Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands: Band 13/14 [Reprint 2020 ed.] 9783112319727, 9783112308547


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German Pages 749 [760] Year 1966

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Table of contents :
Inhalt
Aufsätze
Die Ursachen des Abfalls Danzigs vom Deutschen Orden. Unter besonderer Berücksichtigung der nationalen Frage
Absoluter Staat und Judenemanzipation in Brandenburg-Preußen
Christian Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode als Politiker (1691-1771)
Die Domänenjustiz in der Kurmark im 18. und 19. Jahrhundert
Friedrich Gedike (1754—1803). Ein Wegbereiter der preußischen Reform des Bildungswesens
Die oberste Staatsverwaltung in Preußen zur Zeit des Todes von Hardenberg
Staat und Sozialdemokratie im Bismarckreich. Die Tätigkeit der Politischen Polizei beim Polizeipräsidenten in Berlin in der Zeit des Sozialistengesetzes 1878-1890
Zur Institution des Militärbefehlshabers und Obermilitärbefehlshabers im Ersten Weltkrieg
Literaturberichte
Neue polnische Veröffentlichungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Westpreußens
„Grundriß der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung". Kritik einer Legende
Miszellen
Die brandenburgischen Stadtrechte im Mittelalter. Bemerkungen zu einer Karte im Historischen Handatlas von Brandenburg und Berlin
Der Balsamgau in den Pegauer Annalen. Ein Beitrag zu deren Kritik
Zu den Thesen Berthold Schmidts über den Ursprung der Vögte von Weida. Ein Beispiel für Auswertung einer Zeugenreihe
Philipp de Chieze
Der „Phantasus" in endgültiger Gestalt. Zur neuen Ausgabe der Werke von Arno Holz
Friedrich Hoßbach
Buchbesprechungen
A. Allgemeines
B. Einzelne Gebiete
Zeitschriftenumschau Für 1963
Liste Der Bearbeiteten Zeitschriften
A. Allgemeines
B. Einzelne Gebiete
Anhang
Bericht über die Tätigkeit der Historischen Kommission zu Berlin in den Jahren 1964—1965
Register zu den Buchbesprechungen
Recommend Papers

Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands: Band 13/14 [Reprint 2020 ed.]
 9783112319727, 9783112308547

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J A H R B U C H FÜR DIE G E S C H I C H T E M I T T E L - UND O S T D E U T S C H L A N D S B A N D 13/14

J A H R B U C H FÜR DIE GESCHICHTE MITTEL- UND OSTDEUTSCHLANDS PUBLIKATIONSORGAN DER H I S T O R I S C H E N K O M M I S S I O N ZU BERLIN

H E R A U S G E G E B E N VON

WILHELM BERGES UND HANS HERZFELD IM AUFTRAGE DES

FRIEDRICH-MEINECKE-INSTITUTS DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN B A N D 13/14

1965

WALTER DE GRUYTER & CO. • BERLIN vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

REDAKTION HENRYK

SKRZYPCZAK

Assistenz Sabine Wilke *

Manuskripte sind nach vorheriger Anfrage an die Herausgeber zu richten: 1 Berlin 45 (Lichterfelde), Tietzenweg 79 (Historische Kommission zu Berlin)

Bände 1—10 erschienen im Max Niemeyer Verlag, Tübingen

© Ardiiv-Nr. 481966/1 Copyright 1966 by Walter de Gruyter & Co. • vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp. Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: W. Büxenstein GmbH., Berlin

INHALT AUFSÄTZE Josef L e i n z , Die Ursachen des Abfalls Danzigs vom Deutschen Ofden. Unter besonderer Berücksichtigung der nationalen Frage 1 Peter B a u m g a r t , Absoluter Staat und Judenemanzipation in Brandenburg-Preußen 60 Otto Graf zu S t o 1 b e r g - W e r n i g e r o d e, Christian Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode als Politiker (1691-1771) 88 Siegfried F a u c k , Die Domänenjustiz in der Kurmark im 18. und 19. Jahrhundert . . . 110 Harald S c h o l t z , Friedrich Gedike (1754—1803). Ein Wegbereiter der preußischen Reform des Bildungswesens 128 Hans B r a n i g , Die oberste Staatsverwaltung in Preußen zur Zeit des Todes von Hardenberg 182 Werner P o l s , Staat und Sozialdemokratie im Bismarckreich. Die Tätigkeit der Politischen Polizei beim Polizeipräsidenten in Berlin in der Zeit des Sozialistengesetzes 1878-1890 200 Wilhelm D e i s t , Zur Institution des Militärbefehlshabers und Obermilitärbefehlshabers im Ersten Weltkrieg 222 LIT ER A

TURBERICHTE

Ernst B a h r , Neue polnische Veröffentlichungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Westpreußens 241 Ernst S c h r a e p l e r , Henryk S k r z y p c z a k , Siegfried B a h n e und Georg K o t o w s k i , „Grundriß der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung". Kritik einer Legende 268 MISZELLEN Hans K. S c h u l z e , Die brandenburgischen Stadtrechte im Mittelalter. Bemerkungen zu einer Karte im Historischen Handatlas von Brandenburg und Berlin 348 Johannes S c h u l t z e , Der Balsamgau in den Pegauer Annalen. Ein Beitrag zu deren Kritik 370 Rudolf G e r l a c h , Zu den Thesen Berthold Schmidts über den Ursprung der Vögte von Weida. Ein Beispiel für Auswertung einer Zeugenreihe 379 Friedrich M i e l k e , Philipp de Chieze

384

Klaus M. R a r i s c h , Der „Phantasus" in endgültiger Gestalt. Zur neuen Ausgabe der Werke von Arno Holz 393 Walter B u ß m a n n , Friedrich Hoßbach

402

VI

INHALT BUCHBESPRECHUNGEN (einschließlich Ergänzungsbibliographie)

A. Allgemeines: 1. Hilfsmittel, Fest- und Sammelschriften 2. Allgemeine und zeitlich begrenzte Darstellungen 3. SBZ und Wiedervereinigung 4. Die deutschen Ostgebiete (nach 1945) und das Vertriebenenproblem

407 430 484 498

B. Einzelne Gebiete: 1. Berlin 2. Brandenburg 3. Mecklenburg 4. Pommern 5. West- und Ostpreußen 6. Provinz Sachsen und Anhalt 7. Thüringen 8. Land Sachsen 9. Die Sorben 10. Schlesien 11. Rand- und Zwischengebiete

501 534 555 563 571 583 589 603 614 615 630

ZEITSCHRIFTENUMSCHAU mit Nachträgen für 1962 Liste der bearbeiteten Zeitschriften

-

FÜR 1963 647

A. Allgemeines: 1. Hilfsmittel. Allgemeine Ostkunde 2. Allgemeine Literatur in zeitlicher Folge 3. SBZ und Wiedervereinigung 4. Die deutschen Ostgebiete (nach 1945) und das Vertriebenenproblem

656 661 668 679

B. Einzelne Gebiete: 1. Berlin 2. Brandenburg 3. Mecklenburg und Pommern 4. West- und Ostpreußen 5. Provinz Sachsen und Anhalt 6. Thüringen 7. Land Sachsen 8. Schlesien 9. Rand- und Zwischengebiete

682 686 691 699 705 711 718 725 733

ANHANG Bericht über die Tätigkeit der Historischen Kommission zu Berlin in den Jahren 1964—1965 737 Register zu den Buchbesprechungen

743

JOSEF LEINZ

DIE URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER NATIONALEN F R A G E 1

I Der am 14. März 1440 von Städten und Landen zu Preußen begründete Bund beabsichtigte nicht den Abfall vom Deutschen Orden. 2 Nichtsdestoweniger war der Bund, in seiner Ursache und in seiner Wirkung, das Pulverfaß, das 1454 den Ordensstaat auseinandersprengte. Danzig, zwar das mächtigste, jedoch zugleich eines der gemäßigten Bundesmitglieder, trat erst recht nicht dem Bunde in der Absicht bei, sich vom Orden loszulösen. Aber es gab Mißstände im Leben der Stadt und in ihrem Verhältnis zum Orden, welche man in der Gemeinschaft des Bundes abzustellen oder wenigstens abzuschwächen hoffte, und diese entwickelten im Verlauf der Jahre eine gewisse Eigenmächtigkeit, so daß sie nicht mehr nur als Ursachen für Danzigs Eintritt in den Bund gewertet werden dürfen, sondern in ihrer Wirkung auch als Ursachen für den Abfall Danzigs vom Deutschen Orden angesehen werden müssen. Danzig hat im Jahre 1453, als vor dem Kaiser über die Rechtmäßigkeit des Bundes verhandelt wurde, seine Gründe für den Eintritt in den Bund schriftlich dargelegt. Es geschah dies in den sog. „Instruktionen Jordans", 3 von „rath, scheppen und gemeyne von borgern der stat Danczik utgesettet". 4 Sie waren für den Vertreter Danzigs beim kaiserlichen Gericht, Bürgermeister Wilhelm Jordan, bestimmt. Jordan sollte sie an die Vertreter des Bundes weitergeben, damit diese die darin aufgezeichneten Beschwerden, gemeinsam mit den Be1 Die Arbeit wurde 1960 in Münster bei Herrn Prof. Dr. M. Hellmann als Examensarbeit eingereicht. Sie berücksichtigt nicht später erschienene Literatur. 2 Acten der Ständetage Preußens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, 5 Bde., hrsg. von Max Toeppen, Leipzig 1878/86 (künftig zit.: Act. d. St.). Vgl. hierzu Einleitung und Artikel 1 des Bundesvertrages, Bd. II, Nr. 108. 3 Scriptores rerum Prussicarum, 5 Bde., hrsg. von Theodor Hirsch, Max Toeppen und Ernst Strehlke, Leipzig 1866/74 (künftig zit.: SS. rer. Pruss). Hier Bd. IV, S. 485—488. Da die „Instruktionen" nur drei Seiten umfassen und dadurch leicht zu überschauen sind, wird künftig nur bei Zitaten oder sonst wichtigen Hinweisen die Seitenzahl angegeben. 4

1

A. a. O., S. 488. Jahrbuch 13/14

J O S E F LEINZ

2

schwerden der übrigen Bundesglieder, vor dem Kaiser zur Sprache brächten. Die „Instruktionen" bezeugen von sich selbst, „dat diese artikell syn de orsaken, darumb syk de van Danzik mit den landen und Steden in de voreynunge gegeven und vorbunden haben". 5 Um diese „orsaken" in ihrer Bedeutung für Danzig zu erfassen und damit zugleich die inneren Verhältnisse im Ordensstaate an konkreten Erscheinungen sichtbar werden zu lassen, ist es notwendig, sie einzeln zu besprechen und in den Komplex der Zeitverhältnisse einzuordnen. Zunächst seien sie in Stichworten aufgezählt: 1. der Fall Letzkau, 2. Verletzung der Freiheiten und Privilegien, 3. Handel der Ordensbeamten, 4. Verhalten der Ordensbeamten gegenüber Schiffbrüchigen, 5. Pflichtverletzung und Willkür des Mündemeisters, 6. Nichterstattung einer im Jahre 1433 von Danzig dem Orden vorgestreckten Geldsumme, 7. erhöhte Abgaben in der Danziger Ordensmühle, 8. der Zoll zu Labiau, 9. der Pfundzoll. Der Fall Letzkau, ein Ereignis des Jahres 1411, ist für das Verhältnis Danzigs zum Orden von entscheidender Bedeutung geworden. Schon die Häufigkeit seiner Erwähnung in den Danziger Chroniken deutet das an. 6 Alle Danziger Chroniken, die über den Fall Letzkau berichten, beschuldigen den Orden in diesem Zusammenhang des dreifachen Mordes. Was ist geschehen? Nach der Niederlage bei Tannenberg am 15. Juli 1410 glaubte kaum jemand noch an eine Wiederaufrichtung der Ordensherrschaft. Bischöfe, Landadel und verschiedene Städte huldigten daher dem siegreichen polnischen K ö nig. Auch Danzig, nachdem es anfangs noch den Orden im Abwehrkampf unterstützt hatte, 7 huldigte schließlich am 7. August dem König. 8 Am 10. August finden wir Konrad Letzkau als Vertreter Danzigs im Lager des Königs vor Marienburg. Die Städte Thorn, Elbing, Braunsberg und Danzig haben dort an diesem Tage vom König verschiedene, sehr bedeutende Privilegien erbeten und erhalten. 9 Sie konnten sie jedoch nicht für sich in Anspruch nehmen, da Ebd. Danziger Ordenschronik, in: SS. rer. Pruss. IV, S. 374 ff.; Danziger Chronik Bunde, in: SS. rer. Pruss. IV, S. 425; Die Hanseatische Chronik, in: SS. rer. Pruss. V , S. 7 Theodor Hirsch, Handelsund Gewerbsgeschicbte Danzigs unter der Herrschaft Deutschen Ordens (künftig zit.: Handelsgeschichte), Leipzig 1858, S. 41; Act d. St. I, S. 8 Act. d. St. I, S. 154, Anm. 1. 9 Vgl. Act. d. St. I, Nr. 109; ferner Th. Hirsch, Handelsgeschichte, S. 73 f. 8 6

vom 495. des 152.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

3

der Orden durch das Eingreifen Heinrichs von Plauen die Herrschaft über Preußen schon bald zurückgewann. Danzig mußte sich bereits im Oktober dem Orden von neuem vorbehaltlos unterwerfen. 10 Letzkau und die Stadt gingen jedoch straflos aus, und die Verhältnisse beruhigten sich. Als aber im Februar 1411 der Hochmeister zum ersten Male eine allgemeine Landessteuer ausschrieb, um damit die im ersten Thorner Frieden auferlegten Kriegsschulden zu bezahlen, wurde diese Forderung zunächst von allen Städten, schließlich nur noch von Danzig allein verweigert. 11 Auch hatte es Danzig vorher abgelehnt, für die Weiterführung des Krieges Truppen zu stellen. 12 So war zwischen der Stadt und dem Orden offene Feindschaft ausgebrochen.13 Am 5. April 1411, so berichtet die „Danziger Ordenschronik", 14 sei es aber zu einem Vergleich zwischen Stadt und Komtur gekommen. Doch schon am Tage darauf, am 6. April, habe der Danziger Komtur Heinrich von Plauen, ein Bruder des derzeitigen Hochmeisters, die beiden Bürgermeister Konrad Letzkau und Arnold Hecht sowie den Ratsmann Bartel Grossen, den Schwiegersohn Letzkaus, zu sich auf das Ordensschloß gebeten und sie dort noch in der folgenden Nacht ohne Recht und Urteil grausam ermorden lassen. Die Leichen der drei Ermordeten seien erst acht Tage später, nach einer Intervention beim Hochmeister, der erregten Bürgerschaft ausgeliefert worden. Über den unmittelbaren Anlaß zu dieser Tat des Komturs teilt die Chronik nichts mit. Sie spricht nur von einer „Zwietracht", die vorhanden gewesen, aber einen Tag vor der Ermordung beigelegt worden sei. Außerdem legt die Chronik Wert darauf mitzuteilen, daß Letzkau vo: dem Kriege sich um die Stadt und den Orden große Verdienste erworben habe und daß er auch nach der Niederlage bei Tannenberg und der erneuten Unterwerfung der Stadt dem Hochmeister, durch eine gefahrvolle Reise in dessen Auftrag, seine Treue bewiesen habe. Die Erregung über das Unglück war dadurch um so größer. „Dy gemeyne der Stadt hir sere ummb mormelten, sunder nyment torste do widder streben auff die zceit." Das sind die abschließenden Worte der „Danziger Ordenschronik" über diesen Vorfall. Sie kennzeichnen die Situation deutlich. Die Niederwerfung und Einschüchterung der Stadt war vollkommen. Auf dem Ständetag zu Braunsberg am 22. April mußte Danzig um Gnade bitten und die vorher verweigerten Steu10

Th. Hirsch, SS. rer. Pruss. IV, S. 393.

11

Act. d. St. I, Nr. 118 u. 129.

SS. rer. Pruss. III, S. 326; Johannes Voigt, Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens (künftig zit.: Gesch. Pr.), 9 Bde., Königsberg 1827/39; hier Bd. VI, S. 141. 13 Ebd. 14 SS. rer. Pruss. IV, S. 374 ff. 12

l*

JOSEF LEINZ

4

ern und dazu eine Strafsumme auf sich nehmen. 15 Es folgte ein Eingriff in die Verfassung der Stadt, über den in anderem Zusammenhang Näheres gesagt werden wird. Hirsch, 16 dessen Darstellung der Ereignisse um Letzkau noch heute maßgebend ist, hat sich gegen die tendenziöse Stellungnahme Voigts, 17 der nur die Ordensquellen berücksichtigt, gewandt und nachgewiesen, daß der Bericht der „Danziger Ordenschronik" im wesentlichen der "Wahrheit entspricht. Da es hier darum geht, die Auswirkungen dieser Ereignisse auf das Verhältnis der Stadt zum Orden kennenzulernen, interessieren lediglich zwei Fragen. Sind Letzkau, Hecht und Grossen wirklich, wie unsere Chronik berichtet, ohne Recht und Urteil ermordet worden, und was hat den Komtur zu dieser Tat veranlaßt? Was die erste Frage betrifft, so gibt die authentische Quelle auf der Ordensseite, die Klageartikel des Hochmeisters wider Danzig, worin dieser das Vorgehen des Ordens gegen die Stadt zu rechtfertigen sucht, bezeichnenderweise keine Auskunft. 18 Dagegen sprechen neben unserer Chronik auch die „Instruktionen Jordans" eindeutig von Mord. 19 Da es sich in den „Instruktionen" um öffentliche, vor dem Kaiser erhobene Klagepunkte handelt, würde man sich gehütet haben, von Mord zu sprechen, wenn 1411 ein ordentliches Gerich tsverfahren stattgefunden hätte. Auch der Bund behandelte den Fall eindeutig als Verbrechen 20 und zählte 1451 Letzkau unter denen auf, die „sin gebrocht zum tode ane irfolgunge des gerichtes". 21 Es kann also nicht daran gezweifelt werden, Letzkau, Hecht und Grossen sind in der Tat keinem ordentlichen Gericht vorgeführt, sondern einfach ermordet worden. Eine solche Gewalttat mußte das Verhältnis Danzigs zum Orden aufs schwerste erschüttern. Die Wirkung dieses Verbrechens aber reichte über Danzigs Grenzen hinaus, wie die Tatsache zeigt, daß der Bund sich der Sache angenommen hat. Die Rechtsunsicherheit belastete bis zum Abfall des Bundes das Verhältnis zwischen Orden und Untertanen schwer, das beweisen die fortgesetzten Forderungen der Stände nach einem jährlichen Richttag. 22 Aus diesem Grunde erwähnen die „Instruktionen" überhaupt den Fall Letzkau. Man will dartun, daß man Ursache hatte, Gewaltschritte des Ordens zu fürch15

16 17 18 19

20 21

22

Act. d. St. I, Nr. 132; SS. rer. Pruss. III, S. 326. SS. rer. Pruss. IV, S. 384 ff. J.Voigt, Gesch. Pr. VII, S. 139 ff. SS. rer. Pruss. IV, S. 398 ff. A.a.O., S. 486 f.; ebenso die unter Anm. 6 zitierten Danziger Chroniken. SS. rer. Pruss. IV, S. 473. Act. d. St. III, Nr. 92. Act. d. St. IV, Nr. 17,56.

U R S A C H E N DES ABFALLS DANZIGS VOM D E U T S C H E N

ORDEN

5

ten und sich im Bunde davor zu schützen. Diesem Umstand trägt auch Hochmeister Konrad von Erlichshausen Rechnung, indem er 1446 bei einem Versuch, die Bundesgenossen zur Auflösung des Bundes zu bewegen, verspricht: „das nymands solle gerichtet werden, das an hals adir an handt geith, ane orteil und recht". 2 3 Und nun zu unserer zweiten Frage. D a die Quellen über den unmittelbaren Anlaß für die Tat des Komturs etwas Bestimmtes nicht mitteilen, 24 kann eine völlig stichhaltige Antwort nicht gegeben werden. Die „Instruktionen" sprechen im Zusammenhang mit dem Fall Letzkau von Kriegsleistungen der Stadt, die diese 1410 für den Orden noch nach der Niederlage von Tannenberg aufgebracht hatte. Die Stadtvertreter hätten den Komtur an die Erstattung der Kosten dafür erinnert. Dieser habe sie dabei „bosze wichte und hundesbufen" genannt und sei ihnen bis in die Karwoche (1411) „mit allem arge" nachgegangen. Dann habe er Letzkau, Hecht und Grossen zu sich gebeten und ermorden lassen. Ob aber diese Mahnung unmittelbar zu dem Mord geführt hat, wird expressis verbis nicht gesagt, und das ist auch nicht wahrscheinlich. Gegensätzlichkeiten zwischen Orden und Stadt gab es wegen der schon erwähnten Weigerung Danzigs, weitere Kriegskontingente zu stellen und die allgemeine Landessteuer zu zahlen, ohnehin. D a der Orden in seiner Notlage der Steuergelder dringend bedurfte, nimmt Hirsch 25 an, er habe eine Beeinflussung der Danziger Ratswahl zum 22. Februar 1411 2 6 versucht, um auf diesem Wege ihm ergebene Bürger in den Magistrat zu bringen und dadurch alle Fragen mit einem Schlage zu lösen. Hirsch stützt seine These mit dem Nachweis, daß ein solcher Eingriff in die Stadtverfassung schon ein J a h r vorher versucht worden ist. Und der Hochmeister hat, so muß man hinzufügen, nadi der Ermordung Letzkaus, Hechts und Grossens ja tatsächlich in die Verfassung der Stadt eingegriffen. 27 Wenn es aber den Versuch, die Wahl des Rates zu beeinflussen, gegeben hat, so hat das sicherlich die ohnehin äußerst gespannte Lage verschärft, und es läßt sich denken, daß der Komtur, wie Hirsch glaubt, sich kurzerhand entschloß, den Knoten mit roher Gewalt durchzuhauen. Dabei scheint der Komtur die Stadt einen Tag vor dem Gewaltstreich unter Beteuerung freundschaftlicher Gesinnung mit Absicht in Sicherheit ge23

Act.

24

Der in den Klageartikeln des Hochmeisters wider Danzig angegebene Grund, Danzig

d. St. II, S. 7 1 1 .

habe an den Ordensvogt in Dirschau einen Drohbrief gesandt, erscheint nicht stichhaltig; vgl. Th. Hirsch, SS. rer.

Pruss.

IV, S. 3 9 4 .

25

Th. Hirsch, SS. rer. Pruss.

28

Als W a h l t a g galt in der Regel der 22. F e b r u a r ; vgl. H a n s - G e o r g Weidemann, Die

verfassung

und

-Verwaltung

(künftig zit.: Stadtverfassung 27

SS. rer. Pruss.

I V , S. 3 9 6 f.

Danzigs Danzigs),

I I I , S. 3 2 7 .

im letzten

Drittel

der

Ordensherrschaft,

Diss. Rostock 1 9 4 0 , S. 17.

Stadt-

1400—1454

6

JOSEF LEINZ

wiegt zu haben, damit er seinen Plan um so reibungsloser durchführen konnte. 28 Es sind sicher, wie oft bemerkt worden ist, in dieser erregten Zeit auch von Danzig Fehler gemacht worden, was den Orden unnötig und über Gebühr gereizt haben mag. Aber die Tat des Mordes an sich muß doch letzten Endes allein auf das Konto des Ordens gesetzt werden. Sie hat später zu seinem Sturze beigetragen. Als Danzig 1440 dem Bund beitrat und 1454 sich vom Orden lossagte, standen Männer an seiner Spitze, die durch verwandtschaftliche Beziehungen mit den Familien der Ermordeten verbunden waren. 29 Eine weitere Ursache für die Mitgliedschaft Danzigs im Bunde ist die Verletzung und Einengung seiner Privilegien und Freiheiten. Die „Instruktionen" sprechen nur summarisch von Privilegien und Freiheiten, die vom Orden geschmälert würden. Trotzdem kann es keinen Zweifel darüber geben, was gemeint ist. Unter Verletzung von Privilegien und Freiheiten der Stadt wurden sicher auch Dinge verstanden, die in den „Instruktionen" selbst als „orsaken" einzeln aufgeführt werden, wie etwa die Pfundzollfrage und die Klage über den H a n del der Ordensbeamten, Beschwerden, die noch zu besprechen sind. In erster Linie aber dachte man hier an die seit 1410 zahlreichen Einmischungen des Ordens in die inneren Angelegenheiten der Städte. Eingriffe in die Stadtwillküren und die städtische Gerichtsbarkeit sind zwar im einzelnen nicht belegt, indes müssen sie, nach den Protesten der Städte zu schließen, dennoch häufig vorgekommen sein.30 Eingriffe in die Stadtverfassungen sind dagegen im einzelnen belegbar. Es wurde schon in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß in Danzig der Orden bereits 1410 die Zusammensetzung des Rates zu beeinflussen versucht hat. Der Danziger Komtur schreibt darüber an den Hochmeister Ulrich von Jungingen, in früheren Zeiten hätten Komtur und Hauskomtur zu Danzig das Recht gehabt, bei den Ratswahlen ihnen unliebsame Kandidaten nicht zuzulassen, „also das allewege die cohere met unsme rothe und willen dar gyng". Der Hochmeister möge sich daher einsetzen, „uff das is weder yn dy aide gewonheit qweme". 31 Übergehen wir zunächst die Behauptung, der Orden habe früher ein Mitspracherecht bei den Wahlen ausgeübt, und fragen allgemein, ob dem Orden 28

Vgl. Act. d. St. I, Nr. 129.

29

Th. Hirsch, SS. rer. Pruss. IV, S. 397.

30 Vgl. Paul Werner, Stellung und Politik der preußischen Hansestädte unter der Herrschaft des Ordens bis zu ihrem Übertritt zur Krone Polen (künftig zit.: Pr. Hansestädte), Diss. Königsberg 1915, S. 92. 31

SS. rer. Pruss. IV, S. 396, Anm. 4.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

7

ein solches Recht zustand. Werner 32 glaubt, der Orden habe ein formales Bestätigungsrecht des Rates in den Städten auf Grund der Kulmer Handfeste gehabt. Ein solches Bestätigungsrecht auf Grund der Kulmer Handfeste jedenfalls bestand aber nicht. In der Kulmer Handfeste und in der Danziger Handfeste, die 1378 erneuert wurde, gibt es hierüber keine Bestimmung. 33 Da das Kulmer Recht auf dem Magdeburger Recht beruhte, richteten die Kulmer 1398 diesbezüglich eine Anfrage an den Magdeburger Schöppenstuhl. In der Antwort heißt es: „Daß spreche wir vor recht: daß die rotmanne mögen wol rotmanne kisen . . . undir sich . . . und der burgreve hat keine macht, daß her der gekoren rotmanne möge keinen abegeseczen und einen andiren wedir geseczen von rechtis wegene."34 Der Versuch von 1410, die Wahl des Danziger Rates zu beeinflussen, war also völlig rechtswidrig. Einen ähnlichen Versuch nimmt Hirsch, wie uns schon bekannt ist, auch für den Februar 1411 an. Trotz dieser versuchten Wahlbeeinflussung glaubt er jedoch, daß die Wahlen in Danzig bis 1411 unabhängig waren. 35 Nach der Ermordung Letzkaus aber machte Hochmeister Heinrich von Plauen, es wurde bereits darauf hingewiesen, einen entscheidenden Eingriff in die Danziger Stadtverfassung. Der Hochmeister setzte dem Orden unbequeme Ratsherren ab. Ferner löste er das Direktorium der vier Bürgermeister auf, setzte einen einzigen mit einem Stellvertreter an deren Stelle und sicherte der Ordensvertretung das Mitspracherecht bei den künftigen Ratswahlen. 36 Um diese Änderungen zu erklären, muß einiges über die Institution des Rates angemerkt werden. Der Rat in Danzig bestand aus zwei Kollegien, dem sitzenden und dem gemeinen Rat. 37 Zum sitzenden Rat gehörten zwölf Mitglieder, und zwar der Bürgermeister, dessen Kumpan und zehn Ratsmannen. Der gemeine Rat bestand aus den jeweiligen und allen früheren Mitgliedern des sitzenden Rates. An seiner Spitze standen die Bürgermeister, die dem sitzenden Rat im Augenblick angehörten oder früher angehört hatten, in der Regel vier. Von den beiden Ratskollegien hatte bald das eine, bald das andere die tatsächliche Gewalt in Händen. In der Zeit von etwa 1382 bis 1411, also bis zum Eingriff des Hochmeisters, war es der gemeine Rat, der das Regiment in der Stadt ausübte. Es war damit eine größere Zahl des Patriziats an der Regierung beteiligt. Der gemeine Rat hatte in dieser Periode eine Einmischung 32

P. Werner, Pr. Hansestädte,

33

H . - G . W e i d e m a n n , Stadtverfassung

34

Zitiert bei H.-G. Weidemann, ebd.

S. 11 f. Danzigs,

S. 17 £.

35

SS. rer. Pruss.

I V , S. 305.

38

SS. rer. Pruss.

III, S. 327.

37

Vgl. über die Ratskollegien in Danzig Th. Hirsch, SS. rer. Pruss. IV, S. 303 f. und H.-G.

Weidemann, Stadtverfassung

Danzigs,

S. 18 f.

JOSEF LEINZ

8

der Ordensregierung in die inneren Angelegenheiten der Stadt, vor allem in die Wahl der Regierungskollegien, fernzuhalten gewußt. Das war die Situation, als Heinrich von Plauen 1411 die Änderung der Stadtverfassung vornahm. Die Ordensregierung entmachtete nun den gemeinen Rat zugunsten des sitzenden Rates und sicherte ihren Einfluß, „indem sie den ersten sitzenden Rat aus zwölf ihr ergebenen Männern zusammensetzte und die künftigen Wahlen aus einer Cooptation derselben hervorgehen ließ . . .". 3 8 Und überhaupt konnte das kleinere Gremium des sitzenden Rates vom Orden leichter beeinflußt werden als der gemeine Rat. Nun weist Hirsch 39 nach, daß diese vom Hochmeister im Jahre 1411 eingeführte Verfassung schon früher, etwa von 1346 bis 1382, in Danzig gültig gewesen ist. In jener Zeit also hätte dann der sitzende R a t das Stadtregiment in Händen gehabt. Audi soll nach Hirsch während dieser Periode der Orden ein Bestätigungsrecht der gewählten Ratsherren wahrscheinlich ausgeübt haben, obgleich, wie oben ausgeführt, die Handfesten ein solches Recht nicht nennen. In der Tat läßt besagter Brief des Danziger Komturs an den Hochmeister aus dem Jahre 1410 über die Ratswahlen in Danzig erkennen, daß der Orden zwar nicht in der dem Jahre 1410 unmittelbar vorausliegenden Zeit, jedoch in einer weiter zurückliegenden Periode das Recht gehabt habe, ihm nicht genehme Ratskandidaten zu streichen. Der Komtur fordert daher den Hochmeister auf, dafür zu sorgen, „das is wider yn dy aide gewonheit qweme". Lassen wir es dahingestellt, ob in früheren Zeiten ein solches Bestätigungsrecht vom Orden ausgeübt wurde oder nicht, auf Grund der Handfesten und der Entscheidung der Magdeburger Schoppen war er dazu nicht berechtigt, und für das Danzig des Jahres 1411 war das jedenfalls etwas Neues. Das gleiche gilt für die übrigen Änderungen der Stadtverfassung durch den Orden. Für Danzig bedeutete diese ganze Aktion, wenn sie auch zum Teil früher Gültiges wieder einführte, eine Beschneidung seiner Freiheiten und Rechte, die es mindestens seit 1382 besessen hatte. Eigenartigerweise berichtet die „Danziger Ordenschronik" nichts von diesen Ereignissen. Es mag damit zusammenhängen, daß der Fall Letzkau, den die Chronik ausführlich schildert, alle anderen Ereignisse überschattet hat. Was man jedoch in Danzig dennoch über solche Eingriffe in die Stadtverfassungen dachte, bringt unsere Chronik in einer Bemerkung über die Ratsentsetzung in Thorn, die ebenfalls 1411 erfolgte, zum Ausdruck: „Her [der Hochmeister] setczte den radt zcu Torn app und eynen anderen radt auf wider der stat 38

Th. Hirsch, SS. rer. Pruss. IV, S. 305.

39

Th. Hirsch, a. a. O., S. 304.

U R S A C H E N DES ABFALLS D A N Z I G S VOM D E U T S C H E N O R D E N

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freyheit." 4 0 Die 1453 zusammengestellten „Ursachen des Bundes" äußern sich dazu in gleichem Sinne. 41 D a die Städte 1414 4 2 und 1422 4 3 fordern, der Orden solle ihr Recht auf freie Stadtwahlen respektieren, müssen Eingriffe in die Wahlfreiheit der Städte auch nach 1411 vorgekommen sein. In Danzig hatte seit 1427 der gemeine Rat und damit wieder eine größere Anzahl der Aristokratie auf Grund der Ohnmacht und inneren Zerrüttung des Ordens an Einfluß im Stadtregiment gewonnen. 44 Aber wenn sich 1434 Land und Städte das Versprechen gegenseitigen Beistandes bei Bedrohung ihrer Privilegien, Freiheiten und Rechte gaben, 45 was dann später öfters wiederholt wurde, so wird zumindest die Gefährdung der Stadtwahlen weiter bestanden haben. Jedenfalls mußten sich die Städte 1435 zu wiederholten Malen gegen den Versuch des Ordens zur Wehr setzen, ihnen ihr Recht der Gesandtenwahl streitig zu machen. 46 Eine Minderung der ursprünglichen Rechte der Städte trat seit 1410 auch auf dem Gebiet des Steuerbewilligungsrechtes ein. Wir haben gesehen, daß Danzig sich 1411, „umbe des gantzen landes ere unde rechtigkeit tzu behalden", 4 7 in dieser Sache verzweifelt zur Wehr setzte. Das Zitat stammt aus einem Briefe der Danziger Ratsherren an Thorn vom 11. April 1411. In diesem Schreiben machen die Danziger den übrigen Städ:en den Vorwurf, daß sie sich, entgegen der früheren Verabredung, dem Willen des Hochmeisters gebeugt hätten. Aber auch Danzig mußte sich schließlich beugen, und das Steuerbewilligungsrecht der Städte wurde künftig bedeutungslos. 48 Auch die Handelsrechte und Handelsfreiheit der Städte wurden beschnitten. Von dem sog. „kouffslagen" (Handeltreiben) der Ordensbeamten und der Erhebung des Pfundzolles wird noch die Rede sein. Ein großer Nachteil erwuchs den Städten durch die willkürliche Handhabung der Ein- und Ausfuhrverbote. 49 Hochmeister Paul von Rusdorf bediente sich auch der Ausfuhrverbote, um durch Lizenzerteilungen Lobgeld ein40

SS. rer. Pruss. IV, S. 380.

41

Act. d. St. I, Nr. 119 A.

42

Act. d. St. I, Nr. 186,17.

43

A. ct. O., S. 383.

44

Th. Hirsch, SS. rer. Pruss. IV, S. 306.

45

Act. d. St. I, Nr. 485.

46

A. a. O., Nr. 529, S. 673; Nr. 544, Nr. 549, S. 709.

47

A. a. O., Nr. 129.

48

Vgl. P. Werner, Pr. Hansestädte,

S. 97 f. u. S. 117.

Act. d. St. I, Nr. 324; II, Nr. 65, S. 99; III, Nr. 8. Der Orden verstand es, wie die zuletzt zitierte Quelle zeigt, dabei die Rivalität der Städte und Landstände in gewerblichen Fragen auszunutzen. Vgl. dazu auch Th. Hirsch, Handelsgeschichte, S. 51 f. u. P. Werner, Pr. Hansestädte, S. 133 ff. 49

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zukassieren und um für das von den Ordensschäffern, die von den Ausfuhrverboten nicht betroffen wurden, ausgeführte Getreide höhere Preise zu erzielen.50 Ein weiterer Nachteil für die Städte im Handel entstand dadurch, daß Hochmeister Paul von Rusdorf ausländischen Kaufleuten gestattete, ihre Waren auch außerhalb der Jahrmärkte in den Städten und auf dem Lande zu verkaufen und sich als „Gäste" niederzulassen. 51 Danzig konnte dank seiner günstigen geographischen Lage trotz solcher Einengungen im allgemeinen den Umfang seines Handels aufrecht erhalten. Aber die übrigen Städte in Preußen wurden dadurch erheblich geschwächt.52 Wahrscheinlich hat die Hanse wegen der wirtschaftlichen Schwäche der preußischen Städte schon 1434 vom Hochmeister gewünscht: „he schole maken een ewich vorbund twisschen eme unde den hensesteden". 53 Die folgende Beschwerde der „Instruktionen" richtet sich gegen das „kouffslagen" der Ordensbeamten. In den „Instruktionen" heißt es, der Handel der Ordensbeamten bringe den Bewohnern Preußens großen Schaden, da er „vilen leuten ire narunge nederleit und vortirbet". 54 Das „kouffslagen" der Ordensbeamten hatte für die Landesbewohner eine so verheerende Wirkung, weil die Ordensritter dabei gewisse Vorrechte für sich beanspruchten. Besonders ungünstig wirkte sich das Vorkaufsrecht der Ordensritter aus. Die Ordensbeamten nutzten es auf den Märkten nicht nur zur Versorgung ihrer Burgen und Konvente, wie es ursprünglich gedacht war, sondern kauften darüber hinaus alle auf den Markt kommenden Produkte auf, um sie dann zu erhöhten Preisen weiterzuverkaufen. Schon vor 1410 wird über diesen Mißbrauch und überhaupt über die Vorrechte der Ordensritter im Handel geklagt. 55 Der Handel der Ordensbeamten in eigener Regie jedoch ist anscheinend erst nach 1410 üblich geworden. Der erste Beleg, den man in den „Acten der Ständetage" darüber findet, stammt aus dem Jahre 1427. Hochmeister Paul von Rusdorf hat in seinen sog. Amtsartikeln 56 von 1427 — die schon früher erlassen worden waren, aber wiederholt eingeschärft werden mußten 57 - sich genötigt gesehen, auch auf das „kouffslagen" der Ordensritter einzugehen. 50 61 52 63 54 56 56 67

Th. Hirsch, Handelsgeschichte, S. 50. A.a.O., S. 51. A. a. O , S. 53 ff. Fortsetzung Dettmars, SS. rer. Pruss. IV, S. 650. SS. rer. Pruss. IV, S. 488. Th. Hirsch, Handelsgeschichte, S. 36—40; Act. d. St. I, S. 447. Act. d. St. I, Nr. 382,22. M. Toeppen, in der Vorbemerkung zu Act. d. St. I, Nr. 382.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

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Zwar verbietet er es nicht, man möge es aber so halten, daß „das land davon nicht vorsatczt noch vorterbet werde". Berücksichtigt man, daß die Artikel jedenfalls vor dem Jahre 1427 verfaßt worden sind und ferner, daß eine geraume Zeit des „kouffslagens" vergangen gewesen sein muß, bevor man von Seiten des Ordens eingreifen zu müssen glaubte, so darf man annehmen, daß diese Unsitte schon bald nach 1410 eingesetzt hat. Die in den Amtsartikeln ausgesprochene Mahnung ist offenbar nicht allzu ernst genommen worden. Schon 1434 klagen dann die Stände über den Handel der Ordensbeamten, und der Hochmeister verspricht eine Änderung. 58 Aber die Beschwerden der Stände in diesem Punkt kehren auch in den folgenden Jahren immer wieder. 59 In den Beschwerden wird oft darauf hingewiesen, daß das „kouffslagen" der Herren früher nicht üblich gewesen sei. Man bitte daher, den Handel des Ordens, wie in früheren Zeiten, auf die beiden Großschäffer zu beschränken. Den Ordensbeamten ging es ganz einfach um persönliche Bereicherung. Kein Wunder, wenn in der Wahlkapitulation von 1450 für Ludwig von Erlichshausen die Forderung zu lesen ist, daß der neue Hochmeister nicht das Recht haben solle, den Ordensbrüdern ihr Geld und Gut mit Gewalt zu entziehen. 60 Auch die nächste Beschwerde Danzigs betrifft die Ordensbeamten. Die „Instruktionen" führen Klage darüber, daß das Strandgut im Küstenbereich des Ordens von den Ordensbeamten nicht vor Raub geschützt werde. Ja, die Ordensbeamten suchten solches Strandgut sich selbst anzueignen und weigerten sich, es den rechtmäßigen Besitzern gegen ein angemessenes Bergegeld auszuhändigen. Schon auf der Tagfahrt zu Wormditt im Dezember 1411 waren die Städte des Strandgutes wegen beim Hochmeister vorstellig geworden. Und der Hochmeister hatte dort den Städten versprochen, dafür zu sorgen, daß das Strandgut künftig gegen ein angemessenes Bergungsgeld an die Besitzer zurückgegeben werde. Ja, die Besitzer sollten fortan nicht einmal mehr das Bergungsgeld zu entrichten haben, wenn sie die Bergung selbst durchführten. 61 Auf dem Städtetag zu Danzig im Januar 1433 wurde aber von den Danzigern diese Frage erneut aufgegriffen. Sie stellten fest, „das veel gebrechen ist an dem strande". 62 Im März des gleichen Jahres übergaben dann die Städte dem Hochmeister eine von ihnen ausgearbeitete Verordnung, die im wesentlichen mit 58 59 60 61 62

Act. d. St. I, S. 626. Vgl. z.B. Act. d. St. II, S. 68, 239, 244, 346 u. 635; III, S. 139, 146 u. 172. J.Voigt, Gesch. Pr. VIII, S. 201. Act. d. St. I, Nr. 151. A. a. O., Nr. 436.

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den Bestimmungen von 1411 übereinstimmte. 63 Im Januar 1434 mußten sie den Hochmeister an die im Vorjahr übergebene Verordnung wieder erinnern, der nun die Durchführung versprach. 64 Die nächste Klage in dieser Sache wurde erst wieder im November 1449, auch diesmal von Danzig, vorgebracht, 65 aber 1541 war die Angelegenheit nodi immer nicht ins reine gekommen. 66 Wie mit den Beschwerden über den Handel der Ordensbeamten werden die Städte auch in der Strandgutangelegenheit jahrzehntelang hingehalten, ohne daß wirklich durchgreifende Maßnahmen erfolgen. Die gleiche Erscheinung wird uns noch in anderen Beschwerdepunkten entgegentreten. Ein Beispiel willkürlichen und unkorrekten Verhaltens ist auch die Klage der „Instruktionen" über den Mündemeister. Der Mündemeister war ein um 1400 vom Hochmeister zur Überwachung der Weichselmündung eingesetzter Ordensritter. Er hatte dafür zu sorgen, daß die Ausfuhrverbote eingehalten, das Lobgeld und sonstige dem Hochmeister zufließende Abgaben entrichtet wurden. Er kontrollierte in dieser Eigenschaft die ein- und auslaufenden Schiffe, was zu zahlreichen Beschwerden Anlaß gab, da er seine Befugnisse dabei zu überschreiten pflegte.67 Die Danziger beschwerten sich, soweit aus den „Acten der Ständetage" ersichtlich, zum erstenmal auf dem Städtetag zu Danzig im Januar 1433 über den Mündemeister. 68 Weitere Beschwerden folgten. 69 Was die Beschwerden im einzelnen enthielten, erfahren wir näher in den „Instruktionen". Danzig klagt hier, daß seine Bürger und „der gemeyne kouffman", auch wenn diese ihre Schiffsladungen auf dem Schloß in Danzig bereits verzollt hätten, dem Mündemeister von neuem „segelen geld . . . und goben" geben müßten, sofern sie nicht belästigt und aufgehalten werden wollten. 70 Der Mündemeister hat also eigenmächtig zusätzliche Abgaben erhoben oder, um es deutlicher zu sagen, ganz einfach Schmiergelder verlangt, welche die Schiffsleute zahlen mußten, wenn sie seinen Schikanen entgehen wollten. Die folgende Klage bezieht sich auf eine Geldschuld, die Danzig vom Orden einfordert. Im Jahre 1414 hatten die Danziger auf Geheiß des Hochmeisters eine auf dem Bischofsberg bei Danzig gelegene Kurie des Bischofs von Leslau 63 64 65

A. a. O., Nr. 442. A. a. O., S. 623. Act. d. St. III, S. 115.

66

A. a. O., S. 255 u. 278. Über den Mündemeister vgl. Th. Hirsch, Handelsgeschichte, mann, Stadtverfassung Danzigs, S. 37. 68 Act. d. St. I, Nr. 436. 89 Act. d. St. II, S. 135, 221 u. 446. 70 SS. rer. Pruss. IV, S. 488. 87

S. 50 u. 213; H.-G. Weide-

U R S A C H E N D E S ABFALLS D A N Z I G S V O M D E U T S C H E N

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ORDEN

abgebrochen, mit dem der Orden seit 1410 im Streite lag. Im Beifrieden zu Leczyca (1433) war auch ein Vergleich in dieser Sache zustande gekommen, und der Orden hatte an den Bischof für den Abbruch der Kurie 1200 Ungarische Gulden zu zahlen. Danzig, das wegen Abbruchs der Kurie mit dem Bischof einen jahrelangen Prozeß in Rom führen mußte und die Kosten dafür selbst trug, streckte dem Hodimeister darüber hinaus besagte 1200 Gulden zur Zahlung an den Bischof vor. 71 Die Rückzahlung der Summe ist 1453 noch immer nicht erfolgt, obgleich Danzig wiederholt gemahnt hat. 72 Im Orden hat man wohl geglaubt, die Rückzahlung verweigern zu können, weil die Danziger es waren, die die Kurie niedergerissen hatten; die Danziger machten dagegen geltend, daß der Hochmeister es ihnen befohlen gehabt habe. 73 Danzig mag die Kurie des Bischofs in seiner unmittelbaren Umgebung lästig gewesen sein, und es könnte daher ein eigenes Interesse an deren Abbruch gehabt haben. Es wäre in diesem Fall nicht ganz schuldlos. Indes mußte ein solch langwieriger Streit die Atmosphäre vergiften, und der Orden vornehmlich hätte als Landesherr die Pflicht gehabt, auf eine schnelle Bereinigung zu dringen. Statt dessen finden wir hier die gleiche unverantwortliche Lethargie, mit der die Beschwerden der Städte und des Landes seit 1410 von der Ordensregierung behandelt wurden. Um in der Besprechung der Ursachen Danzigs für seinen Beitritt zum Bund fortfahren zu können, müssen ein paar kurze Bemerkungen über das Mühlenregal im Ordensstaate vorausgeschickt werden. Wie im Deutschen Reich, wo das Mühlenrecht, das vorher grundsätzlich jedem zustand, seit dem 12. Jahrhundert ein Regal des Königs bzw. des Landesherrn geworden war, 74 ist auch im ganzen Deutschordensgebiet das Mühlenrecht von Anfang an als Regal des Landesherrn angesehen worden. 75 Der Deutsche Orden hat das Mühlenregal, vor allem in den Städten, meist selbst wahrgenommen und es nur in wenigen Fällen an andere übertragen. 76 Auch in Danzig hat der Orden das Mühlenrecht selbst ausgeübt. Da es sich hierbei um ein Monopol handelte, bedeutete das eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Macht. 71 Vgl. außer den „Instruktionen" Paul Simson, Danzig im dreizehnjährigen Kriege 1454 bis 1466 (künftig zit.: Danzig im 13jährigen Kriege), in: Zs. d. Westpr. Gesch.-Ver. 29 (1891), S. 6. 72

Act.

73

Vgl. außer den „Instruktionen" Act.

d. St. II, N r . 151 u. 216; III, N r . 68, N r . 29 u. S. 178. d. St. I, S. 709 f.

74

Guido Kisch, Das Mühlenregal im Deutschordensgebiete Z R G Germ. Abt. 48 (1928), S. 177 f. 75 76

(künftig zit.: Mühlenregal),

in:

G. Kisch, a. a. O., S. 180 u. 188.

G. Kisch, a.a.O., burg 2 1957, S. 104 f.

S. 190; Bruno Schumacher, Geschichte

Ost-

und Westpreußens,

Würz-

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JOSEF L E I N Z

Klagen über den Mahlpfennig sind daher auf den Städte- und Ständetagen sehr häufig.77 Die erste belegte Beschwerde reicht in das Jahr 1394 zurück, der die nächste im Mai 1408 folgt. 78 Danzig bringt in den „Instruktionen" nicht etwa ebenfalls diese allgemeine Klage zur Sprache, sondern hat eine Beschwerde eigener Art; es führt Beschwerde über eine „dubbelde metcze". 79 Wer Getreide oder Malz mahlen ließ, hatte der Mühle einen bestimmten Anteil des Mahlgutes zu entrichten. 80 Die Höhe dieser Abgabe konnte variieren. Sie wurde aber gewöhnlich in Metzen ausgedrückt, die je Scheffel Mahlgutes erhoben wurden, so daß die Abgabe selbst dann auch Metze hieß. 81 Danzig nun hat wegen der Metze, wie in den „Instruktionen" dargelegt wird, folgendes vorzubringen. Unter Hochmeister Winrich von Kniprode (1351-1382) sei die Mühle in Danzig abgebrannt. Um sie wieder möglichst schnell aufbauen zu können, habe der Hochmeister den Rat und die Gemeine der Stadt durch den Danziger Komtur gebeten, der Herrschaft zu „ghunen die dubbelde metcze von dem malcze von der malunge wegen zcu nemende eyn jar lang". 82 Es sollte also die Abgabe in der Mühle für das Mahlen von Malz für ein Jahr lang verdoppelt werden. Die Danziger haben dem Wunsche des Hochmeisters entsprochen, aber im Jahre 1453 ist die „dubbelde metcze", die nur für ein Jahr gelten sollte, noch immer nicht abgeschafft, obgleich, wie die „Instruktionen" betonen, von Hochmeister zu Hochmeister an diesen Mißstand erinnert wurde. Danzig hat dagegen in der Tat sehr oft protestiert und darauf hingewiesen, daß die „dubbelde metcze" im ganzen Lande sonst nirgends üblich sei.83 Diese erhöhten Abgaben betrafen zwar in der Hauptsache die Bierbrauer der Stadt. Die Bierbrauerzunft war jedoch eine der mächtigsten unter den Danziger Zünften und hatte zahlreiche Mitglieder. 84 Die Verschleppung dieser Beschwerde muß sich natürlich sehr nachteilig ausgewirkt haben. Die Danziger haben auch die zweifelhaften Methoden, deren der Orden sich dabei bediente, in den „Instruktionen" der Mitteilung für wert befunden. Als der Rat zuerst die Abschaffung der „dubbelden metcze" verlangte, entfernte man Komtur 77

Vgl. z . B . Act. d. St. I, S. 114, 159, 240 u. 586; II, S. 133, 217, 243, 517 u. 630.

78

Act. d. St. I, S. 116 u. 111. D i e Metze umfaßte in Preußen

79

1

/ i e Scheffel (Act.

d. St. II, S. 239: „ . . . eyne metcze

ader den sechtzenden scheffel"). 80 81 82 83

Act. d. St. I, S. 54. Diese Doppelbedeutung wird deutlich in: Act. d. St. II, N r . 150,2. SS. rer. Pruss. IV, S. 485.

Vgl. Act. u. 663. 84

d. St. I, S. 588 u. 686; II, S. 221 u. 441; III, S. 140, 147, 155, 173, 177, 657

Th. Hirsch, Handelsgeschichte,

S. 305.

U R S A C H E N DES ABFALLS DANZIGS VOM D E U T S C H E N O R D E N

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und Müllermeister, die die Einführung der doppelten Metze miterlebt hatten und die Bedingungen kannten, aus der Stadt. Ihre Nachfolger erklärten dann, alles so weiterführen zu müssen, wie sie es übernommen hätten. Die letzten beiden Beschwerdepunkte der „Instruktionen", die noch zu behandeln sind, bilden insofern einen eigenen Komplex, als sie beide Zollerhebungen des Ordens betreffen, die in Danzig und in den preußischen Städten überhaupt heftigen Protest hervorgerufen haben. Es handelt sich um den Zoll zu Labiau und den Pfundzoll. Der Zoll zu Labiau wurde auf dem Ständetag zu Stuhm am 12. März 1431 beschlossen.85 Die Einnahmen aus dem Zoll waren dazu bestimmt, die Schleusen im Deimegraben, in welchen während der Jahre 1 3 9 5 - 1 4 0 6 das Wasser der Deime abgeleitete worden war, zu erhalten. 86 Beschwerden über den Zoll zu Labiau wurden von den Städten, speziell auch von Danzig, oft vorgetragen. 87 Die „Instruktionen" erheben erneut Klage über diesen Zoll, der 1431 nur für drei oder vier Jahre zur Verbesserung der Schleusen genehmigt worden sei, jetzt, d. h. 1453, aber immer noch eingezogen werde, und zwar außerdem zu einem höheren Satz als ursprünglich vorgesehen. Wichtiger als die Zollerhebung zu Labiau aber war der Pfundzoll. 88 Dieser war eine Zollabgabe, die von jeder ein- und ausgehenden Schiffsladung nach Gewicht erhoben wurde. Er wurde ursprünglich - und zwar zum erstenmal 1361, dann des öfteren in den folgenden Jahren - allein von der Hanse beschlossen und in den Häfen ihrer Mitgliedsstädte eingezogen. Eine Wende in der Geschichte des Pfundzolles trat dann im Jahre 1389 ein. In diesem Jahre beschlossen allein die preußischen Städte ohne Mandat der Hanse, aber mit Zustimmung des Hochmeisters, die Erhebung des Pfundzolles, um mit den Einnahmen vom Hochmeister empfangene Vorschüsse zurückzuzahlen.89 1395 führten die preußischen Städte den Pfundzoll erneut 86

Act. d. St. I, N r . 399. Hirsch (Handelsgeschichte, S. 162 u. Anm. 462) nimmt an, daß

der Zoll schon seit 1429 erhoben wurde. In den Akten der Ständetage findet sich vor 1431 jedoch kein Beleg. Auch in den „Instruktionen" heißt es, daß dieser Zoll „im jare 31 . . . zcum Stume erst uffgesaczt" worden sei (SS. rer. Pruss.

IV, S. 488). Hirsch stützt sich bei

seiner Annahme wohl auf einen Brief an den Danziger Bürgermeister aus dem Jahre 1450, über dessen Absender er nichts mitteilt und den er in seiner Handelsgeschichte (in Anm. 462) teilweise abdruckt. In diesem Brief wird davon gesprochen, daß die Städte „jn dem X X I X . jore" dem Hochmeister den Zoll zu Labiau genehmigt hätten. Dem Verfasser des Briefes könnte leicht beim Schreiben der Jahreszahl ein Fehler unterlaufen sein. E r hätte dann statt X X X I die Zahl X X I X geschrieben. 86

Th. Hirsch, Handelsgeschichte,

87

Vgl. z . B . Act. d. St. I, S. 537, 562 u. 5 7 7 ; II, S. 55 u. 5 0 6 ; III, S. 115.

88

Zu den allgemeinen Angaben über den Pfundzoll vgl. M. Toeppen, Act. d. St. I, S. 6 f.

u. 2 3 6 ; Br. Schumacher, Geschichte 89

Act. d. St. I, N r . 34.

S. 162.

Ost- und Westpreußens,

S. 106 f.

JOSEF LEINZ

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eigenmächtig ein, nachdem ihre Bemühungen in Lübeck, ihn in allen Hansestädten zu erheben, fehlgeschlagen waren. 9 0 So wurde aus einem ursprünglich hansischen Zoll schließlich ein Zoll der preußischen Städte. Aber die Entwicklung ging weiter. Als die preußischen Städte 1389 wegen der eigenmächtigen Pfundzollerhebung von der Hanse zur Rede gestellt wurden, begründeten sie ihre Maßnahme mit dem Hinweis auf die Zustimmung des Hochmeisters. 91 Später lehnten sie die Forderung der Hanse ab, sich wegen der Pfundzollerhebungen zu rechtfertigen. 92 Durch diese Verhaltensweise, wie vorher schon durch die eigenmächtige Erhebung, trugen die Städte, wenn auch ungewollt, dazu bei, den Pfundzoll in die Hand des Ordens zu spielen. Und so hören wir denn seit 1400 von der Einsetzung eines Pfundherrn durch den Hochmeister. 93 Aus dem Pfundzoll der preußischen Städte war nun ein Landeszoll der Ordensregierung geworden. 94 Ein Versuch der Städte, diese Entwicklung durch eine verstärkte Hinwendung zur Hanse aufzuhalten, kam zu spät. 95 Seit Juni 1403, nach einer Vereinbarung mit den Städten, kassierte der Orden ein Drittel, 9 6 seit dem Jahre 1409 zwei Drittel des Pfundzolles. 97 Unter Paul von Rusdorf wenigstens floß er schließlich ganz in die Kasse des Ordens. 98 Später, 1443, hat Konrad von Erlichshausen den Städten wieder einen geringen Anteil am Pfundzoll zugestanden, und zwar sollte ein Drittel des allein in Danzig eingenommenen Pfundzolles an die Städte Kulm, Thorn, Elbing, Danzig und Königsberg zu gleichen Teilen gehen. 99 Von 1409 an war es also praktisch der Orden allein, der über den Pfundzoll verfügte, und er war in der Folgezeit bis 1454 nur selten geneigt, auf ihn für kurze Zeit zu verzichten. Die Städte konnten sich mit dieser Tatsache niemals abfinden, und die Pfundzollfrage wurde einer der wichtigsten Punkte in ihrer 90

Act. d. St. I, S. 56.

91

A. a. O., S. 55.

92

Act. d. St. I, S. 56, Recesse vom 22. Februar 1398, 2. April 1402 und 16. Oktober 1404.

93

Act. d. St. I, S. 5 6 ; vgl. auch P. Werner, Pr. Hansestädte,

94

Die Hanse hat das Eindringen des Ordens in eine ursprünglich rein hansisch-städtische

S. 78 f.

Angelegenheit nicht unwidersprochen gelassen. Die Pfundzollfrage führte oft zu Reibereien zwischen Hanse und Orden. Vgl. dazu Klaus Eberhard Murawski, Zwischen Thorn,

Göttingen 1953, S. 224 f.

95

Act. d. St. I, S. 102.

96

A. a. O., N r . 69, S. 101.

97

A.a.O.,

98

Th. Hirsch, Handelsgeschichte,

S. 113.

99

Th. Hirsch, a. a. O., S. 59, Anm. 2 8 2 und Act. d. St. II, N r . 349.

S. 50.

Tannenberg

und

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

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Auseinandersetzung mit dem Orden. 100 Danzig, das unter den Städten die bedeutendste Rolle im Handel spielte, hatte naturgemäß unter dem Pfundzoll am meisten zu leiden. Die Pfundzollfrage wurde daher auch von den Vertretern der Stadt 1454 und später geradezu als Hauptursache für Danzigs Mitgliedschaft im Bunde und für den Abfall vom Orden angesehen. 101 Mit der Zollfrage haben wir die Besprechung der Beschwerden Danzigs gegen den Orden, wie sie in den „Instruktionen" aufgezeichnet sind, abgeschlossen. Danzig ist auf Grund dieser Beschwerden, das betonen die „Instruktionen", dem Bund beigetreten. Ihre breite, ins einzelne gehende Erörterung war notwendig, um so ihre Bedeutung für Danzig zu verstehen und zugleich die inneren Verhältnisse im Ordensstaate an konkreten Beispielen sichtbar werden zu lassen. Letzteres trifft um so mehr zu, als die meisten der Beschwerden Danzigs auch die übrigen preußischen Städte betrafen. Hier sind vor allem die Beschwerden über Minderung der Privilegien und Freiheiten, über den Handel der Ordensbeamten, über das Verhalten der Ordensbeamten in der Strandgutangelegenheit, über den Pfundzoll und den Zoll zu Labiau zu nennen. Danzig hat auch vor 1453 bei verschiedenen Gelegenheiten dem Orden seine Gebrechen gesondert vorgetragen. 102 Im wesentlichen handelte es sich dabei aber um die gleichen Beschwerden, so daß darauf nicht weiter eingegangen zu werden braucht. Zu erwähnen bleibt allerdings noch ein Schriftstück, 103 das den „Instruktionen" angehängt ist und diejenigen Beschwerden der Stadt enthält, die Wilhelm Jordan dem Kaiser getrennt von den Bundesangelegenheiten vortragen sollte, da es sich um die „sunderliehen gebreche" der Stadt Danzig handelt. Es wird hier außer den Beschwerden über den Handel der Ordensbeamten, über den Mündemeister und in der Strandgutfrage wieder alles aufgezählt, was bereits in den „Instruktionen" stand und hier schon besprochen wurde. Darüber hinaus aber sollte Jordan vom Kaiser fordern, daß die Jungstadt und einige Dörfer mit Danzig vereinigt und keine Städte, Niederlagen oder Schlösser im Umkreis von zwei Meilen um Danzig gebaut würden. Das hatte mit Danzigs Ursachen für den Beitritt zum Bund streng genommen nichts zu tun, und doch kam darin etwas zum Ausdruck, was den Danzigern den Bund wünschenswert machte, nämlich die Furcht vor Gewaltmaßnahmen des Ordens. Danzig wollte durch diese beiden Forderungen den Orden daran hindern, auf die Stadt einen Druck auszuüben, was vor allem von der dem 1 0 0 Eine umfassende Darstellung der harten Auseinandersetzungen um den Pfundzoll unter Konrad von Erlichshausen gibt Kl. E. Murawski, Zwischen Tannenberg und Thorn, S. 83 ff. 101 SS. rer. Pruss. IV, S. 639 u. 798. 102 Act. d. St. II, Nr. 87 u. 151; I, Nr. 443. 103 SS. rer. Pruss. IV, S. 488 f.

2

JahrbuA 13/14

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Orden hörigen Jungstadt aus geschehen konnte und geschehen ist. Das ist auch der Grund, warum Danzig 1454 darauf drang, die Jungstadt niederzureißen, denn auch der polnische König hätte von dort aus, wie früher der Orden, die Stadt bedrohen können. 104 Wenn wir nun versuchen, die Ursachen Danzigs für seine Mitgliedschaft im Bunde zusammenzufassen, so kann das in drei Punkten geschehen: 1. Mißachtung und Einschränkung der städtischen Privilegien und Freiheiten auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, 2. unsachgemäßes und willkürliches Verhalten der Ordensbeamten und der Ordensregierung, 3. Anwendung von roher Gewalt gegen städtische Vertreter durch den Orden und die Furcht vor neuen Gewaltschritten. D a die „Instruktionen" ausdrücklich bekunden, die Ursachen Danzigs für den Beitritt zum Bund zu enthalten, könnten wir uns an sich mit dem bisher Gesagten begnügen. Indessen ist zu bedenken, daß die „Instruktionen" dazu bestimmt waren, diejenigen Klagen gegen den Orden zum Ausdruck zu bringen, die sich speziell von der Perspektive der Stadt Danzig aus rechtlich belegen und beweisen ließen. Anderes, was mehr das ganze Land als solches betraf, mochte man dem Bund überlassen. Ein Vergleich der Ursachen Danzigs mit denen des Bundes kann daher neue Momente liefern, von denen sich vielleicht zeigen läßt, daß sie auch in Danzig wirksam gewesen sind, obgleich in den „Instruktionen" davon nicht die Rede ist. Andererseits kann ein solcher Vergleich, wo sich Ubereinstimmung ergibt, die Ursachen Danzigs erhärten. Die Ursachen des Bundes wurden im August 1453 auf einer Tagfahrt zu Graudenz zusammengestellt. Die Stände nannten das entsprechende Schriftstück „Orsachen des bundes". 1 0 5 Diese umfangreiche Schrift enthält im wesentlichen folgende Ursachen: 1. Minderung der Freiheiten und Privilegien, 2. unsachgemäßes und willkürliches Verhalten der Ordensbeamten und der Ordensregierung, 3. Gewaltanwendung des Ordens und der Ordensbeamten gegen Landesbewohner, 4. Nichtabhaltung eines allgemeinen, jährlichen Richttages, 5. Zwietracht im Orden. Stellen wir zunächst fest, daß die ersten drei der hier aufgezählten Ursachen des Bundes mit jenen in drei Punkten zusammengefaßten Ursachen 104 105

SS. rer. Pruss. IV, S. 513. Act. d. St. IV, Nr. 17.

U R S A C H E N DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN O R D E N

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Danzigs übereinstimmen. Die „Orsachen des bundes" führen gerade zu diesen drei ersten Punkten eine Menge Einzelfälle an. Wenn also beispielsweise in den „Instruktionen" nur ein konkreter Fall von roher Gewaltanwendung des Ordens, nämlich die Ermordung Letzkaus, Hechts und Grossens, genannt ist, so finden wir hier neben dem Fall Letzkau eine Reihe anderer Fälle aufgezählt. Das gleiche gilt für die beiden anderen übereinstimmenden Punkte. Wir sehen daran, daß es Danzig nicht allein war, das solche Beschwerden vorzubringen hatte. Danzig wäre vielleicht bereit gewesen, etwa den Fall Letzkau zu vergessen, ihn als einen einmaligen Ausbruch roher Gewalt anzusehen, wenn sich nicht ähnliches auch sonst im Lande ereignet hätte, so daß es eine Wiederholung fürchten mußte. D a ß Danzig solche Gewaltmaßnahmen von Seiten des Ordens in der Tat fürchtete, dafür gibt es viele Belege. 106 Aber neben diesen Ubereinstimmungen enthalten die „Orsachen des bundes" zwei Punkte, die in den „Instruktionen" nicht erwähnt sind. Sie betreffen den allgemeinen, jährlichen Richttag und die Zwietracht in den Reihen des Ordens. Es ist die Frage, ob auch sie für Danzig eine Rolle gespielt haben. Die Einrichtung eines allgemeinen, jährlichen Richttages 107 wurde von den Ständen schon seit den dreißiger Jahren gefordert. Dieser Richttag, zusammengesetzt aus je sechs Vertretern des Ordens, der Prälaten, der Ritterschaft und der Städte, sollte jährlich einmal tagen, um über Verletzungen oder falsche Auslegungen ständischer Privilegien zu entscheiden. Die Stände beabsichtigten, sich mit Hilfe des Richttages vor Willkür der Ordensbeamten zu schützen. Der Richttag wurde unter Paul von Rusdorf zwar 1432 eingeführt, 108 es wurden auch einige bedeutungslose Sitzungen abgehalten, im allgemeinen aber wurde er vom Orden geflissentlich hintertrieben, so daß es in diesem Punkte niemals zu einer zufriedenstellenden Regelung für die Stände kam. Als der Richttag 1441 ein einziges Mal unter Konrad von Erlichshausen tagte, hat Danzig dafür gesorgt, daß der Fall Letzkau dort zur Sprache kam. 1 0 9 Jordan war dann 1453 in jenem Anhang der „Instruktionen" beauftragt worden, den Kaiser zu bitten, daß die Ermordung Letzkaus, Hechts und Grossens „uff den richtag, den wir alle begern hir ins land zcu haben", gewiesen werde. 110 Und als im Dezember 1453 nach der Verurteilung des Bun1 0 6 Vgl. z. B. Danziger Chronik vom Bunde, in: SS. rer. Pruss. IV, S. 415; Act. d. St. II, S. 156 u. 563.

Näheres über den jährlichen Richttag bei Erich Weise, Das 'Widerstandsrecht im Ordensland Preußen und das mittelalterliche Europa (künftig zit.: Widerstandsrecht), Göttingen 1955, S. 123 f. u. 154. 107



108

Act. d. St. I, S. 573.

109

Danziger Chronik vom Bunde, in: SS. rer. Pruss. IV, S. 425.

110

SS. rer. Pruss. IV, S. 489.

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des durch den Kaiser Danziger Vertreter nach einem möglichen Weg zur Beilegung des Streites befragt wurden, nannten diese als Forderung an den Orden u. a. die Verbriefung des jährlichen Richttages. 111 Danzig lag also sehr wohl etwas an dem jährlichen Richttag, den es als ein Mittel zum Schutz seiner Freiheit und zum Schutz vor Gewalt ansehen mußte. Daß dieser Richttag nicht funktionierte und es also eine solche Schutzinstanz praktisch nicht gab, mußte ihm den Eintritt in den Bund um so notwendiger erscheinen lassen. Wenn Danzig in den „Instruktionen" den Richttag nicht erwähnt, so mag das daran liegen, daß diese Frage mehr das ganze Land anging und nicht speziell im Kompetenzbereich der Stadt lag. Die Zwietracht im Orden beruhte auf der Rivalität zwischen den niederdeutschen und oberdeutschen Ordensmitgliedern. D a die oberdeutsche Gruppe im Orden den oppositionellen Flügel gegen die ständische Bewegung bildete, 112 war sie bei den Ständen verhaßt. Die Danziger Ordenschroniken führen ausnahmslos Klage über die Oberdeutschen 113 und geben diesen die Schuld daran, daß „hoffart, egen nutcz, geyrickeit, unkeuscheit ander laster vele, das vor in Preussen nicht wart gehört" 1 1 4 aufkamen. Die Danziger haben von den Oberdeutschen hinsichtlich ihrer städtischen Freiheit nur starren Widerstand erwarten können, und es ist daher nicht zu bezweifeln, daß ihnen der Bund als Schutz gegen diese, deren Einfluß im Orden gerade um die Zeit der Bundesgründung immer stärker wurde, 115 sehr willkommen war. Aber auch diese Frage war keine ausgesprochen städtische Angelegenheit, und man wird sie gleichfalls aus diesem Grunde in den „Instruktionen" weggelassen haben. Wir müssen also auch die ungelöste Frage des jährlichen Richttages sowie die Zwietracht im Orden als Ursachen für Danzigs Beitritt zum Bunde ansehen und sie jenen Ursachen hinzufügen, die wir oben in drei Punkten zusammengefaßt haben. Wir können die Ausführungen über die Ursachen Danzigs für seine Mitgliedschaft im Bunde nicht abschließen, ohne daran zu erinnern, daß es neben den genannten Ursachen andere gegeben hat, die sich kaum, weder von der Sicht Danzigs aus noch von der des Bundes, juristisch formulieren und vertreten ließen. Es ist oft betont worden, daß der Orden, da seine Mitglieder fast ausnahmslos aus dem Reich stammten, gegen die Landesbewohner fremd 111

Act. d. St. IV, N r . 117.

112 Vgl

£ Weise, Widerstandsrecht,

S. 135 ff. Dabei hat, wie Weise bemerkt, die sprach-

liche Verschiedenheit zwischen den oberdeutschen Ordensmitgliedern und den nieder- und mitteldeutsch sprechenden preußischen Ständen sicher eine Rolle gespielt. 113

SS. rer. Pruss. IV, S. 380, Anm. h.

114

A. a. O., S. 379.

115

Vgl. Act. d. St. II, S. 186 ff.; E.Weise, Widerstandsrecht,

S. 135 f.

U R S A C H E N DES ABFALLS D A N Z I G S V O M D E U T S C H E N O R D E N

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geblieben ist. Es kam hinzu, daß Sittenstrenge und Disziplin im Orden seit 1410 viel zu wünschen übrig ließen. Darüber haben auch dem Orden zweifellos freundlich gesinnte Männer bittere Klage erhoben. Man denke nur an die „Ermahnung des Karthaeusers". 116 Die so noch gesteigerte Fremdheit zwischen Orden und Landesbewohner, gepaart mit der unerträglichen Verschleppungstaktik in allen Beschwerdeangelegenheiten, mußte die Vertrauenswürdigkeit des Ordens in den Augen der Danziger und der Stände überhaupt gefährlich mindern. Wie immer und überall standen auch im Ordensland die äußeren Verhältnisse im Wechselspiel mit den inneren. Die äußeren Mißstände hätten nicht solch unerbittliche Frontstellungen hervorgerufen, wenn man sich innerlich nähergestanden hätte, und umgekehrt wäre die innere, wenn auch lose Bindung nicht vollends auseinandergerissen, wären nicht die äußeren Mißstände hinzugekommen. Nachdem wir Danzigs Ursachen für seinen Eintritt in den Bund kennengelernt haben, drängt sich von selbst die Frage auf, welche Ziele die Stadt im Bunde verfolgt hat. Der Bundesvertrag 117 versichert die Loyalität der Bundesmitglieder gegen Hochmeister und Orden. Abfall vom Orden und Vertreibung desselben waren von vornherein wohl von keinem der Bündner geplant. 118 Dennoch gab es eine radikalere Gruppe unter den Bündnern, die sich durch besonders hartnäckiges Vorgehen gegen den Orden auszeichnete und auch schon vor der Verurteilung des Bundes Ende 1453 durch den Kaiser die Neigung erkennen ließ, sich gegebenenfalls der Herrschaft des Ordens zu entziehen und sich unter die Oberhoheit eines neuen Herrn zu begeben.119 Führend in dieser Gruppe waren neben der Kulmer Ritterschaft die Städte Kulm, Thorn und Elbing. Wann unter ihnen der Gedanke aufkam, sich vom Orden zu lösen und dem polnischen König die Oberhoheit anzutragen, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Jedenfalls stehen sie vom Herbst 1452 an in ständiger Beziehung zu Polen. 120 Danzig war zwar ebenfalls daran interessiert, den Bund, wenigstens solange sich die Verhältnisse nicht gewandelt hatten, zu erhalten, 121 aber es drängte 116

SS. rer. Pruss. IV, S. 448 ff.

117

Act. d. St. II, Nr. 108.

118

Vgl. E. Weise, Widerstandsrecht,

S. 146.

119

Vgl. Act. d. St. I, Nr. 479 u. S. 695 f., 715 u. 681—684; III, Nr. 144, 232, 244, 247 u. 263; vgl. auch Walter Recke, Danzig und der deutsche Ritterorden, Bremen 1925, S. 27. 120

Vgl. P.Werner, Pr. Hansestädte,

121

Act. d. St. III, Nr. 147.

S. 156 f.

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auf Mäßigung und Ausgleich im Lande selbst. 122 Als der Ständetag im August 1542 beschließt, eine Gesandtschaft zwecks Darlegung der Ursachen des Bundes an den Kaiser zu schicken,123 lehnt es Danzig ab, Vertreter der Stadt an der Gesandtschaft teilnehmen zu lassen, da es ihm besser scheint, den Streit im Lande auszufechten.124 Am 2. Oktober bitten dann die Danziger den Thorner Rat, besagte Gesandtschaft an den Kaiser nicht abzusenden, da der Danziger Komtur einen Vergleich zwischen Ständen und Hochmeister herbeizuführen versuche. 125 Einige Tage später, am 8. Oktober, lassen die Danziger durch den Komtur den Hochmeister ersuchen, eine Tagfahrt zur Verhandlung mit den Ständen anzusetzen, damit „dy Sachen zcum besten komen sollen". 126 Diesen Bemühungen Danzigs war der Erfolg versagt, denn die Gesandtschaft an den Kaiser brach Ende Oktober nach Wien auf. 127 Aber Danzig blieb weiterhin bei seiner Meinung, daß es am besten sei, die Unstimmigkeiten im Lande beizulegen. Sehr aufschlußreich ist ein Brief des Danziger Komturs an den Hochmeister vom 22. Mai 1453. 1 2 8 Der Komtur berichtet, er habe mit dem Danziger Bürgermeister Wilhelm Jordan ein freundliches Gespräch geführt. Dieser solle im Auftrag der Stadt, es handelte sich um eine neue Gesandtschaft zu dem von Kaiser Friedrich III. für den 24. Juni 1453 angesetzten Richttag, zum Kaiser ziehen. Jordan habe versichert, vom Rat der Stadt Danzig beauftragt zu sein, dafür zu sorgen, daß der Streit zurück ins Land gebracht und hier entschieden werde. Auch habe Jordan beteuert, daß er alles gern zum Besten gewendet sehe und seine Pflicht gegen den Hochmeister nicht vergessen werde. E r habe weiter „gesaget, wenne sich ew. gn. mit den Danczkern umbe dy schelunge, dy sy weder ew. gn. vormeynen zcu haben, entrichte, so weiden sie sich von den Colmenern czihen", denn dann könne, so habe Jordan hinzugefügt, der Hochmeister um so eher auch zu einem Vergleich mit den Kulmern kommen. Dieser Brief ist ein wichtiges Zeugnis für die Bereitschaft Danzigs, mit dem Orden auf friedlichem Wege ins reine zu kommen. Danzig will sich sogar von den „Colmenern czihen", und das heißt doch nichts anderes als aus dem Bunde austreten, wenn der Hochmeister seine Beschwerden abstellt. 129 Auch bei anderen Gelegenheiten 122 Ygl p \ 7 e r n e r , Pr. Hansestädte, S. 160 u. P. Simson, Danzig im 13jährigen Kriege, S. 7. Act. d. St. III, Nr. 198. A. a. O., Nr. 209 u. S. 439. 125 A. a. O., Nr. 237. 126 A. a. O., Nr. 243. Der Brief ist hier fälschlich am 14. Okt. datiert. Vgl. dazu P. Simson, Danzig im 13jährigen Kriege, S. 9, Anm. 4. 127 Act. d. St. III, Nr. 247. 128 A. a. O., Nr. 398. 1 2 9 P. Simson (Danzig im 13jährigen Kriege, S. 12) hält diese letzte Äußerung für eine private Meinung Jordans. Es mag sein, daß Jordan dazu vom Rat der Stadt nicht beauf123 124

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hat Danzig immer wieder seine Bereitschaft zur Einigung mit dem Orden ausgesprochen und friedliche Verhandlungen angestrebt. 130 J a , selbst noch im Januar 1454 regte der Rat der Stadt noch einmal Verhandlungen mit dem Orden an. 131 Die angeführten Zeugnisse zeigen zur Genüge, daß Danzig ein Loslösung vom Orden nicht wünschte, sich vielmehr darum bemühte, die Differenzen im Lande selbst und auf friedlichem Wege auszugleichen. Der Bund, das wird an diesen Belegen ebenfalls deutlich, hatte für Danzig den Sinn, die städtische Freiheit zu sichern und die Abstellung der Beschwerden herbeizuführen. Und Jordan wenigstens zeigte sich bereit, vom Bund abzurücken, sobald diese Ziele erreicht waren. Wie kam es, so wird man mit Recht fragen, daß Danzig trotz seiner Bereitschaft zu friedlichen Verhandlungen schließlich dennoch vom Orden abgefallen ist? Das unter Ludwig von Erlichshausen verstärkte Bemühen des Ordens, den Bund aufzulösen, verschärfte den Kampf zwischen Orden und Ständen, bis schließlich - zuerst vom Orden, dann von den Ständen - Kaiser Friedrich III. die richterliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Bundes anvertraut wurde. Damit war der Streit um den Bund in seine entscheidende Phase eingetreten. Zu dem für den 24. Juni 1453 angesetzten Richttag des Kaisers 1 3 2 reiste auch, wie wir bereits wissen, im Auftrag Danzigs als Bundesvertreter Bürgermeister Wilhelm Jordan. Als der Prozeß beim Kaiser in Wien Ende Oktober endlich begonnen hatte - der Beginn des Prozesses hatte sich durch einen von den Bundesgesandten auf ihrem Zuge zum Kaiser erlittenen Überfall 1 3 3 bis dahin verzögert - , brachte bereits der erste Bericht der Bundesgesandten, ein am 12. November datierter Brief an den Rat von Thorn, 134 die Nachricht, daß der Bund in höchster Gefahr sei. Die Ordenspartei behaupte, so stand in dem Brief, sie, die Bündner, seien alle Heiden gewesen und vom Orden mit dem Schwerte tragt war. Doch haben andere Vertreter der Stadt noch im August dem Danziger Komtur gegenüber durchblicken lassen, daß man schlimmstenfalls dem Bund nicht folgen werde {Act. d. St. IV, Nr. 30; III, Nr. 348). Man hielt es also in Danzig nicht für unmöglich, unter Umständen eigene Wege zu gehen. 130 Act. d. St. III, Nr. 348 u. 375. 131 Act. d. St. IV, Nr. 119. 132 Act. d. St. III, Nr. 274. 1 3 3 In Preußen vermuteten die Bündner sofort, daß der Orden hinter der Sache stecke (vgl. M. Toeppen, Act. d. St. III, S. 712). Sie hatten dazu guten Grund, denn der Komtur von Thorn hatte schon 1452, als die erste Bundesgesandtschaft zum Kaiser reiste, dem Hochmeister geraten, die Gesandten zu überfallen (Act. d. St. III, Nr. 238). 134 Act. d. St. IV, Nr. 72.

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gewonnen worden, „alzo das sie uns gancz eygen haben wellen . . . und sulden seyn vorfallen alle unser lehne und ouch recht".,,... wisset", schreiben die Gesandten am Schluß, „das unser hern uns und euch allen stehen noch leib, ere und gut." Ein zweiter Brief, 1 3 5 gleichfalls vom 12. November, von dem Bundesgesandten Ramschel von Krixen an Hans von Baysen enthielt keine bessere Nachricht. „ . . . wisset", heißt es darin, „das unsere hern stolczer, denne sie y gewest, sein." Auch habe er, Krixen, von guten Freunden gehört, „das sie sulden gesprochen haben, is wirt nymmer gut im lande zcu Prewssen, ir dreyhundert springen denne ubir die klinge". „Dorumb", fährt Krixen fort, „so warnet ewer gutte frunde . . . , das sie uf deme lande nicht bleyben sitczen, wenne zie [die Ordensherren] geben zcu dirkennen das sie mit uns nicht meynen gut vorhaben." Die beiden Briefe empörten die Verbündeten bis ins Mark. Sie versicherten am 28. November auf einer Tagfahrt in Thorn, wo der Enge Rat die Nachricht bekanntgab, sie würden solche Reden, wie sie die Ordensgesandten in Wien führten, nicht leiden, eher sollten ihnen, ihren Frauen und Kindern „die Hälse mit Dielen abgestoßen" werden. 136 Die schroffen und drohenden Reden der Ordensvertreter 137 beim kaiserlichen Gericht mußten auch die gemäßigten Bundesvertreter schrecken und aufreizen. So richtete denn auch der Danziger Abgesandte Wilhelm Jordan, der noch vor seiner Reise dem Orden gegenüber eine so versöhnliche Haltung eingenommen hatte, am 29. November aus Wien einen ziemlich hoffnungslosen Brief an den Danziger Rat. 1 3 8 Zunächst teilte Jordan darin mit, daß beim Gericht nichts zu erreichen sei, denn es „wirt uns alles abgesprochen, wenne das gerichte besaczt ist mit der korfursten und fursten rethe, die uns alles entkegen seyn, und werden spotlich gehonet und belachet . . . und sprechen uns den bund abe mit g e w a l t . . . " . Dann berichtet er noch einmal den Ausspruch der Ordensvertreter, daß alles gut werde, wenn man nur erst Dreihundert aus dem Wege geschafft habe, und daß die Vorfahren der preußischen Stände nicht geholfen hätten, das Land zu erobern. Die Ordensvertreter, so fährt er fort, ließen hören, daß sie, wenn sie Land und Leute noch einmal erobern müßten, nach eigenem Gutdünken schalten und walten woll135

A. a. O., Nr. 73.

136

A. a. O., S. 201 f.

1 3 7 Unglücklidierweise hatte man für die Gesandtschaft radikale Männer bestimmt, die ihr Ziel in der Wiederherstellung der uneingeschränkten Herrschaft des Ordens sahen, so den Obersten Spittler und Komtur von Elbing Heinrich Reuß und Bischof Franz von Ermland. Vgl. Rudolf Grieser, Hans von Baysen, Leipzig 1936, S. 75. 138

Act. d. St. IV, Nr. 80.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

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ten. „ . . . und doruff", fügt er hinzu, „nemen sie gewislich volk [Söldner] uff." Nachdem Jordan noch einige allein Danzig betreifende Dinge erörtert hat, bittet er zum Schluß um Mitteilung nach Prag, ob er Söldner anwerben solle und ermahnt den Rat, dafür zu sorgen, „das wir manne seyn unser ere, leib, gut, privilegia und freiheit zcu beschirmen". Diese letzte Konsequenz jedoch zog Jordan nicht, ohne vorher noch einmal festgestellt zu haben: „Das recht ist cleyn". Dieser Brief, der in Danzig das Volk, wie der dortige Komtur dem Hochmeister berichtete, „aber sere vorbittert" machte, 139 brachte den Danziger Ratsherren und den übrigen Bundesangehörigen wichtige Aufschlüsse in dreierlei Hinsicht. Sie erfuhren zunächst, daß das mit den Räten der Reichsfürsten besetzte Gericht parteiisch war und für die Sache des Bundes nicht mehr Verständnis als Spott und Hohn aufbrachte. Zweitens konnten sie dem Bericht Jordans entnehmen, daß die Verurteilung des Bundes so gut wie sicher war. Und drittens endlich erhielten sie Gewißheit darüber, daß die Gegensätze in Wien sich ungemein verschärft hatten und die Drohungen der Ordensvertreter ganz und gar ernstzunehmen waren, wenn ihnen Jordan, dessen gemäßigte Gesinnung ihnen nicht unbekannt sein konnte, gewissermaßen riet, Söldner anzuwerben und sie bat, sich zur Verteidigung von Ehre, Leib, Gut und Freiheit bereitzuhalten. Jordans Brief zeigt recht deutlich, wie Danzig zum Abfall vom Orden geradezu gedrängt wurde. Ohne die Abstellung wenigstens seiner wichtigsten Gebrechen wollte und konnte Danzig auf den Bund nicht verzichten. Der Orden aber machte keine Anstrengungen, hier eine Änderung herbeizuführen, strebte aber die Auflösung des Bundes an. So kam es schließlich zu dem Prozeß vor dem Kaiser. Und hier, obgleich Danzig sich von vornherein von diesem Weg nichts Gutes versprochen hatte, erlebte man eine arge Enttäuschung. Jordan jedenfalls hatte das Gefühl, daß hier nicht Recht gesprochen wurde, sondern daß man von Anfang an einer Verurteilung des Bundes zustrebte. Die unbesonnenen Drohungen der Ordensvertreter in Wien taten ein übriges. Von Leuten, die sich so unbeherrscht und gewaltstrotzend gaben, dabei aber hohe Ämter im Ordensstaat bekleideten, mußte man das Schlimmste erwarten. Und so blieb Jordan, dem vielleicht gemäßigtesten Vertreter des ohnehin gemäßigten Danziger Rates, nichts anderes übrig, als einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem Orden - nolens volens - ins Auge zu sehen. In Wien fiel die Entscheidung am 1. Dezember, schon bald nach der Abfassung von Jordans Brief. Der Bund wurde für rechtswidrig erklärt und seine Auflösung befohlen. 1 4 0 Jordans Brief war vor Mitte Dezember in Danzig 139 140

A. a. O., Nr. 99. A. a. O., Nr. 86, bes. S. 184—188; das Dokument ist am 5. Dezember datiert.

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angekommen. 141 Ein weiterer Bericht der Gesandten, der nun die endgültige Verurteilung anzeigte, traf noch vor dem 20. Dezember beim Bundesrat in Thorn ein. 142 Der Enge Rat in Thorn teilte daraufhin am 21. Dezember Landen und Städten seine Entschlossenheit mit: „nimmer sich in Eigentum zu geben . . . , sondern in christlicher Freiheit mit sammt euch . . . sich zu behalten". 1 4 3 Der Hochmeister seinerseits ließ im Lande beruhigende Erklärungen verbreiten, worin er versicherte, daß er keine Söldner anwerben lasse und den Angehörigen des Bundes keine Gewalt antun und sie auch nicht zu rechtlosen Leuten machen wolle. 144 Den gewünschten Erfolg erreichte er nicht. Die unvorsichtigen Reden der Ordensgesandten in Wien hatten das letzte Vertrauen zerstört, man glaubte solchen Versprechungen einfach nicht mehr. 145 In Danzig, wo man nach Empfang von Jordans Schreiben sofort zu rüsten begonnen hatte, 146 zeigte man sich auch jetzt noch versöhnlicher als anderswo. Zwei Bürgermeister versicherten Ende Dezember dem Danziger Komtur, daß ihnen alles daran liege, sich in Ruhe und Frieden mit dem Hochmeister zu einigen. Vom Komtur befragt, unter welchen Bedingungen das ihrer Meinung nach geschehen könne, glaubten sie, daß eine Verständigung durch Anerkennung des Bundes und Verbriefung eines jährlichen Richttages noch möglich sei. 147 Aber den Danzigern war jetzt die Lage doch zu gefährlich, sich im Alleingang mit dem Orden festzulegen. Sie teilten daher am 3. Januar 1454 dem Hochmeister über den Komtur in Danzig mit, daß sie auf jenen vom Hochmeister allenthalben im Lande verbreiteten Versicherungen, keine Gewalt anwenden zu wollen, nicht mit einer Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit ihrerseits, wie es der Hochmeister gewünscht hatte, antworten könnten, es sei denn gemeinsam mit den übrigen Bundesmitgliedern. 148 Indessen gingen die Rüstungen auf beiden Seiten weiter, und sie machten auf der Seite des Bundes den besseren Fortschritt. 149 Der Orden zeigte beim Ausbruch der Feindseligkeiten eine so große militärische Schwäche, daß die Befürchtungen der Bündner offenbar mehr auf den Drohungen der Ordensritter, vor allem der Gesandten in Wien, als auf wirklich erfolgten RüstunA. a. O., Nr. 99. Das Schreiben ist nicht erhalten. Daß ein solches aber eingegangen ist, bezeugt Act. d. St. IV, Nr. 104; vgl. dazu P. Simson, Danzig im 13jährigen Kriege, S. 14, Anm. 3. 143 Act. d. St. IV, Nr. 107; Übersetzung M. Toeppen, Act. d. St. IV, S. 371. 144 Act. d. St. IV, Nr. 112 u. S. 371. 145 Act. d. St. IV, Nr. 115 u. 130; M. Toeppen, Act. d. St. IV, S. 371 f. 146 Act. d. St. IV, Nr. 99. 14T A.a. O., Nr. 117. 148 A.a.O., Nr. 119. 1 4 9 Vgl. M. Toeppen, Act. d. St. IV, S. 375. 141

142

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gen beruhten. Das darf allerdings nicht zu der Annahme verleiten, der Orden sei von vornherein gesonnen gewesen, nach der Verurteilung des Bundes unbedingt auf Gewalt zu verzichten. Es zeigt nur, daß man im Orden nicht fähig war, die Möglichkeiten des Bundes richtig einzuschätzen. So wie die Dinge lagen, war das Auftreten des Ordens in Wien unbedingt falsch. Wollte der Orden so handeln, wie man sich dort gebärdete, dann wäre militärische Stärke Voraussetzung gewesen. Wollte er aber auf friedlichem Wege mit den Ständen ins reine kommen, hätte man nicht ständig mit dem Säbel rasseln dürfen. Die Gesandten in Wien aber haben sich den Gegebenheiten genau entgegengesetzt verhalten. Danzig, obgleich es zu rüsten begonnen hatte und nur gemeinsam mit dem Bund zu handeln gedachte, hat sich dennoch weiterhin um die Erhaltung des Friedens und die Verständigung mit dem Orden bemüht. Am 3. Januar 1454, in dem gleichen Schreiben, in welchem sie dem Hochmeister jene Antwort zuteil werden ließen, nur gemeinsam mit dem Bund handeln zu wollen, regten die Danziger Ratsherren zugleich noch einmal eine Tagfahrt an, auf welcher der Hochmeister in Ruhe die Meinung aller vernehmen sollte. Über diesen Vorschlag wurde lange verhandelt. Sowohl im Orden als auch beim Engen Rat in Thorn gab es Widerstand. 150 Schließlich schickte der Hochmeister zum 7. Februar den Obersten Marschall und zwei Komture zwecks Vorverhandlungen zum Engen Rat nach Thorn. 1 5 1 Aber während die Gesandten des Hochmeisters auf dem Wege nach Thorn waren, fiel dort bereits die endgültige Entscheidung. Der Hochmeister erhielt am 6. Februar den am 4. vom Engen R a t ausgefertigten Aufsagebrief von Land und Städten, der von Baysen und der Stadt Thorn als Bundesvorort gesiegelt war. 1 5 2 Die ahnungslosen Abgesandten des Hochmeisters wurden auf Befehl des Engen Rates bei Kulmsee gefangengenommen. 153 Danzig war mit der Festnahme der Gesandten nicht einverstanden und setzte sich wiederholt für ihre Freilassung ein. 154 Den Inhalt des Aufsagebriefes hat Weise 155 in vier Punkten zusammengefaßt. Die Stände warfen dem Hochmeister vor: 1. Bruch des Huldigungsversprechens durch Versagen des Rechtsschutzes, insbesondere eines jährlichen Richttages, 150

M. Toeppen, Act. d. St. IV, S. 376 u. Nr. 137.

151

Act. d. St. IV, N r . 173 u. 174.

162

A. a. O., Nr. 172.

153

A. a. O., N r . 185; SS. rer. Pruss. III, S. 662, Nr. I.

154 Ygj p simson, Danzig

im 13jährigen

Kriege,

S. 15, Anm. 6.

155 e . Weise, Widerstandsrecht, S. 196; Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, Bd. II (1438/67), hrsg. von E.Weise, Marburg 1955, Nr. 288 (künftig zit.: Staatsverträge).

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2. Verletzung der Herrscherpflicht durch Verunglimpfung seitens der Bevollmächtigten des Hochmeisters beim kaiserlichen Gericht sowie durch Rüstungen außer Landes gegen den Bund, 3. gewaltsame Angriffe auf Leib und Leben der ständischen Untertanen, insbesondere durch den Uberfall auf die Bundesgesandtschaft zum Kaiser und einen Mordanschlag gegen Hans von Baysen, 4. Ablehnung des Schutzes bündischer Kaufleute im Ausland. Der Huldigungsaufkündigung folgte sofort der Aufstand nahezu überall in Preußen. Die wichtigsten Ordensschlösser waren schon bald in der Hand des Bundes, 156 in Danzig bereits am 11. Februar. 157 Das rasche Zugreifen Danzigs zeigt erneut, daß der Rat, wenn er auch ständig sich um eine friedliche Lösung bemüht hatte, doch entschlossen war, dem Bund zu folgen und keinen Alleingang zu wagen. Und es blieb dabei. Als der Hochmeister am 8. Februar unter dem Eindruck der Ereignisse dem Bundesrat in Thorn das Angebot machte, den Bund unangetastet zu lassen und auch den jährlichen Richttag abzuhalten sowie andere Beschwerden auf einer Tagfahrt abzustellen, wenn man die Angriffe auf die Burgen unterlasse, lehnte der Bundesrat dies Angebot ab, da seine bedeutendsten Mitglieder, darunter Hans von Baysen, bereits nach Polen aufgebrochen waren. 158 Danzig, wo noch Ende Dezember zwei Bürgermeister dem dortigen Komtur erklärt hatten, daß bei Anerkennung des Bundes und Gewährung eines jährlichen Richttages ihrer Meinung nach eine Verständigung möglich sei 159 — es handelte sich also genau um dieselben Bedingungen, die der Hochmeister nun zu erfüllen versprach - , teilte am 14. Februar dem Hochmeister ebenfalls mit, daß es ohne Land und Städte auf sein Angebot nicht eingehen und auch keine Abgesandten, wie es der Hochmeister gefordert hatte, zu ihm schicken könne, „noch deme alz die dingk nw gewant seyn". 1 6 0 Die Initiative zum Abfall vom Orden und zum Ausbruch des offenen Kampfes zwischen Orden und Bund ging eindeutig vom Engen Rat in Thorn aus. Danzig strebte zwar eine friedliche Beilegung des Zwistes an und war bis zum Schluß zu Verhandlungen bereit, wurde aber von der Macht der Verhältnisse dazu gedrängt, dem vom Bund eingeschlagenen Weg zu folgen. Schuld an dieser Entwicklung waren zunächst die seit Jahrzehnten von Land und Städten vorgebrachten Beschwerden, die 1453/54 noch immer nicht abgestellt waren und um derentwillen die Stände sich 1440 im Bund vereinigt 158

157 158 158

160

M. Toeppen, Act. d. St. IV, S. 379. Act. d. St. IV, Nr. 192. A. a. O., Nr. 214. Vgl. oben, S. 26. Act. d. St. IV, Nr. 198.

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hatten. Unmittelbarer Anlaß für den Schritt des Engen Rates am 4. Februar 1454 aber waren die Verurteilung des Bundes durch den Kaiser und die ganz und gar vergiftete Atmosphäre, wie sie nicht zuletzt durch die drohende Sprache der Ordensgesandten beim Kaiser in Wien geschaffen worden war. 1 6 1 Hans von Baysen und der Enge Rat standen zwar bereits vor der Verurteilung des Bundes in Verbindung mit polnischen Vertretern; 1 6 2 aber man darf nicht vergessen, daß es mit dem König auch beim Abfall am 4. Februar noch keine verbindlichen Abmachungen gab. Wenn Baysen und der Enge Rat sich dennoch zu einem so riskanten Schritt entschlossen haben, so zeigt das, in welcher Bedrängnis sie sich befanden. Bei ihnen lag die Verantwortung für den Bund, und sie hatten allen Grund, eine Aufweichung in seinen Reihen durch den Spruch des Kaisers und die noch zu erwartende Reichsacht zu fürchten. Das war auch der Grund, weshalb man in Thorn nach der Verurteilung des Bundes zu Verhandlungen nicht mehr bereit war. 1 6 3 Es wäre sicher für alle Bundesglieder von großem Nachteil gewesen, wenn der Bund, dessen Kraft in der Einheit lag, auseinandergebrochen wäre. Der Orden hätte dann ein leichtes Spiel gehabt. Was aber konnten die Führer des Bundes für sich persönlich erwarten, falls sie der Willkür des Ordens anheimgefallen wären? Vom Verlust ihrer Privilegien und ihrer Freiheit abgesehen, mußten sie sich gewiß zu jenen Dreihundert rechnen, welche die Abgesandten in Wien über die Klinge springen lassen wollten. Sie werden die Ermordung der Danziger Ratsherren Letzkau, Hecht und Grossen noch nicht vergessen gehabt haben. Und schließlich war um die Jahreswende (1453/54) ein Mordanschlag des Hochmeisters, auf Hans von Baysen ruchbar geworden. 164 Angesichts dieser Tatsachen, die vor allem Baysen geradezu in die Situation der Notwehr brachten, ist es unverständlich, wie Grieser, der doch selbst glaubt, daß Baysens Ermordung tatsächlich geplant gewesen sei, trotzdem im Hinblick auf Baysen von „ungeheuerlichem Verrat" und „Treuebruch" sprechen kann. 165 Man wird doch wohl nicht mehr von einem Treueverhältnis 1 6 1 Hans von Baysen schrieb noch am 25. Januar 1454 an den Hochmeister: „Euer gnoden sendeboten werden is nymmer so gut machen, als sy is vorterbt haben" {Act. d. St. IV, Nr. 159). 162

Vgl. R. Grieser, Hans von Baysen, S. 83.

163

A. a. O., S. 90.

164 Act. d. St. IV, Nr. 152 u. 159; vgl. R. Grieser, Hans von Baysen, S. 87. Grieser glaubt, daß der Mord in der Tat geplant gewesen und lediglich durch den vorzeitigen Tod des gedungenen Mörders Jon von Sernow, eines masowisclien Edelmannes, vereitelt worden sei. Vgl. auch Act. d. St. IV, Nr. 161 u. S. 26. 165

R. Grieser, Hans von Baysen, S. 127.

30

JOSEF LEINZ

reden wollen, wenn die Situation so ist, daß der Herrscher auf das Leben seines Untertans Mordanschläge plant. Der Schritt des Bundes vom 4. Februar 1454 ist mit dem Wort Verrat keineswegs richtig gekennzeichnet. Weise 166 erkennt an, daß die preußischen. Stände ihr Verhältnis zum Landesherrn als ein Lehnsverhältnis zum Hochmeister ansehen konnten, da sie seit 1441 nicht mehr wie früher dem Orden als korporativem Landesherrn, sondern nur noch dem Hochmeister persönlich „durch einen Lehnseid gehuldigt hatten". Der Aufsagebrief ging von dieser Überlegung aus, und Weise gibt zu, daß damit dem formalen Recht Genüge geschehen sei. Das Widerstandsrecht, das dabei ausgeübt wurde, verlange aber für die Absetzung des Herrschers die Einmütigkeit des ganzen Volkes oder seiner „berufenen Besten". Dies aber habe der kleine Kreis „politischer Agitatoren", die sich zu Führern des Bundes aufgeworfen hätten, objektiv für sich nicht in Anspruch nehmen können. Aus diesem Grunde nur spricht Weise dem Engen Rat die innere Berechtigung zu dem Aufsagebrief ab. Das ganze Volk war bei der Abfassung des Aufsagebriefes gewiß nicht befragt worden. In Preußen hat auch niemals das ganze Volk hinter dem' Bund gestanden. Eine solche Forderung, daß die Zustimmung eines ganzen Volkes für die Anwendung des Widerstandsrechtes notwendig sei, ist auch übertrieben. Weise beachtet hier offenbar zuwenig die alte germanische Wurzel des Widerstandsrechtes, wonach bei Verletzung oder Verkürzung des Rechtes durch den Herrscher „jeder Untertan, jeder Volksteil oder auch die Gesamtheit ihm widerstehen, ihn verlassen und sich einem neuen Herrn ergeben" konnten. 167 Dies „individuale und formlose Widerstandsrecht", das auf der Vorstellung einer sowohl über dem Volk als auch über dem Herrscher stehenden Rechtsordnung beruhte, an die allein der einzelne sich gebunden fühlte, hatte nicht nur im frühen Mittelalter Gültigkeit, sondern war auch noch im 15. Jahrhundert, obgleich inzwischen das Widerstandsrecht in manchen Ländern positivrechtlich fixiert worden war, keineswegs überwunden. 168 Im spätmittelalterlichen Ständestaat war allerdings das Einzelwiderstandsrecht weitgehend an die Stände übergegangen, 169 und so sind es in Preußen folgerichtig die Stände, die es 1454 ausüben. 1 6 8 Vgl. zu den folgenden Ausführungen über Weises Standpunkt: E. Weise, Widerstandsrecbt, S. 195—197.

167 Fritz Kern, Gottes Gnadentum stadt 2 1954, S. 241.

und Widerstandsrecbt

im frühen

Mittelalter,

Darm-

A.a.O., S. 230 f. u. 242 f.; Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wiesbaden4 1959, S. 140 f. 168

169

S. 14.

Hans Fehr, Das Widerstandsrecbt,

der

in: Mitt. d. Inst. f. Oester. Gesdi.-Forsdig. 38 (1920),

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

31

Wenn also Weise anerkennt, daß neben der Gesamtheit auch die „berufenen Besten" eines Volkes die Absetzung des Herrschers vollziehen könnten, so kann es sich im 15. Jahrhundert doch nur um ständische Vertreter handeln. Als solche läßt er allerdings die Bundeshäupter in Thorn nicht gelten, die für ihn „politische Agitatoren, die sich zu Führern des Bundes aufgeworfen hatten", sind. In Wirklichkeit war aber doch der Enge Rat, wie Weise selbst ausführt, 170 auf ordentlichen Bundesversammlungen eingesetzt worden, und zwar zunächst am 8. April 1453, dann noch einmal am 10. August des gleichen Jahres, wo es hieß: „Item wart och gedacht des engen rathes, der en allen wolbehagt also zu halden und zu bleiben bes zu awstrage der sachen.. ." 1 T 1 Hans von Baysen war ebenfalls ordentliches Mitglied des Engen Rates. 172 Es ist also nicht einzusehen, wieso der Enge Rat nicht berechtigt gewesen sein soll, im Namen des Bundes zu handeln. Der Bund aber, wenn er auch nicht das ganze Volk des Ordensstaates umfaßte, repräsentierte doch die politisch aktiven Elemente unter den Ständen in Preußen, da er alle großen Städte und von den Landständen vor allem die politisch aufgeschlossene Kulmer Ritterschaft zu seinen Mitgliedern zählte. Daß der Hochmeister Veranlassung für die Aufkündigung der Huldigung gegeben hatte, erkennt Weise wiederum selbst an. Der Abfall vom Orden aber ist nur die eine Seite des zukunftsträchtigen Entschlusses vom 4. Februar 1454. Die Aufkündigung des Huldigungseides erforderte notwendig die Unterwerfung unter einen neuen Herrn. Danzig hat auch diesen zweiten Schritt des Bundes mitgemacht, und wir müssen uns daher seiner Untersuchung widmen.

II Da es in dieser Arbeit darum geht, die Ursachen Danzigs für den Abfall vom Deutschen Orden darzulegen, möchte man zunächst glauben, daß die Stellung Danzigs zu Polen dabei unberücksichtigt bleiben könnte. Doch gerade die Art und Weise, wie Danzig sich nach dem Abfall vom Orden gegenüber Polen verhält, gibt wichtige Aufschlüsse über das innere Verhältnis der Stadt zum Orden. Wegen der seit Herbst 1452 offensichtlichen Beziehungen der Städte Thorn und Kulm sowie der Kulmer Ritterschaft zu Polen war der Bund, wenn überhaupt Abfall vom Orden und Unterwerfung unter die Oberhoheit eines neuen 170 171 172

E. Weise, Widerstandsrecht, S. 200. Act. d. St. III, Nr. 375 u. IV, Nr. 16. Act. d. St. IV, Nr. 48.

32

JOSEF LEINZ

Herrschers in Frage kam, von vornherein auf Polen gerichtet. 173 Mehr allerdings als eine Einladung des polnischen Königs, nach dem 2. Februar Bevollmächtigte zum Reichstag nach Krakau zu schidien,174 hatte der Enge Rat nicht in Händen, als er am 4. Februar dem Hochmeister die Huldigung aufkündigte und seine Gesandten am 10. Februar unter Führung Hans von Baysens von Thorn aus nach Krakau aufbrachen. 175 Diese Tatsache verdient, wie schon erwähnt, besondere Beachtung, weil sie die Not, in welche der Enge Rat und der Bund gekommen waren, recht deutlich macht. Ein umsichtiger Politiker wie Hans von Baysen 176 hätte sich sonst sicher nicht auf ein so unsicheres Unternehmen eingelassen. Die Gesandten kamen spätestens am 15. Februar in Krakau an. 1 7 7 Die Danziger Abgesandten, wiederum Wilhelm Jordan und dazu Johann Meydeburg, trafen einige Tage später, erst am 18. Februar, in Krakau ein. 178 Der Grund für ihre Verspätung ist nicht bekannt, jedoch sind die Danziger nicht, wie oft angenommen wurde, 179 erst nachträglich aufgebrochen, sondern sie traten gleichfalls am 10. Februar von Thorn aus die Reise an. 1 8 0 Aus dem späteren Eintreffen der Danziger in Krakau kann daher auch nicht, wie Werner das tut, geschlossen werden, Danzig habe sich zunächst geweigert, an der Gesandtschaft zum polnischen König teilzunehmen. Allerdings hatte sich Danzig an den Vorverhandlungen mit Polen nicht beteiligt, und es ging auch jetzt mit Vorsicht zu Werke und gab seinen Bevollmächtigten nach Krakau, wie vorher nach Wien, wieder besondere Instruktionen mit. 181 Ihr Inhalt ist nicht bekannt, er läßt sich aber teilweise wenigstens rekonstruieren. 173

Vgl. P. Simson, Danzig

S. 82. Kaspar Schütz, Historia

im 13jährigen rerum

Kriege,

Prussicarum,

S. 1 6 ; R . Grieser, Hans

von

Baysen,

Leipzig 1599, fol. 196, berichtet, die Stände

hätten außer König Kasimir von Polen auch König Ladislaus von Böhmen und Ungarn und König Christian von Dänemark in engere Wahl gezogen. 174

Zu dieser Gesandtschaft vgl. P. Simson, Danzig

175

Act. d. St. IV, N r . 200.

176

Baysen hatte sich übrigens im Herbst 1452 wie Danzig darum bemüht, den Streit nicht

außer Landes kommen zu lassen {Act.

im 13jährigen

Kriege,

S. 18.

d. St. III, N r . 227 u. 252), und machte noch am

25. Januar 1454 dem Hochmeister Vorwürfe, daß er damals auf seinen R a t nicht gehört habe (Act. d. St. IV, N r . 159). 177

Act. d. St. IV, N r . 207.

178

A. a. O., N r . 234.

179

So P. Werner, Pr. Hansestädte,

180

Vgl. Act. d. St. IV, N r . 200 u. 1 9 2 ; M. Toeppen, Act. d. St. IV, S. 383. Die Verspätung

S. 164 f.

der Danziger kann daher nur dadurch verursacht worden sein, daß sie entweder aus ungeklärten Gründen einen anderen Weg als die übrigen Bundesgesandten gewählt haben oder aber aus ebenso ungeklärten Gründen unterwegs aufgehalten worden sind. 181

Act. d. St. IV, N r . 192 u. 200.

33

U R S A C H E N DES ABFALLS D A N Z I G S V O M D E U T S C H E N O R D E N

Die erste Audienz beim König hatten die Bundesgesandten am 20. Februar. 182 Sie begründeten ihr Angebot erstens mit dem Widerstandsrecht und zweitens mit dem angeblichen Recht des Königs auf gewisse Länder Preußens (Pommerellen, Kulmerland und Michelau). Dabei haben die Preußen mehr das Widerstandsrecht, die Polen mehr das Anrecht des Königs in den Vordergrund geschoben.183 Uber die Bedingungen der Unterwerfung unter die Oberhoheit des polnischen Königs wurde lange verhandelt. Schwierigkeiten machten namentlich die Danziger Abgesandten. Das Zögern der Danziger hat man als prinzipielle Abneigung gegen Polen gewertet, 184 ja, man hat sogar daraus geschlossen, die Sendeboten Danzigs hätten in den bereits erwähnten, uns nicht überlieferten Instruktionen den Auftrag erhalten gehabt, einen Abschluß mit Polen grundsätzlich zu verhindern. 185 Die Quelle, die uns über das Verhalten der Danziger Vertreter in Krakau unterrichtet und die zu besagten Folgerungen Anlaß gegeben hat, stellen jene beiden berühmt gewordenen Briefe der Danziger Abgesandten vom 3. und 4. März aus Krakau dar. 186 Fragen wir zuerst, ob es zutrifft, daß die Gesandten Danzigs den Auftrag gehabt hätten, ein Übereinkommen mit Polen grundsätzlich zu verhindern. Um diese Frage zu beantworten, wollen wir, bevor wir uns den beiden Briefen zuwenden, zunächst noch ein anderes Dokument zu Rate ziehen. Es handelt sich um einen Brief des Danziger Rates an die in Thorn weilenden Vertreter des Bundes. Der Brief 187 ist am 17. Februar verfaßt, also zu einer Zeit, als der Rat seine Instruktionen an die Gesandten bereits abgeschickt hatte 188 und die Briefe vom 3. und 4. März aus Krakau noch nicht geschrieben waren. Da die Sendeboten zum polnischen König geschickt seien, schreiben die Danziger Ratsherren, „umme die ding mit seynen gnaden [dem König] vortan zcu beschlyssen und zcu vullenzcyhen", so bäten sie, die in Krakau anwesenden Bundesvertreter anzuweisen, wenn „sie irs dinges mit dem hern koninghe eyns" würden, dafür zu sorgen, daß der König mit wenig Volk ins Land komme. Aus diesen Äußerungen des Danziger Rates geht hervor, daß man in Danzig mit einem Abschluß in Krakau durchaus rechnete. Mit keinem Wort 182

P. Simson, Danzig

183 y g i Nr. 290. 184

zu

cJem

im 13jährigen

So E. Weise, Widerstandsrecht,

185

So P. Simson, Danzig deutsche Ritterorden, S. 40.

3

Kriege, S. 19, Anm. 4.

Angebot E. Weise, Widerstandsrecht,

im

S. 205 ff. und Staatsverträge

S. 210 u. P. Werner, Pr. Hansestädte, 13jährigen

Kriege,

Act. d. St. IV, Nr. 237 u. 239.

187

A. a. O., Nr. 209.

188

Das war am 11. Febr. geschehen (Act. d. St. IV, Nr. 192).

Jahrbudi 13/14

S. 164 f.

S. 19 u. W. Recke, Danzig

186

II,

und

der

34

JOSEF LEINZ

verraten die Danziger Ratsherren irgendeine Abneigung gegen einen Vertrag mit Polen. Das ist um so erstaunlicher, als die Ratsherren im selben Schreiben von gewissen sehr weitgehenden, neuen Angeboten des Hochmeisters berichten. Des Hochmeisters Bruder Jürgen sei in Danzig gewesen, teilen sie den Bundesvertretern in Thorn mit, und habe im Namen des Hochmeisters zugesagt, den Bund zu belassen, den jährlichen Richttag zu halten und allen Beschwerden in großzügiger Weise abzuhelfen; ja, der Hochmeister wolle auf Wunsch der Stände sogar zurücktreten und es den Ständen überlassen, einen neuen nach eigenem Gutdünken zu wählen. Dies alles ist wieder mit sachlichen, nüchternen Worten vorgetragen. Es ist nichts zu spüren von einem Versuch, die Bundesvertreter für diese neuen Angebote des Hochmeisters zu gewinnen. Man habe, heißt es am Schluß, auf das Angebot geantwortet, daß man allein darüber nicht entscheiden könne, aber „landen und steten" berichten wolle und deren Entschluß dem Hochmeister mitteilen werde. Und nun bitte man um eine Antwort. Gewiß, die Danziger wären wohl, getreu ihrer bisherigen Haltung, die letzten gewesen, die Verhandlungen abgelehnt hätten, wenn der Bundesrat sich dazu entschlossen hätte. Aber man stelle sich vor, dieselben Ratsherren, die sowohl über die Verhandlungen in K r a k a u als auch über das neue Angebot des Hochmeisters mit so nüchternen, leidenschaftslosen Worten sprechen, sollen einige Tage früher ihren Gesandten zum polnischen König die Weisung erteilt haben, ein Ubereinkommen mit Polen von vornherein zu hintertreiben. Hätten sie in diesem Falle die Prüfung des Angebotes nicht dringend anraten, wärmstens empfehlen müssen? Hätten sie nicht, gerade da ihnen neue, so entgegenkommende Zugeständnisse von seiten des Ordens vorlagen, von einer Verbindung mit Polen nachdrücklich abraten müssen? Nichts von beidem ist geschehen. Die ruhige, nüchterne Stellungnahme des Rates zu diesen Fragen zeigt vielmehr, daß man sich in Danzig noch nach keiner Seite hin ganz festgelegt hatte und sowohl ein Abkommen mit Polen als auch eine Verständigung mit dem Orden als möglich ansah. D a ß in den Instruktionen der D a n ziger Gesandten in K r a k a u die Weisung gestanden haben soll, eine Verbindung mit Polen zu verhindern, ist also schon hiernach höchst unwahrscheinlich. Recke, der diese Meinung vertritt, zitiert keine Quelle. Simson dagegen, der ihr ebenfalls anhängt und vielleicht Recke beeinflußt hat, beruft sich auf den Brief der Danziger Sendeboten vom 4. März. Welche Stelle dieses Briefes er dabei im Auge hat, ist nicht zweifelhaft. Danzigs Ratsherren haben auch den beiden Gesandten in Krakau, Wilhelm Jordan und Johann Meydeburg, das Angebot des Hochmeisters mitgeteilt, worüber sie am 17. Februar nach

U R S A C H E N DES ABFALLS D A N Z I G S V O M DEUTSCHEN O R D E N

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Thorn berichtet hatten. Jordan und Meydeburg bestätigen den Empfang des Briefes und bedauern, daß man sie über das Angebot des Hochmeisters zu spät in Kenntnis gesetzt hat. Denn als die Nachricht gestern, am 3. März, angekommen sei, seien sie mit dem Reichsrat „in der beslutunge unser saken" gewesen. Aber wäre der Brief, so fahren sie fort, acht Tage eher gekommen, „et solde nowe syn, off w y Pollensz weren worden, wente w y it kegen de stede und lant hebben geholden lenk den 8 dage, und is noch na unsen willen nicht gegan". Der nervus rerum dieser Stelle liegt zweifellos in den Worten: „ . . . w y it kegen de stede und lant hebben geholden lenk den 8 dage". Sie haben also etwas (it) länger als acht Tage gegen Land und Städte gehalten oder besser: sie haben sich in etwas länger als acht Tage gegen Land und Städte behauptet. Engen wir weiter ein und fragen: Was ist dieses Etwas, worin haben sie sich behauptet? Simson und Recke meinen offenbar, es beziehe sich auf ihre Instruktion, den Anschluß an Polen gegen die Absicht der übrigen Bundesvertreter zu vereiteln. Das scheint zunächst plausibel. Aber sehen wir zu, was sonst noch in dem Briefe steht. Die Sendeboten schreiben, sie hätten sich länger als acht Tage gegen Land und Städte behauptet, und es sei noch nach ihrem „willen" nicht gegangen. Das heißt doch, ihr Wille, nach dem es nicht gegangen ist, w a r der Grund des „Sich-Behauptens" gegen Land und Städte. Somit ist der Inhalt ihres Willens zugleich der Inhalt des „it", dessen also, worin sie sich zu behaupten hatten. Können wir erfahren, was der Inhalt ihres Willens war, so wissen wir auch, worin sie sich gegen Land und Städte behauptet haben. Und wir erfahren es in der Tat, wir brauchen nur weiterzulesen. Nachdem die Sendeboten festgestellt haben, daß es nach ihrem Willen nicht gegangen sei, fahren sie fort: Man habe ihnen sowohl in Danzig als auch in Thorn versichert - Land und Städte hatten das getan - , daß ihnen alles, was sie begehrten, zugestanden würde, aber „leven heren, it is dar vern va". Denn der König habe alle Wünsche im Hinblick auf die Freiheit der Städte bis zu seiner Ankunft in Preußen zurückgestellt und wolle dann alles regeln, und „dar sy w y vast untkegen gewest, mer et heft uns nicht gehalpen". Nun wissen wir, was nicht nach ihrem Willen gegangen war, worin sie sich gegen Land und Städte behauptet hatten. Sie waren dagegen, mit dem König eine Verbindung einzugehen, ohne daß dieser zugleich die gewünschten Freiheiten und Privilegien bestätigte. 189 Auf das Versprechen des Königs, das bei 1 8 9 Daß der König die Städte bei den bis dahin besessenen Freiheiten und Privilegien beließ, ist selbstverständlich. Das wird in der sog. Inkorporationsurkunde vom 6. März auch ausgesprochen ( S t a a t s v e r t r ä g e II, Nr. 292). Es handelte sich hier bei den Forderungen Danzigs natürlich um Verbesserung und Erweiterung der Privilegien.

3*

36

JOSEF LEINZ

seiner Ankunft in Preußen zu tun, wollten sie sich nicht einlassen. Land und Städte dagegen waren trotzdem zu einem Abschluß bereit, und ihnen mußten sich die Danziger beugen. „ . . . alle dat wy gedan hebben, dat hebbe wy moten doen dorch lant und stede", beteuern sie. Noch deutlicher aber als in dem Brief vom 4. März wird der Sachverhalt in dem Brief der Danziger Gesandten, den sie einen T a g früher, am 3. März, an den Danziger Rat geschrieben haben. Hätten Simson und Recke recht, 190 müßte auch hier etwas von einer grundsätzlichen Weigerung gegen eine Verbindung mit Polen zu spüren sein. „Alzo", schreiben sie, „sy wy in velem handel gewest, alzo dat uns alle saken nicht na unsem sin gan werden." Denn der König habe „allerley begerunge der lande und stete, ere fryheit to vorbetern, upgeschoven bet int land to Pruszen . . . In dissem sulven artikel misdunket uns sere, dat et wil wyde gan ut juwer bevelinge, wente wi uns besorgen, dat wy moten ede, zweringe und sekeringe doen up slichte gelovede, dat wy nicht gerne don werden, wo wy des enygen ummegank hebben mögen"; und weiter: „Wy hebben mangerley vordrit, upstol und wedderwillen gehat . . . , wente lant und stede hebben sie darin gegeven ane wy." Aus diesen Worten erfahren wir alles, was wir zu wissen begehren. Die Verhandlungen verlaufen nicht zur Zufriedenheit der Danziger, denn der König will die Verbesserung der Privilegien bis zu seiner Ankunft in Preußen hinausschieben. Dagegen setzen sie sich zur Wehr, aber sie zweifeln schon am Erfolg ihres Widerstands, denn Land und Städte, mit denen sie deswegen Auseinandersetzungen hatten, haben sich damit abgefunden, auch ohne Privilegierung in den Vertrag einzuwilligen. Deutlicher als es hier geschieht, kann gar nicht ausgesprochen werden, in welchem Sinne Danzigs Vertreter gegen Land und Städte Widerstand geleistet haben, nämlich im Zusammenhang mit der Privilegierung. Hier, am 3. März, hatten die Danziger noch nicht, was am 4. März bereits geschehen war, dem Vertrag zugestimmt. Aber das Problem ist in beiden Briefen dasselbe: die ungelöste Privilegienfrage. Ihre befriedigende Lösung war die Bedingung Danzigs für die Unterwerfung unter die Oberhoheit des polnischen Königs. Damit wissen wir eigentlich schon, was in den Instruktionen des Danziger Rates für seine Sendeboten zu König Kasimir gestanden haben muß. Aber wir 1 9 0 Zwar leugnen auch Simson und Recke nicht, daß die Danziger in K r a k a u um die Verbesserung ihrer Privilegien gekämpft haben. Aber das Ringen um die Privilegien setzt ihrer Meinung nach erst ein, nachdem die angeblichen Bemühungen der Danziger, eine Verbindung mit Polen überhaupt zu verhindern, gescheitert sind, sozusagen als zweite Phase der Verhandlungen. Der Widerstand der Danziger gegen L a n d und Städte ist damit für sie ein Widerstand gegen deren Absicht, sich der polnischen Oberhoheit zu unterwerfen, nicht bloß ein Widerstand dagegen, sich der polnischen Oberhoheit ohne befriedigende Lösung der Privilegienfrage zu unterwerfen, wie es hier gedeutet wird.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

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brauchen gar nicht zu konstruieren, denn die Sendeboten teilen es uns ohnehin mit, wir müssen nur noch einmal in den zitierten Text aus dem Brief vom 3. März schauen. Den Sendeboten „misdunket . . . sere dat et [d. h. in der Privilegienfrage] wil wyde gan ut juwer bevelinge, wente wi uns besorgen, dat wy moten ede, zweringe und sekeringe doen up slichte gelovede". Ihre Instruktion („bevelinge") hatte also gelautet, sich in der Privilegienfrage nicht auf unverbindliche Versprechungen („up slichte gelovede") einzulassen, sondern die Bestätigung der geforderten Privilegien und Freiheiten zur Bedingung für den Abschluß des Vertrages zu machen. Um die politisch-wirtschaftliche Freiheit ihrer Stadt hatten die Danziger mit dem Orden jahrzehntelang erbittert gerungen und sich schließlich ganz vom Orden losgesagt. Was, so mußten sie sich fragen, war denn nun am Ende gewonnen, wenn alles beim alten blieb? Deshalb wollten sie durch eine Erweiterung der Privilegien dafür sorgen, daß ihre Stadt unter Polen nicht schließlich genauso eingeengt wurde wie unter der Herrschaft des Ordens. Das war eine konsequente Haltung, die mit einer grundsätzlichen Weigerung gegen einen Vertrag mit Polen nichts zu tun hatte. Die Danziger mußten sich, da ihre Verbündeten sie im Stich gelassen hatten, schließlich der Macht der Verhältnisse beugen. Als die Sendeboten am 4. März ihren Brief an den Rat aufsetzten, war dies bereits geschehen. Sie waren mit dem, was sie erreicht hatten, alles andere als zufrieden. In dieser Situation erhielten sie Nachricht von ihren Ratskollegen aus Danzig über die neuen, weitgehenden Angebote des Hochmeisters. Was ist unter diesen Umständen Verwunderliches daran, wenn sie nun, die ohnehin immer am meisten zu Verhandlungen mit dem Orden bereit gewesen waren, in ihrem Antwortschreiben vom 4. März feststellen, daß sie sich alles noch einmal überlegt hätten, wenn der Brief mit den weitgehenden Angeboten des Hochmeisters eher eingetroffen wäre? Daß sie aber von dem neuen Angebot des Hochmeisters erst so spät erfuhren, hatten sie dem Rat in Danzig zu verdanken, der es wahrlich nicht eilig hatte, ihnen davon Mitteilung zu machen. Der Danziger Rat hatte, wie wir gesehen haben, am 17. Februar an die Vertreter in Thorn über eben dies Angebot des Hochmeisters berichtet. Die Bundesgesandten zum polnischen König hatten für ihre Reise von Thorn nach Krakau rund fünf Tage benötigt. Sie waren am 10. von Thorn aufgebrochen und befanden sich jedenfalls am 15. Februar bereits in Krakau. Ein Bote von Danzig nach Krakau hätte höchstwahrscheinlich den Weg über Thorn gewählt. Die Strecke von Danzig nach Thorn entspricht ungefähr der Hälfte der Strecke von Thorn nach Krakau. Ein Bote von Danzig aus hätte also Krakau bequem in acht Tagen erreichen können. E r hätte also den dortigen Danziger Gesandten, wenn er am 17. Februar von Danzig aufgebrochen wäre, am 24. oder 25. Februar die Nachricht über

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das neue Angebot des Hochmeisters überreichen können, früh genug, um diesen damit sowohl gegen den König als auch gegen die übrigen Bundesvertreter ein willkommenes Drudsmittel in die Hand zu geben. Statt dessen erhielten Jordan und Meydeburg die Information erst am 3. März. Der Rat hatte sich Zeit gelassen. Das aber wäre unverzeihlich gewesen, wenn er seine Gesandten in Krakau angewiesen gehabt hätte, eine Unterwerfung unter die Oberhoheit König Kasimirs zu verhindern, denn er hätte ihnen damit eine wichtige Information für die Erfüllung ihres Auftrages unnötig lange vorenthalten. Daß die Gesandten diese Information ohnehin hätten zum Vorteil der Stadt gut benutzen können, um ihren Privilegienforderungen Nachdruck zu verleihen oder sich eventuell, wenn der König nicht nachgab, ganz aus einer Verbindung mit Polen herauszuhalten, wußten die Ratsherren in Danzig nicht oder erfuhren davon zu spät. Uns aber zeigt die Langsamkeit, mit der der Danziger Rat die Weiterleitung der neuen Zugeständnisse des Hochmeisters an seine Gesandten beim polnischen König betreibt, noch einmal, daß Danzig nicht im Sinne hatte, den Anschluß an Polen grundsätzlich zu verhindern. Durch den Beweis, daß Danzigs Gesandten nicht in der Absicht nach Krakau gegangen waren, die Verhandlungen mit dem König grundsätzlich zu hintertreiben, ist auch die andere Folgerung, die man aus dem Widerstand der Danziger in Krakau ziehen zu müssen glaubte, daß nämlich darin eine prinzipielle Abneigung 191 gegen Polen zum Ausdruck komme, gleichfalls schon entkräftet. Danzig hatte allerdings kein Interesse an einem Anschluß an Polen, wenn es seine Stellung dadurch nicht verbessern konnte. Es war daher immer noch bereit, sich gegebenenfalls mit dem Orden zu einigen. In dieser Haltung brachte Danzig so recht zum Ausdruck, daß es sich in seinem Tun und Lassen weder durch besondere Rücksichten auf den Orden noch durch Neigung zu bzw. Abneigung gegen Polen bestimmen ließ, sondern allein das Wohl und Wehe seiner selbst zum Prinzip seiner Handlungen machte. Dieses, um es mit einem modernen Begriff zu sagen, lokalpatriotische Denken einerseits und die nur lose Bindung an Orden und Ordensstaat andererseits - beides trat in Krakau klar zutage - sind nicht zu unterschätzende Erscheinungen, die den Danzigern sozusagen von innen her den Weg für den Abfall vom Orden frei machten. 191

Was es mit der vielberufenen Abneigung Danzigs gegen Polen auf sich hat, zeigt auch

die Haltung des Danziger Ratsherrn Markwart Knake. Knake, der im Auftrage des Bundes und der Stadt Danzig im Frühjahr und Sommer 1454 in Lübeck weilte, machte von dort aus dem Danziger R a t den Vorschlag, dem polnischen König nicht zu huldigen und sich ganz auf eigene Füße zu stellen, da er gerüchteweise von hochgeschraubten Forderungen des Königs bei dessen Erscheinen in Preußen gehört hatte. Als Knake aber erfuhr, daß der König sich keineswegs unmäßig gezeigt und der Stadt auch schon Privilegien erteilt hatte, wurde er mit Freuden „polnisch" (SS. rer. Pruss.

IV, S. 641 f.).

U R S A C H E N DES ABFALLS D A N Z I G S VOM D E U T S C H E N O R D E N

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Und wenn Danzig, vor allem vor dem Abfall, immer eine friedliche Einigung mit dem Orden wünschte, so doch wohl hauptsächlich deshalb, weil es sich von einer kriegerischen Auseinandersetzung selbst kaum Vorteile versprechen konnte. Der durch den Abfall ausgelöste langjährige Krieg hat die Richtigkeit dieser Überlegung erwiesen. Die Bedingungen, unter denen Danzig bereit war, sich der polnischen Oberhoheit zu unterwerfen, wurden in Krakau nicht erfüllt. Nichtsdestoweniger machte die Stadt, von den obwaltenden Verhältnissen dazu gedrängt, den Anschluß an Polen mit. Auf diese Weise tat Danzig wie beim Abfall vom Orden noch einmal einen schicksalhaften Schritt, zu dem es sich nur halb in freier Wahl entschloß und zu dem es halb von Kräften, die seinem Willen nicht gehorchten, gezwungen wurde. Die übrigen Vertreter der Stände konnten sich mit den vorerst gemachten Zugeständnissen des Königs zufriedengeben, die in der Hauptsache den Status Gesamtpreußens betrafen, aber immerhin so bedeutend waren, daß sie die entscheidenden Merkmale einer Autonomie enthielten. 192 Die wesentlichsten Forderungen der Ritterschaft waren damit ohnehin erfüllt. Thorn als die zweitgrößte Stadt im Bunde mochte es schon als großen Gewinn ansehen, daß der König in einer besonderen Urkunde die Stadt Nessau, eine lästige Handelskonkurrentin Thorns, abzubrechen versprach. 193 Die Städte Kulm und Elbing waren wirtschaftlich so unbedeutend geworden, daß sie sich durch eine Belebung des Handels mit Polen, wie übrigens auch Thorn, nur Vorteile versprechen konnten. Sie hatten zusammen mit Thorn und der Kulmer Ritterschaft ohnehin schon vor dem Abfall vom Orden mit Polen sympathisiert. Danzig, dessen handelspolitische Bedeutung im Uberseeverkehr lag und das, wenn es seinen früheren Handelsumfang unter Ludwig von Erlichshausen auch nicht hatte halten können, 194 trotz allem auch jetzt noch über großen Wohlstand verfügte, hatte in der Tat am ehesten Grund, mit Vorsicht zu Werke zu gehen. Es wollte in Krakau nicht nur das Interesse Preußens, sondern in erste Linie als mächtige, selbstbewußte und reiche Handelsstadt das eigene Interesse gewahrt sehen. Danzig hat dann aber doch den in Krakau einmal eingeschlagenen Weg unbeirrt verfolgt und seine dort vorgebrachten Wünsche später auch erfüllt bekommen. Die ersten Privilegien gewährte der König schon am 16. Juni 1454, die Hauptprivilegien allerdings erst im Mai 1457.195 Und erst dann, als 192

Vgl. E.Weise, Widerstandsrecht,

193

Staatsverträge

II, Nr. 293.

Th. Hirsch, Handelsgeschichte, 195

S. 213; Staatsverträge

E. Weise, Widerstandsrecht,

S. 65. S. 221, Anm. 3.

II, Nr. 292.

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JOSEF LEINZ

der König die Hauptprivilegien erteilte, war auch Danzig bereit, die 1454 versagte Huldigung nachzuholen.196 Die Frage der Selbstkonstituierung hat Werner 197 im Hinblick auf die preußischen Städte insgesamt gestellt. E r vertritt dabei mit Recht die Meinung, daß derartige Pläne in den übrigen preußischen Städten 1454 überhaupt nicht und für Danzig nur sehr bedingt in Frage kamen. Die Städte Thorn, Kulm und Elbing hatten ja auch schon vor dem Abfall eine Tendenz nach Polen erkennen lassen. In Danzig, so glaubt Werner, 198 habe die Absicht, sich selbständig zu machen, schon 1410/11 bei den Auseinandersetzungen mit dem Orden möglicherweise eine Rolle gespielt. Er stützt sich auf eine Äußerung des Fortsetzers Johann von Posilges und auf einen Brief des Hochmeisters an Lübeck. Posilges Fortsetzer schreibt: „Und hattin is also vor [die Danziger], weide sy der ordin gar sere dringin, sy weidin anruffin ander seestete um hulffe und wen sy vermachtin." 199 Der Brief des Hochmeisters entstammt ebenfalls jenen kritischen Tagen. E r ist an Lübeck gerichtet und enthält eine Rechtfertigung der Maßnahmen des Ordens gegen die Stadt Danzig und die Bitte: „ . . . yn [den Danzigern] keyne hülfe czu tunde". 200 Da es sich beide Male um Ordensquellen handelt, darf man annehmen, daß sie sich gegenseitig beeinflußt haben. Fest steht allerdings das eine, daß man im Orden ein Eingreifen der Hanse zugunsten Danzigs befürchtet hat. Es ist zwar wahrscheinlich, daß Danzig, weil es seine städtischen Rechte verteidigen zu müssen glaubte und dabei nun einmal mit dem Orden in Konflikt gekommen war, daran gedacht hat, von der Hanse, zumal es von den preußischen Städten im Stich gelassen worden war, Unterstützung zu erbitten. Es fällt aber schwer zu glauben, daß es in Danzig von vornherein einen Plan gegeben habe, sich mit Hilfe der Hanse ganz vom Orden frei zu machen. Dazu hätte es einer entschlossenen und nachhaltigen Hilfe bedurft. Danzig konnte aber eine solche von der Hanse nicht erwarten. In der Zeit des Abfalls vom Orden hat Danzig, wie ausgeführt wurde, oft seine Bereitschaft zur Beilegung des Zwistes geäußert. Es verlangte allerdings die Abstellung seiner Beschwerden. Da das nicht geschah, hielt es am Bund fest und löste sich schließlich ganz vom Orden, aber sogleich begannen auch die Verhandlungen mit Polen, an denen Danzig, als die Aufsage der Huldigung 196 197 198 199 800

A. a. O., S. 220 f. P. Werner, Pr. Hansestädte, S. 167 ff. A. a. O., S. 88. SS. rer. Pruss. III, S. 326. Brief des Hochmeisters vom März 1411 an Lübeck {SS rer. Pruss. IV, S. 397 f.).

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

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an den Hochmeister erfolgt war, sich sofort beteiligte. Mit den in Krakau erreichten Unterwerfungsbedingungen war Danzig nicht zufrieden. Deshalb hätten die Danziger Abgesandten, wenn sie rechtzeitig von den inzwischen gemachten Zugeständnissen des Hochmeisters erfahren hätten, lieber noch einmal mit dem Orden verhandelt. Man sieht, eine Lücke, die ein Bestreben Danzigs nach völliger Selbständigkeit ermöglicht hätte, gibt es nicht. Man löste sich vom Orden und ging sogleich nach Krakau, man war in Krakau unzufrieden und dachte sogleich wieder an Verhandlungen mit dem Orden. Hier ist nichts zu merken von einem Streben nach Selbstkonstituierung, es wird vielmehr deutlich, wie Danzig sich denjenigen Oberherren auszuwählen bemüht ist, der ihm die größere Freiheit unter seiner Oberhoheit zu garantieren verspricht. Ein Plan zur Selbstkonstituierung wäre auch unter den gegebenen Verhältnissen in der Tat unrealistisch gewesen. Die Stadt Danzig, obgleich die mächtigste unter den preußischen Städten, hätte sich zwischen Polen und Bund einerseits und Orden andererseits nicht halten können. Und auf auswärtige Hilfe konnte Danzig nicht rechnen. Die einzige Macht, von der man nicht, wenn sie Hilfe leistete, am Ende selbst unterjocht zu werden drohte, war die Hanse. Aber die Hanse dachte nicht daran, Danzig zu Hilfe zu eilen. Als der Danziger Ratsherr Markwart Knake im April 1454 im Auftrage seiner Stadt und der preußischen Stände nach Lübeck reiste, um dort Geld zu leihen und Söldner zu werben, versagte Lübeck jede Hilfe. 2 0 1 Man könnte einwenden, daß Lübeck unter einer anderen Konstellation, wenn etwa Danzig sich Polen nicht angeschlossen und einen Alleingang gewagt hätte, zur Hilfe bereit gewesen wäre. Aber auch das ist sehr unwahrscheinlich. Denn man darf nicht vergessen, daß der Kaiser in jedem Falle hinter dem Orden stand und sein Verbot an die westlichen Handelsstädte, den abtrünnigen Preußen Hilfe zu leisten, 202 so oder so Gültigkeit gehabt hätte. Es ist daher verwunderlich, wenn gerade Knake, der sich in Lübeck vergeblich um finanzielle Unterstützung bemühte, am 25. Juni 1454 an den Danziger R a t schreibt, man solle, wenn der polnische König zu hohe Ansprüche stelle — er habe gehört, dieser wolle das Schloß in Danzig wieder aufbauen 2 0 3 und den Pfundzoll wieder einführen - , sich waffnen und „ . . . nymande hulde; ik lede", fährt er dann fort, „mi dunken, wolde wi vri syn, id solde uns nu wol ge201

SS. rer. Pruss. IV, S. 639 f.

202

A. a. O., S. 641.

Danzig hatte das Ordensschloß sofort nach der Räumung durch den Orden abgebrochen, um so die erneute Festsetzung des Ordens in der Stadt als auch evtl. die des polnischen Königs zu verhindern (vgl. Th. Hirsch, SS. rer. Pruss. IV, S. 505). 203

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vallen; andere vrie stede hebben ok noot gehad, eer see to der vriheid quemen, begundes ding helped god". 2 0 4 D a ß hier an eine volle Verselbständigung gedacht ist, kann nicht bezweifelt werden. Allein der R a t in Danzig hat sich mit diesem Vorschlag niemals ernstlich befaßt. Auch stimmten die Voraussetzungen nicht, unter denen K n a k e seinen R a t erteilte. Was Knake über die Forderung des Königs gehört hatte, entsprach nicht, wie der R a t ja wußte, der Wahrheit. W i e Danzig sich verhalten hätte, wenn K n a k e in der T a t von richtigen Voraussetzungen ausgegangen wäre, kann niemand wissen. Jedenfalls hätte man auch dann noch mit dem Orden Verhandlungen aufnehmen können. Wenn Danzig am 16. Juni in der T a t dem König die Huldigung verweigert hat, 2 0 5 so ist das eine andere Sache. Erstens war zu dieser Zeit jener Brief Knakes noch gar nicht geschrieben, und zweitens hat sich Danzig damals keineswegs vom König zu lösen gesucht, vielmehr die Unterwerfung unter seine Oberhoheit anerkannt und sich zu gewissen Leistungen verpflichtet. Verweigert wurde lediglich die Huldigung, da Danzig seine Privilegienwünsche noch nicht erfüllt sah, das aber zur Voraussetzung machte. Einen wirklich ernsthaften Plan, die Stadt ganz auf eigene Füße zu stellen, hat es also in Danzig weder 1410/11 noch später in der Zeit des Abfalls vom Orden und der Unterwerfung unter die Oberhoheit des polnischen Königs gegeben. D a die Danziger aber immer nach möglichst viel Freiheit strebten, werden sie gewiß auch den Wunsch auf volle Eigenständigkeit gehabt haben. Doch waren sie offenbar klug genug, diesen Wunsch an den realen Gegebenheiten zu messen und seine Undurchführbarkeit einzusehen. Danzigs Abfall vom Orden ist zwar entscheidend von seinem Drang nach möglichst viel Freiheit und Unabhängigkeit innerhalb des Herrschaftsbereiches eines Oberherren mitverursacht worden, nicht aber von der Absicht, sich ganz und gar unabhängig zu machen. W i r haben bisher Danzigs Abfall vom Deutschen Orden von vier Gesichtspunkten her zu beleuchten versucht. Die Behandlung der Frage, ob etwa ein Plan zur Selbstkonstituierung eine Rolle gespielt hat, brachte kein positives Ergebnis. Sie mußte verneint werden. Auch das Verhältnis der Stadt zu Polen war nicht von der Art, daß die Danziger einen heftigen Wunsch, unter der Oberhoheit des polnischen Königs zu stehen, gehabt hätten, so daß sie davon beim Abfall vom Orden beeinflußt worden wären. Andererseits aber waren die Danziger auch nicht grundsätzlich gegen eine Verbindung mit Polen, und gerade in ihrer schwankenden, opportunistisch abwägenden Haltung zwischen dem polnischen König und dem Orden brachten sie zum Ausdruck, daß sie 204

SS. rer. Pruss.

206

Staatsverträge

IV, S. 641. II, N r . 302.

U R S A C H E N DES ABFALLS DANZIGS VOM D E U T S C H E N

ORDEN

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zum Orden nur eine lose Bindung empfanden und daher letztlich das Schicksal ihrer Stadt allein ihr Denken und Handeln bestimmte. Diesen Umstand haben wir als Mitursache für Danzigs Abfall vom Orden gewertet. Er macht die Wirkung jener unmittelbaren Ursachen für Danzigs Loslösung vom Deutschen Orden verständlicher. Es waren das die Verurteilung des Bundes durch den Kaiser, die völlig vergiftete Atmosphäre, wie sie während des Prozesses vor dem kaiserlichen Gericht nicht zuletzt durch das unbesonnene Verhalten der Ordensvertreter geschaffen worden war, und die radikalere Einstellung der Bundespartner zum Orden. Das alles wiederum muß auf dem Hintergrund jener bedeutenden und langjährigen Beschwerden gesehen werden, um derentwillen Danzig dem Bund beigetreten ist. Der Abfall Danzigs und des preußischen Bundes vom Deutschen Ritterorden ist für unser heutiges Denken und Fühlen aber vor allem deshalb so aufregend, weil 1454 deutsche Menschen deutsches Land polnischer Oberhoheit unterstellten. Die Frage ist, ob es im Fühlen und Denken der Menschen im Preußen jener Zeit ein nationales Bewußtsein gab, das sie von diesem Schritt hätte zurückhalten können. III Der Abfall der preußischen Stände wurde in der Geschichtsschreibung immer wieder als nationaler Verrat gebrandmarkt. 206 Wenn es aber richtig ist, die Ereignisse des Jahres 1454 vom nationalen Gesichtspunkt aus zu beurteilen, dann hatten die Polen gar nicht so unrecht, als sie sich 1954 auf Veranstaltungen vor allem in Danzig bemühten, das Handeln der preußischen Stände vor 500 Jahren als ein Bekenntnis zum polnischen Reich und zum Polentum 208

Simson hat sich schon 1891 dagegen gewandt und namentlich die Darstellungen bei

Voigt, Treitschke und C a r o zurückgewiesen (P. Simson, Danzig gemeint sind die Werke: J . Voigt, Geschichte Treitschke, Das Ordensland

Preußen,

Preußens;

im 13jährigen

J . Caro, Geschichte

Kriege,

S. 1 f.;

Polens;

H . v.

Hist. u. Polit. Aufsätze II). Nichtsdestoweniger kann

man auch in neueren Werken über die Ereignisse von 1454 im Ordensland Preußen so etwas wie nationale Entrüstung und nationale Scham finden. So charakterisierte Weise erst jüngst die Haltung der deutschen Forschung in dieser Frage und nicht minder seine eigene, wenn er sagt: „Die Forschung hat sich mit dem Geschehen des Jahres 1454 bisher ungern beschäftigt, offenbar weil man glaubte, es sei keine Ehre für die deutsche Sache dabei zu gewinnen. Das ist auch nicht der Fall; aber die genaue Kenntnis der rechtlichen und geistigen Grundlagen nimmt dem bitteren Vorwurf, der noch der Nachwelt aus diesen Irrungen deutscher Zwietracht entgegentritt, viel von seiner drückenden Schwere" (E. Weise,

'Widerstandsrecht,

S. 190). Anders als mit dem Gefühl eines verletzten nationalen Gewissens konnte auch das Urteil, das Grieser über Hans von Baysen fällt, nicht zustande kommen. „Aber mögen", so sagt Grieser, „die Fehler und Mißgriffe, die Schuld des Ordens noch so schwer wiegen, mag Baysens Weg dadurch auch verständlicher erscheinen, es kann doch gar keinem Zweifel unter-

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abzustempeln. 207 Heinz Neumeyer ist dem entgegengetreten, indem er darauf hinwies, daß die Gegensätze im Ordensstaat nicht nationaler, sondern politischer und wirtschaftlicher Natur waren und daß Preußen 1454 nicht ein Teil des polnischen Reiches, „sondern ein selbständiger Staat unter der polnischen Krone wurde". 2 0 8 Neumeyer wollte damit den Polen entgegenhalten, das geht schon eindeutig aus der Überschrift seines Aufsatzes hervor, die Stände hätten 1454, indem sie Preußen unter der Oberhoheit des polnischen Königs als autonomes Land erhielten, gerade umgekehrt ihre Anhänglichkeit an das Deutschtum bekundet. Das hat auch Werner schon betont, um damit dem Vorwurf jener zu begegnen, die die Stände des nationalen Verrates oder des nationalen Indifferentismus beschuldigen.209 Nun ist es gewiß richtig, nachdrücklich zu unterstreichen, daß bei dem Vertrag der preußischen Stände mit dem polnischen König die Eigenstaatlichkeit Preußens gewahrt wurde. Indessen dürften die Motive der preußischen Stände bei diesem Bemühen weniger nationalem Innteresse, im Sinne einer Idee des Deutschtums, als vielmehr dem allgemeinen Wunsch nach möglichst viel Freiheit und Unabhängigkeit entsprungen sein. Es hätte andernfalls den Ständen widerstreben müssen, bei ihrem Angebot an den polnischen König angebliche Rechte desselben auf gewisse Länder Preußens (Pommerellen, Kulmerland und Michelau) zu erwähnen. 210 Dergleichen wäre den Polen bei umgekehrter Sachlage damals nicht in den Sinn gekommen. Sie hatten nämlich bereits gut 100 Jahre früher ein natioliegen, daß hier ein ungeheuerlicher Verrat geschah, daß ein Treubruch erfolgte, der um so schärferen Tadel erfahren muß, als dem Abfall von der rechtmäßigen Herrschaft die Verbindung mit ihrem bittersten Feinde folgte" (R. Grieser, Hans von Baysen, S. 127). Grieser verlangt hier nicht weniger als ein Ausharren um jeden Preis, und diese Strenge ist zumindest mitgetragen von nationalem Pflichtgefühl. Welch unheilvolle Vermischung der Motive so verschiedener Jahrhunderte bedeutet es schließlich, wenn Recke von dem Verrat und der „ewigen Schuld", die die preußischen Stände 1454 auf sich geladen hätten, von dem Kampf, den „Deutsche . . . gegen Deutsche" damals auf Geheiß der Polen gekämpft hätten, spricht und dann mit nationaler Entrüstung auf die Bildung des polnischen Korridors im Jahre 1919 hinüberleitet (W. Recke, Danzig und der deutsche Ritterorden, S. 44). Vgl. Heinz Neumeyer, Auch 14}4 bekannte in: Göttinger Archiv 8 (1954), Nr. 24, S. 3 ff. 207

208

A.a.O.,

zum

Deutschtum,

S. 5 ; vgl. auch H . Neumeyer, 1454, ein Schicksalsjahr Westpreußens.

innerung an den Abfall S. 18 ff. 209

sich das Preußenland

vom deutschen

P. Werner, Pr. Hansestädte,

Orden

vor 500 Jahren,

Zur

Er-

in : Westpreußen-Jb. 1954,

S. 188.

Staatsverträge II, N r . 290, sog. „Rede" Hans von Baysens; vgl. ferner sog. „Nota" in: Act. d. St. IV, S. 31—33. Die Ansicht, daß Preußen ehemals zum polnischen Königreich gehört habe und daher mit Recht wieder an den polnischen König zurückfalle, wird von den Ständen auch später noch geäußert {Act. d. St. N r . IV, Nr. 302). 210

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

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nales Bewußtsein entwickelt, das den polnischen Zeugen Archidiakon Mathias von Plock in dem Prozeß zwischen dem Orden und Polen um Pommerellen im J a h r e 1339 behaupten ließ, Pommerellen gehöre zum Königreich Polen, da dort die gleiche Sprache gesprochen werde wie in Polen selbst. 2 1 1 D a ß die Gleichsetzung des Pommerellischen, Kaschubischen, mit dem Polnischen falsch ist, tut hier weiter nichts zur Sache; wichtig ist, daß hier die Sprache ein „nationalpolitisches Prinzip" darstellt. 2 1 2 I m J a h r e 1422, bei einem weiteren Prozeß, stützten sich die Polen wiederum auf diese nationale Beweisthese. Sie haben sie auch über 1454 hinaus beibehalten. Bei den im J a h r e 1464 durch die Bemühungen Lübecks zustande gekommenen Friedensverhandlungen zwischen dem Orden und Polen in Thorn haben beide Parteien ihren Anspruch auf Preußen zu bekräftigen gesucht. In der Fortsetzung Dettmars wird dazu berichtet, die Polen hätten dort ihren Anspruch mit der Behauptung begründet, daß „id [Preußen] were vormals ene herschop gewesen enes Polenschen heren, gheheten Lechte, darvan de Polan noch Lechiten worden ghenant in velen cronyken". 2 1 3 Aber noch besser wird man über die polnische Motivierung belehrt, wenn man die Nachweise der Ansprüche des Königs von Polen, die bei den gleichen Verhandlungen in Thorn den Lübischen Vermittlern schriftlich überreicht wurden, zu R a t e zieht. Neben der These von dem „primus parens et princeps Polonorun sive Lechitarum dictus Lech" kann man dort folgendes lesen: „In primis allegamus, proponimus et asserimus, quod terre predicte videlicet Pomeranie, Colmensis et Michalowiensis a primeva sui fundacione . . . et ex antiquissimo t e m p o r e . . . fuerunt et sunt locate et possesse per genus et lingwagium Polonicum . . . terras quoque ipsas eciam in hanc diem nacio, genus et lingwagium Polonicum colit et inhabitat." 2 1 4 Hier ist alles, nur eben noch deutlicher, wiederzufinden, was schon 1339 von Mathias von Plock ausgesprochen worden war, sogar der Irrtum von der gleichen Sprache in Pommerellen und Polen. Bedeutsam ist, daß der König Anspruch auf besagte Länder erhebt, 211 „Dixit eciam, quod una et eadem lingua est in Pomorania et Polonia, quia omnes homines communiter habitantes in ea locuntur polonicum, ut dixit et est notorium, quia omnes sciunt et nullus dubitai de regno Polonie ut dixit" (Lites ac res gestae inter Polonos ordinemque Cruciferorum I, Posen 2 1890, S. 163). Vgl. auch Zeuge 13, a. a. O., S. 201; ferner Erich Maschke, Das Erwachen des Nationalbewußtseins im deutsch-slaviscben Grenzraum (künftig zit.: Das Erwachen des Nationalbewußtseins), Leipzig 1953, S. 38, u. Anm. zu S. 38. 2 1 2 E. Maschke, Das Erwachen Anm. zu S. 39.

des Nationalbewußtseins,

Anm. zu S. 38, ferner S. 39 u.

Fortsetzung Dettmars, SS. rer. Pruss. IV, S. 669; vgl. auch J . Voigt, Gesch. Pr. VIII, S. 656. 213

214

Act.

d. St. V, Nr. 49, S. 136.

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„quod fuerunt et sunt locate et possesse per genus et lingwagium Polonicum". Und damit ist die Verbindung deutlich: Das von polnisch sprechendem Volk bewohnte Land ist polnisches Land und gehört als solches dem polnischen König. Daß hier nationales Denken herrscht, liegt klar auf der Hand, aber hätten die preußischen Stände 1454 ebenso gedacht, sie hätten in Krakau gewiß nicht von Rechten des Königs auf gewisse Länder Preußens gesprochen. Die Polen brauchten daran sicher nicht erinnert zu werden; deshalb haben die Stände dadurch auch weiter keinen Schaden angerichtet. Aber daß sie überhaupt von solchen polnischen Rechten auf preußisches Land sprachen, das ist das Merkwürdige. Sie zeigen dadurch, daß sie nicht gewohnt waren, in nationalen Bahnen zu denken, wie es die Polen nicht nur 1454 und 1464, sondern bereits 1339 getan haben. Aber nehmen wir, davon abgesehen, einmal an, die Stände hätten 1454 in nationaler Absicht darauf hingewirkt, die Selbständigkeit Preußens unter der polnischen Krone zu erhalten, wie Neumeyer und Werner meinen. Hätten sie damit dem nationalen Bewußtsein der Zeit, wie es anderswo vorhanden war, etwa im Deutschen Reich selbst, genügt? Oder ist nicht vielmehr auch schon die Unterwerfung unter die Oberherrschaft des polnischen Königs an sich, auch ohne Eingliederung ins polnische Reich, als nationale Verirrung aufgefaßt worden? Kein Geringerer als Nikolaus von Cues kann darauf eine Antwort geben. Zwar stammt sie nicht aus seiner eigenen Feder, aber sie ist überliefert bei Enea Silvio Piccolomini, dem späteren Papst Pius II., der als Italiener in dieser Sache ein glaubwürdiger Zeuge ist. Enea Silvio berichtet in seiner Schrift „De situ et origine Prothenorum" auch über den Regensburger Reichstag, wo im April 1454 über die preußischen Angelegenheiten beraten wurde. Über die Stellungnahme des Nikolaus von Cues zu dem Geschehen in Preußen hat er folgendes zu berichten: „Cardinalis quoque sancti Petri [Nikolaus von Cues] amarulento [Variante: acerbo] animo de tali novitate [in Preußen] locutus est, nationem Theutonicam pluribus verbis admonet, ne suam gloriam suumque decus amittat: Prusciam enim unicam esse terram ait, quam Theutones armis in alieno solo quesiverint: caveant ne id laudis perditum eat, si vel libertatem sibi civitates vindicent vel dominum ex alia natione asciscant [Variante: assistant]." 2 1 5 Diese Worte geben eine erstaunlich klare Antwort auf unsere Frage. Die Deutschen möchten wachsam sein und nicht ihren Ruhm und ihre Ehre gefährden, indem sie es zuließen, daß ihr Verdienst um die Erwerbung Preußens verlorengehe. Dies geschehe, wenn die preußischen Stände sich entweder 215

SS. rer. Pruss.

IV, S. 226 f.

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loslösten oder einen „dominus ex alia natione" erwählten. Die Wahl eines Herrschers in Preußen aus fremder Nation wird hier eindeutig als nationale Schande empfunden. Preußen ist ein von Deutschen mit Waffen erobertes Land, und es soll daher unter keinem Herrn fremder Nationalität stehen. Damit ist also die Wahl des polnischen Königs durch die preußischen Stände an sich von einem prominenten Zeitgenossen als nationale Verirrung gekennzeichnet. Und es war in Regensburg keineswegs Nikolaus von Cues allein, der diesen Standpunkt vertreten hat. Als der Führer der dort anwesenden polnischen Gesandtschaft, der Vizekanzler Jan Lutek von Brzeziny, wie ebenfalls Enea Silvio berichtet, von den vermeintlichen Rechten seines Königs auf das Ordensland Preußen sprach, konnten die anwesenden deutschen Herren kaum an sich halten, ihn nicht „mit den Nägeln zu zerfleischen". 216 Enea Silvio überliefert auch die Worte eines fränkischen Ritters, die dieser im Hinblick auf die Situation in Preußen auf dem Regensburger Reichstag gesprochen hat. Dieser „eques quidan Franco, homo minime malus" habe gesagt: „nescio . . . , quinam [Variante: quinam natura] homines Theutones sumus, iuris certe nostri atque communis boni desertores sumus: omnes que sua sunt querunt, nos regni nostri fines ac jura negligimus. Gallici pro iure corone sue pugnant, Anglici mori malunt quam de corone debito quicquam dimittant, Hungari bellum assiduum pro corona gerunt, Bohemi cum Saxonibus de limitibus corone ligitant, Poloni ad coronam suam spectare Prusciam dicunt. Et quid nos desides de nostra corona dicimus, et que oro corona est, cuius vel maiora vel digniora sunt jura? nemo corone nostre curam gerit: Corona excellens et sublimis est, sed nemo eam respicit, indefensa desertaque manet." 2 1 7 Die Rede ist ein flammender Aufruf an die Deutschen, die Grenzen und Rechte der deutschen Krone in Preußen zu verteidigen. Dabei werden der deutschen Nation in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Krone andere Nationen, die bereit seien, für die Rechte ihrer Krone zu kämpfen und zu sterben, gegenübergestellt und gewissermaßen als Muster nationalen Pflichtgefühls vor Augen geführt. Besonders deutlich und konkret wird die Anklage am Schluß, wo es heißt, die Polen sagten, Preußen gehöre zur polnischen Krone, und wo dann die Frage an die verräterischen Deutschen („nos desides") angeschlossen wird, was sie denn von ihrer Krone sagten. Man könnte meinen, das ist allerdings unwahrscheinlich, der Ritter habe damit auf den Hinweis der preußischen Stände in Krakau, die polnische Krone habe Rechte auf gewisse Teile Preußens, anspielen wollen. 216 217

A. a. O., S. 227 f. A. a. O., S. 229 f.

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Wie in den Worten des Nikolaus von Cues wird auch hier die Unterwerfung Preußens unter die Oberhoheit des polnischen Königs an sich als nationales Unglück und als nationale Schande empfunden. 218 Fassen wir zusammen. Wir gingen aus von der durch Neumeyer und Werner vertretenen Meinung, die preußischen Stände hätten in Krakau aus nationaler Verantwortung dahin gewirkt, das Land Preußen als Autonomie, wenn auch unter der Oberhoheit des polnischen Königs, zu erhalten. Und sie hätten damit jeder nationalen Forderung bewußt Genüge getan. Dagegen war einzuwenden, daß die Stände sich in Krakau nicht so verhielten, wie es nationalem Denken entsprochen hätte, da sie dort wie die Polen selbst von dem Recht des polnischen Königs auf Teile Preußens sprachen. Daß ein solches Verhalten ein nationales Bewußtsein aussdiließt, zeigte die Art und Weise, wie die Polen dies ihr angebliches Recht schon 1339 und dann zu wiederholten Malen begründeten. Sie, die ein nationales Bewußtsein hatten, sahen eine Rechtswidrigkeit darin, wenn polnisches Volk unter einer anderen Herrschaft als unter der des polnischen Königs stand. Die Auffassung, die preußischen Stände hätten in Krakau mit bewußtem nationalen Eifer ein autonomes Preußen ausgehandelt, wird ferner dadurch ad absurdum geführt, daß im Deutschen Reich selbst, soweit ein nationales Bewußtsein vorhanden war, auch eine solche Lösung keineswegs als vom nationalen Standpunkt aus vertretbar angesehen wurde. Dies haben nicht nur Nikolaus von Cues und jener fränkische Ritter, sondern alle auf dem Regensburger Reichstag anwesenden deutschen Herren unmißverständlich zu erkennen gegeben. Damit ist nicht nur die Meinung Werners und Neumeyers, die Stände hätten in Krakau bewußt jeder nationalen Forderung genügt, zurückgewiesen, wir haben auch zugleich einen Beweis gegen jene in die Hand bekommen, die die Stände umgekehrt des nationalen Verrats zeihen. Um aber noch deutlicher zu zeigen, daß die Stände ein nationales Bewußtsein nicht besaßen und ihnen deshalb auch der Vorwurf des Verrats am Deutschtum nicht gemacht werden kann, sollen noch weitere charakteristische Dokumente herangezogen werden, wobei mehr als bisher speziell Danzig zu berücksichtigen sein wird. Man hat im Zusammenhang mit der nationalen Frage vor allem immer wieder auf das Verhalten der Danziger in Krakau hingewiesen und sich dabei jener beiden Briefe der Danziger Vertreter vom 3. und 4. März bedient, die oben näher besprochen wurden. So sucht Weise, 219 indem er willkürlich aus dem Zusammenhang gerissene Stellen der beiden Briefe zitiert, den Eindruck zu erwecken, als hätten die Danziger sich in Krakau schlechthin gegen das 2 1 8 Vgl. auch eine weitere Äußerung des Nikolaus von Cues in dieser Angelegenheit: SS. rer. Pruss. IV, S. 230. 219

E . Weise, Widerstandsrecht,

S. 210.

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Polnisch-Werden gesträubt. Seine Motive dafür sind jedoch leicht zu durchschauen. Weise geht es an der genannten Stelle darum, die Rechtsbasis der Bundesvertreter durch den Nachweis zu erschüttern, daß es damals in Europa so etwas wie eine opinio communis gegeben habe, wonach es nicht erlaubt gewesen sei, bei der Wahl eines neuen Herrn auch den „Landesfeind" zu berücksichtigen. Er greift dabei auf das uns schon bekannte Wort vom „dominus ex alia natione" des Nikolaus von Cues zurück, und die Danziger sollen nun gewissermaßen das Beispiel für diese These aus den Reihen des Bundes selbst abgeben. Was es mit dieser These auf sich hat, kann hier an sich unberücksichtigt bleiben. Es ist jedoch zu bemerken, daß Nikolaus von Cues nicht von der Wahl eines „Landesfeindes" gesprochen hat, sondern allgemeiner von der Wahl eines Herrn „ex alia natione", also von der Wahl eines fremden, nichtdeutschen Herrn, wobei es nichts zur Sache tat, daß der gewählte Herr zufällig der polnische König war. Auch wollte er damit sicher nicht eine allgemeine, immer und überall geltende These aufstellen, sondern was er sagte, bezog sich auf die konkrete Situation in Preußen. Ihm war es in erster Linie gar nicht um die rechtliche Seite der Sache zu tun, sondern um den nationalen Ruhm der Deutschen. Für Nikolaus von Cues war es eine nationale Schmach, wenn das von Deutschen in Preußen eroberte Land unter die Herrschaft eines nichtdeutschen Fürsten kam. Nichts weiter läßt sich seinen Worten entnehmen. Als allgemein gültige These können sie nicht aufgefaßt werden. Was nun aber die Danziger angeht, so äußert sich Weise, ihre nationale Gesinnung betreffend, an anderer Stelle desselben Werkes noch deutlicher, wo er offenbar auf seine soeben besprochenen Ausführungen über Nikolaus von Cues anspielt. Er sagt dort hinsichtlich der späteren Position der Preußen unter Polen: „Wie sehr dabei besonders die Danziger auf die Erhaltung ihrer deutschen Nationalität bedacht waren, haben wir schon 1454 gesehen." 220 D a diese Ansicht, auch wo sie von anderen vertreten wird, 221 sich in der Hauptsache auf die schon so häufig zitierten Briefe der Danziger Gesandten aus Krakau stützt, können wir uns im wesentlichen auf das früher darüber Ausgeführte berufen. Es ist dort festgestellt worden, daß Danzigs Vertreter in Krakau sich nicht prinzipiell einem Anschluß an Polen widersetzten und daß sie vom Rat ihrer Stadt eine entsprechende Instruktion auch nicht erhalten haben konnten, sondern daß ihr Widerstand dem Wunsch nach Sicherung und Erweiterung ihrer Privilegien entsprang und dieses Bestreben sinnvoll war, 220

A. a. O., S. 291.

W. Recke, Danzig und der deutsche Ritterorden, städte, S. 188 f. 221

4

Jahrbuch 13/14

S. 40—44; P. Werner, Pr.

Hanse-

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wenn der Abfall vom Orden und die Unterwerfung unter einen neuen Herrn kein leeres Manöver bleiben sollte. Damit ist im Grunde auch schon die Ansicht widerlegt, die Danziger hätten den Anschluß an Polen aus nationalen Motiven verhindern wollen. Wenn Jordan und Meydeburg am 4. März dem Rat in Danzig schreiben: „ . . . et solde nowe syn, off wy Pollensz weren worden" — und zwar wenn das Angebot des Hochmeisters früher zu ihrer Kenntnis gelangt wäre — und an anderer Stelle desselben Briefes: „Wy hadden eyn wile wol gewolt, dat wy eyn halve mele over de grenzce gewest weren, wi wolden nummer in Polen wedder sie gekommen", 222 so drücken sie auch in diesen Worten mitnichten eine nationale Abneigung gegen Polen aus, sondern wollen damit nur ihre Unzufriedenheit mit den Bedingungen des Königs kundtun. Unter diesen Umständen, ohne Sicherung ihrer Freiheit, wären sie lieber nicht „Pollensz" geworden, ja, sie haben während der Verhandlungen deswegen gewünscht, erst gar nicht nach Polen gekommen zu sein. Genau diese Haltung bemerken wir auch an dem bereits mehrfach zitierten Danziger Ratsherrn Markwart Knake. Knake, da er von ungünstigen Bedingungen des polnischen Königs bei dessen Erscheinen in Preußen gehört hat, macht dem Rat in Danzig in einem Schreiben vom 25. Juni 1454 aus Lübeck sogar den Vorschlag, einen Alleingang zu wagen und niemandem zu huldigen. 223 Als er aber erfährt, daß das, was er über die ungünstigen Bedingungen des Königs gehört hat, nicht stimmt, wird er ohne Bedenken „Polens". 224 Wenn der Widerstand Danzigs beim Anschluß an Polen in der Tat nationalen Regungen entsprungen wäre, dann hätten diese auch später wieder zum Durchbruch kommen müssen. Aber nichts dergleichen geschieht. Danzig blieb den ganzen langen Krieg hindurch ohne Wanken an der Seite Polens. 225 Es war „einer erneuten Verbindung mit dem Orden . . . stets abgeneigt. Ein Aufstand, den der Kaufmann Martin Kogge im Oktober 1456 gegen den Rat anzettelte, brach sogleich kläglich zusammen, als seine Absicht, die Stadt dem Orden in die Hände zu spielen, bekannt wurde." 2 2 6 Auch die Danziger Chroniken, die über die Zeit des Abfalls und des Krieges berichten, sowohl die „Danziger Chronik vom Bunde" wie „Lindaus Geschichte des 13jährigen Krieges", lassen bemerkenswerterweise keine einzige nationale Regung erkennen. 222

Act. d. St. IV, N r . 239.

223

Vgl. oben, S. 41 f.

224

Knakes Schreiben vom 5. Juli 1954 (55. rer. Pruss. IV, S. 642).

225

Br. Schumacher, Gesch. Ost- und Westpreußens,

226

Erich Keyser, Danzigs

S. 135.

Geschichte, Danzig 1921, S. 66.

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Und auch nach dem Kriege machte Danzig nicht die geringsten Versuche, nationale Reue zu zeigen und sich wieder von der polnischen Oberhoheit zu lösen. Ernst Hoffmann hat vielmehr in einer Untersuchung über Danzigs Verhältnis zum Deutschen Reich in der Zeit von 1466 bis 1526 festgestellt, daß Danzig innerhalb dieses Zeitraumes zu wiederholten Malen jeden Versuch des Kaisers, es als Reichsglied zu behandeln, energisch abgelehnt hat, indem es auf die Oberhoheit des polnischen Königs hinwies. Hoffmann sagt zusammenfassend: „Seit dem Rechtsspruch vom 5. Dezember 1453 war für Danzig das Verhältnis zum Deutschen Reich gelöst, es hielt fest zum polnischen König." 2 2 7 Es war gewiß keine besondere Liebe zu Polen, was die Stadt zu solch ablehnender Haltung gegenüber dem Deutschen Reich veranlaßte. Aber sie hatte unter der polnischen Oberhoheit eine weitgehend selbständige Position errungen, und sie wünschte nichts, als diese zu behaupten. Wie schon in der Zeit des Abfalls vom Orden und der Unterwerfung unter die polnische Oberhoheit, ging es den Danzigern auch jetzt in erster Linie um das Wohl und Wehe ihrer Stadt, und unter diesem Gesichtspunkt fällten sie ihre politischen Entscheidungen. Nationale Gefühle, die sie hätten dazu bewegen können, in größerem Rahmen zu denken, verspürten sie auch jetzt, in der Zeit von 1466 bis 1526, offenbar nicht. Indem deutlich geworden ist, daß Danzig, dessen Vertreter sich in Krakau am meisten von allen Bundesgesandten unzufrieden gezeigt hatten, weder beim Anschluß an Polen noch während des Krieges, noch in der Zeit bis 1526 irgendwelche nationalen Prinzipien bei seinen politischen Entscheidungen zugrunde legte, können wir unserem früheren Beweis, daß die Bundesgesandten insgesamt bei der Unterwerfung unter die Oberhoheit des polnischen Königs kein nationales Bewußtsein hätten erkennen lassen, einen neuen hinzufügen. Wie aber wurden die Ereignisse von 1454 unter dem Gesichtspunkt der nationalen Frage im Orden selbst beurteilt? Die „Geschichte wegen eines Bundes", 228 die den Zeitraum von 1 4 4 0 - 1 4 6 2 behandelt und von einem treuen Ordensanhänger, der die Begebenheiten selbst miterlebt hatte, verfaßt wurde und gerade dadurch ein zuverlässiges Dokument darstellt, auch im Hinblick auf die herrschenden Denkweisen im Orden, 229 enthält nichts, woraus auf das Vorhandensein eines nationalen Bewußtseins geschlossen werden könnte. Redlich stellt gerade auch hinsichtlich der „Gesdbichte wegen eines Bundes" fest: „ . . . den aufständischen Ritterbünden wird von Seiten des Ordens wiederholt 227

Ernst Hoffmann, Danzigs

Diss. Halle 1910, S. 6 f.

4*

Verhältnis

228

SS. rer. Pruss. IV, S. 75 ff.

229

A. a. O., S. 73 f.

zum Deutschen

Reich in den Jahren

1466—1526,

JOSEF LEINZ

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Verrat gegenüber dem Landesherrn vorgeworfen, nie aber Verletzung deutschen Solidaritätsgefühls." 230 Auch die Art und Weise, wie der Orden seinen Anspruch auf Preußen begründete, verrät nichts von irgendwelchen nationalen Gefühlen. Auf die national motivierten Ansprüche des polnischen Königs 1464 in Thorn 2 3 1 entgegneten die Ordensvertreter mit rein rechtlichen Vorstellungen in einem umfangreichen Schriftstüdk. 232 Nationales Denken will Maschke 233 unter den preußischen Ständen 1465 bei der Tagfahrt auf der Nehrung 2 3 4 entdecken. Er beruft sich auf eine Äußerung Steffan Neidenburgs, damals Sekretär des Hochmeisters und Pfarrer zu Elbing. Bei dem Ringen um die Friedensbedingungen zwischen den teils auf der Seite des Ordens, teils auf der Seite des polnischen Königs stehenden Ständen sagte dort Neidenburg, zu den Anhängern des polnischen Königs gewandt: „ . . . uns duncket geratten, uff das wir uns nicht mengeten und mischeten mit der Wendischen [d. h. polnischen] natio und Undeutzschen, wen wir woll wissen, das es in den landen nymer wol steet, wo der Undeutzsche das regiment hot, also wir wol sehen in Littawen, Polen etc." 2 3 5 Beim ersten Lesen dieser Stelle könnte man in der Tat meinen, es handele sich um einen Ausspruch nationaler Gesinnung. Aber sehen wir näher zu. Daß die preußischen Stände zwischen Polen und Deutschen zu unterscheiden gewußt haben, ist selbstverständlich. Die Frage ist, ob die verschiedene Nationalität an sich in ihrem politischen Denken eine nicht zu überschreitende Grenze darstellte. Das eben ist nicht der Fall. Denn die Warnung vor der Vermischung mit den Undeutschen ist rein opportunistisch begründet: Es stehe in den Landen nimmer wohl, wo der Undeutsche das Regiment führe, wie man in Litauen und Polen beobachten könne. Es wird also nicht der Pole als Pole, sondern der Pole als einer, der ein schlechtes Regiment führt, abgelehnt. 2 3 0 Clara Redlich, Nationale 1934, S. 89. 231

Frage

und

Ostkolonisation

im Mittelalter,

Diss. Göttingen

Vgl. oben, S. 45 f.

Act. d. St. IV, Nr. 50; vgl. dazu auch die Fortsetzung Dettraars, SS. rer. Pruss. S. 669. 232

2 3 3 E. Maschke, Der deutsche Nationalgedanke Ostpreußische Erzieher 1937, S. 195.

in der Endzeit

des Ordensstaates,

IV,

in: Der

2 3 4 Im April und dann noch zweimal im August 1465 trafen sich die in Ordensanhänger und Anhänger des polnischen Königs gespaltenen preußischen Stände auf der Nehrung, um gemeinsam über einen möglichen Frieden zu beraten. Auszüge über diese drei Tagfahrten in Act. d. St. V, Nr. 5 7 — 6 0 ; die Recesse befinden sich in Poles Chronik, in: SS. rer. Pruss. V, S. 242—270, wonach hier zitiert wird.

235

SS. rer. Pruss. V, S. 266.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN ORDEN

53

Der nationale Charakter dieser Stelle muß auch von einem anderen Gesichtspunkt her verneint werden. Wenn Neidenburg hier wirklich national gedacht hätte, dann hätte er, da er vor der Vermischung mit den „Undeutschen" warnt, sich selbst und die preußischen Stände als Deutsche ansehen müssen. Doch belehrt er uns in derselben Rede, nur einige Sätze weiter, eines anderen. Die Anhänger des Bundes, die den Orden auf ein kleines Gebiet beschränken wollten, hatten außerdem zur Bedingung gemacht, daß der Orden künftig nur noch Inländer, also Preußen, aufnehmen sollte. Neidenburg geht darauf ein und sagt, der Hochmeister gestehe zu, „das ir mechtig sein solt inzcogelinge disses landes . . . in den orden zu kleiden, die denne volkomene macht haben solden gleich Deutzschen hern [d. h. Ordensritter aus dem deutschen Reich] zcu regiren". Die Stelle des Hochmeisters solle dann abwechselnd von einem Inländer und einem „aus Deutzschen landen" besetzt werden. Die Hälfte der Ordensmitglieder sollten „Preussen", die andere Hälfte aber weiterhin Ausländer sein, „uff das man ouch einen trost off Deutzschen landen haben mochte". 2 3 6 Hieraus folgt: Die preußischen Stände verstehen unter Deutschen Reichsdeutsche, sich selbst aber bezeichnen sie als „Preussen". 237 Somit stehen die „Undeutschen" in unserer obigen Stelle nicht im Gegensatz zu den preußischen Ständen, sondern im Gegensatz zu den Reichsdeutschen im Orden. Neidenburg will also sagen: Vertraut das Regiment in Preußen nicht den Undeutschen, den Polen an, sondern wie bisher den Deutschen, d. h. den reichsdeutschen Ordensrittern; denn wie die Polen regieren, das sehen wir ja in Litauen und Polen. In diesem Sinne hatten die Ordensanhänger unter den Ständen, die zuerst den Anschluß an Polen mitgemacht hatten, dann aber wieder zum Orden zurückgekehrt waren, schon vorher, ebenfalls auf der Nehrung, erklärt: „Umb des willen das es so ubel steet, wo der undeutzsche das regiment in den landen han, als ir das och wol wisset, wie es nu zcu Crokow stehet, degleichen in Littawen, Samayten etc., haben wir uns widder under den Deutzschen orden gegeben, wen er gar ein erbarlich regiment fürte . . . " 2 3 8 Aus den Worten Neidenburgs läßt sich also kein nationales, das Gesamtdeutschtum umfassendes Denken herauslesen. Vielmehr zeigen Neidenburg und die übrigen Ordensanhänger unter den Ständen durch ihre Äußerungen gerade umgekehrt, daß sie keineswegs aus nationaler Gesinnung auf der Seite des Ordens standen, sondern weil ihnen das Regiment der Polen nicht gefiel. 236

Ebd.

237

So auch a. a. O., S. 262.

238

A. a. O., S. 249.

JOSEF LEINZ

54

Was allerdings bei der Tagfahrt auf der Nehrung stark zum Ausdruck kam, das war ein preußisches Solidaritätsgefühl unter den Ständen, und zwar auf beiden Seiten. Neidenburg gab zu bedenken, daß sie (die Preußen) „eines gezcunges sein",239 und Gabriel von Baysen, der ebenfalls auf der Ordensseite stand, warnte: „Man nennet dis die Tagefahrt der Preussen. Ist es sadie das wir ane ende einander scheiden werden . . . , so ist es nymandes grosser schände denne unser und nymandes zcu freuden, denne unsern vorgonnern, neydern und der hoffeleute von beiden teilen." 240 Stibor von Baysen, der Gubernator, äußerte schon gleich anfangs den Wunsch, „das wir alle widder eins würden und für eine manschaft stunden und under einen herren quemen", wobei freilich für ihn nur der polnische König als Herr in Frage kam. 241 Und als beide Parteien sich gegenseitig Unnadigiebigkeit vorwarfen und sich beschwerten, daß man so zu keinem Ergebnis komme und man unter diesen Umständen am besten zu Hause geblieben wäre, warf der Danziger Bürgermeister Reinhard Nidderhoff die bewegenden Worte ein: „Wes schadet uns das! Wir sein auch lange nicht bey einander gewesen, nu mögen wir uns doch mit einander bereden und ansehen." 242 Der langjährige Krieg scheint bei den Ständen, die auf entgegengesetzten Fronten einander bekämpften, das Gefühl der Zusammengehörigkeit eher verstärkt als geschwächt zu haben. Aber es war dies ein preußisches und kein im Sinne des Deutschtums national ausgeprägtes Bewußtsein. Und auch dies preußische Bewußtsein war nicht von der Art, daß es die Oberherrschaft des polnischen Königs als Schande empfunden hätte. Wann und in welcher Weise unter den Ständen in Preußen das nationale Bewußtsein erwachte, kann hier nicht untersucht werden. Es mag hinreichen, festgestellt zu haben, daß sie in der Zeit des Abfalls vom Orden und der Unterwerfung unter die polnische Oberhoheit ein solches nicht besaßen, jedenfalls nicht in dem Grade, daß es ihr politisches Denken und Handeln entscheidend hätte beeinflussen können. In Danzig war das anscheinend mindestens noch bis 1526 nicht der Fall. Die Ereignisse des Jahres 1454 in Preußen unter nationalen Gesichtspunkten zu beurteilen und die preußischen Stände wegen ihres Abfalls vom Deutschen Orden und ihrer Unterwerfung unter die Oberhoheit des polnischen Königs des Verrats am Deutschtum zu zeihen, muß als verfehlt betrachtet werden. Es hieße das, sie f ü r etwas verantwortlich machen, wofür sie keine Verantwortung verspüren konnten. Aus denselben Gründen ist es geradezu 239 240 241 242

A. a. Ö., S. 262. A. a. O., S. 265. A. a. O., S. 247 f. A. a. O., S. 247.

URSACHEN DES ABFALLS DANZIGS VOM DEUTSCHEN O R D E N

55

unsinnig, im Anschluß der preußischen Stände an Polen ein Bekenntnis zum Polentum sehen zu wollen. Es genügt nicht zu wissen, daß Danzig und die Stände in Preußen bei den entscheidenden Ereignissen 1454 sich keiner nationalen Verantwortung bewußt waren, wir müssen auch zu erfahren suchen, was der Entwicklung eines nationalen Bewußtseins im Ordensland Preußen hindernd entgegenstand. Diese Frage empfiehlt sich um so dringlicher, als in Polen und sporadisch jedenfalls auch im Deutschen Reich zur gleichen Zeit das nationale Denken bereits mit bemerkenswerter Deutlichkeit hervorgetreten ist. Erich Maschke, der das Erwachen des Nationalbewußtseins im deutsdislawischen Grenzraum untersucht hat, kam zu dem Ergebnis, daß sowohl in Böhmen als auch in Polen schon in der Mitte des 14. Jahrhunderts eine nationale Bewußtseinsstufe erreicht war, in der „die Keime mehrerer Jahrhunderte voll ausgereift waren". 243 Im deutsch-böhmischen Grenzraum war man sich im 14. Jahrhundert auch auf deutscher Seite der völkischen Gegensätze bewußt. 244 Seine Untersuchung über die nationale Bewußtseinslage der beiden Missionsstaaten Livland und Preußen im 14. Jahrhundert schließt Maschke dagegen mit den Worten: „Soweit das Bewußtsein einer Verschiedenheit da ist, trennt es Heiden und Christen." 245 Damit ist ausgesprochen, was im preußischen Ordensstaate die Erfassung der nationalen Eigenheit erschwerte. Es war die Idee des Heidenkampfes, die die Menschheit in Christen und Heiden und nicht in Nationen teilte. Da Maschke seine Untersuchungen auf das 13. und 14. Jahrhundert beschränkt, bleibt die Frage, wie es sich mit der Wirksamkeit dieser Idee als hemmende Kraft auf die Ausbildung nationalen Selbstbewußtseins im 15. Jahrhundert verhielt, vor allem bis zum Abfall der preußischen Stände. Für die Idee des Heidenkampfes trat freilich schon Ende des 14. Jahrhunderts mit der Bekehrung Litauens (1386) eine wichtige Änderung ein. Sie war für den Orden, jedenfalls in Preußen, nicht mehr praktisch zu verwirklichen. Dennoch lesen wir in einem Brief des Hochmeisters Heinrich von Plauen an Lübeck aus dem Jahre 1411, die verlorene Schlacht bei Tannenberg gegen Polen und Litauen betreffend: „Ihr hobt lichte wol vernomen den grosen oberfall der heyden un der ungetrugen." 246 Und als die Polen 1415/16 auf dem Konstanzer Konzil versuchen, die Daseinsberechtigung des 243

E. Maschke, Das Erwachen des Nationalbewußtseins, S. 39. A. a. O., S. 44 f. 245 A. a. O., S. 41; vgl. audi Cl. Redlich, Nationale Fragen und Ostkolonisation telalter, S. 88 f. 246 SS. rer. Pruss. IV, S. 398. 244

im Mit-

56

JOSEF LEINZ

deutschen Ritterordens in Preußen durch Infragestellung des Gebotes zur Heidenbekämpfung — man dachte an die Goldene Bulle von 1226 — zu erschüttern, fühlte sich der Orden in seinem Wesen angegriffen. 247 Die Idee der Heidenbekämpfung war im Orden, theoretisch wenigstens, noch bis über die Zeit des Abfalls der Stände hinaus lebendig. Der polnische König schlägt Anfang 1455 dem Hochmeister Verhandlungen mit den abgefallenen Ständen vor. Der Hofjurist Laurentius Blumenau, zusammen mit anderen Bevollmächtigten, erklärt in einem Brief die Verhandlungsbereitschaft des Ordens und ermahnt am Schluß den König: „Betrachtet ouch, allir gnedigster könig, ap gote ichts annemer were gewest, das euwer und der unsern swerte hetten gesneten das vormeledeite blut der heiden . . ." 2 4 8 Auch die Stände wußten, wo sie den Orden am empfindlichsten treffen konnten. In dem genannten Schreiben waren vom Orden gegen die Stände verschiedene Anschuldigungen erhoben worden. In ihrer Antwort darauf an den König machen sie dem Orden ihrerseits den Vorwurf, den Ewigen Frieden (1422) mit Polen gebrochen und sich „mit herzcog Sweydergal von Littawen unde heyden" verbunden zu haben. Dadurch seien auch sie, die Stände, gezwungen worden, den Ewigen Frieden, den sie mit versiegelt hätten, zu verletzen und im Kampfe „herzcogk Sweydergallen und den heyden widder dy cristen, widder den konig zcu Polen und seyner crone . . . " zu helfen. 249 Wie sehr man an der Idee der Heidenbekämpfung festgehalten hatte, zeigt diese Stelle vor allem dadurch, daß die Litauer auch jetzt noch, und zwar sogar von den Ständen, als Heiden angesehen werden. 250 Der Orden klammerte sich krampfhaft an diese Vorstellung, wenn er sie auch zuweilen aus opportunistischen Gründen fallen ließ, und beeinflußte darin auch die Stände. Bei dem Versuch des Markgrafen von Brandenburg, im September 1455 zwischen dem König und dem Orden zu vermitteln, wurde der König daran erinnert, daß der Orden gestiftet sei, die Heiden zu bekämpfen und die Christenheit zu mehren. 251 247

Vgl. zu diesem Disput vor dem Konstanzer Konzil E. Weise, Widerstandsrecht,

248

Act. d. St. IV, N r . 301, S. 454.

S. 99 ff.

249

Danziger Chronik vom Bunde, in: SS. rer. Pruss. IV, S. 435; vgl. auch Act. d. St. IV,

Nr. 3 0 2 ; gemeint sind die Versuche des Ordens, in die nach dem Tode Witowds (1430) ausgebrochenen polnisch-litauischen Streitigkeiten einzugreifen. 250

Man könnte entgegnen, in der Wendung „herzcogk Sweydergallen und den heyden"

komme zum Ausdruck, daß mit Heiden nur die heidnischen Hilfsvölker der Litauer gemeint seien. Doch hat der polnische König ebenfalls gerade auch im Kriege 1 4 3 3 / 3 5 asiatisch-heidnische Hilfstruppen verwandt (vgl. E. Weise, Widerstandsrecht,

S. 103), und doch stellen die

Polen hier im Vergleich zu den Litauern die christliche Seite im Kampfe dar. 261

Act. d. St. IV, N r . 322, S. 478.

U R S A C H E N DES ABFALLS DANZIGS VOM D E U T S C H E N O R D E N

57

Die angeführten Zeugnisse lassen deutlich erkennen, daß im Ordensland Preußen das Denken in den Gegensätzen von Christentum und Heidentum auch im 15. Jahrhundert noch lebendig war. In echter Weise begeisterungsfähig war die Idee des Heidenkampfes allerdings nicht mehr, denn sie war seit der Bekehrung Litauens nur noch Idee, ohne Bezug zur Wirklichkeit. Man hatte dies auch sonst in Europa längst bemerkt. Kaiser Sigismund selbst verfolgte schon seit 1397 den Plan, den Orden zum Kampf gegen die Osmanen nach Ungarn zu verpflanzen. 252 Ein Versuch, diesen Plan um 1430 zu verwirklichen, scheiterte, da der Orden, mochte er auch an der Idee des Kampfes gegen die Heiden theoretisch festhalten, zum wirklichen Einsatz in dieser Sache nicht mehr bereit war. 253 Seine geistigen Ideale waren längst im Genuß des Erworbenen verflacht. Und auch in ihrer hemmenden Wirkung auf das Hervorbrechen nationalen Denkens mußte die Idee der Heidenbekämpfung - vor allem in der harten Auseinandersetzung mit Polen seit 1454 - schließlich an Kraft verlieren. Es kann daher nicht überraschen, wenn derselbe Laurentius Blumenau, der in jenem Brief an den polnischen König vom Januar 1455 an die eigentliche Aufgabe der Heidenbekämpfung erinnert hatte, 254 drei Monate später, am 2. April 1455, in einem Schreiben an den Bischof von Augsburg, Kardinal Peter von Schaumburg, sein Bedauern darüber aussprach, daß Preußen als ein so kostbares Gut der deutschen Nation von den deutschen Fürsten nicht tatkräftig verteidigt werde. „Lugeo potissime", schreibt Blumenau, „cum diristianos Almanie princepes video magnificum hoc nostre nacionis peculium levipendendo validis provisionibus non occurrere." 255 Diese Äußerung ist nicht nur in der Gegenüberstellung zu jener Bemerkung Blumenaus von der Aufgabe des Heidenkampfes im besagten Brief an den polnischen König charakteristisch, sie ist es im gleichen Sinne auch in sich selbst. Preußen wird hier zwar nicht als kostbares Gut („magnificum peculium") der Christenheit, wie es der Idee des Heidenkampfes entsprochen hätte, sondern als Gut der deutschen Nation („nostre nacionis") bezeichnet. Aber diese Vorstellung wird schon im voraus abgeschwächt und verflochten mit der Vorstellung, das Ordensland zu verteidigen sei eine christliche Pflicht. Denn das ist doch wohl die Ursache dafür, daß Blumenau nicht schlechtweg 2 5 2 Erich Joachim, König Sigmund und der Deutsche Ritterorden in: Mi«, d. öster. Inst. f. Gesch.-Forschg. 33 (1912), S. 89. 253

in Ungarn

1429—1432,

A. a. O., S. 107.

Daß Blumenau der eigentliche Verfasser dieses Briefes war, geht schon aus der Antwort der Stände hervor, wo Blumenau mehrere Male als Verfasser genannt wird (Act. d. St. IV, N r . 302). 254

255

SS. rer. Pruss. IV, S. 69.

JOSEF LEINZ

58

von „Almanie principes" spricht, sondern von „christianos Almanie principes". Daß dies so und nicht anders zu verstehen ist, wird vollends deutlich, wenn man den Satz unmittelbar vor der zitierten Stelle hinzunimmt. Blumenau sagt dort, er beklage nicht seine persönliche Lage, „sed ordinis et ecclesiarum hic ruinam atque exterminium". Und mit dieser Wendung ins Christliche ist die Vorstellung von der nationalen Bedeutung des Ordens und des Ordensstaates, die hier zweifellos auch schon vorhanden ist, wieder überhöht oder doch gepaart mit der Vorstellung von den zwei Welten, der christlichen und der heidnischen, die der Idee der Heidenbekämpfung zugrunde lag. Das Nebeneinander von christlicher und sich anbahnender nationaler Denkweise hat im Orden und in Preußen noch lange fortgedauert. Erich Maschke konnte eine entschieden nationale Denkweise im Orden erst für das Jahr 1512 nachweisen. Damals haben Ordensgesandte, vor dem Reichstag zu Trier um Hilfe flehend, von Preußen und Livland als von einer „Nova Germania" gesprochen. Aber auch sie haben noch die Idee des Heidenkampfes beschworen, wenn sie daran erinnerten, daß diese Länder unter großem Opfer an Gut und Blut „zu unserem Glauben und in unsere Sprache gebracht" worden seien. 256 Neben der Antithese von Christentum und Heidentum ist aber auch ein anderes retardierendes Moment in der Entwicklung des nationalen Bewußtseins im Ordensland Preußen zu erwähnen, das von nicht geringerer Wirksamkeit gewesen ist. Die Anhänger des polnischen Königs unter den preußischen Ständen haben bei den Verhandlungen im Jahre 1465 auf der Nehrung der ständischen Ordenspartei gegenüber mißbilligend geäußert, während der Ordenszeit seien die Räte stets Ausländer gewesen. 257 Es war nicht das erstemal, daß die Stände ihre Mißbilligung gegen Ausländer, d. h. Reichsdeutsche im Dienste des Ordens, zum Ausdruck brachten. 258 Dabei hatten sie immer verlangt, es möchten „landkinder von lande und steten" zu solchen Diensten eingesetzt werden. 2 5 9 Das Verhalten der Stände gegenüber solchen Ausländern war also ablehnend. Auch die Mitglieder des Ordens selbst, dessen Nachwuchs fast ausschließlich aus den Rittergeschlechtern des Reiches kam, blieben fremd gegenüber den Landesbewohnern. „Als Landfremde kamen die Ritter und Landfremde 256

E. Maschke, Der deutsche Nationalgedanke

257

SS. rer. Pruss. V, S. 249.

258

Vgl. Act. d. StA, Nr. 186,23; II, Nr. 150,16.

25» Ebd.

in der Endzeit des Ordensstaates, S. 195.

U R S A C H E N DES A B F A L L S D A N Z I G S VOM D E U T S C H E N

ORDEN

59

blieben sie . . s a g t Murawski. 260 Mit leidenschaftlicher Ablehnung begegneten die preußischen Stände vor allem den oberdeutschen Ordensrittern. 281 Solche Verhältnisse, zumal seit Beginn des 15. Jahrhunderts die ständigen Reibereien zwischen Ständen und Orden hinzukamen, mußten jede nationale Regung geradezu ersticken. Man könnte gewiß noch andere Tatsachen, wie etwa die direkte Bindung des Ordens als geistliche Institution an Rom, für das Fehlen nationaler Bewußtheit im Ordensstaat verantwortlich machen. Was die Städte angeht, so ist zu berücksichtigen, daß sie sehr stark auf ihre eigenen kommunalen Ziele ausgerichtet waren. Aber das entscheidende Hindernis ist doch zweifellos in der Idee des Heidenkampfes und in dem innerlich fremden, am Ende geradezu feindlichen Verhältnis zwischen Orden und Landesbewohnern zu erblicken. Die Idee des Heidenkampfes allerdings, von ihrer ursprünglich lebensbeherrschenden Höhe immer mehr zur bloßen Vorstellung ohne Aufgabe und Ziel herabsinkend, mußte auch in ihrer negativen Wirkung auf die nationale Bewußtseinsbildung nachlassen. Andererseits wurde das Verhältnis zwischen Orden und Bevölkerung gerade auch wegen der Verflachung dieser Idee, denn der Orden verlor damit seine Existenzberechtigung in den Augen der Landesbewohner, immer gespannter und mußte so immer wirkungsvoller jede nationale Regung zurückhalten. Daraus folgt, daß etwa bis 1400 die Idee des Heidenkampfes, dann aber das gespannte, oft feindliche Verhältnis zwischen Orden und Bevölkerung das bedeutendere Hindernis bei der Erfassung nationaler Eigenart und Einheit darstellte. Eine Art übergreifende Erklärung aber für den Mangel nationalen Bewußtseins im Ordensland Preußen ist darin zu erblicken, daß es dem Orden nicht gelungen ist, ja, ihm in seiner „unklaren und schwankenden Stellung zwischen den beiden universalen Mächten" (Kaisertum - Papsttum) nicht gelingen konnte, einen tragenden Staatsgedanken hervorzubringen. 262 Die Untersuchung der nationalen Frage brachte im Hinbiidt auf den Abfall Danzigs vom Deutschen Orden einen wichtigen Aufschluß. Die Danziger konnten, da nationale Verantwortung sie in ihren politischen Entscheidungen jedenfalls nicht wesentlich zu beeinflussen vermochte, den Abfall vom Orden und die Unterwerfung unter die polnische Oberhoheit um so leichter vollziehen. In diesem Sinne ist auch das fehlende nationale Bewußtsein eine U r sache für Danzigs Abfall vom Deutschen Orden. 2 6 0 Kl. E. Murawski, Zwischen Hansestädte, S. 2.

Tannenberg

und Thorn,

S. 75; vgl. auch P. Werner, Pr.

2 6 1 Vgl. oben, S. 20. 262 Y g j Manfred Hellmann, Über die Grundlagen und die Entstehung des Ordensstaates in Preußen. Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft, Bd. 31 (Sonderdruck), Gießen 1962, Zitat S. 124.

PETER

BAUMGART

ABSOLUTER STAAT UND JUDENEMANZIPATION IN BRANDENBURG-PREUSSEN Die Emanzipation der Juden in Deutschland ist kein einmaliger oder kurzfristiger Vorgang, sondern ein jahrhundertelanger Prozeß gewesen, der vielleicht sogar, wie die Geschichte unserer jüngsten Vergangenheit zwingend nahelegt, niemals voll abgeschlossen werden konnte. Die Emanzipation berührt außerdem sehr unterschiedliche Lebensbereiche, etwa den ökonomischsozialen, den rechtlichen, den kulturellen und den gesellschaftlichen. Keiner von ihnen besteht isoliert von allen übrigen oder kann völlig unabhängig von ihnen betrachtet werden. Es ist daher klar, daß die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden im umfassenden Sinne dieses Begriffs nur verwirklicht erscheint, wenn diese Forderung für das Ensemble aller Lebensbereiche erfüllt ist. Aber da es ein langer geschichtlicher Prozeß gewesen ist, der dies erst ermöglichte, dürfte es auch legitim sein, die einzelnen zeitlichen und sachlichen Stufen genauer zu unterscheiden, die dorthin geführt haben. Und es dürfte auch einleuchten, wenn dabei der Schwerpunkt jeweils nur auf dem einen oder dem anderen der verschiedenen Lebensbereiche liegen kann. Man hat gesagt, daß eine wirtschaftliche und soziale Revolution der geistigen vorangehen muß, daß die materiellen Grundlagen einer Gesellschaft geändert werden müssen, ehe die Menschen bereit sind, eine geistige Revolution und — wie wir hinzufügen dürfen — eine rechtliche Neuordnung hinzunehmen. 1 Dies würde für unser Thema bedeuten, daß erst die wirtschaftliche Situation der Juden verwandelt werden mußte, ehe die überkommenen sozialen und religiös-geistigen Ordnungen erschüttert werden konnten, auf denen ihre Benachteiligung in der Gesellschaft beruhte, daß wiederum erst die wirtschaftlich-sozialen Veränderungen unter den Juden sie selbst und ihre 1

Vgl. Selma Stern, The

Absolutism

in Central

Court

Europe,

Jew.

A Contribution

to the History

1950, S. X I V f. Verwandte Gedankengänge finden sidi in dem kürzlich Werk des bald nach dem Kriege verstorbenen Raphael Straus, Die Juden Gesellschaft.

Untersuchungen

of the Period

The Jewish Publication Society of America,

zur Geschickte

einer

Minorität,

of

Philadelphia

herausgegebenen in Wirtschaft

und

Stuttgart 1964, S. 105, S. 107.

ABSOLUTER STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N IN B R A N D E N B U R G

61

andersgläubige Mitwelt empfänglich machten für die neuen Ideen der Zeit, für die Aufklärung, die Humanität, die Toleranz, die Gedankenwelt der Französischen Revolution. Oder anders und konkret formuliert: ohne Moses Benjamin Wulff, Hoffaktor in Dessau, kein Moses Mendelssohn, und zugespitzt: ohne Veitel Heine Ephraim, ohne Daniel Itzig, ohne Moses Isaac und andere jüdische Unternehmer keine gesellschaftliche Anerkennung für das Berliner Judentum des ausgehenden 18. Jahrhunderts, kein Berliner Salon einer Henriette Hertz oder einer Rahel Varnhagen. Diese allgemeineren Erwägungen gilt es zu beachten, wenn wir nun an unser spezielles Thema herangehen. Ausgangspunkt ist dabei das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate" vom 11. März 1812. 2 Es brachte den Juden der preußischen Monarchie, allerdings nur innerhalb der durch den Tilsiter Frieden von 1807 gezogenen Grenzen, 3 im wesentlichen die staatsbürgerliche Gleichstellung mit den christlichen Einwohnern des Landes. Das Edikt bestimmte — um den hauptsächlichen Inhalt knapp zu rekapitulieren: Alle in Preußen ansässigen „mit General-Privilegien, NaturalisationsPatenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien" werden preußische Staatsbürger ( § 1 ) . Sie erhalten grundsätzlich „gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen" (§ 7), also freies Niederlassungsrecht in Stadt und Land (§ 10), freien Grundstückserwerb sowie die Genehmigung zum Betrieb „aller erlaubten Gewerbe" (§ 11), insbesondere auch zum Handel unter den allgemeinen gesetzlichen Bedingungen (§ 12, § 13). Es entfallen jegliche jüdischen Sonderabgaben (§ 14). Künftig stehen den Juden das akademische Lehramt sowie Schul- und Gemeindeämter offen (§ 8); die Zulassung „zu andern öffentlichen Bedienungen und Staats-Ämtern" hingegen wird einer künftigen Regelung vorbehalten (§ 9), was nur eine euphemistische Umschreibung dafür war, daß sie ihnen auch weiterhin verschlossen bleiben sollten. Demgegenüber haben die Juden grundsätzlich die gleichen bürgerlichen Pflichten wie die Christen im Staat und in den Gemeinden, namentlich obliegt ihnen wie jenen die Militärpflicht (§ 15, § 16). Ihre privatrechtlichen Verhältnisse regeln sich ausschließlich nach den für die übrigen Staatsbürger geltenden Gesetzen (§ 26). Eheschließungen der Juden untereinander unterliegen nicht länger einer vorherigen Genehmigung (§ 17). Ihr besonderer Gerichts2

Jetzt bequem zugänglich bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente

geschichte, 3

Bd. 1: Deutsche

Verfassungsdokumente

1803—1850,

zur deutschen

Verfassungs-

Stuttgart 1961, S. 45 ff.

Also lediglich für die ostelbischen Gebietsteile: für die Kurmark ausgenommen die links-

elbische Altmark, für die Neumark, Schlesien, Pommern, Ostpreußen und Teile Westpreußens, nicht jedoch in den alten westlichen Provinzen.

62

PETER

BAUMGART

stand entfällt — vorläufig davon ausgenommen bleibt lediglich Berlin — , desgleichen jede Sondergerichtsbarkeit der Rabbiner und Ältesten (§ 29, § 30). Alle inländischen Juden werden verpflichtet, innerhalb bestimmter Fristen „fest bestimmte Familien-Namen" anzunehmen und sich bei rechtserheblichen Handlungen „der deutschen oder einer andern lebenden Sprache" zu bedienen (§ 2—§ 6). Sonderbestimmungen gelten nach wie vor für ausländische Juden (§ 34 ff.). Zunächst ungeregelt bleibt schließlich die Frage „des kirchlichen Zustands und der Verbesserung des Unterrichts der Juden" (§ 39). Die Emanzipationsbewegung fand mit diesem Edikt ihren ersten Höhepunkt und v o r l ä u f i g e n Abschluß. Vorläufig blieb dieser Abschluß deshalb, weil sowohl in Preußen selbst als auch im übrigen Deutschland sehr bald eine starke Reaktion einsetzte, die jene Errungenschaften des Märzedikts teils wieder in Zweifel stellte, teils gar nicht erst zu voller Wirksamkeit gelangen ließ. Diese großenteils bekannte Entwicklung 4 ist in unserem Zusammenhang nicht weiter zu verfolgen. Die Forschung, in erster Linie die jüdische Geschichtsschreibung, hat die einzelnen Stadien des langwierigen Gesetzgebungsprozesses, der zum Emanzipationsedikt führte und der in seinen ersten Ansätzen bis in die Zeit Friedrich Wilhelms II., also bis ins vorletzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zurückreicht, mit minutiöser Genauigkeit dargestellt. In diesem Zusammenhang verdient besonders das bereits 1912 erschienene Werk von Ismar Freund: „Die Emanzipation der Juden in Preußen", genannt zu werden. 5 Die Forschung hat darüber hinaus auf das französische Vorbild hingewiesen: 8 auf die Emanzipa4

Speziell für Preußen vgl. Ismar Freund, Die Emanzipation

besonderer

Berücksichtigung

des Gesetzes

vom 11. März

Vgl. auch Erich Barthold, Die preußische 1825—184},

1812,

Judenemanzipation

der Juden

in Preußen

und

die öffentliche

Meinung

Diss. phil. Münster 1924. Für Deutschland generell vornehmlich unter geistes-

und religionsgeschichtlichem Aspekt neuerdings Eleonore Sterling, Er ist wie du. Frühgeschichte

des Antisemitismus

in Deutschland

(1815—1850),

Aus

menta Judaica.

2000 Jahre

Geschichte

und Kultur

der Juden

am Rhein,

des Deutschen

der Juden Reiches

im Rheinland.

Vom Zeitalter

Monu-

Handbuch im Auf-

trage der Stadt Köln hrsg. von Konrad Schilling, Köln 1963, unter dem Titel: Der um die Emanzipation

der

München 1956. Vgl. ferner

den freilich ungleichmäßigen Beitrag derselben Autorin zu dem großen Sammelwerk

dung

unter

Bd. 1, Berlin 1912, S. 229 ff.

der Aufklärung

bis zur

Kampf Grün-

(S. 2 8 2 ff.). Den Anfängen der Reaktion mit der Umformulie-

rung der Deutschen Bundesakte (Artikel 16) auf dem Wiener Kongreß geht Salo Baron, Die Judenfrage

auf dem Wiener

Kongreß,

Wien und Berlin 1920, genauer nach.

5

Siehe die vorige Anmerkung.

8

Vgl. zuletzt noch, wenngleich bereits stark abgeschwächt, Sterling, Der

Emanzipation

Frankreich bei Simon Dubnow, Weltgeschichte der ersten 1928 ( =

Kampf

um

die

. . . a. a. O., S. 289 ff. Eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklung in

Emanzipation

(1789—1815),

des jüdischen

Volkes,

Bd. V I I I : Das

Zeitalter

Obers, aus dem Russischen von A. Steinberg, Berlin

Überarbeitung von Bd. 1 der Neuesten Geschichte des jüdischen Volkes), S. 83 ff.,

für den napoleonischen Einfluß in Deutschland S. 194 ff., bes. auch S. 229 ff.

ABSOLUTER STAAT UND JUDENEMANZIPATION IN BRANDENBURG

63

tionserklärung der verfassunggebenden N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o m 2 7 . September 1 7 9 1 , ferner auf die napoleonische Gesetzgebung, die auch für das westliche Deutschland, speziell für das Königreich Westfalen seit 1 8 0 8 Gültigkeit erlangte. 7 Die Forschung h a t endlich g a n z allgemein der Ideenwelt der Französischen Revolution wie auch der Aufklärungsbewegung im 1 8 . J a h r hundert mit ihren Auswirkungen auf Staat, Religion und Gesellschaft ein besonderes Gewicht beigemessen. 8 O h n e Zweifel durften alle diese F a k t o r e n nicht fehlen, u m der E m a n z i p a tion z u m Siege zu verhelfen. Dennoch vermissen w i r in dieser Aufzählung ein sehr wichtiges, ja geradezu konstitutives Element, ohne das dieser bedeutende V o r g a n g nicht voll verstanden werden k a n n : den Beitrag, den

der

preußische Absolutismus selbst zur E m a n z i p a t i o n seiner jüdischen U n t e r t a n e n geleistet hat. Seitdem uns v o r allem mit Selma Sterns 1 9 6 2 wieder erschienenem Buch über den preußischen S t a a t und die J u d e n 9 — dessen zweiter Teil 1 9 3 8 den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen z u m O p f e r fiel — ,

ferner m i t

einem mehrbändigen W e r k Heinrich Schnees, das unter dem leicht m i ß v e r ständlichen Titel: „Die H o f f i n a n z und der moderne S t a a t " die jüdischen H o f faktoren an den deutschen Fürstenhöfen behandelt, 1 0 ein umfangreiches, heute 7 Dabei handelte es sich um die erste „vorbehaltlose Emanzipation" auf deutschem Boden. Das Dekret des Königs Jerome vom Januar 1808 beginnt mit den Worten: „Alle unsere dem Gesetze Moses' Folge leistenden Untertanen werden sich künftighin in unserem Reiche der gleichen Rechte, Wohltaten und Freiheiten erfreuen, die unsere übrigen Untertanen genießen" (nach Dubnow, a. a. O., S. 230). 8 Etwa Cecil Roth, Geschichte der Juden von den Anfängen bis zum neuen Staate Israel, Übertragung aus dem Englischen von K. u. M. Blaukopf, Stuttgart 1956, S. 403 f.; siehe auch Ismar Elbogen, Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1935, S. 179 ff., dazu S. 190. Als entscheidenden Disintegrationsfaktor der traditionellen jüdischen Gemeinschaft betrachtet die Aufklärung neuerdings Jacob Katz in seiner wichtigen Studie Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages, New York 1961 (Ubers, aus dem Hebräisdien), bes. S. 251 ff. 9 Die Darstellung und die dazugehörige Quellensammlung umfassen bisher nur die Zeit von 1640 bis 1713: Der preußische Staat und die Juden. Erster Teil: Die Zeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I. (l.Abt.: Darstellung, 2. Abt.: Akten), Zweiter Teil: Die Zeit Friedrich Wilhelms I. (l.Abt.: Darstellung, 2. Abt.: Akten) = Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 7/1,2 und 8/1,2, Tübingen 1962. (Künftig zit.: Stern, 1,1; 1,2; 11,1; 11,2.) Vgl. dazu meine Miszelle: Zur Geschichte der Juden im absoluten Staat, in: VSWG 51 (1964), S. 101 ff.

Von dem nunmehr auf vier Bände angewachsenen Werk interessiert in diesem Zusammenhang besonders der erste: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, l . B d . : Die Institution des Hoffaktorentums in Brandenburg-Preußen, Berlin 1953. Vgl. dazu aber die kritische Besprechung Hans Haussherrs in: VSWG 41 (1954), S. 175 ff., sowie meine 10

64

PETER B A U M G A R T

teilweise nicht mehr zugängliches Archivmaterial erschlossen wurde — die beiden Quellenbände Selma Sterns enthalten allein über 1200 Aktenstücke —, läßt sich die Entwicklung der Juden unter dem preußischen Ancien regime jetzt weitaus besser überblicken, als dies vordem möglich war. Es soll daher im folgenden der Versuch gemacht werden, aufgrund des vorliegenden umfassenden Materials die Stellung zu bestimmen, die dem altpreußischen Staat und seiner Judenpolitik in der Geschichte der Emanzipation zukommt. Vielleicht, daß sich auf diesem Wege einige der oben angedeuteten Anschauungen über den Verlauf und die Ursachen des geschichtlichen Prozesses, der zur staatsbürgerlichen Gleichstellung führte, revidieren oder wenigstens ergänzen lassen. Von einer bewußten Judenpolitik in Brandenburg-Preußen kann erst seit dem Großen Kurfürsten gesprochen werden. Der Begründer des preußischen Militär- und Beamtenstaates 11 begünstigte die Juden nicht nur in denjenigen Landesteilen, wo sie ohnehin bereits ansässig waren, namentlich im Fürstentum Halberstadt, im Herzogtum Kleve und in der Grafschaft Mark; 1 2 er gestattete ihnen vielmehr auch dort die Niederlassung, wo sie ihnen bislang verwehrt worden war. In der Kurmark, 1 3 in der die Juden seit der letzten großen Vertreibung nach dem Tode Kurfürst Joachims II. keinen festen Wohnsitz mehr nehmen durften, kam es dank dem kurfürstlichen Entgegenkommen zur ersten Ansiedlung, die Bestand hatte. Als ein Markstein in dieser Rezension in: V S W G 51 (1964), S. 539 ff. zu Bd. 4: Hoffaktoren an süddeutschen Fürstenh ö f e n nebst Studien zur Geschichte des Hoffaktorentums in Deutschland, Berlin 1963. — Weitere für unser Problem bzw. unsere Fragestellung wichtige Literatur: Felix Priebatsch, Die Judenpolitik des fürstlichen Absolutismus im 17. und 18. Jahrhundert, in: Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Festschrift Dietrich Schäfer, Jena 1915, S. 5 6 4 f f . ; außerdem neuerdings Wilhelm Treue, Die Juden in der Wirtschaftsgeschichte des rheinischen Raumes 1648—1945, in: Monumenta Judaica (s. Anm. 4), S. 4 1 9 ff. 1 1 Letzte zusammenfassende Würdigung von Carl Hinrichs in: Die Großen Deutschen, Bd. 1, 1956, S. 577 ff., jetzt in: Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Gerhard Oestreich ( = Veröffentlichungen der Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 10), Berlin 1964, S. 227 ff. 1 2 „Generalgeleit für die Juden von Halberstadt" vom l . M a i 1650 (bei Stern 1,2 Akten Nr. 104, s. auch die folgenden Aktenstücke betr. Halberstadt). — In Kleve-Mark galt ein sehr günstiges Privileg, das 1661 zunächst um weitere fünfzehn Jahre verlängert wurde (Stern 1,1, S. 9). 1 3 Zur älteren Geschichte der Juden in der Mark vgl. Werner Heise, Die Juden in der Mark Brandenburg bis zum Jahre 1571 ( = Historische Studien, Heft 220), Berlin 1932, f ü r die Ausweisung nach dem Ableben Joachims II., S. 278 ff.; speziell für Berlin außerdem Ernst Kaeber, Die Berliner Juden im Mittelalter, jetzt in: Beiträge zur Berliner Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Werner Vogel ( = Veröffentlichungen der Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 14), Berlin 1964, S. 46 ff.

A B S O L U T E R STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N I N B R A N D E N B U R G

65

Entwicklung gilt das Judenedikt von 1671: 1 4 Diese „Magna Charta" der Brandenburger Juden gewährte 50 aus Wien ausgewiesenen Familien für 20 Jahre das freie Niederlassungsrecht in der bei Regierungsantritt Friedrich Wilhelms den Juden noch versperrten Mark Brandenburg, dazu das Recht, Häuser zu kaufen oder zu mieten, ferner als wichtigstes Privileg einen unbeschränkten Handel, alles gegen Zahlung eines Schutzgeldes von 8 Talern jährlich. Etwa gleichzeitig wurde damit begonnen, unter Ausschaltung der lokalen Gewalten die Aufsicht über das Judenwesen direkt dem Geheimen R a t in Berlin bzw. der Amtskammer, in den übrigen Landesteilen den noch von den Ständen beherrschten Regierungen zu übertragen. 15 Noch hatte die Berliner Zentrale die größten Schwierigkeiten, ihren Autoritätsanspruch gegen die zahlreichen intermediären Gewalten eines aus heterogenen Teilen zusammengesetzten Staatswesens durchzusetzen, dem jedes Gemeinschaftsbewußtsein fehlte. Auch die Judenschaft selbst in den verschiedenen Teilen des Kurfürstentums war um diese Zeit noch nicht einheitlich organisiert; die isolierten Einzelgemeinden behaupteten jedoch im Innern ein ihnen traditionell zugebilligtes Maß an autonomer Gerichtsbarkeit. 16 Die für die Zeitverhältnisse außerordentlich großzügige Haltung des Kurfürsten findet ihre Erklärung zwar auch in einer wiederholt bezeugten persönlichen Toleranz Friedrich Wilhelms, 17 in erster Linie aber in bevölkerungsund finanzpolitischen Erwägungen: Wie er die niederländische und die hugenottische Kolonisation in seinen an Menschen und an qualifizierten Fachkräften gleichermaßen armen Landen zu fördern suchte,18 so war er auch bereit, die Juden darin zu begünstigen, weil er in ihnen eine willkommene Einnahme14

„Edikt wegen aufgenommenen 50 Familien Schutz-Juden, jedoch daß sie keine Synago-

gen halten", vom 21. März 1671, abgedruckt bei Stern 1,2, Akten, N r . 12; vgl. auch die dazugehörigen Aktenstücke ebd. N r . 8 — 1 1 . Literatur: Moritz Stern, Die Niederlassung in Berlin 15

im Jahre

der

Juden

1671, in: Zs. f. d. Geschichte d. Juden in Deutschland 2 (1930), S. 131 ff.

Über die noch nicht vollständig koordinierten Maßnahmen in den einzelnen Gebieten,

s. Stern 1,1, S. 14 ff. 16

Stern 1,1, S. 24 ff.

17

Die beste Darstellung bietet noch immer Hugo Landwehr, Die Kirchenpolitik

Wilhelms,

des Großen

Kurfürsten,

Friedrich

Berlin 1894; s. auch den freilich nicht vorurteilsfreien

knappen Anhang: Der Große Kurfürst und die Juden, S. 370 ff. Ergänzend, wenn auch nicht direkt für unser Thema, jetzt Johannes Weinberg, Die Kirchenpolitik in Preußen

(=

des Großen

Kurfürsten

Beihefte zum Jb. d. Albertus-Universität Königsberg/Pr. X X I I I ) , Würzburg

1963. 18

Aus der vielfältigen Literatur nenne ich nur: Johan Theunisz, De Nederlandse

kolonisatie.

Meer

van den Groten

in het hizonder Keurvorst

(=

die in Brandenburg

in de 17e eeuw

tijdens de

Oostregering

Studierecks der Germaansche werksgemeenshap Nederland,

N r . 1), Amsterdam 1943, sowie als letzten, jedoch teilweise tendenziösen Überblick Helmut Erbe, Die Hugenotten 5

Jahrbuch 13/14

in Deutschland,

Essen 1937.

66

PETER BAUMGART

quelle und zugleich ein wichtiges Instrument seiner merkantilistischen Wirtschaftspolitik erblickte. Das Schwergewicht dieser Politik lag dabei nicht so sehr im Bereich von Manufakturgründungen als vielmehr auf der Belebung und Ausweitung des Handels. 19 Dafür schienen die Juden dem Kurfürsten besonders geeignete Helfer zu sein. In zahlreichen die Juden betreffenden Reskripten finden sich Formeln wie diese: Es gereiche „zu des Landes Besten und Aufnehmen, wann darinnen viel Handel und Wandel getrieben" werde. 20 Gegen den erbitterten Widerstand der Landstände 21 und der Zünfte 22 förderte er die Tätigkeit der Juden als Schrittmacher der Freiheit des Handels. Sie sollten ihm helfen, zwischen den noch weitgehend isolierten Gebieten seines territorial zersplitterten Staatswesens „Verkehrsfreiheit" und engere wirtschaftliche Bindungen herzustellen, den Geldumlauf zu steigern sowie geld- und kreditwirtschaft19

Dazu Hugo Rachel, Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen, in: FBPG 40 (1927), S. 221 ff. 20 Reskript an die Regierung von Hinterpommern vom 12. Februar 1664, Stern 1,2, Akten Nr. 143, ähnlich Nr. 24, Nr. 446 u. ö.; vgl. auch 1,1, S. 49 ff. 21 Durchaus typisch für die ständische Haltung ist ein Gravamen der kurmärkischen Stände an den Kurfürsten vom 13. April 1683: „Weil auch die Juden durch ihren Wucher, Debitirung falscher und verlegener Waaren und sonsten betrügliche Ränke nicht geringen Abgang der freien Handtierung zufügen, überdem auch zu besorgen, daß sie als abgesagte Feinde unsers Heilands durch Lästerungen in ihren Schulen Landplagen und Strafen dem Lande zuziehen können, so gelangt an E. Ch. D. unser unterth. Bitten, solche inutilia terrae pondera et hostes Christiani nominis nidit länger zu dulden und aus Dero Landen zu schaffen, weniger fixam sedem denselben zu verstatten." — Nicht minder bezeichnend ist die kurfürstliche Stellungnahme dazu in einem Schreiben an die Geheimen Räte vom 12. April 1683: „Schließlich, was die Juden anbelangte, hätten Wir ohne dem die Vorsorge, daß das Land damit nicht weiter überhäuft werden möchte. Es wäre sonst bekannt, daß die Uebervortheilung im Handel nicht weniger von den Christen als den Juden, ja fast mit mehrer Impunität geschehe und fortgesetzt würde. Sollte auch geklagt und dargethan werden, daß sie sich einiger Lästerung gebrauchten, würden Wir solches dergestalt exemplarisch abstrafen, daß ein jeder daraus zu erkennen haben sollte, wie hoch Uns die Ehre Gottes und Unseres Heilandes touchirt." (Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich 'Wilhelm von Brandenburg, Bd. 10: Ständische Verhandlungen Mark Brandenburg, hrsg. von Siegfried Isaacsohn, Berlin 1880, S. 610 u. S.613). 22 Vgl. speziell für Berlin: Hugo Rachel, Die Juden im Berliner 'Wirtschaftsleben zur Zeit des Merkantilismus, in: Zs. f. d. Geschichte d. Juden in Deutschland 2 (1930), S. 175 ff., bes. S. 178 ff., der die Gegnerschaft der Berliner Gilden und Zünfte nicht allein auf die wachsende jüdische Konkurrenz, sondern vor allem auch auf die unterschiedliche wirtschaftliche Einstellung zurückführt: dort der Grundsatz der auskömmlichen Nahrung und der strengen genossenschaftlichen Regelung bzw. Beschränkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs, hier die freie Entfaltung des individuellen Erwerbsgeistes und die Ausdehnung auf alle Zweige des Handels, die durch die unbeschränkte kurfürstliche Handelserlaubnis, etwa in dem Edikt von 1671, stark begünstigt wurde.

ABSOLUTER STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N I N B R A N D E N B U R G

67

lidie Methoden in einem bislang naturalwirtschaftlich geprägten Staat einzuführen. Es versteht sich jedoch, daß die landesherrliche Judenpolitik Friedrich Wilhelms, zumal in den ersten Jahrzehnten seiner Regierung, noch keine völlig einheitliche Linie aufzuweisen hatte. Dazu war sie noch viel zu sehr ein Objekt der Auseinandersetzung mit den Ständen, die unter schwachen fürstlichen Vorgängern das Judenregal in verschiedenen Landesteilen usurpiert hatten. 23 Das Bemühen des Kurfürsten um die Durchsetzung seiner Souveränität in den verschiedenen Landesteilen bestimmte ihn auch in seiner Judenpolitik. Dabei paßte er sich geschmeidig den Machtverhältnissen in den einzelnen Gebieten an. Einerseits benutzte er die Juden als Instrument seiner absolutistischen Politik, andererseits als ein Mittel zur Versöhnung der Stände und zur Erlangung anderweitiger Zugeständnisse. 2 4 So hat er beispielsweise die Juden in Halberstadt in starkem Maße begünstigt, während er sie im benachbarten Magdeburg überhaupt nicht zuließ. Im Herzogtum Preußen erteilte er ihnen während der fünfziger Jahre gegen ständischen Protest Handelskonzessionen, während er sie bereits 1663 wieder außer Landes weisen ließ. Unter Friedrich I I I . 2 5 hat sich an der im allgemeinen wohlwollenden Haltung seines Vorgängers den Juden gegenüber zunächst kaum etwas geändert, jedenfalls nicht bis zum Ende der Ära Danckelmann 1697. Die Schutzbriefe des Großen Kurfürsten wurden ohne Vorbehalt um 20 Jahre verlängert; 26 bereitwillig ließ man in Berlin, in Halberstadt, in Kleve, Mark und Ravensberg, in Minden weitere Juden zu; gänzlich neue jüdische Gemeinden konnten sich u. a. in Königsberg und Halle konstituieren. 27 Dies kann als Hinweis darauf 23

Vor allem im Herzogtum Preußen.

24

Dazu Stern 1,1, S. 66 fi. mit zahlreichen Beispielen: für Halberstadt siehe bes. Stern 1,2,

Akten N r . 104, für Magdeburg ebd., N r . 136 u. N r . 137, für Ostpreußen ebd., N r . 170, N r . 1 7 2 — 1 7 6 , dagegen N r . 179, N r . 180. 26

Zur Charakteristik der Persönlichkeit und Regierung Friedrichs III. (I.) vgl. jetzt neben

den älteren Arbeiten von Otto Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten König 1900), in: Gesammelte

Abhandlungen,

3. Bd.: Geist und Epochen

der preußischen

hrsg. von Fritz Härtung, Leipzig 1943, S. 347 ff., und Walther Koch, Hofverfassung

König

Friedrichs

I. von Preußen

Staats- und Rechtsgeschichte, Hinridis, Friedrich

Wilhelm

(1697—1710)

und

Regierungs-

( = Untersuchungen zur deutschen

136. Heft), Breslau 1926, vor allem die Arbeiten von

I. König

in Preußen.

Jugend

und Aufstieg,

Friedrich

jetzt in: Preußen

I. von

Preußen.

Die

geistige

als historisches Problem

und

politische

Bedeutung

Carl

Hamburg 1941, bes.

B u d i 2 : Der Staat des ersten Königs (S. 111 ff.), daneben seine zusammenfassende König

(zuerst

Geschichte,

seiner

Skizze: Regierung,

(s. Anm. 11), S. 253 ff.

26

Formular für die zu erneuernden Schutzbriefe bei Stern 1,2, Akten N r . 207.

27

Besonders hervorzuheben ist das Generalprivileg für die Juden zu Halle vom 26. Fe-

bruar 1704 ebd., N r . 403. Vgl. G. Kisch, Die Anfänge Sachsen und Anhalt 4 (1928), S. 132 ff. 5»

der jüdischen

Gemeinde

zu Halle,

in:

PETER

68

BAUMGART

dienen, daß der Einfluß der heftigsten Judengegner, der Stände, zumal der Städte, 28 nicht mehr stark genug war, um eine judenfreundliche Politik des Landesherrn wirksam zu hintertreiben. Erst das nachfolgende Günstlingsregime des Kolbe von Wartenberg mit seiner verschwenderischen Ausgabenwirtschaft begann den Juden gegenüber einen rücksichtslos fiskalischen Kurs einzuschlagen, der sich in Form von immer neuen Sondersteuern und Erhöhungen der Akzisesätze äußerte. 29 Die steigende finanzielle Beanspruchung der Juden verlangte jedoch gleichzeitig staatliche Maßnahmen, um ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten und zu erhöhen: Es wurden zum Teil besonders großzügige Vergünstigungen gewährt. Als Muster dafür darf das Generalprivileg für die Juden in Halle von 1704 gelten. 30 Von der Saalestadt waren sie beinahe zwei Jahrhunderte gänzlich ausgeschlossen gewesen; nun erhielten sie nicht nur unbeschränkte Handelsfreiheit, sondern sogar ein abgelegenes Haus für den Gottesdienst. Wenig später wurde im Zuge einer Differenzierung der einzelnen Regierungsressorts die Verwaltung der jüdischen Angelegenheiten einer kollegial organisierten Judenkommission zu Berlin unterstellt und der Aufsicht der Regierungen in den einzelnen Landesteilen der Monarchie entzogen. 31 Inzwischen hatten sich auch die jüdischen Gemeinden merklich konsolidiert. Nach mittelalterlichem Vorbild waren sie noch immer autonome Selbstverwaltungskörperschaften, die von gewählten Ältesten und Vorstehern geführt wurden, die nicht nur ihr eigenes Recht und ihren besonderen Kultus, sondern auch ein eigenes Vermögen, ein spezielles Besteuerungssystem für die Mitglieder und besondere Erziehungseinrichtungen besaßen. Dies galt zumal für die städtischen Gemeinden, 32 aber auch für die verstreut lebenden Juden in den 28

Dort waren wiederum in erster Linie die Zünfte die treibende Kraft.

Schnee, Hoffaktoren

(Vgl. auch

III, S. 188 ff., ferner Stern 1,1, S. 134 ff.) Es fehlt bisher eine genauere

Untersuchung darüber, ob sich der brandenburgisch-preußische Adel des Instituts der Hausjuden, das beispielsweise beim polnischen Adel weit verbreitet war, in größerem Maße bedient hat, etwa im Herzogtum Preußen, wo dies besonders nahegelegen hätte. — Zur Stellung der Juden auf dem Lande, in den adligen Herrschaften, wo sie nach den großen Vertreibungen des ausgehenden Mittelalters Aufnahme gefunden hatten, vgl. generell Priebatsch, Die Judenpolitik 29

des fürstlichen

Absolutismus

. . . , S. 568 ff.

Vgl. die zahlreichen einschlägigen Aktenstücke bei Stern 1,2, N r . 246, N r . 248, N r . 2 4 9

(1700); Nr. 257, N r . 258 ( 1 7 0 1 ) ; N r . 315 ( 1 7 1 0 ) ; N r . 319 ( 1 7 1 1 ) ; Nr. 329 (1712) u. ö. 30

Siehe Anm. 27.

31

Instruktion vom 23. November 1708 bei Stern

1,2, Akten N r . 293. Zur Vorgeschichte

der Kommission vgl. 1,1, S. 88 ff. 32

Für die wichtigste aller jüdischen Gemeinden, Berlin, ist noch immer

Ludwig Geiger, Geschichte nebst

Beilagen),

Berlin

der Juden 1871.

in Berlin,

unentbehrlich

2 Bde. (I Darstellung, II Kritischer Apparat

Knappe moderne

Zusammenfassung

von

H . G. Sellenthin,

ABSOLUTER STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N IN B R A N D E N B U R G

69

kleinen Städten und auf dem platten Lande, die sich zu Landjudenschaften mit eigenen Landtagen zusammenschlössen, und zwar zuerst in Kleve. 3 3 Vor allem traten nunmehr die jüdischen H o f f a k t o r e n 3 4 erstmals als eine für den Staat wichtige und darum bevorzugte Schicht aus der Masse ihrer Glaubensgenossen hervor. Familien wie die niederrheinischen Gompertz oder die Aaron-Schulhoff-Liebmann, deren Aufstieg während des 30jährigen Krieges begonnen hatte, konnten als H o f - und Heereslieferanten, als Münzunternehmer und Juweliere oft sehr bedeutende Vermögen erwerben. So konnte Esther Schulhoff, 35 die berühmte „Liebmännin", Witwe Israel Aarons und anschließend Jost Liebmanns, die sich der besonderen Gunst Friedrichs I. erfreuen durfte und die Hauptlieferantin seiner Juwelenkollektion war, nach ihrem Sturz beim Regierungswechsel 1713 etwa 200 bis 300 000 Taler opfern, ohne deshalb in Konkurs gehen zu müssen. In Berlin und wohl auch in der ganzen Monarchie hat es damals, abgesehen von Johann Andreas Krautt, 3 6 schwerlich noch einen anderen Privatmann gegeben, dessen Vermögen einen derartigen Aderlaß überstanden hätte. Die Hoffaktoren besaßen, darauf hat schon Werner Sombart hingewiesen, 37 dank ihrer ausgezeichneten Verbindungen zu den bevorzugten Handelsplätzen Europas und durch ein über das ganze Land verbreitetes Agentennetz eine beinahe monopolartige Stellung im Handel mit Luxuswaren, Gold, Silber und Schmuck, ferner einen hohen Anteil am Handel mit Getreide, Wolle, Holz und Geschichte

der Juden

in Berlin

und des Gebäudes

Fasanenstraße

79¡80,

Festschrift anläßlich

der Einweihung des Jüdischen Gemeindehauses hrsg. v. Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlih, Berlin 1959. — Für Brandenburg: A. Ackermann, Geschichte denburg

a.d. Havel,

israelitischen 33

Gemeinde

1906.

Halberstadt,



Für

der Landjudenschaft

Halberstadt:

der Juden

B.A.Auerbach,

in

Bran-

Geschichte

der

Halberstadt 1866.

Vgl. Fritz Baer, Das Protokollbuch

Geschichte 34

Berlin

der Landjudenschaft

des Herzogtums

Ausführlich Schnee, Hoffaktoren

Kleve,

des Herzogtums

I (s. Anm. 10);

ferner

Anm. 1), dazu aber die kritische Besprechung

von Wilhelm

S. 571 ff.; ferner F . L . C a r s t e n , The Court

A Prelude

Jews.

Kleve,

l.Teil:

Berlin 1922. Stern,

7he

Court

Treue in: H Z

to Emancipation,

Jew

172

(s.

(1951),

in: Leo Baeck

Institute Y e a r Book I I I (1958), S. 140 ff. 35

Zum folgenden vor allem Hugo Rachel und Paul Wallich, Berliner

Kapitalisten,

Bd. 2 : Die Zeit des Merkantilismus

Schnee, Hoffaktoren 36

Großkaufleute

unter

und

Berlin 1938, S. 36 ff., außerdem

I, S. 47 ff.

Uber ihn außer Rachel u. Wallich, a. a. O., S. 134 ff., auch Carl Hinrichs, Die

in Preußen 37

1648—1806,

Friedrich

Wilhelm

Werner Sombart, Die Juden

Wollindustrie

I. (Acta Borussica), Berlin 1933, S. 15 ff. u. ö.

und das Wirtschaftsleben,

München und Leipzig 1911 (Neu-

druck 1920), bes. S. 25 ff., S. 30 ff. u. ö. — Für einen begrenzten Raum und eine bestimmte Gruppe der Juden neuerdings mit weiterführenden Fragestellungen Hermann Sephardim

an der unteren

Elbe. Ihre wirtschaftliche

16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts

und politische

Bedeutung

Kellenbenz,

vom Ende

( = VSWG, Beiheft 40), Wiesbaden 1958.

des

70

PETER

BAUMGART

Kolonialprodukten. Sie standen nicht etwa isoliert von den übrigen im Lande ansässigen Juden, wie häufig angenommen wird, 38 sondern bildeten förmliche aristokratische Dynastien innerhalb der jüdischen Gemeinden. Dort übten sie die wichtigsten Ämter entweder selbst aus oder kontrollierten sie wenigstens mittelbar. Nicht selten nutzten sie ihre Vorrangstellung in der Gemeinde auch rücksichtslos für eigene Zwecke aus. Spezialprivilegien 39 befreiten sie von vielen Restriktionen, denen die Juden sonst unterworfen waren, speziell von den Schutzgeldzahlungen, Handels-, Reise- und Niederlassungsbeschränkungen. Diese Privilegien verliehen ihnen außerdem einen besonderen Gerichtsstand und beamtenähnliche, durch förmliche Bestallung und Titelverleihung nach außen dokumentierte Rechte. Sie genossen also schon sehr früh einen Status, der von dem der christlichen Kaufleute kaum zu unterscheiden war. Doch ihre Vorzugsstellung beruhte ausschließlich auf den persönlichen Beziehungen zum Hofe und endete oft ganz unvermittelt, namentlich beim Thronwechsel. Immerhin konnte sich die weitverzweigte Familie Gompertz, 4 0 um nur ein besonders ins Auge fallendes Beispiel zu nennen, über fünf Generationen bei sechs preußischen Herrschern als H o f - und Heereslieferant, als Münzunternehmer, Juwelenhändler und Bankier behaupten. Die liberale Haltung des Großen Kurfürsten und seines Nachfolgers ließ die jüdische Bevölkerung im Lande rasch anwachsen. Die Einwanderungswelle konzentrierte sich vor allem auf größere Städte mit wachsender wirtschaftlicher Bedeutung, auf die preußische Metropole Königsberg, die wichtige Messestadt Frankfurt an der Oder sowie die aufstrebende Handels-, Manufakturund Universitätsstadt Halle. Allerdings besitzen wir für diese Zeit noch kaum genaue Statistiken. 41 Eine besondere Anziehungskraft übte neben der größten älteren jüdischen Siedlung in Halberstadt die Residenzstadt Berlin aus. Während dort, wo berühmte Rabbiner mit Unterstützung des einflußreichen kur38

So zuletzt noch von Carsten, The

Court

Jews,

S. 151 f.: „There was a gulf between

them and the mass of ordinary Jews who lived in ghettos" (was für Brandenburg-Preußen ohnehin nicht zutrifft). — Es bestand jedoch eine scharfe gesellschaftliche und „klassenmäßige" Scheidung, die zwischen den verschiedenen sozialen Schichten innerhalb der jüdischen Gemeinden ebenso vorhanden war wie in der übrigen Bevölkerung. Vgl. zum Problem auch Schnee, Hoffaktoren

III, S. 220 ff.

39

Zusammenfassend Schnee, Hoffaktoren

40

III, S. 204 ff.

Uber sie D . Kaufmann und M. Freudenthal, Die

Familie

Gompertz,

1 9 0 7 ; darauf fußen in der Hauptsache Rachel und Wallich, Berliner Kapitalisten,

S. 42 ff., ferner Schnee, Hoffaktoren

Frankfurt a. M.

Großkaufleute

und

I, S. 78 ff. — Die Schreibweise des Namens

variiert: neben Gompertz auch Gomperz (Schnee), Gumpens (Stern). 41

Einige wenige, nicht unbedingt zuverlässige Statistiken im Anhang zu Sterns Akten-

band 1,2, S. 523 ff.

ABSOLUTER STAAT UND JUDENEMANZIPATION IN BRANDENBURG

71

sächsisch-polnischen Hoffaktors Behrend Lehmann 42 ein Zentrum der talmudischen Studien im brandenburgisch-preußischen Staat schufen, im Jahre 1699 bereits 639 jüdische Bewohner gezählt wurden, 43 kamen in Berlin im Jahre 1700 auf ungefähr 20 000 Einwohner 70 „vergleitete", d. h. mit Schutzbriefen und Privilegien versehene, sowie 47 „unvergleitete" jüdische Familien ohne Aufenthaltsberechtigung mit zusammen weit über 1000 Seelen. 44 Diese Juden blieben infolge der strengen Zunfbvorschriften von den meisten Berufen ausgeschlossen. Sie lebten in der Hauptsache vom Handel und vom Geldgeschäft. 45 Ihre wirtschaftliche Lage war zwar uneinheitlich, in den Städten in der Regel besser als auf dem Lande, jedoch im Durchschnitt nicht ungünstig, besonders in den größeren Städten und zumal in der Residenz Berlin. Für ihre Leistungsfähigkeit spricht schon die relativ leichte Aufbringung der ihnen auferlegten Sonderabgaben, vor allem aber die Tatsache, daß sie bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts mehr zur Akzise beisteuerten als die gesamte christliche Kaufmannschaft zu Berlin. Nach der einzigen noch vorhandenen detaillierten Statistik aus dieser Zeit zahlten die Berliner Juden im Jahre 1705 zusammen rund 117 000 Taler, die Berliner Kaufleute hingegen knapp 44 000 Taler an Akzise. 46 Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Juden den doppelten Akzisesatz der christlichen Kaufleute entrichten mußten, kann man daraus nur folgern, daß ihr Handel zu diesem Zeitpunkt bedeutender war. Dazu kommt noch, daß sich die Akzisesumme auf einen sehr kleinen Personenkreis verteilte, dieser mithin ziemlich kapitalkräftig gewesen sein muß. 4 2 Ober ihn bes. Schnee, Hoffaktoren II, S. 169 ff., über seine Unterstützung der Talmudstudien in Halberstadt bes. S. 187 f. 4 3 „Specification der sämtl. Judenschaft in der Stadt Halberstadt" vom 21. März 1699 im Anhang zu Stern 1,2, S. 531 ff. Dazu kommt noch eine nicht genau bekannte Zahl von im Fürstentum Halberstadt auf dem Lande ansässigen Juden. 4 4 Bei der ersten ordentlichen Zählung in Berlin ermittelte Familienzahl (Stern 1,2, Anhang S. 529 f.). Eine ältere Statistik aus dem Jahre 1688 ebd., S. 526, ist unvollständig, vgl. Rachel, Die Juden im Berliner 'Wirtschaßsieben ..., S. 177; Kopfzahl geschätzt. 4 5 Vgl. Rachel, a.a.O., S. 177 ff.; außerdem ders., Das Berliner Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, Berlin 1931, S. 41 ff. 4 6 „Extrakt, was die Judenschaft in der Kgl. Residenz Berlin in anno 1696, 1699, 1703 und 1705 versteuert" (Stern 1,2, Akten Nr. 284). Danach betrug das Steueraufkommen in Talern (Groschen bleiben unberücksichtigt): 1699 1703 1705 1696 Akzise insgesamt: a) 78 669 89 413 134 631 168 332 christliche Kaufleute: — — 30 246 43 865 Juden: 8 614 15 268 42 495 117 437 a) Die Zahlen für die Gesamterträge der Akzise bzw. für die Kaufleute nach Acta Borussica. Handels-, Zoll- und Akzisepolitik, Bd. 1, Berlin 1911, S. 857 bzw. S. 858.

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PETER

BAUMGART

Gesellschaftlich und kulturell führten die Juden hingegen ein typisches Ghettodasein. 47 Die geschlossene, sorgsam abgestufte ständische Gesellschaft, in der nicht nur die Außenstehenden, sondern auch der Bauer und der einzelne Stadtbürger so gut wie keine Rechte besaßen, stand dem Juden als dem Andersgläubigen, dem Fremden und nicht zuletzt dem wirtschaftlichen Neuerer 48 noch schroff ablehnend gegenüber. Vorerst mußte die Regierung auf die latent, bisweilen offen feindselige Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Doch vermochte sich der Staat in seiner Omnipotenz bald darüber hinwegzusetzen, und zwar unter der Herrschaft Friedrich "Wilhelms I. Seinen Regierungsantritt hat Carl Hinrichs als einen B i l d e r s t u r m bezeichnet, der den preußischen Staat von Grund auf umformte. 49 Dies machte sich auch in der Judenpolitik bemerkbar. Persönlich freilich nahm der König, der in fester, calvinistisch und pietistisch geprägter Religiosität verwurzelt und von den der Frühaufklärung verpflichteten humanitär-toleranten Zeitströmungen nur oberflächlich berührt war, den Juden gegenüber eine durchaus feindselige Haltung ein. Bekannt ist seine Äußerung in der Instruktion für seinen Nachfolger von 1722, 5 0 worin er Friedrich in seiner drastischen Sprache unverblümt empfahl, die Juden, soweit sie keine Schutzbriefe besäßen, außer Landes zu jagen, denn sie seien die „heuschrechen einnes landes und Ruiniren die Kristen". Infolgedessen siegte die persönliche Abneigung des Monarchen nicht selten über die Gründe der Staatsräson, von denen sich in der Regel seine Beamten leiten ließen. Friedrich Wilhelms I. Judenpolitik war deshalb von Schwankungen nicht frei und blieb insgesamt uneinheitlich. Es war vielmehr die Entwicklung des absoluten Staates selbst, die dennoch für die Juden eine durchgreifende Änderung ihrer Verhältnisse einleitete. Die große innere Reorganisation Preußens zu Beginn der zwanziger Jahre, die in der Schaffung des Generaldirektoriums gipfelte, 51 berührte auch die Stellung 47

Es bedarf dazu wohl speziell für die brandenburgisch-preußischen Judengemeinden und

ihr Verhältnis zur Umwelt noch der Detailuntersuchungen. Wichtige sozialgeschichtliche Einsichten, die weithin auch für jene zutreffen dürften, kann man der Studie von Jacob K a t z , Tradition

and Crisis (s. Anm. 8) entnehmen, die den Bereich der aschkenasisdhen Juden für

die Zeit vom 16. bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts behandelt. 48

Dies betonen besonders Sombart, Die

Rachel, Berliner 49

Wirtschaftsleben,

Der Regierungsantritt

Juden

und

das Wirtschaftsleben,

S. 136 ff. und

S. 43 ff.

Friedrich

Wilhelms

/., jetzt in: Preußen

als historisches

S. 9 1 ; zusammenfassende Charakteristik des Königs unter dem Titel: Friedrich König 60

von Preußen,

Problem,

Wilhelm

I.

ebd., S. 40 ff.

Zitiert nach: Die

politischen

Testamente

der

Hohenzollern,

Bd. 1, hrsg. von

Georg

Küntzel und Martin Hass, Leipzig und Berlin 1911, S. 86. 51

Dazu zuletzt Hans Haussherr, Verwaltungseinheit

17. bis zum Beginn

des 19. Jahrhunderts,

und Ressorttrennung

Berlin 1953, S. 1 ff.

vom Ende

des

ABSOLUTER STAAT U N D JUDENEMANZIPATION IN B R A N D E N B U R G

73

der Juden: Der neuen obersten Innenbehörde und den ihr nachgeordneten Vollzugsorganen in den Provinzen wurde nunmehr das Judenwesen der Monarchie einheitlich unterstellt, jedenfalls soweit davon „die Erfüllung des [staatlichen] Etats und was damit connex ist, dependiret". 52 Ausgenommen waren lediglich die Justizsachen und das Zeremonialwesen, das auch weiterhin der 1708 geschaffenen Judenkommission verblieb. Das Generalprivileg von 1730, 5 3 in dem auch diese Kompetenzfragen abschließend geregelt wurden, unterwarf erstmals a l l e Juden in Preußen e i n e m a l l g e m e i n e n staatlichen Recht. Es bezeugte einen vollkommenen Sieg der Zentrale über die partikulären Gewalten und zugleich das Ende des alten Systems des persönlichen Judenschutzes. In dieselbe Richtung zielte die Neuordnung der Sonderbesteuerung der Judengemeinden. Eine feste von der preußischen Gesamtjudenschaft zu verbürgende Steuerschuld, die nach einem von Zeit zu Zeit überprüften Schlüssel, der sog. Generalpartition, auf die Provinzen und Gemeinden umgelegt wurde, löste seit 1728 die bisher üblichen Einzahlungen ab. 64 Sie betrug damals jährlich 15 000 Taler, 1765 wurde sie auf 25 000 Taler erhöht. 55 Die Abgaben flössen nicht mehr in die königliche Privatschatulle, sondern in die allgemeine Staatskasse. Damit wurde das mittelalterliche Regal des Fürsten endgültig beseitigt. Aus Finanzobjekten der Krone wurden, wie Selma Stern treffend gesagt hat, 5 6 Steuerzahler des Staates. Der Zwang zur gemeinsamen Repartition der Steuern führte außerdem zu einem wenn auch losen Zusammenschluß der bislang verfassungsmäßig isolierten jüdischen Gemeinden in Stadt und Land. Der Ausschließlichkeitsanspruch des absoluten Staates auf seine Untertanen verlangte die Beseitigung aller etwa noch bestehenden politischen Rechte von korporativen Zwischengliedern zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen. Diese Maxime leitete den königlichen Selbstherrscher bei der Unterwerfung der Zünfte und der städtischen Kommunen unter die staatliche Ge52

Nach einer Formulierung des Wirkl. Geh. Rates v. Viebahn in einem diesbezüglichen

Gutachten vom 20. August 1730, bei Stern 11,2, Akten N r . 2 3 4 ; vgl. auch 11,1 S. 17 ff. 63

„General-Privilegium und Reglement, wie es wegen der Juden in Sr. Königl. Majestät

Landen

zu

halten",

Berlin, den 29. September 1730,

in

dem

alten

Drude

bei

Mylius,

C C M V, 5. Abt., 3. Kap. N r . L III, Spalte 193 ff., die Zuständigkeiten geregelt in Absatz 24. Zur Würdigung Stern 11,1, S. 2 0 ; Geiger (Geschichte der Juden

in Berlin

I, S. 45 f.) hingegen

sieht in dem Reglement für alle preußischen Juden „eine wichtige, verhängnisvolle

Um-

gestaltung". 54

Marginalentscheidung des Königs bei Stern 11,2, Akten N r . 193, dazu auch N r . 194 und

N r . 195. 55

Nach Geiger, a. a. O. II, S. 96, s. auch unten S. 80 f.

56

11,1, S. 46.

74

PETER BAUMGART

walt. 57 Sie führte ebenso dazu, daß unter Friedrich Wilhelm I. auch das überkommene Selbstverwaltungsrecht der jüdischen Gemeinden mit ihrer dem alten städtischen Ratsregiment nicht unähnlichen oligarchischen Verfassungsstruktur 58 angetastet wurde. Eben diese antiquierte Verfassung mit ihrer Cliquenbildung und ihrem Nepotismus, ihrer finanziellen Willkür bei der Besteuerung und ihrer mangelhaften Rechnungsführung erzeugte ständig persönliche und soziale Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden. Diese inneren Mißstände boten dem König einen willkommenen Anlaß zum Eingreifen. Vor allem seit 1722, mit dem „Reglement für die Ober- und anderen Ältesten der Berliner Judenschaft", 59 begann eine sich allmählich steigernde Reglementierung der jüdischen Selbstverwaltung, die von der Umstellung auf die deutsche Buchführung über die Ernennung eines ständigen königlichen Aufsichtsbeamten bis hin zu der 1737 in einer neuen verschärften Ordnung projektierten Änderung des jahrhundertealten Wahlmodus für die Ältesten reichte, sogar 1729 vor der Oktroyierung eines unerwünschten Rabbiners nicht zurückschreckte und lediglich den Kultus selbst nicht antastete. Diese Einmischung in die internen Angelegenheiten der Gemeinden trug wesentlich dazu bei, die nahezu schrankenlose Macht der Ältesten zu verringern und den inneren Zusammenhalt der bisher so festgefügten, abgesonderten Gemeinschaft zu lockern. 59 * Der preußische Staat griff darüber hinaus mit zahlreichen Edikten auch in das Leben jedes einzelnen rigoros ein. Während der König einer beschränkten Zahl von Hoffaktoren und Fabrikanten großzügig sog. Generalpatente gewährte, die allen ihren Nachkommen die selbständige Niederlassung gestatteten, ließ er das a l l g e m e i n e Privilegienrecht erheblich verschärfen. Während Friedrich Wilhelm I. zuerst 1724 dem Hofagenten und Heereslieferanten Meyer Rieß sowie dem schon während seiner Kronprinzenzeit begünstigten Marcus Magnus, später auch einer Reihe von Fabrikanten derartige Patente 5 7 Vgl. vor allem die älteren Untersuchungen von Gustav Schmoller, Das brandenburgischpreußische Innungswesen von 1640 bis 1800, hauptsächlich die Reform unter Friedrich Wilhelm /., in: Umrisse und Untersuchungen, Leipzig 1898, S. 314 ff.; ders., Das Städtewesen unter Friedrich Wilhelm /., in: Deutsches Städtewesen in älterer Zeit ( = Bonner Staatswissenschaftl. Untersuchungen 5), Bonn u. Leipzig 1922, S. 231 ff.

Zum folgenden außer Stern, 11,1, S. 125 ff., jetzt Katz, Tradition

68

and Crisis, S. 79 ff.

Vom 16. März 1722, ebd., 11,2, Akten N r . 97, dazu die Aktenstücke Nr. 217 ff. betr. die Oktroyierung eines Rabbiners für die Berliner Gemeinde; Nr. 329 verschärfter Privileg59

entwurf für die Berliner Schutzjuden vom Dezember 1737, darin bes. § 2 7 ; N r . 331 Stellungnahme der Berliner Judenältesten dazu vom 4. April 1738; vgl. auch Geiger, Geschichte der Juden 89

in Berlin I, S. 38 ff.

a Vgl. Katz, Tradition

and Crisis, S. 248 ff.

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großzügig erteilte, 60 die stark zur Vergrößerung der jüdischen Gemeinden beitragen mußten, wurde nicht nur die Neuansiedlung durch das allgemeine Privilegienrecht ungemein ersdiwert, sondern dieses schloß sogar die Ansetzung der dritten Söhne und aller Töditer der bereits privilegierten Judenfamilien im Lande aus.61 Im Jahre 1737 entschied sich der König sogar dazu, die Zahl der in der Residenz ansässigen jüdischen Familien durch Ausweisung erheblich zu reduzieren.62 Abgesehen davon, daß der erwartete Erfolg dieser Maßnahme ausblieb,63 bewirkte dieses harte Vorgehen, daß es in der Berliner Gemeinde, die nach einem Bericht des Generaldirektoriums an den König noch 1198 Personen umfassen sollte,64 nur mehr 10 Familien gab, die ein Vermögen von unter 1000 Talern hatten, alle übrigen besaßen 2000 bis 20 000 Taler und 6 0 Schnee, Hoffaktoren I, S. 112, der außer den Generalpatenten für die beiden genannten noch vier weitere anführt. „Mit diesen Generalpatenten hat Friedrich Wilhelm I. tatsächlich die sogenannte Judenemanzipation eingeleitet." Die Auswirkungen: Auf Grund eines derartigen Generalpatentes erwarb Meyer Rieß in den Jahren 1734 und 1735 allein elf neue Schutzprivilegien, die also elf weiteren Judenfamilien das Niederlassungsrecht brachten.

Generalprivileg (Anm. 53), Absatz 12; vgl. auch Absatz 10, wonach die Zahl der Berliner Schutzjudenfamilien durch Aussterben allmählich auf 100 verringert und in den übrigen Landesteilen „solche Zahl weder vermehret noch vermindert werden" sollte. 61

Kabinettsordre an das Generaldirektorium, Potsdam, den 26. April 1737 (Stern 11,2, Akten Nr. 308): „Es wollen und ordnen demnach S. K. M. hierdurch allen Ernstes: 1. daß die jetzo in Berlin befindliche 234 Judenfamilien, inclusive der Wittiben, auf 120 Familien reduciret und gesetzet werden; denenselben ihre publique Bedienten mitgerechnet, auch nicht mehr als 250 jüdische Domestiken beiderlei Geschlechts gestattet, alle übrigen aber aus der Stadt und Lande geschaffet werden sollen. Zu welchem E n d e . . . S. K. M. allergnädigst wollen, daß Dero G e n e r a l . . . Direktorium von oberwähnten in Berlin jetzo befindlichen Judenfamilien 120 der besten und vermögendsten aussuchen, die übrigen aber, und zwar binnen Zeit von vier Wochen, wegschaffen . . . " Zur Durchführung vgl. die Akten Nr. 311 ff.: Die hohen Beamten suchten die Maßnahmen des Königs bezeichnenderweise abzumildern (vgl. Nr. 313 und Nr. 315). — Die Zahlenangaben über die tatsächlich aus Berlin ausgewiesenen Juden schwanken, jedenfalls waren es ausschließlich unbemittelte und unvergleitete (Rachel, Die Juden im Berliner Wirtschaftsleben, S. 183). 62

6 3 Im Jahre 1739 wurde die Zahl der steuerbaren Gemeindeglieder, der Familienoberhäupter, bereits wieder mit 262 angegeben (ebd.), lag also nicht nur beträchtlich über dem vorgeschriebenen Limit, sondern sogar über dem Stand von 1737. Die Zuwanderung nach Berlin hielt unvermindert an: 1743 ermittelte der Generalfiskal 333 Familien mit 1945 Köpfen (Rachel, Berliner Wirtschaftsleben, S. 47). — Unter den Provinzen lag Halberstadt an der Spitze. 1737 betrug die Kopfzahl in der Stadt allein 1212, im gesamten Fürstentum 1903 Personen (Generaltabelle derer im Fürstentum H a l b e r s t a d t . . . befindlichen Judenfamilien bei Stern 11,2, Akten Nr. 490, weitere Zahlenangaben 11,1, S. 156 ff.). 6 4 Bericht vom 14. Juni 1737 (ebd., Akten Nr. 317); andererseits sollten 593 Personen Berlin verlassen; eine genaue zahlenmäßige Aufstellung der 120 weiterhin in der Residenz zu duldenden Judenfamilien ebd., Akten Nr. 318.

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PETER

BAUMGART

sogar mehr. 65 Ihre materielle Situation war also durchaus günstig. Auch die Berufsstatistik 66 vermag diesen Eindruck zu bestätigen. Den Kleinkaufleuten, Pfandleihern und Trödlern stand eine beachtliche Zahl von Großhändlern, Seiden-, Gold-, Silber-, Juwelen- und Luxuswarenhändlern, Geldwechslern und Münzlieferanten gegenüber. Es gab außerdem Kommissionäre, Exporteure, Verleger, Makler und Fabrikanten sowie hebräische Drucker. Dabei ist zu bedenken, daß für die merkantilistische Wirtschaftspolitik unter Friedrich Wilhelm I. nicht mehr der Handel, sondern neben der Landwirtschaft vor allem die Manufakturen im Vordergrund standen. 67 Hohe Schutzzölle für die im Aufbau begriffene heimische Textilindustrie, strenge Ausfuhrverbote für Rohstoffe, speziell für Wolle, mußten die ausgedehnte Handelstätigkeit der Juden erheblich beeinträchtigen. Ebensowenig wie uns ein neues wirtschaftspolitisches System am ersten Tage seiner Regierung fertig entgegentritt, hat sich jedoch seine Politik den Juden gegenüber sofort geändert. In dem Privileg von 17 1 4 6 8 wurde ihnen noch die unbeschränkte Handelsfreiheit zugesichert. Erst allmählich und unter dem Eindruck der heftiger werdenden Klagen von Kaufleuten und Zünften griff der König zu restriktiven Maßnahmen und schließlich zu direkten Handelsverboten. 69 Sie trafen besonders den bislang stark expansiven Zwischenhandel. Eine Ausnahmestellung genossen lediglich einzelne Landesteile wie Ostpreußen, wo man auf die Juden wegen des unentbehrlichen Polen- und Rußlandhandels nicht verzichten wollte, oder einzelne Handelsplätze wie die Messestadt Frankfurt an der Oder. Aber auch der jüdische Binnenhandel, der das gesamte damalige Warensortiment umfaßte, wurde schwer beeinträchtigt; am stärksten behinderten die Restriktionen den jüdischen Landhändler und Hausierer. Statt dessen förderte Friedrich Wilhelm I. konsequent den jüdischen Verleger des heimischen Gewerbes und vor allem den jüdischen Fabrikanten, selbst gegen den zähen Widerstand der Kaufmannschaft. Zumal in den mittleren und östlichen Provinzen dominierte das jüdische Verlagswesen. 70 Einige jüdische Unternehmer betätigten sich mit wechselndem Erfolg bei der Errich65

Geiger, Geschichte der Juden

66

Protokoll der Judenkommission vom 1. Juni 1737 bei Geiger, a.a.O.

auch Rachel, Die Juden 67

im Berliner

Vgl. Rachel, Merkantilismus

in Berlin

I, S. 43.

Wirtschaßsieben,

II, S. 76, vgl.

S. 183.

(s. Anm. 19), S. 230 ff., vgl. auch Hinrichs,

Wollindustrie,

S. 1 ff. 68

Konfirmation des bisher gültigen Privilegs der Berliner Judenschaft vom 20. Mai 1714

bei Mylius, C C M V, 5. Abt., 3. Kap., N r . X X X I , Sp. 157ff. 69

Zum folgenden Rachel, Die Juden

Wirtschaftsleben, 70

im Berliner

S. 44 ff.; Stern 11,1, S. 58 ff.

Stern 11,1, S. 90 ff.

Wirtschaftsleben,

S. 181; ders.,

Berliner

ABSOLUTER STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N I N B R A N D E N B U R G

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tung von Manufakturen. Namentlich die 1730 errichtete Samtmanufaktur des David Hirsch in Potsdam erwies sich als eine dauerhafte und ertragreiche Gründung. 71 Da im Vergleich mit dem europäischen Ausland das Finanz- und Kreditwesen in Preußen rückständig geblieben war, Banken und Börsen bis in die friderizianische Zeit hinein unbekannt geblieben sind, außerdem kaum Möglichkeiten für die Kapitalbildung und Kapitalanlage bestanden, konnte man dort auf die Juden als private Geldhändler, Wechsler und Pfandleiher nicht verzichten. Ihre diesbezügliche Tätigkeit blieb deshalb unbehindert. 72 Auch mußte der König bei dem Versuch einer Sanierung des Münzwesens widerstrebend auf die jüdischen Münzentrepreneurs zurückgreifen, da er für die neuen Münzprägungen auf ihre monopolartige Stellung im europäischen Silberhandel angewiesen blieb.73 Er versagte sich hingegen strikt der an anderen deutschen Fürstenhöfen, zumal in Wien, Dresden, Hannover, Kassel, durchaus üblichen Praxis, 74 den Rat und die Mittel eines jüdischen Hofbankiers zu gebraudien. Aus ihrer Sicht mußte den Juden die Regierung Friedrich Wilhelms I. als eine „eiserne Zeit" erscheinen.75 Von den objektiven Wirkungen her trugen jedoch die Maßnahmen zur verfassungsmäßigen und steuerlichen Neuordnung erheblich dazu bei, die allmähliche politische Eingliederung in den Staat voranzutreiben und auch die kulturelle Assimilation an die Umwelt behutsam einzuleiten.76 Unter dem Eindruck der Frühaufklärung änderte sich langsam die Einstellung zu den Juden. Unter den Zeitgenossen zeigten nunmehr vor allem die Befürworter des absolutistischen und merkantilistischen Systems ein größeres Maß an Toleranz und Aufgeschlossenheit. Dies gilt in erster Linie für die 71 Vgl. etwa Rachel u. Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Schnee, Hoffaktoren I, S. 116 f., sowie Stern 11,1, S. 95 ff.

S. 253 f., auch

72 Vgl. etwa die einschlägigen Bestimmungen des Generalprivilegs von 1730 (Anm. 53), in denen lediglich die Behandlung der Pfänder, die Höhe der Zinssätze, ein Verbot des Zinseszinses festgelegt, gegen diese Tätigkeiten jedoch keine Einwände erhoben werden (Absatz 6, 7), während die Gegenstände, mit denen die Juden handeln dürfen (Absatz 3) und die wenigen Handwerke, zu denen sie Zugang haben (Absatz 9: Petschierstedien, Gold- und Silberscheiden bzw. -sticken, Schlächterei für eigene Zwecke) genauestens spezifiziert werden. 73

Über den wichtigsten dieser „Hofmünzer", Levin Veit, zuletzt Schnee, Hoffaktoren S. 112 f. u. S. 117 ff., ergänzend Rachel u. Wallich, a.a.O., S. 76 ff. 74

Dazu ausführlich Schnee, Hoffaktoren,

75

Nach der Formel Geigers.

76

I,

bes. Bd. I u. II, passim.

Treffend Stern 11,1, S. 149. — Für die allgemeine Problematik des Verhältnisses zwischen den Juden und ihrer Umwelt grundlegend Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, N e w York 1962, bes. S. 156 ff.

78

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preußische Beamtenschaft, für Männer wie den Chef der Judenkommission von Broich77 oder den Küstriner Kammerdirektor Hille. Letzterer, sicherlich einer der qualifiziertesten Wirtschaftspolitiker des Königs, 78 sah „en matière de commerce" keinen Unterschied zwischen Juden und Christen. Indessen waren es nicht allein die beginnende Aufklärung und der Rationalismus, die das Verhältnis zu den Juden in Brandenburg-Preußen veränderten. Auch die neue religiös-soziale Bewegung des hallischen Pietismus,79 die in ihrer Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie und der mit dieser verbündeten adlig-ständischen Gesellschaft schon unter Friedrich I., dann vor allem unter seinem Nachfolger aus politischen Gründen vom absolutistischen Staat stark gefördert wurde, 80 muß in diesem Zusammenhang besonders genannt werden. Ihr geistlicher Begründer, Philipp Jakob Spener, prophezeite nicht nur die schließliche friedliche Bekehrung aller Juden, er vertrat, höchst ungewöhnlich für seine Zeit, ihnen wie allen Fremden gegenüber schon vor der Jahrhundertwende den Geist der christlichen Nächstenliebe. In einer der Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter gewidmeten Predigt aus dem Jahre 1695 steht zu lesen:81 „Absonderlich merken wir daraus, daß unter die Nächsten auch die Fremde gehören; wie dann Samariter und Juden einander fremde w a r e n . . . , bleiben gleichwohl auch Nächste J u d e n / Heyden / Türken / und die auch unter Christen nicht einerley mit uns glauben / und haben wir keinem / was die allgemeine Liebe erfordert / zu versagen." August Hermann Francke hat Speners Ideen aufgegriffen, und Einrichtungen wie das 1702 zu Halle geschaffene „Collegium orientale" 82 77

Was Priebatsch (Die Judenpolitik

des fürstlichen

Absolutismus

...,

S. 616) generell für

die Beamten des absoluten Fürstenstaates sagt, daß nämlich „aus der Beschäftigung mit den jüdischen Dingen allmählich eine Art Fürsorge für die Juden, wie sie keine frühere Zeit gekannt hatte", wurde, gilt im besonderen für Broich. Vgl. etwa seine Bemühungen, die harten Ausweisungsmaßnahmen des Königs 1737 abzumildern (Hinweis in Anm. 62). 78

Über ihn jetzt Carl Hinrichs, Hille

tiker des preußischen

Absolutismus,

und Reinhardt,

in: Preußen

Zitat bei Wilhelm Naudé, Die merkantilistische der Küstriner 79

Kammerdirektor

Hille,

zwei Wirtschafls-

als historisches Problem, Wirtschaftspolitik

und

Sozialpoli-

S. 161 ff. Das folgende

Friedrich

Wilhelms

I.

und

in: H Z 90 (1903), S. 11.

Dazu grundlegend ders., Friedrich

Wilhelm

I. (s. A n m . 2 5 ) , daraus das K a p . : Die Be-

gegnung mit der Reformbewegung des Pietismus (S. 559 ff.). 80

Vgl. vor allem Klaus Deppermann, Der

unter Friedrich 81

hallesche

Pietismus

und der preußische

Staat

III. (I.), Göttingen 1961.

Predigt Speners über „die christliche Verpflegung der Armen", zitiert nach Deppermann,

a. a. O., S. 60. 82

Über die Tätigkeit des „Collegium Orientale", das sich außer mit orientalischen Sprach-

studien u. a. auch mit der Herausgabe einer hebräischen Bibel befaßte, vgl. Otto Podczeck, Die Arbeit

am Alten

Testament

in Halle

Sprachwiss. Reihe 7 (1958), S. 1059 ff.

zur Zeit des Pietismus,

in: Wiss. Zs. Halle, Ges.-

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dienten nicht zuletzt dem Studium der religiösen wie der geistigen und sprachlichen Welt des Judentums, dem besseren Verständnis und der Toleranz der Religionen untereinander. Im Jahre 1728 wurde zu Halle des „Institutum Judaicum" gegründet, das unter Leitung des Professors Callenberg einen neuen Weg der Judenmission beging, freilich ohne dabei nennenswerten Erfolg zu erzielen. 83 Auf diese Weise half der Pietismus, einen Wandel in den Beziehungen der christlichen Umwelt zu den Juden herbeizuführen. Die Verfechter der überkommenen Lebens- und Sozialordnung hingegen: die Stände, Zünfte, städtischen Honoratioren, hielten unverwandt an ihrer Gegnerschaft fest. 84 In der Tat boten ihnen die preußischen Juden mit ihrer überaus engen Bindung an die eigene, streng abgesonderte Gemeinschaft, mit ihrer noch ungebrochenen Verwurzelung in der großartig geschlossenen, aber einseitigen Welt des Talmud 8 5 nur schwer einen Zugang zum Verständnis ihrer besonderen Existenz und zur Uberwindung der daraus resultierenden Vorurteile. Und doch war die Anpassung an die bestehenden Verhältnisse, jedenfalls im wirtschaftlichen und politischen Bereich, bereits vorangeschritten. Erste Etappen auf dem Wege zur bürgerlichen Emanzipation waren schon zurückgelegt. Ihnen sollten alsbald weitere folgen. Zweifellos den größten Fortschritt in Richtung auf ihre endliche staatsbürgerliche Emanzipation verdankten die preußischen Juden der Regierung Friedrichs des Großen. 8 6 Freilich war es keineswegs die persönliche Weitherzigkeit oder Gleichgültigkeit des aufgeklärten Monarchen gegenüber den Konfessionen und Religionen, 87 der sie dies zuzuschreiben hatten. Von dem toleranten Geist des aufgeklärten Absolutismus, der sonst Friedrichs Handeln bestimmte, ist den Juden gegenüber wenig zu spüren. Der König trat ihnen 83

Vgl. Wilhelm Maurer, Kirche

und Synagoge,

Stuttgart 1953, S. 55 íf. u. S. 111 ff., mit

dessen Ansichten sich der Verfasser freilich nur partiell zu identifizieren vermag. 84

Dazu Rachel, Die Juden

85

Vgl. die Schilderung des „Typus des damaligen Juden" bei Stern 11,1, S. 166 ff.

Allgemein: Katz, Tradition 86

im Berliner

Wirtschaftsleben,

S. 185. —

and Crisis, passim.

In der Fülle der Literatur von unterschiedlichem Gewicht und mit stark divergierenden

Wertungen bleibt Reinhold Kosers Geschichte

Friedrichs

des Großen,

4 Bde., Stuttgart und

Berlin 1 9 2 1 — 2 5 (Bd. 1—3, 7. Aufl., Bd. 4, 5. Aufl.), nach wie vor als die materialreichste und umfassendste Darstellung unentbehrlich. 87

Wie sie etwa in seinem Politischen Testament von 1752 in dem Abschnitt „Des ecclé-

siastiques et de la religión" zum Ausdruck kommt (Die Politischen zollern,

Testamente

der

Hohen-

Bd. II, 2. erw. Aufl., bearb. von Georg Küntzel, Leipzig und Berlin 1920, S. 40 ff.).

Vgl. aber die Äußerungen Friedrichs über die Stellung der Juden im Handel (ebd.,

S. 31).

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nicht als wohlwollender Landesvater, sondern als kühler Rechner entgegen, der sich ihrer für seine wirtschaftlichen Pläne bediente und nur insoweit zu Zugeständnissen bereit war, als es dem Staat nützte. Friedrich stand jedoch ein Beamtentum zur Seite, 88 das sich nicht selten gerechter und vorurteilsloser zeigte als der König. Die Einstellung dieser aufgeklärten Staatsdiener, die der Volksmeinung zweifellos weit vorauseilte, hat der Geheime Finanzrat Manitius 1745 in einem vom Generaldirektorium ausdrücklich gebilligten Gutachten dahin formuliert, 89 daß „bey jetziger täglich mehr und mehr sich aufklährenden Einsicht in allen facultaeten nicht leicht jemand noch so einfältig seyn [wird], daß er p r o p t e r . . . differenten Gedanken und Meynungen in Religionsbegriffen das inveteratum odium religionis annoch billigen und einer gantzen nation deshalb die toleranz, den Schutz und officia humanitatis zu versagen, vor recht und billig halten solte". Es sei ein „falsches praejudicium politicum", anzunehmen, die Juden schadeten dem Lande und speziell der Kaufmannschaft. „Handel und Wandel kennet keinen Unterschied der Religionen, sondern erfordert nur Treu und Glauben und wäre zu wünschen, daß dieser, nach proportion der Anzahl der handelnden Christen, mehr bey diesen als bey denen Juden zu finden sein möchte." In ähnlichem Sinne hatte sich früher bereits der Kammerdirektor Hille geäußert, und in derselben Weise tat es zwei Jahrzehnte später der Generalfiskal d'Asnieres. 90 Er begründete seine Ablehnung einer von Friedrich gewünschten Erhöhung des Judenschutzgeldes 1765 wie folgt: „ . . . Es ist auch niemahls ein billiges und in der Vernunft gegründetes principium in dieser Materie ausfindig zu machen. Die Juden tragen mit den Christen einerley onera, bis auf einige gantz wenige Kleinigkeiten: woher kommt es, daß sie mehr geben müssen als die Christen, da doch die Christen unendliche Vortheile in allen andern Stücken für ihnen genießen? Woher kommt dieses Privilegium onerosum? Ist es billig, nöthig und nützlich, daß es dabey bleibe, oder daß man hierunter noch weiter gehe? Der Ursprung der Juden-Schutz-Gelder ist durch ganz 88

Über die Rolle des Beamtentums allgemein Priebatsch (s. Anm. 10), S. 615 ff. (vgl. auch

Anm. 77). Es dürfte jedoch zumindest einseitig und überspitzt sein, wenn Priebatsch S. 651 sagt: „Sicher ist es jedenfalls, daß es nicht die Botschaft von 1789, sondern die Arbeit des Beamtentums gewesen ist, die durch ihre umbildende Tätigkeit die große Wendung herbeigeführt h a t . . . " 89

Gutachten vom 3. Dezember 1745 bei Geiger, Geschichte der Juden

in Berlin

II, S. 87 f.

Dem Votum des Manitius sind die Minister des Generaldirektoriums Happe, Viereck und Blumenthal beigetreten. 90

Das ausführliche Gutachten des Generalfiskals vom 23. März 1765 vollständig

S. 97 ff. — Hilles Äußerung s. o.

ebd.,

ABSOLUTER STAAT U N D JUDENEMANZIPATION

IN B R A N D E N B U R G

81

Europa in den Verfolgungen, die die Juden erlitten, in dem Haß eines abergläubischen und ungerechten Volkes zu suchen. Dazu kam, daß die Fürsten ihre Aufnahme als ein Mittel betrachteten, ihre Cassa anzufüllen und sich wenig daraus machten, ob die Juden, die auch würklich damals sehr unnütze . . . Mitglieder des Staates waren, fertig werden konnten oder nicht." Freilich hat der König sich an diesen Ratschlag nicht gehalten, aber höchst aufschlußreich für die Einstellung eines Teils des hohen preußischen Beamtentums bleibt er dennoch. Angesichts der persönlichen Haltung des Monarchen durften die Juden kaum auf eine generelle Verbesserung ihrer Rechtsstellung im friderizianischen Staat hoffen. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurfte, so lieferte ihn das Generalreglement91 des Jahres 1750 mit seinen teils diskriminierenden, teils kreditschädigenden Bestimmungen. Es hob zwar die 1708 geschaffene besondere Judenkommission auf und schloß die Juden dadurch enger an den Staatsverband an, es erhöhte auch die Zahl der zugelassenen Schutzjuden. Dafür aber teilte es die jüdische Bevölkerung in zwei Klassen: in die begrenzte Zahl der privilegierten „ordentlichen Schutzjuden" und in die Masse der übrigen „außerordentlichen Schutzjuden", die weder heiraten noch ihren Schutz auf andere übertragen durften. Selbst erstere konnten nunmehr bis 1763 nur noch den erstgeborenen Sohn ansetzen, es sei denn, ihr Vermögensstand überstieg 10 000 Taler. Als besonders drückend und im Geschäftsleben hinderlich erwiesen sich außerdem die Solidarhaftung für die Abgaben, dann sogar für Diebstahl, Hehlerei und Bankrott, ferner die Aufrechterhaltung bzw. teilweise Verschärfung der Berufsverbote. 92 Derartige Maßnahmen konnten jedoch den für den Durchbruch zur Emanzipation entscheidenden wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der Juden allenfalls verzögern, aber nicht verhindern. Diese hatten teil an der kräftigen Expansion der Wirtschaft, die nunmehr einsetzte. Zwar war es nur eine relativ dünne jüdisdie Oberschicht: Fabrikanten, Münzunternehmer, Bankiers, Heereslieferanten, die in großem Umfang aktiv dazu beitrugen, aber ihre

91

Gedruckt im Novum

Corpus

Constitutionum

II, Sp. 117 ff. Das am 17. April 1 7 5 0 v o m

König unterzeichnete Reglement wurde auf den Einspruch der Juden hin zunächst nicht publiziert, dann jedoch auf Ersuchen des Kammergerichts durch Kabinettsordre v o m 18. Juli 1 7 5 6 in der Gesetzessammlung veröffentlicht. 92

Ü b e r die einzelnen Phasen dieser Gesetzgebung, in der das Generalreglement nur den

Höhepunkt Preußen

darstellt,

vgl.

die

. . . (s. A n m . 4 ) , S. 16 ff.

6 Jahrbuch 13/14

Einleitung

bei

Freund,

Die

Emanzipation

der

Juden

in

82

PETER BAUMGART

Tätigkeit kam zumindest indirekt der Gesamtheit ihrer Glaubensgenossen zugute, deren Zahl auch weiterhin anstieg.93 Der König zog kapitalkräftige Angehörige der jüdischen Kolonien des Landes heran, um seine weitgespannten Industrialisierungspläne zu verwirklichen. Der Ausbau Berlins zur bedeutendsten Gewerbestadt der Monarchie war ohne die Beteiligung jüdischer Unternehmer schwerlich in diesem Umfang denkbar.94 Die von Friedrich besonders geförderten Seidenmanufakturen, ferner die Barchent-, Kattun- und Strumpfwebereien sowie die nun aufkommenden Baumwollfabriken wurden bevorzugt von ihnen betrieben, während sie von der Woll- und Tabakfabrikation ausgeschlossen blieben. Der vielseitige Unternehmer Isaak Benjamin Wulff galt gegen Ende der Regierung Friedrichs II. als der größte Baumwoll- und Seidenfabrikant des Landes.95 Seine Jahresproduktion hatte einen Wert von etwa 100 000 Talern. Isaak Bernhards 1752 errichtete Seidenmanufaktur, in der Moses Mendelssohn Prokurist und Teilhaber war, gehörte zu den angesehensten Häusern der Branche.96 Die Initiative zur Gründung der zahlreichen von Juden angelegten Manufakturen — zwischen 1745 und 1757 zählen wir etwa ein Dutzend allein in Berlin und Potsdam97 — ging zwar, wie stets im Merkantilsystem, vom Staate 93

Nach F. W. Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark burg, Bd. 1, Berlin 1804, S. 33, betrug die jüdische Bevölkerungszahl 1750 1760 1770 1780 1790 1800 1801

in Berlin

in der Mark

2188 2791 3842 3386 3379 3322 3549

1685 1711 1996 2472 2255 2426 2453

Branden-

Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Provinz lag ihr Anteil im Jahre 1804 bei 1:138. — Obwohl diese Angaben keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit erheben können, scheinen sie mir doch verläßlicher als die teilweise stark differierenden, etwas zufälligen Angaben für einzelne Jahre in der modernen Literatur (Schnee, Hoffaktoren I, S. 190; Radiel, Die Juden im Berliner Wirtschaftsleben, S. 194). — Erstaunlich ist an dieser zahlenmäßigen Entwicklung der starke Rückgang seit dem Ende der 70er Jahre und die anschließende Stagnation in einer Periode ständigen wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs. 94 Vgl. Rachel, Berliner Wirtschaftsleben, S. 48 ff.; ders., Die Juden im Berliner Wirtschaftsleben, S. 187 ff.; ferner allgemeiner Selma Stern-Täubler, The Jews in the economic policy of Frederick the Great, in: Jewish Social Studies XI (1949), S. 129 ff. 95

Dazu Rachel u. Wallich, Berliner Großkaufleute

96

Ebd., S. 280 f.

und Kapitalisten,

S. 280.

87 Bei Regierungsantritt Friedrichs des Großen bestand lediglich, allerdings als größtes privates Unternehmen, die Samtfabrik des David Hirsch in Potsdam (s.o., S. 77); es folgten

ABSOLUTER STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N IN B R A N D E N B U R G

83

aus, und nicht immer kam die jüdische Beteiligung daran ganz freiwillig zustande, doch die Auswirkungen waren für sie denkbar günstig: Auf diesem Gebiete z u e r s t erlangten sie die volle Gleichberechtigung. Friedrich madite keinen Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Kaufleuten bei der Erteilung von Privilegien, Benefizien, Vorschüssen, der Schenkung von Grundstücken und Fabrikhäusern, sogar baren Geldes.98 Allmählich mußte daraus nicht nur eine starke wirtschaftliche Interessenverflechtung zwischen den Juden und dem Lande erwachsen, es mußte auch eine engere Bindung der Juden an dieses Land entstehen, als dies mit ihrem Sonderstatus zu vereinbaren war. Der Siebenjährige Krieg bezeichnet einen wichtigen Einschnitt in der preußischen Judenpolitik. Unter dem Druck der steigenden Rüstungsanstrengungen war Friedrich in wachsendem Maße auf jüdische Heereslieferanten, vor allem aber auf die Münzunternehmer angewiesen." Er gab ihnen ab 1755 sämtliche sechs Münzstätten der Monarchie, nach der Besetzung Kursachsens auch die zu Dresden und Leipzig in Generalpacht, und zwar zunächst einem Konsortium unter Führung des Herz Moses Gompertz, nach dessen Tode seinem erbitterten Konkurrenten Veitel Heine Ephraim, der mit Daniel Itzig und Moses Isaac sofort ein neues Konsortium bildete. Um den gewaltigen Finanzbedarf des langen Krieges decken zu helfen, wurden die Juden zu diesem ebenso riskanten wie einträglichen Geschäft herangezogen, weil sie allein dank ihrer ausgezeichneten internationalen Verbindungen und des ihnen zur Verfügung stehenden Agentennetzes die kritische Situation meistern konnten. In einem Krieg, der an die Existenz des preußischen Staates rührte, räumte ihnen der König erstmals an wichtiger Stelle Mitverantwortung ein. Der Anteil des im Wege der Münzverschlechterung gewonnenen Schlagschatzes an den von Koser nun: Seidenmanufakturen des Moses Ries in Potsdam (1748) und Berlin, des Isaak Bernhard ebenfalls in Berlin und Potsdam (seit 1752), eine Seidenbandfabrik des Barudi Aaron in Potsdam (1748), eine Bardient- und Kattunfabrik des Benjamin Wulff auf vom

König

geschenktem Grundstück im Tiergarten (1751), eine Kattundruckerei seines Sohnes

Isaak

Benjamin (1757), eine Spitzenklöppelei Veitel Heine Ephraims, die Stickerei und Ausnäherei beim Potsdamer Militärwaisenhaus (1749), eine Stepp- und Schattierfabrik (1753) des Isaak Joel; nadi dem Siebenjährigen Kriege wurden die Manufakturgründungen verstärkt

fort-

gesetzt; u. a. entstanden damals die Seidenmanufakturen und eine Baumwollstrumpffabrik des Isaak Benjamin Wulff, eine Tapetenfabrik des Isaak Joel (1763). Über die Anlage der im Kriege erworbenen Vermögen s. u. S. 84. — Keineswegs alle diese Manufakturen hatten Bestand. 88

Siehe Rachel, Die Juden

99

Für das Folgende bleibt die zuverlässigste und abgewogenste Darstellung die von Rachel

u. Wallich, a.a.O.,

im Berliner

Wirtschaftsleben,

S. 291 ff. (Ephraim), S. 354 ff. (Itzig) u. S. 381 f. (Moses Isaac), auch die

Zusammenfassung S. 390 ff.; daneben Schnee, Hoffaktoren brauchbar Stern, The Court Jew, S. 168 ff. 6»

S. 187 f.

I, S. 117 ff. und S. 145 ff.; weniger

84

PETER BAUMGART

mit fast 170 Millionen Talern errechneten Kriegseinnahmen100 betrug immerhin ca. 29 Millionen Taler, also 17 % der Gesamtsumme, während die englischen Subsidien nur eine Höhe von ungefähr 27 Millionen Talern erreichten. Die Münzunternehmer verstanden es außerdem, über 50 Millionen Taler in Gold mit Hilfe des von ihnen geprägten leichten Geldes aus Rußland, Polen, Ungarn und dem besetzten Kursachsen abzuziehen. Ephraim, Itzig und Isaac gingen als Millionäre aus dem Kriege hervor, 101 und mit ihnen waren zahlreiche andere jüdische Unternehmer zu Wohlstand und Reichtum gelangt. Der König sorgte jedoch dafür, daß die unter Ausnutzung der Kriegskonjunktur erworbenen großen Vermögen i m L a n d e angelegt wurden, 102 sei es in Grund- und Hausbesitz, sei es in neuen Manufakturen, um dem nun einsetzenden Rétablissement zu dienen. So übernahm Ephraim u. a. den unter fiskalischer Leitung zuletzt stagnierenden Monopolbetrieb der Berliner Gold- und Silbermanufaktur und brachte ihn innerhalb kurzer Frist zu hoher Blüte. Daniel Itzigs Tätigkeit nach dem Kriege konzentrierte sich zwar hauptsächlich auf Münz- und Bankgeschäfte, aber auch er trat als Fabrikant hervor: E r übernahm vorübergehend das Eisenwerk in Zorge im Harz; länger in seiner Familie blieb die königliche Lederfabrik bei Potsdam. Moses Isaacs Wahl zur Anlage eines Teils seines Kriegsgewinnes fiel auf die Seidenindustrie, allerdings erwies sich die von ihm gegründete Fabrik als ein Mißerfolg. So waren die Juden an der zweiten, durch einen verstärkten Protektionismus und Dirigismus gekennzeichneten Phase der friderizianischen Industrialisierungspolitik wiederum führend beteiligt. Der offenkundige wirtschaftliche Aufstieg der Juden konnte nicht ohne nachhaltige Wirkung auf ihre r e c h t l i c h e und s o z i a l e Stellung im Staate bleiben. Ephraim und Itzig nutzten Anfang 1761 ihre starke Position, um den Abschluß eines neuen Münzpachtvertrages von der Erteilung eines „Generalprivilegs christlicher Kaufleute und Bankiers" für sich und a l l e 1 0 0 Reinhold Koser, Die preußischen Finanzen im Siebenjährigen Krieg, in: F B P G 12 (1900), S. 153 ff. u. S. 329 ff., s. bes. die tabellarische Übersicht, S. 371. — Über den münzgeschichtlichen Aspekt unterrichtet Friedrich Freiherr v. Schrötter in Acta Borussica, Münzwesen, Bd. 2, 3 u. 4, Berlin 1908 ff. Die wirtschaftlichen Zusammenhänge und Folgen erörtern Ludwig Beutin, Die Wirkungen des Siebenjährigen Krieges auf die Volkswirtschaft in Preußen, in: VSWG 26 (1933), S. 209 ff., sowie Stephan Skalweit, Die Berliner Wirtschaftskrise von 1763 und ihre Hintergründe ( = VSWG, Beiheft 34), Stuttgart 1937. 1 0 1 Genaue Vermögensangaben für diesen Zeitpunkt liegen verständlicherweise nicht vor, die späteren testamentarischen Bestimmungen lassen nicht unbedingt einen Rückschluß zu,

dennoch dürfte die Schätzung von Schnee (Hoffaktoren Größenordnung treffen. 102 Vgl Rachel, Die Juden im Berliner Wirtschaftsleben,

I, S. 134) ungefähr die richtige S. 188 f., sowie zum folgenden

detailliert Rachel u. Wallich, a. a. O., S. 321 ff., S. 356 ff., S. 382 ff.

ABSOLUTER STAAT U N D J U D E N E M A N Z I P A T I O N I N B R A N D E N B U R G

85

ihre Nachkommen abhängig zu machen. Dieses neue Privileg 103 befreite sie von den für die Juden im Handel, Geschäfts- und Rechtsleben noch geltenden Beschränkungen und stellte sie de facto den übrigen Staatsbürgern gleich. Es sicherte ihnen die unbeschränkte Handelsfreiheit, freie Niederlassung, freien Grundstückserwerb, Gleichstellung mit den christlichen Kaufleuten vor Gericht und im Wechselrecht. Ein Präzedenzfall für andere um Staat und Wirtschaft verdiente jüdische Unternehmer war damit gegeben. Mindestens 23 von ihnen mitsamt ihren meist sehr großen Familien, 12 davon allein aus Berlin und 6 weitere aus Breslau, kamen unter Friedrich II. noch in den Genuß eines Generalprivilegs, 104 so daß die Zahl der tatsächlich emanzipierten Juden bereits Jahrzehnte vor der gesetzlichen Regelung beträchtlich gewesen ist. Unter Friedrich Wilhelm II., unter dem, wie wir eingangs sahen, die Ansätze zur allgemeinen gesetzlichen Reform ihren Ausgang nahmen, hat sich die Tendenz zur Vorwegnahme der Emanzipation durch Sonderregelungen für einen immer größeren Kreis der jüdischen Bevölkerung weiter verstärkt. 105 Sie kulminierte 1791 in der Verleihung eines N a t u r a l i s a t i o n s p a t e n t e s an Daniel Itzig, das ihn samt seiner zahlreichen Familie mit allen Rechten und Pflichten christlicher Staatsbürger in Preußen ausstattete. 106 Eine Parallele für diese Emanzipation vor der Emanzipation findet sich in Nord103

Noch Anfang 1756 hatte der König ein Gesuch Ephraims wegen Gleichstellung mit den christlichen Kaufleuten abgelehnt, nunmehr vor dem schwierigen Abschluß eines neuen Münzpachtvertrages konnte er dem Münzjuden und seinem Geschäftspartner Itzig die Zustimmung nicht länger verweigern, zumal er selbst durch die Verleihung eines derartigen Patents an den Mecklenburg-Strelitzer Hofjuden Abraham Marcuse, den er dadurch ins Land ziehen wollte, einen Präzedenzfall geschaffen hatte. Das Generalpatent war vom 9. März 1761 datiert. Dazu Schnee, Hoffaktoren I, S. 186. 104 Nach der Zählung Schnees, ebd., S. 186 ff., vgl. auch die Zusammenstellung bei Geiger, Geschichte der Juden in Berlin II, S. 144 f.

ios Welche Ausmaße die Privilegierungen annahmen, wird schlagartig deutlich, wenn man erfährt, daß es 1808 allein in Schlesien 71 Generalprivilegierte gab, 48 davon in Breslau. Im Jahre 1800 waren es dort 37 (ebd., S. 238 f.). 106 Der Text des Patents vom 2. Mai 1791 bei Geiger, a.a.O. II, S. 147 ff. Es beginnt: „Wir Friedrich Wilhelm etc. tun kund . . . , daß wir auf a. u. Vorstellung unsers Ober-HofBanquiers und Chaussée-Bau-Inspectors Isaak Daniel Itzig in Erwägung seiner Uns bisher geleisteten und noch ferner zu leistenden treuen Dienste, auch um seinem Vater, dem hiesigen Banquier Daniel Itzig wegen seines bekannten beständigen Wohlverhaltens und uneigennützigen Betragens ein verdientes Merckmahl Unserer Höchsten Gnaden zu geben, allergnädigst resolvieret haben, letztbemeldeten Banquier Daniel Itzig für sich und seine eheliche Descernen (!) beiderley Geschlechts zu n a t u r a l i s i e r e n und ihnen dadurch a l l e Rechte christlicher Bürger in Unseren gesammten Staaten und Landen zu verleihen." Vgl. auch: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809—1851, hrsg. v. Jacob Jacobson ( = Veröffentlichungen der Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 4), Berlin 1962, Einleitung, S. 5 f.

86

PETER B A U M G A R T

deutschland erst wieder 1804, als der damalige herzoglich braunschweigische Kammeragent und spätere Präsident des israelitischen Konsistoriums im Königreich Westfalen, Israel Jacobson, das volle Bürgerrecht für sich und seine Nachkommen verliehen bekam. 107 Die Schicht der privilegierten Juden sudite und fand spätestens in der zweiten Generation den geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Anschluß an ihre Umwelt. Ihre führenden Repräsentanten, zumal der Berliner Älteste David Friedländer, wurden die entschiedensten Fürsprecher einer a l l e preußischen Juden umfassenden Emanzipation. Es ist kein Zufall, daß es gerade die angesehensten und reichsten Gemeinden: Berlin, Breslau, Königsberg, gewesen sind, die immer wieder energisch für dieses Ziel bei der Regierung und in der öffentlidikeit eintraten. 108 Dies wiederum ist nicht denkbar ohne die Entwicklung, die das Judentum in Preußen unterdes durch das Wirken von Moses Mendelssohn und seinen christlich-jüdischen Freundeskreis genommen hat. Zwar dürfte das innerjüdische Problem des Konflikts zwischen Assimilation und Bewahrung der Vätertradition, das sich mit dem Eindringen der Aufklärung in die Gemeinden stellte, nicht erst durch ihn ausgelöst worden sein, und seine philosophische Deutung des Judentums läßt sich durdiaus unterschiedlich beurteilen, aber einen Wendepunkt für die Geschichte der Juden bezeichnet sein Auftreten dennoch.109 In der kleinen, gebückten, aber darum um so eindrucksvolleren Gestalt Mendelssohns personifiziert sich gewissermaßen dasjenige, was man die jüdische Autoemanzipation nennen könnte. In der christlichen Umwelt fanden die Forderungen nach staatsbürgerlicher Gleichstellung allmählich Resonanz und bisweilen auch aktive Unterstützung. Christian Wilhelm Dohm, 110 ein typischer Vertreter des aufgeklärten preußi10T

Schnee, Hoffaktoren II, S. 113 f. — Jacobsohn stammte aus der jüdischen Gemeinde Halberstadt. Nach Jacobson (a. a. O., S. 6, Anm. 12) erhielt außerdem ein Waldeckscher H o f agent bereits 1793 ein ähnliches Patent. 108 Ebd., I, S. 240 ff. und Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen..S. 208 ff. 109 Ygi neuerdings die zusammenfassende Skizze bei Wanda Kampmann, Deutsche und Juden. Studien zur Geschichte des deutschen Judentums, Heidelberg 1963, S. 98 ff. Eine für das Problem des Eindringens der Aufklärung in die jüdischen Gemeinden vor dem Wirken Mendelssohns offenbar sehr wichtige, zudem von der Katzsdien Konzeption (siehe Anm. 8) etwas abweichende Dissertation von Azrel Shohet, Beginnings of the Haskalah among German Jewry, Bialik Institute, Hebräisdie Universität Jerusalem 1960, liegt bisher nur in hebräischer Sprache vor (vgl. Jacob Toury, Neue hebräische Veröffentlichungen zur Geschichte der Juden im deutschen Lebenskreise, in: Bulletin für die Mitglieder der Gesellschaft der Freunde des Leo Baeck Institute 1961, S. 55 ff.). 110 Am ausführlichsten noch immer W. Gronau, Christian Wilhelm von Dohm nach seinem Wollen und Handeln, Lemgo 1824; ferner der Artikel Dohm in der Encyclopaedia Judaica 5, Sp. 1176 ff. mit Literaturangaben.

ABSOLUTER STAAT U N D JUDENEMANZIPATION IN BRANDENBURG

87

sehen Beamtentums, machte sich zum beredten Anwalt ihrer gerechten Forderung, alle Ausnahmegesetze zu beseitigen. Seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" von 1781, die eine lebhafte öffentliche Kontroverse auslöste, gilt mit Recht als ein Meilenstein in der Geschichte der preußischen wie der allgemeinen Judenemanzipation. 111 Ein den Juden weniger günstig gesonnener Zeitgenosse, der Kammerherr der Königin, Graf Lehndorff, erblickte in der friderizianischen Haltung ihnen gegenüber den Anfang zu „einer allgemeinen Umwälzung alles bisher Bestehenden". 112 Diese Umwälzung war jedoch, wie wir gesehen haben, in der Judenpolitik des Staates seit dem Großen Kurfürsten bereits angelegt, wenn auch nicht beabsichtigt. Im Lichte dieser Entwicklung zeigt sich, daß die Emanzipation des beginnenden 19. Jahrhunderts in Preußen nicht zuletzt ein Ergebnis der Politik des absoluten Staates seit 1640 gewesen ist. Er hat die von ihrer Umwelt isolierten Juden ganz bewußt in den Dienst seiner verfassungs- und wirtschaftspolitischen Ziele gestellt und sie auf diese Weise, m e h r u n a b s i c h t l i c h a l s g e w o l l t , langsam in den Staat und in die Gesellschaft integriert. Der preußische Absolutismus förderte die Juden nicht um der Toleranzidee oder um des Prinzips der Menschen- und Bürgerrechte willen, sondern als Wegbereiter seiner eigenen Herrschaftsidee, als Helfer im Kampf gegen das Ständewesen, als Stütze des zentralistischen Einheitsstaates, als Partner der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Dabei verwandelte er ihre wirtschaftliche und soziale Situation allmählich derart, daß ihre Ausnahmestellung ins Wanken geriet und gleichzeitig die Umwelt empfänglich werden konnte für die Mahnung Dohms von 1781:11S „Der Menschlichkeit und der Politik gleich widersprechende Grundsätze... sind der Aufklärung unsrer Zeiten unwürdig, und verdienen schon längst nicht mehr befolgt zu werden."

i n Vgl_ zuletzt Kampmann, a. a. O., S. 107 ff. 112 30 Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern des Reichsgrafen Ernst Ahasvérus v. Lehndorff, hrsg. von K.Eduard Schmidt-Lötzen, Nachträge Bd. 1, Gotha 1910, S. 302. 113

Uber die bürgerliche Verbesserung der Juden I, S. 91, ähnlich S. 41 u. Vorerinnerung S. 3 (zitiert nach der 2. Aufl. von 1783).

O T T O G R A F ZU

STOLBERG-WERNIGERODE

CHRISTIAN ERNST GRAF ZU STOLBERG-WERNIGERODE ALS P O L I T I K E R (1691-1771) 1 Die zahlreichen kleinen Fürsten und Grafen des alten Reiches, die die Reichsstandschaft besaßen, vermochten in der großen Politik nur eine bescheidene Rolle zu spielen, es sei denn, daß sie sich in den Dienst eines größeren Landesherrn begaben, was häufig genug geschehen ist. Im übrigen mußten sie sich da1 Eine Teiluntersuchung ist bereits im 55. Bd. der F B P G (1944) gedruckt, aber nicht ausgeliefert worden. Der folgende Aufsatz ist eine völlige Neubearbeitung. Hierzu sind von mir vor und im letzten Kriege das frühere Hausardiiv in Wernigerode (W. A.) und das Geheime Staatsarchiv in Berlin-Dahlem (G. St. A.) benutzt worden. W e r n i g e r o d e r A r c h i v : Correspondenz zwischen Sr. König Friedrich Wilhelm zu Preußen Maj. und Herrn Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode in Militaribus de 1713—1740, Abt. A 85, Nr. 3, in Ecclesiasticis de 1735—1738, Abt. A 85, Nr. 4 in verschiedenen Angelegenheiten de 1724—1740, ebd., Nr. 5. Für die Korrespondenz zwischen Christian Ernst Stolberg und Christian VI. von Dänemark konnte ich midi auf das Buch von H. L. Meiler, Kong Kristian den Sjette og Grev Kristian Ernst af Stolberg-Wernigerode, 1889, stützen. Der Verfasser hat das Wernigeroder Archiv für seine Darstellung weitgehend herangezogen. Diese Korrespondenz habe ich, da midi zunächst die noch unbenutzten Archivalien interessierten, aus Zeitmangel nidit mehr einsehen können. Das Wernigeroder Archiv befindet sich in der Ostzone. Zu Mollers Buch vgl. die Besprechung von E. Holm, in: Dansk historik Tidsskrift V I , 2 (1889), S. 152 ff.

G e h e i m e s S t a a t s a r c h i v D a h l e m : 1731—1739 des Grafen Christian Ernst von Stolberg Immediatkorrespondenz überwiegend seine Verhältnisse zum König von Dänemark betreffend, R . 96 4 Q., sowie einige Schreiben des Grafen zu Stolberg-Wernigerode, die gegenwärtigen Konjunkturen betreffend, R 8n 188 A . A . Für beide Archive sind die früheren Signaturen angegeben. Aus dem R i g s a r k i v e t K o p e n h a g e n (R. A.) habe ich mir die einschlägigen Schriftstücke fotokopieren lassen: T . K . U . A . , speciel del Tyskland, mindre Fyrster. Rigsgrever og Grever, pakke 4. Ein Dossier enthält Briefe, Anlagen und Konzepte für Antwortschreiben von dem Grafen Christian Ernst an dänische Könige und Königinnen sowie an die Oberstaatssekretäre Schulin und Bernstorff. Weitaus am ergiebigsten ist die Korrespondenz Schulin—Christian Ernst Stolberg, sie dürfte mit Originalen und Konzepten seit 1735 ziemlich lückenlos sein. Im K o n g e h u s e t s A r k i v , Christian VI., pakken „Indkomne Breve", befinden sich zwei Dossiers: 1. 10 Briefe von dem Grafen Stolberg aus dem Jahre 1732 bez. der Anstellung Schubarths bei den Bergwerken, 2. der Briefwechsel in den Jahren

CHRISTIAN ERNST GRAF ZU

STOLBERG-WERNIGERODE

89

mit begnügen, ihr Besitztum so gut wie möglich zu verwalten, durch geschickte Heiraten und Erbverträge das Territorium zu vermehren und sich gegenüber dem Druck mächtigerer Nachbarn zu behaupten. Es kam zu endlosen Prozessen über strittige Erbschaften und Testamente, die nicht nur die Reichsgerichte überforderten, sondern auch Regenten größerer Staaten, deren Fürsprache von den kleineren Reichsständen für die Durchsetzung ihrer Ansprüche benötigt wurde. So hat z. B. das Haus Stolberg über zwei Jahrhunderte einen Prozeß um die Grafschaft Rochefort mit dem Haus Löwenstein-Wertheim geführt. Die Rechtslage war äußerst kompliziert; es kam hinzu, daß sich ein Teil der in Frage kommenden Besitzungen auf Lütticher, ein anderer auf Luxemburger Territorium befand. Auch als dann im Jahre 1732 das Reichskammergericht die Ländereien im Bistum Lüttich den Stolbergs zuerkannte, war die Angelegenheit durchaus nicht geklärt, da das Haus Löwenstein auf Verschleppung der Exekution ausging, indem es sich einmal an die Reichsversammlung in Regensburg wandte, ein andermal an den Kaiser appellierte, so daß sich der schließliche Vergleich noch bis 1755 verzögerte, nicht allzu lange vor dem Ausbruch der französischen Revolution, die das so mühsam Erreichte in Frage stellte. Es gab jedoch für die Reichsunmittelbaren mit geringer Hausmacht noch die Möglichkeit, sich in der europäischen Politik als Vermittler zu betätigen. Voraussetzung hierfür waren enge verwandtschaftliche Beziehungen zu den regierenden Fürstenhäusern oder ein religiöses Gemeinschaftsgefühl, das über das rein konfessionelle weit hinausging. Seit dem 17. Jahrhundert verbreitete sich bei kleineren und größeren protestantischen Reichsständen der Pietismus. Das bedeutete eine Gesinnungsverbundenheit, die sich häufig auf den Hof und die politischen Beamten erstreckt hat. Die menschlichen Kontakte zwischen überzeugten Pietisten können in ihrer Intimität und Intensität kaum überschätzt werden. Die Auswirkungen im politischen Bereich waren erheblich. Unter ähnlichen Voraussetzungen ist auch die Erweckungsbewegung in den 1742-43 zwischen dem Vicekanzler Bestoucheff und dem Grafen Stolberg anläßlich einer beabsichtigten

fürstlichen

Ehe.

Das

Bernstorffsche

Archiv

aus

Votersen

enthält 7 Briefe des Grafen Stolberg an Johann Hartwig Ernst Bernstorff ( 1 7 3 9 — 1 7 7 0 ) mit geringem politischen Gehalt. Dem Reichsarchiv in Kopenhagen sei an dieser Stelle für das Entgegenkommen aufrichtig gedankt. Die Korrespondenz zwischen dem hannoverischen Staatsmann Gerhard Adolf Freiherrn von Münchhausen und Christian Ernst Stolberg ist durch Kriegseinwirkung verlorengegangen. Die wenigen einschlägigen Aktenstücke im Staatsarchiv Hannover sind unwichtig. Ein Teil der Korrespondenz Stolberg—Münchhausen befand sich jedoch im Wernigeroder Archiv. Biographische Literatur zu Christian Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode: E. W . Förstemann, Hannover 1868; E . J a k o b s , in: Allgemeine bereits erwähnte Buch von Moller.

Deutsche

Biographie,

Bd. 36, S. 382 ff.; sowie das

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ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von geschichtlicher Tragweite gewesen. Da der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen von ihr erfaßt wurde, konnte es geschehen, daß die neupietistische pommersche Gruppe in Preußen zeitweilig einen übermäßigen Einfluß erlangte, daß der Graf Anton zu Stolberg-Wernigerode als Hausminister und Freund des Königs am Berliner Hof eine bedeutsame Rolle zu spielen vermochte.2 Der Regierende Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode war von der Mutter im Geiste Speners erzogen worden. Auch seine Gemahlin Sofie Charlotte Gräfin zu Leiningen war eine tiefreligiöse Natur. Zeitlebens blieb er bemüht, die kirchlichen Verhältnisse seiner Grafschaft Wernigerode nach dem Leitbild Speners und Franckes zu gestalten. Die Mission in Grönland ist von Wernigerode ausgegangen. Es fehlte bei ihm aber noch der schwärmerische, weitabgewandte Grundzug, der sich erst bei seinem Sohn Henrich Ernst und dessen zahlreicher Familie durchsetzte.3 Christian Ernst Stolberg war eine Persönlichkeit von geistigem und charakterlichem Rang mit erstaunlich vielseitigen Interessen. Er war ein vorzüglicher Verwalter seiner Besitzungen, verbesserte das Forstwesen und machte sich um den Ausbau der Harzer Berg- und Hüttenwerke sehr verdient. Das Hüttenwerk in Ilsenburg bei Wernigerode genoß zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen solchen Ruf, daß es Peter der Große auf seiner Europareise besichtigte. Der Graf brachte aber auch die von seinen Vorfahren begründete Wernigeroder Bibliothek bereits auf 30 000 Bände. Sie wurde durch ihre Bibel- und Gesangbuchsammlung berühmt. Auch an wissenschaftlichen Forschungen war Stolberg interessiert; er hat z. B. schon die Errichtung einer Sternwarte im Brockengebiet geplant. Als Bauherr setzte er sich ein Denkmal durch die im schönsten Barockstil gehaltene Orangerie. Sie hat bis 1945 die Bibliothek aufgenommen. Er besaß soziales Verantwortungsgefühl; nach einem Brande von 1751 beherbergte und versorgte er die Obdachlosen wochenlang auf dem Schloß. Seine tiefe Frömmigkeit war die Voraussetzung dafür, daß er das Vertrauen Friedrich Wilhelms I. von Preußen und Christians VI. von Dänemark gewinnen konnte. Friedrich Wilhelm war im engeren Sinne kein Pietist, aber dem Rationalismus durchaus abgeneigt, er begünstigte daher die Hallenser pietistische Richtung. Das gute Verhältnis zu diesem König mußte für Stolberg um so wertvoller sein, als die Grafschaft Wernigerode, Enklave im Brandenburg-Preußischen Staat, einem wachsenden Druck ausgesetzt war. Die preußi2

Vgl. zu diesem: O.Graf zu Stolberg-Wernigerode, Anton Graf zu Stolberg-Werntgerode, München und Berlin 1926. 3 Zu Stolbergs Kirchenpolitik vgl. Förstemann, a.a.O., S. 55 ff.; für die zentrale Bedeutung des Pietismus an den kleinen Höfen sind die als Privatdrude 1882 erschienenen Briefe und Journale der Familie des Grafen Henrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode außerordentlich aufschlußreich.

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sehen Herrscher waren bestrebt, die Lehnsabhängigkeit in eine staatliche Oberhoheit umzuwandeln. Nach einem Rezeß von 1714 mußte sich Christian Ernst Stolberg damit begnügen, die mit der Reichsstandschaft verbundenen Souveränitätsrechte wenigstens teilweise zu wahren. Es lag ihm daher auch viel daran, das gute Verhältnis zu Friedrich Wilhelm I. zu erhalten. Der Sitte der Zeit entsprechend geschah dies durch Aufmerksamkeiten und Gefälligkeiten mannigfacher Art, z. B. durch Geschenke von jagdbarem Wild zur Versorgung der königlichen Küche. Frische Haselhühner fanden beim König stets dankbare Aufnahme. Als Entgelt dafür durfte Stolberg gelegentlich in Wusterhausen jagen. Der wirksamste Weg allerdings, das Wohlwollen des Königs nicht zu verlieren, war die Mithilfe bei der Beschaffung „langer Kerls" für des Königs Leibregiment. Auch Stolberg war zu sehr Kind seiner Zeit, um an der menschlich fragwürdigen Liebhaberei Friedrich Wilhelms I. Anstoß zu nehmen. Er war wie seine Standesgenossen in dieser Hinsicht so gefällig wie nur möglich. Nicht nur in seiner Grafschaft, sondern auch auf seinen Reisen hielt er Ausschau nach großen Männern, die den Ansprüchen des preußischen Königs genügen konnten. Einige Fälle sind für die Zeit so charakteristisch, daß sie Erwähnung verdienen. 4 In einem französisch abgefaßten Schreiben vom 17. Dezember 1731 dankte der König Stolberg für das Geschenk von drei langen Kerls, er werde dessen bei allen Gelegenheiten gedenken. Am 6. Dez. 1732 bat er ihn, ihm einen gewissen Baltzer Koch aus Münzenberg zu verschaffen, „welcher von der Größe und dem guten Aussehen ist, um unter Meinem Regiment dienen zu können". Stolberg konnte in diesem Fall nur vermitteln, da in Münzenberg sein Bruder und ein Vetter mitbelehnt waren. Die Angelegenheit kam zunächst nicht recht vom Fleck. Am 13. Januar 1733 mahnte der König wieder: Er zweifle nicht daran, daß der Graf alle Mühe anwenden werde, ihm diesen Mann zu verschaffen, „und kan Ich keine Uhrsache finden, warum die sämtlichen Herren Grafen Mir bei dieser Bagatelle nicht diese Gefälligkeit erweisen sollten". Als der königliche Wunsch erfüllt wurde, sandte Friedrich Wilhelm aus Besorgnis, daß der Mann entkommen könnte, eine Vorspannpost mit und legte Stolberg am 19. Januar besonders ans Herz, daß derselbe „fordersambst sicher" nach Potsdam gebracht werde. Stolberg übernahm auch in solchen Fällen die Vermittlung, wenn es sich darum handelte, für die Gestellung eines Rekruten eine besondere Gunst vom König zu erlangen. So wünschte er für einen Neffen, einen Grafen YsenburgBirstein, 1734 eine Dompräbende und stellte dafür einen Rekruten in Aussicht. 4

Das Folgende ausschließlich nach Quellen im W. A.

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Dieser Handel mißglückte. Erfolgreicher war der Versuch des Regierenden Grafen zu Ysenburg-Birstein, für die Gestellung eines Rekruten von 6 Fuß den Schwarzen Adler-Orden für seinen ältesten Sohn zu erlangen. D e r König forderte „zwei recht schöne wohlgewachsene Leute von vollkommen 6 Fuß groß" für sein Regiment. Als daraufhin G r a f Ysenburg anbot, den einen R e kruten von 6 Fuß sogleich zu stellen und noch zwei „chormäßige" Rekruten, wenn ihm dazu ein oder höchstens zwei Jahre Zeit gelassen werde, war der König, wie er Stolberg am 3. Juni 1736 mitteilte, einverstanden, falls dieser die Garantie dafür übernehme. Der G r a f zu Wittgenstein-Berleburg wünschte für seine Tochter eine Äbtissinnenstelle. Der König wollte nur darauf eingehen, „wenn Mir gedachter G r a f nur einen jungen Rekruten von sechs Fuß nach dem Maß barfuß gemessen, vor Mein Regiment gestellet haben wird". Auch für die Wiederbeschaffung von Deserteuren war Stolberg tätig. Desertionen waren bekanntlich im preußischen Heere an der Tagesordnung; in einem Brief vom 17. März 1734 an Stolberg äußerte sich der König über eine Besichtigung von Regimentern, die von Preußen gekommen waren. Er war besonders befriedigt, „das ungeachtet eines so weiten und beschwerlichen Marsches bey den 6 Bataillons und 10 Esquadrons nicht mehr als 9 Mann überhaupt desertiret sind, worunter 4 Landes-Kinder seyn". Am 2. Juli beantwortete Friedrich Wilhelm Stolbergs Schreiben, woraus er sehe, „das der Deserteur Christoph Müller nicht eher wiederkommen will, als bis er auch ein Pardon für seine itzige Ehegattin, so ihm das Mädchen zu desertiren verleitet habe, erhalten, so übersende solchen hierbey . . . " . Am 20. April des gleichen Jahres verpflichtete sich der König - wohl auf Stolbergs Wunsch hin - , daß diejenigen Leute, die desertiert waren und aus Dänemark zurückgebracht wurden, nicht an die Regimenter zurückgegeben werden sollten, bei denen sie vorher gestanden hatten. D e r König wollte darüber jedesmal die nötige schriftliche Versicherung abgeben. Am 25. Februar 1737 übersandte er Stolberg einen Pardonbrief für den Deserteur Christian Herzberg vom Prinz Wilhelmschen Regiment, der sich auf dänischem Boden befand und dessen Wiederbeschaffung ihm Stolberg versprochen hatte. Friedrich Wilhelm I. holte in kirchlichen Angelegenheiten gern Stolbergs R a t ein. Bei Anstellung von Predigern fragte er Stolberg wiederholt um seine Meinung. Dieser war dabei gelegentlich ganz anderer Ansicht als der König. Am 28. Januar 1737 übersandte ihm Friedrich Wilhelm eine Predigt des Propstes Reinbeck, die ihm gut gefallen hatte, mit der Bitte, ihm seine „sentiments" darüber zu schreiben. Stolberg übte freimütig Kritik. Als Pietist hatte er vor allem an der Predigt auszusetzen, daß das „Verderben des Willens" nicht recht gerügt worden sei, und wie man von demselben durch die Fülle der Gnade in Christo könne befreit werden. Der König dankte am 2. Februar: „Der

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Herr Graf kann persuadir« seyn, daß ich solches gehörig menagiren und dessen Namen hierbey niemahls erwehnen werde." Auch über die Schädlichkeit der Wölfischen Philosophie fand ein brieflicher Gedankenaustausch statt. Am 25. Juli 1735 übersandte Stolberg eine Wolffinische Bibel, „woraus zu ersehen sei, wie hoch nach desselben Principis der Rationalismus und der daraus fließende Naturalismus getrieben sey". Der König antwortete (30. Juli), daß er die Bibel nicht in seinem Lande dulden werde und daß er keine gottlosen Leute, „sonderlich unter den Professoren statuire". Der Hauptgegner von Wolff in Halle, der Professor der Theologie Lange, wurde von beiden sehr begünstigt. In einem eigenhändigen Zusatz zu seinem Schreiben vom 7. April 1736 teilte der König Stolberg mit, daß er mit Lange gesprochen und derselbe „gute resonable Principien habe und er persuadiret sey, daß er es richtig meine". Weitaus größer war allerdings der Einfluß, den Stolberg zeitweilig auf die Kirchenpolitik Christians V I . (Regierungszeit 1730-1746) seit 1733 ausübte. Sie waren Vettern ersten Grades, die Mütter Schwestern aus dem Hause Mecklenburg-Güstrow. Christian V I . war Stolberg im Glauben verbunden. Wie sein Vetter stand er, nach anfänglichem Zögern, entschieden in der Nachfolge Speners und Franckes. Der Subjektivismus von Herrenhut wurde für die Staatsautorität als abträglich angesehen (s. Anm. 7). Christian VI., den man zu den bedeutenden Herrschern Dänemarks nicht zählen kann, 5 schenkte dem Wernigeroder Verwandten zum mindesten bis 1739 unbegrenztes Vertrauen. Er nannte ihn gern seinen besten Freund und ernannte ihn 1735 zum Mitglied des Geheimen Konseils. Der Geheimratstitel trug Stolberg das Prädikat Exzellenz ein; von den damit verbundenen Möglichkeiten unmittelbarer Teilnahme an der Regierung hat er nur selten Gebrauch gemacht, nur zweimal, 1735 und 1739, hielt er sich längere Zeit in Kopenhagen auf. 6 Stolberg hat seit 1733, als er zum erstenmal in Kopenhagen weilte, die Kirchenpolitik Christians V I . weitgehend mitbestimmt. Er war es, der Christians V I . Bruch mit Zinzendorf herbeiführte. 7 In dem schweren Kampf, in dem Christian V I . mit der lutherischen Orthodoxie und einem großen Teil der Bevölkerung geriet, konnte er auf Stolbergs bedingungslose Unterstützung rechnen. Dieser war an der Erneuerung der Sabbatordnung von 1735 wesentlich beteiligt, die dem Lande den Geist innerweltlicher Askese 5

Zur Persönlichkeit und Politik Christians VI.

Historie 6

under Kristian

vgl. Edvard

Holm,

Danmark-Norges

Kopenhagen 1894 (Stolberg wird häufig erwähnt).

Zum dänisdien Pietismus und zur Kirchenpolitik Christians VI. vgl. Holm, a. a. O.,

S. 613 ff.; Moller, Kong 7

VI. 1730—1746,

Kristian . . . , S. 42 ff.

Zu Stolbergs Einfluß auf Christian VI. und seine Kirchenpolitik vgl.

Samlinger

Kirkehistoriske

V, 5, 1 9 0 9 — 1 9 1 1 , S. 535 ff.; Briefwechsel Christian VI. und Stolberg 1733/34

S. 743 ff.; vgl. auch a. a. O. VI, 1, 1935, S. 5 9 6 ; Moller, a. a. O., S. 79 ff.

ebd.,

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aufprägte. Vergnügungen wie Theater und Tanz waren sehr stark eingeschränkt, sonntags selbst Ausfahrten untersagt. Bei der Anstellung von überzeugungstreuen Predigern wirkte Stolberg maßgeblich mit; nicht wenige von diesen kamen aus Deutschland, vor allem aus der Grafschaft Wernigerode. In welchem Ausmaße dem Grafen Einmischung in Glaubensfragen erlaubt war, zeigt eindrucksvoll sein Bericht von 1736 über Eindrücke vom dänischen Hof. Das merkwürdige Schriftstück ist an einen ungenannten Herzog, vermutlich an einen Mecklenburger, gerichtet. Stolberg zählt die Angehörigen des Hofes einzeln auf, jedes Mitglied wird danach beurteilt, ob es bereits die „Gnade" besitze, ob es auf dem Wege zu ihr oder noch nicht von ihr berührt worden sei. Das Ergebnis ist für die Hofdamen günstiger als für die Kammerherren. Bei diesen Bestrebungen wurde Stolberg von der Königin Sofie Margarete sowie von der Schwiegermutter Christians VI., Sofie Christine, Markgräfin von Bayreuth-Kulmbach, eifrigst unterstützt. Für diese Frauen blieb er zeitlebens ein Tröster und Berater in geistlichen Angelegenheiten.8 Stolberg hat aber keineswegs nur Geistliche nach Dänemark vermittelt; auf seine Empfehlung hin kamen auch nicht wenige Forst- und Bergsachverständige, Ärzte, Handwerker und andere Deutsche nach Dänemark. Bei ausgeprägtem Sippengefühl sorgte er dafür, daß engere und weitere Verwandte im Staats-, Militär- und Hofdienst untergebracht wurden. Auf diese Weise konnten sich u. a. die Eltern der Dichterbrüder Friedrich Leopold und Christian Stolberg dauernd in Dänemark niederlassen.9 Engherziger Nationalismus war noch durchaus unbekannt; die sprachlichen Grenzen waren fließend, Christian VI. schrieb und sprach überwiegend deutsch; in der Oberschicht war auch neben der schleswig-holsteinischen Ritterschaft das deutsche Element stark vertreten; die kulturellen Beziehungen zu Deutschland wurden gepflegt, Klopstock ist durch den dänischen Staatsmann Graf Johann Hartwig Ernst Bernstorff ins Land gezogen worden, andere deutsche Dichter und Schriftsteller folgten seinem Beispiel.10 Christian Ernst Stolberg hat durch seine Personalpolitik dazu beigetragen, daß sich gegen Ende des Jahrhunderts der sogenannte Emkendorfer Kreis in Korrespondenz der dänischen Königsfamilie mit Stolberg und dessen Bericht von 1736 in: Kirkehistoriske Samlinger V, 3, 1905—1907, S. 778 ff. 9 Vgl. M0ller, a. a. O., S. 36 ff. und 122 ff. 8

1 0 Zum deutschen Kultureinfluß in Dänemark vgl. L. Magon, Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien 1750—1850, Bd. 1, Dortmund 1926; H. Rothfels, Staat und Nation in der Geschichte Dänemarks, in: Auslandsstudien der Albertus-Universität zu Königsberg, Bd. 3, 1928, S. 110 f.; J. Krumm, Der schleswig-holsteinisch-dänische Gesamtstaat des 18. Jahrhunderts (1721—1797), Glückstadt 1934; M0ller, Kong Kristian..S. 109 ff.; sehr viel auch in Bernstorffsche Papiere I, hrsg. v. Aage Friis, Kopenhagen 1904.

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Holstein bilden konnte. Emkendorf ging 1783 in den Besitz der Grafen von Reventlow über. Der Emkendorfer Kreis wurde in erster Linie von den miteinander verwandten, verschwägerten und versippten Familien Reventlow, Bernstorff, Stolberg und Schimmelmann gebildet. Pietistische Glaubenshaltung, ständischer Freiheitswille gegenüber dem erstarkten dänischen Absolutismus sowie große Aufgeschlossenheit gegenüber den geistigen Strömungen in Deutschland gaben diesem Kreis das eigenartige Gepräge. Neben den Brüdern Friedrich Leopold und Christian Stolberg standen diesem Kreis besonders Matthias Claudius, Lavater, Wieland und Voß nahe. Mit Voß war Friedrich Leopold eng befreundet, erst nach seiner Bekehrung zum Katholizismus kam es zum vollständigen Bruch. Audi die Fürstin Galizyn gehörte dem Emkendorfer Kreis an; sie sollte später in Münster wesentlichen Anteil an der Konversion Friedrich Leopolds nehmen. Nach dem Ausbruch der französischen Revolution fühlte sich Emkendorf berufen, den Kampf gegen deren Ideen und politische Auswirkungen aufzunehmen. 11 Es ist verständlich, daß Stolberg auch in der großen Politik als Vermittler in Anspruch genommen wurde. 12 Außer zu Preußen und Dänemark unterhielt er gute Beziehungen zu Hannover. Einige seiner Besitzungen lagen in Braunschweig-Lüneburg, so daß er im Lehnsverhältnis zum Weifenhaus stand. Mit dem hannöverischen Staatsmann Freiherrn Gerlach Adolf von Münchhausen (1688-1770), der seit 1732 einen maßgeblichen Einfluß auf die Politik Hannovers ausübte, stand er auf gutem Fuß. Stolberg und Mündihausen wurden nicht durch den Pietismus zusammengeführt. Münchhausen dachte in religiöser Hinsicht liberaler, wenn es auch über seine Gattin, Sofie Freiin von Wangenheim, nicht an Berührung mit pietistischen Kreisen fehlte. Sie fanden sich wohl vor allem in gemeinsamen wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen, war doch Münchhausen der Begründer der Universität Göttingen, die bald internationales Ansehen gewann. Er war eher reichspatriotisch gesinnt und neigte mehr nach Österreich als nach Preußen hin, war jedoch vorsichtig genug, die Vergrößerungspläne Georgs II., die dieser für Hannover auf Kosten des preußischen Staates hegte, nicht zu unterstützen. 13 Stolberg nahm seine Aufgabe sehr gewissenhaft, er scheute keine Arbeit; trotz wiederholt gefährdeter Gesundheit sind viele seiner Schreiben eigenhändig abgefaßt. Seine politische Korrespondenz mit Dänemark lief zum 11

Ausführliches Kapitel über Emkendorf bei O. Brandt, Geistesleben und Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jahrhunderts, Berlin u. Leipzig 1925.

Politik

in

12 Im Folgenden habe idi mich auf die Darstellung von Stolbergs Vermittlertätigkeit beschränkt. Die Gesamtpolitik dieser Zeit ist derartig kompliziert, daß sie im Rahmen eines Aufsatzes nicht geschildert werden kann. 13

Zu Münchhausen vgl. ADB, Bd. 22, S. 729 ff.

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großen Teil über den Grafen Johann Sigismund Schulin (1694-1750). Schulin war Hofmeister der jungen Markgrafen Friedrich Ernst und Christian von Brandenburg-Bayreuth-Kulmbach gewesen. 1730 trat er in den dänischen Dienst, seit 1738 gehörte er dem Geheimen Konseil an. Stolberg war mit Schulin befreundet; sie stimmten in der Grundhaltung überein und trugen daher auch keine Bedenken, sich über sehr vertrauliche Angelegenheiten rückhaltlos zu schreiben. Gelegentlich haben sie ohne offiziellen Auftrag Fühlung miteinander aufgenommen.14 Stolberg lag vor allem die Einigkeit der protestantischen Mächte am Herzen. Er betrachtete es daher als sein Hauptziel, bei Konflikten zur Aussöhnung beizutragen, Mißverständnisse aufzuklären und gegen französische Einflüsse anzukämpfen. Es war seiner Wirksamkeit wesentlich zu verdanken, daß im Polnischen Erbfolgekrieg (1733/35) Dänemark nicht auf französische Seite trat. 1 5 Es sollte sich allerdings zeigen, daß angesichts der ständig wechselnden politischen Konjunktur der Staatsegoismus sich gegenüber der konfessionellen Verbundenheit als stärker erwies. Für die preußische Politik stand Dänemark damals nicht an hervorragender Stelle. Friedrich Wilhelm hatte jedoch Grund genug, auf ein gutes Verhältnis zu diesem Staat Wert zu legen, weil wiederholt Versuche unternommen wurden, in der jülich-bergischen Streitfrage Dänemark in die antipreußische Front einzubeziehen. Preußen mußte ferner die Rückwirkungen beachten, die gelegentlich die gespannten Beziehungen Dänemarks zu Schweden auf die allgemeine Entwicklung im Norden haben konnten. Hinsichtlich Schwedens bestand seit dem Nordischen Kriege ein gemeinsames Interesse Preußens und Dänemarks, das Wiedererstarken dieses Staates zu verhindern. Die preußisch-dänischen Beziehungen wurden aber dadurch belastet, daß die Interessen der beiden Staaten sich in Ostfriesland entgegenstanden und Dänemark mit dem Anspruch auf Oberhoheit sehr zum Unwillen Friedrich Wihelms in einen langwierigen Handelsstreit mit Hamburg geraten war. 1 6 Umgekehrt hatte Kopenhagen Veranlassung, sich wiederholt über willkürliches Vorgehen preußischer Werber auf dänischem Boden zu beklagen. Stolberg war sehr interessiert an einem guten Verhältnis zwischen den beiden Staaten. So griff er bereits 1734 ein Heiratsprojekt auf. Es handelte sich darum, die Vermählung des dänischen Kronprinzen Friedrich, sobald dieser die Volljährigkeit erreicht hatte, mit Ulrike Luise, einer Tochter Friedrich Wilhelms I., der späteren Königin von Schweden, zustande zu bringen. Der Anstoß ging von 1 4 Zu Schulin vgl. Hans Jensen, in: Dansk Biografisk Leksikon, viel bei Holm (s. Anm. 5). 1 5 Holm, a. a. O., S. 69 ff.; Moller, a. a. O., S. 66 ff. 1 6 Vgl. zum Hamburger Streit Holm, a. a. O., S. 86 ff.

Bd. 21, S. 397 ff.; auch sehr

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Stolberg aus. Der König von Preußen war nicht grundsätzlich abgeneigt, eine solche Verbindung einzugehen, verlangte aber die Geheimhaltung der Angelegenheit. Auch Christian VI. gab seine Zustimmung, sprach jedoch die Befürchtung aus, daß die Prinzessin unfruchtbar sein könne. 17 1735 rühmte Stolberg nach seinem Aufenthalt in Dänemark das artige Wesen des Kronprinzen, er hoffe, sobald dieser das Alter erreicht habe, seine Zustimmung zur Heirat zu überbringen (1. November). Offenbar entsprach zu dieser Zeit das selbständige Vorgehen des Grafen nicht den Wünschen des preußischen Königs, der damals wegen des Verbleibens der dänischen Truppen in Ostfriesland verärgert war und den Geschäftsträger in Kopenhagen dahingehend instruierte, daß er auf dieses ungerechtfertigte Verhalten hinweisen solle. Als dann der Legationssekretär Philipp Ferdinand Kühlewein am 15. November über ein Gespräch mit dem Hofmeister des Kronprinzen, Baron S0lenthal, berichtete, in dem sich dieser mit dem Heiratsplan einverstanden erklärt hatte, erhielt er eine geharnischte Rüge: Er solle sich vom Heiratsplan abstrahieren, es seien zur Zeit noch keine sonderlichen Reflektionen darauf zu machen. Ein eigenhändiges Marginal des Königs wird noch viel deutlicher: „Ihr Canaille, meliret Euch nicht in meine Familie, oder Ihr solt wissen, das in Spandau die Schubkarre Euch erwartet" (19. November). Stolberg beurteilte nach einem Gespräch mit Kühlewein zu dieser Zeit die Aussichten des Heiratsplanes noch durchaus günstig, es seien keine Widerstände zu erwarten. Doch hielt Christian VI. die Angelegenheit noch nicht f ü r spruchreif. Als Stolberg zu Beginn des Jahres 1736 in Potsdam Vortrag hielt, konnte er nur den Wunsch des dänischen Königs überbringen, daß die Angelegenheit vorläufig nicht mehr berührt werden solle.18 1738 ist der Heiratsplan erneut im Rahmen der Allianzverhandlungen zur Sprache gekommen. Man ließ jedoch in Kopenhagen durchblicken, daß man das Projekt mit Rücksicht auf Frankreich nicht zu verfolgen wage. 19 Trotzdem gab Stolberg nicht auf. Als er sich in den ersten Monaten des Jahres 1739 im Zusammenhang mit dem Steinhorster Konflikt zwischen Dänemark und Hannover-England in Dänemark aufhielt, befaßte er sich erneut mit der Angelegenheit. Er war hierzu von Friedrich Wilhelm I. nicht autorisiert worden, da sich dieser am 13. Juni bei dem preußischen Geschäftsträger in Kopenhagen, Legationssekretär Daniel Ehrenfried Heusinger, erkundigte, ob Stolberg bei seinem letzten Aufenthalt über die Heirat des Kronprinzen gesprochen habe. Heusinger antwortete, ihm sei davon nichts bekannt, nach der Meinung wichtiger Persönlichkeiten sei jedoch hierzu keine Neigung vorhanden (23. Juni). Bei Christian VI. kam es sogar damals zu einer starken Verstim17 18 19

7

Moller, a. a. O., S. 97 f. Maller, a. a. O., S. 98. Moller, a. a. O., S. 156.

Jahrbudb 13/14

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mung wegen Stolbergs Bemühungen in dieser Angelegenheit.20 Später scheint der Plan nicht weiter verfolgt worden zu sein. Der dänische Kronprinz schloß schon 1743 die erste Ehe mit einer englischen Prinzessin. Stolberg war ständig bestrebt, ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Dänemark und Preußen zustande zu bringen, ohne daß es bei gegenseitigem Mißtrauen zu einem Ergebnis kam. Im Januar 1738 glaubte Stolberg eine günstige Stimmung für eine Annäherung in Berlin feststellen zu können; er schrieb Christian VI. am 24. Januar, welche Bedeutung eine Allianz angesichts der wachsenden Macht Rußlands haben werde. 21 Aber erst im Herbst des Jahres lag es in Friedrich Wilhelms Interesse, in eine nähere Verbindung mit Dänemark zu treten, um diesen Staat in der jülich-bergischen Angelegenheit auf seine Seite zu ziehen.22 Wie Heusinger aus Kopenhagen mitteilte, sei der König von Dänemark einer Allianz nicht abgeneigt. Er regte an, Stolberg um Vermittlung zu ersuchen. Daraufhin erklärte sich Friedrich Wilhelm I. bereit, einen Allianz- und Freundschaftsvertrag zu schließen, er war auch mit Stolbergs Vermittlung einverstanden, „mais le secret inviolable est absolument necessaire dans cette importante affaire". Stolberg beurteilte die Aussichten etwas skeptisch. Wie er Grumbkow schrieb, sei er wohl von den guten Intentionen in Dänemark überzeugt, man schließe jedoch dort keine Allianz ohne Subsidien. Man habe in dieser Hinsicht schlechte Erfahrungen bei der Allianz mit dem Kaiser gemacht.23 Am 6. Dezember beantwortete Schulin recht zurückhaltend in französischer Sprache das nicht überlieferte Schreiben Stolbergs vom 12. November. Er wies auf den Streit in Hamburg und auf die Übergriffe preußischer Werber hin. Man habe dafür noch keine Satisfaktion erhalten und den Eindruck, daß dem preußischen König nichts an einer Freundschaft liege. Der dänische König kenne keine „rancune", er lasse sich nur von seiner „générosité" und seiner „prudence" leiten. Schulin erkennt wohl an, daß der preußische Hof die Ansprüche auf Berg entweder in einem Krieg durchsetzen oder sie aufgeben müsse. Aber gerade deshalb müsse man Vereinbarungen treffen, das Risiko zu vermindern; die Vorteile sollten in einem angemessenen Verhältnis dazu stehen. Der preußische König möge sich durch einen fähigen Minister in Kopenhagen über seine Absichten explizieren. Das im letzten Satz zum Ausdruck gebrachte Ansinnen bezieht sich darauf, daß Preußen nur durch einen Legationssekretär 20 21 22

Vgl. dazu Moller, a. a. O., S. 170. Moller, a. a. O., S. 155.

Vgl. Möller, a. a. O., S. 156 ff. Heusinger vermutlich an Grumbkow, 18. Oktober, Friedrich Wilhelm an Grumbkow, 28. Oktober, Stolberg an Grumbkow, 20. November 1738 (Abschriften im R. A. Kopenhagen). 23

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in Kopenhagen vertreten war und die dänische Regierung aus Verärgerung darüber den Generalmajor Praetorius von Berlin abberufen hatte. 24 Die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis. Stolberg verzichtete aber auch weiterhin nicht darauf, ein besseres Verhältnis herzustellen. Als er im Begriff stand, im Herbst 1739 nach Berlin zu gehen, fragte er vorher in Kopenhagen an, ob er etwas „entamiren" solle, er erwarte Order. Wenn etwas vorkomme, was dem König von Dänemark konveniere, werde er Schulin Mitteilung machen (6. Oktober). Schulin antwortete am 2. November, daß er keine Orders zu geben habe, Stolberg solle aber berichten, wenn etwas vorkomme. 1739 bildete sich im Norden eine kritische Situation heraus. Seit 1738 beabsichtigte eine Aktionspartei in Schweden unter Führung des Grafen Gyllenborg, gestützt auf einen mit Frankreich geschlossenen Subsidienvertrag, gegen Rußland loszuschlagen. Als Dänemark während der Steinhorster Verhandlungen auf die englische Seite hinüberwechselte, versuchte Schweden sich Preußen zu nähern und bot sogar als Entschädigung Kurland an. Dänemark war um so mehr in Sorge vor einer eventuellen Machtverstärkung Schwedens, als die Königin Ulrike Eleonore kinderlos war und die Nachfolge des Hauses Gottorf befürchtet werden mußte. Man hatte bereits gehört, daß Frankreich ein Flottengeschwader nach der Ostsee zu entsenden beabsichtige, um die Schweden zum Kriege zu ermutigen. Französische Kriegsschiffe erschienen dann tatsächlich im Juli demonstrativ in der Ostsee. Schließlich wagte Schweden den Krieg doch nicht. 25 Die dänische Regierung war nun in Sorge, daß bei der Annäherung zwischen Frankreich und Preußen im Jahre 1739, die die Schwenkung der preußischen Politik infolge der Enttäuschung über die Haltung des Wiener Hofes und Englands einleitete, auch die nordischen Angelegenheiten zur Sprache gekommen seien, ja, daß möglicherweise eine besondere Abmachung getroffen worden sei. Auf Bitten der dänischen Regierung warnte daher Stolberg am 9. Mai 1739 Friedrich Wilhelm I.: Der einzige Gedanke Frankreichs sei dahin gerichtet, Schweden zu seiner früheren Größe und Souveränität zu verhelfen, was durch die Formel, es gelte das Gewicht des Zarenreiches zu verringern, nur verschleiert werden solle. Man habe einige Nachricht, daß Frankreich eine Flotte in die Ostsee senden wolle, um die schwedische Nation zu animieren, etwas zu unternehmen, „worauf der hiesige Hoff zwar ein wachsames Auge haben wird, es scheint aber derselbige aus einem anderen Spargement, der Crone Frankreich, etwas ombrage zufassen, da debatiret wird, ob solte zu dem ende die Maller, a. a. O., S. 157, Anm. 2. Vgl. J. G. Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, S. 374 ff. 24

25



2. Aufl., 1868—1872, IV, 3,

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Crone trachten, mit Ew. K . M. einige convenienz zu treffen". Er schenke dem keinen Glauben, da der König ebenso viel Interesse habe, eine Souveränität in Schweden zu verhüten wie der hiesige Hof, er habe es aber für seine Pflicht erachtet, darüber zu berichten, da er wisse, „wie nützlich] eine gute harmonie mit diesem H o f f e Ew. K . M. sey und seyn kan, in dero Jülich und Bergischen Sache, da der hiesige Hoff allezeit imstande ist, wann ein gutes vernehmen zwischen Ew. K . M. und demselben bestehet, die Schweden in respect zu erhalten". Friedrich Wilhelm antwortete am 18. Mai: 2 6 Er habe mit Frankreich weder wegen der schwedischen Sachen noch der nordischen Affären halber eine Liaison. Dann aber ließ er seiner Erbitterung über die vielfachen Enttäuschungen, die er in den letzten Jahren erlebt hatte, freien Lauf. Es sei ihm wohl nicht zu verdenken, wenn er Freundschaft mit der französischen Krone suche, „da nicht nur der Römisch- auch Rußisch-Kayserl[iche] Hoff bekannter maßen Midi seither mit der äußersten froideur tractirt, sondern auch die protestantischen puissancen, selbst, ohne erachtet Ich ihnen alle avances zu einer FreundschaftsVerbindung gethan, mich gäntzlich verlassen haben". Er habe alles getan, aber vergeblich, „um mit denen protestantischen puissances gemeinschaftliche mesures zu nehmen". Der dänischen Regierung warf er vor, daß sie im vergangenen Jahre nur gegen Bezahlung von Subsidien eine Vereinbarung habe treffen wollen. Immerhin lag ihm doch jetzt noch an einem guten Verhältnis. Eigenhändig beauftragte er Stolberg, dem dänischen König ein Bild zu übergeben, das er für diesen gemalt hatte. Stolberg übermittelte diese Antwort dem König von Dänemark, der von den Erklärungen Friedrich Wilhelms I. befriedigt zu sein vorgab: „ . . . Daß der König von Prüssie seinen Zweck bey verschiedenen Protestantischen mächten verfehlet, thäte mir leyd um des allgemeinen Bestens willen, daß aber ich unter dieser Zahl mit gerechnet würde, wundert mich um so mehr, da von Seiten des Königs von Prüssie wegen einer näheren Zusammensetzung niemahls zu den gemeinsamen Besten etwaß förmliches vorher angetragen worden, da doch ich bey allen Gelegenheiten meiner Neigung so wohl vor die guthe Sache insgemein als vor den Preußischen Hoffe insbesondere genugsahm an den Tag geleget zu haben hoffte . . ." 2 7 Stolberg schrieb die wichtigsten Stellen dieses Briefes für Friedrich Wilhelm I. ab, worauf ihm dieser in Dänemark nochmals versichern ließ, daß er es seinerseits nie an etwas fehlen lassen werde, um die Freundschaft und das gute Vernehmen zwischen Preußen und Dänemark ständig zu kultivieren und mehr und mehr zu festigen (23. Juni). Von Wernigerode aus konnte Stolberg dem König am gleichen Tage mitteilen, daß das Bild große Freude bereitet habe, 36 27

Droysen, a. a. O., erwähnt auf S. 356, Anm. 3 das Schreiben. Christian VI. an Stolberg, 2. Juni 1739, eigenhändig.

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es solle in der Kunstkammer aufgestellt werden. Er empfehle die gegenwärtige Situation auszunützen und den dänischen und englischen Hof ins Interesse zu ziehen.28 Friedrich der Große hat die Dienste Stolbergs zur Wiederherstellung eines guten Verhältnisses zu Dänemark noch einmal in Anspruch genommen. Die schwierige Lage, die für Preußen nach dem Einfall in Schlesien im Winter 1740/41 eintrat, ließ es ihm geboten erscheinen, auch mit Dänemark in nähere Verbindung zu treten. Podewils bezeichnete dem König gegenüber Stolberg als die dafür geeignete Persönlichkeit, da er in Dänemark „le tout puissant" sei.29 Stolberg unterbreitete darauf am 8. Februar 1741 dem dänischen König verschiedene Vorschläge, mit denen sich Friedrich II. einverstanden erklärt hatte, darunter ein Neutralitätsabkommen (in den „jetzigen conjunkturen"). Die Antwort des dänischen Königs vom 22. Februar war jedoch ausweichend: Er habe bereits seinem Minister Praetorius hinlängliche Order gegeben, sich zu explizieren. Die Jahre 1742/43 standen für die dänische Regierung ganz im Zeichen der Thronfolgefrage in Schweden. Es bestand die Gefahr, daß sowohl in Schweden wie in Rußland Mitglieder des Hauses Holstein-Gottorf den Thron besteigen würden. Die verschiedensten Pläne wurden erörtert, um eine für Dänemark möglichst annehmbare Lösung zu erreichen. Unter anderem tauchte auch der Gedanke auf, sich mit dem gegen Schweden siegreichen Rußland enger zu verbinden und hierfür eine Ehe zwischen dem Regierenden Herzog Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorf und der dänischen Prinzessin Luise zustande zu bringen. Diese intrigenreichen Verhandlungen wurden in größter Heimlichkeit geführt und Stolberg wurde dafür eingespannt. Er ging vor allem von der Hoffnung aus, Rußland auf diese Weise von der Allianz mit Frankreich abzuziehen. Er korrespondierte mit dem russischen Vizekanzler Bestoucheff, der dem Eheplan sehr positiv gegenüberstand und die Vorteile für beide Staaten in lebhaften Farben ausmalte. Es blieb nur ein Zwischenspiel. Die Entwicklung nahm einen für Dänemark ungünstigen Verlauf, indem der Herzog Adolf Friedrich, Bischof von Lübeck, in Schweden 1743 zum Thronfolger gewählt wurde und Karl Peter Ulrich, der zur griechisch-katholischen Kirche übergetreten war, nach dem Tode der Kaiserin Elisabeth als Nachfolger in Frage kam. Man erwog in Dänemark, Krieg gegen Schweden zu führen. In den Briefen von Mai bis November 1742 an Stolberg gab Christian VI. seinen 28

Der vorstehende Schriftwechsel ist unter der Überschrift „ein zwischen Preußen und Frankreich spargirtes Verhältnis betreffend de 1739" A 85, Nr. 4 (W. A.) zusammengefaßt. Faszikel R 96 4 Q. (G. St. A.) enthält einige Ergänzungen hierzu. 29

Friedrich an Stolberg, 7. Februar 1741, in: Politische Korrespondenz Friedrichs Großen, Bd. 1, Nr. 283 mit Anm.; vgl. auch Melier, Kong Kristian . . . , S. 190 ff.

des

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Befürchtungen Ausdruck, ließ aber auch durchblicken, daß er im Grunde die Erhaltung des Friedens wünsche.30 1743 erhielt Stolberg ein dänisches Promemoria über die Lage im Norden. Die dänische Regierung wies darin vor allem auf die Gefahr hin, daß im Falle eines Krieges Schweden auf die Unterstützung Rußlands rechnen könne. Stolberg nahm zum Promemoria in einem ausführlichen Schreiben an Christian VI. vom 23. September Stellung. Er würdigte die gefährliche Lage, in die Dänemark geraten sei, riet aber dringend ab, einen Krieg anzufangen, „sozusagen in die Hände Gottes greifend", und mahnte den König, der die Gnade habe, sich zu prüfen und das zu tun, was Gott gutheiße. Dann werde es gewiß gut gehen. Es kam nicht zum Kriege. 31 Stolberg hatte auch verschiedentlich Gelegenheit, zwischen Dänemark und Hannover-England zu vermitteln. Das gute Einvernehmen zwischen diesen Staaten war ihm um so wichtiger, als nur auf diese Weise der französische Einfluß in Dänemark auszuschalten war. Dieses hatte mit England 1734 einen Subsidienvertrag geschlossen, der 1737 ablief. Die Erneuerung wurde durch allerhand Reibereien, vor allem aber durch den Steinhorster Streit zwischen Dänemark und Hannover, sehr erschwert.32 Steinhorst lag an der Grenze zwischen Holstein und Lauenburg. Die dortigen Besitzungen gehörten der Familie von Wedderkop. Magnus von Wedderkop stand im Dienste des Herzogs von Holstein-Gottorf; infolge von Intrigen wurde er jahrelang auf einer Festung gefangengehalten. Erst im Nordischen Krieg wurde er durch den König Friedrich IV. von Dänemark befreit. 33 Aus Dankbarkeit dafür vermachte sein Sohn, der im Dienste von BraunschweigWolfenbüttel stand, unter Zustimmung eines jüngeren Bruders die Besitzungen in Steinhorst der dänischen Krone für den Fall des Aussterbens des Mannesstammes. Hannover bestritt den Wedderkops das Recht der freien Verfügung über den Besitz, vor allem mit der Begründung, daß Steinhorst früher zu Lauenburg gehört habe. 1738 wurde Steinhorst durch dänische Truppen besetzt. Daraufhin ließ auch Georg II. hannöverische Dragoner einrücken. Es kam zu einem kleineren Zusammenstoß, die dänischen Soldaten zogen sich jedoch zurück. Von beiden Seiten wurde die Angelegenheit hochgespielt. Christian VI. verlangte die Räumung; er war zunächst taub gegen Stolbergs a. O., S. 206. Möller, Zur Thronfolgefrage vgl. Holm (s. Anm. 5), S. 188 ff.; Moller, a.a.O., S. 199 ff. Die Korrespondenz Bestoucheff—Stolberg über das Eheprojekt vollständig im R. A. Kopenhagen. 30

31

3 2 Der Steinhorster Konflikt ausführlich bei H o l m (s. Anm. 5), S. 116 ff.; vgl. hierzu auch Moller, a. a. O., S. 161 ff.; Aage Friis, Die Bernstorffs, Leipzig 1905, I, S. 105 ff. Es kam damals zu einer starken Verstimmung zwischen Stolberg und Johann Hartwig Ernst Bernstorff. Dieser war auch in die Verhandlungen eingeschaltet und fühlte sich durch Stolberg und Münchhausen zurückgesetzt. 3 3 Zu diesem vgl. ADB, Bd. 41, S. 387 ff.

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Abreden vom Kriege und schrieb diesem am 13. Januar 1739, er beklage es zwar, wenn christliches Blut fließe, aber Hannover hätte das früher bedenken sollen; er drohte mit der französischen Allianz. In einem langen Schreiben an Stolberg klagte auch Schulin Ende Dezember darüber, daß zwei große Könige, deren Zusammengehen unter den gegenwärtigen Konjunkturen so nützlich wäre, miteinander in einen blutigen Krieg kommen könnten. Durch dergleichen Vorfälle würden die französischen Absichten gefördert, ihr System im Norden festzusetzen, während man sich von großbritannischer Seite befleißige, das ihrige ganz über den Haufen zu werfen. Auch er wies auf die Alliierten hin, die Truppen seien voller Mut, die Untertanen voller Treue und Eifer. Im Januar war sein Ton schon erheblich gemäßigter, es sei ein annehmbarer Vertrag von England angeboten worden. Aber zunächst müsse Steinhorst von den Dragonern geräumt werden. 34 Stolberg unternahm die äußersten Anstrengungen, einen bewaffneten Konflikt zu verhindern, der alle seine Pläne über den Haufen werfen mußte. Er verhandelte in Hannover, er hielt sich längere Zeit in Kopenhagen auf, er reiste mit dem Einverständnis Christians V I . nach Berlin, um eine Einmischung Friedrich Wilhelms I. auszuschalten. 35 E r konnte mit dem Ergebnis seiner Vermittlungen zufrieden sein. Die englische Regierung hatte keine Lust, für ein rein kurfürstliches Interesse bei Berücksichtigung der gespannten internationalen Lage den Konflikt auf die Spitze zu treiben. 353 So kam Anfang März 1739 ein Vergleich zustande; am 14. März wurde ein neuer dänisch-englischer Subsidienvertrag abgeschlossen, obwohl Frankreich in dieser Zeit große Anstrengungen unternommen hatte, Dänemark auf seine Seite zu ziehen. Allerdings war die Freundschaft nur von kurzer Dauer. Bereits im März 1740 beschwerte sich Schulin über das englische Mißtrauen, das von Schweden her genährt werde. Die Subsidienzahlungen würden geflissentlich verzögert. Es sei sehr zu beklagen, daß, sobald sich ein gutes Einvernehmen einstelle, auf englischer Seite dahin gearbeitet würde, solches zu unterbrechen. Er schreibe ohne Order und überlasse es Stolberg, welchen Gebrauch er von seinen Eröffnungen machen wolle. 36 Seit 1740 setzte sich die französische Partei in Kopenhagen durch, 1742 kam es zu einem Vertrag mit Frankreich. Stolberg hatte auch die Möglichkeit, öfter zwischen Friedrich Wilhelm I. und Hannover-England zu vermitteln. Die Beziehungen zwischen Preußen und 34

Schulin an Stolberg, 27. Dezember 1738, 24. Januar 1739.

35

Moller, a. a. O., S. 171 ff.

35a

Für die oft sehr verschiedenen Interessen Englands und Hannovers vgl. die aufschluß-

reiche Untersuchung von Gert Brauer, Die

hannoversch-englischen

bis 1748, Aalen 1962. 36

Schulin an Stolberg, 8. März, 22. März 1740.

Subsidienverträge

1702

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Hannover-England waren seit der Auflösung der Herrenhauser Allianz immer gespannter geworden. Friedrich Wilhelm I. hatte gegen seinen Schwager Georg II. sowie gegen die Königin von England eine nach dem Fluchtversuch des Kronprinzen 1730 auf das äußerste gesteigerte persönliche Abneigung. Aber auch abgesehen hiervon war genug Konfliktstoff vorhanden. England hatte sich aus Rücksicht auf Hannover in der jülich-bergischen Angelegenheit gegen die preußischen Ansprüche gestellt; Friedrich Wilhelm war sehr verstimmt wegen der Besetzung einiger mecklenburgischer Pfandämter durch hannöverische Truppen. Beide Teile erhoben auf Grund von Erbverträgen Anspruch auf Ostfriesland. Ferner war ein Streit um das Erbe der unglücklichen Prinzessin von Ahlden unter ihren Kindern, d. h. also zwischen Königin Sophie Charlotte von Preußen und König Georg II., entstanden. Auch die preußischen Werbungen auf hannöverischem Boden führten zu immer neuen Reibungen. Stolberg sah die preußischen Beziehungen zu Hannover-England unter dem Gesichtspunkt seiner allgemeinen protestantischen Unionspläne. So war es sein aufrichtiger Wunsch, daß zwischen diesen Staaten eine engere Verbindung zustande kam. Nach der Rückkehr von einem Besuch in Hannover teilte er am 21. Juni 1735 Friedrich Wilhelm I. mit, daß sich der englische König über seines Schwagers Genesung erfreut gezeigt habe. Er wollte erfahren haben, daß der Hof ein ehrliches Einvernehmen herzustellen wünsche. In der zweiten Hälfte des Jahres 1736 hielt sich Georg II. länger in Hannover auf mit der Absicht, eine Interessengemeinschaft mit Dänemark und Sachsen herzustellen. Dänemark erhob Ansprüche auf einige Teile von Ostfriesland, Sachsen war an Jülich und Berg interessiert. Es kam in der Tat zu einem sächsisch-hannöverischen Vertrag, in welchem Georg II. den Anspruch Sachsens auf Jülich und Berg anerkannte. Das bedeutete eine neue Spannung zwischen Georg und dem preußischen König. Für seine Vermittlung konnte Stolberg auf Unterstützung Münchhausens rechnen, beide arbeiteten im geheimen an einer ehelichen Verbindung zwischen dem jüngeren Sohn Georgs II., dem Herzog von Cumberland, und der dänischen Prinzessin Luise. 37 Stolberg nahm auf seiner Reise nach Hannover einen mündlichen Auftrag Friedrich Wilhelms an Münchhausen mit. Der König ließ sagen, er habe als ein guter Christ alles Bisherige vergeben und vergessen und sei bereit, in eine Union ohne politische Nebenabsichten einzutreten. Nach dem Polnischen Erbfolgekrieg hatte sich eine für Preußen höchst bedrohliche Lage ergeben, da nicht nur Frankreich und Österreich, sondern auch die Seemächte im Gegenlager standen, so daß der König sicherlich aufrichtig wünschte, eine nähere Verbindung mit Hannover-England 37

Vgl. Moller, a. a. O., S. 146 ff.

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einzugehen. Es konnte ihm daher nur erwünscht sein, wenn Stolberg eine Annäherung an Hannover bzw. England vermittelte. Der mündliche Auftrag des Königs machte jedoch wenig Eindruck; Münchhausen äußerte sich zweideutig: Die Notwendigkeit einer Union erkannte er im Interesse der protestantischen Kirche wohl an, fügte aber hinzu, der englische König habe es bisher bezweifelt, ob es dem König von Preußen ernst sei. Er erkundigte sich schließlich nach den Bedingungen, auf denen die Freundschaft begründet werden solle. Friedrich Wilhelm I. wurde infolge dieser Anfrage sofort mißtrauisch: Er glaube nicht, daß beide Teile zur Herstellung einer aufrichtigen Freundschaft die Hände bieten wollten. Die hannöverischen Minister hätten mehr bei einer Trennung als bei einer Union zu gewinnen. Er halte es nicht für ratsam, „weitere Pas zu tun, mit Leuten, die von unschuldigsten Sachen einen schlimmen Gebrauch zu machen gewöhnt sind". Es sei ihm gleichgültig, ob man in der bisherigen Situation verharren oder ein gutes Verständnis wieder herstellen wolle. Aber hinters Licht werde er sich nicht führen lassen, „weil Ich die Karte gar wol kenne". Stolberg ließ nicht locker: Keins von den hohen Häusern wolle den Anfang machen. Der König von England „sei naturellement schwehr in einer Negotiation, sie sey bewandt, wie sie wolle, zu bringen, wo man aber gegen Ihnen avanciret, so entriren sie und gehen sodann sincere fort". Der König sollte seinen mündlichen Auftrag schriftlich wiederholen. Die englischen Absichten müßten sich dann zeigen. Reüssiere er, so brächte er „nicht allein alle puissances in ein neues Systeme und verhinderten alle Vues, so Ew. Majestät in der jetzigen Situation schädlich oder zum mindesten mühsahm seyn könten . . . " . Im anderen Fall riskiere er nichts, es bleibe dann alles wie bisher. Alle Welt müsse sodann erkennen, daß das „accrochement" nicht auf seiner Seite sei.38 Der König übersandte wohl am 30. August das von Stolberg gewünschte Schreiben, glaubte jedoch nicht an einen Erfolg: Er mutmaße die Ursache, weswegen man auf englischer Seite noch nicht Lust zu einer wahrhaften Versöhnung habe. 39 Stolberg fuhr nach Hannover und mit Münchhausen weiter nach Herrenhausen. Den Eindruck, den dieser in der Audienz bei Georg II. gewann, formulierte er dahin, daß es seines Erachtens „auf eine Speziellere äußerung derer zum Endzweck habenden reciproquen avantagen" ankomme. Stolberg wandte ein, daß man zunächst nur auf eine Union zu sehen habe, „eine suite" folge aus der anderen. Auf Anraten Münchhausens suchte er den englischen Minister Robert Walpole auf, der die Union immer gewünscht haben wollte, aber „einige particulière Umstände" hätten solche immer unterbrochen. Walpole vermittelte Stolberg eine Audienz bei seinem 38 Stolberg an Friedrich Wilhelm I., 10. Juli, Friedrich Wilhelm I. an Stolberg, 18. August, Stolberg an Friedrich Wilhelm I., 24. August 1736. 39

Das Schreiben wird von Droysen erwähnt (s. Anm. 25), S. 309.

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König, die aber kein Ergebnis hatte. Nach einigen allgemeinen Redensarten kam dieser auf den Kernpunkt: Weil es hauptsächlich auf das Interesse des Königs von Preußen ankomme, erwarte er genauere Vorschläge. Das Gespräch ging nach dieser Andeutung auf gleichgültige Dinge über. Friedrich Wilhelm war gegenteiliger Meinung. England müsse sagen, was für Gefälligkeiten es dafür verlange, wenn es sich aus der jülich-bergischen Sukzessionsfrage heraushalte, weil man von ihm wisse, daß er die Sukzession anstrebe, die überdies von England garantiert worden sei. Er könne nicht selbst Angebote machen. „Ich werde mich aber, wenn ich davon ouverture erhalte, darüber nach aller Billigkeit erklären." Als Stolberg in diesem Sinne Mündihausen berichtete, verwahrte sich dieser dagegen, daß die englische Regierung die Garantie für Jülich und Berg versprochen habe, und selbst, wenn das geschehen sei, so wäre sowieso eine solche Garantie nach Auflösung der hannöverischen Allianz erloschen. Es seien von demjenigen Eröffnungen zu erwarten, der etwas verlange. Friedrich Wilhelm I. war nun ganz überzeugt, daß Hannover keine wahre Freundschaft wünsche, sonst würde man ihm die Bedingungen nennen. Bei solcher Beschaffenheit sei schwerlich eine Änderung zu erwarten. Es sei ihm lieb, wenn Stolberg noch etwas in der Sache tun könne, aber er solle dieses Schreiben nicht der hannöverischen Regierung abschriftlich mitteilen. Stolberg blieb jedoch optimistisch: Er könne es sich nicht anders denken, als daß es dem englischen Hofe ernst sein, „den was solte sie bewegen, gegen mir particulier, die mit beyden Höfen in connexion stehet, solches zu contentiren?" Ende des Monats wurde er nochmals von Walpole und dem König empfangen; während der erstere bedauerte, daß der König von Preußen keine „ouverturen" gemacht habe, meinte König Georg, er habe nichts zu suchen, da der König von Preußen wegen Jülich und Berg Unterstützung verlange. Es sei dem preußischen Ministerium wie dem eigenen bekannt, „wodurch sie zu einigen demarches zu bewegen stünden". Stolberg bat Friedrich Wilhelm I. um weitere Instruktionen (29. Oktober). Der König sah wohl richtiger als Stolberg, wenn er auf die Unehrlichkeit der hannöverisch-englischen Politik hinwies, es sei kein Ernst dabei und nur lauter Verstellung. „Wenn also der eine Theil will, der andere aber nicht, so wird es unmöglich angehen." 40 Die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis. Georg II. verließ im November Hannover. Er war von vornherein in gereizter Stimmung gegen Preußen gewesen, da es seine Absichten auf Mecklenburg vereitelt hatte. 41 4 0 Stolberg an Friedridi Wilhelm I., 14. September, Friedrich Wilhelm I. an Stolberg, 18. September, Mündihausen an Stolberg, 23. September, Friedridi Wilhelm I. an Stolberg, 6. Oktober, Stolberg an Friedridi Wilhelm I., 9. Oktober, 29. Oktober, Friedridi Wilhelm I. an Stolberg, 3. November 1736 (Abschrift). 41

Vgl. Droysen, a. a. O., S. 341 ff.

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Günstigere Aussichten für eine Verständigung schien das Jahr 1738 zu bieten, da damals England mit Frankreich und Spanien auf gespanntem Fuße stand und die englische öffentliche Meinung einer Verbindung mit Preußen zuneigte. Audi die hannöverische Regierung hätte eine Annäherung gern gesehen. In einem Schreiben vom 27. September 1738 an den König von England wies sie darauf hin, daß es für Hannover vorteilhaft sei, wenn Jülich an Preußen falle; Preußen müsse dann mit der Folge einer besseren Deckung für Hannover nicht nur mehr Truppen am Rhein, sondern könne dann um so weniger Truppen an der Grenze von Hannover halten. Vielleicht ließe sich auf diesem Wege zu einer dauernden Freundschaft mit Preußen kommen. Es wurde freilich hinzugefügt, daß bei des Königs von Preußen bekannter Unbeständigkeit auf diese Freundschaft kein sicherer Verlaß sei. Der Winter 1739/40 gab Stolberg erneut Gelegenheit, sich um die Schlichtung eines Streitfalles zwischen Hannover und Preußen zu bemühen. Zwei Iren, die für die preußische Armee angeworben waren, wurden von hannöverischen Behörden in Bremen auf Weisung der englischen Regierung festgehalten, da man in London den Standpunkt einnahm, daß die Anwerbung widerrechtlich erfolgt sei. Friedrich Wilhelm I. hatte jedoch nicht die Absicht, auf diese Rekruten zu verzichten; er nahm - für ihn charakteristisch die Sache so wichtig, daß er Stolberg, sogar eigenhändig, ersuchte, für ihn die Freilassung zu erwirken. Münchhausen wich aus: E r wolle gern den preußischen Wünschen entgegenkommen, aber es sei ihm nicht zu verdenken, daß man in dieser bloß englischen Sache „piano" gehe. Dieser Standpunkt wurde nochmals in einem Promemoria vom gleichen Tage unterstrichen. Man könne eben doch nur das tun, was die englische Verfassung und die englischen Gesetze erlaubten. 42 Aus der Korrespondenz geht nicht hervor, wie der Konflikt beigelegt worden ist. Auch nach dem Tode Friedrich Wilhelms I. kam es zu Verhandlungen zwischen Hannover-England und Preußen, in die Stolberg als Vermittler eingeschaltet wurde. Georg I I . hoffte, sich besser mit dem Neffen als mit dem Schwager verständigen zu können. Die bedenkliche internationale Lage ließ der britischen Regierung eine Fühlungnahme mit Berlin geboten erscheinen. Auch Friedrich der Große, der sich noch nicht für das französische Bündnis entschieden hatte, ließ gleichzeitig in London und Hannover verhandeln. Er hielt es offenbar zu diesem kritischen Zeitpunkt für zweckmäßig, die Verhandlungen zu beschleunigen. Da die guten Beziehungen Stolbergs zu Hannover bekannt waren, wurde er im Februar 1741 aufgefordert zu versuchen, 42

Stolberg an Friedrich Wilhelm I., 2. Februar, Friedrich Wilhelm I. an Stolberg, 6. Februar,

H . F e b r u a r , 5. März 1740, Münchhausen an Stolberg, 27. Januar (eigenhändig), 23. Februar, 10. März 1740.

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ob er die Harmonie zwischen Preußen und Großbritannien wiederherstellen könne. Stolberg übernahm die Vermittlung mit Freuden; er schrieb Münchhausen am 22. Februar, daß ihn die Uneinigkeit zwischen den beiden Höfen schon öfter beunruhigt habe. E r bat, Vorschläge zu einer wahren Union und bündigen Freundschaft machen zu dürfen. Münchhausen antwortete am 1. März, daß an einer guten Aufnahme seitens des englischen Königs nicht zu zweifeln sei. Dieser wolle mit niemand lieber als mit dem König von Preußen sich in die genaueste und aufrichtigste Verbindung einlassen. Am 17. März ergänzte Mündihausen die Mitteilung dahin, daß der König das Ministerium autorisiert habe, dasjenige zu vernehmen, „was E w . Exzellenz darunter fernerweit zu eröffnen in commissis haben möchte". Das Schwergewicht der Verhandlungen wurde jedoch nach Berlin verlegt, so daß Stolbergs Dienste nicht mehr benötigt wurden. Sie haben zu keinerlei Ergebnis geführt, da die englische Vermittlung in Wien scheiterte. Im Juni wurde dann das folgenschwere preußisch-französische Bündnis geschlossen. 43 In diesen Jahren geht Stolbergs Tätigkeit in der internationalen Politik zu Ende. Schon seit 1739 war das Vertrauen Christians V I . in seinen Vetter nicht mehr so unbedingt. So schrieb er ihm 1739 einen unfreundlichen Brief in bezug auf die Anwerbung langer Kerls, er habe keine Fabrik dafür. Seit 1740 neigte Dänemark mehr und mehr Frankreich zu; die Versuche Stolbergs, dieser Politik entgegenzuarbeiten, scheiterten. V o r allem aber befand er sich in einer schwierigen Lage, weil er mehreren Höfen gleichzeitig verpflichtet war und deswegen Mißtrauen erregte. So bat er am 17. Februar 1741 den dänischen König, ihn von allen Staatsangelegenheiten zu dispensieren. Auch seinen Geheimratstitel legte er nieder. Zur Begründung führte er an, er müsse befürchten, an verschiedenen Höfen Anstoß zu erregen. I m gleichen Sinne schrieb er auch an Georg I I . und unterrichtete den preußischen Minister, den Grafen Podewils, von diesem Schritt. Vollends mit dem Nachfolger Christians V I . , Friedrich V., entwickelte sich kein Vertrauensverhältnis. Dieser trieb auch in kirchlichen Angelegenheiten eine ganz andere Politik als sein Vater. Ebensowenig hatte er mit Friedrich dem Großen persönliche Berührungspunkte. Die internationale Lage änderte sich vollständig, Stolbergs evangelische Unionspolitik war gescheitert. 44 Das hieß nun nicht, daß Stolbergs Verbindungen mit dänischen Persönlichkeiten abrissen. E r blieb in Briefwechsel mit Christian V I . bis zu dessen Tode, aber beschränkte sich in den letzten Jahren mehr und mehr auf private 43

Juni

Vgl. hierzu: G. A. von Münchhausen: Berichte 1740,

1740—1745, 44

über

seine

Mission

hrsg. und erl. von F. Frensdorf, 1904; Theo König, Hannover 1938; Droysen, a.a.O.,

Vgl. Moller, Kong

Kristian ...,

S. 158 ff. S. 190 ff.; Holm (s. Anm. 5), S. 129.

nach Berlin und

das

im Reich

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109

und religiöse Angelegenheiten. Stolberg korrespondierte auch weiterhin mit den Frauen der königlichen Familie, mit Schulin bis zu dessen Tode im Jahre 1750, mit Johann Hartwig Ernst Bernstorff 45 und mit anderen. Audi in seinem Streit um Rochefort konnte Stolberg noch immer auf die Unterstützung der dänischen Krone rechnen. In der großen Politik war er jedoch seit 1744 nur noch ein aufmerksamer Beobachter. Im Siebenjährigen Krieg stand er als überzeugter Protestant auf der Seite Friedrichs II.

46

Vgl. zu diesem Aage Friis, a. a. O., S. 22 ff.; Neue Deutsche Biographie II, S. 140 f.

SIEGFRIED FAUCK

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER KURMARK IM 18. U N D 19. J A H R H U N D E R T Wie in zahlreichen anderen deutschen Territorien erschien auch in Brandenburg-Preußen seit Jahrhunderten die gutsherrliche Gewalt als die eigentliche Obrigkeit des flachen Landes. Dafür, daß diese einst landesherrlich gewesen war, hatte das lebende Geschlecht jedes Bewußtsein verloren. Gleichsam als Relikte dieses ursprünglichen Zustandes finden wir im 18. und 19. Jahrhundert in Brandenburg-Preußen die „Domänen" als die dem Landesherrn noch verbliebenen Güter vor. Auch ist damals „Domäne" und „Amt" oft identisch, wodurch zum Ausdruck kam, daß einst das gesamte Land dem Herrscher zu eigen war. 1 Diese landesherrlichen Domänen besaßen eine eigene Justiz. Es liegt auf der Hand, daß der Landesfürst in ihr eine wesentliche Stütze erblickte in seinem Bemühen, auf die lokale Gerichtsbarkeit einen stärkeren Einfluß zu gewinnen. Hinsichtlich der Kurmark ist die Domänenjustiz für das 18./19. Jahrhundert bisher noch nicht näher untersucht worden. Die gängigen preußischen Behörden- und Rechtsgeschichten gehen hierauf auch nur am Rande ein. L. Stölzel2 berührt das Problem nur einmal, wenn er sagt, die Besetzung der Domänenjustizämter sei durch den Großkanzler (Carmer) erfolgt, der „damit Coccejis Beispiel nachgeahmt" habe - eine Behauptung, der die Aussage der Akten aber keineswegs entspricht. G. Schmoller bemerkt dagegen richtig,3 daß bei der Generalverpachtung von Domänen seit Friedrich Wilhelm I. der Pächter diese „mit allen Pertinenzen, Polizei- und Jurisdiktionsrechten" erhielt. Einzelheiten, besonders über die Justizgesetzgebung für diese Gerichte und deren Entstehungsgeschichte, gibt C. Bornhak, 4 der auch auf die vielen Miß1

Vgl. E. Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 6 ff.

Brandenburg-Preußens Bd. 1, S. 296. 2

Rechtsverwaltung

und Rechtsverfassung,

2 Bde., Berlin 1888,

3 Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S. 168. 4

Preußisches Staatsrecht, 3 Bde., 2. Aufl., Breslau 1914, Zitat 3. Bd., S. 78.

111

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER KURMARK

bräuche bei der Ausübung der Rechtsprechung durch die vom Pächter angenommenen Justitiare aufmerksam macht5 mit seinem Hinweis, daß unter Carmer „noch besondere königliche Justizämter" bestanden.6 Dieser könnte allerdings Mißverständnisse verursachen, es gab diese Ämter doch auch noch wesentlich später. Aus der an Tatsachenmaterial verhältnismäßig reichen Arbeit E. Loenings über die Domänenjustiz scheint neben den Ausführungen über das Ressortreglement von 1749, 7 demzufolge die Justitiare von den Justizkollegien und dem Kammerjustitiar geprüft wurden, besonders erwähnenswert auch der Hinweis auf die Appellationsmöglichkeit bei der Kammer-Justizdeputation. 8 Loenings kritisches Urteil, daß sich die Rechtspflege in den Ämtern meist in einem „sehr traurigen Zustande" befunden habe,9 ist freilich als nur relativ berechtigt einzuschätzen, denn in seinem späteren Versuch der historischen Einordnung kommt der Verfasser doch zu folgendem Schluß: „Die Kammerjustiz bot trotz all ihrer Mängel dem Untertanen in Preußen einen größeren Rechtsschutz, als er ihm damals in den anderen deutschen Territorien gewährt war." 1 0 Den immer noch besten Einblick in das vorliegende Thema vermittelt O. Hintze in einer 1901 erschienenen Monographie, der für alle von den Domänenjustizämtern abgeurteilten Straftaten die „polizeiliche Strafgewalt" zuständig sieht.11 Die Kriegs- und Domänenkammer war nach Hintze keine eigentliche Berufungsinstanz, sondern hatte nur ein „allgemeines Aufsichtsrecht über die Domänenjustiz". 12 Endlich vertritt er den Standpunkt, die Domänenjustizämter hätten sich „gut bewährt", und sieht „die Verstaatlichung der Patrimonialjustiz auf den Ämtern 1 7 6 4 - 1 7 6 7 " (in der Kurmark aber erst 1770!) bereits als einen Vorläufer der Carmerschen Justizreform an. 13 Während F. Giese die königlichen Gerichte unterteilt in die Domänenjustizämter und Stadtgerichte, 14 finden wir bei E. Schmidt eine Gliederung der „Untergerichte" in königliche und diejenigen, „die in Händen der Patrimonialherren 5

Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, Berlin 1903, S. 245.

6

A. a. O., S. 262.

Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, Reglement abgedrutkt in Acta Borussica VII, Nr. 157. 7

8

A. a. O., S. 190.

9

A. a. O., S. 89.

10

A. a. O., S. 106.

11

Behördenorganisation

Halle 1914, S. 89.

und allgemeine Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert,

S. 41. 12

A. a. O., S. 230 f.

13

Die Hohenzollern

14

Preußische Rechtsgeschichte, Berlin und Leipzig 1920, S. 165.

und ihr Werk, 3. Aufl., Berlin 1915, S. 396.

Das

Berlin 1901,

112

SIEGFRIED F A U C K

lagen" - beide seien sehr unterschiedlich gewesen.15 Nach Schmidt haben die Domänenjustizämter keinerlei Rechtsentscheidung in Strafsachen besessen.16 C. Starke 17 mildert diesen Standpunkt, denn in der Regel habe ihnen „in der Kriminalrechtspflege eine beschränkte Kompetenz zugestanden". Von neueren Arbeiten, die sich wenigstens am Rande mit der Materie beschäftigten, kehrt L. Enders zu der Auffassung zurück, daß die Domänenjustizämter sehr wohl die obere und niedere Gerichtsbarkeit innehatten - sieht sich aber außerstande, aus dem von ihr untersuchten, 1697 preußisch gewordenen Amte Petersberg bei Halle praktische Beispiele zu bringen. 18 Die jüngeren Handbücher endlich, die mehr für den praktischen Gebrauch der Domänenbeamten gedacht waren, wie z. B. die von Kletke 19 und von ölrichs, 20 gehen auf die Gerichtsbarkeit der Domänen überhaupt nicht ein und beweisen damit indirekt, daß diese ab 1848/49 keine Rolle mehr gespielt hat. Bei der Betrachtung der Quellenlage läßt diese sich keineswegs von vornherein als „schlecht" bezeichnen, wenngleich von den Aktenbeständen der Domänenjustizämter selbst21 nur noch ein kläglicher Torso von ganzen 18 Bänden vorhanden ist, die sich zudem ausschließlich mit Hypotheken- und Vormundschaftssachen befassen. Dieser Verlust jedoch wird reichlich aufgewogen durch die 1. und 2. Domänenregistratur der Kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer, 22 deren sehr umfangreiches Material sich hauptsächlich mit dem allgemeinen Behördenaufbau und den Personalia der Beamten, allerdings leider kaum mit dem eigentlichen Prozeß verlauf befaßt. Somit ergibt sich von selbst, daß der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit nicht in einer vorwiegend juristischen Betrachtungsweise, sondern vielmehr in der Schilderung der Behördenorganisation und der Arbeitsweise dieser Ämter zu liegen hat. Aus der schier unendlichen Fülle der Archivalien der Domänenämter der Kurmark endlich wurden nur einige der größten (Biesenthal, Mühlenhof-Berlin) untersucht. 15

Die Rechtsentwicklung in Preußen, Berlin 1923, S. 28. Schmidt faßt also die Gerichte der selbständigen Gutsbesitzer und die der kgl. Domänen als identisch auf. Oft wird in der Literatur aber die „Patrimonialgerichtsbarkeit" der „Domänengerichtsbarkeit" gegenübergestellt. 16 A. a. O., S. 16. 17 Darstellung der bestehenden Gerichtsverfassung in dem Preußischen Staate, Berlin 1839, S. 73. 18 Das Domänenamt Petersberg bei Halle im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, Diss. Halle/S. o. J., S. 106. 19 Die Preußischen Domänen in staatsrechtlicher, juristischer und administrativer Beziehung, Berlin 1848. 20 Domänenverwaltung des preußischen Staates, 2. Aufl., Breslau 1888. 21 22

Diese befinden sich heute im Landeshauptarchiv Brandenburg in Potsdam, Rep. 5 B. Rep. 2 im selben Archiv.

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER KURMARK

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1. Die Domänenjustiz der Kurmark bis zu ihrer Verstaatlichung 1770 Seit dem Domänenedikt Friedrich Wilhelms I. vom 13. August 1715, 2 3 das die Rechtsgrundsätze der Unteilbarkeit und der Unveräußerlichkeit von Domänen festgelegt hatte, wandte der preußische Staat der Justiz auf seinen Gütern ein besonderes Augenmerk zu. Laut dem Reglement vom 28. August 1728 2 4 konnten Gerichtstage nach Belieben gehalten werden. Vor der Exekution mußten jedoch die Akten und das Urteil dem zuständigen Departementsrat zugeschickt werden, welcher darauf „in collegio zur Approbation referieren solle". Missetaten, auf die nach geltendem Rechte Todesstrafe oder eine andere empfindliche Strafe gesetzt war, gehörten generell vor die Kammer. Wurde von dieser der Domänenjustizbeamte dann mit der Inquisition betraut, so mußte er „das Kriminalgericht nach der Anweisung der Kriminalordnung 25 bestellen und nach demselben Inhalt überall verfahren". Auf die hier im einzelnen festgelegten Strafmaße wird später im Zusammenhang eingegangen werden. Noch 1740 2 6 und 1748 2 7 waren nur „an einigen Orten" besondere Justitiare angestellt, sonst wurde die Justiz immer gleichzeitig von dem Domänenbeamten ausgeübt. 1748 ließ das Generaldirektorium „die Conduite sämtlicher Justitiare und wieweit sich deren erforderte Wissenschaft erstrecke" untersuchen. Eine Denkschrift der Kammer aus dem Jahre 1755 beklagte lebhaft die mangelnde Fähigkeit und vor allem die Abhängigkeit der Justitiare von den Beamten. 28 Sie „müssen riskieren täglich außer Brot gesetzt zu werden, falls sie nicht nach dessen Verlangen decidieren wollen". Es wird vorgeschlagen, für die insgesamt 63 Kurmärkischen Ämter 16 Justitiare vom Staate anzustellen. In derselben Linie bewegte sich der Visitationsbericht eines Kriegsrates von 1764. 2 9 Erst 1769 trafen diese Reformversuche durch das Herrscherreskript Friedrichs I I . vom 27. Juni in das entscheidende Stadium. 30 Noch ein Jahr vorher 2 3 C. O. Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarttm (künftig zit.: CCM), 10 Bde., Berlin 1737—55, fortgesetzt in dem Novum Corpus Constitutionum (künftig zit.: NCC), Berlin 1753—1807. Zitat Bd. IV, 2, Nr. 13. 2 4 Rep. 2, 2. Domänen-Registratur, Justizsachen, Paket I, N r . 1. Mylius, CCM III, 3, N r . 60. Acta Borussica IV, 2, N r . 235. 2 5 Kriminalordnung für die Kur- und Neumark vom 8. 7. 1717. Mylius, CCM II, 3, N r . 32. 26

Rep. 2, 2. Domänen-Reg., Justizsachen, Paket I, Nr. 3.

27

Bericht der Kammer an das Generaldirektorium vom 3 . 9 . 1 7 4 8 , Rep. 2, 1. Domänen-

Reg., Fach 5, N r . 1. 28

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizsachen, Fach X I V ,

N r . 60, abgedruckt in den

Borussica X , Nr. 120.

8

29

Rep. 2, 2. Domänen-Reg., Justizsachen, Paket I, N r . 5.

30

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizsachen, Fadi I, Nr. 2.

Jahrbudi 13/14

Acta

114

SIEGFRIED FAUCK

existierten in der ganzen Kurmark nur 5 Justitiare auf den Domänen. 31 Jetzt wird eine besondere Kommission unter Leitung des Großkanzlers von Jariges und des Geheimen Finanzrates Freiherrn v. Hagen eingesetzt, die eine umfassende Neuordnung vorbereiten soll. Auf Grund der Berichte der einzelnen Domänen und in Anlehnung an die schon früher erfolgte Verstaatlichung der Domänenjustiz in Halberstadt 32 und Minden 33 konnte dann bereits am 10. 6. 1770 das „Reskript für die zur Verwaltung einer prompten und unparteiischen Rechtspflege auf den Kgl. Ämtern, von Trinitatis 1770 an, angeordneten beständigen Justizämtern in der Kurmark" erlassen worden, 34 das von Friedrich II. eigenhändig unterschrieben und von Jariges und von Hagen contrasigniert ist. Es bedeutete nichts weniger als die völlige Verstaatlichung der Domänenjustiz. Auf ihm beruhte für lange Zeit die Abgrenzung der Kompetenzen, die Aufgabenstellung, die Organisation, die Stellung der Justizbeamten sowie z. T. auch das Gerichtsverfahren selbst.

II. Kompetenzen und

Aufgaben

Die gültige Legaldefinition findet sich im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten, wo es in § 23, Titel 17, Teil I I heißt: „Wo das Recht der Gerichtsbarkeit mit dem Besitze einer gewissen Art von Gütern überhaupt verbunden, oder gewissen Gütern besonders beigelegt ist, heißt dasselbe die Patrimonialgerichtsbarkeit." Nach § 24 verbleibt diese immer dem jeweiligen Inhaber des Grundstückes. Wichtig ist noch der § 30: „Wer nur mit der Gerichtsbarkeit überhaupt beliehen ist, hat in der Regel nur die Zivilgerichtsbarkeit." Urteile über Kriminalstrafen müssen zur Vollstreckung an das Obergericht der betreffenden Provinz eingesandt werden (§ 67). Die Abgrenzung der Zuständigkeit in territorialer Hinsicht den anderen königlichen Gerichten und der Patrimonialgerichtsbarkeit gegenüber ist durch den Namen „Domänenjustiz" 35 bereits gegeben. Die Aufgabenstellung legte das Reskript von 1770 folgendermaßen fest: 36 „Alle Vorfälle und Streitigkeiten der Amtseingesessenen, welche ihr Vermögen 31

Ebd.

32

Publicandum vom 28. 9.1766. Mylius, NCC

33

Acta Borussica X I V , Nr. 156.

IV, S. 879.

3 4 Original in Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizsachen, Fach I, Nr. 2. Mylius NCC S. 7095 ff. Acta Borussica X V , Nr. 70. 3 5 Definition des Domänenbegriffs wieder in Allgem. Landrecht Teil II. 36

Siehe Anm. 34.

IV,

§§ 11 und 12, Titel 14,

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER KURMARK

115

und Rechte betreffen, mithin alle actus voluntariae et contentiosae juris dictionis, welche sonst ob qualitem causae der Cognition eines ordentlichen Richters oder Justizkollegiums unterworfen sind, nicht minder die Praegravationsklagen und alle diejenigen Cameraljustizsachen, so in secunda instantia, ad forum unserer Kriegs- und Domänenkammer gehören, auch die Kriminalvorfälle, dem officio der Justizbeamten beigelegt sein." Das staatliche Interesse kam aber keineswegs zu kurz. Die Wahrung der Gerechtsame der Ämter, die Aufsicht über die Einhaltung der Kgl. Edikte und Landesverordnungen und vor allem natürlich die Abstellung von Mißbräuchen und öffentlichen Lastern oblag der Domänenjustiz. Endlich kamen noch die umfangreichen Geschäfte der Hypothekenbücher, die Vormundschafts- und Depositalsachen hinzu. Die Befugnisse in Kriminalsachen versuchten später näher zu definieren das Reglement vom 30. 11. 1782 „über die künftige Einrichtung des Justizwesens bei den Ober- und Untergerichten in der Kur- und Neumark" 37 und ein Reskript des Generaldirektoriums vom 9. 6.1790 3 8 — beide Male nicht in sehr klarer Weise. Auch die Kompetenz bei Prozessen, die ganze Amtsgemeinden betrafen, war nicht näher festgestellt worden. Die betreffenden Berichte der Kurmärkischen Ämter von 1784 zeigen aber deutlich, daß diese Verfahren in erster Instanz überwiegend bei der Kammer oder auch beim Kammergericht geführt wurden und nur selten beim Domänenamte selbst.39 Für ein gedeihliches Wirken der Domänenjustiz war von ausschlaggebender Bedeutung die Verteilung der Geschäfte zwischen dem Justitiar und dem Ökonomiebeamten innerhalb eines Amtes. Auch hier waren generelle Verfügungen nicht getroffen worden; gewohnheitsrechtlich wurden deshalb eine Anzahl von Tätigkeiten von beiden gemeinsam verwaltet. Darunter fielen insbesondere die Grenz- und Zollsachen sowie andere Gerechtsame der Landesherren, alle Geschäfte, die die iura domanialia und das Interesse publicum et oeconomicum betrafen, die Landeshuldigungen, die Annahme und Verpflichtung neuer Untertanen, die Dorfgeschworenen und endlich die Abnahme der Getreideabrechnungen.40

3 7 Mylius, NCC VII, S. 1870. Abgedruckt bei v. Kamptz, Sammlung der ProvinzialStatuarischen Gesetze in der Preußischen Monarchie, 3. Bd., Berlin 1833.

8*

38

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach V, Nr. 4.

39

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach X I V , Nr. 48.

40

Vgl. hierzu Kletke, Die Preußischen Domänen, S. 161.

und

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SIEGFRIED

FAUCK

III. Sprengeleinteilung und Organisation Für die territoriale Abgrenzung der einzelnen Gerichtsbezirke wurde wieder maßgebend das Reglement von 1770. 4 1 Es verfügte die Errichtung von 19 Domänenjustizämtern, die (mit einer Ausnahme) jeweils aus mehreren Domänenämtern gebildet wurden. (Der kursiv gedruckte Ort gibt immer den Aufenthaltsort des Justizbeamten an.) 1. Mühlenhof, Köpenick, Schönhausen (Dom. Justizamt in Berlin). 2. Landsberg, 3. Wrietzen,

Loehme, Rüdersdorf, Fürstenwalde. Kienitz, Freienwalde.

4. Wollup, Friedrichsaue, Golkow, Sachsendorf (Dom. Justizamt in Seelow). 5. Beeskow,

Riegen, Stahnsdorf, Storckow.

6. Grimnitz, Biesenthal, Chorin (Dom. Justizamt in Neustadt/Eberswalde). 7. Brüssow, Gramkow, Loecknitz (Dom. Justizamt in Prenzlau). 8. Spandau,

Boetzow, Vehlefantz.

9. Königshorst, Nauen, Fehrbellin,

Ruppin.

10. Neustadt a. d. Dosse, Wittstode, Goldbeck, Zechlin, 11. Eidenburg,

12. Mühlenbeck, Oranienburg, 13. Potsdam,

Kyritz.

Lenzen. Liebenwalde.

Fahrland, Lehnin.

14. Trebbin, Zossen, Saarmund (Dom. Justizamt in Trebbin oder Zossen). 15. Zebdenick,

Friedrichstal, Badingen.

16. Arendsee, Diesdorf,

Salzwedel.

17. Neuendorf, Tangermünde, 18. Ziesar, 19.

Burgstall.

Brandenburg.

Zinna.

Allmählich erfolgte wegen der zu umfangreichen Arbeitsgeschäfte eine Aufteilung dieser Justizämter. So z. B. 1790 die Abtrennung Stahnsdorfs von Beeskow, 42 Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Justizamt Mühlendorf selbständig. 43 Manchmal wird dafür auch die zu große Entfernung der Amtsinsassen zum Sitze des Justitiars entscheidend gewesen sein. Allgemein betrug diese zwischen % und 4x/2 Meilen. 44 1809 war die Abspaltung bereits soweit fortgeschritten, daß auch Ruppin, Wusterhausen, Liebenwalde, Saarmund, Storckow, Wittstock und Lehnin selbständige Domänenjustizämter besaßen. 45 Diese Zahl von nunmehr 28 ging dann bis 1837 allerdings wieder auf 19 zu41

Siehe Anm. 34.

42

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach II, N r . 18.

43

Ebd., N r . 24.

44

A . a . O . , Fach X I I , N r . 11.

45

A. a. O., Fach V, N r . 16.

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER K U R M A R K

117

rück46 - auch hierin macht sich eine Aufgabenverminderung dieser Institution nach der Reformzeit bemerkbar. Ein Domänengericht setzt sich zusammen aus dem Justizbeamten als Vorsitzenden, dem Ökonomie- oder Pachtbeamten und dem Aktuar. Der Pachtbeamte muß nur dann ein Votum consultum abgeben, wenn das wirtschaftliche Interesse der Domäne oder das Wohl der Amtseinwohner berührt wird. Dieses Votum soll der Vorsitzende nach Möglichkeit berücksichtigen. Der Aktuar schreibt das Protokoll und übernimmt die Expedition. Im Reglement von 1770 4 7 war noch ein Gerichtstag monatlich auf jeder zum Domänenjustizamt gehörigen Domäne vorgeschrieben. Ab 1782 begnügte man sich mit einer vierteljährlichen Frist. 48 Daneben waren bei periculum in mora auch außerordentliche Gerichtstage möglich. "Wie schon seinerzeit bei Einrichtung des Generaldirektoriums waren für die Sitzungen genaue Zeiten vorgeschrieben, nämlich von acht bis zwölf Uhr. Die Nachmittage waren für die schriftlichen Arbeiten vorgesehen. Wurde man aber mit den Prozessen am Vormittage nicht fertig, so sollte man keinesfalls erst am nächsten Tage, sondern am Nachmittage von zwei bis vier Uhr weiter tagen. Der betreffende Domänenbeamte war gehalten, den bei ihm weilenden Justitiar zu beherbergen und für „6 Groschen" zu beköstigen. Pferdegespanne zu dessen Beförderung wurden von den einzelnen Domänen in bestimmtem Wechsel gestellt. Die Gerichtsprotokolle wurden in der Regel vom Justiz- und vom Domänenbeamten unterschrieben und vom Aktuar contrasigniert. Laut Registraturverordnung vom 24. 3. 1731 4 9 mußten diese „mit der sententia denen actis, wohin es gehöret, beigefügt" und den Parteien gegen eine Gebühr ausgehändigt werden. Für jeden Prozeß war ein besonderer Band anzulegen, was nach unseren Beobachtungen auch durchgeführt wurde. Besondere Vorschriften galten für das Hypothekenbuch, dessen Eintragungen durch den Justizbeamten eigenhändig erfolgen mußten, und die gerichtlichen Deposita, die in einem besonderen Kasten aufbewahrt wurden. Jede, auch die kleinste Anschaffung, seien es nun einige Bände des „Mylius" 50 oder eben einige Depositenkästen51 mußte von der Kriegs- und Domänenkammer in Berlin bewilligt werden, die nur allzuoft diesen Anträgen ihr auf preußischer Sparsamkeit beruhendes Nein entgegenstellte! 4 6 Diese Zahl ergibt sich aus der Aufstellung in der Topographie der Untergerichte der Kurmark Brandenburg und der dazu geschlagenen Landesteile, Berlin 1837. 4 7 Siehe Anm. 34. 4 8 Reglement vom 3 0 . 1 1 . 1 7 8 2 . 4 9 Rep. 2, 2. Domänen-Reg., Justizsachen, Fach V, Nr. 2. 5 0 Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach X I V , Nr. 57. 5 1 Rep. 2, 2. Domänen-Reg., Justizsachen, Paket II, Nr. 2.

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SIEGFRIED FAUCK

Der äußere Zustand der Domänenjustizämter war durchweg befriedigend, wie die vom jeweiligen Departementsrat regelmäßig angefertigten Visitationsberichte erkennen lassen.52 Natürlich waren zeitweilige Mängel nicht zu übersehen; besonders schlimm muß es 1772 in Liebenwalde gewesen sein, wo u. a. zu beanstanden waren: Unregelmäßigkeit der Gerichtstage, die Hypotheken-, Sportel- und Protokollbücher befanden sich in der Privatwohnung des Justitiars, die Richtigkeit der Einnahmen war nicht nachgewiesen, in der Registratur schließlich lagen viele Akten ungeheftet, und nicht einmal ein Repertorium war vorhanden.

IV. Die Rechte und Pflichten der an der Domänengerichtsbarkeit beteiligten Personen Die Domänenjustizämter standen und fielen mit dem juristisch ausgebildeten und geprüften Justitiar, der manchmal auch „Justizrat" oder gar „Kriminalrat" tituliert wurde. 53 Aber gerade am Prüfungswesen krankte das System lange Zeit: Immer wieder fühlten sich das Justizdepartement, das Generaldirektorium und die Kammer bemüßigt, auf die Unerläßlichkeit des Bestehens einer juristischen Staatsprüfung hinzuweisen. So waren bereits anläßlich der Enthebung eines unfähigen Justitiars im Amte Biesenthal durch Dekret der Kammer vom 19. 3. 176454 alle Kurmärkischen Ämter zur Auskunft über die bestandenen Prüfungen ihrer Justizbeamten aufgefordert worden. Im Reglement von 177055 ging man über diese Forderungen noch hinaus und verlangte außerdem nach Möglichkeit eine vorhergehende Tätigkeit im Justizdienst. Diese Prüfungen geschahen vor dem zuständigen Landesjustizkollegium und dem Kammerjustitiar. 56 Jedoch schon damals garantierte eine Prüfung nicht die spätere Bewährung. Das demonstriert aufs deutlichste die Absetzung des Neu-Ruppiner Justitiars 1805.57 Dieser war nämlich sehr wohl vor seiner Anstellung von einem Beamten des Justizdepartements und von einem Kammergerichtsrat geprüft worden (diese Möglichkeit bestand also auch). In dem betreffenden Untersuchungsbericht heißt es dann jedoch: „Wenn er gleichwohl sich als Justizbeamter bisher nicht gehörig benommen hat, so ist dieses ein neuer Beleg für 62

Eine Reihe davon enthalten in Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensadien, Fach X, Nr. 1. 53 So in Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizsachen, Fach I, Nr. 1. 54 Landeshauptarchiv Potsdam Rep. 7, Amt Biesenthal, Nr. 589. 65 Siehe wieder Anm. 34. 56 Vgl. Reglement vom 30.11.1782. Mylius, NCC VII, S. 1870 ff. 57 Rep. 2,1. Domänen-Reg., Justizbeamtensadien, Fach II, Nr. 25.

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER KURMARK

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den Satz, daß man aus der Prüfung allein das geprüfte Subject und dessen künftigen praktischen Geschäftsbetrieb nicht mit Sicherheit beurteilen, und daß man auch auf gute Zeugnisse sich nicht unbedingt verlassen kann, daher es am zuträglichsten sein würde, wenn Referendarien, die Justizbeamte werden wollen, auch unter unserer Aufsicht bei unserer Justiz-Deputation eine Zeitlang arbeiten." Die Anstellung eines neuen Justizbeamten geschah durch eine Urkunde, in welcher dessen Pflichten und Rechte genau aufgezählt waren,58 und durch eine feierliche Einführung an seiner neuen Wirkungsstätte, wozu sämtliche Beamten des Domänen- und des Forstwesens, die Dorfrichter und Gemeindevorsteher und evtl. auch der Magistrat der Städte anwesend sein mußten.59 Der Justitiar und alle Anwesenden gelobten sich gegenseitige Achtung für die zukünftige Zusammenarbeit, ersterer mußte darauf noch einen Diensteid leisten.60 Ein Protokoll über den gesamten Vorgang wurde ebenfalls angefertigt und nach Verlesung von allen unterschrieben, zunächst vom neuen Justizbeamten. Den Amtsinsassen endlich wurde dieses Ereignis durch eine öffentliche Bekanntmachung kundgetan.61 Als Gehalt waren 400 Taler jährlich festgelegt, bei guten Leistungen konnte dieses bis auf 500 Taler steigen, als Pension bei ehrenvoller Entlassung wurden in der Regel 300 Taler gezahlt.62 Diese Sätze galten aber erst nach der festen Organisierung dieser Institution im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Auf Grund des garantierten Fixums waren diese Stellen sehr begehrt. Davon zeugen Hunderte von Bewerbungsschreiben, die manchmal schon verfaßt wurden, wenn der alte Justitiar noch auf dem Sterbebett lag. Die Genehmigung zur Übernahme von anderweitigen Justitiaten wurde in der Regel erteilt. So waren Domänenjustizbeamte der Kurmark gleichzeitig angestellt beim Reichsgrafen von der Schulenburg oder beim Herzog von Oels in Schlesien.63 Bei Abwesenheit wurden sie dann von ihrem Aktuar vertreten. Andererseits hatten manchmal die Justizbürgermeister benachbarter Städte im Nebenamt Justitiate auf Domänen übernommen.64 Der Aktuarius mußte ebenfalls eine staatliche Prüfung hinter sich bringen,65 worüber wieder ein besonRep. 2, Rep. 2, Nr. 128. 6 0 Dessen 6 1 Rep. 7, 58

69

62

1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach I, Nr. 3. 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensadien, Fach I, Nr. 29 und Rep. 7, Biesenthal, Wortlaut war dem des Aktuars fast gleich, s. unten. Amt Mühlenhof, Nr. 64.

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensadien, Fach II, Nr. 24.

63

Ebd., Nr. 20.

64

Reglement v. 1770 (s. Anm. 34).

68

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach II, Nr. 24.

120

SIEGFRIED FAUCK

deres Zeugnis ausgestellt wurde. 66 Ferner hatte auch der Aktuar einen Amtseid abzulegen: 67 „Nachdem die Kgl. Kurm. Kriegs- und Domänenkammer mich zum Aktuario bei dem Kgl. Amte N. bestellet und angenommen. Also gelobe und schwöre ich zu Gott dem Allwissenden einen körperlichen Eid, daß S. Kgl. Majestät in Preußen und dem Kgl. Hause ich getreu, gehorsam und gewärtig sein, solchem Amte nach meinem besten Wissen und Gewissen und Vermögen gebührend vorstehen, bei Auflehnung gerichtlicher Handlungen sowohl in Zivil- als Kriminalsachen alles richtig ad Protocollum verzeichnen und sonst alle beim Amte anfallenden Verrichtungen als Aktuaris übernehmen, in specie aber die Amtsacta in guter Verwahrung und Ordnung, denen dieserhalb ergangenen Verordnungen und Reglements gemäß halten und nichts davon abkommen lassen, noch mir wegnehmen, am wenigsten aber zum Nachteil des Amts und des Kgl. höchsten Interesses jemandem einige Nachrichten daraus erteilen, vielmehr was mir meines Amtes halber bekannt wird und verschwiegen gehalten werden muß, verschwiegen halten, wie ich überhaupt dasjenige, was mir sonst zu tun obliegt und zu S. Kgl. Majestät höchsten Interesse gereicht, mit allem Fleiße beobachten und mich dergestalt betragen will, wie es einem getreuen Amtsaktuario eignet und gebühret. So wahr mir Gott helfe um Christi willen." Später haben sich die Aufgaben des Aktuars noch vergrößert. So wird z. B. 1807 zusätzlich angeführt die Führung sämtlicher Tabellen und die Anfertigung der Konfirmationsklauseln bei Verträgen. 68 Die Grenze zwischen Justizbeamten und Aktuar war im übrigen ziemlich fließend. Der Aktuar vertrat ersteren nicht nur in Abwesenheit, sondern er konnte auch selbst zu dieser Stellung aufsteigen, wenn der Justitiar starb oder abgesetzt wurde. 69 Umgekehrt wurden Justitiare bei Unfähigkeit in den Stand eines Aktuars degradiert, 70 dessen Gehalt niedriger lag und etwa 70 bis 200 Taler jährlich betrug. 71 Taxatoren endlich waren nur zeitweise bei einzelnen Ämtern angestellt. 72 Selbstverständlich mußten auch sie vor Antritt ihrer Stellung einen Eid ablegen. 66

Ebd., Nr. 22.

67

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizsachen, Fach I, Nr. 2.

68

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach X V , Nr. 141.

69

Rep. 2 , 1 . Domänen-Reg., Justizsachen, Fadi I, Nr. 2 u. Justizbeamtensachen, Fach I, Nr. 5.

70

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach I, Nr. 4.

71

A. a. O., Fach IV, Nr. 15.

72

Rep. 7, Amt Biesenthal, Nr. 587.

DIE DOMÄNENJUSTIZ IN DER

V. Prozeßmaterien

und

KURMARK

121

Gerichtsverfahren

Eine Auswertung unseres wichtigsten Quellenmaterials, nämlich der Prozeßtabellen,73 ergibt, daß es die Domänenjustizämter in weit überwiegendem Maße mit Prozessen der Zivilgerichtsbarkeit zu tun hatten. Einen großen Raum nahmen weiterhin Aufgaben ein, die wir heute einem Notar zuweisen würden: Anfertigung und Verwahrung von Testamenten, Deponierung von Geld der Amtsinsassen,74 Bestätigung von Landkäufen und Aufsicht des Hypothekenwesens.75 In all diesen Angelegenheiten wurde stets ein Protokoll aufgesetzt, dessen Schlußteil die übliche Form hatte mit dem Vermerk a. u. s. und der Ankündigung „Urkundlich unter unserem Siegel und unserer Unterschrift" sowie Ort, Datum, und Unterschriften des Justizbeamten und der Zeugen, endlich das Amtssiegel. Im Zivilprozeß wurden im einzelnen folgende Materien verhandelt: Am häufigsten Injurien, dann Anforderungen, Ungehorsam, Feldfrevel, Grenzstreitigkeiten und Schwängerungen. Seltener ging es um strittige Mahlsachen, um Mühlenteiche und Fischereiberechtigungen sowie um Mietzwistigkeiten. Bis zu 14 Zivilprozesse sind bei einem einzelnen Amte in nur einem Vierteljahre angängig gewesen; oft allerdings konnte der Kammer für einen, solchen Zeitraum kein einziger Fall gemeldet werden. Falls es nicht zum Vergleich der Parteien kam, wurden Geldstrafen auferlegt bzw. Alimentenzahlung. Zur Anschaulichkeit lassen wir eine der überall nach gleichem Schema angefertigten Prozeß tabellen folgen:76 Name der Parteien Seile / Klemmers

Prozeßbeginn den

1.3.1794

Betreff Anforderung

Stand des Prozesses Acta

sind

gericht um

vom

remittiert

reponiert

zu

Kammerworden, werden,

den 15. 2 . 1 7 9 6 Schneidern / Kempfin Schneidern und

den

1 . 9 . 1795

den 3 0 . 3 . 1796

Injurien

Parteien haben sich ausgesöhnt, den 3 1 . 3 . 1 7 9 6

Entschädigung

Termin

zur

weiteren

In-

struktion dieser Sachen ist

Konsorten / Neve

anberaumt worden auf Schwängerung . 3 1 . 3 . 1 7 9 6

Tiniuschin / Gretsch Freunddin / Briese

den 3 1 . 3 . 1 7 9 6

Anforderung

Termin

zur

weiteren

In-

struktion dieser beiden ProWiehe / Briese

den 31. 3 . 1 7 9 6

Schuldforderung

zesse steht an auf 3 0 . 5 . 1 7 9 6

73

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Prozeßtabellen, Fach X I I , N r . 1 u. N r . 12, Fach X V I I , N r . 32.

74

Beispiele dafür in Rep. V B Justizamt Ziesar.

76

Rep. V B Justizamt Potsdam.

76

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Prozeßtabellen, Fach X V I I , N r . 3.

122

SIEGFRIED FAUCK

Von Kriminalprozeßtabellen wurden nur ganz wenige vorgefunden. Gänsediebstahl, überhaupt Diebereien, Schlägereien sowie ein Duell sind die hier gemeldeten Delikte. Diese Tabellen sind naturgemäß ausführlicher und enthalten noch das Datum der Arrestierung, das Urteil, ob Appellation im Gange und die Urteilsvollstreckung. Die namentliche Angabe des Re- und Korreferenten läßt den Schluß zu, daß diese Kriminalprozesse vor der Kammer bzw. dem Kammergericht entschieden wurden. In dem zitierten Reglement des Generaldirektoriums vom 28. 8. 1732 wurde aber bestimmt, daß die Domänenbeamten „geringen Diebstahl, Einbruch oder Gewalt" mit Gefängnis in unbestimmter Dauer, mit dem Spanischen Mantel oder der Fiddel bestrafen sollen. Im übrigen war aber auch hier nur von Strafen für Zivilsachen die Rede: Bei Schäden durch Vieh muß Schadenersatz erfolgen, auf Schimpfworte stehen 6 bis 16 Groschen Strafe. Für einfache Hurerei und Schwängerung bei unverehelichten Frauen ist der Knechtslohn von einem halben Jahr zu zahlen. Nichtbedienstete zahlen entsprechend. Unkeusche Worte oder Gebärden, Fluchen, Entheiligung des Sabbats sollen am Leibe oder mit Gefängnis bestraft werden. Nichterscheinen bei Aufforderung zum Amte wegen außerordentlicher Dienste mit 4 bis 8 Groschen. Alle nicht aufgeführten Verbrechen sind nach Gerechtigkeit, Billigkeit und dem Vermögen des Angeklagten zu bestrafen. Vorher müssen die Strafmaße höher gewesen sein, denn verschiedene Beamte legten gegen diese Verfügung sogleich Protest ein. Sie sahen sich eben in ihren Einkünften zu sehr geschmälert, da sie ja zu jener Zeit noch kein Fixum vom Staate bezogen. In dem Reglement über die Verstaatlichung des Domänenjustizwesens von 1770 waren im einzelnen überhaupt keine Strafmaße festgelegt. Der Richter sollte sich vielmehr nach dem Codex Fridericianus richten, bis eine besondere Gerichtsverordnung für die Justizämter erlassen worden sei. Deshalb braucht auf das materielle Recht der Kurmark im 18. und 19. Jahrhundert hier nicht näher eingegangen zu werden. Seit 1717 war in Kraft die Kriminalgerichtsordnung der Kur- und Neumark, 77 und 1748 wurde — wie gesagt — der Codex Fridericianus Marchicus eingeführt,78 seit 1794 galt dann auch das Allgemeine Landrecht, worüber ein umfangreicher Schriftwechsel des Kammergerichts an die Kammer Zeugnis ablegt.79 Davon unbeschadet werden sich viele Justitiare auf den Domänen einfach an die Rechtsgrundsätze 77

Mylius, CCM II, 3, Nr. 32.

7 8 Nach E. Schmidt, Rechtsentwicklung, pragmatik der Beamten als Gesetzbuch". 79

S. 26 war diese allerdings „mehr eine Dienst-

Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach V, Nr. 6.

DIE DOMÄNENJUSTIZ I N DER KURMARK

123

gehalten haben, wie sie bei Mylius enthalten sind.80 Denn immer wieder wurde ihnen befohlen, sich unbedingt diese Werke anzuschaffen. 81 Zur Feststellung des Zivilprozeßverlaufes selbst empfiehlt sich zunächst die Schilderung einiger Prozesse, wie sie zu Hunderten bei den Domänenjustizämtern geführt worden sind. Ein Justitiar hat den Dorfschulzen und die Schöffen mit einer Geldstrafe belegt, weil sie Branntwein von auswärts bezogen haben, darauf wegen Zahlungsverweigerungen Exekution verfügt. Gegen diese rottet sich aber das gesamte Dorf zusammen. Jetzt fragt der Justizbeamte bei seiner vorgesetzten Behörde, der Kammer, an, ob der nun notwendige Prozeß dort oder vor dem Kriminalsenat des Kammergerichts geführt werden soll. Von letzterer Instanz erhält der Schulze dann 3 Monate Zuchthaus, die Schöffen und verschiedene Bauern je 6 Wochen Gefängnis. Darüber wird dem Justizrat eine Abschrift zugestellt. Der Zuchthäusler endlich wird nach Spandau gebracht, die Gefängnisstrafen dagegen können im Amte abgesessen werden. 82 1829 wird vor dem Amte Buchholz ein Streit zwischen einem Herrn von Schlieben und der Stadt Buchholz wegen Hütungsgerechtsame ausgetragen. 83 Letztere hat einen Schafknecht des Junkers wegen Inanspruchnahme ihrer Weiden zu 50 Taler oder 10 Wochen Gefängnis verurteilt. Von Schlieben fordert deshalb diese Weide und Schadenersatz für sich. Dieses Mal leitet nun das Domänenjustizamt selbst die Verhandlung und setzt darüber ein Protokoll auf. Laut diesem führt der Magistrat eine Grenzregulierung von 1802 als Beweis an; der bevollmächtigte Prozeß Vertreter Schliebens vertritt dagegen den Standpunkt, damals sei die Landesgrenze zwischen Brandenburg und der Niederlausitz festgelegt worden und demgemäß von Hütungsrechten gar nicht die Rede gewesen. Er beantragt Verweisung des Prozesses an die Generalkommission. Das Justizamt gibt diesem Antrage - vielleicht nur allzugerne - statt. Besagte Kommission bzw. die Regierung in Potsdam lehnen dann nach längeren Verhandlungen die Klage des Gutsbesitzers ab, beide Parteien müssen je die Hälfte der Gerichtskosten tragen. Das Domänenjustizamt wird weiterhin nur insofern eingeschaltet, als es seinem Exekutor Auftrag geben muß, beim Magistrat von Buchholz diese Gebühren zwangsweise einzutreiben. Als letztes Beispiel folgt die Untersuchungssache gegen den Oberförster Schröder zu Grunewald wegen eingeschlagenen, in den Büchern aber nicht 80

Corpus burgensium. 81

2. B nen-Reg., 82 Rep. 83 Rep.

Constitutionum

Marchicarum

und Novum

Constitutionum

Prussico-Branden-

in einem Reskript des Generaldirektoriums vom 1 8 . 1 1 . 1 7 3 7 in Rep. 2, 2. DomäJustizsadien, Paket V, Nr. 3. 2, 1. Domänen-Reg., Prozeßsachen, Fach II. V B Justizamt Buchholz.

124

SIEGFRIED FAUCK

nachgewiesenen Eichenbrennholzes im Jahre 1823. 8 4 Auch hierbei erhält das Justizamt von der Regierung den Auftrag, einen Untersuchungsbericht einzuschicken, in welchem sich der Förster damit verteidigt, daß er mit seinem Deputatholz nicht ausgekommen sei. Die als Zeugen auftretenden zwei Förster erhalten vom Justizbeamten an Ort und Stelle einen Verweis, weil sie diesen Unterschleif nicht sofort gemeldet haben. Weiteres Material in dieser Angelegenheit ist in den Akten nicht vorhanden. Aus den angeführten Beispielen ergibt sich einwandfrei, daß die Domänenjustizämter nicht befugt waren, Prozesse der Domänen gegen Privatpersonen oder Städte selbst zu führen. So entspricht es ja auch dem Ressortreglement von 1749. 8 5 Auch in Streitsachen, in denen es um größere materielle Werte des Fiskus ging, war dem Domänenamt die Urteilssprechung aus der Hand genommen. Diese besaß nur die übergeordnete Instanz, die Kammer in Berlin bzw. nach 1808 die Regierung in Potsdam. Der Justizbeamte hatte nur die Pflicht, seine Berichte über die Sachlage einzuschicken und die Verhandlungsprotokolle aufzusetzen, sowie evtl. Gebühren einzutreiben. Auf alle Fälle war er angehalten, jede mündliche oder schriftliche Klage entgegenzunehmen und sofort ein Verfahren einzuleiten. Um dieses kontrollieren zu können, mußte er jedes Quartal besagte Prozeßtabellen an die Kammer einreichen. Dasselbe war übrigens auch mit den Depositen- und Arrestantentabellen wie auch mit der Aufstellung sämtlicher Erbfälle der Fall. Das sehr reichhaltige Quellenmaterial über das Gebühren- und Sportelwesen bei den Domänenjustizämtern bezeugt augenfällig, welch starkes ökonomisches Interesse der Hohenzollernstaat an dieser Einrichtung hatte. Immer wieder finden wir Mahnungen des zuständigen Kriegs- und Domänenrates zu richtiger und vor allem rechtzeitiger Eintreibung der Prozeßgebühren, wie ja auch der Justitiar selbst strikt mit einer Geldstrafe belegt wurde, falls seine Berichte und Tabellen nicht pünktlich eintrafen. Dieser Sachverhalt wird gestützt durch die mehrfachen Sportelordnungen für Domänenämter im 18. Jahrhundert, nämlich 1717. 8 6 1781, 8 7 1788 8 8 und dann wieder 1801. 8 9 Es gab weiter Abschoß-, Laudemien-, Erbpacht- und Trauscheingebühren und dann natürlich Gerichtsgefälle sowie die vom Justizamt verhängten Strafgelder. Diese Prozeßgebühren mußten den Parteien sogleich bei Prozeßbeginn Rep. V B Justizamt Spandau. Mylius, CCM IV, Nr. 66. Acta Borussica VII, Nr. 157. Vgl. hierzu O. Hintze, Acta Borussica VI, 1, S.231 f. 8 6 Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizsachen, Fach I, Nr. 2. Mylius, NCC IV, S. 7110 ff. 8 7 Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach V, Nr. 3. 8 8 Ebd., Nr. 4 u. 5. 8 9 Ebd., Nr. 14. 84

85

DIE DOMÄNENJUSTIZ I N DER KURMARK

125

auferlegt werden und „deren Beitreibung soll während des Verfahrens nicht außer Augen gesetzt werden", wie es in einem Reskript des Generaldirektoriums vom 28. 5. 177690 heißt. Sie wurden vom Aktuar in ein besonderes Buch verzeichnet und deren Aufrechnung von ihm und dem Justitiar unterschrieben. Jedes Domänenjustizamt hatte eine besondere Sportelkasse, aus der der Justitiar bezahlt wurde. Der etwaige Überschuß sollte laut Reglement von 177091 zur Errichtung „tüchtiger Amtsgefängnisse" und überhaupt für die Domänenjustiz dienen. Niederschlagungen von Gebühren mußte ebenfalls erst die Kammer bestätigen. Für eventuelle Uberschüsse der einzelnen Domänenjustizämter wiederum besaß diese eine besondere Generalsportelkasse. Es ist hier nicht möglich, den vollen oder auch nur auszugsweisen Wortlaut einer dieser Sportelordnungen zu bringen und dazu kritisch Stellung zu nehmen. Denn kam die von 1770 noch mit 13 Folioseiten aus, so benötigte man 1801 bereits 90 Folioseiten! Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die einzelnen Gebühren im Laufe der Zeit immer mehr spezifiziert — und oft auch erhöht worden sind. VI. Der Einfluß der Oberinstanzen und die Beseitigung der

Domänenjustiz

Es ist hinlänglich gezeigt worden, daß den Justizämtern fast nur eine Kompetenz in der Zivilgerichtsbarkeit zustand. Zudem waren sie nicht nur in organisatorischer Hinsicht von der Kammer abhängig, sondern auch im Gerichtsverfahren selbst können wir letztere direkt als „Berufungsinstanz" ansprechen.92 Der jeweilige Departementsrat allerdings durfte von sich aus — etwa bei seinen Visitationen - nicht in ein schwebendes Rechtsverfahren eingreifen. Dieses stand laut dem Reskript des Generaldirektoriums vom 3. 9. 174893 nur der Kammerjustiz zu. In schwierigen Fragen wurde stets noch das Kammergericht herangezogen, dessen Entscheidungen dann ohnehin verbindlich waren. Dieser Einfluß der Oberinstanzen wurde noch verstärkt durch die Schaffung der Kreisjustizräte 1782, die nun ihrerseits noch die spezielle Aufgabe der Beaufsichtigung der Amtsjustitiare zugewiesen erhielten.94 Im gleichen Jahre wurde ferner bestimmt, daß fortan die Visitationen durch den Kammerjustitiar und einen Vertreter des Justizkollegiums - und zwar möglichst gemeinsam erfolgen sollten.95 Während ein unmittelbares Eingreifen der nächsthöheren 90 91 92 93 94 95

Ebd., Nr. 2. Siehe Anm. 34. So E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 190. Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach V, Nr. 1. Reglement vom 30. 11. 1782. Mylius, NCC VII, S. 1870 ff. Reglement vom 12. 2.1782. Mylius, NCC VII, S. 838 ff.

126

SIEGFRIED

FAUCK

Instanzen, des Generaldirektoriums und auch des Justizdepartements, in sehr vielen Prozessen nachzuweisen ist, konnte eine unmittelbare Einwirkung der preußischen Könige nicht festgestellt werden. Sehr wahrscheinlich wird dieses aber zumindest unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. auch in der Kurmark vereinzelt der Fall gewesen sein.96 Das Ende gewissermaßen der „klassischen Zeit" der Domänenjustizämter ist gegeben durch die Beseitigung der Kammerjustiz 1808. Die „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden" vom 26. Dezember des gleichen Jahres 9 7 bestimmte demgemäß, daß die Prüfung, Anstellung und Aufsicht der Dienstführung nun ausschließlich dem Landesjustizkollegium zustand, das der Regierung darüber nur noch Nachricht zu geben hatte. 98 Lediglich die Gehälter für die Domänenjustizbeamten gehörten noch zur Tätigkeit der Regierung, Abteilung III (direkte Steuern, Domänen und Forsten). Das bisherige Eingreifen der oberen Verwaltungsbehörden wurde endgültig untersagt durch die Kabinettsorder vom 6. 9. 1815, 99 laut der die Untergerichte in ihrer Rechtsprechung nur noch den Obergerichten verantwortlich waren. D a der preußische Staat seit der Reformzeit zur Veräußerung seines Domänenbesitzes greifen mußte, 100 wurde der Domänenanteil auch rein quantitativ in ziemlichem Umfange verringert und dadurch einer weiteren Verminderung der Bedeutung der Domänenjustiz Vorschub geleistet. Gegen diese Entwicklung konnte auch die Bestimmung der Kabinettsorder vom 20. 2.1812, wonach bei Veräußerung von Domänenbesitz die Gerichtsbarkeit dem Staate vorbehalten bleiben sollte, keinen wirksamen Einhalt mehr gebieten. Eine Anzahl der Justizämter verschmolz bereits 1810 mit den in der Nähe befindlichen Königlichen Stadtgerichten zu den neuen Land- und Stadtgerichten. 101 Auch in der Folgezeit wurden noch manche aufgelöst, z. B. kam das Justizamt Mühlenhof 1836 zum neu errichteten Landgericht Berlin. 102 Jetzt ressortierten die Justizämter von der Regierung zu Potsdam, Abteilung III (direkte Steuern, Domänen und Forsten). In höchster Instanz unterstand die Allgem. Beispiel für König Friedrich II. in Acta Borussiax X I I I , N r . 208. Gesetzsammlung 1806 bis 1810, S. 468. 9 8 Rep. 2, 1. Domänen-Reg., Justizbeamtensachen, Fach V, N r . 14. 9 9 Gesetzsammlung 1815, S. 198. 1 0 0 Edikt und Hausgesetz über die Veräußerlichkeit der Kgl. Domänen vom 6. 11.1809 (Gesetzsammlung 1806—10, S. 604). 1 0 1 Reskript vom 10. 12. 1810. Rabe, Gesetzsammlung, Bd. 10, S. 485. In dem 1795 erworbenen Neuostpreußen wurden Kreisgerichte eingeführt, die sämtliche Untergerichte — also auch die Domänengerichte — überflüssig machten. Ein ähnlicher Schritt erfolgte 1802 in Westpreußen. 1 0 2 Rep. 7, Amt Berlin-Mühlenhof, N r . 8. 96

9T

DIE DOMÄNENJUSTIZ I N DER KURMARK

127

Verwaltung der Domänen seit 1808 dem Finanzministerium, von 1835-1845 dem Haus- und Hofministerium. Eine neue Zeitepoche, die sich durch die 1848er Revolution kundtat, beseitigte dann die zum Anachronismus gewordene Domänenjustiz durch die Verordnung vom 2. 1.1849 über die „Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit und die Bildung von kollegialisch eingerichteten Kreisgerichten". 103 Die Domänenjustiz der Kurmark war im 18./19. Jahrhundert von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Auf dem Gebiete der Zivilgerichtsbarkeit hat sie in Prozessen mit begrenztem Streitwerte von sich aus entschieden, bei höherem Werte und wenn das wirtschaftliche Interesse des Staates auf dem Spiele stand, führte sie die Untersuchungen an Ort und Stelle und schickte die darüber aufgesetzten Protokolle an die Kriegs- und Domänenkammer. Sie führte die Exekution durch und trieb die Gebühren ein. Besonders groß war das Arbeitsgebiet des Amtsjustitiars auf dem weiten Felde des Hypotheken-, Vormundschafts- und Depositenwesens, auch die Bestätigungen von Kauf- und Pachtverträgen lagen ihm ob. Nicht zu vergessen ist, daß das sehr ausgedehnte Polizeiwesen, das hier nicht mitbehandelt werden konnte, ebenfalls hauptsächlich zu seinen Aufgaben gehörte. Dagegen lag ihm die Kriminalgerichtsbarkeit ab 1770 nur in Einzelfällen ob. Wegen Verlust der einschlägigen Archivalien der Justizämter ist es nicht möglich, ein endgültiges Urteil über deren prozessuale Tätigkeit abzugeben. Hinsichtlich des Behördenaufbaus ist über diese Institution nur Gutes zu sagen; sie steht in keiner Weise der sonstigen Verwaltung im Preußischen Staate nach. Auch das Beamtentum, die Justitiare und Aktuare, hat mit seinem Arbeitsenthusiasmus eine Leistung vollbracht, die auf diesem Sektor in anderen deutschen Territorien kaum ein Ebenbild finden dürfte.

103

Gesetzsammlung 1849, S. 1 ff.

HARALD FRIEDRICH

SCHOLTZ

GEDIKE

(1754-1803)

E I N W E G B E R E I T E R DER PREUSSISCHEN R E F O R M DES BILDUNGSWESENS

Die Reform des Bildungswesens nach der Niederlage Preußens von 1806 stellt einen wesentlichen Einschnitt in der deutschen Erziehung und Schulgeschichte dar. Will man die Bedeutung der Entscheidungen ermessen, die hier von einer in die Goethe-Zeit hineingeborenen Generation getroffen wurden, so wird man die schöpferischen Gedanken von Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Süvern u. a. in einen Zusammenhang mit den pädagogischen Reformbestrebungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bringen müssen, der weder die individuelle Eigenart bedeutender Pädagogen im Prozeß der „Entstehung des modernen Erziehungswesens" untergehen läßt noch die „Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Erziehungsverhältnissen" geringschätzt gegenüber der Bedeutung des literarischen Gespräches der großen Geister. 1 Aufklärung und Neuhumanismus haben nicht nur widerstreitende pädagogische Positionen hervorgebracht, die im geschichtlichen Ablauf einander ablösten, sondern sind miteinander verschwistert und haben gemeinsam dem deutschen Schulwesen sein eigenartiges Gepräge gegeben. Diese Untersuchung soll den angedeuteten Zusammenhängen durch die Darstellung des Lebens, des Wirkens und der geistigen Position Friedrich Gedikes nachgehen, weil er - nach Dilthey - als Begründer des preußischen Neuhumanismus anzusehen ist 2 und weil die geschichtliche Uberlieferung glücklicherweise ein Bild von seinen pädagogischen Uberzeugungen ebenso wie von den tatsächlichen Verhältnissen in den Gymnasien gewinnen läßt, die er leitete. Außerdem geben seine Darstellungen in den Briefen „Über Berlin, von einem 1

Diese Alternativen zeigen sich bei Wilhelm Roessler, Die

Erziehungswesens Humboldt

und

in Deutschland, die

Reform

Blättner, Das Gymnasium,

Entstehung

des

modernen

Stuttgart 1961, und bei Eduard Spranger, Wilhelm

des Bildungswesens,

Berlin 1 9 1 0 ; dort das Zitat, S. 3.

von Fritz

Heidelberg 1960, sucht den vielfältigen Aspekten der pädago-

gischen Geschichtsschreibung gerecht zu werden. 2

Vgl. Wilhelm Dilthey, Süvern,

1959, S. 452.

in: Gesammelte

Schriften,

Bd. 4, Göttingen und Stuttgart

FRIEDRICH GEDIKE

(1754—1803)

129

Fremden" in der von ihm herausgegebenen „Berlinischen Monatsschrift", 3 die bisher für die Deutung seiner Position nicht genutzt wurden, ein so lebendiges Bild von der geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation, in der sich sein pädagogisches Wirken entfalten konnte, daß der Versuch berechtigt erscheint, von Gedike her die Beziehungen zwischen Aufklärung und Neuhumanismus, der Schulreform um 1780 und 1810 zu erhellen, zumal er auch der pädagogische Lehrmeister von Süvern, Bernhardi, von Uhden, Spilleke und anderen bedeutenden Männern der Reformzeit gewesen ist. Gedikes Wirkungsstätte war Berlin. „Voll Wünsche, voll Enthusiasmus, voll Riesenpläne, voll Ungeduld" kam er an ein Gymnasium, 4 das er aus einem Kümmerdasein durch die praktische Nutzung der neuen pädagogischen und schulorganisatorischen Erkenntnisse seiner Zeit zu einer erstaunlichen Blüte brachte. Nach fünf Jahren erfolgreicher Tätigkeit als Direktor konnte der Dreißigjährige in das lutherische Oberkonsistorium einziehen und von dort, weil es auch die Funktion eines Provinzialschulkollegiums für die Kurmark innehatte, auf die brandenburgischen Schulen Einfluß gewinnen. Die Aufnahme in das 1787 begründete Oberschulkollegium erweiterte nochmals seinen Wirkungskreis ganz beträchtlich. Neben den Beamtenfunktionen als Direktor, Oberkonsistorialrat und Oberschulrat konnte er sich dem gesellschaftlichen Verkehr in den Berliner Klubs und Logen widmen und von 1781 bis 1793 mit J . E. Biester die „Berlinische Monatsschrift" herausgeben, in der Kant, Moses Mendelssohn, Moser, Garve, Nicolai, Stuve u. a. zu Wort kamen. 5 In den 49 Jahren seines Lebens ist Gedike aus den bescheidensten Verhältnissen zu solcher Macht und zu solchem Ansehen gelangt, wie sie für einen Schulmann wohl selten sind. Anfänglich von dem aufklärerischen Minister von Zedlitz protegiert, konnte er sich auch unter dem Minister Wöllner in den Zeiten des Religionsediktes behaupten und am Ende seines Lebens den Vertrauensbeweis Friedrich Wilhelms I I I . entgegennehmen, der ihm den Auftrag erteilte, Pestalozzi zu besuchen, weil er Gedike schätzte als einen Mann „von anerkannten pädagogischen Kenntnissen und Erfahrungen, dem ich zugleich Wärme für alles, was den Unterricht verbessern kann, und Unbefangenheit genug zutrauen konnte, um sich nicht vom Reiz der Neuheit blenden zu 3

Berlinische

Monatsschrift,

hrsg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester, 1783 bis

1791 bei Unger in Berlin (künftig zit.: BM)\ Gedike verfaßte die zwischen 1783 und 1785 erschienenen Briefe „Uber Berlin, von einem Fremden", wie sich an vielen Einzelheiten leicht nachweisen ließe. 4

Friedrich Gedike, Gesammelte

Schulschriften,

2 Bde., Berlin 1789 und 1795 (Sammlung

der Schulprogramme des Friedrichwerderschen Gymnasiums, künftig zit.: GS). Das Zitat in GS II (1795), S. 304. Die Zitate werden der heutigen Schreibweise angeglichen. 5

Vgl. Allgemeine

Deutsche

würdigung Gedikes in der Neuen 9

Jahrbuch 13/14

Biographie, Deutschen

Bd. 7 (H. Kaemmel) und die neueste Biographie,

Bd. 6, von F. Borinski.

Gesamt-

130

HARALD SCHOLTZ

lassen". 6 Doch Gedike starb wenige Tage nach der Erteilung dieses ehrenvollen Auftrages, am 2. Mai 1803. Minister von Massow, Gedikes letzter Vorgesetzter, charakterisierte ihn als einen Mann von seltenem Genie, ein „vorzüglich tätiger und durch seine gelehrten, pädagogisch-praktischen Kenntnisse dem Staat überaus nützlicher, tätiger und rechtschaffener Geschäftsmann". 7 Er ist als Schulmann weder den Gelehrten noch den pädagogischen Theoretikern zuzurechnen. Zwar schätzte ihn F. A. Wolf als Gräcisten, aber nur bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre hat er an philologischen Veröffentlichungen gearbeitet; seine schriftstellerische Leistung liegt dann vorwiegend, abgesehen von sprach- und kulturkundlichen Studien und einigen Oden zu festlichen Gelegenheiten, auf dem pädagogischen Gebiet. 8 Hier ging es ihm weniger um eine in sich geschlossene Erziehungstheorie als um die Verwertung der neuen pädagogischen Erkenntnisse seiner Zeit für die Schulpraxis. In den letzten Jahren seiner Tätigkeit traten wieder schulpolitische Erwägungen in den Vordergrund, die er schon in seinem pädagogischen Erstlingswerk „Aristoteles und Basedow" angestellt hatte, weil die seit 1788 stagnierenden Bemühungen um die Reform des gesamten Schulwesens durch die neue Regierung wieder aufgenommen wurden. 9 Die Geschichte der Pädagogik hat Friedrich Gedikes Leistungen in einigen Aspekten gewürdigt. 10 Vornehmlich wird er als Reformer des lateinischen und griechischen Unterrichts dargestellt, 11 die Geschichte der Bildungstheorie erwähnt ihn als den ersten deutschen Neuhumanisten, der Lockes Theorie der 6 Vgl. Franz Horn, Friedrich Gedikes Biographie aus den Papieren desselben, Berlin 1808 (künftig zit.: Horn), S. 30 f. Der Brief ist vom 2 3 . 4 . 1 8 0 3 , neun Tage vor Gedikes Tod, datiert. 7 Vgl. Paul Schwartz, Die Gelehrtenschulen Preußens unter dem Oberschulkollegium und das Abiturientenexamen, 3 Bde. ( = Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. 46, 48 und 50), Berlin 1910—12 (künftig zit.: Schwartz, Gelehrtenschulen I — I I I ) ; das Zitat in Gelehrtenschulen I, S. 58. 8 Ausführlichstes Verzeichnis der Schriften Gedikes bei Ersch/Gruber, Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 1. Sektion, 55. Teil, von Heinrich Döring, Leipzig 1852. 9 F. Gedike, Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuern, Berlin/Leipzig 1779, und die von D. Friedrich Gedike hrsg. Annalen des preußischen Schul- und Kirchenwesens, Berlin 1800 und 1801. 1 0 Gesamtwürdigungen von E. Bonnell in K. A. Sdimids Enzyklopädie, 2. Aufl., Bd. 2, Gotha 1878, S. 7 8 8 — 7 9 5 ; H . Bender in K. A. Schmids Geschichte der Erziehung, Bd. 5 , 1 . Teil, Stuttgart 1901, S. 163—170; Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2. Bd., 3. Aufl., Berlin 1921, S. 84 ff. 1 1 In den neueren Lexika wird fast ausschließlich seine Reform des altsprachlichen Unterrichts hervorgehoben (vgl. die Lexika der Pädagogik aus Bern und Freiburg). Speziell zum altsprachlichen Unterricht: Julius Lattmann, Geschichte der Methodik des lateinischen Elementarunterrichts, Göttingen 1896, S. 234 ff.

131

F R I E D R I C H G E D I K E (1754—1803)

formalen Bildung auf das Studium der alten Sprachen bezogen hat, 1 2 außerdem wird Gedikes Bedeutung als Begründer des ersten pädagogischen Seminars für Gymnasiallehrer, 13 als Direktor der zwei von ihm geleiteten Gymnasien 1 4 oder als rühriger „Geschäftsmann" des neugegründeten Oberschulkollegiums und Initiator des Abiturientenexamens hervorgehoben. 15 Daß Gedike als erster für das analytische Verfahren im Anfangsunterricht, besonders beim Lesenlernen, eintrat, ist nahezu in Vergessenheit geraten. 16 Seine schulpolitische Konzeption ist im Zusammenhang bisher nicht dargestellt worden, weil die Einordnung Gedikes in die gegensätzlichen pädagogischen Strömungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ohne vorhergehende Analyse der zentralen Antriebe seines Lebens und Wirkens geradezu aussichtslos erscheinen mußte, denn für Gedike gab es keine Alternative zwischen Philanthropisten und Neuhumanisten, sondern nur die Auseinandersetzung mit beiden Strömungen im Interesse einer Unterrichtsgestaltung, die den Anforderungen seiner Zeit an die Schulerziehung genügen sollte. 17 Wie Gedike eine eigene Machtposition im preußischen Schulwesen erobern konnte, wie er sie nutzte und wo ihre Grenzen lagen, daran wird zu zeigen sein, welche Kräfte in der Auflösung der absolutistischen Herrschaft und bei der Beseitigung des Schulpartikularismus wirksam wurden in Richtung auf eine vom Staat regulierte Ordnung des Unterrichtswesens. Dieser Prozeß ist insofern von besonderem historischen Interesse, als sich am Ende der friderizianischen Epoche eine Entwicklung anbahnte, die das höhere Schulwesen in 1 2 Eridi Lehmensidc, Theorie Cohn in Nohl/Pallat, Handbuch

der formalen Bildung, Göttingen 1926, S. 11 ff., und Jonas der Pädagogik, Bd. 1, Langensalza 1930, S. 257 und 282.

L . H . F i s c h e r , Das königlich-pädagogische Seminar für das Gymnasial-Wesen 42, Berlin 1888, S. 1 ff. 13

in Berlin

1787—1887,

in: Zeitschrift

1 4 C. A. Müller, Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin, Berlin 1881, S. 52 ff., und Julius Heidemann, Geschichte des Grauen Klosters zu Berlin, Berlin 1874, S. 262 ff. 1 5 Schwanz, Gelehrtenschulen, und Paul Schwartz, Der erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule 1788—1798 ( = MGP, Bd. 58), Berlin 1925 (künftig zit.: Schwartz, Kulturkampf). 1 6 Vgl. Art. „Leseunterricht" in den pädagogischen Nachschlagewerken. Heinrich Fechner sah bei Gedike die Anfänge des analytischen Verfahrens (Reins Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, 5. Bd., Langensalza 1906, S. 619); ihm folgt Bernhard Bosch, Grundlagen des Erstleseunterrichts, 2. Aufl., Düsseldorf 1949, S. 114.

Einen Versuch zur Einordnung Gedikes unternimmt Karl Richard Tränkmann, Friedrich Gedike in seinem Verhältnis zu den pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit, Diss. phil. Leipzig 1900. A. Pinloche hat Gedikes Bedeutung für das preußische Schulwesen sehr hoch veranschlagt in seiner Geschichte des Philanthropinismus, Leipzig 1896, S. 443—449. Die späteren Arbeiten über den Philanthropismus von R. Schümann, Th. Fritzsch, Ch. Papmeyer, K. Schräder, F. Pasternak erwähnen Gedike nur am Rande. 17

9*

132

HARALD SCHOLTZ

Deutschland in Gegensatz zu der Entwicklung in den westeuropäischen und besonders angelsächsischen Staaten brachte und ihm ein eigenes Gepräge gab. Man wird diesen Prozeß nicht einfach als Übernahme gesellschaftlicher Interessen in die staatliche Verantwortung und die Beamten dabei als Exekutivorgane des königlichen Willens ansehen dürfen. Es wird vielmehr zu fragen sein, welche Beziehung das Schulwesen zur Gesellschaft und zum Staat gewann, indem es sich als Schulwesen überhaupt erst konstituierte. Während in der Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Adel unter dem Zeichen der Aufklärung die bürgerliche Schicht ihr Ansehen durch Bildung zu festigen und den gesellschaftlichen Aufstieg in den persönlichen Stand abzusichern suchte, erwuchs ihr in der öffentlichen Schule eine Institution, die ihren Bestrebungen entgegenkam. Die höhere Schulbildung konnte, wenn sie nicht bloß eine Angelegenheit des Gelehrtenstandes blieb, zur Regulierung des gesellschaftlichen Aufstieges beitragen. In der Verselbständigung der Gelehrtenschulen gegenüber den lokalen Patronaten und dem Gelehrtenstand ging die Aufgabe der Aufstiegsregulierung mehr und mehr auf die Schulmänner über. Sie konnten darüber bestimmen, welche Normen erfüllt sein mußten, wenn man sich den gebildeten Ständen zurechnen wollte. Der Schulmann ist also nicht nur in seiner Rolle als Staatsbeamter zu sehen — sie wurde ihm erst mit der Einführung des preußischen Landrechts zugeschrieben - , sondern vornehmlich in seiner gesellschaftlichen Funktion, als Angehöriger der gebildeten Schicht oder des Gelehrtenstandes. In dieser Monographie über einen der führenden Schulmänner Preußens wird deshalb die gesellschaftliche Position und das Ethos dieses Mannes darzustellen und zu untersuchen sein, ob sich seine persönlichen Motive in der geschichtlichen Situation bei der Umgestaltung der Schulverhältnisse durchsetzen und den preußischen Schulen ein bestimmtes Gepräge geben konnten. Gedikes Position ist besonders interessant, weil er als Gymnasialdirektor und hoher Beamter in der Schulverwaltung zugleich auf die öffentliche Meinung Einfluß zu gewinnen suchte und entscheidenden Anteil an der Einführung des Abiturientenexamens hatte, das sich als wirksamster Hebel zur Vereinheitlichung der höheren Schulen in Preußen erwies. Dieses Examen gewann während des 19. Jahrhunderts in besonderem Maße die oben angedeutete gesellschaftliche Funktion der Sicherung des Aufstiegs in die gebildete Schicht. Dieser Aufstieg vollzog sich durch die Erfüllung von Normen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts und in der Reformzeit unter dem Einfluß einzelner Persönlichkeiten herausgebildet hatten, sich dann aber kraft dieser Tradition als schwer korrigierbar erwiesen, als die Bedürfnisse der Gesellschaft in Widerstreit mit diesen Normen gerieten. Schon die Männer, die in der preußischen Reformzeit den einen Weg schulischer Bildung festlegten, der ihrer Meinung nach den

F R I E D R I C H G E D I K E (1754—1803)

133

Ansprüchen entsprach, welche man an den gebildeten Menschen ganz allgemein zu stellen sich berechtigt fühlte, bezogen ihre Legitimation dafür nicht nur aus ihrer philosophischen Überzeugung, sondern auch aus der Tradition. An dieser Tradition hatte Friedrich Gedike entscheidend mitgewirkt. Dem Neuhumanismus der klassischen Zeit hätte bei seiner Zielrichtung auf die Bildung der Individualität der Gedanke an eine Normierung des Bildungsweges durch die öffentliche Schule fernliegen müssen, wenn nicht die vorangegangene Zeit den Gedanken der formalen Bildung entwickelt hätte, der diese Normierung unter liberalen Aspekten akzeptabel erscheinen ließ. Die Betonung der formalen Bildung durch eine bestimmte Führung des Unterrichts und durch ein neues Verständnis vom Bildungswert des altsprachlichen Unterrichts ging von Gedike aus. Durch ihn wurde das Streben nach Selbstbildung und Entfaltung der Individualität ausgesöhnt mit der normorientierten Institution der öffentlichen Schule. Der wachsende Anspruch auf Verinnerlichung von Bildung bei gleichzeitiger Entpersönlichung und Rationalisierung des Schulbetriebes führte die Schulerziehung in Deutschland in größte Spannungen hinein. Auch dies ist ein Grund, auf Friedrich Gedike zurückzublicken, der noch die pädagogische Konzeption von der inneren Ordnung einer Schule mit einem bestimmten Bildungsgehalt zu verbinden wußte. Bei ihm vereinigten sich pädagogische und didaktische Zielrichtung auf ein Leitbild, den tätigen und gebildeten Geschäftsmann, der er selbst war. I Friedrich Gedikes Kindheit stand unter dem Zeichen der Armut. 1754 wurde er in Boberow in der Prignitz als Sohn eines lutherischen Landpredigers geboren. Wenige Monate nach der Geburt des zweiten Sohnes, 18 der sich später unter der Anleitung des älteren Bruders zu einem tüchtigen Schulmann entwickeln sollte, starb der Vater. Im Alter von zehn Jahren mußten beide Jungen fern von der Mutter ihren Weg allein gehen: Friedrich kam in das Waisenhaus nach Züllichau, Ludwig in das Schindlersche Waisenhaus nach Berlin. Züllichau, nach dem Franckeschen Muster von der Familie Steinbart gegründet, wollte der rührige Gotthilf Samuel Steinbart in ein „séminaire royal" verwandelt sehen und gliederte deshalb dem Waisenhaus 1766 ein Pädagogium an. 1 9 Fast sieben Jahre lang wurde Gedike in Züllichau völlig frei verpflegt, 1 8 Zu dieser Zeitangabe aus Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 8, S. 490, über Ludwig Friedrich Gottlieb Ernst Gedike, geb. 1760, steht in Widerspruch die eigene Aussage von Friedrich Gedike in GS I, S. 241. 1 9 Vgl. Gunnar Thiele, Geschichte der preußischen Berlin 1938, S. 360.

Lehrerseminare,

Bd. 1 ( = MGP, Bd. 62),

134

HARALD

SCHOLTZ

unterrichtet und erzogen. Erst nach seinem Übergang zum Pädagogium wurden seine Lehrer auf seine Begabung aufmerksam; zuvor hatte er lange Zeit dumpf vor sich hin gelebt.20 Hier muß sich in ihm der Trieb entwickelt haben, durch geistige Leistung die Unterstützung, die ihm zuteil wurde, zu rechtfertigen. Dieses Motiv zur Rechtfertigung durch Leistung durchzieht sein ganzes Leben; so wacht er argwöhnisch darüber, ob arme junge Leute die ihnen gewährten Benefizien auch der Wissenschaft zunutze verwenden,21 und er sieht in seinen Schulen den psychologischen Hebel zur Ordnung des Schullebens in einem „durch Ehrtrieb gespornten Fleiß". 2 2 Von ihm selbst wird berichtet, daß der Antrieb zu „grenzenloser Tätigkeit" in dem Ehrgefühl lag, das ihn spornte.23 Nicht zufällig ist der Beitrag, mit dem sich Gedike an den „Dessauischen Unterhandlungen" der Philanthropisten 1780 beteiligt, dem Thema „Hoffnung und Furcht, Lob und Tadel auf der Waage des Pädagogen" gewidmet. Darin steht das ,preußische' Wort: Fleiß sei Pflicht; das philanthropistische Meritensystem wird als Tändelei abgetan. Den Erziehern wird angeraten, kein Lob für „nur natürliche Vorzüge" auszusprechen, denn „der Mensch kann nicht früh genug gewöhnt werden, nicht stolz zu sein auf das, was nicht sein ist" (GS I, 74). Gedikes Erziehung will also die natürlichen Quellen der Selbstbestätigung durch Herkunft und Veranlagung verstopfen, um an ihre Stelle einen Leistungswillen zu setzen, der auf Normen bezogen ist, welche von der Gesellschaft oder der Schule gesetzt und kontrolliert werden können. Mit den gleichen Gründen plädiert er dafür, daß die Kinder aller Stände der öffentlichen Schule zugeführt werden: Sie sollen sich früh gewöhnen, „sich persönlichen Wert zu erwerben". 24 Der persönliche Wert, die Grundlage des Selbstbewußtseins, soll nicht etwas sein, was der Mensch besitzt, sondern was er sich erwerben muß, indem er sich den Leistungsansprüchen der Gesellschaft unterwirft. Säkularisierte religiöse Motive lassen sich für diese Leistungsorientierung nicht nachweisen. Die Erziehungsmaximen seines Lehrers Steinbart weisen eher auf Anpassung und Verinnerlichung konventioneller Normen hin als auf die Bewährung des einzelnen: „Erste Pflicht der Erziehung ist es, [der Schüler] 20

Vgl. seine Selbstdarstellung in GS I, 240 ff.

Valentin Heinrich Schmidt in seinem Nekrolog für Gedike (künftig zit.: Nekrolog) in: Nekrolog der Teutschen für das 19. Jahrhundert, hrsg. von F. Schlichtegroll, Bd. 2, Gotha 1803, S. 45. 21

22

Vgl. Horn, S. 65.

23

Nekrolog,

S.31.

Friedrich Gedike, Kurze Nachricht von der gegenwärtigen Einrichtung des BerlinischKöllnischen Gymnasiums, Programm von 1796, Berlin (künftig zit.: Programm 1796), S. 12. 24

FRIEDRICH GEDIKE

(1754—1803)

135

zirkumspecte Aufmerksamkeit auf sich selbst, den Körper, die Kleidung, die Reden, auf das, was sie unter den Händen haben, zu lenken."25 Wenn Steinbarts Schüler demgegenüber es als den „Gang der Natur" ansieht, daß der Mensch erst um sich, später auf und in sich blickt (GS I, 22), so kann diese Aussage weniger als entwicklungspsychologische Feststellung denn als Selbstzeugnis angesehen werden. Gedike hatte sein bewußtes Leben im Waisenhaus mit dem Blick auf die Forderungen der Erzieher begonnen, hatte die Norm, die von der friderizianischen Erziehung ,verständig' begründet wurde, auf sich bezogen und versuchte, dieser von ihm als allgemeingültig aufgefaßten und moralisch auf sich persönlich bezogenen Norm zu entsprechen. Sein Geltungstrieb war aber nicht durch Konformität mit seinen Mitschülern zu befriedigen, sondern durch intellektuelle Leistung einerseits, andererseits durch einen „von Jugend auf nach Grundsätzen geführten moralischen Wandel". 26 Der immer wieder bezeugte Gegensatz seines äußeren und inneren Lebens, die Strenge nach außen bei aller Liberalität, ja oft auch Form- und Rücksichtslosigkeit im Verkehr mit Gleichgestellten, werden sich hier entwickelt haben. Gedikes pädagogische Konzeption beruht weitgehend auf der Überzeugung, daß Hoffnung und Furcht die einzigen „Prinzipien der Tätigkeit" seien, „durch die der Mensch . . . sich entweder zu nützlichen Handlungen antreiben, oder von schädlichen zurückhalten läßt" (GS I, 88). Die Erziehungslehre, die er aus dieser Einsicht entwickelt, interessiert hier nur insoweit, als sie Hinweise auf den Zusammenhang mit Gedikes eigener Lebenserfahrung gibt. Ihr entspricht es, daß man den Jüngling „durch die Furcht des Verlustes eines geistigen Guten, vornehmlich der Achtung und Aufmerksamkeit des Lehrers" fesseln könne und die Hoffnung auf das Aufhören von Einschränkungen, die im Knabenalter die Freiheit beschnitten, eine große Antriebskraft für das Jünglingsalter darstelle, denn „der aufgeklärtere, mehr zum Denken gewöhnte Mensch läßt sich oft stärker durch Hoffnung treiben, als durch Furcht zurückhalten" (GS I, 44). Deshalb lehnt Gedike für die Erziehung des Jünglings die herkömmliche ,sinnlich handhafte' Erziehungsweise ab. Er soll als „freies Geschöpf" behandelt werden, indem man mehr auf seinen Willen als auf seine Sinnlichkeit einwirkt. Gedike verschweigt, daß diese Hoffnung, dieser Wille des Zöglings hauptsächlich durch die Aussicht auf gesellschaftlichen Aufstieg motiviert wird, der sich über die Gelehrtenschule und durch ihr Zuchtmittel honor et praemium vollzieht.27 Die Hoffnung war darüber hinaus am Ende 25

Schwartz, Kulturkampf,

28

Nekrolog,

27

Vgl. Wilhelm Roessler

S. 58.

S. 8.

besonders S. 126 ff.

(s. Anm. 1), Kapitel:

„Die Erziehung

zum gelehrten

Stand",

136

HARALD

SCHOLTZ

der friderizianischen Epoche in solchem Maße ein Kennzeichen für die junge Generation, daß der hoffnungsvolle Jüngling zu ihrem Leitbild wurde. 28 Aus dem eigenen Generationserlebnis entwickelt Gedike eine Lehre von menschlichen Trieben und eine Pädagogik, die spezifische Motivationszusammenhänge verallgemeinert und als natürlich hinstellt. Wenn der Bildungswille und die Hoffnung des Zöglings als Grundzüge des Menschen gelten und ihr Zusammenhang mit der historischen Situation und mit dem Aufstiegsstreben zum persönlichen Stand übersehen wird, so können dadurch alte Wahrheiten verdeckt werden, wie sie in der lutherischen Lehre vom Menschen enthalten sind. D a ß der hier vorliegende Zusammenhang zwischen Bildungswillen und Selbstbehauptungsstreben in Vergessenheit geriet, hat schwerwiegende Folgen gehabt. So beruft sich Herman Nohl auf Gedike und führt dessen Polemik gegen die Lehre Luthers von der „aufs höchste verderbten" Seele als Beweis dafür an, daß die Pädagogik aus ihrem Eigenwesen heraus die Weltanschauung, in diesem Falle also Luther, kritisieren kann. 2 9 Der Leistungswille Gedikes im Zusammenhang mit dem Bestreben, sich vor der Gesellschaft zu rechtfertigen, weil er bis zu seiner Heirat unfähig war, ein Selbstwertgefühl von sich aus zu entwickeln, führte ihn zwar zu äußerem Erfolg, aber zugleich erschwerte ihm seine Art den persönlichen Kontakt. Bei der Werbung um Wilhelmine Thym, die er 1784 heimführen konnte, wäre ihm sein Mangel an Taktgefühl und Unterscheidungsvermögen zwischen der Sphäre der Öffentlichkeit und des Intimen fast zum Verhängnis geworden, denn in der Berliner Öffentlichkeit wurde über seine Beziehung zu dieser Frau nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben.30 E r selbst charakterisiert sich im Rückblick auf seinen Übergang zur Universität Frankfurt/Oder 1771 als „trübsinnig und menschenscheu".31 In Frankfurt begegnet er der rationalen Theologie Töllners. Vielleicht fehlt deshalb seiner literarischen Gesellschaft, die er mit Zöllner (fast gleichzeitig 28

Die früher zitierte Charakteristik Gedikes durch v. Massow fügt sich in das Gesamtbild

ein, das Hans Heinridi Muchow, Jugend

und Zeitgeist,

Hamburg 1962, in seiner Psychologie

der Jünglinge um 1770 gibt (S. 66 ff.). 29

Herman Nohl, Die pädagogische

Bewegung

in Deutschland

und ihre Theorie,

4. Aufl.,

Frankfurt 1957, S. 125. Die ganz beiläufig von Gedike geäußerte Meinung im Rahmen der Geschichte seines Gymnasiums steht in GS I, 185. 30

Einen Hinweis darauf gibt P. Schwanz, Kulturkampf,

S. 14. Wie wenig Gedike die

Intimsphäre zu achten wußte, geht nicht zuletzt aus seinem Wunsch hervor,

daß

seine

Liebesbriefe in seiner Biographie abgedruckt werden sollten. Sie füllen 92 Seiten; Gedikes Ichbezogenheit wird als Grund zum Konflikt S. 365 ausdrücklich genannt. Gedikes Liebesschicksal wird ausführlich von H . Döring geschildert. 31

BM 1 (1783), S. 306.

in der Allgemeinen

Enzyklopädie

(s. Anm. 8)

FRIEDRICH GEDIKE (1754—1803)

137

mit dem Göttinger Hainbund) begründet, der Zug frommer Empfindungen. Hier entwickelt sich unabhängig von der älteren Generation der Stil einer geistigen Leistungsgemeinschaft und einer kollegialen Arbeitsform, an der Gedike später bei der Einrichtung seines philologisch-pädagogischen Seminars und im Schulunterricht der Prima festhält: Die literarischen Arbeiten jeden Mitgliedes werden reihum mit Zusätzen versehen und in gemeinsamer Besprechung beurteilt. 32 Eine, wohl die einzige lebenslange Freundschaft verbindet ihn seitdem mit Friedrich Zöllner, dem späteren Propst, Theoretiker der Nationalerziehung und religiösen Reformer auch des Berliner Freimaurertums. Mit ihm teilt er die Abneigung gegen Komplimente und den Modeton, andererseits wird sich seine Freimütigkeit in diesem Kreise entwickelt haben, die noch Minister v. Massow an Gedike rühmte. Auch in Frankfurt/Oder findet also die Generation der Stürmer und Dränger eigene Formen. Als Student der Theologie lernt Gedike im Privatunterricht Griechisch und Hebräisch und entwickelt jenen „Privatfleiß", zu dessen „Beförderung auf öffentlichen Schulen" er sich zehn Jahre später geäußert hat. Er vertritt Professor Töllner in seinen Vorlesungen über Metaphysik und wird nach dessen Tod von dem Nachfolger auf dem Lehrstuhl, dem Leiter der Züllichauer Anstalt, Steinbart, als Privatlehrer in sein Haus aufgenommen. Gedike muß nun seinen Unterhalt nicht mehr durch den Verkauf von Gelegenheitsgedichten bestreiten. Von Steinbart wird er an Propst Spalding in Berlin weiterempfohlen. Mit der Hauslehrerstelle bei diesem aufgeklärten Mann, der selbst aus einem Rektorenhaus in Schwedisch-Pommern stammt und der die Schulaufsicht über zwei Berliner Gymnasien führt, beginnt für den Einundzwanzigjährigen ein steiler Aufstieg. Schon ein Jahr später wird er vom Berliner Magistrat zum Subrektor am Friedrichwerdersdien Gymnasium bestellt; neben seiner Tätigkeit als Haus- und Gymnasiallehrer beginnt er mit den ersten philologischen Veröffentlichungen, Übersetzungen von Pindar und Kleanthes. Mit 25 Jahren wird er zum Leiter des Friedrichwerdersdien Gymnasiums ernannt; zugleich gibt er seine erste pädagogische Schrift heraus: „Aristoteles und Basedow, oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuern". Er widmete sie Minister v. Zedlitz, der seit 1771 mit reformerischem Eifer die lutherische Abteilung des geistlichen Departements und damit das Schulwesen Preußens leitete. Freiherr v. Zedlitz empfing Gedikes Werk, als er dem König seine „Vorschläge zur Verbesserung der Lehrverfassung an höheren und niederen Schulen" (1779) unterbreitet hatte. 33 Dem Minister 32

Diese Arbeitsform ist genau beschrieben in „Gedanken über die Beförderung des Privatfleißes", GS I, 354 ff. 33 Vgl. Conrad Rethwisch, Der Staatsminister Freiherr v. Zedlitz und Preußens höheres Schulwesen, 2. Aufl., Straßburg 1886, S. 147.

138

HARALD

SCHOLTZ

mußte der junge Pädagoge in seiner kritischen Offenheit gegenüber Basedow, in seiner Vorliebe für das Griechische und durch die Unterstützung des Resewitzschen Planes zur Scheidung von Gelehrten- und Bürgerschulen, den sich Zedlitz zu eigen gemacht hatte, sympathisch sein. Vielleicht hatte er ihn schon bei seinen Besuchen im Friedrichwerderschen Gymnasium kennengelernt, das sich zu dieser Zeit in einer schweren Krise befand. Jedenfalls bat Zedlitz, der neben seinen Amtsgeschäften stets um seine Fortbildung bemüht war, Gedike um die Einführung in griechische Autoren, an der sich auch der Sekretär des Ministers, Johann Erich Biester, beteiligte. So konnte Zedlitz prüfen, ob Gedike nur „Projekte mache, ohne ihre Ausführbarkeit zu überlegen" 34 - doch er erkannte in ihm seinen Mann: Voller Verehrung für Preußens großen König, 3 5 der Praxis zugewandt, das Nützliche unkonventionell fördernd, rastlos tätig und die Selbsttätigkeit bei seinen Schülern anregend, dabei doch dem Schönen und Erhabenen einer vergangenen Welt gegenüber aufgeschlossen, war er für Zedlitz ein Mann, der den friderizianischen Geist fortpflanzen konnte. Kaum dreißigjährig, wurde er vom Minister als Oberkonsistorialrat vorgeschlagen und als solcher in das 1787 von Friedrich Wilhelm I I . genehmigte Oberschulkollegium übernommen. Hier saß er mit seinem ehemaligen Lehrer Steinbart und dem Direktor des Joachimsthalschen Gymnasiums, Meierotto, in dem Kollegium, das zur Kontrolle der Lehrverfassung und der Besetzung der Lehrstellen aller Lehranstalten in der Monarchie ohne Rücksicht auf das Bekenntnis, „ausgenommen nur die militärischen, diejenigen der französischen Kolonie und die jüdischen", eingesetzt worden war. 3 6 Dadurch konnte Gedike noch im gleichen Jahr die Errichtung eines Seminars für gelehrte Schulen an seinem Gymnasium erreichen. Die von ihm vorbereitete Einführung des Abiturientenexamens, die dem Oberschulkollegium eine Handhabe zur wirksamen Kontrolle aller Schulen bot, welche auf das Universitätsstudium vorbereiten wollten, konnte nicht mehr von Zedlitz durchgesetzt werden. Wöllner, der 1766 von Friedrich I I . ein „betrügerischer und intriganter Pfaffe" genannt worden war, übernahm sein Amt. 3 7 Damit war Gedikes Laufbahn einer existenzbedrohenden Krise ausgesetzt. Obwohl er mit Wöllner der Freimaurerloge zu den drei Weltkugeln angehörte, wurde er von diesem schon 1785 in einer Denkschrift denunziert: 34

Rethwisch, a. a. O., S. 94.

Vgl. Sammlung der Reden nebst einem Gedicht zum Gedächtnis Friedrichs des Großen in der Feierlichen Trauerloge zu den Dreien "Weltkugeln in Berlin, gehalten den 15. September 1786 zum Andenken Friedrichs, von F. Gedike, deputiertem Meister der Loge zur Eintracht. 35

36

Rethwisch, a. a. O., S. 187.

Ober Wöllners Konflikte mit Friedrich II. vgl. Schwartz, Kulturkampf, S. 37 ff. Leider werden hier Friedrich Wilhelms II. Motive zur Einrichtung des OSK nicht genauer untersucht 37

FRIEDRICH GEDIKE

(1754—1803)

139

„Gedike hat Herr v. Zedlitz zum Oberkirchenrat und Chef von allen Schulen gemacht. Dieser lehrt die jungen Leute öffentlich, Christus sei nichts weiter als ein ehrlicher Mann gewesen; sie möchten also nicht an ihn glauben und zum hl. Abendmahl gehen, denn er selbst ginge auch nicht zum Abendmahl." 3 8 Konsequent sucht Wöllner die Macht des aufklärerischen Oberschulkollegiums nach dem Erscheinen des Religionsediktes 1788 durch die Einsetzung einer Immediats-Examinations-Kommission zu schwächen. Von ihr wird 1793 eine Rüge wegen des Religionsunterrichtes an Gedikes Gymnasien ausgesprochen.39 1794 erklärt der König, daß die Kirchenräte Teller, Zöllner und Gedike „bekannte Neologen und sogenannte Aufklärer" seien, die er nur noch kurze Zeit dulden werde. 40 Angesichts dieser königlichen Kabinettsordre bleibt Gedike ein Kniefall vor Wöllner nicht erspart; in peinlicher Ausführlichkeit wird die Bittschrift in Gedikes Biographie mitgeteilt. 41 Weder durch die Widmung seiner ersten Sammlung der Schulschriften von 1789 an Wöllner noch durch seinen Rücktritt von der Mitherausgabe der „Berlinischen Monatsschrift" im Jahre 1791 konnte Gedike das tiefwurzelnde Mißtrauen Wöllners ihm gegenüber beseitigen. Wollte man das Verhalten Gedikes gegenüber den Verfechtern des Religionsediktes als Charakterlosigkeit oder als Bekehrung deuten - er hatte sich nicht einmal der Eingabe der Oberkonsistorialräte Spalding, Büsching, Teller, Diterich und Sack gegen das Religionsedikt angeschlossen - , 4 2 so würde man der politischen Haltung Gedikes nicht gerecht. Politisches Verhalten ist unter den damaligen preußischen Beamten durchaus eine Seltenheit. Bei Gedike deutete es sich schon an, als er 1784 aus der Einsicht in die geltenden Normen seine Gedanken „über Denk- und Druckfreiheit" formulierte. Er weiß: „Subordination ist die Seele des ganzen preußischen Staates", aber sie wird gemildert durch „die Freiheit, laut zu denken". Daraus folgt für ihn: „Der kühne Räsonneur verbeugt sich so tief und gehorcht ebenso hurtig wie andere, aber man fürchtet die Verwegenheit seines Urteils und hütet sich, ihm Blößen zu geben." 4 3 Die gesellschaftlichen Normen - sie werden von Gedike als solche angesehen, nicht mehr als religiös verwurzelte Überzeugungen - finden in ihrer Antinomie Anerkennung, weil ihre Nützlichkeit für das Bestehen des friderizianischen Staates unmittelbar einleuchtet. Trotzdem träumt auch Gedike von dem golde38

Schwanz, Kulturkampf,

S. 85.

39

Schwanz, Kulturkampf,

S. 309.

40

Schwanz, Kulturkampf,

S. 271.

41

Horn, S. 160 ff.

42

Johann Joachim Spalding, Lebensbeschreibung,

43

BM 3 (1784), S. 326.

Halle 1804, S. 118.

140

HARALD SCHOLTZ

nen Zeitalter, in dem Freiheit und Gleichheit herrschen. 44 Zunächst kann aber die staatliche Willkür nur begrenzt werden durch die Macht der Vernunftgründe, die in der Öffentlichkeit Resonanz finden müssen. So sind Gedikes Schriften als Appell an die Vernunft zu werten, die er in Einklang mit der Idee des Gemeinnutzes bringen will. Wirklich nützlich ist aber nur, was vernünftig ist, und das Vernünftige muß zugleich natürlich sein. Auf dem Hintergrund dieser Uberzeugungen wird es verständlich, warum Gedike es als „Glaubensbekenntnis" ansieht, wenn er seine Meinung über die Methode des Lesenlernens oder über den formellen Nutzen des altsprachlichen Unterrichts - nach langen Diskussionen - darlegt. 45 Die vernünftige Lösung muß im Gespräch zwischen Sachverständigen gesucht werden, diese müssen um die Anerkennung ihrer Erkenntnisse in der Öffentlichkeit kämpfen. Die „Freiredenheit", die Gedike als Charakteristikum Berlins ansieht, 46 kann sich zunächst nur in geschlossenen Gesellschaften entfalten. Gedike wurde in den Briefen „Uber Berlin, von einem Fremden" 4 7 zum berufenen Berichterstatter über diese Kreise, zu denen er Zugang hatte, mochten sie nun Montagsclub, Mittwochsgesellschaft, National- und Mutter-Großloge „zu den drei Weltkugeln" oder Loge zur Eintracht heißen. 48 Hier trafen sich die zugewählten Mitglieder, um sich „frei auszuschwatzen", aber die Zusammenkünfte arteten nicht in „Familienschmausereien" aus, sondern gaben Gelegenheit „zu freimütigen Urteilen über öffentliche Angelegenheiten". In ihnen kann man sich von „Beschränktheit und Pedanterie" befreien und auf den „freien T o n " in der Öffentlichkeit hinwirken. Den besonderen Wert der geschlossenen Gesellschaft sieht Gedike in dem „Einfluß auf Bildung der Sitten und des Charakters und auf die politische Verfassung" und in der Förderung „antidespotischer Gesinnungen". Gedike sieht es weiter als Vorzug Berlins an, daß man „Befehle von Ministerien, bevor sie als Gesetze gelten, nicht bloß frei und dreist beräsonniert, sondern die Unzufriedenen bestürmen den Monarchen dagegen mit Vorstellungen und Bittschriften". 4 9 Warum schloß sich Gedike dann nicht der Fronde gegen das Religionsedikt an? Es mußte ihn, der 1783 in Berlin eine „Kirche der natürlichen Religion" entstehen sah und sich freute, daß „der Indifferentismus nicht mehr gefürchtet" 44

BM 3, S. 83.

Vgl. GS II, 47, und in Joachim Heinrich Campes Allgemeiner Schul- und Erziehungswesens, Bd. 7, Wolfenbüttel 1786, S. 532. 45

48

BM 2 (1783), S. 439.

47

Im 10. Brief, BM 3, S. 142 ff.

48

Ludwig Geiger, Berlin 1688—1840,

49

BM 3, S. 46.

Bd. 2, Berlin 1895, S. 203.

Revision

des

gesamten

FRIEDRICH GEDIKE

(1754—1803)

141

wurde, der in seinen öffentlichen Reden (1793) nur noch die „Vorsehung" und das „allgütige Wesen" anrief (GS II, 310 und 315), doch besonders herausfordern. Außerdem hatte er sich schon 1783 indirekt gegen das Wirken der Wöllnerschen Clique ausgesprochen, als er - wohl bezugnehmend auf die Aufnahme Friedrich Wilhelms in den Orden der Gold- und Rosenkreuzer am 8. 8. 1781 - gegen den Einfluß von Schwarzkünstlern, Goldmachern, Projektemachern und Jesuiten auf die regierenden Häupter polemisierte.50 Wenn Gedike beim Tode Friedrichs den Schwur ablegte, „mein Glück und meine Freude nur in der Erfüllung meiner Pflicht zu suchen",51 entsprach es friderizianischer Gesinnung, daß er weder seine Pflicht im bloßen Untertanengehorsam noch gemeinsam mit den Theologen in der Verteidigung der Religionsfreiheit suchte, sondern in der Nutzung der Möglichkeiten, die ihm der Regierungswechsel in seinem Tätigkeitsbereich durch die Einrichtung des Oberschulkollegiums erst eröffnete. Das Allgemeine Landrecht stand in Aussicht, das 1794 die Universitäten und öffentlichen Schulen zu Veranstaltungen des Staates erklärte. Die Regierung Friedrich Wilhelms II. begann verheißungsvoll mit der Durchführung von Plänen, die der Kreis um Zedlitz lange gehegt hatte. Wenn Gedike in der Zeit der Reaktion auf die Aufklärung unter Wöllner, Hermes und Hillmer seine eigene Basis für die Machtkämpfe um die neue Ordnung des Schulwesens nicht verlieren wollte, mußte er trotz aller Bedenken gegen die Praxis der Immediats-Examinations-Kommission die Duldung durch Wöllner zu erreichen suchen. Freilich spielten bei Gedikes Ringen um Selbstbehauptung nicht allein politische Motive eine Rolle, hat Gedike doch 1791 durch den Verzicht auf die Mitwirkung an der Herausgabe der Berlinischen Monatsschrift die Zustimmung Wöllners zu einer für ihn bedeutsamen Wahl erreicht. Das unter Büschings Leitung aufgeblühte Berlinisch-Köllnische Gymnasium (genannt „Zum Grauen Kloster") konnte von dem schwerkranken Direktor nicht mehr geleitet werden; Gedike wurde von Büsching als sein Assistent vorgeschlagen. Da Wöllner die Wahl „zweckmäßig" fand, stimmte der Magistrat zu. 52 Damit war den Interessen Wöllners wie denen Gedikes gedient, denn Gedikes Rückzug aus der publizistischen Tätigkeit und die Beschränkung seiner schulpolitischen Aktivität durch die neue Belastung, die Leitung eines zweiten Gymnasiums, standen Aussichten auf eine gute materielle Sicherung gegenüber. Als Direktor des Friedrichwerderschen Gymnasiums bezog Gedike 854 Taler Jahresgehalt. Das Graue Kloster rangierte mit 966 Talern höher, außerdem stand dieser Schule die Stiftung des Kaufmanns Sigismund Streit zur Verfügung, die auch den 50

Vgl. Gedikes Nachtrag zur Legende von der weißen Frau in BM 1, S. 36.

51

Gedike in seiner Rede am 15. 9 . 1 7 8 6 zum Tode Friedrichs des Großen, a. a. O., S. 13.

52

Vgl. Schwartz, Kulturkampf,

S. 27.

142

HARALD SCHOLT2

Lehrern erhebliche Gehaltszulagen versprach. 53 Gedike hatte aber nur Aussicht auf die Nachfolge in Büschings Amt, wenn er unter den vielen Auflagen Streits auch diejenige erfüllte, daß der Direktor des Gymnasiums promovierter Theologe sein müsse. Nachdem die theologische Fakultät der Universität Halle 1791 Gedike zum Doktor h. c. ernannt hatte, konnte er nach Büschings Tod 1793 dessen Stelle einnehmen und gelangte als erster in den Genuß der Streitschen Zuwendungen. Allein aus seinen Amtsgeschäften hat Gedike im Jahre 1793 über 2000 Taler bezogen; im Vergleich dazu gibt Schwartz das Durchschnittseinkommen eines Lehrers an gelehrten Schulen in der Kurmark mit 250 Talern an. Nur die Posten der Wöllnerschen Kommission waren in der Kultusverwaltung so hoch dotiert. In den Jahren 1794-1797 ist auch in Gedikes Arbeitsleistung deutlich die lähmende "Wirkung zu erkennen, die von der kleinlichen Reglementiersucht der Clique um Wöllner ausging. Als im März 1798 die Leitung des geistlichen Departements an Justizminister v. Massow überging, lebte unter dem neuen Gönner die Aktivität Gedikes wieder auf, die in der Zwischenzeit auf dem Gebiet der Sprach- und Kulturkunde nur Ersatzbefriedigungen gefunden hatte. Des Ministers „Ideen zur Verbesserung des öffentlichen Schul- und Erziehungswesens" gab Gedike in den „Annalen des preußischen Schul- und Kirchenwesens" bekannt, die von ihm im Verlag seines Freundes Unger als Organ der Schulverwaltung und als Kommunikationsmittel aller an der Schulpraxis interessierten Kreise begründet, aber nicht über seinen Tod hinaus weitergeführt worden sind. Bei aller Übereinstimmung Gedikes mit den Grundgedanken seines Vorgesetzten setzte er dessen Pragmatismus an einer bezeichnenden Stelle Grenzen: Er warnte vor einer nur am bürgerlichen Nutzen orientierten Einschätzung des altsprachlichen Unterrichts, die den Minister dazu brachte, Griechischkenntnisse nur für die Theologen als notwendig zu erachten, die später an der Universität dozieren wollten. Uberschaut man die Antriebe und persönlichen Erfahrungen dieses kaum fünfzig Jahre währenden Lebens, so ergibt sich das Bild eines sachlich engagierten Liberalen, der der Vernunft und Gerechtigkeit zum Siege verhelfen wollte, ohne darüber die Gebote politischer Klugheit zu vergessen. Dem preußischen „suum cuique" gab er eine dynamische und sachlich-moderne Deutung, die den einzelnen unter das Gesetz eines rational verwaltenden Staates stellte, ohne in ihm die persönlichen Antriebskräfte und Uberzeugungen zu ersticken. Unter dem Gesetz der vita activa stand sein Wirken, und unter dieses Gesetz stellte er auch sein Werk. 53

Vgl. Heidemann, Geschichte des Grauen 1799 mit 1355 Talern an (S. 270).

Klosters,

S. 252 ff. Er gibt Gedikes Gehalt für

F R I E D R I C H G E D I K E (1754—1803)

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II Gedikes Werk erschließt sich dem Verständnis nur, wenn man als das Zentrum seines Denkens und Schaffens das Amt annimmt, für das er den Zeitgenossen geboren zu sein schien: Er war mit Leib und Seele Gymnasialdirektor. Das Gymnasium betrachtete er als sein Unternehmen, über dessen Produktionsbedingungen, -prozeß und -mittel er reflektierte, um sie aufeinander abzustimmen und das ganze Unternehmen zweckmäßig und gemeinnützig zu gestalten. Seine Welt- und Literaturkenntnisse, seine politischen und pädagogischen Überzeugungen und seine persönliche Lebensart wurden von ihm in Beziehung gebracht zu seiner Arbeit in und an der Schule. Die Wirklichkeit der Schulpraxis, und mochte sie auch erst in der Zukunft liegen, war offenbar die Instanz, vor der er sein Denken und Handeln auf die Probe zu stellen trachtete. Gedikes Standortbestimmung des städtischen Gymnasiums mußte von der Tatsache ausgehen, daß die Privaterziehung noch weit verbreitet war. Er selbst begann seine Lehrtätigkeit als Haus- und Gymnasiallehrer. Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde" von 1768 leitete ihn vornehmlich dazu an, über die aktuellen Fragen des Schul- und Erziehungswesens nachzudenken. Eine Flut von Publikationen zeugte außerdem davon, daß die Erzieher den sozialen Wert ihrer Funktion zu begreifen begannen, weil die Geistesbildung im Ringen um Sozialprestige an Bedeutung gewann. Während der Lehrer noch die soziale Position des Handwerkers in der Schulstube, des Pfarrgehilfen oder des Gesindes im Adelshaushalt innehatte, regte sich bei ihm das Bewußtsein der Ebenbürtigkeit mit dem geistlichen Stand, der Zugehörigkeit zu den gebildeten Ständen, vermehrten sich die Reibungen zwischen Hofmeistern und Adelsherrschaft. Der Hauslehrer, der seine Zöglinge oft bis ins siebzehnte Jahr allein unterrichtete, konnte ihnen gegenüber nur Autorität gewinnen, wenn er von den Eltern „als vernünftiges Wesen" anerkannt und wenn ihm die entsprechende soziale Position eingeräumt wurde. 34 Der junge Gedike trat für eine Verminderung der Privaterziehung ein; zugleich sollte das Ansehen der öffentlichen Schulen gehoben werden. Sein Vorschlag ging dahin, einen Fonds zur Schulverbesserung durch eine staatliche Auflage zu gewinnen, die u. a. diejenigen aufbringen sollten, die Hofmeister angestellt hatten. Wer sie nicht bezahlte, sollte gezwungen werden, seine Kinder zur öffentlichen Schule zu schicken. In seinen Jünglingsträumen weiß Gedike aber schon das politische Urteil über die Privaterziehung vom pädagoJohann August Brüdener, Für künftige Hauslehrer, in Briefen an einen jungen Studierenden, Leipzig 1788, S. 116; s. auch W. Roessler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, S. 138, 255 und 383 ff. 54

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gischen zu trennen: „Die Verbindung der öffentlichen und der Privaterziehung ist in der Tat die schönste Methode zur Ausbildung des Herzens und der Geistesfähigkeiten junger Menschen, nur soll der Privaterzieher auch imstande sein, die Lücken, die bei dem öffentlichen Unterricht für seinen Lehrling übrigblieben, auszufüllen."55 Unterricht und Geistesbildung als Domäne der Schule erhalten hier sehr deutlich den Vorrang gegenüber der Standeserziehung. Voll Genugtuung kann Gedike über das Verhalten des Adels in Berlin berichten: „Sie halten Hofmeister bei ihren Kindern, die doch auch noch die elterliche Aufsicht genießen, und sie schicken diese Kinder zugleich in die großen Schulen, um den Wetteifer und den Umgang mit andern Ständen zu befördern." 56 Diese sozialisierende Wirkung der Schule bleibt aber nicht die einzige erzieherische Einwirkung, neben sie soll in Parallele zur intellektuellen die moralische Bildung treten. Gedike sieht es als Pflicht des Lehrers an, „für die moralische Bildung, so viel wir nur irgend können und dürfen, zu sorgen" (GS II, 5). In besonderem Maße ergab sich ein erzieherischer Auftrag des Gymnasiallehrers für die auswärtigen Schüler, die Gedike möglichst nicht in besonderen Pensionsanstalten, sondern bei einzelnen Lehrern unterbringen will, denn „Wiederholung, Vorbereitung, Spazierengehen, Lesen zum Vergnügen, Spielen, kurz, alle Beschäftigungen außer den Schulstunden, Lebensart, Umgang, Familienverbindung . . . darf dem Jüngling nicht überlassen werden". 57 Übertriebenen Erwartungen oder Befürchtungen hinsichtlich des erzieherischen Einflusses der Schule stellt Gedike in seinen Situationsberichten jedoch die nüchterne Feststellung entgegen, sein Gymnasium sei keine Erziehungs-, sondern eine „städtische Unterweisungsanstalt". Die eigentliche Erziehung geschehe außerhalb der Schulstunden, doch müsse man auch im Unterricht den moralischen Sinn wecken, was erst dann fruchtbar geschehen könne, wenn die Eltern mit dem Lehrer „gemeinschaftliche Sache" machten.58 Doch bevor die erzieherische Einwirkung der Schule näher charakterisiert werden kann, muß auf die Zusammensetzung der Schülerschaft eingegangen werden. Deutlich spricht sich eine egalisierende Tendenz und zugleich eine Abschirmung gegenüber gesellschaftlichen Einflüssen auf die Schule aus. Nur „nach Geschlecht, Alter und Bestimmung der Jugend" sollen die Schulen differenziert werden, wobei zu bemerken ist, daß Gedike jedenfalls theoretisch für die Koinstruktion bis zum zehnten Jahr eingetreten ist.59 Hervorzuheben ist 55

Gedike, Aristoteles und Basedow,

56

BM 4, S. 469.

S. 72.

57

BM 4, S. 470; vgl. auch GS I, 84 ff.

58

Vgl. GS I, 85 und Programm 1796, S. 4.

59

Gedike, Aristoteles

und Basedow,

S. 28.

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die gemeinsame Unterrichtung der Kinder „aus allen Ständen bürgerlichen Lebens" und die Ablehnung der Konfessionsschule: Gedikes Gymnasien werden in den unteren drei Klassen als „Schulen" bezeichnet, die der allgemeinen Bürgerbildung dienen sollen; Lateinkenntnisse sind kein notwendiger Bestandteil dieser Bürgerbildung. Das Gymnasium dient der Heranbildung zukünftiger Gelehrter und der „gebildeteren Stände"; es ist also nicht ausschließlich auf die Vorbereitung zum Universitätsstudium ausgerichtet. Die Ablehnung der Konfessionsschule bezieht sich nicht so sehr auf die Zusammensetzung der Schülerschaft, sondern auf die der Lehrer. Das Friedrichwerdersche Gymnasium war das einzige „Simultaneum" der Stadt, dessen Lehrkörper nach strengem Proporzsystem zusammengesetzt werden mußte, was zu Reibungen mit dem reformierten Kirchendirektorium führte. 60 Gedike kann jedoch an der Tatsache nicht vorbeisehen, daß sich innerhalb der künstlich egalisierten Schülerschaft nun doch wieder eine gesellschaftliche Gruppierung vollzieht. Sie wird nach Gedikes Meinung durch die unterschiedlichen Bildungswege innerhalb des Gymnasiums herbeigeführt und genährt durch die Uberschätzung des gelehrten Standes. Ein neuer Kastengeist entsteht durch geistigen Hochmut, weil „in den Gymnasien der gelehrte Stand über alles erhoben" wird, „teils vom Lehrer selbst in Gesprächen und fast unwillkürlichen Ausdrücken, teils von den Mitschülern durch eine Art von Pennalismus, teils in den gebrauchten Schulbüchern . . . Dadurch hält dann mancher Knabe sich für unglücklich, der, wenn seine Mitschüler zum Schlaraffenleben der Universität fortziehen, gleich in den Lauf bürgerlicher Geschäfte eintreten soll". 61 Die Ursachen des geistigen Hochmuts wird man freilich nicht nur mit Gedikes Augen betrachten dürfen. Sie werden vor allem in der pädagogischen Atmosphäre zu suchen sein, die Gedike selbst verbreitete, indem er den persönlichen Wert seiner Schüler nach den schulischen Leistungen einschätzte. Wenn die Schule eine gerechte, leistungsbezogene Sozialordnung herstellen, gleichsam Gerechtigkeit filtrieren soll, gewinnt sie damit in einem Maße Einfluß auf die Selbsteinschätzung der Schüler, daß nun in der Tat „Hoffnung und Furcht, Lob und Tadel" zu den wesentlichen Hebeln werden, durch die man das schulische Verhalten regulieren kann. In der Perspektive einer solchen Schule mußten „Arbeitsamkeit und nützliche Geschäftigkeit" als „die beste und süßeste Würze aller Freuden, die die Natur und das gesellschaftliche Leben uns gewähren können", erscheinen (GS I, 366). Wie die Sozialordnung, so 60

1 800 wurde das Simultaneum aufgehoben; vgl. C.A.Müller (s. Anm. 14), S. 81 und Gedike, GS. II, 7. 61

10

BMA, S. 451.

Jahrbuch 13/14

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HARALD

SCHOLTZ

sollen auch die sittlichen Überzeugungen in der Gesellschaft durch die Schulerziehung manipuliert und normiert werden. Hier wird offenkundig, daß der Pfarrerssohn die Schule zum Instrument seines Heilsplanes madien möchte, dessen Rechtfertigung er freilich nicht einer überprüfbaren Theologie, sondern der eigenen Erfahrung und der allgemeinen Meinung der aufgeklärten Gesellschaft entnimmt.62 Während in den gelehrten Schulen früherer Zeit den rigorosen Leistungsanforderungen das christliche Ethos entgegenwirkte - Gedike führt selbst ein Beispiel dafür aus der Geschichte des Friedrichwerdersdien Gymnasiums an (GS I, 184) verengte sich nun die erzieherische Einwirkung der Schule auf schulgemäßes Verhalten und Leistungssteigerung. Die schulische Beurteilung nach den Kategorien „Aufführung, Aufmerksamkeit, Fleiß" wurde zum Maßstab der persönlichen Qualifikation schlechthin. Um dies vor sich selbst zu rechtfertigen, sinnt Gedike Methoden nach, wie er von der „Grimasse" der gewünschten Arbeitshaltung zu einem „freiwilligen Entschluß" zu ihr hinführen kann. In den unteren Klassen wird ein Tagebuch eingeführt, in das täglich Bemerkungen über das Verhalten der Schüler eingetragen werden sollen. Sie werden zuerst zu monatlichen, dann zu vierteljährlichen Zensuren zusammengefaßt, die für die unteren Klassen in vier verschiedenfarbigen Abstufungen nach dem Grad der „Zufriedenheit der Lehrer" ausgegeben werden. Die dauernde Verhaltenskontrolle — auch durch tägliche Unterrichtsinspektionen des Direktors - schlägt sich nieder in der Sitzordnung innerhalb der Klasse, deren Rangfolge in der Konferenz nach Fleiß und Betragen bestimmt wird. Die Unterrichtsleistungen werden durch „Privatexamina" des Direktors, durch seine Revision der Klassenarbeiten und durch öffentliche Examina kontrolliert. Hierbei muß jede Klasse ohne Vorbereitung eine Probelektion ableisten. Entschuldigungszettel werden verlangt, Bußen für Verspätungen auferlegt (GS II, 21 ff.). Gedike sieht diese Einrichtungen als „Aufmunterungsmittel" für gute Sitten und Fleiß an. Wenn das Ehrgefühl der Schüler nicht zu mobilisieren ist, kann er sich das nach philanthropistischer Manier nur dadurch erklären, daß diese Schüler „durch heimliche Laster ihre körperliche und geistige Kraft entnervten" (GS I, 339). Nur selten sieht er sich noch genötigt, physische Strafen anzuwenden. In Gedikes Biographie wird geschildert, daß er bei disziplinarischen 62

Das pädagogische Denken im 18. Jahrhundert ist noch nicht im gleichen Maße darauf-

hin untersucht worden, inwieweit es aus dem Prozeß der Säkularisierung herzuleiten ist, wie das für das literarische Schaffen versucht wurde (vgl. Herbert Schöffler, Deutscher 18. Jahrhundert, Kraft,

Göttingen

1956, und Albrecht Schöne, Säkularisation

als

Göttingen 1958, Palaestra Bd. 226). Ansätze dazu in F. Blättner, Das

Heidelberg 1960, S. 58 ff.

Geist

im

sprachbildende Gymnasium,

F R I E D R I C H GEDIKE ( 1 7 5 4 — 1 8 0 3 )

147

Geschäften ganz kalt blieb, weil ein Schüler nie einen Lehrer beleidigen konnte. Einer seiner Mitarbeiter sieht das ganze System als „Schulpolizeiordnung" an, in dem auch gewählte Zensoren eingesetzt werden. 63 In Gedikes Bericht hört sich das anders an: In den unteren Klassen werden Schüler zur Unteraufsicht „bestimmt, nicht um Ankläger und Rektoren ihrer Mitschüler zu werden, sondern mehr um Unordnung zu verhüten und bei vorfallenden Zänkereien und Neckereien Frieden zu stiften" (GS II, 31). Wenn der Zensor sich bläht, müsse man ihn seine eigene Schwäche fühlen lassen (GS II, 244). Zur Verwaltung der Schülerbibliothek, die in einer Abteilung unterhaltsame Kinder- und Jugendliteratur enthält, in der anderen Bücher „zum ernsteren Unterricht": „die schönsten prosaischen und poetischen Werke der deutschen Literatur", historische Erzählungen, Reisebeschreibungen, auch „Übersetzungen von klassischen Werken der Ausländer", werden Primaner als Bibliothekare „mit Beistimmung ihrer Mitschüler gewählt", einem von ihnen ist auch die Kassenführung anvertraut, denn für die Benutzung der Bibliothek werden monatlich 4 Groschen erhoben (GS II, 45 f.). 64 Die Primaner, in der Regel 16-19 Jahre alt, genießen besondere Vorrechte, denn die Jünglinge sollen „gewöhnt werden, sich selbst zu regieren" (GS 1,90). Sie werden mit Sie angeredet und als „freie Geschöpfe" behandelt, ja, ihnen werden auch kleine pädagogische Aufgaben übertragen (GS II, 261). Als wirksamstes Mittel zur Aktivierung des Schülers erscheint Gedike das Beispiel des Mitschülers, zumal „des jüngeren, ärmeren, verachteteren", weil es das Ehrgefühl weckt (GS I, 337). Der sinnliche Genuß reizt nach Gedikes Beobachtung den Jüngling nicht mehr zur Tätigkeit an, deshalb muß der Erzieher „mehr auf den Willen als auf die Sinnlichkeit wirken", den Zögling die natürlichen Folgen einer Tat fühlen lassen und ihn daran gewöhnen, „die Wahrheit zu suchen und durch Suchen zu finden" (GS I, 402). Die Übung der Denkkraft ist eine der vornehmlichsten Aufgaben des Lehrers. „Der gewöhnliche Orakelton vieler Lehrer, die gleichsam auf Unfehlbarkeit Anspruch machen und nur sich allein das Recht zu entscheiden zueignen, ihren Schülern aber blinden Köhlerglauben zumuten, ist nicht nur pädagogisch unweise, sondern auch moralisch verderblich" (GS II, 274). Die Primaner werden zum Gebrauch ihrer Freiheit angeleitet und dabei in die Umgangsformen des Gelehrtenstandes eingeführt. Zu diesem Zweck läßt Gedike über Aufsätze von den Mitschülern Rezensionen schreiben, die er dann persönlich mehr beurteilt als den eigentlichen Aufsatz: „Alle ungegründeten, unbestimmten, unbescheiden ausgedrück83

F. Horn, S. 65.

Die 800 Bände umfassende Bibliothek wurde nach den Vorschlägen Basedows als Kinderund Jugendbüdierei eingerichtet. 84

10»

148

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ten Erinnerungen des Rezensenten werden darin gerügt und allen . . . Neckereien und Bitterkeiten bei der Beurteilung wird durch die Revision ein Riegel vorgeschoben" (GS I, 151). Der Wandel im pädagogischen Führungsstil zwischen Knaben- und Jünglingserziehung ist nach dem Zeugnis eines Schülers, Ludwig Tieck, offenbar als Bruch empfunden worden. Für Tieck war die Wandlung Gedikes vom strengen, inspizierenden und prüfenden Direktor in den Unterklassen zum Lehrer und Gesprächspartner in der Prima menschlich nicht überzeugend.65 In seinen Augen stieg Gedike vor den Primanern von seinem Kothurn herab und ließ wie ein Löwe mit sich spielen, und wenn ihn Gefühlserschütterungen überkamen, schien gegen seinen Willen „der Damm steifer Haltung gebrochen". Tieck berichtet, daß Gedikes hochgespannte Würde, sein steifer Ernst einen komischen Eindruck auf ihn machten. Von Größe und Erhabenheit griechischer Dichtung hörte der Schüler in unbedingtem Tone reden, und doch wußte ihm der Lehrer nicht anschaulich und fühlbar zu machen, worin diese bestünden. Gedike gehörte nicht zu den Schuldirektoren, die ihr Ansehen als Gelehrte gewonnen hatten. Seine Wirkung auf die Schüler ging nicht von der wissenschaftlichen Durchdringung eines Faches aus, sondern von der „sokratischen Unterredung", die weniger Wissen vermittelt als Denken lehrt (GS I, 394). Gedike war nicht dazu veranlagt, sich einer Wissenschaft, einem Lebensinhalt ganz hinzugeben. Offenheit, Tätigkeit, Bereitschaft zum Dialog forderte er deshalb auch von seinen Kollegen. „Richten, leiten, üben soll der Lehrer, aber keine Fähigkeiten unterdrücken" (GS II, 278). Wohl verlangte er von ihnen, daß sie „Religiosität, Menschenliebe, Patriotismus, Toleranz, Selbstbeherrschung, jede Tugend des häuslichen und öffentlichen Lebens lehren" und „an die Bildung und Veredelung des Herzens und an die Stärkung edler und gemeinnütziger Fertigkeiten denken" sollten (GS I, 387 f.), aber seine Schriften wie auch die Schilderungen seiner Zeitgenossen bezeugen nicht, daß diese Forderungen einen Mittelpunkt für alles Wollen erkennen ließen und dadurch menschlich überzeugend wirkten. Gedikes Erziehung konnte die Schüler zwar aus ihrer Ichbezogenheit herausführen, geistige Tätigkeit in Gang bringen und Freude an der Leistung erwecken, aber sie war nicht imstande, einen Gemeingeist in ihnen zu entzünden, der aus der Freiheit in persönlich überzeugende Bindungen hineinführte. Diese Aufgaben wurden erst von der heranwachsenden Generation wahrgenommen, für deren Auseinandersetzung mit der älteren die Rezension Schleiermachers repräsentativ ist, die er über Friedrich Zöllners „Ideen übet Nationalerziehung, besonders in Rücksicht auf die königlich - preußischen 65

Rudolf Köpke, Ludwig

Tieck,

Leipzig 1855, S. 47ff.

FRIEDRICH GEDIKE (1754—1803)

149

Staaten" (1804) 6 6 geschrieben hat. Schleiermacher vermißt bei Zöllner eine genauere Beschreibung des Geistes, der über allem walten soll, und eine Aussage darüber, wie die ihm entsprechenden Gesinnungen zu wecken seien. E r sieht nicht, daß die ältere Generation über die Formen des Unterridits und durch die Institutionen hindurch Geist und Gesinnung der Jugend beeinflussen wollte, indem sie durch die Einrichtung einer vernünftigen, zweckmäßigen Ordnung dem einzelnen die Freiheit schenkte, am Unterricht aus eigenem Antrieb und leistungswillig mitzuarbeiten. An dieser Auseinandersetzung läßt sich die Dialektik des geschichtlichen Prozesses verfolgen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Generation Gedikes erst einmal den Schüler aus der persönlichen Abhängigkeit vom Lehrer der Klasse und vom Hofmeister ablösen mußte, um eine sachlich qualifizierte und vielseitige Ausbildung gewährleisten zu können. Die personalen Bindungen sollten sich versachlichen, die Schule sollte zu einer Angelegenheit der Öffentlichkeit gemacht werden. Um nur ein anschauliches Beispiel an dieser Stelle zu geben, sei der Stilwandel in der Repräsentation der Schule vor der Öffentlichkeit erwähnt. Die Schule suchte sich von den Funktionen in der Gemeinde, die zumeist Chorsingen und Theaterspiel betrafen, zurückzuziehen. An die Stelle des Schulaktus, bei dem sich der lockere Verband der Lehrenden und Lernenden früher als korporative Einheit dargestellt hatte, trat nun das öffentliche Examen, das von der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Schulabgänger Zeugnis ablegen sollte. Zu dieser Prüfung wurde die Öffentlichkeit eingeladen. Der Direktor suchte in seiner programmatischen Ansprache nicht mehr, die Patrone und Gelehrten durch fachwissenschaftliche oder rhetorische Glanzleistungen zu beeindrucken, sondern ein interessiertes Publikum für den neuen pädagogischen Geist in der Schulerziehung zu gewinnen. - Erst auf Grund dieser Voraussetzungen war daran zu denken, daß „zwischen mehreren Schulen verschiedener Art eine wirkliche Verbindung gestiftet" würde, wie es Schleiermacher beabsichtigte, um auf diese Weise „die anwachsende Generation im Staate sich als ein Ganzes ansehen und dies mit Teilnahme umfassen" zu lassen und das Schulwesen als „die gedeihlichste Pflanzschule der tätigen Liebe zu dem gesellschaftlichen Verein überhaupt" aufzubauen.67 Diese gemeinschaftliche Bindung war weder vom Schulpartikularismus noch von einer in Unmündigkeit gehaltenen Schülerschaft her zu gewinnen, sondern setzte die Vereinheitlichung des Schulwesens und eine pädagogische Reform voraus, an der seit 1780 gearbeitet worden war. Die neue Auffassung vom Sinn der Schule mußte freilich zuerst in der F. Schleiermadier, Pädagogische 1957, S. 65 ff. 6 7 Schleiermadier, a. a. O., S. 75. 66

Schriften

II,

hrsg. E. Weniger,

Düsseldorf/München

150

HARALD SCHOLTZ

Reform der Lehrverfassung ihren Niederschlag finden. Hierin waren das Joachimsthalsche Gymnasium unter Meierotto und das Graue Kloster unter Büsching schon vorangeschritten. Ihre Reformen hatten zu einem neuen A u f schwung beider Gymnasien geführt. So konnte Gedike ihnen an seinem Gymnasium nacheifern und unter Berücksichtigung der Vorschläge von Basedow und Resewitz auch manche Neuerung einführen, die seiner Auffassung von pädagogischer Effektivität mehr entsprach. Als Gedike in das Friedrichwerdersche Gymnasium (Fw. Gymnasium) eintrat, fand er in der Prima nur einen, in der Sekunda drei, in der Tertia acht Schüler vor. Als er 1793 die Schule verließ, hatte er 1107 Schüler aufgenommen; mit 310 Schülern besaß das Gymnasium nun eine beachtliche Frequenz. 6 8 Dieser Erfolg war nicht zuletzt das Ergebnis der von Gedike erzwungenen Zusammenarbeit der Lehrer. Bis 1780 hatten sie zumeist in einer Klasse den gesamten Unterricht bestritten, jetzt mußten sie sich stärker auf einige Fächer konzentrieren und diese in verschiedenen Altersstufen unterrichten, bis hinunter zur „Schule" (Sexta bis Quarta). Auch bei seinem Übergang zum Grauen Kloster hat Gedike daran festgehalten, daß die Lehrer in verschiedenen Altersstufen unterrichteten. Die ausschließliche Konzentration der Lehrer auf ihre Lieblingsfächer, die Büsching eingeführt hatte, wurde aber von Gedike wieder rückgängig gemacht. Bis 1780 waren die Lehrer am Fw. Gymnasium darauf bedacht, durch private Lektionen ihre Einnahmen wesentlich zu erhöhen. Dem wurde durch die Erhebung eines öffentlichen Schulgeldes ein Ende bereitet. D i e Gelder flössen einer Lehrkasse zu, die den Lehrern endlich ein festes Einkommen garantierte. Wer außer den Schulstunden Privatunterricht geben wollte, mußte freie Vereinbarungen darüber mit den Eltern treffen. Eine Erhöhung der Schülerfrequenz bedeutete nun eine Steigerung des festen Einkommens. Sie war nur zu erreichen, wenn sich die öffentliche Schule gegenüber den Privatschulen durchsetzen konnte, von denen die meisten Schüler zum Gymnasium kamen. Gerade die öffentliche Schule hatte es aber schwer, sich auf die Aufgabe des Lehrens und Lernens zu konzentrieren, weil sie zu eng mit dem Leben der Kommune verbunden war. Besonders drastisch zeigt sich das in der Diskussion über das Chorsingen der Gymnasiasten; aber auch die Einkommens Verhältnisse der Lehrer zeugen davon: Bis 1778 erhielten die Lehrer des Köllnischen Gymnasiums neben ihren Einkünften aus Privatstunden nur noch Geld aus alten Legaten, die ihnen das Markt-, J a h r m a r k t - und Lichtmeßgeld zusprachen. Ihre wichtigste Einnahmequelle stellten aber die Leichengebühren dreier Kirch6 8 Uber Klassenfrequenz, Inskriptionen und Schulgeld vgl. GS II, 289. Damit erhöhten sidi die Einnahmen durdi Schulgeld von 391 Reichsthalern auf 1900 (vgl. V. H. Sdimidt, Nekrolog, S. 13).

F R I E D R I C H G E D I K E (1754—1803)

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Sprengel dar: Eine „ Figur alleiche" wurde für einen Taler von der ganzen Schule begleitet, eine „Choralleiche" für 18 Groschen vom Chor und den Klassen Tertia bis Sexta, bei Anwesenheit von drei Lehrern etc. 69 Aus diesen Verhältnissen läßt sich erkennen, welche Bedeutung die Einführung eines öffentlichen Schulgeldes und einer Lehrkasse haben mußte. Den Schülern war freilich das Chorsingen nicht zu verbieten, weil sie diese Einkünfte brauchten. Gedike war besonders darauf bedacht, keine Unterschiede in den Schulleistungen zwischen den Choristen und den anderen Schülern aufkommen zu lassen, und versicherte ihnen, daß sie „auch in der Rangordnung, auf welche Stand und Vermögen der Eltern gar keinen Einfluß haben, sondern die bloß nach persönlichem Verdienst bestimmt wird, keine Zurücksetzung zu besorgen haben" (GS II, 41). Ein zuverlässiges Bild von den tatsächlichen Reformen, die Gedike am Fw. Gymnasium durchführen konnte, kann aus den Schulprogrammen, in denen Gedike ab 1781 regelmäßig über den Zustand seiner Schule berichtete, nur mit einigen Vorbehalten gewonnen werden. Plan und Realität, Theorie und Praxis sind besonders im Anfangsstadium seiner Arbeit eng miteinander verwoben. Diesem Umstand ist es freilich zu verdanken, daß seine in den „Gesammelten Schulschriften" beschriebenen Einrichtungen und ihre pädagogische Begründung ein vielfältiges Edio in den Schulschriften späterer Generationen fanden. 70 Zwei Tatsachen geben aber die Gewähr dafür, daß die bisher geschilderte und weiter zu verfolgende Reform der Schulen Gedikes nicht bloß in der Konzeption steckengeblieben ist: 1. hat die Einführung des Seminars für gelehrte Schulen am Fw. Gymnasium wesentlich zur Verwirklichung der Pläne Gedikes beigetragen, 2. zeigt die „Kurze Nachricht von der gegenwärtigen Einrichtung des Berlinisch-Köllnischen Gymnasiums" von 1796, daß Gedike nach der Übernahme der Leitung dieses Gymnasiums die ihm wesentlichen Einrichtungen des Fw. Gymnasiums auch dort eingeführt hat. Leider bieten die Darstellungen der Geschichte beider Anstalten, denen noch die Schularchive zur Verfügung standen, kaum Ansätze zu einer kritisdien 6 8 Vgl. K. F. Klöden und V. H . Schmidt, Die ältere Geschichte des Köllnischen Berlin 1825, S. 24, und Gedike, Programm 1796.

Gymnasiums,

7 0 In Bd. I von 1789 vgl. „Praktischer Beitrag zur Methodik des öffentlichen Schulunterrichts" und „Geschichte des Fw. Gymnasiums"; in Bd. II von 1795 „Neue Nachricht von der Einrichtung des Fw. Gymnasiums", „Ausführliche Nachricht von dem Seminarium für gelehrte Schulen" und „Nachtrag zur Geschichte sowohl des Fw. als des Berlinisch-Kölnisdien Gymnasiums". Zum Echo s. GS II, 234, und A. Pinloche (s. Anm. 17), S. 443 und 449, der Gedikes Einfluß sicher überschätzt; außerdem W. Roessler (s. Anm. 1) im Anmerkunsteil zu den Kapiteln „Die Eingliederung der schulischen Erziehung in den Gesamterziehungsprozeß" und „Schule und Schulpublikum", S. 453 if.

152

HARALD SCHOLTZ

Würdigung, 71 doch kann hier auf die distanzierte und ausgewogene Darstellung der Leistungen Gedikes als Gymnasialdirektor verwiesen werden, die ein ungenannter Verfasser in der Gedike-Biographie von Franz Horn gegeben hat. Der fünfundzwanzigjährige Direktor des Fw. Gymnasiums konnte, wie schon angedeutet, bei der Verminderung der Privatlektionen, der Einrichtung fester Pensen für die Klassen, bei der Einführung des Schulgeldes und der öffentlichen Schulprüfung 1779 auf die Erfolge verweisen, die sein Kollege Büsching mit diesen Neuerungen am Berlinisch-Köllnischen Gymnasium seit 1767 erreicht hatte. 72 Die von Gedike gewünschte Differenzierung sowohl hinsichtlich der Schwerpunkte fachlicher Arbeit der Lehrer als auch der Klasseneinteilung ließ sich vorerst nicht durchführen, weil Klassenräume und Lehrer fehlten. N u r sieben Lehrer unterrichteten an der Schule, die kein eigenes Gebäude besaß, sondern in dem Fw. Rathaus untergebracht war. Wie Büsching, so mußte auch Gedike zäh um jeden neuen Raum kämpfen; so erging mehrmals seine Bitte an den König, die Montierungskammer im Rathaus für Schulzwecke freizugeben. Als Gedike über genügend Lehrkräfte verfügen konnte, führte er eine gleitende Versetzungsordnung ein. Der Unterricht in einem Fach sollte möglichst gleichzeitig auf verschiedenen Stufen stattfinden, damit „ein Schüler nach Maßgabe seiner Fortschritte in Ansehung eines Gegenstandes in einer höheren, in Ansehung eines anderen in einer niederen Klasse sitzen könne". 73 Die Versetzung wurde nun in den einzelnen Fädiern von Fleiß und Fähigkeiten eines Schülers abhängig gemacht, indem man halbjährlich ein „TranslocationsExamen" mit „Probearbeiten, Zensuren und Privatprüfungen" durchführte. Um keine Spezialisten zu züchten, mußten die Klassen noch einmal geteilt werden: In die „Groß"-Abteilung einer Klasse durfte nur aufrücken, wer nicht in mehreren Fächern in einer niedrigeren Klasse saß. Dadurch sollte in dem Schüler der Ehrgeiz geweckt werden, „in möglichst allen Objekten in der Klasse zu sitzen, nach der er im allgemeinen benannt" wurde. Der Schulversuch Gedikes ging also darauf aus, die Vorzüge des Privatunterrichts und der öffentlichen Schulen miteinander zu verbinden, den Ehrgeiz, aber auch den „Privatfleiß" und die Selbsttätigkeit der Schüler anzuregen. Die reichen Mittel der Streitschen Stiftung ermöglichten es den Schülern im Grauen Kloster außerdem, sich durch kostenlosen Unterricht in den astronomischen Wissenschaften, in der juristischen Propädeutik, im Französischen, Englischen und Italienischen zu spezialisieren, freilich wurde entsprechend dem Ausbildungsziel für den einzelnen Schüler ein verbindlicher Fächerkanon 71 72 73

Siehe Anmerkung 14. Vgl. Heidemann (s. Anm. 14), S. 233 ff. Vgl. Programm 1796.

FRIEDRICH GEDIKE

(1754—1803)

153

festgelegt. Zunächst einmal sollten alle Schüler nach Gedikes Prinzip der Chancengleichheit und der Förderung Leistungswilliger in die öffentliche Schule aufgenommen werden. Hierin ist die Begründung dafür zu suchen, daß in den „Schulen" der Gymnasien der Unterricht in der Art einer Bürgerschule durchgeführt wurde. 74 Wer nicht das Universitätsstudium zum Ziel hatte, sollte die Schule nach der Sekunda verlassen; für künftige Studenten war ein Aufenthalt von drei Jahren in der Prima erwünscht. Für die Aufnahme in die Sexta, im 7. oder 8. Lebensjahr, wurde nur die Fähigkeit im mechanischen Lesen und „einiger Anfang im Schreiben" verlangt. Gedike betonte, daß auch wohlhabende Eltern schon ihre Kinder in die untersten Klassen gäben, so daß dort Kinder aus allen Ständen bürgerlichen Lebens unterrichtet würden. Dadurch werde der „Verwöhnung" zur Geringschätzung niederer Stände entgegengewirkt. In der Sexta und Quinta der Fw. Schule konnte ein Schüler vom Latein dispensiert werden, wenn er „in den mechanischen Künsten ausgebildet werden soll". Den Quartanern wiederum stand es frei, schon mit dem Unterricht im Griechischen zu beginnen, der ein Bestandteil der allgemeinen Vorbereitung auf die gelehrten Studien war. In dem allzu reichhaltigen Lehrplan des Gymnasiums hatte sich Gedike neben seinem altsprachlichen Unterricht die von ihm neu eingeführten Fächer vorbehalten: 75 eine Stunde Disputation, Interpretation, Vortrags- und Redeübungen, zwei Stunden allgemeine Enzyklopädie (Geschichte und Literatur der Wissenschaften und Künste) gemeinsam für die Sekunda und Prima, eine Stunde Geschichte der Philosophie. In seinen eigenen altsprachlichen Unterricht pflegte er Logik, Literaturgeschichte, Kenntnis des Altertums und Mythologie mit einzuflechten. Dadurch suchte er der Aufschwemmung des Lehrplanes durch zu viele Fächer entgegenzuwirken und doch der Forderung nach materiellem Nutzen durch den Unterricht in den alten Sprachen gerecht zu werden. Zur Vorbereitung auf das akademische Leben gab er im letzten Vierteljahr eine Einführung „in die zweckmäßige Leitung des akademischen Fleißes", „ferner ist nicht nur das moralische, sondern auch das kluge Verhalten eines studierenden Jünglings, besonders in Hinsicht auf seine ökonomische Einrichtung, ein Gegenstand unserer Unterhaltung in dieser Lektion". Durch die Einrichtung des Seminars „für gelehrte Schulen und höhere Bürgerschulen" gewann Gedike so viele Lehrkräfte, daß er den differenzierenden 74

Eine so deutliche Distanzierung von der Lateinschule findet sich erst im Programm von

1796. 75

Gedike, Programm 1796, S. 25. Den Schulplan des Fw. Gymnasiums von 1781 hat

A. Pinloche systematisiert abgedruckt in: Geschichte

des

Philanthropinismus,

Leipzig

1896,

S. 4 7 1 ; eine Übersicht über die Stundenverteilung auf die Fädier aus dem Jahre 1788 gibt

Sdiwartz, Gelehrtenschulen

II, S. 391.

154

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Unterricht tatsächlich durchführen konnte. 7 6 1796 wurden die 147 Schüler auf dem Gymnasium und die 221 Schüler in der Berlinischen und Köllnischen Schule von 32 Lehrern unterrichtet. Aus diesem Zahlen Verhältnis erklärt sich, warum Gedike von seinen „Baccalaureen" im Seminar für gelehrte Schulen „mehrseitige Unterrichtsfertigkeit" verlangte. Es entsprach nicht nur dem Sinn der Ausbildung, sondern noch mehr der Situation an seiner Schule, wenn er die Seminaristen für den gelehrten wie für den elementaren, für den sprachlichen wie den wissenschaftlichen Unterricht ausbilden wollte. Seinen Instruktionen für die Seminarausbildung merkt man an so manchen Stellen an, daß sie weniger auf eine sinngemäße Ausbildung als auf die Rechtfertigung der vorgegebenen Schulsituation zugeschnitten sind. Das Schicksal des Seminars für gelehrte Schulen zeigt recht deutlich, wie in Gedikes praktischem Verhalten die patriarchalischen und unternehmerischen Züge noch gegenüber der Orientierung am Gemeinnutz und an rationalen Zwecksetzungen vorherrschen. Für ihn ist, entgegen den Interessen des Staates, das Seminar an seine Schule, an seine Person gebunden. In seinem ersten Plan zur Begründung des Seminars vom 7. 1 0 . 1 7 8 7 7 7 schlägt er vor, daß die zur Verfügung gestellten 1000 Taler nicht nur der Aufnahme von drei Kandidaten für die Oberklassen des eigentlichen Gymnasiums und von drei Kandidaten für die Unterklasse dienen sollten, sondern auch der Förderung von vier Gymnasiasten, die zum Schulamt „Neigung und Talent" hätten, außerdem zur Anstellung eines Zeichenlehrers; Gedike begründete den letzten Wunsch damit, daß man einen Zeichenlehrer für die Gymnasiasten brauche, die Lehrer werden wollten. E r teilt die Seminaristen also in drei Klassen ein, erklärt sich für die Kandidaten an der Oberstufe zuständig und will die anderen sieben der Aufsicht von drei Lehrern übergeben, denn auch die Gymnasiasten sollten zwei Unterrichtsstunden wöchentlich selbst erteilen. Auf staatliche Weisung unterbleibt die Ausbildung der Gymnasiasten und die Anstellung des Zeichenlehrers, und der König setzt ausdrücklich fest, daß die Verbindung des Seminars mit dem Fw. Gymnasium nicht als dauernd anzusehen sei. Auf diese Anordnung beruft sich Gedike, als er das Fw. Gymnasium verläßt: E r nimmt kurzerhand das Seminar mit in seinen neuen Wirkungsbereich. D a nun ein neuer Finanzierungsplan aufgestellt werden muß, schlägt Gedike acht Kandidatenstellen mit je 120 Talern Besoldung vor, die restlichen 4 0 Taler sollen zum Ausbau der Bibliothek verwandt werden. Hier setzt aber die kollegiale Kontrolle ein: Im Oberschulkollegium verlangt Meierotto vor der Ge7 6 Gedike gibt offen zu, er erhalte „durdi diese neuen jungen Lehrer Gelegenheit, viele neue Einrichtungen des Unterrichts zu machen, die ich vorher nur wünschen, aber nicht möglich machen konnte" (GS II, 64). 77

Zum folgenden vgl. L. H. Fischer (s. Anm. 13).

FRIEDRICH GEDIKE (1754—1803)

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nehmigung eine genaue Übersicht, weil die Berichte, zu denen Gedike alljährlich verpflichtet war, nicht vorlagen. Erst nach Gedikes Tod wird in diesem Gremium von A. J. Hecker der Vorschlag vorgebracht, daß man die Bindung des Seminars an einei Schule aufheben solle, weil die Kandidaten nur „einseitig gebildet" würden. Aber erst die Reformzeit hat 1812 die Struktur des Seminars grundlegend verändert. Gedikes Einrichtung wird man nicht gerecht, wenn man sie allein in Beziehung setzt zu seinen Interessen als Direktor. Ihre grundsätzliche Bedeutung liegt in der Verselbständigung eines Ausbildungsganges für Gymnasiallehrer überhaupt und in der Trennung der pädagogischen Ausbildung in Theorie und Praxis vom Philologiestudium an den Universitäten. Schon die Gründung des philologischen Seminars in Göttingen durch J. M. Gesner hatte 1737 einen eigenen wissenschaftlichen und methodischen Ausbildungsgang für Gymnasiallehrer einführen sollen, damit der Schuldienst nicht nur als Wartestand für Pfarramtskandidaten angesehen würde; aber die Anziehungskraft des Lehrberufes wurde dadurch nicht erhöht.78 Durch die Philanthropisten und die Bemühungen des Ministers v. Zedlitz kam nur mühsam, 1777 in Halle durch Verknüpfung eines Lehrerseminars mit dem theologischen der Universität,79 1780 in Helmstedt durch Anschluß eines Pädagogiums an das philologische Seminar80 und schließlich 1788 durch die Gründung des philologischen Seminars in Halle unter F. A. Wolf, eine gewisse Eigenständigkeit der Ausbildung der Gymnasiallehrer in Gang. Die Abiturientenverzeidinisse der Berliner Schulen, die Gedike leitete, geben als Studienziele der Schüler fast ausschließlich Jura und Theologie an.81 Audi Gedikes jüngerer Bruder hat sich 1780 an der Universität Halle für Theologie und Pädagogik einschreiben lassen, obwohl er schon zwei Jahre später seine Laufbahn als Lehrer begann. Gedike dachte zunächst nicht ausschließlich, wie der erste Finanzierungsplan zeigt, an die Aufnahme von Kandidaten mit Universitätsbildung, sondern auch an die Ausbildung von Lehrern für die Bürgerschule. Die Konfession spielte für ihn keine Rolle, nur die überwiegende „Neigung zum Schulstand". Der Paragraph 5 der 1788 verfaßten Instruktion für die Mitglieder des Semi78

Vgl. K. Friedland, Das pädagogische Seminar zu Göttingen, in: Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 1959, S. 86. Gedike stellte 1789 in seinem Reisebericht fest, daß dort die Vorbereitung auf methodische Aufgaben nicht mehr stattfinde. Vgl. Richard Fester, Der Universitätsbereiser F. Gedike und sein Bericht an Friedrich Wilhelm IL, in: Archiv für Kulturgeschichte, Ergänzungsheft 1, Berlin 1905 (künftig zit.: Universitätsbereiser). 79 C. Rethwisch, Zedlitz (s. Anm. 33), S. 176 ff. 80 Gedike beschreibt es 1789 als „teils Gelehrtenschule, teils Übungsanstalt für künftige Schulmänner". Gelehrsamkeit und Charakter würden nicht so hoch eingeschätzt wie eine gute Vortragsart. 81 Vgl. Schwartz, Gelehrtenschulen II, S. 382 ff. und 415 ff.

156

HARALD SCHOLTZ

nars wendet sich ausdrücklich gegen die einseitige Fachorientierung. Gedike tritt für die Anerkennung der pädagogischen Leistung des Lehrers in der Bürgerschule ein, denn hier sei „desto mehr Geschmeidigkeit des Geistes, Munterkeit des Vortrags, Geschicklichkeit, sich zu den Fähigkeiten und dem engen Ideenkreise der kleineren Jugend herabzulassen, nötig" (GS II, 118). Die zweijährige Ausbildung beginnt mit einer Hospitation in allen Klassen, um die Seminaristen „mit dem herrschenden Ton des Unterrichts bekannt zu machen", wie überhaupt allen Lehrern der Besuch von Lektionen freisteht. Die Bildung „zu allen Geschäften des Schulmannes" (GS II, 61) sieht vor: 1. Übernahme von 10 Wochenstunden Unterricht unter Anleitung eines Mentors, der auch mit dem Kandidaten über die Schwierigkeiten in einer Klasse berät. Dem Direktor wird dann „das Resultat ihrer gemeinschaftlichen Überlegung zur Entscheidung und Ausführung vorgetragen" (§ 16). 2. Aufsicht in den Schreibstunden der unteren Klassen, Hilfe bei Korrekturen und beim Zensurenschreiben, Übernahme von Vertretungen. 3. Übung „vornehmlich im pädagogischen Beobachtungsgeist und in der moralischen Behandlung der Lehrlinge", deshalb werden den Seminaristen „Schüler, die einer besonderen Behandlung zu bedürfen scheinen, zur Kuratel übergeben" (GS II, 63). 4. Es ist „außer der Praxis auch die Theorie der Pädagogik zu bearbeiten", vierteljährlich sind pädagogische Abhandlungen zur Darstellung einer „auf einzelne Subjekte angewandten pädagogischen Pathologie und Therapie" (GS II, 124) zu liefern, aber auch Besprechungen pädagogischer Bücher, Berichte über Schulprüfungen oder Besuche fremder Schulen. Dazu steht eine pädagogische Bibliothek zur Verfügung. 5. Die Ausarbeitungen werden in einer monatlich tagenden „pädagogischen Societät" vorgetragen, an der das ganze Kollegium teilnimmt, damit die Materie von vielen Seiten behandelt werden kann. Bei dieser Gelegenheit teilt Gedike aus den Akten der Schulaufsichtsbehörden sogar einige Fälle mit, um den Seminaristen Gelegenheit zu geben, „ihr gesamtes künftiges Verhältnis in einem öffentlichen Schulamt kennenzulernen" (GS II, 127). Gedike legt den Kandidaten nahe, sie sollten sich „auf eine freundschaftliche Art vereinigen, um sich gegenseitig ihre pädagogischen Bemerkungen . . . mitzuteilen, auch . . . freundschaftliche Zusammenkünfte unter sich anstellen" (GS II, 122). Dieser Ausbildungsplan ist nicht nur ein Wunsch geblieben; Gedike tat, soviel er vermochte, zur Heranbildung des „vollkommenen Schulmannes", der „nicht bloß Lehrer, sondern soviel immer möglich auch Erzieher sein muß" (GS II, 123), das zeigen die Themen einiger Seminararbeiten: „Charakterzeichnung zweier meiner Schüler nebst einigen Gedanken über die nähere

FRIEDRICH GEDIKE (1754—1803)

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Vereinigung des öffentlichen Unterrichts und der eigentlichen Erziehung" (Uhden) oder: „Was ist sokratische Methode?" oder „Relation von verschiedenen hiesigen Privatschulen". 82 Gedike konnte mit gutem Gewissen versprechen, „sich für die Versorgung der Schulamtskandidaten mit konvenablen Lehrstellen zu interessieren". Zuerst deckte er den Bedarf seiner Schulen an qualifizierten Lehrkräften, indem er als „Kollaboranten" in das Fw. Gymnasium F. Rambach und den späteren Direktor der Anstalt A. F. Bernhardi aufnahm. In das Graue Kloster traten nach dem Besuch des pädagogischen Seminars G. F. Köpke, der 1793 gemeinsam mit Schleiermacher zu Gedike gekommen war und später das Gymnasium leitete, der Geograph G. D. Stein und J. F. Delbrück ein. Gedikes Autorität reichte so weit, daß seinen Seminaristen eine Prüfung durch die Provinzialschulbehörden vor der Anstellung zuerst erlassen, dann in eine Prüfung in Berlin umgewandelt wurde; 1806 wurde dieses Privileg aufgehoben. 1793 zeigte sich nach der Übernahme des Direktorats im Grauen Kloster in Gedikes Konzeption des Seminars eine bedeutende Veränderung. Er verlangte nun für die Aufnahme ins Seminar eine „erhebliche Kenntnis in den Schuldisziplinen, besonders in den gelehrten Sprachen". Aus dem philologischen Seminar von F. A. Wolf nahm er sechs Mitglieder auf und gründete neben der pädagogischen eine „philologische Societät", der nur noch Schulamtskandidaten angehörten, die sich monatlich in seinem Hause in lateinischer Sprache über lateinisch geschriebene Aufsätze unterhalten konnten (GS II, 128). Gedike war also persönlich nur an der Ausbildung von Gymnasiallehrern interessiert. Als er nach dem Ubergang zum Grauen Kloster die Mentoren verlor, die in den Unterricht in den unteren Klassen einführten, und auch der Hilfslehrer nicht mehr dringend bedurfte, widmete er sich nur noch der Ausbildung philologisch vorgebildeter Studenten. Das Verhältnis Gedikes zu den Lehrern seiner Schule war nicht immer ungetrübt, wenn er sich auch darum bemühte, „nicht bloß die Achtung und das Zutrauen des Publikums, sondern auch die Freundschaft aller meiner Mitarbeiter zu erwerben" und „gerechte Ansprüche" „auf ihre Liebe und Dankbarkeit" geltend machte (GS II, 316). Nach dem Zeugnis seiner Biographen ist diese Hoffnung nicht erfüllt worden: „Das Herz zog selten zu ihm hin, wenngleich der Verstand den Wert des Mannes nicht verkannte". 83 In den Augen der Untergebenen gaben ihm seine Vorliebe für „Celebrität", sein übergroßer Arbeitseifer und sein wirtschaftlicher Erfolg Züge, die wenig Sympathie erweckten. Doch sein unermüdlicher Einsatzwille (der ihn sogar an seinem Hochzeitstage noch sämtliche Unterrichtsstunden abhalten ließ), seine 82 83

L. H. Fischer (s. Anm. 13), S. 9. V. H. Schmidt, Nekrolog, S. 44.

HARALD SCHOLTZ

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Meisterschaft in den vielfältigen Aufgaben eines Direktors und sein ausgewogenes Urteil in pädagogisch-didaktischen Fragen fanden Anerkennung. „Gedike wollte alles selbst betreiben, überall nur mit eigenen Augen sehen . . . in der Anordnung des geistigen Entwicklungsgeschäfts zeigte er sich als ein Feldherr, dem allein nur das Ganze vorschwebt."84 So wies er jedem Untergebenen seinen Platz an, war aber doch in monatlichen pädagogischen Konferenzen auf eine Übereinkunft im Kollegium bedacht. Hier wußte er auf Gegenargumente zu hören. Im persönlichen Umgang hatte er keine sehr glückliche Hand, denn er suchte „individuelle Umstände bis ins kleinste Detail von der Quelle an zu erforschen", „die er gelegentlich wieder in vorkommenden Fällen benutzen konnte". 85 So war es für ihn eine herbe persönliche Enttäuschung, daß sich die Kollegen in der Frage, ob er nach der Übernahme der Leitung des Berlinisch-Köllnischen Gymnasiums „Zum Grauen Kloster" 1793 auch die des Friedrichwerderschen beibehalten sollte, von ihm distanzierten (GS II, 293 ff.) und seine Bereitschaft dazu als Gewinnsucht auslegten. Gedike trat daraufhin von der Leitung des Fw. Gymnasiums zurück. Bei der Einführung seiner Reformen hat sich Gedike stets anpassungsfähig gezeigt und mit realistischem Sinn das Mögliche angestrebt. So beugte er sich den detaillierten Anordnungen der Streitschen Stiftung für das Graue Kloster, unter denen die Erhöhung der täglichen Unterrichtsstunden von fünf auf sieben für Gedike die pädagogisch bedenklichste war, trat doch gerade er für eine Minderung der Unterrichtsstunden ein, um die Lehrer nicht mit mehr als den zumutbaren 18 Wochenstunden zu belasten und die Schüler zum Privatfleiß anzuregen (GS I, 322 ff.). Auch in der Umgestaltung des Lehrplanes, über dessen theoretischen Entwurf nach Gesichtspunkten der Entwicklungspsychologie in späterem Zusammenhang zu berichten sein wird, paßte er sich den Forderungen der Gesellschaft weitgehend an. Die Haltung späterer Neuhumanisten, die Schule und Welt voneinander trennen wollten, war ihm bei seiner realistischen Einschätzung der gegebenen Verhältnisse, der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit der Schule, fremd. Ja, er war sogar skeptisch, ob eine vom Staat garantierte Unabhängigkeit der Lehrenden der Sache der Erziehung dienlich sein könne. Das geht aus seinem Bericht über die Universität Tübingen hervor: „Die Professoren rühmten mir sehr ihre Unabhängigkeit von den Studenten, indem sie bei ihren guten Besoldungen nicht nötig hätten, um den Beifall der Studenten zu buhlen. Allein eben diese Unabhängigkeit scheint unter den hiesigen Professoren eine gewisse Untätigkeit und Bequemlichkeitsliebe zu bewirken, die der studierenden Jugend sehr 84

F. Horn, S. 61 f.

85

V. H. Schmidt, Nekrolog.

F R I E D R I C H G E D I K E (1754—1803)

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nachteilig ist." Leistungsfähigkeit und Gewinnstreben sollten sidhi, nicht zuletzt im Interesse der „Lehrlinge" und ihrer Erziehung, entsprechen.86 Gedike suchte alle organisatorischen Reformen auf das Zentrum, die Förderung der Erziehung selbst, zu beziehen. Wenn er den Versuch unternahm, an einer Schule in der Hauptstadt Preußens den Geist einer neuen Erziehung einzuführen, so entschied sich an der Frage, wie dieser Geist die bestehenden Schulverhältnisse umzugestalten imstande war, die praktische Wirksamkeit des neuen pädagogischen Denkens für die Gymnasien der preußischen Monarchie. Seine Biographen erklären: „Ganz Deutschland verehrt in ihm den Mann, der nicht Luftschlösser errichtete, sondern Werke, die der Vergänglichkeit trotzen." „Selten hatte ein Mann so viel Einfluß auf Methode und Lehrverfassung der höheren Schulen seines Vaterlandes." Dieser Einfluß ist nicht nur auf seinen Erfolg als Schuldirektor zurückzuführen oder aus der persönlichen Protektion durch v. Zedlitz zu erklären. Er ging im wesentlichen von Gedikes erzieherischer Zielsetzung aus, die das neue pädagogische Denken mit dem genius loci Berlins verband und sich damit polemisch von der in Mode gekommenen Erziehungsart abgrenzte, die „eine nervenlose, empfindsamseinwollende, anstrengunghassende, an Geist und Körper schlaffe Menschenbrut verspricht" (GS I, 77). Die durch Rousseau verursachte Unsicherheit in der Erziehung und die „Tändeleien" der älteren Philanthropisten sollten überwunden werden, wenngleich viele ihrer pädagogischen Erkenntnisse in den Zusammenhang eines neuen Erziehungszieles aufgenommen wurden. Durch Gedikes Funktionen in der Schulaufsicht, zuerst im Oberkonsistorium, das zugleich Provinzialschulkollegium für die Kurmark war, später im Oberschulkollegium, gewann er die Möglichkeit, seine in den Schulprogrammen niedergelegten pädagogischen Erkenntnisse87 in der Praxis der Schulen, die seiner Kontrolle unterstellt waren, zur Geltung zu bringen. Auf die Schulen der Kurmark konnte er noch besonderen Einfluß dadurch gewinnen, daß sämtliche Kandidaten für das Lehramt Prüfungslektionen an seiner Schule geben mußten. 88 86

R. Fester, Universitätsbereiser,

S. 60.

In den Gesammelten Schulschriften: „Über die Methode beim geographischen Unterricht", „Über die Verbindung des wissenschaftlichen und philologischen Schulunterrichts", „Hoffnung und Furcht, Lob und Tadel", die „Methodik des öffentlichen Schulunterrichts", „Über Gedächtnisübungen", „Über die Übung im Lesen", „Über den mündlichen Vortrag des Schulmannes", „Über Schulbücher und Kinderschriften", „Über die Methode zu examinieren", „Über Ordnung und Folge der Gegenstände des jugendlichen Schulunterrichts", „Über deutsche Sprach- und Stilübungen an Schulen". 87

8 8 Als Beispiel dafür sei auf Gedikes Revisionsbericht über die Ritterakademie in Liegnitz hingewiesen, vgl. Schwartz, Gelehrtenschulen I, S. 506 ff. Auf die Lehramtskandidaten in den gelehrten und Mittelschulen der Kurmark wirkte er dadurch ein, „daß er ihnen die Norm

160

HARALD

SCHOLTZ

Gedike wurde durch seinen Eintritt in das Oberschulkollegium (OSK) in zwei Stufen der Verwaltungshierardiie sein eigener Vorgesetzter: Die Erfahrungen des Gymnasialdirektors und des Konsistorialrates gaben seiner Stimme in der obersten Schulbehörde auch gegenüber den hohen Verwaltungsbeamten ein erhebliches Gewicht. Dies zeigte sich schon bei der Einführung des Abiturientenexamens. Das „Reglement für die Prüfung an den Gelehrten Schulen", das im Dezember 1788 mit der Unterschrift Wöllners erschien, war im wesentlichen sein Werk. Dem Minister v. Zedlitz war wohl bewußt, daß seine Amtszeit im geistlichen Departement nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. nur noch kurz andauern würde. Um so mehr drängte er auf die möglichst schnelle Einrichtung des O S K , auf dessen Gründung er schon lange hingearbeitet hatte. Noch bevor die Finanzierung der Behörde gesichert war, veröffentlichte er den vom König gebilligten Plan zur Einrichtung einer von der Kirche unabhängigen obersten Schulaufsichtsbehörde in der „Berlinischen Monatsschrift". Der König beantwortete das Drängen seiner Beamten nach einer einheitlicheren Gestaltung des Schulwesens damit, daß er das Joachimsthalsche Gymnasium und die Schulen der Provinz Schlesien von der Zuständigkeit des O S K ebenso ausschloß wie die jüdischen und reformierten Schulen und das Französische Gymnasium. Die Zedlitzsche Ära schien zu Ende zu gehen, um so eifriger wurde im O S K an der Befestigung der unter Friedrich Wilhelm II. errungenen Machtposition gearbeitet. Vom 22. 2 . 1 7 8 7 bis zum 3. 7.1788, dem Amtsantritt Wöllners, der eine Woche darauf das Religionsedikt veröffentlichte, wurde eine Erhebung über die Schulzustände angestellt, deren tabellarische Auswertung Gedike zu verdanken ist; die Gründung des philologischen Seminars in Halle und des pädagogischen am Fw. Gymnasium wurde gefördert und die Einführung des Abiturientenexamens beschlossen, das der Behörde durch die Kontrolle der Prüfungsakten einen Einbilde in die tatsächliche Arbeit all jener öffentlichen Schulen gewährte, die ihre Schüler zum Besuch der Universität vorbereiten wollten. Neben der Visitation war damit ein neuer Weg zur Einflußnahme der führenden Schulmänner auf Lehrverfassung und Methode der höheren Schulen eröffnet, den Gedike mehr noch als Meierotto in unermüdlichem Arbeitseifer zu nutzen wußte. Eine Fülle von Problemen tat sich vor ihm auf: Die Grenzen der Gymnasien, zu den Universitäten wie zu den Vorschulen hin, mußten abgesteckt werden. Die Versetzungsfrage war zu regeln, denn viele Schulen entließen schon Sekundaner zur Universität. Auch die Praxis der für die Materien des Unterrichts in den Schulen, an welche sie gesetzt wurden, vorzeichnete, und sie über Lektionsplan, Lehrverfassung, Eingreifen der wissenschaftlichen Pensa ineinander für die einzelnen Klassen, disziplinarische Einrichtungen . . . belehrte". F. Horn, S. 45.

F R I E D R I C H GEDIKE (1754—1803)

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Prüfung selbst mußte überdacht werden. Die Vorrangstellung des altsprachlichen Unterrichts bei gleichzeitiger Berücksichtigung der neueren Sprachen, besonders der Muttersprache, und der wissenschaftlichen Kenntnisse, „vornehmlich der historischen", sollte der Bildungskonzeption ein philologisch orientiertes, in den Sachkenntnissen ausgewogenes Gepräge geben. Gedike bemühte sich sogar, die Lehrer vom akademischen Vortrag abzubringen und sie für das Unterrichtsgespräch zu gewinnen. Weiterhin war die Methodik des Sprachunterrichts, der Schülerarbeiten und die Verwendung geeigneter Lehrmittel Gegenstand seiner Mahnungen und Hinweise. 89 Gedike hat in der Tat mehr argumentiert als reglementiert. Man wird diese Einstellung aus der Leistungsunfähigkeit vieler Schulen erklären können, die nur ihrem Anspruch nach gelehrte Schulen waren. Die Erhebungen über die Schulzustände mußten beispielsweise die Forderung nach einem guten Griechischunterricht an den Gymnasien als utopisch erscheinen lassen. Dazu kam aber noch, daß Gedike mit dem Lehrplan, wie er ihn an seiner eigenen Schule durchführte, keineswegs einverstanden war — wie konnte er ihn dann zur verbindlichen Norm erheben! Erst mußten die Zielsetzungen der einzelnen Schulen auf ihre tatsächliche Lehrkapazität hin überprüft werden, mußte die Leistungsfähigkeit der Lehrer gesteigert werden, ehe man reglementieren und normieren konnte. So wurde das Abiturientenexamen von Gedike und Meierotto mehr als psychologisches Druckmittel gegenüber den Lehrern zur Steigerung ihrer Unterrichtsleistungen benutzt als zur Festlegung bestimmter Leistungsnormen für die Schüler.90 Gedike trat energisch für eine Kontrolle der Leistungsfähigkeit der Lehrer, sogar über die Magistrate hinweg, mit dem Argument ein, ob jemand ein Pädagoge sei, könne nur der „Mann von Metier" entscheiden. Beförderungsmöglichkeiten sollten auf dem Wege der Versetzung in größere Städte geschaffen werden. Ein gutes Beispiel für den Geist, der hinter den von Gedike vertretenen Machtforderungen für das OSK stand, ergibt sich aus der Interpretation seines früh geäußerten Wunsches, gute Lehrbücher für alle Schulen verbindlich einzuführen. Schon durch das Generallandschulreglement von 1763 hatte der König auf den Rat von J. J. Hecker eine Reihe von Schulbüchern für verbindlich erklärt, die teilweise erst in Auftrag gegeben werden mußten. Bei der Verteilung der Aufträge hatten persönliche Beziehungen eine Rolle gespielt und nicht sachverständige Beratungen. 91 So gelang es J. F. Hähn, seine Tabel89 Eine systematische Auswertung des von Schwartz, Gelehrtenschulen, Bd. I—III, publizierten Materials würde den hier vorgegebenen Rahmen weit überschreiten. 90

Vgl. Schwartz, Gelehrtenschulen

91

I, S. 135 ff.

Vgl. Ferdinand Bünger, Entwicklungsgeschichte des Volksschullesebuches, 1898, S. 80 ff., und Gedikes Polemik gegen Hahns Methode, BM 4 (1784), S. 165 ff., und GS I, 447. 11

Jahrbuch 13/14

162

HARALD SCHOLTZ

len- und Litteralmethode einzuführen, gegen die Gedike schon heftig polemisierte, bevor er sein „Kinderbuch zur ersten Übung im Lesen ohne A B C und Buchstabieren" (1791) herausgab. Wenn Gedike eine Schulbuchzensur forderte, so stand für ihn dabei das pädagogische und methodische Interesse im Vordergrund. Zudem mußte sich Gedike bewußt sein, daß dieser Vorschlag ein erhebliches wirtschaftliches Risiko für ihn selbst bedeutete: 1783 hatte er mit der Veröffentlichung eines griechischen Lesebuches „für erste Anfänger" begonnen, es folgte ein lateinisches, das 1807 schon die 14. Auflage erlebte, dann auch ein französisches und ein englisches. Gedike stellte also seine eigene Lehrbuchproduktion zur Diskussion, um dem Unterricht in allen höheren Schulen Preußens die methodisch und didaktisch besten Lehrbücher zu sichern. Der Sachverstand sollte rentabel planen und allein nach pädagogischen Gesichtspunkten für alle verbindlich entscheiden, das war für den preußischen Beamten das erstrebenswerte Ziel. Gedike rechtfertigte seine pädagogischen Urteile niemals von einer weltanschaulichen Position her, sondern versuchte sie aus den Gesetzen des pädagogischen Prozesses zu gewinnen. Den Wert von Erziehungsmitteln beurteilte er vornehmlich nach ihrer psychologischen Wirkung und gewann dadurch gegenüber der Tradition eine gewisse Freiheit, deren positive und negative Seiten sich am besten aus seinen Stellungnahmen zur religiösen Unterweisung ersehen lassen. Bei einer Schulvisitation im Jahre 1787 sah er, wie Kinder in der Bibel das Lesen übten und dabei den Sinn nicht erfassen konnten. Dazu Gedike: „Man sollte glauben, man legte es recht absichtlich darauf an, den Kindern die Bibel, die man zum gemeinen Lesebuch herabwürdigt, geringschätzig und gleichgültig zu machen,und doch, wer es im gerechten Eifer für die Ehre der Bibel wagte, dem unvernünftigen Schullehrer die Bibel, die er entweiht, aus den Händen zu reißen, oder ihm wenigstens riete, seine Kinder nur das lesen zu lassen, was sie verstehen können und was er selbst versteht, der liefe wenigstens Gefahr, von ihm als Bibelstürmer verschrieen und verketzert zu werden." Schleiermacher spricht sich im gleichen Sinne gegen die Schulbibel aus. 92 Beide wollen die Schule aus einem traditionell geübten Schlendrian herausführen, doch während Gedike nur „im gerechten Eifer für die Ehre der Bibel" eintritt, geht Schleiermacher im Interesse der religiösen Erziehung einen Schritt weiter und fordert vom Lehrer, daß er den Kindern „dem Bibelsinne Gemäßes" selber sage. Deutlicher noch als aus dieser Stellungnahme läßt sich Gedikes weltanschauliche Position aus seinem Votum zu dem von Hippel 1787 vorgelegten Plan zur Gründung einer Bürgerschule ablesen. Die Zurückhaltung des aufklärerischen Pädagogen gegenüber der religiösen Beeinflussung der Jugend ver92

F. Sdileiermacher (s. Anm. 66), S. 76 f.

FRIEDRICH GEDIKE

(1754—1803)

163

mischt sich mit Zweckmäßigkeitserwägungen und Rücksichtnahmen auf die öffentliche Meinung. Er will den Religionsunterricht einem Kirchenmann übertragen, um ihn dadurch vom sonstigen Unterricht abzuheben: „Obgleich vorausgesetzt werden kann, daß die meisten Schüler dieser künftigen Schule bereits konfirmiert sein werden, so würde ich dennoch raten, zwei Stunden auch für den Religionsunterricht zu bestimmen; und wenn ein gut denkender Prediger diesen Unterricht übernähme, so würde das ganze Institut dadurch desto mehr Zutrauen beim Publikum gewinnen. Und in der Bürgerschule wie die gegenwärtige, in welcher junge Leute erzogen werden sollen, die einst als Kaufleute oder Künstler auch fremde Länder besuchen und mit fremden Religionsverwandten in mancherlei Verbindung kommen werden, wäre es bestimmt sehr zweckmäßig, den jungen Leuten auch eine historische Kenntnis von anderen Religionen und Parteien zu verschaffen, eine Kenntnis, die ihnen selbst in ihren künftigen Lagen und Verhältnissen sehr nützlich werden kann, immer aber doch dazu dienen wird, sie vor Intoleranz und Unverträglichkeit mit anderen Religionsverwandten zu bewahren." 93 Die religiöse Unterweisung nimmt hier den Charakter der Religionskunde an. Ganz negativ äußert sich Gedike 1791 über den Antrag des Leiters der höheren Handelsschule, Dr. J . M. F. Schulz, an das O S K auf Zuweisung eines Religionslehrers. Gedike lehnt den Antrag mit der Begründung ab, die Handelsschule sei keine allgemeine Erziehungsanstalt, die Ansetzung eines besonderen Religionslehrers sei überflüssig, wenn nur Zöglinge unterrichtet würden, die schon konfirmiert seien oder den Konfirmandenunterricht besuchten. Das Dokument trug neben Gedikes Unterschrift - sie! - auch die Wöllners, dessen Immediat-Examinationskommission zwei Jahre später die Schule rügen mußte, weil sie auf Begehren der Eltern nur einen Feldprediger als Religionslehrer angestellt hatte, der keinen „konfessionsmäßigen" Religionsunterricht gab. 94 Diese Entscheidung Gedikes darf nur zum geringen Teil auf den Religionsunterricht bezogen werden. Sie war vielmehr vornehmlich eine Absage gegenüber dem Anspruch der Handelsschule, zugleich Spezialschule und allgemeinbildende Bürgerschule sein zu wollen. Energisch trat Gedike der Erweiterung der privaten Spezialschulen entgegen, weil dadurch „den generellen Schulen ein großer Teil des Fonds, der auf ihre Verbesserung gewandt werden könnte, entzogen wird". 9 5 Neben den finanziellen standen aber auch Prestigegründe, 93

Schwanz, Kulturkampf,

S. 469.

94

Hermann

Berliner

Gilow,

Das

Handelsschulwesen

des

18. Jahrhunderts

(=

MGP,

Bd. 35), Berlin 1906, S. 48 ff. 95

Gilow, a. a. O., S. 175 f. Die Darstellung Gilows erhellt im übrigen in vielen Einzel-

fragen die Bedeutung Gedikes für die organisatorische und methodische Gestaltung des Schulwesens seiner Zeit. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht J . M. Schulz, der wie Gedike zur Generation des Sturm und Drang gehört. 11*

164

HARALD SCHOLTZ

die Gedike dazu veranlaßten, das Gymnasium zum legitimen Vermittler allgemeingültiger Kenntnisse auch für diejenigen zu erklären, die später eine Militär- oder Handelsakademie besuchen wollten. In der Diskussion über die Weiterentwicklung der Gründung von Schulz setzte Gedike seine Auffassung von der Trennung zwischen Bürgerschule und Handelsakademie selbst gegen v. Irving, den Präsidenten des OSK und Protektor von Schulz, durch und leitete so die Entwicklung zur kaufmännischen Fachschule ein, die als königliche Handelsschule 1803-1806 trotz der Mitwirkung der Lehrer Fischer, Stein und Delbrück vom Grauen Kloster nur kurze Zeit am Leben blieb. Der weitere Gang der Dinge zeigte, daß Gedike mit seiner Entscheidung der Zeit vorausgeeilt war. E. G. Fischer schlug 1806 vor, die königliche Handelsschule als Abteilung in das Graue Kloster einzugliedern, weil es dort etwa 150 nicht zum Studium bestimmte Schüler gäbe, deren Eltern die Einrichtung eines Handelsschulzweiges sicher begrüßen würden. So ließe sich eine technische Akademie allmählich entwickeln. Einen weiteren Weg wies Fischer in seiner Schrift „Über die zweckmäßigste Einrichtung der Lehranstalten für die gebildeteren Stände", Berlin 1806, weil er sah, daß die Zeit für die Errichtung besonderer berufsbildender Anstalten noch nicht gekommen war. Die nicht für gelehrte Studien bestimmte Jugend sollte auf Realgymnasien unterrichtet werden, deren Einrichtung schon einmal von G. S. Steinbart gefordert worden war. 96 Fischer suchte erfolglos seinen ehemaligen Schüler Wilhelm v. Humboldt für diesen Plan zu gewinnen, nachdem er durch Vermittlung von Kunth bei dem Freiherrn vom Stein damit Anklang gefunden hatte. 97 Während die Heckersche Realschule zur Zeit der Erfolge Gedikes sich mehr und mehr der Gymnasialbildung verschrieb, erwuchs aus den von Gedike geleiteten Anstalten der Wunsch zur Differenzierung in Zweige, weil sich die Gymnasien nun über eine zu große Frequenz beklagen mußten. Fischers Pläne fanden eine späte Verwirklichung im Berlinisch-Köllnischen Gymnasium, als sich 1824 das Köllnische als Realgymnasium von dem Berlinischen trennte und unter K. F. Klöden für die Bedürfnisse der „Beamten, Militärs, Chirurgen, Apotheker, Fabrikbesitzer, Künstler (d. h. Techniker), bedeutenderen Handwerker" 98 , also, um mit Gedike zu sprechen, für die „Stände, die wenigstens einen Anstrich von gelehrter Kultur von ihren Mitgliedern verlangen" (GS II, 9), eingerichtet wurde. Gedikes Schüler Spilleke übernahm die Heckerschen Anstalten und gab der „Kunstschule" ihre alte Bedeutung zurück. In seinem Pro96

Vgl. O t t o Schmeding, Die Entwicklung

des realistischen

höheren

Schulwesens

in

Preußen

bis zum Jahre 1933, Köln 1956, S. 18 und 22. 97

Vgl. Gilow, a. a. O., S. 249 und Schmeding, a. a. O., S. 22.

98

V g l . K . F. K l ö d e n , V . H . Schmidt, Die

Berlin 1825.

ältere

Geschichte

des Köllnischen

Gymnasiums,

F R I E D R I C H GEDIKE (1754—1803)

165

gramm von 1822 „Von dem Wesen der höheren Bürgerschule" vertrat er die Auffassung vom wissenschaftlichen Charakter dieses Bildungsweges. Er setzte die formale Bildung zur Menschenbildung, die materiale zur Berufsbildung in Beziehung und kam von einem neuen Berufsverständnis her zur Differenzierung der Schultypen. Spilleke verwirklichte noch eine weitere Forderung Gedikes, indem er aus seiner Anstalt 1827 die erste höhere Töchterschule, die Elisabethschule, hervorgehen ließ. Gedikes Gesamtkonzeption von der Ordnung des Schulwesens, wie er sie vornehmlich im Programm von 1800 dargelegt hatte, übte eine nachhaltige Wirkung auf die Gestaltung des Berliner Schulwesens aus; seine Forderung nach Töchterschulen und Lehrerinnenseminaren blieb die einzige, die in die Richtung einer weiteren Differenzierung des städtischen Schulwesens führte, sonst aber warnte er vor einer zu weit gehenden Spezialisierung, die vor allem durch private Schulgründungen ständig weitergetrieben wurde." Damit wehrte er auch eine weitere Ausbreitung der Industrieschulen ab, wie sie von der „Gesellschaft zur Erziehung armer Kinder" mit der Unterstützung von Biester und Spalding zwischen 1793 und 1799 zahlreich gegründet worden waren. 100 Diese Schulen sollten nach Gedikes Meinung den Elementarschulen als Zweig angegliedert werden. Auch die 1793 mit Unterstützung des Generaldirektoriums gegründete Erwerbsschule, die von Sack, Meierotto und Zöllner gefördert wurde, fand im OSK keine Förderung; das kann aber nur bedeuten, daß sich Gedike schon sieben Jahre vor seinen grundsätzlichen Erklärungen gegenüber seinen Freunden und Kollegen durchsetzen konnte mit der Meinung, solche vom Generaldirektorium gewünschte „Förderung der Landeskultur" würde nicht zum Nutzen der Kinder ausschlagen, weil sie in den Städten eine gemeinsame Elementarbildung genießen sollten, ohne jegliche ständische Trennung. Erst an die öffentliche und allgemeine, auch nicht konfessionell unterschiedene Bürgerbildung sollte sich die Spezialbildung anschließen. Um den Bedürfnissen der Gymnasien entgegenzukommen, schlug Gedike vor, daß in ihren unteren Klassen, die als Bürgerschule geführt werden sollten, ein Kurs für Latein eingerichtet werde. Den Gelehrtenschulen riet Gedike zur Zusammenlegung bei gleichzeitiger innerer Differenzierung. Sie sollten nicht 99 Vgl. Gedike, Beantwortung der Frage: Haben wir zu wenige oder zu viele Schulen, Programm Berlin 1800, S. 15 f. Ein Vergleich mit den von Basedow im Philanthropischen Archiv, Dessau 1776 geäußerten Gedanken würde vermutlich eine erhebliche Abhängigkeit Gedikes von Basedows sdiulpolitischen Konzeptionen ergeben. D a zu einem solchen Vergleich aber auch die Nationalerziehungspläne der Zeit herangezogen werden müßten, kann er hier nicht angestellt werden.

100 y g i August Gans, Das ökonomische hunderts, Halle 1930, S. 124.

Motiv

in der preußischen

Pädagogik

des 18. Jahr-

166

H A R A L D SCHOLTZ

allein auf das Universitätsstudium vorbereiten, sondern auch auf die einige wissenschaftliche Bildung erfordernden Geschäfte. Gelehrtenbildung und höhere Bürgerbildung sollten also zusammen am Gymnasium betrieben werden. Die Resonanz auf eine solche binnendifferenzierte höhere Schule war, wie schon gezeigt wurde, sehr positiv. Ein solches Gymnasium wurde nicht mehr als Schule für den Gelehrtenstand angesehen, sondern versprach ganz allgemein höhere Bildung. Die Wirkungen einer solchen allgemein bildenden höheren Schule auf die Eltern lassen sich aus der weiteren Entwicklung der von Gedike geführten Gymnasien und der mit ihnen verwandten Heckerschen Anstalten ableiten: Der Zustrom von Schülern zum Gymnasium machte nun eine Differenzierung der Schultypen erforderlich, die sich, nachdem sie die Weihe gymnasialer Bildung empfangen hatten, besser als die früheren Spezialschulen in Berlin behaupten konnten. Sicher spielte dabei auch das steigende Bedürfnis nach höherer Schulbildung eine Rolle, aber die Tatsache, daß sich das Realgymnasium gegenüber der höheren Bürgerschule durchsetzen konnte, zeigt schon an, wie eng die Vorstellung von höherer Bildung unter dem Einfluß des Neuhumanismus mit dem gymnasialen Bildungsweg verbunden blieb. Wie Gedikes Wirken auch die Meinung ausbreitete, daß sich die Bildung des Geschäftsmannes erst vollende durch das Studium der alten Sprachen, wird später noch zu untersuchen sein. Angesichts der von Massow 1798 in Angriff genommenen Reform der Bürger- und Landschulen trug Gedike wieder seine Grundsätze vor, die sich seit seiner Jugendschrift nicht verändert hatten: nur keine Verzettelung des Fonds, Rationalisierung, Zusammenlegung. 101 Die Rationalisierung sollte besonders die Landpfarren betreffen, deren Zusammenlegung Gedike wünschte, um den Schulfonds zu erhöhen. Die Gemeinden sollten durch Katecheten versorgt werden, solange nur alle drei Monate ein Geistlicher predigte. Den Pfarramtskandidaten sollte der Unterricht in den Landschulen zur Pflicht gemacht werden. Besonders in den neu gewonnenen Provinzen durfte der Staat nicht am Landschulproblem vorbeisehen, hier konnte er durch eine aktive Schulpolitik Ansehen gewinnen: „Nur die unterrichtete und besser gebildete Generation wird und muß in gleichem Maße an innerer Sittlichkeit wie an äußerem Wohlstand wachsen." 102 Im Verlauf seiner weitgespannten Tätigkeit im Oberschulkollegium gewann Gedike einen Uberblick über das Ganze des preußischen Bildungswesens. Ihm oblag auch die Aufsicht über die preußischen Universitäten, Halle, Duisburg, Königsberg und Erlangen, mit Ausnahme von Frankfurt/Oder. Seine Reise im 101 Vgl_ Gedike, Aristoteles und Basedow, im Kapitel: Allgemeine Erfordernisse zur Verbesserung des Schulwesens, mit dem oben genannten Programm von 1800. 102 Programm 1800, S. 5.

FRIEDRICH GEDIKE (1754—1803)

167

Jahre 1789 zu vierzehn nichtpreußischen Universitäten unternahm er zu dem Zweck, deren Verfassungen kennenzulernen und „von dem Vortrag solcher Professoren, auf die einmal bei irgendeiner preußischen Universität reflektiert werden konnte, zuverlässige Nachricht und Kenntnis einzuziehen". 103 Von dieser Reise stammt auch seine recht distanzierte Schilderung des Salzmannschen Instituts in Schnepfenthal. Eine letzte Erweiterung seines Erfahrungskreises bedeutete für ihn 1802 die Reise in die von Preußen annektierten polnischen Gebiete. Durch den Besuch polnischer Geistlicher in Gedikes Gymnasium und durch die Einrichtung eines fakultativen polnischen Unterrichts hatte sich ihm schon die Frage gestellt, wie der Schulunterricht in den neuen Provinzen genutzt werden könne, um „in die aufwachsende Generation eine Anhänglichkeit an ihr neues Vaterland zu bringen". 104 Nur durch die Wertschätzung des neuen, glücklicheren Vaterlandes schien sie ihm erreichbar. Sie soll „durch eine lehrreiche und wahre Darstellung" hervorgebracht werden, die den preußischen Staat als den glücklicheren in bezug auf äußere Macht und innere Kraft im Vergleich zu Polen hinstellt. Patriotismus war für Gedike nicht eine Sache des Gefühls sondern des Räsonnements, das sich auf die Entfaltung des einzelnen wie auf die Fortschrittlichkeit des Ganzen bezog. Mit dieser Art von Patriotismus war es durchaus vereinbar, die Freiheit Amerikas in einer Ode zu feiern, 105 die Schlözers Bedenken herausforderte und zur Erörterung der Frage veranlaßte, „ob monarchische oder republikanische Staaten eher despotisch werden können". Die publizistische Tätigkeit Gedikes, vornehmlich in der „Berlinischen Monatsschrift", kann hier nicht ausführlicher dargestellt werden. Dem Bild seines Wirkens würde aber ein wesentlicher Zug fehlen, wenn man nicht seinen Anteil an der Aufklärung untergründiger religiöser Bewegungen erwähnte. Diese Aufklärung bezog sich auf die Tätigkeit geheimer Gesellschaften und der Jesuiten und auf Konversionen zur katholischen und jüdischen Religion. Sie fand in dem „Prozeß über den Verdacht des heimlichen Katholizismus zwischen dem Darmstädter Oberhofprediger D. Starck als Kläger und den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift als Beklagten" 1787 ihren Höhepunkt. In dieser Fehde entstand das Schlagwort vom Berlinismus, gegen das sich Gedike verwahrte, indem er feststellte, die Gelehrten Berlins hätten nie als Berliner, immer als Deutsche geschrieben. Damit stellt sich die Frage nach der Anteilnahme der Berliner am Werden der deutschen Kulturnation um 1790. Gedikes Selbstzeugnis über seine Wir103 Vgl. Fester, Universitätsbereiser. Vgl. Schwanz, Gelehrtenschulen I, S. 479. 105 BM 1 (1783), S. 386.

104

168

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kung auf die deutschen Schulen, aber auch seine Reiseberichte zeigen eine natürliche Verbundenheit mit den protestantischen Ländern Deutschlands, der er tätigen Ausdruck verlieh durch seine Bemühungen um die Förderung der deutschen Sprache. Als Gedike 1790 in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, gehörte er in ihr der Deputation zur Vervollkommnung der deutschen Sprache an. Die Dichtung stand für ihn nicht im gleichen Maße im Mittelpunkt seines Lebens wie bei der nachfolgenden Generation. Eigene wie fremde Dichtung hatte bei ihm die Funktion eines Ornaments, verschönerte und bereicherte sein Leben, ohne es zu formen. Ramler war für ihn das Muster literarischen Könnens. Es ist für Gedike charakteristisch, daß er ihn beim Jubelfest des Montagsklubs 1798 in der Form des Goetheschen Mignon-Gedichtes feierte. Goethe hatte sich ein Zusammentreffen mit Gedike gewünscht, das freilich nicht zustande kam. 106 In Jena hatte Gedike aber Gelegenheit, Schiller in seiner Vorlesung über Universalgeschichte anzuhören; sein Bericht über den Vortrag des „bekannten theatralischen Dichters" zeigt die Verwunderung über die Sympathie der 400 Zuhörer, denn „er las alles Wort für Wort ab, in einem pathetischen, deklamatorischen Tone, der aber sehr häufig zu den simplen historischen factis und geographischen Notizen, die er vorzutragen hatte, gar nicht paßte". 1 0 7 - Die Versöhnung altpreußischer straffer, prosaischer Staatsgesinnung mit dem Enthusiasmus des neugeborenen geistigen Deutschland, die Dilthey als Aufgabe der Deutschen bezeichnet hat, ist Gedike nicht gelungen.

III Als Gedike in die Auseinandersetzung um die zukünftige Gestaltung der Erziehung und des Schulwesens eintrat, hatten sich nach Campes Zeugnis drei Parteien gebildet: die „Genies", die Philanthropisten und die Berliner Aufklärer. 108 Während die Gruppen in Weimar und Dessau neue Schulen, neue Erziehungswege konzipierten, reflektierte man in Berlin nur allgemein über den Wert der Aufklärung für die Vervollkommnung des Menschen im „individuellen Stand". Die maßgeblichen Schulen Berlins, das Joachimsthalsche und das Französische Gymnasium, standen unter königlichem Schutz außerhalb der Diskussion. Das Berlinische Gymnasium im Grauen Kloster erlebte unter Anton Friedrich Büsching in diesen Jahren seine organisatorische Sanierung, durch die es das Ansehen einer gediegenen Gelehrtenschule errang. Vgl. Ludwig Geiger, Berlin 1688—1840, Bd. 2, Berlin 1895, S. 370. iot ygi p e s t e r > JJniversitätsbereiser, S. 84. 3 0 8 Campe 1776 an Nicolai, vgl. J. Leyser, J.H. Campe, Bd. 1, Braunschweig 1877, S. 28 106

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Es war Gedikes Glück, daß er an die kümmerlichste Schule, das Friedridiwerdersche Gymnasium, geriet. Recht mißmutig begann er dort seine Arbeit, bis er die Chance begriff, aus ihr eine Schule zu machen, die dem Geist einer aufstiegswilligen Schicht entsprach, zu der er selbst gehörte. Seine Schule sollte nicht allein den Gelehrten heranbilden, sondern auf den „individuellen Stand" vorbereiten, zu dem jeder, der in Bürgerkreisen Berlins vorherrschenden Meinung zufolge, durch „Kultur und Aufklärung" aufsteigen konnte.109 Das pädagogische Jahrhundert, das in der Theorie schon längst den Weg in den „gebildeten Stand" eröffnet hatte, sollte nun auch in der Schule Eingang finden. Gedike konnte bei dieser Umsetzung der pädagogischen Theorie in die Praxis um so mehr auf das Zutrauen des Publikums rechnen, als er selbst auf dem Weg über die Bildung und Selbstbildung geradezu exemplarisch aufgestiegen war: In seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten hatte er sich als Graecist ausgewiesen - schon darin nicht mehr am Berufsbild des Theologen orientiert; er war von den in der Schulaufsicht maßgeblichen Männern als treuer Schüler ihrer eigenen Tugendlehre, die den Mittelweg zwischen „kaltsinniger Vernunft" und „empfindsamem Fieber" vorschrieb, akzeptiert worden; er hatte den Weg zur „Selbstbejahung" im persönlichen Stand gefunden und den „freimütigen Untersuchungsgeist" gewonnen, der ihm die geforderte Anpassung an neue Umstände erleichterte.110 Er mußte also den Eltern, die Lessing, Mendelssohn oder Spalding zum Wegweiser ihres Lebens gemacht hatten, als geeigneter Mentor für ihre Kinder erscheinen. „Ich verachte den Schulmann, der seine Schüler nur wissen, wenn's hoch kömmt denken, und nicht zugleich empfinden, handeln, leben lehrt" (GS I, 386): Gedike hat wirklich danach gehandelt, das wird ihm gerade hinsichtlich seiner Forderungen an den Schulmann von seinem Biographen bestätigt.111 Vgl. Mendelssohn in BM 4 (1784), S. 193 ff. HO YGJ ¿¡g Darstellung bei W . Roessler, Erziehungswesen, 109

S. 184, mit dem wertvollen

Kapitel 2 in Horns Biographie (das nicht von H o r n stammt). 111

Horn, S. 50. Gedike fordert vom Lehrer (GS I, 3 8 5 ) : „Jene Lebhaftigkeit, die immer

vorwärts strebt, vereint mit der verharrenden Geduld, die nicht müde wird; jener Sinn für das Große und Ganze einer Wissenschaft vereint mit dem Sinn für das Einzelne und Kleine; jene Leichtigkeit und Entschlossenheit, seine Ideen und seine Sprache herabzustimmen; jenes physiognomisch-psychologische Ahndungsvermögen in Beurteilung der Anlagen eines jungen Menschen, jene Scharfsichtigkeit in Bemerkung der intellektuellen und moralischen Mängel seiner Zöglinge; jene Kunst, in den Herzen seiner Lehrlinge zu lesen . . . , jener Ernst mit Heiterkeit gemischt, jene zutrauliche Herzlichkeit, die den Abstand nicht fühlen, aber audi nie ganz vergessen läßt; jene feste strenge Entschlossenheit ohne störrigen Eigensinn, jene nachgiebige Leutseligkeit ohne verächtliche Weichheit und Wankelmütigkeit, Geduld, auch im sandigsten Boden zu pflügen und zu säen, jene Genügsamkeit mit dem kleinsten Erfolg, jener Gemeingeist, das Nützliche zu tun, nicht weil es mir, sondern weil es andern nützlich

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Selbsttätigkeit, Übung des Denkvermögens, der Phantasie und des Witzes standen für Gedike im Mittelpunkt der schulischen Arbeit, deren mehr formal bildender Wert vor allem der Ausbildung für die höheren Dienstleistungsberufe zugute kam. „Die vorzüglichsten Subjekte lieferte er für den Geschäftsdienst, junge Juristen und Kameralisten von vorzüglicher Gewandtheit im Arbeiten. Selbst die, welche aus den mittleren Klassen zum mechanischen Geschäftsdienste abgingen und in mancherlei Departements angestellt wurden, empfahlen sich ihren Vorgesetzten durch Bildsamkeit und Leichtigkeit im Arbeiten." 112 Gedikes Gymnasium war keine ausgesprochen humanistische Bildungsanstalt. Zwar sah es in den alten Sprachen seinen wichtigsten Lehrgegenstand, aber bei ihrer Behandlung spielte neben der sprachlichen Schulung auch die Vermittlung von Sachkenntnissen eine Rolle (GS II, 164). Die neueren Sprachen wurden ebenso unterrichtet wie Theologie (neben dem Religionsunterricht), Historie, Geographie und Statistik, Naturgeschichte und Anthropologie, Experimentalphysik und Mathematik. Das geradezu enzyklopädische Angebot der Schule erhielt jedoch für den Schüler verschiedene Akzente, indem es ihm die Möglichkeit gab, den Fächerkanon nach dem eigenen Abschlußziel auf der Schule zu modifizieren und zusätzliche Fächer freiwillig zu belegen.113 Die Vielseitigkeit in der Entwicklung der geistigen Fähigkeiten des jungen Menschen sollte nicht durch eine stoffliche Uberbürdung wieder erstickt werden. Die angeführten Unterrichtsgegenstände dürfen außerdem nicht als Fächer angesehen werden, die während der gesamten Schulzeit unterrichtet wurden, sie lösten sich vielmehr in einer Form von Epochalunterricht ab. Gedikes Lehrplan war darauf abgestellt, möglichst vielseitige Weltkenntnisse zu vermitteln, dabei dem Schüler eine gewisse Auswahl offenzuhalten und im übrigen die intellektuelle Entwicklung des Schülers als zentrale Aufgabe der Schule zu behaupten. Vergleicht man die Lehrpläne von Gedike mit dem Lehrplanentwurf von Süvern von 1812, so wird man auch bei Gedike schon der vier Kernfächer Latein, Griechisch, Deutsch, Mathematik gewahr: Latein wird ab Sexta, Grieist; jene Selbstverleugnung, wenn Vorteil und Vergnügen des Lehrers mit dem seiner Schüler in Kollision k o m m e n . . . , jene Gewandtheit, die Lage und Umstände des jedesmaligen Augenblickes zu nutzen, jene Gabe, die Aufmerksamkeit auf den Lehrvortrag festzuhalten und sie zugleich auf alles um und neben ihm vorfallende zu verteilen; jene Gegenwart des Geistes bei unvermuteten V o r f ä l l e n . . . , jener Mut, jedes seinen Absichten schädliche Vorurteil in den Staub zu treten und jene weise Schonung für jedes unschädliche Vorurteil, endlich jener Edelmut, sich nicht durch Undank, schiefe Beurteilung, Verkennung seiner Absichten usw. niederschlagen zu lassen." 112

F. Horn, S. 53.

113

Gedike, Programm 1796, S. 10, vgl. oben S. 153.

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chisch ab Quarta, Mathematik in vier Klassen gelehrt, Deutsch bis hinauf in die Prima in Form von Sprach- und Stilübungen, dazu kommt aber in allen sechs Klassen Französisch und in den drei Jahren der Prima Englisch. Im Süvernschen Lehrplan fallen außer den neuen Sprachen (Gedike hatte auch Italienisch und Polnisch wahlweise angeboten) und der Rhetorik und Poetik alle die Sonderkurse weg, die Gedike zur Ausbildung der gebildeten Stände eingeführt hatte: die „allgemeine Enzyklopädie", die praktischen Übungen in Disputation, Interpretation und Vortrag und die „Vorbereitung zum akademischen Leben" neben einer speziellen Vorbereitung auf das juristische Studium. All das wird von Süvern ausdrücklich der Universität zugewiesen mit der Begründung, daß es der „fragmentarischen Beschaffenheit wegen dem Geist des organischen Denkens und Wissens geradezu entgegen" stehe.114 Gedike lagen Spekulationen über die Beziehungen zwischen Makro- und Mikrokosmos fern, er suchte empirisch nach einer die Seelenvermögen des Menschen auf natürliche Weise entwickelnden „Ordnung und Folge der Gegenstände des jugendlichen Unterrichts". Der Schlüssel zur harmonischen Entwicklung lag für ihn nicht in der ausgewogenen Anordnung der Schulfächer, sondern in der Anpassung der Unterrichtsfolge an den Gang der menschlichen Entwicklung. So soll nach seiner Meinung dem Lesenlernen (auf analytischem Wege) der Sachunterricht und das Rechnen vorangehen, dem Schreiben von ganzen Wörtern soll das Zeichnen vorangehen, dem Religionsunterricht die Bewunderung der Natur. Dem Unterricht in der Muttersprache möchte er das Französische folgen lassen, weil hier die Sprechmethode angewandt werden kann, die für den Lateinunterricht unbrauchbar ist. In bewußtem Gegensatz zur Tradition spricht sich Gedike gegen den frühen Beginn des Lateinunterrichts aus, mit dem meistens schon im siebenten Lebensjahr begonnen wurde. Er möchte sogar der griechischen Sprache den Vorrang geben, weil sie der deutschen durch ihre Biegsamkeit verwandt sei und außerdem einen Maßstab für die Vollkommenheit einer Sprache gewinnen lasse. In deutlichem Gegensatz zu Basedow wird hier dem Schüler nicht die traditionelle Abfolge der Lehrgegenstände durch methodische Kniffe schmackhaft gemacht, sondern der Lehrplan einer entwicklungspsychologisch orientierten Kritik unterzogen. Gedikes Überzeugung von dem Vorrang der Imagination vor dem Gedächtnis, von dem analytischen Gang der menschlichen Erkenntnis, die „vom zusammengesetzten und einzelnen zum allgemeinern und einfacheren" fortschreitet, 115 steht aber in so krassem Gegensatz zur Schulpraxis, daß an eine grundsätzliche Umgestaltung des Bildungsganges nicht zu denken 114 116

Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 2, S. 293. Gedike, Aristoteles und Basedow, S. 116 f.

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ist. Wohl läßt Gedike die eigenen Kinder nach dem analytischen Verfahren erfolgreich das Lesen lernen, wohl kann er durch die Herausgabe eines lateinischen Lesebuches, das den Schüler zur direkten Übersetzung seiner Gedanken in die lateinische Sprache anregt, den Catechismus latinus verdrängen und an die Stelle von Huebneri historiae sacrae die lateinische Ubersetzung des Campeschen Robinson setzen - aber seiner Reformfreude sind Grenzen gesetzt. Gedike hatte durch die Auseinandersetzung zwischen Friedrich I I . und Zedlitz über die Umwandlung der Lateinschulen in Bürgerschulen gelernt, daß eine didaktische Konzeption nicht allein von psychologischen Einsichten bestimmt werden kann. 1779 hatte der König dekretiert, „Lateinisch müssen die jungen Leute absolut lernen, davon gehe idi nicht ab, es muß nur darauf raffiniert werden, auf die leichteste und beste Methode, wie es den jungen Leuten am besten beizubringen; wenn sie auch Kaufleute werden oder sich zu was anderem widmen, wie es auf das Genie immer ankommt, so ist ihnen das doch allezeit nützlich". 1 1 6 — Der „kühne Räsonneur" bringt dennoch seine Gründe vor; aber er gehorcht auch „ebenso hurtig wie andere", schreibt ein lateinisches Lesebuch, das weite Verbreitung fand, und verteidigt die Übung im Lateinschreiben mehrfach gegenüber seinem Freund Stuve mit dem Hinweis auf die Anforderungen, die von der Tradition und der Gesellschaft an den Gelehrten gestellt werden. 117 Prinzipienlosigkeit wird man Gedike nicht vorwerfen dürfen: Von seinem pädagogischen Erstlingswerk (1779) bis zu der kritischen Didaktik des Jahres 1791 bleibt er bei seinem lernpsychologischen Ansatz, bei der Anwendung der englischen Assoziationspsychologie und der von Rousseau vielfach dargestellten analytischen Methode auf die Gegenstände der schulischen Unterweisung. Er will zu sinnvollem Lernen anleiten, aber weder die Schwierigkeiten des Stoffes überspielen noch die Anstrengung durch die alten Sprachen auf der Schule umgehen. Zum sinnvollen Lernen gehört freilich neben der Orientierung an der geistigen Leistungsfähigkeit der Jugend auch die Rechtfertigung des schulischen Lernprozesses vor den Ansprüchen der Gesellschaft. Diese Gesellschaft will Bildung, will „Kultur und Aufklärung" in ihr Leben aufnehmen, aber sie weiß, daß sie nicht nur auf dem Weg über Gelehrsamkeit, über das Studium an der Universität zu erreichen ist. Gedike redet ihr das Wort, wenn er berichtet, daß in Berlin nur diejenigen Gelehrten gesellschaftliches Ansehen genössen, die „mit Kenntnis und Gelehrsamkeit auch Geschmack und Feinheit verbinden, die in mehreren Wissenschaften bewandert sind und Aufklärung genug besitzen, um die Masse gemeinnütziger Wahr116 117

Theobald Ziegler, Geschichte der Pädagogik, München 1917, S. 261. Vgl. GS I, Abhandlung 7 und Stuve in BM 2, 1783; dazu s. unten S. 174 f.

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heiten teils zu vergrößern, teils zu verbreiten". 1 1 8 Bildung und Gelehrsamkeit sind also nicht gleichzusetzen. Daraus folgt für die höhere Schule - darin stimmt Gedike mit Basedow, Resewitz, teilweise auch mit Heyne und Meierotto überein - , daß sie nicht nur als Vorbereitungsanstalt für das Universitätsstudium angesehen werden darf. Unterschiede zwischen den Schulplänen der Gymnasien zeigen sich nur darin, bis zu welcher Klasse ein Schüler am Gymnasialunterricht teilnehmen darf, der nicht die Vorbereitung auf das Studium mit allen Konsequenzen anstrebt. Diese Konsequenz bestand vor allem in der Erlernung der griechischen Sprache. Nach Gedike dient sie seit etwa 1780 nicht mehr nur der Vorbereitung des Theologen, sondern macht einen Teil der „gelehrten Vorbereitung" aus und wird zur Bildung des Geschmacks betrieben (GS I I , 172). Das Hebräische dagegen soll der Universität vorbehalten bleiben, weil sie der Ort für die spezielle Bildung ist. Das Latein bleibt ein Bestandteil der allgemeinen Vorbereitung „zu den einige wissenschaftliche Bildung erfordernden Geschäften". Wenn man die Erfüllung der Forderung von Resewitz aus dem Jahre 1773 nach der Einrichtung von Schulen, die Kaufleute und Gewerbetreibende in den Hauptstädten in den Realien und neuen Sprachen unterrichten sollten, als zweckgebundene Schulbildung gegenüber der traditionellen Gelehrtenbildung abwertete, würde man in Widerspruch zum Bildungsverständnis dieser Zeit geraten. Sie sah auch die Gelehrtenschule als ein Produkt berufsständischer Traditionen und Bedürfnisse an. Gedike hob gegenüber den berufsbildenden Tendenzen beider Schultypen ihren allgemeinbildenden Wert hervor. Er wollte durch die lateinlose Bürgerschule den Kindern in den Städten eine gemeinsame Elementarbildung garantieren und innerhalb der Gelehrtenschule auch Platz für einen Bildungsgang schaffen, der nicht am Muster der gelehrten, universitätsbezogenen Bildung orientiert war. 1 1 9 Gedikes Kritik an der Pedanterie und Einseitigkeit vieler Gelehrter und so mancher Schulleute läuft darauf hinaus, in und neben der gelehrten Bildung auf den Eintritt in die „gebildeten Stände" vorzubereiten, die sich auch ohne Universitätsstudium Ansehen und Lebensart erworben hatten und neben der höfischen Gesellschaft bestehen konnten. 118

BM 3, S. 471.

119

In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Gedikes aus seiner Rezension der Neu-

ausgabe von Werken Jakob Böhmes interessant (BM

1, S. 2 9 7 ) : Die Regierung habe dafür zu

sorgen, daß jeder in den angemessenen Standpunkt des bürgerlichen Gewerbes versetzt wird und nicht jeder etwas fähige Kopf sich der Wissenschaft widme, damit die Gewerbe auch fortschreiten. Andererseits sei es ein Unglück, daß die Seelen, die in einem bürgerlichen Kreise nicht hinlänglich Befriedigung finden, in Gewerbe hineingezogen werden, wo ihre Fähigkeiten einrosten oder sich eine Öffnung brechen.

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Die nachfolgende Generation ging andere Wege. Die Gründung einer neuen, dem philosophischen Geist verpflichteten Universität in der Hauptstadt hat einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Konzeption der Gymnasialbildung gehabt. Die Erneuerung des Gedankens der Universitas machte hinfällig, was Gedike gegen die Einrichtung einer Universität in Berlin eingewandt hatte, 1 2 0 denn hier wurde aus dem Geist der Akademie der Wissenschaften gelehrt und der Versuch unternommen, den praktischen Weltmann und den theoretischen Gelehrten gleicherweise zum „Gebildeten" zu formen. Eine solche Universität mußte die ständische Isolierung der Gelehrtenbildung aufheben und dem Gymnasium die Orientierung an den Erfordernissen des Universitätsstudiums zum einzig sinnvollen Ziel setzen. Gedike hatte nicht nur versucht, sein Gymnasium zum Instrument der Formung des praktischen Geschäftsmannes zu machen, er wollte dieser Formung auch ein Zentrum geben in dem Studium der alten Sprachen, dessen formellen Nutzen er betonte. Doch der Unterricht in den alten Sprachen, der den Kern der Gelehrtenbildung ausmachte, erhielt durch die neuentstehende Altertumswissenschaft eine Sinndeutung für die Bildung des Menschen, die weit über den von Gedike angezielten formellen Nutzen hinausging. Sie gab dem Streben nach einer autonomen Erneuerung des Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Auflösung der ständischen Lebensordnung ein Leitbild und verband einen Mythos mit dem Studium der Alten, der weit wirksamer war als die nüchternen Erwägungen über den formellen Nutzen des altsprachlichen Unterrichts. Bei der Begeisterung über diese Neuentdeckung vergaß man freilich die kritische Einschätzung dessen, was in der Schule erreichbar war; darauf wies schon F. A. Wolf hin, obwohl gerade er für die Bildungskonzeption der Gelehrtenschule aus dem Geist der neubegründeten Altertumswissenschaft eintrat. 1 2 1 Empirische oder psychologische Bedenken gegen eine Überschätzung des Bildungswertes des altsprachlichen Unterrichts konnten aber den Siegeszug des neuen Bildungsideals nicht aufhalten. Gedikes Neuhumanismus ist weit von einer Idealisierung des Griechentums entfernt. Bezeichnenderweise nehmen seine Erwägungen über den Sinn des altsprachlichen Unterrichts ihren Ausgang von der Auseinandersetzung über den Wert des Lateinisch-Schreibens und -Redens in der Schule. Er verteidigt beides 1783 gegenüber seinem Freund Stuve (GS I, 293) zunächst mit Argumenten, die sich auf die Berufsausbildung für den Gelehrten beziehen. Das Latein sei nun einmal - leider an der Stelle des Griechischen - die Sprache 150 BM 3, S. 467 ff., und BM 4, S. 463 ff. Gedike trifft die Unterscheidung, daß sich die Bildung des praktischen Weltmannes in der Hauptstadt, die des theoretischen Gelehrten aber an der Universität in der Provinz zu vollziehen habe. 121

Paulsen, a. a. O., S. 220.

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der gelehrten Welt, auch eine Art Geheimsprache der Wissenschaft, die man beherrschen müsse, weil außer den Deutschen niemand eine fremde lebende Sprache lerne. Gedike räumt aber ein, daß man auch ohne Lateinkenntnisse ein guter Gelehrter und Prediger sein könne. Damit polemisiert er gegen Prüfungskommissionen, die nur lateinisch prüfen. Die „Brauchbarkeit im gemeinen Leben" soll nicht das einzige Motiv für die Auswahl eines Lehrgegenstandes sein. Aber über die Andeutung, daß durch die Abschaffung des Lateinunterrichts „Trägheit und Unwissenheit ein Polster mehr" erhielten, sein psychologischer Nutzen für die Jugend aber in der Suche nach dem angemessenen Ausdruck liege, kommt er nicht hinaus, weil ihm „die erforderliche Gemütsruhe" fehlt. 122 Stuve weist in seiner Replik in der „Berlinischen Monatsschrift" (1783) die inhaltlichen Begründungen zurück und stellt fest, daß der „formelle Nutzen" nicht allein vom Lateinunterricht abhänge. Gedike hatte früher selbst darauf hingewiesen (GS I, 118), daß mancherlei Gegenstände des Unterrichts auf dem Gymnasium für den Schüler, der nicht zur Universität will, nur formellen Nutzen hätten und der „Anregung, Richtung, Bildung verschiedener Seelenfähigkeiten" dienten. 1787 fand Gedike Gelegenheit, seine Überzeugungen besser zu formulieren, als Trapp im Revisionswerk seine herausfordernde Abhandlung „Uber das Studium der alten klassischen Schriftsteller und ihre Sprachen in pädagogischer Hinsicht" den Mitarbeitern des Revisionswerkes zur Stellungnahme vorlegte. In mehrmaligen Anläufen spürt Gedike daraufhin der Grundlage seiner eigenen Überzeugung nach. Er erklärt, daß das Verstehen der Alten gar nicht der eigentliche Zweck des Unterrichts sei, sondern die Förderung des Bestrebens dazu: Es sei das „glücklichste Hilfsmittel zur intellektuellen und moralisdien Ausbildung", das mehr als alle Arten des Studierens „alle Kräfte der Seele weckt, bildet und schärft". 123 Später heißt es, daß gerade die Schwierigkeiten, in den Sinn der Alten einzudringen, Reife, Festigkeit und Schärfe des Verstandes entwickeln und daß die Kunst der Interpretation „als Vehikulum für jede Art von Kenntnissen" dienen könne (499). Schließlich legt Gedike in dieser Sache sein „Glaubensbekenntnis" nieder, das neben verschiedenen didaktischen und methodischen Feststellungen das Bekenntnis enthält, daß „das Studium der Interpretation einen unausbleiblichen großen formellen Nutzen für die Ausbildung aller Seelenfähigkeiten hat, gesetzt auch, daß aller materieller Nutzen mit der Zeit verloren ginge". Er sieht diesen formellen Nutzen, gerade für Geschäftsmänner, in dem Bestreben, die Alten verstehen und studieren zu 122 Gedike stand während der Abfassung des Aufsatzes gerade in der Krise seiner Verlobung. 123 J. H. Campe, Allgemeine Wolfenbüttel 1786, S. 418.

Revision

des gesamten Schul- und Erziehungswesens,

Bd. 7,

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können, „indem es dem Geist die Richtung gibt, zu suchen, dagegen man bei neuerer Lektüre sich zu sehr an das Finden gewöhnt" (534). Durch die ständige Herausforderung zur Reflexion ist hier Gedike offensichtlich zum Kern seiner pädagogischen Uberzeugungen durchgedrungen. Das Streben nach Verständnis und Erkenntnis, die Weckung des Geistes durch hohe Ansprüche und sein Aufbruch zu unbekannten Zielen, also Aktivität des Geistes an sich und für die Zwecke der Welt, das ist nicht nur das Zentrum seiner Bildungsziele, sondern auch seines Lebens. Durch dieses Glaubensbekenntnis weist sich Gedike als Neuhumanist aus, für den die Ausbildung in alten Sprachen kaum noch Selbstzweck ist, sondern im Dienst der intellektuellen und moralischen Bildung steht. Ein Beitrag zur ästhetischen Erziehung wird nicht von ihr erwartet, das wird man der realistischen Einschätzung des auf der Schule Erreichbaren zuschreiben können, aber auch Gedikes Unvermögen, der Sphäre des Spieles einen pädagogischen Wert abzugewinnen. Seiner Meinung nach ist es die zentrale Aufgabe der Schule, zur geistigen Anstrengung hinzuführen, das Streben nach geistiger Befriedigung durch Bewältigung vorgegebener Aufgaben zu wecken und in die Methodik des Verstehens als Weg zur Erkenntnis einzuführen. Auch der junge Humboldt maß der Form, in der die Kenntnis vom Altertum erworben wird, eine „heilsame" Wirkung bei. „Der Auffassende muß sich dem auf gewisse Weise ähnlich machen, das er auffassen will. Daher entsteht also größere Übung, alle Kräfte gleichmäßig anzuspannen, eine Übung, die den Menschen so vorzüglich b i l d e t . . . So ist jene Kenntnis gerade darum heilsam, . . . daß sie, nie ganz erreichbar, zu unaufhörlichem Studium zwingt." 124 Die Grundmotive des Gedikeschen Glaubensbekenntnisses werden wieder angeschlagen und ergeben doch einen anderen Klang. Die Energie wird auf die historische Nachempfindung, nicht auf eine angemessene Ubersetzung verwendet, das Verstehen greift in existentielle Tiefen des Menschen ein und verlangt Wandlung. Das Suchen bezieht sich nicht mehr auf die rational stimmige Erfassung eines Sachverhaltes, sondern auf „die höchste Menschlichkeit durch das tiefste Studium des Menschen". In einem Brief vom 26. 6. 1818 sagt Humboldt, was seiner Meinung nach einem Menschen mangelt, der nicht durch das Studium der Alten gegangen ist: Zartheit und Freiheit. Für Humboldt vollzieht sich also dadurch ein höchst individueller Bildungsprozeß, während Gedike für die Aufgaben in der Welt ertüchtigen will. Nun darf man freilich nicht übersehen, daß die Sprache des Gedikeschen Glaubensbekenntnisses auch anderwärts in seiner Zeit gesprochen wurde. Der Hinweis auf diese Parallele mag davor warnen, das Gedikesche Bildungsprin1 2 4 W.v.Humboldt, Über das Studium des Altertums, in: Gesammelte Schriften I, Berlin 1903, S. 262.

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zip aus dem Vergleich mit dem Humboldtschen heraus als bloß zweckgerichtet, ohne jede existentielle Tiefe anzusehen. Für Gedike war die Weckung zur vita activa nicht nur das Zentrum pädagogischer Bemühungen, sondern sein Lebensprinzip, das in der Freimaurerei mehr als in der traditionellen Sprache des Christentums eine angemessene Form finden konnte. In einem „Brief über Freimaurerei" liest man von einem Zeitgenossen Gedikes: „Das ganz Eigentümliche hat die Freimaurerei, daß der Geist, der auf den echten Maurern ruht, ihn zu allen Dingen geschickter macht, ohne ihn zu einer Tat insbesondere hinzuziehen, und ihn erleuchtet, ohne zu lehren." Man versucht, „durch Bilder die Gelegenheit zum Nachdenken zu erwecken" und „die Menschen so zu stimmen, daß sie, von unsichtbarer Hand geleitet, ihre Bestimmung nicht verfehlen und den bedingten Plan des Baumeisters nicht erschweren, nicht in die Länge ziehen". 125 Audi hier vollzieht sich „formelle Bildung", wird Nachvollzug und Gewöhnung der Vorrang gegenüber der formulierten Lehre gegeben, sind Einstimmung und Anschauung die verhaltensregulierenden Kräfte, die zum werktätigen Dienst in dem unbekannten, aber vernünftigen Heilsplan Gottes anregen. Der Enthusiasmus Gedikes unterschied sich wesentlich von jener Weltfrömmigkeit, die sich von Jena und Weimar aus verbreitete. Der märkische Pfarrerssohn hatte nicht die Öffnung zur Welt hin vollziehen können, die den besten unter seinen Altersgenossen neue geistige Horizonte erschloß; er blieb der Frage nach der Rechtfertigung verhaftet und suchte sie durch seine Arbeit zu lösen. Die Frömmigkeit des Aufklärers war so auf Hingabe an ein rational zu gestaltendes Werk gerichtet, daß weder für die Formung der Individualität Raum blieb noch für die Bezeugung menschlicher Freiheit durch die „Darstellung schöner Sittlichkeit" (Schiller). Wenn Gedikes Enthusiasmus sich dennoch am Studium der Alten entzündete, ja erst hier sein Zentrum fand, so aus zwei Gründen: Einmal war hier die Anstrengung zur geistigen Beherrschung der Objektwelt konzentriert und zugleich sublimiert, weil sie den irdischen Zwecksetzungen entrückt war; zugleich aber bot die Arbeit an den antiken Sprachdenkmälern bei aller Anstrengung auch eine emotionale Entlastung an, indem man sich an ihrer Feierlichkeit und Erhabenheit berauschen konnte. Gedikes erste altphilologische Veröffentlichung galt den Pindarschen Olympischen Siegeshymnen! So erklärt sich auch, warum Gedike seinen Schülern als „Lehrer und Führer im innersten Heiligtume" (Tieck) erscheinen konnte, obwohl er nicht anschaulich und fühlbar zu machen wußte, worin die Größe und Erhabenheit griechischer Dichtung bestand. 125

J. A. Maier,

S. 81 ff. 12 Jahrbudi 13/14

Über

Jesuiten,

Freymaurer

und

deutsche

Rosencreutzer,

Leipzig

1781,

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Ein rational kontrolliertes Verhältnis zum Gegenstand seiner Begeisterung hat Gedike nicht gefunden. Seine Gedichte zeugen von einem konventionellen Verständnis der Antike, das von Windtelmanns Entdeckung nicht berührt war. Die antikisierende Form, die mythologische Vermummung von Gestalten und Geschehnissen seiner Gegenwart erzeugen ein hohles Pathos, das auch bei seinem Vorbild Ramler zu finden ist. Zu einer Begegnung mit der Antike, wie Humboldt sie gefordert hatte, war Gedike weder fähig noch konnte er dazu hinführen. Was er für sich persönlich an „materieller Bildung" durch das Studium der alten Literatur - und dazu kam im Laufe der Zeit auch das Studium der deutschen Sprache - gewann, das bezeugen seine „Vermischten Schriften", die 1801 bei Unger erschienen sind. Sprach-, kultur- und sittengeschichtliche Betrachtungen durchdringen sich und lassen vermuten, daß ihm diese Gegenstände interessant, aber nicht wirklich wichtig gewesen sind. Gedikes Grenzen sind darin zu sehen, daß er als Schulreformer und -organisator zwar die Form gefunden hatte, in der sich nach Schuldogmatismus und Pedanterie geistiges Leben entwickeln konnte, aber als Lehrer nicht imstande war, didaktisch zielstrebig und sachlich engagiert zu unterrichten. Die Kritik am Inhalt dieses Unterrichts, die deutlich aus dem Lehrplanentwurf des Gedike-Schülers Süvern spricht, hatte aber auch die Ablehnung der liberalen Unterrichtsorganisation zur Folge: „Da alle Lehrgegenstände hier in Beziehung auf allgemeine Bildung stehen, so kann kein Schüler sich willkürlich irgendeinem Lehrfach entziehen." 126 Allgemeine Bildung geht für Gedike nicht von einem bestimmten Fächerkanon aus, sondern vom gesamten Stil der Schulerziehung, der einen Leistungswillen hervorbringt, wie er sich in der „Selbsttätigkeit" zeigt und in der Bereitschaft zur geistigen Schulung an den besonders schwierigen Gegenständen der alten Sprachen, und der sich beweisen kann in der praktischen Bewältigung der Aufgaben, die die Öffentlichkeit dem Gebildeten stellt. In die Sprache des praktisch denkenden Schülers übersetzt, lautet Gedikes Rechtfertigung für den altsprachlichen Unterricht, „daß im Falle du einst dein Griechisch und selbst dein Latein vergissest, dennoch der Vorteil dir bleibt, durch beides deinem Geist jene Geschmeidigkeit verschafft zu haben, die auch in deine Geschäfte mit übergeht". 127 Das formale Bildungsprinzip wird von den Reformern, wie es sich auch bei Gedike schon angedeutet hatte, auf die anderen Sprachen, Mathematik und Realwissenschaften übertragen. Wenn Gedike die Übung der Kräfte zum Hauptzweck allen Unterrichtes erklärt hatte (GS II, 239), so war das sehr 126

Vgl. Paulsen, a. a. O., S. 292 f. Gedike, Über den Begriff einer gelehrten Schule, Programm 1802, zitiert bei E. Lehmensick, Die Theorie der formalen Bildung, Göttingen 1926, S. 15. 127

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viel weniger anspruchsvoll gemeint als bei Süvern oder Bernhardi, die in einem wissenschaftlich orientierten Unterricht die intellektuellen Fähigkeiten „mehr reproduzierend denn produzierend" bilden wollten. Die Aktivierung des Schülers, Entwicklung seiner Fähigkeiten an Gegenständen, die ihn in seinem Alter ansprachen, Anregung zum eigenen Denken, Übung im sprachlichen Ausdruck, das waren die Bildungsziele, die Gedike vorschwebten und die er über Lehrgegenstände zu erreichen suchte, deren Vermittlung die Gesellschaft von der Schule verlangte. Das offene System seiner Schule, das verschiedene Bildungsansprüche hinsichtlich der Dauer und der Zielrichtung der Bildung zu befriedigen suchte und auch die Lehrer nur in materiellen und disziplinarischen Fragen band, blieb eine Sondererscheinung, sei es, weil keine andere Anstalt ein Seminar besaß, das eine so weitgehende Differenzierung des Unterrichts ermöglichte, sei es, weil in der neu entstehenden Bildungsschicht der Wunsch nach gemeinsam verpflichtenden Bildungsinhalten noch immer lebendig war. Bei Wilhelm von Humboldt ist in verschiedenen Äußerungen aus dem Jahre 1809 die liberale Auffassung von der Schul- und Unterrichtsorganisation wiederzufinden. Seiner Meinung nach bestand die Aufgabe des Unterrichts nicht darin, „daß dieses oder jenes gelernt, sondern in dem Lernen das Gedächtnis geübt, der Verstand geschärft, das Urteil berichtigt, das sittliche Gefühl verfeinert werde". 128 Damit erhob er die formale Bildung zur zentralen „Methode" des Unterrichts. Auch für die Differenzierung hinsichtlich der Dauer des Schulbesuchs sprach er sich aus und für die Berücksichtigung der „Verschiedenheit der intellektuellen Richtung auf Sprachstudium, Mathematik und Erfahrungskenntnisse", damit „der Schüler, wie ihn seine Individualität treibt, sich des einen hauptsächlich, des anderen minder befleißige". 129 Auch der Forderung nach einer Elementarschule für alle Stände schließt sich H u m boldt an. Dennoch nimmt der Bildungsprozeß bei Humboldt eine neue Gestalt an, weil er die Wissenschaft als das von allen Seiten vollständig gedachte Objekt des Gemütes ansieht und deshalb die formale Bildung an einer so verstandenen Wissenschaft zur allgemeinen Menschenbildung wird, durch die „die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden", indem „jede Kenntnis, jede F e r t i g k e i t . . . durch vollständige Einsicht der streng aufgezählten Gründe, oder durch Erhebung zu einer allgemeingültigen Anschauung (wie die mathematische oder ästhetische) die Denk- und Einbildungskraft und durch beide das Gemüt erhöht". 130 Hier formt die Bildung den ganzen Menschen und eröffnet ihm den Weg zur Selbsterhöhung. Damit gewinnt 128 129 130

12*

W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften X , Berlin 1903, S. 205. Humboldt, Königsberger Schulplan, in: Gesammelte Schriften XIII, Berlin 1920, S. 265. Humboldt, Litauischer Schulplan, in: a. a. O., S. 277.

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H A R A L D SCHOLTZ

die Schule eine neue Bedeutung: Während Gedike noch schlicht formulierte, daß sie dem Schüler Gelegenheit gebe, „sich persönlichen Wert zu erwerben", ist der Schulbesuch bei den Neuhumanisten Niethammer und Jachmann „die Bildungszeit der Menschheit im Menschen"; 131 die Schule wird als Tempel der Kultur angesehen, in dem man die Weihen für ein höheres Leben zu empfangen hat. Gedike hatte den Schüler nicht in eine bestimmte Kulturwelt einführen, sondern geistiges Leben in ihm erzeugen wollen, damit er in jeder Aufgabe, vor die ihn die Gesellschaft stellen würde, zu geistiger Leistung befähigt und bestrebt war, auch schwierige Fragen einer angemessenen Lösung entgegenzuführen. In Gedikes Augen besaß die Schule die Funktion, in jedem Kind, gleich welchen Standes, das Streben nach geistiger Leistung zu erwecken, ihm die altersgemäße Nahrung zu geben, das Ehrgefühl anzusprechen und im Zusammenwirken von Schulerziehung und didaktischer Gestaltung des Unterrichts - neben der Förderung individueller Fähigkeiten und der Vermittlung brauchbarer Kenntnisse — den Schüler formal so zu bilden, daß er ein tüchtiger Träger öffentlicher Geschäfte in einem rational zu gestaltenden Staat werden konnte. Auch die Ausbildung der Gymnasiallehrer stand unter diesem Vorzeichen und hat für die weitere Entwicklung des preußischen Schulwesens in reichem Maße Frucht getragen. Sie war freilich spezieller orientiert als die Gymnasialbildung, und so kam hier deutlicher zum Vorschein, daß das Gymnasium für Gedike nicht nur aus einer theoretisch durchdachten pädagogischen Praxis lebte, sondern wesenhaft auch aus der geistigen Disziplin, die das Studium der Philologie den Lehrern mitzugeben hatte. Mochte der Wert der altsprachlichen Studien auch bald umgedeutet und ihre besondere formal bildende Kraft angezweifelt werden - die einmal hergestellte Verbindung zwischen diesem Studium und der geistigen Formung des Menschen, der Bildung seiner Kräfte geriet im Bewußtsein der Öffentlichkeit nicht in Vergessenheit. Altsprachliches Studium als Statusanzeichen für die Zugehörigkeit zum gebildeten Stand und als Hilfe zur Bewährung im „persönlichen Stand" in Verbindung zu bringen mit dem Ziel der Erziehung zur praktischen Bewährung in Geschäften des Staates und der Öffentlichkeit - an dieser Lösung des Problems der Gymnasialbildung konnten freilich die Nachfolger Gedikes nicht mehr festhalten, als sie im verselbständigten Schulwesen die praktikablen Normen auszuarbeiten hatten, nach denen Bildung und das damit verbundene gesellschaftliche Ansehen zu bemessen waren. Sie standen unter dem Eindruck der geistigen Leistung im Bereich der Literatur und orientierten ihre Vorstellung 131 F. I. Niethammer, Der Streit des Philanthropismus Erziehungsunterrichts unserer Zeit, Jena 1808, S. 95.

und Humanismus

in der Theorie

des

FRIEDRICH GEDIKE (1754—1803)

181

von Bildung mehr an den Vorbildern, die als Schöpfer einer literarischen Kultur tätig gewesen waren, als an den Aufgaben, die in Staat und Gesellschaft zu bewältigen waren. So traten Spannungen zwischen der höheren Schule und der Gesellschaft zutage, die Friedrich Gedike zuvor einer fruchtbaren Lösung entgegengeführt hatte.

HANS BRANIG

DIE OBERSTE STAATSVERWALTUNG IN PREUSSEN ZUR ZEIT DES TODES V O N HARDENBERG Mit dem Tode Hardenbergs am 26. November 1822 fand eine einschneidende Änderung in der obersten Staatsverwaltung in Preußen statt. Das Amt des Staatskanzlers hörte auf zu bestehen; das Staatsministerium wurde eine kollegiale Behörde, bei deren Sitzungen der älteste Minister präsidierte. Einigen Ministern wurde der ständige Vortrag beim König übertragen. Die Arbeiten zur Geschichte des Staatsministeriums 1 geben nur die Tatsache der neuen Verwaltungsform in den obersten Staatsbehörden - Staatsministerium und königliches Kabinett - an, ohne die Einflüsse und Überlegungen, die dazu geführt haben, im einzelnen mitzuteilen. Die Gründe für diese Entwicklung beruhten auf personellen, überwiegend aber auf politischen Erwägungen. Die politischen Absichten, die zu der späteren Form der Staatsverwaltung geführt haben, traten schon in den letzten Jahren Hardenbergs in Erscheinung. Hardenbergs alles beherrschende Stellung als Staatskanzler war in seinen letzten Lebensjahren bereits geschwächt. Fortschrittlich wie reaktionär Gesinnte stemmten sich seiner Macht in gleicher Weise entgegen. Auf der einen Seite drang man auf die Erfüllung des Versprechens Friedrich Wilhelms I I I . von 1815, Preußen eine Verfassung zu geben2 und damit dem „Zeitgeist" entgegenzukommen. Auf der anderen Seite stand die Furcht vor diesem Zeitgeist, weil er sich zu einer Revolution gegen das monarchische Prinzip nach dem französischen Muster von 1789 auswachsen könnte. Die Differenz der 1

O t t o Hintze,

Epochen

Das

der preußischen

preußische

Staatsministerium

Geschichte.

Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. F. Härtung, Leipzig

1943, S. 563 ff. Werner Frauendienst, Das preußische

im

19. Jahrhundert,

Staatsministerium

in

in:

des preußischen

Staatsministeriums,

und

vorkonstitutioneller

Zeit, in: Ztschr. f. die gesamten Staatswiss. 1960, S. 140 ff. Ernst Klein, Funktion deutung

Geist

und

Be-

in: Jb. f. die Gesch. Mittel- u. Ostdtsch. 9/10

(1961), S. 195 ff. 2

Edikt vom 22. Mai 1815 in: Gesetzessammlung, S. 103 und 13. Art. der deutschen Bun-

desakte vom 8. Juni 1815 in: G. F. de Martens, Recueil S. 362.

des traites ...,

Bd. 6, Güttingen 1818,

DIE OBERSTE STAATSVERWALTUNG I N PREUSSEN

183

Standpunkte in diesen Fragen beeinflußte auch die Bildung und Zusammensetzung der obersten Staatsbehörden. Hardenberg glaubte, diesem Zeitgeist Rechnung tragen zu müssen und die Einlösung des Versprechens für eine Verfassung nicht länger aufschieben zu dürfen. 3 Am 3. Mai 1819 legte er dem König den Entwurf einer an ihn selbst gerichteten Kabinettsorder vor, in der er beauftragt wurde, eine Verfassung ausarbeiten zu lassen.4 Damit rief er die Reaktion auf den Plan. Die Ermordung Kotzebues, am 23. März 1819, hatte die Gemüter stark erregt, und der ängstliche König wandte sich in dieser Frage einer Konstitution zunächst an den Fürsten Wittgenstein, den maßgebenden Vertreter der Hofpartei und der Reaktion in Preußen. Wittgenstein 5 war damals Polizeiminister, gab zwar dieses Amt im August 1819 an den Innenminister v. Schuckmann ab und wurde Minister des königlichen Hauses, blieb aber mit Schuckmann in allen Fragen der politischen Polizei in engem Kontakt. Nach Stein besaß er „alle Eigenschaften, um ohne Kenntnisse, innern Gehalt und Tüchtigkeit sich eine vorteilhafte Stellung im Leben zu verschaffen — schlau, kalt, beredinend, beharrlich, bis zur Kriecherei biegsam". Hardenberg habe er sich verpflichtet, indem er ihm Geld vorgeschossen habe.6 An anderen Stellen nennt er ihn ein „Mittelding von Höfling und Lakaien", 7 „niederträchtig und auch schwachköpfig".8 Und auch Boyen bezeichnet ihn als „Premierminister hinter der Gardine". 9 Eine ähnliche Charakteristik bringt Varnhagen unter dem 12. Juni 1822: „Ein hiesiger Staatsbeamter sagt, hier sei der Fürst von Wittgenstein als Hauptführer alles Schlechten anzusehen, ihm sei nichts heilig, kein Mittel zu schlecht, kein Gefühl störe ihn, er sei der absolute Egoismus mit unwiderstehlicher Neigung zur Hinterlist, zur Verstellung, zum Betrüge. Wenn er seine persönlichen, auch noch so kleinen Zwecke verfolge, achte er nicht auf den allgemeinen, auch noch so großen 3

P. Haake, König Friedrich Wilhelm III., Hardenberg und die preußische Verfassungsfrage, in: Forschgg. z. brand. u. preuß. Gesch. 30 (1918), S. 344. 4 Der Entwurf der Kabinettsorder ist abgedruckt bei A. Stern, Geschichte Europas, Bd. 1, Stuttgart 1899, Anhang Nr. IX. 5 Eine zusammenhängende Biographie über Wittgenstein gibt es bisher nicht. Angeführt sei W. Weyer, Die Anfänge des preußischen Haus- und Polizeiministers Fürsten Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Marburg 1927, und L. Dehio, Wittgenstein und das letzte Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III., in: Forschgg. z. brand. u. preuß. Gesch. 35 (1923), S. 213 bis 240. 6 Autobiographie Steins. E. Botzenhart, Freiherr vom Stein, Bd. 6, Berlin 1934, S. 168 f. 7 Brief an Spiegel vom 15. 2. 1823. Botzenhart, a. a. O., Bd. 6, S. 200. 8 Brief an die Gräfin Reder vom 22.4.1823. Botzenhart, a.a.O., Bd. 6, S. 212. 9 F. Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bd. 2, Stuttgart 1899, S. 311.

184

HANS BRANIG

Schaden, der sich daran knüpfe. Sowie etwas mißlinge, ziehe er sich gleich davon zurück, und sei darin ganz aufrichtig, denn er wolle ja nur das Gelingende jedesmal mit." 10 Bei solchen Äußerungen fällt es schwer, Srbik zu folgen, der meint: „Vielleicht wird die Zukunft auch das noch heute aufrechte, höchst abfällige Urteil über Wittgensteins Charakter und politisches Denken einigermaßen mildern. Auch hier scheint mir Steins leidenschaftlicher Schuldspruch mehr als billig nachzuwirken." 11 Der verhältnismäßig umfangreiche Nachlaß des Fürsten Wittgenstein, in den auch Papiere Hardenbergs gelangt sind, ist erhalten. 12 Darin befinden sich einige Schriftstücke, die von der Form der obersten Staatsverwaltung in Preußen handeln und die im folgenden mitgeteilt werden sollen. Wenn sie auch nidits direkt Neues bieten, so können sie doch bis zu einem gewissen Grade das Bild vervollständigen und bereichern. Wittgenstein ließ nun über den Entwurf Hardenbergs zu der Kabinettsorder Gutachten anfertigen, und zwar von dem Außenminister v. Bernstorff, dem Innenminister v. Schuckmann, dem Legationsrat Ancillon und, was wichtig erscheint, von Otto Karl Friedrich v. Voß. Voß war früher Minister im Generaldirektorium für Südpreußen, Pommern und die Neumark gewesen und 1809 aus dem Staatsdienst ausgeschieden. Er war ein entschiedener Feind Hardenbergs, mit dem er sich 1807 entzweit hatte, was so weit ging, daß er ihn zum Duell fordern wollte. 13 Voß war der entschiedenste Verfechter der alten ständischen Vorrechte des Adels. Diesen eingefleischten Reaktionär zog jetzt Wittgenstein aus der Versenkung hervor, um ihn gegen Hardenberg auszuspielen. Die Gutachten, die diese Freunde Wittgensteins verfaßten, waren natürlich völlig ablehnend. Ancillon schrieb unter dem 20. Mai 1819: „Die Hauptsache bleibt immer, die Einheit, die Kraft, die freie Beweglichkeit der allein schützenden und zusammenhaltenden königlichen Gewalt zu retten." 14 Voß bemerkte: „Die vorgeschlagenen Institutionen würden die ganze gegenwärtige Verfassung des preußischen Staates in ihrer Grundlage tief erschüttern und sie in eine dazu sehr beschränkte konstitutionelle Monarchie verwandeln." 15 10 K. V. Varnhagen v.Ense, Blätter aus der preußischen Geschichte, Bd. 2, Leipzig 1868, S. 137. 11 H . Srbik, Metternich, Bd. 1, München 1925, S. 775 u. Anm. 4 zu S. 582. 12

Früher im Hohenzollernsdien Hausarchiv, jetzt im Geheimen Staatsarchiv in BerlinDahlem (GStA.), Rep. 192 "Wittgenstein. 13

H. v. Petersdorff in: Allgem. Dt. Biographie, Bd. 40, S. 352 ff.

14

GStA. Rep. 192 Wittgenstein V, 6, 2. Bei Haake (s. Anm. 3) werden diese Gutachten nicht erwähnt. 15

GStA. Rep. 192 Wittgenstein V, 6, 1.

DIE OBERSTE S T A A T S V E R W A L T U N G I N

PREUSSEN

185

Durch die Karlsbader Beschlüsse Ende Juli 1819 wurde die Hofpartei in Preußen noch mehr gestärkt. Hardenberg hatte dem Drängen Metternichs nachgeben müssen mit Rücksicht auf die Demagogenfurcht in Berlin. „Der Wiener Staatsmann brauchte sich Preußen nicht aufzudrängen, das revolutionsbesorgte Preußen rief nach seiner Tat und seinem Rat." 1 6 Zwar hatte er vor seiner Reise nach Karlsbad noch durchsetzen können, daß eine Kommission zur Ausarbeitung einer Verfassung unter seinem Vorsitz eingerichtet wurde; aber nun erfolgte ein Vorstoß gegen seine Stellung von Seiten der Reformpartei unter Führung Wilhelm v. Humboldts, der seit Anfang August 1819 als Minister für ständische, kommunale und provinziale Angelegenheiten in Berlin tätig war. Das Staatsministerium hatte seit einem halben Jahr vom König den Auftrag, sidi grundsätzlich zur Lage des Staates und über die mögliche Abhilfe bestehender Schäden der Verwaltung zu äußern. Humboldt verfaßte darüber eine ausführliche Denkschrift vom 26. August 1819,17 die in der Forderung gipfelte: Das A m t des Staatskanzlers, welcher eine selbständige Kontrolle über die Verwaltung des Ministeriums ausübt, muß fallen, um einer gemeinsamen Verantwortlichkeit aller Minister Platz zu machen.18 Bezeichnenderweise war diese Eingabe auch von den reaktionären Ministern Schuckmann, Kircheisen und Lottum mit unterschrieben.19 Hardenberg konnte zwar diese Forderung Humboldts abwehren; die Kabinettsorder vom 21. Oktober 1819 bestätigte seine bisherigen Befugnisse im vollen Umfange. 20 Aber es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Vorstoß Humboldts gegen den Staatskanzler der Reaktion in die Hände arbeitete. Die Denkschrift gab der viel stärkeren Hofpartei neuen Anlaß, eine Änderung in der Organisation der obersten Staatsverwaltung in ihrem Sinne anzustreben. Hardenberg war den Parteigängern der Reaktion ja gerade deswegen ein Dorn im Auge, weil er im wesentlichen die Humboldtschen Ideen vertrat, die ohne ihn, das hatte Humboldt offenbar verkannt, in 16

Srbik, Metternich,

17

Abgedruckt in Humboldts Gesammelten Schriften, hrsg. von der Akad. d. Wiss., Bd. 12,

Bd. 1, S. 583.

Berlin 1915, S. 322—342. 18

„In dieser Stellung des Staatsministerii..., über welchen sowohl in der Gesammtheit

als über die einzelnen Ministerien der Staatskanzler die Oberaufsicht und Kontrolle jeder Verwaltung hat und insofern an der Spitze einer jeden steht, ist von dem Begriff einer Centralisirung der Verwaltung im Staatsministerium mit gemeinsamer

Verantwortlichkeit

kaum eine Spur zu erkennen. Es ist daher erforderlich, daß der Staatskanzler die begonnene Vereinigung mit dem Staatsministerium vollende und sich mit demselben als eine und dieselbe Behörde betrachte, von der er das Haupt ist." 19

S. A . Kaehler, Wilhelm

20

GStA. Rep. 90, Staatsministerium N r . 393. Vgl. Hintze, Das preußische

rium . . . , S. 597.

von Humboldt

und der Staat, Berlin 1927, S. 425. Staatsministe-

186

HANS BRANIG

dem damaligen Preußen sicher nicht durchzuführen waren. 21 Varnhagen beurteilte die Situation Hardenbergs doch wohl ganz richtig: „Inzwischen haben andere ihm den Zugang zur höchsten Wirksamkeit umsponnen, und er kann nicht mehr, was er früher gekonnt und gewollt; abtreten jetzt in der größten Verwirrung ist unmöglich, zu einem Ruhe- und Wendepunkt muß er die Dinge nun weiter bringen, also um jeden Preis jetzt nur vor der Hand seinen Posten behaupten, deshalb nachgeben und sich in Richtungen drängen lassen, die nicht die seinigen sind, und von denen er am wenigsten eingestehen darf, daß es nicht die seinigen sind."22 Eine wesentliche Verstärkung erhielten die extremen Konservativen durch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der nach seinem 25. Geburtstag am 15. Oktober 1819 vom König zu den Staatsgeschäften hinzugezogen wurde, einen Sitz im Staatsrat erhielt und an den Sitzungen des Staatsministeriums teilnahm. Sein Ärger über Hardenberg wurde durch das Staatsschuldengesetz vom 17. Januar 1820 erregt, in dem die Bewilligung neuer Steuern an die Zustimmung durch die einzurichtenden Reichsstände geknüpft wurde. Dazu kam die Auflösung des ritterschaftlichen Kreditinstituts der Provinz Brandenburg, wogegen der Adel opponierte. 23 Der Kronprinz, ein Verfechter der alten ständischen Ideen, machte seiner Empörung über die Zurücksetzung des Adels in einem Brief an Hardenberg vom 25. Mai 1820 Luft. 24 Wie abfällig er über die Verwaltung Hardenbergs dachte, hat er später in einem Brief an Wittgen21

Die Beurteilung Hardenbergs in seinen letzten Lebensjahren ist sehr unterschiedlich. Meinecke (Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bd. 2, S. 376 f.) wirft ihm Charakterlosigkeit und Egoismus, verbunden mit lavierender Diplomatie, vor. Haake (Forsdigg. z. brand. u. preuß. Gesch. 30, 1918, S. 331 f.) betont dagegen die Berechtigung der Haltung Hardenbergs unter den gegebenen Umständen. Kaehler (Wilhelm von Humboldt..., S. 426) hat das noch schärfer zum Ausdruck gebracht. Meinecke hat später seine schlechte Meinung über Hardenberg damit erhärtet, daß er eine Notiz gefunden habe, nach der H a r denberg den Fürsten Wittgenstein als seinen Nachfolger vorgeschlagen hat (Forsdigg. z. brand. u. preuß. Gesch. 32, 1920, S. 115, Anm. 2). Das konnte Hardenberg aber nur getan haben, um Wittgenstein in Verlegenheit zu setzen; denn dieser war und blieb der Höfling und Intrigant im Hintergrund, der die offene Verantwortung scheute. Jedenfalls war das in Berlin eine weit verbreitete Ansicht. Varnhagen v. Ense (Blätter aus der preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 54) berichtet: „Man glaubt, er (Wittgenstein) wage nicht hervorzutreten . . . Ein Herr vom H o f e behauptet, Wittgensteins ungeheurer Einfluß beim König würde sogleich gefährdet sein, wenn er ihn dem König merkbar werden ließe." Und S. 68: „Man sagt, es sei dem Fürsten Wittgenstein das größte Glück, daß der Kanzler noch nicht sterbe, sonst müßte er endlich, was er so lang und sorgsam vermieden, einmal selbst vortreten." 22

Varnhagen v. Ense, a. a. O., Bd. 1, S. 92. H . Thierfelder, Rother als Finanzpolitiker z. brand. u. preuß. Gesch. 46 (1934), S. 94 ff. 24 P. Bailleu, Kronprinz Friedrich Wilhelm S. 67—73. 23

unter Hardenberg im Ständekampf

1778—1822, in: Forschgg. 1820, in: H Z 87

(1901),

DIE OBERSTE STAATSVERWALTUNG IN PREUSSEN

187

stein vom 12. Januar 1822 deutlich zum Ausdruck gebracht; er schreibt: „Ich gehe mit dem Gedanken herum, den König zu bitten, mich von aller Theilnahme und Verantwortlichkeit beym Ministerium zu entbinden . . . Was zuförderst die Stellung des Ministerii betrifft, so kann's darüber kaum 2 Meinungen geben. Für die activen Minister ist diese Stellung in einem solchen Grade erbärmlich, daß ein hoher Grad von Kühnheit dazu gehört (um nicht mehr zu sagen), noch als Minister zu fungieren. Die Herren haben eine Contenance, die mir fremd ist . . . Die Hauptsache ist, daß ich immer mehr und mehr die Überzeugung gewinne, daß der Staatskanzler seine Stellung sowohl zum König als zum Ministerio auf eine höchst beklagenswerthe Weise mißbraucht. Ich weiß so gut wie Sie, lieber Fürst, daß dies meist daher rührt, daß er selbst von gewissenlosen oder doch zum wenigsten sehr leichtsinnigen Menschen in demselben Grade mißbraucht wird. - Ich spreche hier nur in Thatsachen, und die sind leider so beschaffen, daß ich's nicht länger ruhig mit ansehen kann. Das Ministerium ist für alle großen und wichtigen Staatsangelegenheiten wirklich zur ausführenden Behörde der Hirngespinste von den Räthen aus der Staatskanzeley herabgesunken!! Was hätte wohl nothwendiger durch die Berathungen des ministerial- und Staatsrathes gehen müssen als das Staatsschulden-Edict?! Dies Fabrikat des Herrn Rother (von welchem er gerühmt, daß die Stelle von den Reichsständen ihm durch Inspirazion eingegeben worden sei) ist z. B. dem Schatzminister erst durch den Druck bekannt geworden!!! Da der Staatskanzler bey jeder Gelegenheit den Ständischen Angelegenheiten Erwähnung thut, so hätte man conséquent erwarten müssen, daß er alles noch bestehende Ständische Wesen in gewissenhaftem Respect halten werde. - Gerade das Gegentheil! - " Als Beweis dafür führt der Kronprinz die Auflösung der Kurmärkischen Landschaft an und fährt fort: „Sachen, die in das Leben des Staates und der einzelnen Stände, in den Credit, in's Eigentum der Vasallen und Unterthanen, ja sogar des Hauses eingreifen, Sachen, für welche allein eigentlich Ministerium und Staatsrath da seyn sollten, gehen fast nie durch dieselben." Als er deswegen Hardenberg Vorhaltungen gemacht habe, habe dieser ihm beweisen wollen, „alles Ständische und alle ständische Administrazion habe seit 200 Jahren ganz aufgehört und alles, was man bis jetzt noch so geheißen, sowie alle darauf sich beziehende kgl. Edicté, Huldigungsversprechen etc. sey nur eine façon de parier gewesen!"25 Friedrich Wilhelm hatte also die gleiche Absicht wie Humboldt, nämlich den Staatskanzler aus seiner zentralen Stellung zu drängen; die Motive dazu sind aber genau entgegengesetzt. Während Humboldt den Fürsten Hardenberg beiseite schieben wollte, weil er seine Ideen von einem 25

GStA. Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 5.

188

HANS BRANIG

modernen Staat nicht schnell und konsequent genug durchführte, wollte der Kronprinz Hardenbergs Einfluß beschränken, weil dieser seinen reaktionären Vorstellungen einer ständischen Adelswirtschaft nicht entsprach. Es ist müßig zu fragen, ob ein kraftvollerer Geist als der „überalterte und auch sittlich belastete Kanzler" 2 6 sich gegen die ausgesprochen absolutistischen Anschauungen des Königs und gegen den Adel am Hofe hätte durchsetzen können. Selbst ein so lebhaft für den Fortschritt eintretender Mann wie E. M. Arndt schreibt rückblickend 1858 in Erwägung des Gedankens, daß Hardenberg die Wittgenstein, Schuckmann und Lottum hätte davonjagen sollen: „Auch ein [Fhr. vom] Stein hätte das zulezt nicht mehr gekonnt." 27 Gerade die Art, in der Hardenberg die Verfassungsfrage auffaßte, machte ihn beim König verdächtig und gab der Kritik Wittgensteins und seiner Gesinnungsgenossen Auftrieb. Anläßlich der bevorstehenden Konferenz in Troppau war Hardenberg von Friedrich Wilhelm III. aufgefordert worden, „die Grundzüge einer Verfassung, wie Sie solche nach Ihren Ansichten am zweckmäßigsten für meine Staaten halten, in einem kurzen Aufsatz zu entwerfen", 28 und er hatte dieser Aufgabe mit einer Denkschrift vom 10. Oktober 1820 entsprochen. Metternich, der durch seinen Berliner Gesandten Zichy davon erfuhr, benutzte den ihm vertrauten Wittgenstein, um Friedrich Wilhelm III. zwei Ausarbeitungen zukommen zu lassen, zu denen Wittgenstein mündlich den nötigen Kommentar geben sollte. In diesen Schriften warnte Metternich vor den neuen Theorien und empfahl die Anwendung echter und besser erprobter Regierungsgrundsätze.29 So wurde Wittgensteins Stellung auch durch die Autorität des österreichischen Staatsmannes wesentlich gefestigt. Er konnte es sich daher leisten, ein Jahr darauf selbst einen Angriff gegen die Position des Staatskanzlers vorzunehmen. Bei der Mainzer Kommission zur Untersuchung von demagogischen Umtrieben war man auf den Hoffmannschen Bund von 1815 und Hardenbergs 26

E. Mareks, Der Aufstieg

des Reiches, Bd. 1, Berlin 1936, S. 127. Der 70jährige Harden-

berg war oft krank und mußte sich für längere Zeit auf seinen Landsitz in Glienicke bei Potsdam zurückziehen. In Berlin kolportierte man das boshafte Wortspiel „Glinike sei jetzt Klinike" (Varnhagen v. Ense, Blätter aus der preußischen

Wittgensteins,

Geschichte,

Bd. 2,

S. 17). Ober die peinlichen Verhältnisse im Hause Hardenbergs, besonders über seine Beziehungen zu Friederike v. Kimsky geb. Hähnel, siehe F r . v. Oppeln-Bronikowski, geschichten 27

am preußischen

E. M. Arndt, Meine

Karl Friedrich

Hofe,

Liebes-

Berlin 1928, S. 181 ff.

Wanderungen

und Wandelungen

mit dem Reichsfreiherrn

Heinrich

vom Stein, Berlin 1858, S. 252.

28

Handschreiben Friedrich Wilhelms III. vom 2. Okt. 1820 (Rep. 192 Wittgenstein V I I K 7).

29

A. Stern, Hardenbergs

und Metternichs

Troppauer

Denkschrift Memoire,

über

die preußische

Verfassung

vom

10. Okt.

in: Forschgg. z. dt. Gesch. 26 (1886), S. 321 ff.

1820

DIE OBERSTE STAATSVERWALTUNG IN PREUSSEN

189

Verbindung zu ihm gestoßen, die dem Staatskanzler durch Justus Gruner, damals Gouverneur in Düsseldorf, vermittelt worden war. 30 Wittgenstein machte sich diese Tatsache jetzt zunutze. In einem Schreiben vom 4. Dezember 1821 warf er Hardenberg diese Beziehungen zum Hoffmannschen Bund vor und forderte von ihm, daß er dem Legationsrat Eichhorn, den "Wittgenstein staatsfeindlicher Gesinnung beschuldigte, einen Geschäftskreis anweise, in dem er keinen politischen Schaden anrichten könne. Wittgenstein fährt in seinem Brief dann fort: „Können Sie sich hierzu nicht entschließen, so müssen Sie mir es schon verzeihen, wenn ich dem Gedanken Raum gebe, daß er [Eichhorn] einen nachteiligen Einfluß auf Sie ausübt. In einem solchen Fall würde ich mich aber verpflichtet halten, S. M. hierauf aufmerksam zu machen und Allerhöchstdieselben auf das Ehrerbietigste und Dringenste zu bitten, gnädigst zu befehlen, daß noch eine oder mehrere Personen Ihrem Vortrag bei S. M. beiwohnen oder daß Sie Allerhöchstdenselben alle Gegenstände Ihres Vortrages schriftlich einreichen. Bei der Schwierigkeit Ihres Gehörs dürfte Ihnen dieses vielleicht selbst am angenehmsten sein, und wenn ich mich nicht sehr irre, so dürfte ein solcher Antrag bei S. M. willkommen seyn. Ich weiß es aus früheren Äußerungen des Königs Maj., daß Allerhöchstdieselben den Vortrag in Gegenwart von einigen Persohnen gerne haben, damit wichtige Gegenstände von mehreren Seiten beleuchtet werden . . ." 3 1 Gegen dieses Ansinnen wehrte sich Hardenberg mit aller Energie. In seiner Antwort an Wittgenstein vom 11. Dezember 1821 räumte er zwar ein, daß andere von Fall zu Fall zu den Vorträgen hinzugezogen werden könnten. „Allein daß es regelmäßig angeordnet werde, dazu kann ich midi durchaus nicht verstehen, weil meine Ehre vor dem Publicum, vor der ganzen Staatsdienerschaft, ja ich darf hinzusetzen vor aller Welt, empfindlich darunter leiden würde." Im Weiteren berührte er den Verdacht gegen Eichhorn und seinen angeblich ungünstigen Einfluß und fuhr dann fort: „Die Veranlassung hierzu [den Vorschlag für die Anwesenheit dritter bei den Vorträgen vor dem König] ist also doch ein Mißtrauen Ihrerseits, Sie mögen mir auch noch so sehr zu 30

v. Gruner, Justus Gruner

und der Hojfmannsche

Bund, in: Forschgg. z. brand. u. preuß.

Gesch. 19 (1906), S. 4 8 5 — 5 0 7 . 31

Dieses Schreiben sowie die folgenden im Geheimen Staatsarchiv Dahlem, Rep. 192

Wittgenstein VI, 1, 12. Auf diesen Versuch Wittgensteins, seine ständige Anwesenheit bei den Vorträgen Hardenbergs vor dem König durchzusetzen, hat schon P. Haake Friedrich

Ancillon

und Kronprinz

Friedrich

Wilhelm

IV.

von Preußen,

(Johann

Berlin 1920, S. 138,

Anm. 1) hingewiesen, aber nur einige Auszüge aus je einem Brief Wittgensteins und Hardenbergs gebracht, der die Schärfe des Vorgehens von Wittgenstein nicht voll erkennen läßt. Es sollen daher im folgenden noch einige Schreiben zu dieser Angelegenheit mitgeteilt werden.

190

HANS BRANIG

meiner Beruhigung versichern, daß Sie an der Reinheit meiner Gesinnungen und Absichten nicht zweifeln." Noch nachdrücklicher äußerte Hardenberg sich dem König selbst gegenüber in dieser Frage. Friedrich Wilhelm III. hatte Hardenberg in einem Handschreiben vom 5. Juli 1822 in diesem Zusammenhang seines Vertrauens versichert, aber hinzugefügt: „Das aber kann ich Ihnen nicht verhehlen, daß es mir unserer beiderseitigen Individualitäten wegen öfters schwer fällt, mich ausführlich mit Ihnen zu berathen . . . Mir und Ihnen zur Erleichterung finde ich es daher rathsam und nützlich, einen dritten zu Ihren Vorträgen hinzuzuziehen, der uns über abweichende Ansichten zu vereinigen sucht und ich habe dazu den Fürsten Wittgenstein ausersehen . . . " Hardenberg antwortete darauf am 8. Juli 1822: „Ein dritter soll regelmäßig meinem Vortrage beywohnen und gleichsam mein Controlleur dabey seyn . . . E. M. glauben, daß die Sachen nicht gehörig discutiert, Daß Höchstihre Ansicht oft nicht recht aufgefaßt wird. Ich weiß mir würklich keines Falls zu entsinnen, wo diese Ihre Ansicht nicht meine erste Richtschnur gewesen wäre. Aber die Ansicht eines dritten kann unmöglich hinreichend vorbereitet zu Diskussionen seyn; sie kann nicht daher irgendeinen Nutzen haben und muß in unabsehbare Einwendungen und Stockungen ausarten. Die Sachen, die ich E. M. vortrage, sind, wenn sie von Wichtigkeit sind, sehr sorgfältig von den Behörden durchdacht und vorbereitet. Ich höre, man hat midi beschuldigt, daß ich das Ministerium nicht zu Rathe ziehe und seiner Meinung entgegenwirke. Diese Beschuldigung ist würklich nicht gegründet. Alle Dinge, die irgend dazu geeignet sind, weise ich dem Ministerio zu, und wo ich seiner Meinung nicht seyn kann, ist es ja Pflicht und meines Amtes, es E. M. bemerklich zu machen. Durch die Zuziehung eines dritten muß ich nothwendig alles Vertrauen in mich selbst verlieren und meine ganze Dienststellung bei E. M. wird dadurch wirklich ganz aufgelöst und nicht allein mit einem anderen getheilt, sondern auf ihn übertragen . . . Es ist mir also nach reifester Prüfung und Überlegung ganz unmöglich, nach dem ehrenvollen Verhältnis, in dem ich bisher bey E. M. zu stehen das Glück gehabt, in jenes zu treten." Der Brief schließt mit dem Hinweis, daß er im Alter von 72 Jahren ein Bedürfnis nach größerer Ruhe und Abgeschiedenheit habe. Nach seiner Rückkehr aus Pyrmont wolle er bei dem König „auf jenes beschränkte Verhältnis und meine Zurückgezogenheit" antragen. - Nach der Rückkehr Hardenbergs aus Pyrmont Mitte September war aber der König nach Potsdam gegangen, und Hardenberg hatte den Auftrag erhalten, nach Wien und Verona zum Kongreß zu fahren. Infolgedessen sind die Vorschläge über die Form der Vorträge beim König unterblieben.

DIE OBERSTE STAATSVERWALTUNG IN PREUSSEN

191

Einen weiteren Affront für den Staatskanzler bedeutete es, daß der Kronprinz und Wittgenstein die Berufung des alten Ministers v. Voß in das Ministerium durchsetzten, und zwar als Vizepräsident des Staatsministeriums und des Staatsrats. Voß hatte, seitdem Wittgenstein ihn in der Verfassungsfrage um Rat gebeten hatte, immer mehr Einfluß auf die Geschäfte gewonnen. Sein Wirken für eine ständische Adelsvertretung hatte ihn auch dem Kronprinzen sympathisch gemacht. Dieser hatte Voß 1821 zu den Beratungen über die Provinzialstände hinzugezogen. Dabei war er wegen seiner reaktionären Gesinnung sofort mit Vincke aneinander geraten. 32 Auch der König soll im Sommer 1822 mehrfach bei Voß Rat gesucht und ihn auf seinem Landsitz in Buch besucht haben. 33 Dabei wurde immer deutlicher, daß die Erzkonservativen Voß an die Stelle von Hardenberg setzen wollten. Ancillon hatte diesen Gedanken in einem Brief an den Kronprinzen vom 1. Juli 1822 ausgesprochen und damit einem in der Luft liegenden Plan Ausdruck verliehen. 34 Der nächste Schritt dazu sollte seine Beförderung zum Vizepräsidenten sein. Diese Berufung des Herrn v. Voß in das Staatsministerium mußte Hardenberg wie ein Schlag ins Gesicht empfinden. 35 Er hatte deshalb versucht, die Ernennung wenigstens abzuschwächen. Davon zeugen die Briefe vom 18. September 1822, mit denen der Kronprinz und besonders Wittgenstein in scheinheiliger Weise den Staatskanzler drängten. 36 Friedrich Wilhelm schreibt: „Der Fürst Wittgenstein hat mir noch heute seine Bedenken über die Fassung der Cabinets Ordre wegen des Eintritts des Herrn v. Voß in's Ministerium mitgetheilt. Er hat mir geschrieben, daß er Ihnen selbst diese Bedenken vorgetragen hat und daß Sie, lieber Fürst, geäußert haben, Sie seyen bereit, eine neue Fassung dem König vorzulegen, falls ich die Ansicht des Fürsten theilen sollte und wollten dann die Fassung dahin abändern, daß dem Herrn v. Voß förmlich das Vicepraesidium des Ministerii und des Staatsraths übertragen würde." Wittgenstein beruft sich darauf, daß Hardenberg ihm zugesagt habe, die Kabinettsorder könne noch auf den Vizepräsidenten für Herrn v. Voß abgeändert werden, wenn der Kronprinz es wünsche. „Da dieser Vorschlag einzig und allein von Ihnen kommt, Sie dem Prinzen diese Idee durch mich haben mittheilen lassen und S. K. Hoheit den selben mit großer Freude und Dankbarkeit aufgenommen haben, so bin ich überzeugt, daß es dem Prinzen sehr leid seyn wird, daß diese Ernennung nunmehro nicht ausgesprochen ist, besonders da S. K. Hoheit den 32

Varnhagen v. Ense, Blätter aus der preußischen Geschichte, Bd. 2, S. 109.

33

Varnhagen, a.a.O., S. 145. F.Meusel, Friedrich August v. d. Marwitz, 1908, S. 669. 34 Haake, Johann Friedrich Ancillon ..., S. 146, Anm. 2. 35

v. Petersdorff in: Allgem. Dt. Biographie, Bd. 40, S. 360.

36

Rep. 192 Wittgenstein VI, 1, 12.

Bd. 1, Berlin

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H A N S BRANIG

Staatsminister v. Voß davon unterhalten und demselben gesagt haben, daß dieser Vorschlag ganz allein von Ihnen komme. Nie würde der Prinz einen solchen haben machen können." Hardenberg hat auch hier nachgegeben; die Kabinettsorder vom 18. September 1822 enthielt Voß' Ernennung zum Vizepräsidenten. 37 Hardenberg notierte dazu: „Hierauf kam der H . v. Voß noch am selbigen Abend zu mir." So war es kein Wunder, daß man nach dem Tode Hardenbergs das Staatskanzleramt eingehen ließ, wie ja auch Hardenberg selbst vorgeschlagen hatte, da kein geeigneter Nachfolger vorhanden war. In welcher Weise aber die oberste Staatsverwaltung in Preußen organisiert werden sollte, darüber war man sich im einzelnen durchaus nicht klar. Wie sollte die Einheit der Verwaltung gesichert werden? Wie sollte das Staatsministerium eingerichtet und wie sollte sein Verhältnis zum königlichen Kabinett geregelt werden? Zunächst wurde mit der Kabinettsorder vom 2. Dezember 1822 v. Voß zum Präsidenten des Staatsministeriums und des Staatsrats ernannt, ohne daß seine Funktionen näher gekennzeichnet wurden. 38 Er hat diese Stellung auch nur knapp zwei Monate inne gehabt. Am 30. Januar 1823 ist er gestorben. Am Hofe hatte er höchstes Vertrauen genossen; man hielt ihn für unersetzbar. Der Kronprinz soll scherzend gesagt haben, „er nähme den Abschied, wenn Voß stürbe". Im Volksmund aber hieß er der Marschall Rückwärts. 39 Über die Kompetenzen und den Geschäftsbereich sowie über die Person des Nachfolgers ist vielfach diskutiert worden. In dem Nachlaß des Herrn v. Voß hatte man eine Ausarbeitung von Moritz v. Schönberg40 über die Stellung des Herrn v. Voß als Präsident des Staatsministeriums gefunden. Er wurde daher von Wittgenstein aufgefordert, für die durch den Tod von Voß eingetretene Situation seine Gedanken zu äußern. 41 Nach den Vorschlägen v. Schönbergs soll der Präsident des Staatsministeriums ein eigenes Ministerium haben, das aus dem Büro des Staatskanzlers gebildet werden könnte; es soll zugleich dem Staatsministerium als Büro dienen. Dem Präsidenten steht die Einsicht aller Akten und Schriften sämt37

Gesetzessammlung, S. 214.

38

GStA. Rep. 90 (Staatsministerium) Nr. 396.

39

Varnhagen v. Ense, Blätter

40

aus der preußischen

Geschichte, Bd. 2, S. 276 u. 284.

Moritz Haubold v. Sdiönberg stammte aus sächsischem Adel und war ein Verfechter der ständischen Interessen des Adels. Sein Schwiegervater war der Graf zu Stolberg-Wernigerode. 1815 trat er in preußische Dienste und wurde Chefpräsident der Regierung in Merseburg. 1821 wurde er in die Kommission zur Bildung der Provinzialstände berufen und 1822 zum Mitglied des Staatsrats ernannt. Vgl. auch H. Branig, Die Oberpräsidenten der Provinz Pommern, in: Balt. Studien, N F 46 (1959), S. 96 u. 106. 41 Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 9.

DIE O B E R S T E S T A A T S V E R W A L T U N G I N P R E U S S E N

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licher Verwaltungen offen. An sein Ministerium werden alle zum Staatsministerium gehörenden Sachen abgegeben und gehen von da aus. Diese Konzeption für die Stellung des Präsidenten des Staatsministeriums ist sehr weitgehend und entspricht fast dem früheren Wirkungskreis des Staatskanzlers. Man darf annehmen, daß Herr v. Voß in dieser Weise seine Präsidentenstelle aufgefaßt hat und sie, hätte er länger gelebt, dahingehend auszubauen versucht hätte. Wesentlich beschränkter dachte sich diese Funktion der Chef des Militärkabinetts, Generalmajor Jobst v. Witzleben. 42 Er schreibt in seinen „Ideen zu einer Instruktion für den Präsidenten des Ministerii und des Staatsrats" vom 9. März 1823: 4 3 „Es scheint besonders wichtig, den Grundsatz festzuhalten, daß der Präsident keine Behörde sei, daher auch von ihm keine Verfügungen ausgehen können. Im Ministerio wie im Staatsrat steht er zwar an der Spitze und leitet die Arbeiten . . . hat aber in beiden Staatsbehörden keinen größern directen Einfluß, als das jüngste Mitglied desselben, da seine Stimme nicht mehr gilt als die der übrigen... In Beziehung auf die Stellung zu S. M. würde folgendes anzunehmen sein. Alle Berichte der einzelnen Minister gehen wie bisher an S. M. und werden von den beim Kabinett angestellten Personen vorgetragen, ohne daß sie, wie das beim Staatskanzler der Fall war, zuvor dem Präsidenten übergeben werden. Nur dasjenige wird ihm zugewiesen und bei S. M. von ihm zum Vortrag gebracht, was Höchstdieselben ausdrücklich dazu bestimmen." Eine andere Denkschrift 44 will den Präsidenten ganz abschaffen; an seiner Stelle könnte ein Minister „das Organ des Ministerial Raths und des Staatsraths bei dem Könige abgeben und, um dieses um so leichter und zweckmäßiger thun zu können, den Vorsitz in beiden Räthen führen, ohne das eigentliche ausgedehnte Präsidium zu haben, welches man dem Minister Voß gegeben hatte". Diese Vorträge beim König könnten am besten in Gegenwart des Kabinetts, Wittgensteins und desjenigen Ministers, den die Sache betrifft, stattfinden. Das ist ungefähr die Form, die man später angenommen hat. Die Einheit der obersten Staatsführung war also wieder nur durch die Person des Königs, wenn er diese Aufgabe bewältigen konnte, gesichert. Wem man diese Aufgabe, das Staatsministerium zu leiten und seine Verbindung mit dem König herzustellen, anvertrauen sollte, darüber sind vielfache Erwägungen angestellt worden. Gleich nach Voß' Tode hatte der König vor Wittgenstein, Witzleben und dem Kabinettsrat Albrecht den General v. LotWilhelm Dorow, Jobst v. Witzleben, Leipzig 1842. Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 6. 4 4 Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 9. Hier ist nur eine Abschrift der Denkschrift ohne Datum und Unterschrift vorhanden. Es ist aber wahrscheinlich, daß sie von Ancillon stammt. 42

43

13

Jahrbuch 13/14

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HANS BRANIG

tum genannt. 45 Zu diesem Plan hat der Kronprinz in einem ausführlichen Brief an Wittgenstein vom 31. Januar 1823 einige charakteristische Äußerungen getan. 46 Er meint, Lottum sei „idealisch gut für den Plan in ruhigen Zeiten und (das muß ich vor allem hinzusetzen) mit einem guten tüchtigen Ministerium. Nehmen wir nun ihn, BernstorfF und den Königsminister aus, wie ist dann dies Ministerium beschaffen? Altenstein, den ich liebe und schätze, ersäuft unaufhörlich in dem Strohm seiner Ideen — Kircheisen ist eine Form ohne Geist, ein Buchstabe ohne Laut - Klewitz ist eine Null - Bülow ein sehr miserabler Mann!!!, der mit Schuckmann den H a ß der Nazion theilt (in wie weit mit Recht, ist hier nicht zu erörtern) . . . Lottum kennt die Nullität dieser Herren recht gut, aber erwarten Sie nicht, daß er auch nur einen wegschafft. Dies allein ist schon eine Calamität. Und in dem unwahrscheinlichsten Fall, daß es geschähe, so ist es unter des Grafen Lottum oberer Leitung nicht möglich, ja vielleicht nicht einmal nützlich, Männer von großer Willenskraft und sehr eminenten Eigenschaften zu Ministern zu machen, denn er würde die Leitung nur noch dem Namen nach führen — und solcher Männer bedürfen wir, glaube ich, recht nothwendig, um wieder empor zu kommen — Ich glaube auch nicht, daß der Graf Lottum der Mann ist, durch ein unerschütterliches, langsames und consequentes System den Staat aus den Irrwegen auf den rechten Weg zurückzuführen, und was ist nothwendiger als das?" Ähnliche Urteile über des General v. Lottums Energielosigkeit hatten schon Motz, Vincke und Niebuhr gefällt. 47 In dem oben zitierten Brief schlug daher der Kronprinz als Präsident des Staatsministeriums nun den Feldmarschall Graf Kleist von Nollendorf vor. Er hielt ihn „für den Mann, eine große Idee consequent und bedächtig durchzusetzen. Unter ihm brauchten wir uns nicht vor kraftvollen Ministern zu fürchten." Kleist lebte seit 1820 im Ruhestand in Berlin und war 1822 in den Staatsrat berufen worden. Der Kronprinz hatte den Feldmarschall näher in den Tagen nach dem Einzug der Verbündeten in Paris kennengelernt. Ausschlaggebend für des Kronprinzen Wertschätzung war dabei wohl, daß Kleist streng konservativ gesinnt war und sich an dem Staatsbegriff Hallerscher Prägung orientierte. Als kommandierender General konnte er sich deshalb schon in Erfurt mit Motz, dem dortigen Regierungspräsidenten, nicht verstehen. 48 Der König scheint auf den Vorschlag des Kronprinzen eingegangen zu sein 45

W . Dorow, Aufzeichnungen,

Aktenstücke

und Briefe,

Bd. 1, Berlin 1845, S. 328 f. General

Wylich v. Lottum war seit dem Frühjahr 1818 Minister der Finanzen. 46

Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 6.

47

v. Petersdorff, Friedrich

48

v. Petersdorff, a.a.O.,

v. Motz, Bd. 1, Berlin 1913, S. 235. S. 181.

DIE OBERSTE STAATSVERWALTUNG IN PREUSSEN

195

und beabsichtigte, Kleist an die Spitze der Ministerien zu setzen. Doch starb der Graf, bevor er dieses Amt antreten konnte, am 17. Februar 1823. 4 9 Aber der Name eines anderen Mannes drängte sich immer wieder in die Debatte um die Besetzung der Stelle zur Führung der höchsten Staatsgeschäfte: Wilhelm v. Humboldt. Schon beim Tode von Voß schrieb die „Allgemeine Zeitung" vom 7. Februar 1823, daß man über dessen Nachfolger keine Vermutung zu äußern wage; auch der Minister v. Humboldt werde nicht genannt, „obwohl dieser sich in letzter Zeit von S. M. dem König hoch geehrt sah", und der Pariser „Courrier Français" vom 24. Februar wies auf die große Beliebtheit Humboldts in diesem Zusammenhang hin: „Les vœux du public rappellent depuis longtemps Guillaume de Humboldt au ministère ou il a déjà pendant une trop courte administration laissé les plus honorables souvenirs. Son nom se rattache aux promesses solennellement faites de donner à la Prusse une constitution représentative. M. de Humboldt avait fait nommer et présidait la commission établie pour en rédiger le projet, et le public n'ignore point que dans les conseils du roi il a toujours opiné pourqu'on gardât religieusement la foi promise." Offiziell wurde jedoch Humboldt für dieses Amt von dem Chef des Militärkabinetts v. Witzleben in seinem Promemoria vom 3. März vorgeschlagen.50 Diesen Antrag nahm Friedrich Wilhelm I I I . aber mit größter Zurückhaltung auf. Auf die Behauptung Witzlebens, daß kein anderer im ganzen Staat allen Anforderungen zu der wichtigsten Stelle des ersten Ministers in dem Maße genügen könne wie Humboldt, schreibt der König an den Rand: „Die Fähigkeiten zu einem solchen Posten besitzt der p. v. Humboldt unstreitig. Ob aber die Vorliebe, seinen Verstand brilliren zu lassen, ihn nicht auf die Abwege des modernen Zeitgeistes zu weit führen möchte, bleibt sehr ungewiß, daher seine Ernennung nur als ein Wagstück angesehen werden könnte." 5 1 Bei Witzlebens Annahme, daß Humboldt auch im Ausland Vertrauen gewinnen könnte, notierte der König: „An den beiden Kaiserhöfen wird sich das Vorurteil (wenn es eins ist) gegen Herrn v. Humboldt lange erhalten." Bei Witzlebens Feststellung, daß Humboldt die öffentliche Meinung 48

Die „Allgemeine Preußische Staatszeitung" erwähnt in ihrem Nachruf auf Kleist vom

20. u. 25. Febr. 1823 diese vorgesehene neue Aufgabe des 61jährigen Generals mit keinem Wort. Dagegen berichtet die in Augsburg erscheinende „Allgemeine Zeitung" vom 6. März 1823, daß er „noch vor seinem Tode ein huldreiches Schreiben seines Monarchen erhalten habe, welches diese Absicht außer Zweifel setzte". 50

Diese Denkschrift Witzlebens ist vollständig abgedruckt bei W. Dorow,

Aktenstücke

und Briefe,

Aufzeichnungen,

Teil 2, Leipzig 1845, S. 218 ff. Es fehlen aber dort die Randbemer-

kungen des Königs, weshalb der Inhalt der Denkschrift hier noch einmal kurz wiederholt und die Randbemerkungen des Königs angeführt werden sollen. 61

13*

Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 6.

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HANS BRANIG

für sich habe, bemerkt Friedrich Wilhelm: „Bei einer gewissen Partei ja, deren Opinion aber am wenigsten zu berücksichtigen seyn möchte." Hatte Friedrich Wilhelm I I I . in seiner vorsichtigen Art zunächst seine Bedenken geäußert, so hatte Wittgenstein in einem ausführlichen Schreiben an den König vom 22. März 1823 die Unmöglichkeit, Wilhelm v. Humboldt an die oberste Stelle des Staats zu berufen, dargelegt. 52 Nachdem er auf die „bekannten politischen und constitutionellen Grundsätze" Humboldts hingewiesen hatte, trug er besonders außenpolitische Schwierigkeiten vor: „Diese Gesinnungen und politische Grundsätze haben ihn bei beiden Kaiserhöfen würklich verdächtig gemacht und selbst der französische Cabinetsminister Herzog v. Monmorenci hat nach dem Ableben des Grafen v. d. Goltz in Verona ganz unumwunden den Wunsch ausgedrückt, daß ihm der in Paris erledigte Gesandtschaftsposten nicht ertheilt werden möge . . . Wie man über den Minister von Humboldt in Wien denkt, habe ich noch vor einigen Tagen durch den Minister v. Pleßen 5 3 in Erfahrung zu bringen die Gelegenheit gehabt: das Ableben des Ministers v. Voß hat die Veranlassung gegeben, daß man sich in Wien sehr viel von der Wiederbesetzung dieses Postens unterhalten hat und daß auch von dem M. v. Humboldt die Rede gewesen ist: der Fürst v. Metternich habe ihm aber bemerkt, daß es unter den jetzigen Verhältnissen wohl nicht möglich wäre, daß E. M. dieses beabsichtigten, indem Allerhöchstdieselben von der Wichtigkeit, die angenommenen Grundsätze [Karlsbader Beschlüsse] aufrecht zu erhalten, zu sehr überzeugt wären, um nicht den großen Nachtheil zu fühlen, der unvermeidlich daraus hervorgehen würde, wenn man einen Minister an die Spitze der Administration stellen wolle, der sich bis jetzt als der bestimmteste Widersacher und Feind dieser Grundsätze gezeigt und ausgesprochen hätte. Der Minister v. Pleßen hat mich authorisiert, dieses anzuführen, wenn solches erforderlich seyn könnte." Fast in der Form eines politischen Glaubensbekenntnisses fährt Wittgenstein fort: „Ein Mann, der an der Spitze der ganzen Staatsverwaltung stünde, müßte nothwendig, um die gerechten Erwartungen des Königs nicht zu täuschen, aus Überzeugung ein Freund, Anhänger und Verfechter des solidarischen politischen Systems und des ständischen Wesens seyn, aber beides in dem Sinn und nach dem bestimmten und ausgesprochenen Willen des Königs. Um diese zwei Punkte dreht sich heuthe unsere politische Existenz, geht man von ihnen ab, so stehen wir da ohne Haltung und Stützpunkt am Rande eines Abgrunds." 52

Ebda.

53

Leopold v. Pleßen war mecklenburgischer Staatsminister, der sich um die Regelung der

Angelegenheiten des Deutschen Bundes im österreichischen Sinn bemühte. E r besaß daher das besondere Vertrauen Metternichs, der ihm „tiefe Einsicht und vortreffliche Gesinnungen" attestierte. Allgem. Dt. Biographie, Bd. 26, S. 276.

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Von den Erwartungen oder dem Vertrauen des Volks ist dabei keine Rede. Wittgenstein erklärt denn auch im folgenden, „daß ich die Ernennung des Ministers v. Humboldt zum Praesidenten des Staatsraths und des Staatsministeriums oder die Verleihung eines einzelnen Ministeriums an denselben in dem gegenwärtigen Augenblick sehr gewagt und bedenklich halten würde". Durch einen Vergleich mit Hardenberg, den er in den letzten Jahren stets beim König verdächtigt hatte, begründet er seine Ablehnung: „Der sei. Fürst v. Hardenberg hatte leider die Schwäche, daß Umgebungen und auch andere Persohnen öfters sehr nachtheilig auf seine Ansichten würkten, die er sich eigen machte und die zu bekämpfen sehr schwer waren; man lebte daher besonders in den letzten Jahren in der Besorgnis, daß er nicht immer in dem Sinn handelte, wie E. M. dieses beabsichtigten; mit dem Minister v. Humboldt würde ganz dieselbe Besorgnis gleich anfangs eintretten müssen, besonders da man seinen Gesinnungen und Ansichten nicht mit Vertrauen entgegenkommen kann. Dieses Mißtrauen würde auf die Verwaltung und auf das Ganze höchst nachtheilig würken." Zum Schluß schlägt Wittgenstein vor, „daß E . M . vor der Hand keinen Praesidenten des Staatsraths und des Staatsministeriums ernennen und dem Staatsminister Generallieutnant Grafen v. Lottum den Vortrag in denjenigen Geschäften auftragen, welche E. M. dem verstorbenen Minister v. Voß zu übertragen beabsichtigten. Allerhöchstdieselben haben Vertrauen zu dem Grafen v. Lottum und gleich bei dem eingetrettenen Todesfall des Ministers v. Voß hatten E. M. ihn als einen Diener benennet, der eine vorzügliche Berücksichtigung verdiente und dessen Geschäftsführung und Berichte Allerhöchstdenselben Zutrauen einflößte. Er wird E. M. über alle Gegenstände mit Ruhe, Besonnenheit und Freimüthigkeit seine Ansichten vortragen. Wenn auch die Lage des Ganzen nichts weniger als erfreulich ist, so glaube ich doch nicht, daß sie so beunruhigend ist, um ein großes Wagstück zu unternehmen." Humboldt selbst, der seit seiner Entlassung aus dem Staatsdienst meist in Tegel lebte, hat sich, wie es scheint, zu den Plänen über seine Berufung als Präsident des Staatsministeriums nicht geäußert. Lediglich Karoline v. Humboldt schreibt darüber an ihre Tochter Adelheid in diesen Tagen: „Mit dem Vater ist noch alles in derselben Ungewißheit. Die Leute reden und reden, allein ich sehe nicht, daß es zu einem Schluß kommt. Meine Wünsche sind wie die seinen auf nichts Äußerliches gerichtet. Das ernste, wahre Wohl liegt einem freilich am Herzen, und zwar das, aus einem reinen und hohen Standpunkt angesehen, der nicht im Persönlichen befangen ist. Aber ob das erreicht werden kann unter den Bedingungen, die einmal nicht zu ändern sind, mit den mitwirkenden, vielleicht nicht einmal freundlich gesinnten Personen, das ist eine

198

H A N S BRANIG

schwer zu beantwortende Frage. Er hält sich rein, klar und bestimmt in seinen Äußerungen." 54 Der Kronprinz hatte sich nun auch mit dem Grafen Lottum abgefunden. Er bat Wittgenstein in einem Brief vom 9. April 1823, dazu beizutragen, daß der General „sobald als möglich in diese Stelle trete. Von allen übrigen dringenden Gründen abgesehen, läßt mich die sonderbare Tournure, welche die Rother'sche Sache im Staatsrath genommen hat, 55 dies als ganz vorzüglich dringend und wünschenswert erscheinen. - Auch brennt es auf den Nägeln, daß ernstlich an eine Reorganisazion der Ministerien gedacht werde, und das Hardenbergische System ausgemertzt werde, welcher die Stellen für die Menschen creirte, statt die Menschen für die Stellen zu suchen".56 Lottum wurde daher mit der Kabinettsorder vom 30. April 1823 der Vortrag beim König übertragen. 57 Diese Regierungsform ist bis 1848 im wesentlichen bestehen geblieben. Wittgenstein hat sich überall durchsetzen können. An der Spitze des Staates standen zwar wohlmeinende, aber durchschnittliche Männer, meist im vorgeschrittenen Lebensalter, die im allgemeinen jeder Neuerung abgeneigt waren. Preußen hatte den Gedanken, in Deutschland moralische Eroberungen zu machen, endgültig aufgegeben, indem es die Lösung der Verfassungsprobleme auf sich beruhen ließ. Allgemein herrschte die Ansicht, daß Wittgenstein aus dem Hintergrund die Staatsverwaltung gängelte. Varnhagen berichtet: „Fürst Wittgenstein ist gewöhnlich um 7 Uhr abends mit Graf Lottum in Geschäften zusammen; später machen sie eine Spielpartie. Lottum wird als ein willenloses Werkzeug in Wittgenstein^ Händen betrachtet; jener, sagt man, bedürfe alles Rats und nehme allen Rat von diesem."58 Und Stein schreibt dazu: „Was kann man von einer Staatsverwaltung unter der Influenz des nichtswürdigen Wittgenstein 54

Wilhelm und Caroline Berlin 1916, S. 126.

v. Humboldt

in ihren Briefen,

hrsg. v. Anna v. Sydow, Bd. 7,

55

Die Rechnungsabnahme über die Staatsschulden Verwaltung. In der Sitzung des Staatsrats am 18. März 1823 hatte man sich darüber nicht einigen können. 58

Rep. 192 Wittgenstein V, 1, 6.

57

GStA. Rep. 90 (Staatsministerium) Nr. 393 : Idi habe beschlossen, die durch den Tod des Staatsministers v. Voß erledigte Stelle des Präsidenten des Staatsministerii und des Staatsr a t e s vor der Hand unbesetzt zu lassen. Das Staatsministerium wird daher unter dem Vorsitz des ältesten Ministers seine Geschäftsführung wie bisher fortzusetzen haben. Den Vortrag der allgemeinen Landesangelegenheiten, die zu meiner unmittelbaren Bestimmung oder Entscheidung gelangen, sowie solchen Sadien, die idi außerdem dazu geeignet finde, habe idi dem Staatsminister Generallieutnant Graf Lottum übertragen. 58

Varnhagen v. Ense, Blätter

aus der preußischen

Geschichte, Bd. 2, S. 337.

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erwarten?" 59 Wittgenstein, der erst 1851 starb, hat allerdings im Laufe der nächsten Jahre seinen Einfluß nach und nach verloren. Doch war in den Jahren 1822/23 in Preußen unter seiner maßgeblichen Mitwirkung endgültig die Weiche auf jene Bahn gestellt worden, die zu der Revolution von 1848 führen sollte.

69

Brief an Spiegel vom 28. Mai 1823. Botzenhart, Freiherr vom Stein, Bd. 6, S. 215.

WERNER

PÖLS

STAAT U N D SOZIALDEMOKRATIE IM BISMARCKREICH DIE TÄTIGKEIT DER POLITISCHEN POLIZEI BEIM POLIZEIPRÄSIDENTEN I N BERLIN I N DER ZEIT DES SOZIALISTENGESETZES

1878—1890

Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Sozialdemokratie im Bismarckreich umschließt zugleich die nach der Stellung Bismarcks zur Sozialdemokratie, denn der erste Kanzler des Deutschen Reiches hat dieses Verhältnis entscheidend beeinflußt und mitbestimmt. Seine Zuspitzung in den zwei Jahrzehnten zwischen 1870 und 1890 gehört zu den erregendsten und dramatischsten Kapiteln deutscher Innenpolitik, und zwar nicht nur, weil aus ihr jene die Zukunft so schwer belastende Hypothek des Gegensatzes von Arbeiterschaft und Staat hervorging, sondern vielmehr noch, weil es sich je länger desto mehr um die Auseinandersetzung zweier diametral entgegengesetzter politischer Potenzen in einem echten politischen Machtkampf handelte. Die ihm innewohnende Dynamik hat ein ganzes Zeitalter mitbestimmt und geprägt, denn in ihm offenbarte sich ein Spannungsfeld, dessen weltanschaulicher, sozialer und politischer Gehalt den Gärstoff zukünftiger Entwicklungen enthielt. Das Zeitalter Bismarcks hat dieses Spannungsfeld aber nicht erzeugt, sondern es war ihm immanent. Es hat ihm nur seine besondere Prägung verliehen, indem es die mit dem zunehmenden politischen Gewicht der Arbeiterbewegung zugleich politisierte soziale Frage mit machtpolitischen Mitteln einerseits und mit staatlicher Sozialpolitik andererseits zu lösen versuchte. Der Widerstand der besonders von der Sozialdemokratie repräsentierten Arbeiterschaft bildet den scharfen Kontrast vor diesem Hintergrunde. Beide Kräfte — Staat und Sozialdemokratie — prallten mit ungeheurer Wucht und ständig sich verschärfender Tendenz aufeinander. Parallel mit dem Anwachsen der Arbeiterpartei zu einer mächtigen politischen Massenbewegung wuchs die Kampfbereitschaft des Staates und steigerte sich die Revolutionsfurcht als prägendes Phänomen der Bismarckzeit zu echter Revolutionsüberzeugung. Aus dieser Parallelität hat das Verhältnis von Staat und Sozialdemokratie seine Dynamik erhalten, und zwar in einem sich durchaus gegenseitig bedingenden und sich gegenseitig anreizenden Kräftespiel.

STAAT U N D SOZIALDEMOKRATIE IM BISMARCKREICH

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Wir wissen heute von dem vornehmlich aus dieser Zeit herrührenden Gegensatz von Arbeiterschaft und Staat, der als belastende Hypothek das Zeitalter Bismarcks lange überdauert hat, und das historisch-politische Urteil ist sich einig in der Auffassung, daß die Sozialistenpolitik Bismarcks eine folgenreiche innenpolitische Fehlleistung war. Aber damit ist im Grunde noch wenig gesagt. Der starke eigene Anteil des Kanzlers an der Sozialistenpolitik hat darüber hinaus die Frage nach seinen Motiven gestellt. Der Hinweis auf die Grundüberzeugungen Bismarcks, auf seine im ostelbischen Junkertum wurzelnden konservativ-patriarchalischen Anschauungen, aber auch darauf, daß er letzten Endes seine Zeit nicht mehr begriff, daß er soziale Forderungen mit Revolution gleichsetzte, daß er den aufstrebenden großen Massenbewegungen fremd und verständnislos, dann gar feindlich gegenüberstand, ist sicher zutreffend. Aber ist das auch ausreichend, wenn wir den konkreten politischen Alltag ins Auge fassen? Diesem Zweck soll der folgende Versuch dienen, mit dem wir sozusagen einen Blick in die Werkstatt, in das Vorzimmer der Politik, auf den Prozeß der Bildung politischer Entscheidungen werfen. Wir stützen uns dabei auf eine Quelle, die merkwürdigerweise bisher nur wenig oder gar keine Beachtung gefunden hat: die periodischen Berichte der Politischen Polizei beim Polizeipräsidenten in Berlin über den Stand der sozialdemokratischen Bewegung im Deutschen Reich und in den europäischen Nachbarstaaten zwischen 1878 und 1890. I Zunächst einiges über die Quelle selbst. Am 5. September 1878 bestimmte ein Circularerlaß des preußischen Ministeriums des Innern an alle preußischen Regierungs- und Oberpräsidenten, „daß der hiesige Polizei-Präsident mit den Polizei-Behörden der größeren Städte sich in directe Beziehung setzt, dieselben behufs Beschaffung der ihm erforderlich scheinenden Nachrichten requirirt und von diesen, auch ohne besondere Requisition, über alle das Gebiet der politischen Polizei betreffende Wahrnehmungen directe Mitteilungen erhält." 1 Der Erlaß teilt weiterhin mit, daß die zunehmende Agitation der Sozialdemokratie „und die Wahrnehmung, daß die Berührung derselben mit den Umsturzparteien anderer Länder der Bewegung mehr und mehr einen revolutionären Charakter aufzudrücken droht", es notwendig erscheinen lasse, „diese Bewegung sowie ihren etwaigen Zusammenhang mit anderweitigen politischen Agitationen scharf zu beobachten und das sich ergebende Material an einer Stelle zu sammeln und zu verarbeiten". Dieses Circular ist gleichsam die 1

Staatsarchiv Marburg, Bestand 150, Nr. 626, Bl. 95.

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W E R N E R PÖLS

Geburtsurkunde für eine Institution, die über die Geltungsdauer des Sozialistengesetzes hinaus eine zwar unsichtbare, dennoch aber bedeutungsvolle Tätigkeit ausübte. Auf Weisung des preußischen Ministers des Innern war beim Polizeipräsidenten in Berlin im Rahmen der Politischen Polizei eine Sonderabteilung zu dem ausschließlichen Zweck der ständigen Beobachtung der sozialdemokratischen Bewegung in Preußen und im Reich mit durchaus übergeordneter, weisungsberechtigter Funktion gebildet worden. Diese Zentralstelle hatte je länger desto mehr alle Fäden der Überwachung der Sozialdemokratie in der Hand und hat so mit ihren Maßstäben politische Urteile und Entscheidungen zumindest stark beeinflußt und vorgeformt. Wie das Circular vom 5. September 1878 erkennen läßt, bestand die eigentliche Aufgabe darin, Material zu sammeln und zu verarbeiten. Dem Polizeipräsidenten stand dafür das Recht direkter Requisition ohne Einhaltung eines Dienstweges ebenso zu wie der Anspruch auf unmittelbare, direkte Berichterstattung seitens der preußischen Regierungen „über alle das Gebiet der politischen Polizei betreffenden Wahrnehmungen". Darüber hinaus gingen ihm Abschriften regelmäßiger periodischer Berichte der preußischen Regierungspräsidenten zu, die an den Minister des Innern 2 zu richten waren „über die Ausführung des Gesetzes, die Wirkung desselben auf die von demselben berührten Kreise, sowie über den Stand der sozialdemokratischen Bewegung und die Mittel und Wege, welche die Führer derselben zur Umgehung oder Abwendung der gesetzlichen Vorschriften etwa einschlagen".3 Alles auf diesem Wege zusammenkommende Material wurde von der Zentrale in Berlin gesammelt, geordnet und sorgfältig archiviert. Es diente dann für die Zusammenstellung periodischer Berichte mit dem Titel „Ubersicht über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung", die nachgeordneten Behörden bis einschließlich der Regierungspräsidenten und der Polizeidirektoren der größeren Städte als geheime Dienstsache regelmäßig zugestellt wurden. Ihr streng vertraulicher Charakter wird unterstrichen durch die Tatsache, daß sie an untere Behörden, etwa an die Landräte in den Regierungsbezirken, nicht einmal zur Einsicht weitergegeben werden durften. 4 2 Uber die enge Zusammenarbeit beider Behörden vgl. beispielsweise den Erlaß des preußischen Ministers des Innern vom 14. 5.1884, der auf Wunsch des Polizei-Präsidenten in Berlin fordert, „in den Besitz photographisdier Abbildungen solcher M i t g l i e d e r . . . zu gelangen, die in dem Verdacht stehen, revolutionäre Emissäre, reisende Agitatoren oder Parteicourire der Sozialdemokratie zu sein" (Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 116 I, Nr. 9541). 3 Aus der Instruktion des preuß. Min. d. Inn. vom 2 2 . 1 0 . 1 8 7 8 über die Handhabung des Sozialistengesetzes (Staatsarchiv Bremen, X I I C 2 ab; desgl. Staatsarchive Osnabrück und Marburg). 4

Eine entsprechende Anfrage des Landdrosten von Osnabrück an den preuß. Min. d. Innern, die „Übersichten" dem Landrat von Melle wegen der besonderen Gefährdung seines

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Diese Übersichten stützen sich also, soweit das ohne die seinerzeit aus dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv verlagerten, in den Zentralarchiven in Merseburg und Potsdam nicht zugänglichen Bestände an Akten sicher zu erkennen ist, 5 auf ein breites Material aus direkten Mitteilungen und Berichten nachgeordneter Behörden in Preußen. Es ist noch ergänzt worden durch Informationen, die ein weitverzweigtes, in seinen wirklichen Ausmaßen aber kaum zu erfassendes Spitzelsystem beibrachte.6 Am Beispiel der Landdrostei Osnabrück haben wir die Möglichkeit, mit fast vollständigem Material den Weg der Berichterstattung genau zu verfolgen. 7 Dort waren die Landräte der zur Landdrostei gehörenden Kreise zu termingebundener, regelmäßiger Berichterstattung an die Regierung in Osnabrück verpflichtet. Diese faßte alles Wesentliche unter teilweise wörtlicher Anlehnung zu ihrem Bericht an den preußischen Minister des Innern zusammen, von dem regelmäßig eine Abschrift an den Polizeipräsidenten in Berlin ging. Es bestanden also zwei Berichtspyramiden, die eine mit dem Regierungspräsidenten, die andere mit dem Polizeipräsidenten in Berlin als Spitze. Die direkte Berichterstattung an den Polizei-Präsidenten in Berlin und die Verpflichtung, seinen Anfragen und Anforderungen unmittelbar Folge zu leisten, war nach dem Circularerlaß vom 5. September 1878 auf die Regierungspräsidenten und die Polizei-Direktoren der größeren Städte begrenzt. Ihnen freilich war es anheimgestellt, die Hilfe der ihnen nachgeordneten Behörden in Anspruch zu nehmen. Dagegen ordnete ein Circularerlaß vom 21. Mai 1883 eine bedeutsame Erweiterung der betroffenen Behörden an: „Inzwischen hat sich für die bei dem hiesigen Polizei-Präsidium... eingerichtete Centraisteile das Bedürfnis herausgestellt, sowohl aus den größeren Städten mit kommunalen Polizei-Verwaltungen, als auch aus den kleineren Städten und aus den ländlichen Distrikten, hinsichtlich welcher . . . bisher die VermittKreises zuzustellen, wurde mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die besondere Vertraulichkeit abschlägig beschieden. Bezeichnend ist eine Bemerkung in dem Circularerlaß vom 21. 5. 1883, der eine Erweiterung des Kreises der direkten Berichterstattung an den Polizei-Präsidenten in Berlin vorsieht: „Einer Mitteilung des Gesamtinhalts dieser Übersicht an sämtliche Landräte, Amtshauptmänner und Oberamtmänner wird es nicht bedürfen."

(Staatsarchiv

Osnabrück, Rep. 116 I, 9541). 5

Eine Übersicht über diese Bestände erhalten wir neuerdings durch Dieter Fricke, Bis-

marcks Praetorianer, 6

Berlin (Ost) 1962, besonders S. 356 ff.

Hinweise, wenn auch tendenziös, bei Fricke, a.a.O.,

besonders S. 129 ff. und S. 317 ff.

Aufschlußreich sind außerdem die fast täglich bei den einzelnen preußischen Regierungen eingehenden Meldungen des Polizeipräsidenten in Berlin über bestimmte oder evtl. eintretende Ereignisse, die „aus sicheren Quellen" bekannt geworden sind. Man kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, daß bewußte Irreführung vorliegt, aber keine noch so vage Spur ist ausgelassen worden. 7

Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 116 I, N r . 10.097 ff.

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W E R N E R PÖLS

lung Euer Hochwohlgeboren in Anspruch zu nehmen war, ebenfalls fortlaufende direkte Mitteilungen über alle wichtigen Vorgänge und den allgemeinen Stand der Bewegung zu empfangen, sowie direkte Beziehungen mit den bezüglichen Behörden zu u n t e r h a l t e n . . . . " Er wolle „daher die in dem Erlaß vom 5. September 1878 den königlichen Polizeibehörden in den größeren Städten auferlegte Verpflichtung nunmehr auch auf die sämmtlichen Landräthe, Amtshauptmänner, Oberamtmänner hiermit ausdehnen und auch im übrigen die Unterhaltung direkter Beziehungen zwischen diesen Behörden und dem hiesigen Polizei-Präsidium in Angelegenheit der in Rede stehenden Art nachlassen".8 Es ist nun bemerkenswert und verfassungspolitisch bedeutsam und interessant, daß die Tätigkeit des Polizeipräsidenten in Berlin sich keineswegs nur auf das preußische Staatsgebiet beschränkte. Auch die einzelnen Bundesstaaten waren in diesen Komplex einbezogen, und die vom Polizeipräsidenten und seiner Zentralstelle in Berlin als einer dem preußischen Minister des Innern nachgeordneten Behörde erstellten „Ubersichten" hatten Gültigkeit für das ganze Reich. Sie enthalten auch detaillierte Angaben über alle wichtigen Vorkommnisse im gesamten Reichsgebiet. Dafür bestanden rege direkte Beziehungen zwischen dem Polizeipräsidenten in Berlin und den Bundesstaaten, wie sich am Beispiel Bremens zeigen läßt. Offenbar wurden zu diesem Zweck besondere Absprachen getroffen, denen in der Regel die Vermittlung des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und des Reichskanzlers vorausging.9 Damit war die Grundlage für die bedeutsame Stellung des Polizeipräsidenten im Rahmen der Handhabung des Sozialistengesetzes, aber auch für die Sozialistenpolitik im Bismarckreich überhaupt gelegt, denn im Laufe der Zeit mußte seiner als Zentralstelle eingerichteten Sonderabteilung für die Beobachtung der sozialdemokratischen Bewegung allein schon wegen der Fülle des gesammelten Materials notwendig immer mehr Einfluß und Verantwortung zuwachsen. Der Polizeipräsident in Berlin übte so, obwohl nachgeordnete preußische Behörde, nicht de jure, wohl aber de facto kraft seiner Aufgabe der Beobachtung der sozialdemokratischen Bewegung im Reich eine übergeordnete Reichsfunktion aus. Am Beispiel Bremens können wir uns diesen Sachverhalt verdeutlichen. Ein Bremer Senatsprotokoll vom 5. November 1878 verzeichnet die Besprechung eines Schreibens des Reichskanzlers vom 26. Oktober 1878 „betreffend die 8 9

Staatsarchiv Marburg, Bestand 150, Nr. 627, Bl. 184.

Dazu u. a. Schreiben des preuß. Min. d. Innern an den Polizei-Präsidenten in Berlin vom 8 . 1 0 . 1 8 7 8 , das diesen Sachverhalt im Hinblick auf Sachsen, Bayern, Württemberg und Hamburg ausdrücklich feststellt (bei Fricke, a. a. O., S. 320 f., Anlage 5).

S T A A T U N D S O Z I A L D E M O K R A T I E IM B I S M A R C K R E I C H

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Ausführung des Sozialistengesetzes sowie den Erlaß einer Instruction . . . und beantragte, daß der Senat seine Commissarien mit Anwendung der sachlichen Bestimmungen der vom Reichskanzler eingesandten, Seitens des Preußischen Ministeriums des Innern erlassenen Instruction 10 als Richtschnur für die Handhabung des gedachten Gesetzes beauftragte, gleichzeitig auch die Commissarien zu einer regelmäßigen vierteljährlichen Berichterstattung über Ausführung und Wirkung des Gesetzes im hiesigen Staatsgebiet anweise." 11 Eine solche Berichterstattung nachgeordneter Behörden an den Bremer Senat für den internen Senatsgebrauch ist auch zunächst regelmäßig erfolgt bis 1883. Sie wurde danach auf Grund eines Senatsbeschlusses vom 24. Juli 1885 in jährliche Berichterstattung umgewandelt, „es sei denn, daß außerordentliche Vorkommnisse eine frühere und häufigere Berichterstattung angezeigt erscheinen ließen". 12 Diese Berichte dienten als Grundlage für zusammenfassende Bremer Berichte, die regelmäßig an den Polizeipräsidenten in Berlin abschriftlich weitergereicht wurden, 13 und zwar noch bevor der Senat am 17. Dezember 1880 auf Vorschlag des Chefs der Bremer Polizei, Senator Schultz, beschloß, „sich mit dem Polizeipräsidium in Berlin in Verbindung zu setzen, um im Wege der Verständigung, die sich am einfachsten durch eine mündliche Besprechung höherer Beamten erreichen lasse, einen fortlaufenden Austausch von Mittheilungen über die sozialdemokratische Bewegung herbeizuführen". 14 Neben den „Ubersichten", die von Anfang an regelmäßig zugestellt wurden, 15 erhielt Bremen fortan auch alle an die preußischen Behörden gehenden Informationen. Es wäre eine lohnende Aufgabe, in regionalen Einzeluntersuchungen den Beziehungen der Bundesstaaten untereinander sowie den direkten Beziehungen des Polizeipräsidenten mit den Polizeichefs der Bundesstaaten nachzugehen.16 10

Umfangreiche Interpretation der einzelnen §§ des Sozialistengesetzes mit ganz kon-

kreten Anwendungsfällen vom 2 2 . 1 0 . 1 8 7 8 (Staatsarchiv Bremen, X I I C 2 ab). 11

Protokoll im Staatsarchiv Bremen, X I I C 2 ab. — Der Modus einer regelmäßigen

vierteljährlichen Berichterstattung entspricht der preußischen Regelung. 12

Protokoll im Staatsarchiv Bremen, X I I C 2 ab.

13

Staatsarchiv Bremen, X I I C 2 a. Der erste Bericht datiert vom 1 3 . 2 . 1 8 7 9 .

14

Protokoll im Staatsarchiv Bremen, X I I C 2 a. — Dazu der Schriftwechsel zwischen der

Polizeidirektion Bremen, Senator Schultz, und dem Polizeipräsidium in Berlin, Polizeipräsident von Madai, ebda. Senator Schultz reiste am 28. März 1881 persönlich nach Berlin, um die entsprechenden Abmachungen mit dem Polizeipräsidenten in Berlin direkt zu treffen. 15

Das geht aus einem Brief des Senators Schultz an den Senatspräsidenten Buff vom

5. 5. 1888 hervor ( X I I C 2 bb 1). 16

Nicht nur die preußischen Behörden waren angewiesen, „auch den Ersuchen der Ver-

waltungsbehörden aller Deutschen Bundesstaaten bereitwilligst zu entsprechen", sondern auch die entsprechenden Behörden der Bundesstaaten traten in gegenseitige Beziehungen. Vgl. beispielsweise

die

Vereinbarung

über

gemeinsames

Vorgehen

gegen

die

Sozialdemokratie

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W E R N E R PÖLS

Dabei dürften gerade im Hinblick auf die überragende Stellung des Polizeipräsidenten in Berlin überraschende Ergebnisse herauskommen. Dafür ein hier nur anzudeutendes Beispiel aus dem Bereich des Königreichs Sachsen. Am 27. Juni 1881 ordnete die königlich-sächsische Staatsregierung die Anwendung der Ausweisungsbefugnis nach § 28 des Sozialistengesetzes auf Leipzig und Umgebung an. Sie war damit zu periodischer Berichterstattung über die getroffenen Anordnungen an den Reichstag verpflichtet. 17 Der erste Rechenschaftsbericht wurde am 21. November 1881 erstattet. 18 Aus einem Vergleich, vor allem mit der ihm vorangegangenen „Übersicht" vom 15. Juni 1881, aber auch mit der noch früheren vom 31. Dezember 1880, ergeben sich einige bemerkenswerte sachliche Übereinstimmungen, wie die folgenden Beispiele zeigen: Rechenschaftsbericht,

21.11.1881

„Diese neuere Organisation, welche den Behörden nicht lange Geheimniß blieb, umfaßt räumlich den 12. und 13. sächsischen Reichstagswahlkreis, theilt dieselben in eine größere Zahl von Distrikten, bezeichnet die in diesen wohnenden Parteigenossen als diesen Distrikten zugehörig und verpflichtet dieselben zur Ummeldung bei den Obmännern der Distrikte für den Fall des Wegzuges. Die Gesammtheit der Obmänner bildet den Ausschuß der beiden Wahlkreise, welcher wiederum aus seiner Mitte ein nur aus sieben Personen bestehendes Exekutiv-Komité wählt. In dieses letztere ist offenbar der Schwerpunkt gelegt, da dasselbe nicht allein alle

Übersicht, 15. 6. 1881

„Zu den Orten, welche den bewährten Modus des Anschlusses an die Reichstagswahlkreise acceptirt haben, ist neuerdings auch Leipzig nebst Umgebung getreten, und die Organisation ist dort ganz besonders fest gefügt. Die beiden Reichstagswahlkreise sind in neunzehn Distrikte, unter je einem Obmann getheilt. Die Obmänner bilden einen Ausschuß mit zwei selbstgewählten Vorsitzenden, welcher jeden Monat zusammenkommt, und alle principiellen, organisatorischen, taktischen und finanziellen Angelegenheiten ordnet. An der Spitze des Ganzen steht ein von dem Ausschuß gewähltes Exekutivkomite von sieben Mitgliedern,

zwischen dem Regierungsbezirk Wiesbaden und der Staatsregierung des Großherzogtums Hessen; dazu besonders den Bericht des Regierungspräsidenten von Wiesbaden an den preuß. Min. d. Innern vom 1 1 . 9 . 1 8 8 5 und dessen Genehmigung vom 2 3 . 1 1 . 1 8 8 5 (Staatsarchiv Marburg, Bestand 150, Nr. 628, Bl. 97 f.). 17 Sozialistengesetz § 2 8 , Abs. 2: „Über jede, auf Grund der vorstehenden Bestimmungen getroffene Anordnung muß dem Reichstage sofort, beziehungsweise bei seinem nädisten Zusammentreten, Rechenschaft gegeben werden." 18 Abgedruckt in: Stenograph. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, S.Legislaturperiode, I. Session 1881/82, Bd. II, Drucksache Nr. 14 (künftig zit.: Sten. Ber. 5/1 1881/82

S T A A T U N D S O Z I A L D E M O K R A T I E IM B I S M A R C K R E I C H

laufenden Geschäfte zu führen, sondern auch die ausdrückliche Verpflichtung hat, stets Fühlung mit der Parteileitung Deutschlands zu halten." 19

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weiches sich wöchentlich versammelt. Die einzelnen Distrikte teilen sich in örtlich abgegrenzte Bezirke, deren Vertrauensmänner ebenfalls wöchentlich mit dem betreffenden Obmann sich besprechen. Über die in den einzelnen Bezirken wohnhaften Genossen wird ein Verzeichniß geführt, und dieselben sind verpflichtet, beim Verzuge sich an- und abzumelden." (S. 5)

Übersicht, 31.12. 1880 leicht, 20

„Es war sozialistische Vereine, welche auf Grund des gedachten Gesetzes verboten worden waren, durch neue zu ersetzen, welche unschuldig klingende Namen erhielten und erlaubte Zwecke, sei es wirklich oder nur scheinbar, verfolgten, daneben aber sozialdemokratischen Bestrebungen dienstbar gemacht wurden. Solche Vereine wurden in immer wachsender Zahl gegründet und sie wurden bald das Fundament einer starken und konzentrirten Organisation. Sie gaben den Parteileitern die Füglichkeit, die Parteigenossen aus den verschiedensten Anlässen unter dem Deckmantel harmloser Vergnügungen häufig zu vereinigen und in ungestörtem Verkehre die Parteizwecke zu fördern . . . Endlich bildeten sie auch insofern die Grundlage für die Parteiorganisation, als zu periodisch wiederkehrenden heimlichen Zusammenkünften der Partei-

„In Leipzig und Umgebung bilden ebenfalls gesellige Vereine unter den verschiedensten Namen, wie Schafskopf-, Spiel-, Kegel-, Pfeifenklub, Germania, Veilchen, Morgenroth, Abendstern p. p. das Fundament der Organisation. Jeder dieser kleinen Vereine entsendet einen Delegirten zu der monatlich ein bis zwei Mal stattfindenden Konferenz . . . Die Form der geselligen Vereine bietet den Vortheil, daß ein fast ununterbrochener Verkehr der Genossen stattfinden, und daß in der unauffälligsten und zwanglosesten Weise über laufende Parteiangelegenheiten gesprochen werden kann." (S. 12 f.)

Die Parteileitung saß in Leipzig bis zur Anwendung des § 28 des Sozialistengesetzes mit Wirkung vom 27. 6 . 1 8 8 1 . Hier handelt es sich um die Begründung dieser Maßnahmen. 19

20

Gemeint ist Leipzig.

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führer diese Vereine Delegirte absendeten, welche dann wieder über das dort Gehörte und Verhandelte ihre Vereine auf dem Laufenden erhielten." Übersicht, 15. 6. 1881 „Erwägt man auch, daß die Mitglieder des Parteivorstandes für ganz Deutschland, welche auf dem bekannten Wydener Sozialistenkongreß ausdrücklich dazu ernannt worden sind, fast ausnahmslos . . . ihren Wohnsitz in Leipzig genommen hatten . . ."

„Die Leitung der Partei liegt, wenigstens vorläufig noch, in den Händen des auf dem Wydener Kongreß ernannten Vorstandes, und zwar unter den denkbar günstigsten Umständen, denn die meisten Mitglieder desselben wohnen an einem Orte, in Leipzig, zusammen und haben auf diese Weise die beste Gelegenheit, ununterbrochen mit einander zu kommuniziren. Das einzige wirksame Mittel, diesen für die Bekämpfung der Sozialdemokratie sehr bedenklichen Zustand zu beseitigen, wäre nur in der Anwendung des § 28 des Gesetzes auf Leipzig zu finden."

Zweifellos, das zeigen diese Beispiele, bestehen hier direkte Zusammenhänge zwischen dem sächsischen Rechenschaftsbericht und den preußischen Polizeiberichten. Um sie in ihren Einzelheiten festzustellen, müßten die nicht zugänglichen Archivbestände des ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchivs, die jetzt in Merseburg und Potsdam lagern, zur Verfügung stehen. Wir müssen uns auf die freilich schon allein bedeutsame Feststellung der Tatsache beschränken, daß — wie zu Bremen — offenbar auch zum Königreich Sachsen direkte Beziehungen des Polizeipräsidenten in Berlin bestanden. Es spricht vieles dafür, besonders auch das Beispiel Bremen, daß beiden Berichten, dem sächsischen Rechenschaftsbericht und dem preußischen Polizeibericht, eine gemeinsame Quelle, etwa ein auch dem Polizeipräsidenten in Berlin ganz offiziell zugänglicher periodischer sächsischer Bericht, zugrundeliegt. Wir stellen zusammenfassend noch einmal fest: Die „Ubersichten" wurden erstellt auf der Grundlage von direkten Berichten nachgeordneter Behörden in Preußen, auf Grund von Informationen durch ein weitverzweigtes Spitzelnetz und schließlich auf Grund enger Zusammenarbeit mit den einzelnen deutschen

STAAT U N D SOZIALDEMOKRATIE IM BISMARCKREICH

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Bundesstaaten durch die Vermittlung des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und des Reichskanzlers. Der Polizeipräsident in Berlin seinerseits verschickte die „Ubersichten" an einen offenbar genau festgelegten Kreis von Personen, der jedenfalls über die Regierungs- und Oberpräsidenten sowie die Polizeidirektoren der größeren Städte in Preußen nicht hinausreichte, während sie außerdem den Staatsregierungen der deutschen Bundesstaaten zugestellt wurden. II Die erste „Übersicht" erschien am 11. Dezember 1878. Bis zum 30. Juli 1883 erschienen weitere Folgen in regelmäßigem, halbjährlichem Abstand, während danach Jahresfristen eintraten. Es ist nun bemerkenswert, daß die Zentralstelle beim Polizeipräsidenten in Berlin nadi der Aufhebung des Sozialistengesetzes keineswegs ihre Tätigkeit einstellte, obwohl das zunächst so schien. Erst am 2. September 1893 folgte wieder eine „Ubersicht über den Verlauf der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland seit der Aufhebung des Reichsgesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Bis zur nächsten „Ubersicht über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung" vom 28. Januar 1897 sind offenbar nur die Parteitagsprotokolle von 1894 und 1895 übersandt worden. 21 Zwischen 1897 und 1914 aber gibt es wieder regelmäßige jährliche „Übersichten". 22 Wir haben es also durchaus nicht mit einer Einrichtung zu tun, die nur während der Geltungsdauer und als Folge des Sozialistengesetzes wirksam war. Die „Ubersichten" sind von Anfang an aufgeteilt in einen inländischen und einen ausländischen Teil. Der in der Regel umfangreichere deutsche Teil enthält neben wechselnden Informationen über Ausführung und Wirksamkeit des Sozialistengesetzes regelmäßig Abschnitte über die Presse, die Vereine, die Organisation, die Ausbreitung, die Finanzen und über Formen der Illegalität. Gegenüber dem deutschen Teil, der sich in der Regel als sehr gut und genau informiert zeigt, ist der in der Reihenfolge ihrer Bedeutung nach Ländern geordnete ausländische Teil23 vergleichsweise oberflächlich und mehr zufälliger 21 Auf Grund freundlicher Mitteilung von Herrn Staatsarchivrat Dr. Dülfer vom Staatsarchiv Marburg. 22 Ein vollständiger Satz von 1878—1914 läßt sich zusammenstellen aus den Beständen der Staatsarchive Bremen (XII C 2 bb), Marburg (Bestand 150, Nr. 625 ff.), Osnabrück (Rep. 116 I, Nr. 9540 ff.). 23

Es ist bemerkenswert, daß das bis zum Kopenhagener Kongreß von 1883 kaum erwähnte Dänemark in der Folgezeit regelmäßig einen verhältnismäßig umfänglichen eigenen Abschnitt erhielt. 14

J a h r b u d i 13/14

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Natur. Das liegt einmal daran, daß die Quellen notwendigerweise spärlidier fließen, zum anderen aber vor allem daran, daß das Hauptaugenmerk weniger auf innerparteilichen Dingen im Ausland ruht als vielmehr auf den Beziehungen der deutschen Partei zu ihren Schwesterparteien in den europäischen Nachbarländern und zu den internationalen Organisationen und Institutionen. 24 Es verdient nun noch, ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß es sich keineswegs um irgendeine beliebige Quelle handelt. Gewiß, sie stammt aus dem reaktionären preußischen Polizeipräsidium in Berlin, und Polizeiberichte über politische Fragen und Entwicklungen sind in der Regel mit gebührender Vorsicht zu verwerten. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen durch solche ja nur zu oft berechtigten Vorurteile. Was hier mit den „Ubersichten" vor uns liegt, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Geschichte der Sozialdemokratie, geschrieben freilich von ihrem heftigsten Gegner. Die Verfasser der Berichte sind nicht nur gut informiert, sie sind auch über Erwarten ehrlich, einer der Gründe übrigens, weshalb die „Ubersichten" als streng vertraulich nur einem genau bestimmten, begrenzten Personenkreis zugänglich sind. Das in den „Ubersichten" oft wiederholte Eingeständnis der Schwierigkeit, „allen diesen einzelnen Momenten zu folgen, und der sozialistischen Bewegung bei der musterhaften Disziplin und Opferwilligkeit ihrer Teilnehmer wirksam entgegenzutreten", 25 zeigt jedenfalls deutlich die Vorsicht und Zurückhaltung in der Beurteilung der eigenen Möglichkeiten und Erfolgschancen und vor allem die Einsicht, es mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun zu haben. Wir haben es also mit einer Quelle zu tun, die für die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Sozialdemokratie nicht außer acht gelassen werden darf. Wir wollen versuchen, diesen Zusammenhang an zwei Beispielen zu zeigen, bei denen unmittelbarer Einfluß auf politische Entscheidungen deutlich auf der Hand liegt: einmal die Beurteilung des nicht erst seit den Sozialistengesetzdebatten von 1889/90 umstrittenen § 28 (Ausweisungsbefugnis) des Sozialistengesetzes, dann die Frage, wie weit die „Ubersichten" unmittelbar auf die offizielle Meinungsbildung auch und gerade bei den Repräsentanten der staatlichen Macht eingewirkt haben. 24 Es ist bemerkenswert, daß es auch in Österreich-Ungarn „Übersichten" unter dem Titel „Die sozialdemokratische und anarchistische Bewegung" gibt, die von 1880—1918 regelmäßig jährlich erschienen. Sie wurden erstellt von der Polizeidirektion Wien, die vermutlich eine ähnliche Stellung wie das Polizeipräsidium in Berlin einnahm. Hier liegen Schlüsse auf aller Wahrscheinlichkeit nach bestehende internationale Absprachen nahe, denen nachzugehen sicher lohnend wäre. Vgl. im einzelnen dazu Bibliographie zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. 1867—1918, zusammengestellt von Herbert Steiner, Wien 1962. 25

Übersicht vom 11.12. 1878, S. 6.

STAAT U N D SOZIALDEMOKRATIE IM BISMARCKREICH

211

III Zunächst zum § 28. Der Ausweisungsparagraph des Sozialistengesetzes war von Anfang an umstritten, und zwar aus einem politisch-taktischen Grunde. Sowohl Zentrum wie Nationalliberale haben in den Reichstagsdebatten über das Sozialistengesetz nicht aufgehört darauf hinzuweisen, daß der Erfolg der Ausweisung sozialistischer Agitatoren ein negativer sei, denn diese Ausgewiesenen würden in ihren neuen Wohnorten und an ihren neuen Arbeitsplätzen sofort wieder Agitation betreiben und damit Gebiete und Personen gefährden, die bisher noch nicht von den sozialistischen Lehren erfaßt waren. Der Ausweisungsparagraph diene also dem genauen Gegenteil seiner Absicht, nämlich der Verbreitung sozialistischer Lehren und der Ausweitung der Parteiorganisation. Man ist erstaunt, daß dieses schlagende und in seiner sachlichen Berechtigung nicht zu widerlegende Argument kein Gehör gefunden hat, ja, daß niemals ernsthaft erwogen wurde, ihm nachzugeben. Noch mehr, der Ausweisungsparagraph ist letzten Endes 1889/90 zum Kernpunkt der Auseinandersetzung zwischen den Nationalliberalen und den Konservativen geworden, an dem die Verlängerung des Sozialistengesetzes — aus welchen taktisch-politischen Erwägungen auch immer — schließlich scheiterte. Es muß also gewichtige Gründe gegeben haben, die das starre Festhalten an dem umstrittenen Paragraphen politisch erklären. Zumindest einige davon finden wir in den „Übersichten". Bereits die „Ubersicht" vom 11. Dezember 1878 gibt einen ersten Hinweis. Sie spricht nämlich von der Notwendigkeit, „die große Masse der Parteigenossen soweit wie möglich der persönlichen und directen Beeinflussung seitens der Agitatoren zu entziehn". Ein wirksames Mittel dafür biete die Anwendung des Ausweisungsparagraphen. 26 Die Reaktion der Sozialdemokratie schien diese Ansicht auch zu bestätigen, denn sie beschloß, daß „insbesondere die bekannteren Parteigenossen sich möglichst aus der Bewegung zurückziehn und die ,Untergrabungsarbeit' Personen überlassen, welche noch nicht kompromittirt seien".27 Aus einer solchen Reaktion glaubte man ableiten zu dürfen, daß der Sozialdemokratie die empfindlichste Schlappe beigebracht werden könnte, wenn man sie ihrer fähigsten Köpfe beraubte. 26

Ubersicht vom 11.12.1878, besonders S. 9. — Bis zu diesem Zeitpunkt waren laut „Ubersicht" aus der „sozialdemokratischen Hochburg" Berlin bereits 44 Agitatoren ausgewiesen, nachdem bereits im November 1878 der Ausnahmezustand über Berlin verhängt worden war. 27

Übersicht vom 29.12.1879, besonders S. 2 und S. 4; desgl. Übersichten vom 10. 6.1880, S. 6 f.; 31.12.1880, S. 13. 14'

212

WERNER PÖLS

Dieses Verfahren schien auch erfolgversprechend, denn bereits die „Ubersicht" vom 15. Juni 1881 vermerkte nicht ohne Genugtuung: „In Berlin war wegen der fortgesetzten Ausweisungen der Comitémitglieder 28 im Winter beschlossen worden, ein Reserve-Comité zu wählen; es machte sich aber, als zur Ausführung dieses Beschlusses geschritten werden sollte, bereits ein solcher Mangel an geeigneten Persönlichkeiten fühlbar, daß davon vorläufig Abstand genommen werden mußte." 29 Bereits ein halbes Jahr später, in der Übersicht vom 12. Januar 1882, heißt es, daß der Einfluß des sonst als vorbildlich geltenden Berliner Comités merklich zurückgegangen sei, „nachdem in Folge der fortgesetzten Ausweisungen Personen in dasselbe gelangt waren, welche sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigten". 30 Hier wird unverkennbar auf die Zerstörung der Parteiorganisation gezielt, die in hohem Maße von der Existenz geeigneter Führerpersönlichkeiten abhängig war. Ihre Zerstörung war gleichbedeutend mit einem zumindest erheblichen Rückgang der sozialdemokratischen Bewegung, ein Ziel, das zu verfolgen es sida also auch von den Erfolgschancen her durchaus lohnte, wie die „Ubersicht" vom 30. Januar 1883 zeigt: „Der mit dieser, wie überhaupt mit jeder Ausweisung wachsenden Schwierigkeit, Ersatzmänner zu beschaffen, welche den Geschäften gewachsen und auch des Vertrauens der Genossen würdig sind, in Verbindung mit persönlichen Streitigkeiten und Eifersüchteleien, mit Vertrauensbrüchen und Unterschlagungen von Parteigeldern ist es zuzuschreiben, daß die in der Berliner Organisation vorgesehenen Vertrauensstellen nicht immer vollständig besetzt sind, und daß in einem Wahlkreise eine Anzahl von Genossen sich von der allgemeinen Organisation abgesondert hat. Diese Vorgänge haben indes, wenn sie auch in einzelnen Bezirken recht erhebliche Störungen verursachen, einen merklichen Einfluß auf den Stand der Gesamtbewegung in Berlin nicht geübt. Dagegen ist in einigen bayrischen Städten, z. B. München, Nürnberg und Fürth, bemerkt worden, daß dort die Verfassung der Partei in Folge von 2 8 Mitglieder des Berliner Zentralkomitees, also des obersten Partei-Führungsgremiums in Berlin. 28

Übersicht vom 15. 6.1881, S. 5.

Übersicht vom 1 2 . 1 . 1 8 8 2 , S. 11 f. — Desgl. „Übersicht" vom 1 4 . 6 . 1 8 8 2 , S. 5 f. Sie spricht von „erheblichen S t ö r u n g e n . . . durch rechtzeitige Ausweisungen", weil „ein passender Ersatz immer schwerer zu beschaffen ist". — So auch der Rechenschaftsbericht vom 5 . 1 2 . 1882, der dieser Beurteilung folgt: „Die stetige Einwirkung auf die nach Tausenden zählenden Anhänger der Partei durch geübte Agitatoren ist in Folge der wiederholten Ausweisung der Parteihäupter unmöglich geworden. Es gewinnt den Anschein, daß es in diesen Bezirken zur Zeit thatsächlich an Persönlichkeiten fehlt, welche zur Übernahme einer Führerrolle mit hinlänglichem Geschick und Ansehen ausgerichtet wären." (Sten. Ber. 5/II 1882/83, Drudisache N r . 99, S. 400). 30

STAAT U N D SOZIALDEMOKRATIE IM BISMARCKREICH

213

Mißtrauen, Vertrauensbruch und Veruntreuungen, sowie von Bestrafungen auf Grund des Gesetzes vom 21.0ctober 1878 eine ziemlich mangelhafte geworden, und dadurch eine große Erschlaffung eingetreten sei, welche Neigung zur Auswanderung nach Amerika hervorgerufen habe." 31 Dieser Gesichtspunkt ist immer wirksam geblieben, denn noch in der „Übersicht" vom 15. November 1887 heißt es: „Durch diese Maßnahmen sehen sich nun an vielen Orten Personen an die Spitze der lokalen Organisationen gestellt, welche ihrer Aufgabe nicht gewachsen, und vor allem nicht im Stande waren, sich die erforderliche Autorität zu verschaffen. Es kamen Indiskretionen, Angebereien, persönliche Streitigkeiten, Unterschlagungen von Parteigeldern und dergleichen vor, die schon geeignet waren, Mißstimmung zu erzeugen." 32 Die Zerstörung der Parteiorganisation steht also im Zentrum der Bemühungen, der sozialdemokratischen Bewegung beizukommen, und zwar mit Hilfe des umstrittenen § 28 des Sozialistengesetzes. Das ist die eine Seite der für die Erhaltung des Ausweisungsparagraphen ins Feld geführten Argumente. Für die erhoffte Zerstörung der Parteiorganisation und die Aushöhlung der Parteidisziplin infolge von Mißtrauen und Mißgunst unter den Parteimitgliedern durch Ausweisung ihrer bewährten Führer 33 war man bereit, ohnehin überwachte sozialdemokratische Agitatoren in bisher nicht betroffenen Gebieten zu riskieren, und das um so mehr, als man insbesondere in den Landgebieten und in den vorwiegend katholischen Teilen des Reiches mit einer vergleichsweise geringen Anfälligkeit für die sozialdemokratischen Lehren nach wie vor rechnete. Etwas anderes kommt noch hinzu. Die Wirkung des Ausweisungsparagraphen zielte nicht nur auf die Zerstörung der Parteiorganisation durch die Ausweisung ihrer Führer, sie war zugleich berechnet auf eine Einschränkung oder gar völlige Lahmlegung der Agitation durch den Druck auf die Parteikasse infolge Unterstützung der Ausgewiesenen und ihrer zurückbleibenden Angehörigen. So heißt es beispielsweise in der „Ubersicht" vom 29. Dezember 1879: „Bei der Auswahl der Vertrauensmänner, Gruppenführer pp. wird die Vorsicht beobachtet, an die exponirtesten Posten soviel als möglich unverh e i r a t e t e und noch nicht compromittirte Personen zu stellen, von denen 31

Übersicht vom 3 0 . 1 . 1 8 8 3 , S. 12.

32

Übersicht vom 1 5 . 1 1 . 1 8 8 7 , S. 9 fF. — Was hier im Zusammenhang mit den Freiberger Prozessen und deren Wirkung gesagt ist, gilt sinngemäß auch für die Wirkung des Ausweisungsparagraphen. 33

Von diesem Gesichtspunkt her erhält übrigens der immer wieder aufgenommene Versuch, an Stelle der Ausweisung innerhalb des Reichsgebietes die Expatriierung zu setzen, eine weitere Begründung.

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angenommen werden darf, daß zuvörderst gegen sie noch nicht genügend Material, um ihre Ausweisung zu verfügen, vorliegt, und daß sie im Fall einer etwaigen Entdeckung und Ausweisung sich selbst fortzuhelfen im Stande sind, damit die von der Partei gesammelten Gelder nicht durch übermäßige Unterstützungen geschwächt, vielmehr möglichst intakt abgeliefert werden können." 34 Hier wird in der Tat ein empfindlicher Punkt angesprochen, denn die durch Ausweisungen eingetretene Belastung der Parteifinanzen stellte erhebliche Anforderungen an die Opferwilligkeit der Parteimitglieder. So vermerkt die „Ubersicht" vom 31. Dezember 1880, daß „für die fast sämmtlich bedürftigen Ausgewiesenen die zum Umzüge und zum Unterhalt bis zum Auffinden einer anderen Beschäftigung erforderlichen Mittel zu beschaffen" waren, und daß es „der fortlaufenden Unterstützung einer großen Anzahl von Familien" bedurfte. Es wird aber resignierend hinzugefügt: „Der Parteivorstand hat sich der Aufgabe, Geld zu schaffen, . . . durchaus gewachsen gezeigt,35 denn durch die Anregung zur Veranstaltung von Kränzchen, Theatervorstellungen, Conzerten, Lotterien und dergleichen, sowie durch Bemühungen bei begüterten Parteigenossen und Mitgliedern anderer Parteien ist es ihm gelungen, sämmtliche einmaligen Bedürfnisse zu decken und auch für die Zukunft die Zahlung regelmäßiger Unterstützungen an die Familien der Ausgewiesenen zu sichern."36 Die hier anklingende pessimistische Beurteilung der Erfolgsaussichten darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß man trotzdem gewillt war, mit Ausdauer und energischer Handhabung des Sozialistengesetzes gerade über den Druck auf die Parteifinanzen eine empfindliche Bresche in die Wirksamkeit der Partei in der Öffentlichkeit zu schlagen. Bereits ein halbes Jahr später heißt es in der „Ubersicht" vom 15. Juni 1881, daß „eine wirksame Agitation ohne Aufwendung erheblicher Geldmittel sehr schwierig" sei. Der Kausalzusammenhang von Ausweisungen und Parteiagitation ist durchaus richtig erkannt 37 und damit zugleich der Gefahrenpunkt für die Existenz der 34 Übersicht vom 2 9 . 1 2 . 1 8 7 9 , S. 4. — Übrigens wird in diesem Absatz die ausgesprochene Absicht deutlich, mit den Übersichten direkten Einfluß auf die Handhabung des Gesetzes zu nehmen. Hier wird die Aufmerksamkeit auf den Wechsel in den lokalen Parteiführungen gelenkt. Im Regelfall gingen solche Hinweise in den Übersichten in direkten Anweisungen von den Regierungspräsidenten an ihre nachgeordneten Behörden zur Kenntnisnahme und Beachtung. Beispiele dafür in den Präsidialakten des Staatsarchivs Osnabrück, Rep. 116 I, Nr. 9540 ff. 35

Hier haben wir ein Beispiel für die Ehrlichkeit der Berichterstattung, auf die oben im Zusammenhang mit der Vertraulichkeit der „Übersichten" bereits hingewiesen wurde. 36 Übersicht vom 31.12. 1880, S. 14 f. 3T Siehe auch S. 7: „ . . . d a ß ein großer Teil der Ausgewiesenen dauernd für sich selbst und noch mehr noch für die Familien Unterstützungen in Anspruch zu nehmen gezwungen ist, und daß naturgemäß das Interesse für diese Steuer in demselben Maße abnimmt, wie

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Partei, die mehr als jede andere auf den engen Kontakt zu ihren Mitgliedern und auf die Öffentlichkeitsarbeit angewiesen war. So frohlockt dieselbe „Ubersicht" sicher nicht ohne Grund: „Die Ansprüche aber, welche an die Anhänger der Sozialdemokratie allein zum Zweck der Unterstützung der Ausgewiesenen und deren Familien dauernd gemacht werden müssen, sind schon so bedeutend, daß bei den vielfach noch immer ungünstigen Erwerbsverhältnissen die Grenze der Leistungsfähigkeit dadurch beinahe erreicht wird." 38 Wenige Seiten später heißt es: „Vielleicht wird mit der Zeit Geldmangel der Agitation ernste Hindernisse bereiten." 39 Erst Mitte der achtziger Jahre, zuerst in der „Ubersicht" vom 6. Juli 1885, wird der Optimismus wesentlich gedämpft. Der Druck auf die Parteikasse reichte nicht aus, um die Sozialdemokratie in ihrer Existenz ernsthaft zu gefährden. Die Führer der Partei haben es immer wieder verstanden, erhebliche Mittel in entscheidenden Augenblicken aufzubringen, und außerdem haben die Parteiorganisationen anderer Länder besonders für die Wahlkämpfe teilweise erhebliche Summen zur Verfügung gestellt. Hinzu kommt ein anderer Gesichtspunkt, von dem in dem Rechenschaftsbericht der preußischen Regierung über die Anwendung des § 28 des Sozialistengesetzes in Hamburg-Altona vom 6. März 1884 die Rede ist. Dort heißt es, daß es „in dem letzten Jahre nur der Ausweisung von etwa 20 Personen bedurft hatte, während in den ersten Jahren des Ausnahmezustandes 243 Aufenthaltsverbote ausgesprochen werden mußten". 40 Die Zahl der Auszuweisenden ging also zurück, nicht zuletzt auch deshalb, weil die sozialdemokratischen Führer sich allmählich in ihrem Verhalten ganz auf das Gesetz eingestellt hatten, dann aber auch, weil Mitte der achtziger Jahre ein deutlicher Rückgang in der energischen Handhabung des Sozialistengesetzes zu beobachten ist.41 Erst die letzte „Übersicht" sich die Uberzeugung befestigt, daß die Maßregel der Ausweisung, welche man früher nur für eine vorübergehende zu halten geneigt war, solange in Übung bleiben wird wie das Gesetz vom 21. October 1878 überhaupt." — Vgl. auch die „Ubersicht" vom 12.1. 1882, S. 2: „Ferner war die Agitation durch das Gesetz vom 21. October 1878 im Allgemeinen, und die Einführung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes in Leipzig, die dadurch bedingte Zersprengung des vereinten Parteivorstandes, sowie die Furcht vor der Ausdehnung dieser Maßregel auf eine Reihe anderer Gebiete im besonderen, erschwert, und endlich fehlte es an Geld." 38 Übersicht vom 15.6. 1881, S. 1. 39 Ebda., S. 7 f.; vgl. auch Ubersichten vom 12.1. 1882, S. 14 f.; 14. 6.1882, S. 7 f.; 3 0 . 1 . 1883, S. 17 f. 40 Rechenschaftsbericht vom 6 . 3 . 1 8 8 4 , Sten. Ber. 5/IV 1884, Bd. III, Drucksache Nr. 22. 41 Ich darf dafür meine Arbeit zitieren: W. Pols, Sozialistenfrage und Revolutionsfurcht in ihrem Zusammenhang mit den angeblichen Staatsstreichplänen Bismarcks, Lübeck und Hamburg 1960, S. 53 ff., besonders die Tabellen S. 54, aus denen dieser Sachverhalt am Beispiel der Tätigkeit der Reichs-Commission hervorgeht.

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während der Geltungsdauer des Sozialistengesetzes vom 22. November 1889 spricht wieder von umfangreichen Geldsammlungen, um für den Wahlkampf die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu haben. 42 Zwei Dinge werden also von der Zentralstelle für die Beobachtung der sozialdemokratischen Bewegung zugunsten der Erhaltung des Ausweisungsparagraphen ins Feld geführt: einmal die Zerstörung der Parteiorganisation durch die Ausweisung ihrer Führer, zum anderen die Belastung der Parteifinanzen durch die Unterstützung der Ausgewiesenen und ihrer Familien und damit Einschränkung der Agitation wegen Geldmangels. Das Mittel der Ausweisung hat zwar nicht den erwünschten Erfolg gehabt, aber an dem Ausweisungsparagraphen des Sozialistengesetzes ist gleichwohl festgehalten worden, und zwar eben mit diesen Argumenten der Politischen Polizei. Die Rechenschaftsberichte der Staatsregierungen der einzelnen betroffenen Bundesstaaten über die Anwendung des § 28 des Sozialistengesetzes machen das deutlich.43 Das ist es aber, was gezeigt werden sollte, daß nämlich Urteil und Auffassung der Politischen Polizei unmittelbar auf politische Entscheidungen einzuwirken vermochten. IV Was hier am Beispiel des Ausweisungsparagraphen des Sozialistengesetzes gezeigt werden konnte, wird unterstrichen und noch deutlicher erkennbar in einem anderen Zusammenhang. Bei einem Vergleich der Rechenschaftsberichte mit den „Übersichten", also den Polizeiberichten, stellen sich nämlich auffallende Ubereinstimmungen der Rechenschaftsberichte mit den jeweils vorausgegangenen „Übersichten" heraus, die in gar keiner Weise zufällig sind. Zunächst einige Beispiele dafür: Rechenschaft,

6.

3.188444

„Die russischen Sozialisten in Zürich und Genf, das Nationalkomite der sozialistisch-revolutionären Arbeiterpartei Frankreichs, hatten unter Betonung der Solidarität und Internationalität der sozialistischen Bestrebungen dem Sozialistenkongreß in 42

Übersicht, 30.

7.1883

„Nach Verlesung von Glückwunschadressen der russischen Sozialisten in Zürich und Genf, welche die Solidarität und Internationalität der sozialistischen Bestrebungen betonten, und des Nationalkomites der sozialistisch-revolutionären Arbeiterpartei

Übersicht vom 22.11.1889, S. 9.

43

Vgl. z. B. Rechenschaften vom 21.11.1881, 5.12.1884, 27.11.1884, 19.11.1885, 25.11. 1886, 14.1. 1888, alle abgedruckt in den Anlagen zu den Sten. Ber. des Reichstags. 44

Sten. Ber. 5/1V 1884, Bd. III, Drucksache Nr. 22.

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Kopenhagen Glückwunschadressen gesendet, mit den dänischen Genossen haben die Kongreßdelegirten ein Verbrüderungsfest gefeiert."

Frankreichs, welches sich in ähnlichem Sinne aussprach, sowie nach Votirung des Dankes der Versammelten an die zuvorkommenden dänischen Genossen, mit denen am 31. März ein Verbrüderungsfest gefeiert war, wurde der Congreß mit dem Gesänge der Arbeitermarseillaise geschlossen." (8)46

Rechenschaft, 6. 3.1884

Übersicht, 30. 7.1883

„Der vorstehend erwähnten Resolution 45 ist bereits eine praktische Folge gegeben durch die außerordentlich lebhafte Agitation, welche im ganzen Reiche von der sozialdemokratischen Partei gegen das Krankenkassengesetz eingeleitet worden ist und fortgesetzt rege erhalten wird."

„Dies erscheint um so n o t w e n d i ger, als der in Rede stehenden Resolution bereits eine praktische Folge gegeben ist durch die außerordentlich lebhafte Agitation, welche im ganzen Reiche gegen die erste einschlägige Vorlage, das Krankenkassengesetz, eingeleitet, und bis zur Ablehnung desselben durch die sozialistischen Abgeordneten fortgesetzt ist." (10)

Rechenschaft, 6. 3. 1884

Übersicht, 30. 7.1883

„Die Verhandlungen auf dem Kopenhagener Kongreß hatten im Vereine mit sonstigen Wahrnehmungen die schon früher ausgesprochene Annahme bestätigt, daß die sozialdemokratische Partei sich wieder zu kräftigen beginne und an Zuversichtlichkeit und Geschlossenheit im Vergleich zu den ersten Jahren nach Emanation des Sozialistengesetzes nicht unerheblich gewonnen haben."

„ . . . die Schilderung der bereits errungenen und der noch zu erwartenden Erfolge haben das Selbstvertrauen und die Zuversicht der ganzen Partei merklich gehoben, und eine große Menge derer, welche bereits zu zweifeln und den Muth zu verlieren begannen, wieder aufgerichtet, so daß die Partei in den meisten Theilen des Reiches . . . jetzt geschlossener und hoffnungsfreudiger dasteht, als seit langer Zeit." (11)

Rechenschaft, 6. 3.1884

Übersicht, 30. 7.1883

„Die Regsamkeit der Parteigenossen und die praktische Bethätigung

„Auch die Regsamkeit der Parteigenossen und die Bethätigung ihres

45 46

Zur Sozialpolitik. ( ) Die Seitenzahlen der Übersiditen.

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ihres Interesses hatte namentlich seit dem Kongreß in Kopenhagen erheblich zugenommen. Dies zeigte sich zunächst in der Steigerung der Nachfrage nach dem Parteiorgan, dem Sozialdemokrat', dessen Auflage um circa 1000 Exemplare vermehrt werden mußte, sodann in dem A u f schwünge, welchen die Verbreitung sozialdemokratischer D ruckschr if ten nahm, und endlich in dem reicheren Ertrage der Geldsammlungen für die verschiedenen Parteizwecke, insbesondere für die Unterstützung der Ausgewiesenen, die aus diesem Grunde z. B. für Berlin namhaft erhöht werden konnte."

Interesses hat seit dem Kongresse erheblich zugenommen. Das zeigte sich zunächst in der Steigerung der Nachfrage nach dem Parteiorgan, dessen Auflage um ungefähr 1000 Exemplare vermehrt werden mußte, dann in dem Aufschwünge, welchen die Verbreitung verbotener Druckschriften nahm, und endlich in dem reicheren Ertrage der Geldsammlungen für die verschiedenen Parteizwecke, insbesondere die Wahlagitationen, und die Unterstützungen, welch letztere auf Grund dessen z. B. in Berlin namhaft erhöht werden konnten." (11)

Rechenschaft, 6. 3.1884

Übersicht, 30.1.1883

„Die bereits in dem vorjährigen Rechenschaftsbericht erwähnten Bestrebungen der Partei, die gewerkschaftlichen Vereinsorganisationen zu Parteizwecken zu benutzen, waren nicht ohne Erfolg fortgesetzt worden."

„Als Mittel hierzu 47 sind die unter verschiedenen Firmen, wie Vereine zur Wahrung der Interessen, Fahrvereine p. p., neu entstandenen gewerkschaftlichen Vereinigungen, welche insbesondere während des vergangenen Jahres in großer Zahl in allen Theilen des Reichs neu gegründet sind . . . ausersehen." (12) „Als die ersten dieser neuen Vereine vereinzelt auftauchten, verhielt sich die Sozialdemokratie ihnen gegenüber sehr kühl, als sie aber in überraschender Weise sich vermehrten, und auch zahlreiche Sozialdemokraten in ihnen Aufnahme fanden, erkannten die Führer der Sozialdemokratie sehr wohl den Nutzen, welcher ihrer eigenen Partei aus diesen festgefügten Organisationen erwachsen müsse, wenn es ihnen gelänge, si