompetenz in jedem Fall auch Rechtsverletzungen im traditionellen Sinne sind“ (S. 251 in Fn. 33). Sollten sich aber derartige Fälle formulieren lassen, käme für Seelmann das paternalistische Element nun dadurch in die Problematik, dass (im Anschluss an Hegel) der Handelnde, der Störer, immer auch Gestörter sei. Eine Intervention zum Schutze des Betroffenen diente dann – zumindest als Nebeneffekt – somit auch immer dem Wohle des Störers (wobei gefragt werden könnte, ob nicht die Fürsorge das Hauptmotiv für den Intervenierenden sein muss, damit die Intervention als paternalistisch anerkannt werden kann). Dieses „Paternalismus-nahe“ Verbot sei wohl auch gerechtfertigt, weil er die Autonomie des Störers schütze (S. 252).
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Ein Manko des Sammelbandes besteht darin, dass in den meisten Beiträgen nicht klar unterschieden wird zwischen (rein) paternalistischen Begründungsansätzen und anderen Rechtfertigungen gegen den individuellen Willen gerichteter Interventionen. So gehen von Hirsch und Neumann in ihren sehr gründlichen Beiträgen zur allgemeinen Frage der Rechtfertigung indirekten Paternalismus im Strafrecht und insbesondere der Rechtfertigung des Verbots der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) nur auf sog. rechtsmoralistische7 und eben paternalistische Begründungen ein. Dass es durchaus bedenkenswerte Gründe für die Existenz des § 216 StGB geben könnte, die weder der einen noch der anderen Kategorie zugeordnet werden können, bleibt unerörtert. Zu denken wäre etwa an Auffassungen, wie sie im selben Band von der Pfordten vorträgt: § 216 StGB als Schutz Dritter vor dem Entstehen eines Klimas, in dem gewaltsame Tötungen durch die Zulassung der Tötung auf Verlangen gleichsam gesellschaftsfähig werden (S. 198 f.; vgl. auch S. 340 f.).8 Auf dieser Beschränkung scheint auch das Missverständnis zu beruhen, das letztlich zu der ausführlichen Auseinandersetzung zwischen von Hirsch / Neumann bzw. von Hirsch / Schorscher auf der einen Seite und von der Pfordten auf der anderer Seite führte, die schließlich in einer Triplik Neumanns gipfelt. Von der Pfordten (S. 197) vermutet, dass von Hirsch und Neumann den Schutz von Drittinteressen unter den Begriff des „Rechtsmoralismus“ subsumieren wollen. Diesen lassen sie bei der Analyse jedoch ausdrücklich außer Betracht (S. 74), was nach von der Pfordten der Grund für die fehlende Beschäftigung mit dem Aspekt des Drittschutzes sein könnte. Es ist allerdings zweifelhaft, ob man von Hirsch und Neumann tatsächlich so verstehen kann (vgl. S. 74) und es erscheint auch wenig plausibel, den Schutz von Drittinteressen als Bestandteil der Sphäre des Rechtsmoralismus zu begreifen. Selbst wenn die Vermutung von der Pfordtens jedoch zuträfe, hätten von Hirsch und Neumann die Auseinandersetzung mit dem Gesichtspunkt der Schädigung anderer als der einzig unumstrittenen Rechtfertigungsmöglichkeit für (auch strafrechtliche) Freiheitsbeschränkungen indes nicht auslassen dürfen. Denn sie konzentrieren die Untersuchung zwar bewusst auf paternalistische Rechtfertigungen für das Verbot der Tötung auf Verlangen; insoweit wäre die Außerachtlassung anderer (auch nicht-rechtsmoralistischer) Begründungsversuche noch nicht weiter zu kritisieren. Im Folgenden geht es den Autoren aber offenkundig um eine generelle Kritik am (Fortbestand des) § 216 StGB (S. 88 ff.), insbesondere plädieren sie vor dem Hintergrund ihrer Untersuchung für eine partielle Entkriminalisierung der Tötung auf Verlangen (S. 97 f., 107 ff.). Dieses Ergebnis hat aber nur begrenzte Überzeugungskraft, wenn die plausibleren Begründungen für die Existenz des § 216 StGB nicht einmal Erwähnung finden.9 7 Der Begriff des „legal moralism“ bezeichnet eine Klasse von Argumenten, die sich auf Belange außerhalb der (auch mittelbaren) Interessen von Individuuen beziehen; von der Pfordten hält ihn für einen „äußerst unklar[en] und problematisch[en]“ Begriff (S. 197). 8 Siehe für zahlreiche weitere nicht-paternalistische und nicht-rechtsmoralistische Rechtfertigungen des § 216 StGB etwa Schneider, § 216, Rn. 2 ff., in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Band 3, München 2003. 9 Ebenso von der Pfordten: Es sei problematisch, dass die Interessen Dritter (oder der Allgemeinheit) in der Untersuchung von Hirschs / Neumanns keine Rolle mehr spielten, denn zur Beurteilung der Legimitimät des § 216 StGB sei eine „Gesamtbewertung aller möglichen Belange bzw. Interessen und damit aller möglichen Gründe vorzunehmen“, S. 197; vgl. auch Vossenkuhl (S. 278): Es sollte eine klare begriffliche Trennung vorgenommen werden zwischen eindeutigen Rechtsverstößen mit Drittbezug auf der einen und rechtlich nicht gebotenen paternalistischen Einflüssen auf individuelle Entscheidungen und Handlungen auf der anderen Seite.
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Der zweite Kritikpunkt betrifft ebenfalls eine Frage der Inhaltsklärung: Einige Autoren weisen berechtigterweise darauf hin, dass die Möglichkeit paternalistischer Begründungen entscheidend von dem Stellenwert des Selbstbestimmungsrechts abhängt. Die Aufgabe, diesen näher zu bestimmen, unternimmt allerdings keiner der Beiträge. Paternalismus kann jedoch immer nur mit und gegen das Selbstbestimmungsrecht gedacht werden. Der Sammelband konzentriert sich jedoch zu sehr auf die Frage der Bedingungen der Möglichkeiten für eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts und vernachlässigt darüber das eigentliche Objekt der Beschränkung, von dem die Frage aber naturgemäß ausgehen muss. Insgesamt leistet der Band jedoch eine wertvolle Einführung in die angloamerikanische Debatte über die Begründbarkeit von Strafrechtsnormen – die sich, anders als die herrschende deutsche Rechtsgutslehre, in erster Linie an dem „harm principle“ orientiert und auf diese Weise in Einzelfällen zu anderen Ergebnissen gelangt –, die in der deutschen (Straf-)Rechtswissenschaft bisher noch keine verbreitete Rezeption erfahren hat. Außerdem enthält der Band einige klarsichtige Beiträge zu einzelnen hochaktuellen medizinrechtlichen Themen und bezieht dabei – mit einigen Ausnahmen – klar Stellung gegen paternalistische (und erst recht „rechtsmoralistische“) Versuche, dem Einzelnen sein frei gewähltes Handeln zu verbieten. Schließlich arbeiten einige Beiträge (Birnbacher, S. 21 ff.; von Hirsch, S. 61 ff.; Peršak, S. 175 ff.; Schünemann, S. 232 ff.) überzeugend heraus, dass es z. T. gewichtige Unterschiede zu beachten gilt bei der möglichen Begründung ethischer und allgemeinrechtlicher paternalistischer Interventionen einerseits und dem Paternalismus im Strafrecht andererseits – es zeigt sich, dass letzterer unter anderem wegen der z. T. empfindlichen Einbußen bei dem Bestraften und des mit der Strafe verbundenen moralischen Tadels besonders begründungsbedürftig wäre. Nicht nur insoweit wird der Sammelband seinem eigenen Anspruch voll gerecht. Stefan Seiterle
Autoren- und Herausgeberverzeichnis / Index of Contributors and Editors Aichele, Alexander, PD Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, Schleiermacherstraße 1, D-06114 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Brownsword, Roger, Professor of Law and Director of TELOS, Honorary Professor in Law at the University of Sheffield, King’s College London, Strand, London WC2R 2 LS, UK-London E-Mail: [email protected] Byrd, B. Sharon, Prof. Dr., Law & Language Center, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Carl-Zeiss-Straße 3, D-07743 Jena E-Mail: [email protected] Dietrich, Frank, PD Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie / Abteilung Philosophie, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld E-Mail: [email protected] Dörfler-Dierken, Angelika, Prof. Dr., Achtern Diek 16, D-22927 Großhansdorf E-Mail: [email protected] Ekardt, Felix, Prof. Dr., LL.M., M.A., Universität Rostock, Juristische Fakultät und Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und Klimapolitik, Könneritzstraße 41, D-04229 Leipzig E-Mail: [email protected]; www.nachhaltigkeit-gerechtigkeit-klima.de Gasde, Sebastian, M.A., Jungstraße 31, D-10247 Berlin E-Mail: [email protected] Gethmann, Anna Johanna, Jägerweg 13, D-45525 Hattingen E-Mail: [email protected] Herb, Karlfriedrich, Prof. Dr., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg E-Mail: [email protected] Hoche, Hans-Ulrich, Prof. em. Dr., Institute of Philosophy I, Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, D-44780 Bochum; privat: Kiefernstraße 29, D-45525 Hattingen E-Mail: [email protected] Höffe, Otfried, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie, Philosophisches Seminar der Universität Tübingen, Bursagasse 1, D-72070 Tübingen E-Mail: [email protected] Hruschka, Joachim, Prof. Dr., Universität Erlangen, Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Schillerstraße 1, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected]
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis / Index of Contributors and Editors
Hübner, Dietmar, Prof. Dr., Leibniz Universität Hannover, Lehrstuhl für Praktische Philosophie, insbesondere Ethik der Wissenschaften, Institut für Philosophie, Im Moore 21, D-30167 Hannover E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Kaufmann, Matthias, Prof. Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Schleiermacherstraße 1, D-06114 Halle (Saale) E-mail: [email protected] Kirste, Stephan, Prof. Dr., Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität, Fakultät für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaft, Professur für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie, Pollack Mihály tér 3, H-1088 Budapest; Institut für Staatsrecht, Verfassungslehre und Rechtsphilosophie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Friedrich-EbertAnlage 6 – 10, D-69117 Heidelberg E-mail: [email protected] Körtner, Ulrich, Prof. Dr. Dr. h.c., Vorstand des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, A-1010 Wien; Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, Spitalgasse 2 – 4, A-1090 Wien E-Mail: [email protected] Lohmann, Georg, Prof. Dr., Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Institut für Philosophie, Postfach 4120, D-39016 Magdeburg E-Mail: Georg [email protected] Michel, Karin, Dr., Arrenberger Straße 45 a, D-42117 Wuppertal E-Mail: [email protected] Miller, Seumas, Prof. Dr., Centre for Applied Philosophy and Public Ethics at Charles Sturt University and the Australian National University, and the Centre for Ethics and Technology at Delft University of Technology. CAPPE LPO Box 8260 ANU, Canberra ACT 2601, Australia. E-Mail: [email protected] Mönter, Christian, Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte, Platz der Göttinger Sieben 3, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Morgenstern, Kathrin, M.A., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg E-Mail: [email protected] Neuhäuser, Christian, Dr., M.A., Ruhr-Universität Bochum, Institut für Philosophie, Universitätsstraße 150, D-44780 Bochum E-Mail: [email protected]
Autoren- und Herausgeberverzeichnis / Index of Contributors and Editors
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Nida-Rümelin, Julian, Prof. Dr., Staatsminister a.D., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Philosophie IV, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München E-Mail: [email protected] Özmen, Elif, Prof. Dr., Universität Hamburg, Vertretungsprofessur für Praktische Philosophie, Von-Melle-Park 6, D-20146 Hamburg E-Mail: [email protected] Reese-Schäfer, Walter, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte, Platz der Göttinger Sieben 3, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Renzikowski, Joachim, Prof. Dr., Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie / Rechtstheorie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsplatz 6, D-06099 Halle (Saale) E-mail: [email protected] Schaber, Peter, Prof. Dr., Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik, Ethik-Zentrum der Universität Zürich, Zollikerstrasse 117, CH-8008 Zürich E-Mail: [email protected] Scherl, Magdalena, M.A., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg E-Mail: [email protected] Schönwälder-Kuntze, Tatjana, PD Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Ludwigstraße 31, D-80539 München und Heisenberg-Stipendiatin am Institut für Sozialforschung, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Senckenberganlage 26, D-60325 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Wittwer, Héctor, PD Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin E-Mail: [email protected]
Personenverzeichnis / Index of Names Achenbach, Gerd B. 454 al-Alfarabi, Abu Nasr Muhammad 503 ff. al-Gaddafi, Muammar 309 ff. al-Ghazali, Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad 503 Alexander II. 310 Alexy, Robert 154 ff., 202 Antiphon 255 Arendt, Hannah 156, 275 ff. Aristoteles 12, 15, 20, 270, 325, 368, 378 Arrow, Kenneth 8 Assange, Julian 227 f. Augustinus von Hippo 22 f., 138, 333 Austin, John L. 249, 372 Bader, Mathis 505 ff. Barth, Karl 23 ff. Bauschke, Martin 482 Beckermann, Ansgar 402 f. Bedford-Strohm, Heinrich 29 Beitz, Charles 9, 164 Benhabib, Seyla 7, 18 Bentham, Jeremy 8 Beyleveld, Deryck 434 f. Beyme, Klaus von 75 bin Laden, Osama 309 ff. Birnbacher, Dieter 515, 519 Bloch, Ernst 25 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 30, 61, 149 f., 154 ff. Borgia, Cesare 310 Brecht, Bertolt 10, 489 Brock, Gillian 163, 167, 170 Buchstein, Hubertus 74 Bude, Heinz 72 f. Bultmann, Rudolf 25 Burkhardt, Björn 405 ff. Bush, George W. 311 Butler, Judith 392 Campagna, Norbert 503 ff. Cicero, Marcus Tullius 20, 99, 101, 250
Cohen, Gerald 38 Cohen, Hermann 252 Constant, Benjamin 276, 280 David, Steven 311, 318 f. de Molina, Luis 334, 340, 345 Derrida, Jacques 392 Dietrich, Frank 512 ff. du Bois-Pedain, Antje 515 Dudda, Friedrich 479 Dunlap, Charles 311 Durkheim, David Émile 90, 93 Eisler, Rudolf 371, 378 f., 381 Eliade, Mircea 94 Enck, Paul 447 Ernst, Etzard 447 Escobar, Pablo 314 f. Eusebius von Caesarea 23 Falaturi, Abdoldjavad 471 Feinberg, Joel 202 Feyerabend, Paul 457, 463 Fichte, Johann Gottlieb 264 ff., 368, 371, 375 ff. Ford, Gerald 311 Forst, Rainer 7 Foucault, Michel 76, 396, 370, 382, 384, 389, 392 Freud, Sigmund 46, 93, 392 Frey, Christofer 32 Gaddafi siehe al-Gaddafi Gandhi, Mahatma 315, 320 Gates, Robert 309 Gennep, Arnold van 92 f. Gessa-Kurotschka, Vanna 4, 15, 17 f. Ghazali siehe al-Ghazali Goldachre, Ben 447 Gordijn, Bert 435 Gosepath, Stefan 153 Griffin, James 166, 170, 438 f.
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Personenverzeichnis / Index of Names
Günther, Klaus 148 Guttenberg, Karl Theodor zu 86, 491 ff. Habermas, Jürgen 6 f., 38 f., 59 f., 124 f., 147 ff., 202 Hahn, Eckhart Georg 447 Hanoud, Mahmoud Abu 315 Harris, John 434 Hart, Herbert Lionel Adolphus 179, 182 ff. Hauámann, Leander 98 Hauerwas, Stanley 26 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 75, 79, 251, 368, 371, 375 ff., 392 Henman, Granz 98 Hildebrandt, Mireille 436 f. Hirsch, Andreas von 515, 518, 519 Hitler, Adolf 23, 312 Hobbes, Thomas 4, 15, 62, 266, 350, 377, 393 Höffe, Otfried 29, 202 Hörnle, Tatjana 515 Hohfeld, Wesley Newcomb 202 Hollerbach, Alexander 241 Honecker, Martin 25 Honneth, Axel 38 Huber, Wolfgang 21 f., 28 Hume, David 13, 187, Hunter, Ian 333 Husak, Douglas 515 Jaans, Pierre 479, 496 f. Jähnke, Burkhard 413 Jonas, Hans 78, 367, 369, 383 Kallikles 255 Kant, Immanuel 3 ff., 7 f., 13 ff., 19, 55, 75, 78 f., 101, 152 f., 161, 204, 224, 227 ff., 238, 255, 352, 336, 342, 354 ff., 368 ff., 473, 475 f., 480, 492, 512 Keil, Geert 413 Kennedy, John Fitzgerald 310, 315, 320 Kiene, Helmut 442, 445 Kienle, Gunver Sophia 445 Kirst, Hans Hellmut 98 Kleinig, John 515, 516, 517 Klosko, George 190 ff. Koch, Roland 70
Latour, Bruno 450 Leibniz, Gottfried Wilhelm 343 f. Lenk, Hans 78 Levinas, Emmanuel 392 Levi-Strauss, Claude 450, 455 Liessmann, Konrad Paul 79 Linde, Klaus 442 Locke, John 10, 14, 151, 186 f., 350 ff. Luhmann, Niklas 65 f., 73 Luther, Martin 23 f. Mabhouh, Mahmoud al- 315 Machiavelli, Niccolò 3 f., 229, 310 MacKay, Donald MacCrimmon 420 Malinowski, Bronisław Kasper 90, 93 Mann, Heinrich 98 Martinsen, Renate 72 Marx, Karl 11, 13, 37, 42, 392 Maturana, Humberto Romesín 456 Merkel, Angela 493 Merkel, Grischa 415 Merkel, Reinhard 414 Metz, Johann Baptist 24, 27 Metzger, Dagmar 69 Mill, John Stuart 6, 204 Miller, David 163, 168 Mohr, Georg 414, 420 Moltmann, Jürgen 24 ff. Mustafa, Abu Ali 315 Neumann, Ulfried 515, 518 Nida-Rümelin, Julian 20, 230 f. Nietzsche, Friedrich 392 Nino, Carlos Santiago 7 Nozick, Robert 179, 184, 188 ff. Nussbaum, Martha 4 f., 8, 11 ff. Obama, Barack 311 O’Neill, Onora 202 Ossietzky, Carl von 235 ff. Otto, Rudolf 94 Peršak, Nina 515, 519 Peterson, Erik 22 ff. Pfordten, Dietmar von der 515, 518 Platner, Ernst 381 Platon 179, 280, 378, 495 Plotin 503
Personenverzeichnis / Index of Names Pogge, Thomas 9, 11 Pufendorf, Samuel 325 ff. Radcliffe-Brown, Alfred 93 Rawls, John 4 ff., 13 f., 16 f., 37 f., 51 ff., 151, 157, 179, 184 f., 188, 190, 194, 196 Raz, Joseph 164 Reiner, Hans 481 f. Robben, Arjen 344 Roth, Gerhard 397, 414, 420 Rousseau, Jean-Jacques 15, 151, 275 ff. Roxin, Claus 404 ff. Safranski, Rüdiger 459 Sandel, Michael 434 Sartre, Jean-Paul 392 Schiller, Friedrich 489, 492 Schlingensief, Christoph 457 Schmitt, Carl 22 ff., 32 f., 65 Schnepf, Robert 18 Schopenhauer, Arthur 371, 378, 381 ff. Schroth, Ulrich 515, 516 Schünemann, Bernd 515, 516 f. Seelmann, Kurt 515, 517 Sen, Amartya 4 f., 7 ff., 15 ff. Simester, Andrew 515 Simmel, Georg 382 Simmons, A. John 181, 194, 196 Singer, Peter 14 f., 358, 360 Singer, Wolf 418 Sinner, Rudolf von 27 f. Sloterdijk, Peter 74 Smith, Adam 8 f. Sölle, Dorothee 24 f., 27 Stalin, Josef 312 f.
Stauffenberg, Claus von 312 Stein, Yael 315, 318 f. Styron, William Clark 220 Tanner, Klaus 21 Teubner, Gunther 74 Thomas von Aquin 4 Thomson, Garrett 165 Tillich, Paul 90 Tucholsky, Kurt 70 Turner, Victor Witter 93 Uexküll, Thure von 460 Ulpian 255 Vögele, Wolfgang 28 Vossenkuhl, Wilhelm 515, 518 Walach, Harald 446 Waldron, Jeremy 174 Walzer, Michael 313 Warnock, Mary 431 f. Weber, Max 19, 368 f., 383 Wellmer, Albrecht 159 Went, Floriaan 515 Wiggins, David 173 Williams, Bernard Arthur Owen 221 f. Winnacker, Ernst-Ludwig 78 Wittgenstein, Ludwig 472, 504 Wohlers, Wolfgang 515 Wolff, Christian 378 Yamanaka, Keiichi 515 Ypsilanti, Andrea 69 f.
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Sachverzeichnis / Index of Subjects Abwägungsregeln 124 ff., 131 ff., 202 ff., 224 Abwehrrechte 38, 62, 121 ff., 145, 151 f., 155, 161, 202 ff., 212 ff., 219, 221, 507 f. Advokatorische Assistenz 361, 363 Agnostizismus 404 f. Akupunktur 441, 453 Akzeptanz 194 ff. Analyse, glaubens- und wollenslogische 476 f., 481 Analyse des Könnens, konditionale 402 ff. Anarchie 188 f., 192 f. Angewandte Ethik 19 f., 35, 36 ff. Anspruchsrechte 62, 202 ff., 206 f., 209, 212 ff. Arbeitsausbeutung 261 f., 269, 271 Arbeitsbedingungen, angemessene 621 f., 268 f., 271 Aristotelischer Sozialdemokratismus 11 ff. Assassination 309 ff. Assistenz, advokatorische 361, 363 Aufforderung 325 f. Aufklärung 21, 24, 60, 67, 73, 75, 89, 265, 325, 342, 349, 386 ff., 503 f. Autonomie 17, 24, 31, 55, 101, 112, 120, 130, 134, 138 ff., 147, 152, 170, 252, 347 ff., 355, 357, 359 ff., 365 f., 444, 461, 481 f., 505, 512 Autorität, normative 164, 170 ff. Banjul-Charta 263 Barmer Theologische Erklärung 23 f. Basic ethical matrix 433 ff. Beamtenstatusgesetz 235 Befähigungs-Ansatz 4 Befreiung, Theologie der 25, 27 Begriff / logische Entität 328 f., 343, 345 Behinderte 13 ff., Beobachter, unparteiischer 9 f., 18 Bereichsethik 20 f. Betroffenheitstiefe 201 ff.
Bioethical triangle 434, 435 f. Bioethik 72, 75 f, 78 f. Bourgeois 293 Bundeswehr 85 ff., 91, 97 ff., 102 f. Bürgergesellschaft 19, 304 Bürgerrechte 28, 56, 146, 159 f. Capability approach 4 Civil religion (Zivilreligion) 25, 30 Deliberative Demokratie 7, 10, 44, 150, 154 ff. Demenz 348, 353, 358, 363 Demokratie 3 ff., 21, 26 f., 29 f., 42 ff., 49, 51 ff., 70, 74 f., 80, 110, 123 ff., 137, 141, 145 ff., 231, 275, 299 ff., 491, 504, 507, 512 Demokratie, deliberative 7, 10, 44, 150, 154 ff. Demokratie, direkte 43, 151, 275, 305 Demokratie, repräsentative 304 Demokratiebewegungen, lokale 299 ff. Deontologie 224, 252 Determinismus 343, 391, 397 ff., 408 ff., 421 f. Differenz, republikanische 275 ff., 282 Dignitarian alliance 434 Ding / reale Entität 328 ff., 338, 344 f. Diskursethik 138, 141 Doppelwirkung, Lehre von der 207 f. Eigenschaften, moralisch relevante 482 f. Eingriffsfreiheit 203 f., 207 ff., 217 ff. Einzelurteil (singuläres Urteil) 325 Entia moralia 326 ff., 333, 338, 343 ff. Entität, logische (Begriff) 328 f., 343, 345 Entität, reale (Ding) 328 ff., 338, 344 f. Entscheidungen, stellvertretende 348, 366 Epistemische Indeterminiertheit 420 f. Ethical frame 430, 433 ff., 438 Ethik, angewandte 19 f., 35, 36 ff.
Sachverzeichnis / Index of Subjects Ethik, politische 19 ff., 35 ff., 70, 76, 107, 201 Ethik, topische 21 European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) 429 f. Evidenz, emotionale / moralische 481 f., 487 Fairnessprinzip 179, 182 ff., 186 f., 190, 196 Faktum des Pluralismus 53 f. Forschungsethik 446 Fraktionszwang 69 f. Freie Ursache / moralische Ursache 335, 337 ff., 355 Freiheit 6, 10, 16, 30, 43, 46, 48, 51 Freiheit, Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver 398, 405, 407 Freiheit der Feder 230 Freiheitsrechte 29, 38 f., 41 Gattungswürde 515, 517 Gefangenendilemma 216 Geheimnis, illegales 235 ff. Gehorsamspflicht 179 ff., 186 f., 192 f. Geisteswissenschaft 245 f., 457, 462 Gemeinschaft 249, 256 Gerechtigkeit 4 ff., 37 f., 49 ff., 100, 107, 124, 129, 137, 139 f., 151, 158, 244, 249 ff., 264 ff., 302, 321, 471, 477, 496, 506 ff. Geschlechterdifferenz 282, 290 Gesellschaft 288, 291 ff. Gesellschaftsvertrag 6 f., 265, 276 f., 281 Gesetz / Norm 332 f., 339 f., 344 f. Gewaltenteilung 113, 123 ff., 150, 155, 245 Gewissen 65 ff., 332 f. Gleichstellung von Mann und Frau 59 Globalisierung 6, 9, 19, 41, 159, 299, 301, 471 Glück 504 Goldene Regel, singuläre 473 ff. Goldene Regel, universalisierte 471 ff., 473 ff., 478 ff. Goldstandard 442 f. Grundbedürfnisse163 ff. Grundgesetz 42 ff., 69, 87, 100, 102 f., 116 f., 120, 124, 237 f. Grundgüter 5, 7, 43, 172 Grundlagenwissenschaft 247 Grundrechte 111 ff. Gutes Leben 7, 166 ff., 171 ff.
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Handlungsfreiheit 120, 151, 202 ff., 207, 209 f., 217 ff., 222, 224 Handlungsregeln 329 HSE frame 431 ff., 435 f., 438 f. Human dignity 429 ff. Human dignity as constraint 435 Human dignity as empowerment 434 Humanismus, kritischer 36, 48 f. Imperativ, kategorischer 17, 101, 107, 204, 229, 356 f., 473 ff. Impositio / Beilegung 328 ff., 333 Imputatio / Zurechnung 32 f., 330, 335 ff., 343 ff., 377 ff. Indeterminiertheit, epistemische 420 f. Indeterminismus 334, 400 f., 404 f., 407, 409 f., 412 f., 418, 421 Indifferenz 334 f., 339 f. In-dubio-pro-reo-Grundsatz 414 Inkompatibilismus 400 f., 408 Innere Führung 87, 98, 102 Institutionen 4 f., 7 f., 11, 18 f., 22, 29, 31, 41 ff., 94, 148, 153, 158, 233, 302 f., 454, 457 f., 463, 477 Institutionen, politische 19, 41 f., 49, 148 Instrumentalisierung 35, 79, 204, 209 f. Intellektualismus 333 Internet 227 ff. Intimität 275 ff. Kanonenbootdiplomatie 231 Kapitalismus 43 Kategorischer Imperativ 17, 101, 107, 204, 229, 356 f., 473 ff. Kausalität 326, 329, 342, 345, 353, 381, 510 Klimaschutz / Klimawandel 107 ff. Klubmodell 511 Komapatienten 358 Kommunitarismus 26, 28, 52, 275, 300 Kompatibilismus 398, 40 f., 408, 419 Konditionale Analyse des Könnens 402 ff. Königsherrschaft Christi 24 Konsens, übergreifender 53, 56, 60 Kontraktualismus 13, 62, 276 Kooperationsgemeinschaft 185 ff., 195 f. Korruption 234, 302 Kriegsdienstverweigerung 66, 69, 71 Krisensteuerung 299, 305 f.
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Sachverzeichnis / Index of Subjects
Kritische Theorie 35 ff. Kritischer Humanismus 36, 48 f. Kulisseneffekt 454 Kultur, politische 26, 53, 55, 58 f. Landesverrat 235 ff. Lebenswertindifferenz 508 ff. Legitimation 21, 24, 42 f., 49, 62, 147, 158, 252, 303 f., 364 f., 414, 507, 512 f. Lehre von der Doppelwirkung 207 f. Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit 398, 405, 407 Liberale Demokratie 43, 54, 60, 75 Liberalismus 4, 6, 13, 36 ff., 41 f., 52 f., 56 ff., 275 Libertarismus 398, 401, 404, 407, 408 ff., 412, 415 Licht der Öffentlichkeit 231, 233, 275, 280 f., 284, 288, 291, 294 Liebe 16 f., 168, 280, 283 f., 286 f., 289 f., 293 Literatur, fiktionale 489 Lokale Demokratiebewegungen 299 ff. Macht 303, 305 Männlichkeit 277, 280 f., 285 Marktwirtschaft, soziale 41 f., 264 Marxismus 25, 36 f., 42, 45, 47 Meinungs- und Pressefreiheit 230, 237 f. Menschenrechte 5, 15 ff, 28, 38, 56, 59, 61 f., 100, 107 ff., 145 ff., 163 ff., 234, 250, 252, 263, 353, 357, 364 f., 439, 494, 513 Menschenwürde 16, 32, 38, 48, 85 ff., 107, 111 f., 116, 120, 134, 138 f., 147, 154 ff., 249, 263, 349, 505, 508, 515, 517 Metaphysik 325 ff. Methodenlehre 243 ff. Mindestlohn 261, 263 f., 368 ff. Mobbing 234, 301 Modus vivendi 53 Moral 325 ff. Moral community 436 ff. Moral(erziehung), kulturübergreifende 471 ff., 493 f. Moralität, moralisches Urteil 330, 332, 336 f. Muslimische Philosophie 503, 505 Nachhaltigkeit 107 ff., 112, 124, 127 Nanomedicine 429 ff., 435
Nanotechnologies 429 ff. Nathan-David-Verfahren 478 ff., 489 ff. NATO forces 309 f., 312, 319 Naturrecht 67, 150, 241 f., 248, 250 f., 254 f., 332, 352, 358, 364 Neuplatonismus 503 Normativität 51 ff., 264 Offenbarung 238, 503 Öffentliche Theologie (public theology) 27 ff. Öffentlicher Vernunftgebrauch 55 f., 58, 61 f. Öffentlichkeit 275 ff. Oikos 277 f., 285 Opportunitätskosten 193 f. Organhandel 516 Organallokation 507 ff., 511 Ossietzky-Paragraph 235 ff. Paternalismus 514 ff. Partizipationsrechte 202 Personalität 347 ff. Philosophie, muslimische 503, 505 Placebo 441 ff., 446 f., 449 ff. Placeboeffekt 441 f., 445, 447 ff., 452 f., 455 f., 459, 462 Placeboforschung 441, 449, 459 Placebokonzept 463 Pluralismus 29 f., 32, 45, 47, 51, 53 f., 56, 61, 74 Pluralismus, Faktum des 53 f. Pluralität 10, 278 f., 285 ff., 388, 439 Politische Ethik 19 ff., 35 ff., 70, 76, 107, 201 Politische Kultur 26, 53, 55, 58 f. Politische Rechte 147 Politische Subjekte 41, 44 Politische Theologie 22 ff., 27, 32 Positives Recht 155, 241 ff., 253 Pressefreiheit 230, 238, 302 Princip der Publicität 227 ff., 233 f., 238 Privateigentum 288 f. Privatheit 275 ff., 280 ff., 289 ff. Psychoanalyse 45 ff., 382, 462 Publicität, Princip der 227 ff., 233 f., 238 Rational Choice 8 RCT (randomisierte Kontrolle klinischer Studien) 442, 444 f. Recht, positives 155, 241 ff., 253
Sachverzeichnis / Index of Subjects Rechte, politische 147 Rechte, spezielle 183, 186 Rechtsdogmatik 243, 245, 247 Rechtsethik 107, 241 ff., 251 ff. Rechtsmoralismus 518 Rechtsphilosophie 16, 107, 241 ff., 247 f., 251, 254, 256, 264 Rechtsstaat 31, 153, 155, 231, 256 Rechtstheorie 244, 247, 248 ff., 254, 256 Rechtstypen 202 ff., 215, 218, 224 Rechtswissenschaft 243, 244 ff., 251 f., 254, 397 ff., 406, 408, 413, 505 Rechtswissenschaft, Theorie der 243 ff., 247, 251, 254, Reflexivität des Rechts 249 f., 253 f. Reform 39 ff., 46, 48 f., 275, 397 f. Regulatory frames (HSE and ethical) 430 ff. Religion 22, 25, 30 f., 54, 61, 89 f., 92, 97, 149, 473, 489, 494, 503 f., 514 Religionsfreiheit 171, 505 Repräsentation 43, 275, 283, 331, 450 Republik 4, 70, 150, 161, 193, 231, 235, 276, 278, 280 ff., 289 ff., 293, 295 f. Republikanische Differenz 275 ff., 282 Republikanismus 43, 156, 275 ff., 287, 292 Revolution 39 ff., 48, 50, 145, 232, 275, 310, 495 Reziprozitätsmodell 511 Ritual 85 ff. Scheidungsrecht 513 Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance) 6 ff., 17 f. Schuldprinzip 397 ff. Selbstbestimmung 43, 129 f., 139 f., 147, 348 ff., 505, 511 ff. Selbstbestimmungsrecht 519 Selbstbindung 146, 154 f., 157, 364 Separation 93, 316, 513 Sezession 193, 512 ff. Sklaverei 59, 100, 171, 261 Soldaten, -innen 66, 85 ff., 98, 102 f., 281, 442 Sollen, moralisches 472 f. Sophie’s Choice 220 ff. Sozialdemokratismus, aristotelischer 11 ff. Soziale Marktwirtschaft 41 f., 264 Sozialreform 47
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Sozialstaat 58, 129 f., 151, 264, 267 f. Spezielle Rechte 183, 186 Spontaneität 334, 340, 387 Staatsbürgervertrag 265 f., 268 f., 272 Starke Konzeption des Guten 5, 11 f. Stellvertretende Entscheidungen 348, 366 Strafrecht 514, 519 Studienmanipulation 445 Subjekte, politische 41, 44 Subjektive Überzeugung 483 ff. Subjektive Wollensprinzipien 480, 482, 489, 496 Supererogation 219, 223, 480 Targeted killing 309 ff. Täuschung 6, 444 ff., 449, 451 f., 455 Theologie, politische 22 ff., 27, 32 Theologie der Befreiung 25, 27 Theorie, kritische 35 ff. Theorie der Rechtswissenschaft 243 ff., 247, 251, 254, Theorie und Praxis 229 Tötung auf Verlangen 515, 517, 518 Toleranz 61, 494, 496 f. Toleranzprinzip 53 f. Topische Ethik 21 Totalitarismus 276, 295 Transparenz 277, 280 ff., 290, 294 ff. Transplantationsgesetz (TPG) 506 ff. Transplantationsrecht 506 Triage 223 f. Tugendpflichten 219, 223 Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) 56 Überzeugung, subjektive 483 ff. Ultra-Posse-Grundsatz 405, 407 ff., 415, 417 f. Unparteiischer Beobachter 9 f., 18 Untergebene 87 f., 320, 341 Unterlassung 337, 379, 397, 399, 404, 406, 482, 487 Ursache, freie / moralische 335, 337 ff., 355 Utilitarismus 6, 58 Verantwortung 19, 21, 25, 71, 88, 99, 102, 183, 195, 207, 278, 281, 299 f., 304, 306, 352, 367 ff., 400, 415, 451, 454, 460 f., 512
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Sachverzeichnis / Index of Subjects
Verborgenheit 277 f., 280 ff., 284, 287 ff., 292 Verfassungsgericht 124 ff., 135 f., 154 ff., 479 Verhaltensregeln 327 Vernunft 326 ff., 339 Vernunftgebrauch, öffentlicher 55 f., 58, 61 f. Verpflichtung 339 f., 348, 353, 358, 364 Verpflichtung, moralische 471 ff., 476, 481 ff., 496 Verpflichtungsurteil, universelles 482 Verteilungsgerechtigkeit 7, 506 Vertragstheorie 10, 52, 179, 186 ff., 190, 194, 196, 265 Volk des Teufels 3, 7 Völkerrecht 512 f. Vollkommenheit 290, 504 Volonté, générale 278 f., 289, 295 Voluntarismus 333 Vorgesetzte 85, 87 f., 101 ff., Wahlgeheimnis 69 Wahrheit 51, 54 ff., 61 f., 76, 234, 236, 246, 332, 372, 411, 415 ff., 422, 457 f., 463, 478, 481, 503 f.
Weiblichkeit 277, 280 f., 285 Whistleblowing 234 f. WikiLeaks 227 ff. Wille / Willensakt 263, 265, 327, 329, 331, 334 ff., 343 ff., 351, 355, 360 f., 364, 366, 376 f., 381, 384, 386 f., 510 ff. Willensbildung 145 ff., 150 f., 154, 156, 159 Willensfreiheit 397 ff., 407 ff., 412 ff., 422 Wirkebene 442, 452 f., 456, 459 Wohlergehen (flourishing) 4 f., 11, 97, 165, 167, 169, 173 Wollensprinzipien, subjektive 480, 482, 489, 496 Zivilgesellschaft 19, 22, 29 f., 42, 49, 148, 153, 156, 201 Zivilreligion (civil religion) 25, 30 Zukunftsfähigkeit 306 Zurechnung 325 ff., 359, 377, 378 ff., 409, 414 Zuschauer, besser unterrichteter 438 Zustimmung 186 f., 194 ff. Zwei-Reiche-Lehre 23 f., 33 Zweites Vatikanisches Konzil 59, 61
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