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German Pages 135 [141] Year 1974
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JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG
Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz
1973
Herausgegeben von Dagmar Droysen
Verlag Merseburger Berlin ( 111 t
)
Edition Merseburger 1448
© 197 4 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten· Printed in Germany Redaktionelle Mitarbeit und Composersatz: Karin Mattoni, Sabine Stahnke Druck: H. Heenemann KG, Berlin ISBN 3-87537-083-X
INHALT
ZUR METHODE EINER GESCHICHTE DER MUSIKTHEORIE Materialien der Arbeitstagung 1972 in Berlin
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DAHLHAUS, Carl Wagner und die Programmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 REINECKE, Hans-Peter Die Sprachebenen über Musik als Hierarchie relationaler Systeme überlcgungen zu Wittgensteins ,Sprachspiel '-Modell . . . . . . . . . . . . . . . 64 LEMKE, Arno Einige Anmerkungen zur Freundschaft zwischen Carl-Maria von Weber und Gottfried Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 BOLLERT, Werner Anmerkungen zu Carl Maria von Webers Briefen an Gottfried Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
ZUR METHODE EINER GESCHICHTE DER MUSIKTHEORIE Materialien der Arbeitstagung 1972 in Berlin
Vorbemerkungen Die hier veröffentlichten Materialien gehören thematisch zusammen. Entstanden sind sie anläßlich der zweiten Arbeitstagung, die das Staatliche Institut für Musikforschung für die Mitarbeiter des Projekts ,Geschichte der Musiktheorie' am 21. Oktober 1972 in Berlin veranstaltet hat. Das Expose von Carl Dahlhaus ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie' sowie die zugehörigen Stellungnahmen und Repliken wurden im Frühjahr und Sommer 1972 geschrieben. Werner Braun hat sein Referat unter Bezugnahme auf diese Texte eigens für die Tagung verfaßt. Die Diskussion der Tagungsteilnehmer im Anschluß an das Referat ist, soweit es um allgemeiner interessierende Fragen ging, in Form eines Diskussionsberichts wiedergegeben. Suzanne ClercxLejeune hat ihren Text kurz nach der Tagung beigesteuert. Eine Geschichte der Musiktheorie kann sachlich sehr verschieden aufgefaßt und zudem von unterschiedlichen Standpunkten aus dargestellt werden. Angesichts solcher Vieldeutigkeit ist eine _gegenseitige Verständigung der Mitarbeiter über die Aufgaben und Ziele des geplanten Unternehmens unerläßlich. Daß die Meinungen der Autoren in prinzipiellen Dingen mitun.ter weit auseinandergehen, hatte sich bereits auf der ersten Arbeitstagung im Juli 1970 gezeigt - damals allerdings mehr beiläufig in den Diskussionen zu den Tagungsreferaten (die Referate selbst sind 1970 unter dem Titel ,Über Musiktheorie' als Band 5 der Veröffentlichungsreihe des Staatlichen Instituts für Musikforschung erschienen). Der Gedanke, eine Aussprache über das Projekt in den Mittelpunkt der zweiten Arbeitstagung zu rücken, lag daher nahe. Um die Aussprache zu entlasten und vorzubereiten, schien es zweckmäßig, bereits vor der Tagung einen schriftlichen Meinungsaustausch in Gang zu bringen. Carl Dahlhaus, auf dessen Anregung das Projekt zurückgeht, schrieb das eingangs genannte Expose, dem er auch die (hier zugleich als Obertitel der Beiträge verwendete) Überschrift gab. Als nächster Schritt wurden die Mitarbeiter um schriftliche Stellungnahme zu dem Expose gebeten. Dahlhaus antwortete mehreren Mitarbeitern mit seinen (hier getrennt abgedruckten) ,Bemerkungen zu einigen Einwänden'. Gleichzeitig konnte sich zu den Stellungnahmen der Kollegen ebenfalls äußern, wer dies wollte. Vereinzelt fand der schriftliche Austausch eine weitere Fortsetzung.
Frieder Zaminer
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Ober die Reihenfolge der einzelnen Beiträge orientiert die folgende Übersicht: CARL DAHLHAUS, Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie WERNER BRAUN, Bemerkungen zum Paper von Carl Dahlhaus ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie' CARL DAHLHAUS, Bemerkungen zu einigen Einwänden WERNER BRAUN, Umfang und Schwerpunkte der Musiktheorie - Überlegungen im Anschluß an die Stellungnahmen zum Dahlhaus-Paper CARL DAHLHAUS, Zu Werner Brauns zweitem Beitrag: Umfang und Schwerpunkte der Musiktheorie HANS HEINRICH EGGEBRECHT, Über die Begriffe Musiktheorie und Geschichte im Titel einer Geschichte der Musiktheorie - Bemerkungen zu Carl Dahlhaus' Text ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie' CARL DAHLHAUS, Bemerkungen zu einigen Einwänden HANS HEINRICH EGGEBRECHT, Bemerkungen zu den Einwänden von Carl Dahlhaus CARL DAHLHAUS, Zu Hans Heinrich Eggebrechts zweiter Replik LUDWIG FINSCHER, Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie - Stellungnahme zum Expose von Carl Dahlhaus CARL DAHLHAUS, Bemerkungen zu einigen Einwänden CONSTANTIN FLOROS, Anmerkungen zum Projekt ,Geschichte der Musiktheorie' F. ALBERTO GALLO, Methodologische Bemerkungen zu einer Geschichte der mittelalterlichen Musiktheorie KLAUS WOLFGANG NIEMÖLLER, Zu historiographischen Problemen der Musiktheorie CARL DAHLHAUS, Zu K.W. Niemöllers Bemerkungen ,Zu historiographischen Problemen der Musiktheorie' KLAUS WOLFGANG NIEMöLLER, Zur Problematik der Konzeption einer Geschichte der Musiktheorie HANS-PETER REINECKE, Theoretische Randbemerkungen - Zu Carl Dahlhaus' Expose ,Methode einer Geschichte der Musiktheorie' CARL DAHLHAUS, Zu Hans-Peter Reineckes ,Theoretischen Randbemerkungen' RUDOLF STEPHAN, Hinweise auf einige mehr am Rande liegende Fragen ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie' FRIEDER ZAMINER, Geschichte der Musiktheorie als Geschichte einer Disziplin - Bemerkungen zum Expose von Carl Dahlhaus CARL DAHLHAUS, Bemerkungen zu einigen Einwänden WERNER BRAUN, Doppelchörigkeit im 17. Jahrhundert - Zu den ,fehlenden' Theorien DISK USSIONSBERICHT SUZANNE CLERCX-LEJEUNE, Quelques remarques sur Je projet
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ZUR METHODE EINER GESCHICHTE DER MUSIKTHEORIE
CARL DAHLHAUS
1. Daß sich der Begriff der Musiktheorie in zweieinhalb Jahrtausenden nach Inhalt und Umfang verändert hat, ist bekannt (wenn auch eine ausführliche Darstellung noch aussteht); weniger bewußt scheint man sich - aus Gewöhnung an einen terminologischen Kompromiß, der sich fast zu einer Selbstverständlichkeit eingeschliffen hat, obwohl er eher seltsam ist - der methodologischen Schwierigkeiten zu sein, die aus den Veränderungen des Theoriebegriffs für eine Geschichte der Musiktheorie entstehen. Die konventionelle Bestimmung des Gegenstands einer Geschichte der Musiktheorie ist das Resultat einer ,Addition' von älteren und neueren Theoriebegriffen. Von den überlieferungsbeständen, die man heute als ,Musiktheorie des Mittelalters' bezeichnet, ist nur ein Teil auch im Mittelalter ,Theorie' genannt worden. Andererseits fällt von dem, was im Mittelalter ,Theorie' hieß, nur ein Teil im 19. Jahrhundert gleichfalls unter den Begriff der Theorie, ein anderer unter den der Physik und ein dritter unter den der Ästhetik oder Philosophie der Musik. Der gewohnte Kompromiß besteht nun, grob gesagt, in nichts anderem, als daß man unter der Musiktheorie einer Epoche vor dem 19. Jahrhundert alles begreift, was in der Epoche selbst Theorie genannt wurde (auch wenn es im 19. Jahrhundert nicht mehr zur Theorie gezählt wurde), und außerdem alles, was im 19. Jahrhundert zur Theorie gehörte (auch wenn es in der früheren Epoche nicht als Theorie galt); umgekehrt wird jedoch eine übertragung vom Mittelalter auf das 19. Jahrhundert vermieden. Der Kompromiß mag ,faul' sein; ob es aber sinnvoller wäre, unter Musiktheorie entweder nur das zu verstehen, was jeweils in einer Epoche so genannt wurde, oder aber nur das, was im 19. Jahrhundert so hieß, ist zweifelhaft.
2. Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, denen der Theoriebegriff in der Musikgeschichte (und nicht nur in ihr) unterworfen war, ist es unwahrscheinlich, daß man eine Methode der Geschichtsschreibung - und sei es eine weitgespannt synkretistische - festsetzen kann, die allen Epochen gerecht wird. Vielmehr muß sich das Verfahren zusammen mit dem Gegenstand ändern, wenn nicht die ,feste' Methode zu einer gewaltsamen werden soll. Theorie hat im Mittelalter eine andere Art von Historizität als etwa im 18. Jahrhundert. Außer den Epochen müssen vermutlich auch die einzelnen Disziplinen, aus denen sich die Musiktheorie zusammensetzt, verschieden behandelt werden. Die Idee der musica mundana fordert einen anderen Darstellungsmodus als die Entwicklung der Notationslehre im 13. Jahrhundert. Die Diskussionen über Stimmungen und Temperaturen seit dem 15. Jahrhundert legen eine primär problemgeschichtliche Behandlung - nach Analogie eines Stücks Wissenschaftsgeschichte - nahe; der Zusammenhang mit der Entwicklung der Komposition ist sekundär (daß er gering war, ist allerdings ein charakteristisches Merkmal der Sache selbst), und sozialgeschichtliche Motive sind, wenn überhaupt, so vermittelt wirksam, daß es schwer fällt, sie zu entdecken. Dagegen ist die
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Geschichte der Kontrapunkt- und Harmonielehre seit dem 18. Jahrhundert schwerlich ohne Untersuchung der Relationen zur kompositorischen Praxis und ohne Berücksichtigung der musikalischen Sozial- und Institutionengeschichte zu begreifen. (Daß Harmonielehren unablässig, Kontrapunktbücher seltener und Rhythmustheorien nur sporadisch geschrieben wurden, ist keineswegs in der Natur der Disziplinen begründet; der Ehrgeiz, die Harmonielehre naturwissenschaftlich zu fundieren, hat zweifellos einen sozialpsychologischen Aspekt.) Ob also der Akzent auf Innen- oder Außenbeziehungen einer Disziplin gelegt wird, ist weniger Sache einer außerwissenschaftlichen ,Entscheidung', die ,prinzipiell' zu fällen wäre, als daß es, mindestens partiell, von Merkmalen des Gegenstands (die geschichtlich veränderlich sind) abhängt, also eher ,kasuell' auszumachen ist. 3. Die Gliederung der Geschichte der Musiktheorie in Epochen braucht mit den Schemata der Geistesgeschichte, deren wissenschaftliches Prestige ohnehin geschmälert ist, nicht übereinzustimmen. Jedenfalls bildet die Musiktheorie des 18. und 19. J ahrhunderts, von Rameaus ,Traite de l'harmonie' bis zu Schönbergs ,Harmonielehre', die ein Ende und zugleich einen Anfang bezeichnet, einen geschlossenen Traditionszusammenhang, unabhängig vom Wechsel der Kompositionsstile. (Eine ,romantische Musiktheorie' gibt es nicht, es sei denn in einigen Fragmenten von Novalis.) Charakteristische Merkmale des 18. und 19. Jahrhunderts sind (a) die Begründung des Wissenschaftscharakters der Musiktheorie durch Physik oder Pseudo-Physik (Rekurs auf die Partialtonreihe), (b) die Spaltung der Musiktheorie in Ästhetik und Handwerkslehre (die Mattheson 1 739 als letzter in eins faßte und die sich andererseits in der neuesten Musiktheorie wieder durchdringen), (c) die Divergenz zwischen dem Anspruch der Theorie, ein ,natürliches', überzeitlich gültiges System zu sein (Fux, Hauptmann, Riemann), und dem Bestreben, der geschichtlich veränderlichen Kompositionspraxis gerecht zu werden, sei es auch ,nachhinkend'. Zäsuren zwischen den Epochen sind einerseits an der Preisgabe älterer, andererseits an dem übergang zu neueren Prinzipien kenntlich, ohne daß allerdings schroffe Einschnitte mit festen Daten zu erwarten wären. Steht also die Epochengliederung der Geschichte der Musiktheorie gleichsam quer zur gewohnten geistesgeschichtlichen Klassifikation, so ist eine ähnliche Divergenz wie im 18. und 19. Jahrhundert in anderen Zeitaltern nicht unwahrscheinlich. (In der ,Renaissance' scheint die Musiktheorie nicht in der Zeit Petrarcas, sondern erst im späten 15. Jahrhundert, bei Tinctoris und Gafurius, ,neu' gegenüber der übermächtigen überlieferung des Mittelalters zu sein.) 4. Von einer Geschichte der Musiktheorie, die ein sowohl les- als auch benutzbares Buch sein soll, darf erwartet werden, daß sie (a) die Grundzüge der Musiktheorie eines Zeitalters, (b) die Stufen der geschichtlichen Entwicklung (unter Betonung der Außenbeziehungen, also des Zusammenhangs der Musiktheorie mit der Kompositions- und der Geistes-, der Sozial- und der Institutionengeschichte), (c) die Problem- und Dogmengeschichte in den einzelnen Teildisziplinen (Harmonielehre, Kontrapunkt, Theorie des Rhythmus) und (d) das die Teildisziplinen übergreifende ,System' bedeutender Theoretiker (Riemann, Schenker) genügend berücksichtigt und geschlossen darstellt. Das Postulat scheint utopisch zu sein. Doch kann die Konkurrenz der Gesichtspunkte, die sich scheinbar ausschließen, dadurch geschlichtet (wenn auch nicht gänzlich aufgehoben) werden, daß man in einem der Teile die Stoffmassen versammelt, so daß die
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übrigen den Charakter von ergänzenden {oder einleitenden) Reflexionen erhalten. Und zwar dürfte es beim 18. und 19. Jahrhundert zweckmäßig sein, das Material primär in dem Kapitel über die Dogmen- und Problemgeschichte der einzelnen Teildisziplinen auszubreiten.
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WERNER BRAUN
Bemerkungen zum Paper von Gart Dahlhaus ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie'
1. Gegenstand ,Theorie' und ,Praxis' sind vor dem 19.Jahrhundert und in gewissem Umfang auch noch heute von Wertvorstellungen belastete Begriffe. Ein ,theoretisches' Verhalten konnte als (nutzlose) Spekulation und eine ,praktische' Tätigkeit als (purer) usus verdächtigt werden. Es wäre sogar denkbar, daß die Abneigung gegenüber dem einen oder dem anderen Begriff verdunkelnde und mißverständliche Benennungen zur Folge hatte. Ein großer Teil von ehemals aktueller Musiktheorie wurde als Musica practica beschrieben, weil hier die Praxis theoretisch fundiert erschien. Schon insofern eignen sich die alten Bezeichnungen und deren Anwendungsbereiche nur bedingt zur Richtschnur für eine neu zu schreibende Geschichte der Musiktheorie. Andererseits ist fraglich, ob das 19. Jahrhundert wirklich die nötigen Ergänzungen vollständig zu bieten vermag. Daß beispielsweise die musikalische Terminologie und die Notationen auch neuerer Zeit eine Fülle von theoretischen Implikationen enthalten, weiß man eigentlich erst seit verhältnismäßig wenigen Jahren. Zu der ,summierenden' Begriffsbestimmung sollte also die ,reflektierende' treten, die von Besonderheiten der jeweiligen Epoche ausgehend - eben diese Besonderheiten wieder überwindet. Vielleicht läßt sich Musiktheorie definieren als Sammelbegriff für all jene überlegungen, die musikalische Praxis ermöglichen, erklären, begleiten, korrigieren, transzendieren.
2. Gegenstand und Methode Wenn auch die Methode vom jeweiligen Gegenstand und von der zu behandelnden Epoche abhängt, fordert ein von verschiedenen Autoren unter einen gemeinsamen Obertitel zu stellendes Werk doch ein paar grundsätzliche Verabredungen sowohl hinsichtlich der Gegenstände selbst wie deren Behandlung. Das einschlägige Schrifttum der letzten fünfzig Jahre bietet - grob gesagt - die Alternative einer Geschichte der Musiktheorie entweder von den musikalischen Werken her oder aber als ein Teil der Geistesgeschichte. Ist die erstgenannte Möglichkeit durch Hugo Riemanns teleologische Betrachtungsweise etwas in Mißkredit geraten, so die andere durch ein übertriebenes und mitunter geradezu identifizierendes ,Verstehen'. Der Hinweis auf die „primär problemgeschichtliche Behandlung" deutet hier einen Ausweg an. Darüber hinaus aber wäre immer wieder zu bedenken, daß eine ,Geschichte der Musiktheorie' doch wohl in der sie umgebenden Musik ihren eigentlichen Bezugspunkt hat. Der Nachweis von scheinbarer Bezugslosigkeit und von gewissermaßen ,ungeschriebenen Theorien' vermag den ,Gegenstand' einzugrenzen und schärfer zu beleuchten. Ein solch ,positivistischer' Ansatz könnte einen Ausgleich schaffen für die bisher überwiegende ,nachvollziehende Spekulation' und gleichzeitig dem Wunsch nach einer ,aktualisierenden' Darstellung gefahrlos Rechnung tragen. Im Passus über die fehlende romantische Musiktheorie klingt diese Auffassung an. Offenbar ist an eine Darstellung der romantischen Musikanschauung innerhalb des zur Diskussion stehenden Werks nicht gedacht. 3. Epochengliederung Angesichts des Beharrungsstrebens einmal etablierter Lehren wird die „Preisgabe älterer" und der „ übergang zu neueren Prinzipien" oft nur Teilbereiche der Musiktheorie betroffen haben. Die deutsche Kompositionslehre des 17./18. Jahrhunderts bewahrt viele schon früher formulierte Gedanken; die ,Trias harmonica', die Anfänge einer
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naturwissenschaftlichen Klanglehre und dann die französischen Kunsttheorien bezeichnen jedoch verschiedenartige Zäsuren. „Quer zur gewohnten geistesgeschichtlichen Klassifikation" steht die Epochengliederung auf Grund einzelner ,Stränge' in der Geschichte der Musiktheorie: auf Kosten anderer ,Themen' und ,Aspekte'. Es bleibt zu überlegen, ob dann nicht doch schematische Einteilungen vorzuziehen sind - wenn man nicht überhaupt thematische Längsschnitte an die Stelle epochengeschichtlicher Querschnitte setzen will. 4. Gegenstand und Gegenstände Die vorgeschlagenen Stoffe und Bereiche sollten durchdrungen sein von dem Bestreben, das Phänomen ,Musiktheorie' aus einer vergangenen Zeitlage heraus deutlich zu machen. Im Sammeln, Beschreiben und Interpretieren würde so der Umriß einer noch immer ziemlich ungewissen Disziplin abgesteckt.
CARL DAHLHAUS
Bemerkungen zu einigen Einwänden
1. Wenn ich vom Theoriebegriff des 19. Jahrhunderts sprach, der mit älteren Theoriebegriffen „addiert" werde, meinte ich den „gewohnten Kompromiß" (der keineswegs unveränderlich ist). Zweifellos sind die Tendenzen der letzten Jahrzehnte von Einfluß auf den Entwurf einer Geschichte der Musiktheorie. „ Vielleicht läßt sich Musiktheorie definieren als Sammelbegriff für all jene überlegungen, die musikalische Praxis ermöglichen, erklären, begleiten, korrigieren, transzendieren". Die Definition ist, mindestens für das 18. bis 20.Jahrhundert, zu weitgespannt und umfassend, da sie Musikästhetik, Musikkritik und Musikgeschichtsschreibung einschließt.
2. Unleugbar sind die Beziehungen der Theorie zur „umgebenden Musik" ein wesentliches Moment. Doch fehlt es an genauen Vorstellungen, was eigentlich jeweils als „umgebende Musik" (die mit der gleichzeitig komponierten nicht immer zusammenfällt) gelten soll. 3. Eine „schematische Einteilung", und zwar nach ungefähren Jahreszahlen („ Von der Mitte des 15. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts") dürfte die einzig mögliche sein.
WERNER BRAUN
Umfang und Schwerpunkte der Musiktheorie Überlegungen im Anschluß an die Stellungnahmen zum Dahlhaus-Paper
1. Nach dem alteingeführten Begriffspaar Theorie und Praxis, an das u.a. H.H. Eggebrecht anknüpft, betreffen grundsätzlich alle schriftlich-verbalen Äußerungen zur und
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über Musik die Musiktheorie. Von den vier im Riemann-Lexikon genannten Bereichen musikalischer ,Dokumente' - Noten, Musikliteratur („Betrachtungen über Musik"), Bilder und Tonaufnahmen - würde also besonders der zweite das Material für eine Geschichte der Musiktheorie liefern. Neben den so entscheidend wichtigen ,Worttexten' (F.A. Gallo) gab es aber wohl zu allen Zeiten auch primär ,theoretisch' motivierte oder nachträglich so aufgefaßte Kompositionen - ganz zu schweigen von dem latent ,theoretischen' Gehalt in jedem Musikwerk. 2. Das Prinzip, alles einmal der ,Theorie' Zugeordnete auch rück- und vorauswirkend der Musiktheorie zuzurechnen - was einer geringfügigen Erweiterung des von C. Dahlhaus beschriebenen „gewohnten Kompromisses" gleichkäme -, führt ebenfalls zu einem umfassenden Theorie-Begriff. 3. Er liegt auch L. Finschers „Anregungen zur Systematik" zugrunde. Hier - nicht in der „Darstellung der italienischen Theorie von Tinctoris bis Zarlino" - fehlt jedoch die Formen-, Gattungs- und Stillehre. Das ebenfalls noch zu berücksichtigende Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ließe sich vielleicht im Abschnitt ,Systematik' unterbringen. 4. Man wird also die ,Musikanschauung', die mit der von H.-P. Reinecke skizzierten Meta-Theorie manches gemeinsam hat, nicht ohne weiteres und gänzlich ausklammern können, wie das C. Floros vorschlägt. Ein solcher Entschluß würde Systembrüche zur Folge haben, das geplante Werk uneinheitlich machen und der Willkür Vorschub leisten. 5. Eingeschränkt werden die unter Punkt 1 und 2 genannten Grundsätze durch musiktheoretische Problemstellungen, die sich zu eigenen Disziplinen verselbständigt haben (Akustik, Tonpsychologie und -physiologie, Musikpsychologie, Musikästhetik, Musiksoziologie), die mehr in die Zuständigkeit eines anderen Fachs gehören (Philosophie, Theologie, Physik, Mathematik) oder die einen fachähnlichen Sondercharakter erhalten haben (Geschichte der Musikanschauung, der Musikerziehung, der Musikwissenschaft). 6. Da diese Bereiche aber auch nicht einfach übergangen werden können, hätte eine Geschichte der Musiktheorie einerseits eine Vorstellung von der Gesamtheit der auf Töne sich beziehenden überlegungen zu vermitteln, andererseits aber jene Gedanken und Lehren hervorzuheben, die mit der jeweils aktuellen Musik zusammenhängen. 7. Von daher wird eine differenzierte Epochengliederung (chronologische Ordnung) auch für die Geschichte der Musiktheorie nahegelegt, wobei die von F. Zaminer mit Recht kritisierte geistesgeschichtliche Periodisierung nicht maßgebend zu sein braucht. Es wäre zu prüfen, ob nicht durch zusammenschließende schematische Einteilungen Musiktheorie und Musikpraxis deutlicher als bisher ihre einander bedingenden Eigenheiten zeigen.
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CARL DAHLHAUS
Zu Werner Brauns zweitem Beitrag: Umfang und Schwerpunkte der Musiktheorie
Zu 2: Durch den „gewohnten Kompromiß" wird zwar die musikalische Handwerkslehre, die im 19. Jahrhundert zur Theorie gezählt wurde, auch im Mittelalter - entgegen dessen eigenem Theoriebegriff - der Theorie zugeordnet, aber nicht umgekehrt die Ästhetik, die im Mittelalter zur Theorie gehörte, auch im 19. Jahrhundert der Theorie - von der sie sich im 18. Jahrhundert abgespalten hatte - subsumiert. Und „das Prinzip, alles einmal der ,Theorie' Zugeordnete auch rück- und vorauswirkend der Musiktheorie zuzurechnen" - ein Prinzip, für das Werner Braun zu plädieren scheint -, ist durchaus keine „geringfügige Erweiterung", sondern eine weittragende Veränderung des „gewohnten Kompromisses": Die Konsequenz, die ich scheuen würde, wäre nichts Geringeres als eine Einbeziehung der Musikästhetik, der Akustik und sogar der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Auch dürfte der „gewohnte Kompromiß" sachlich insofern gerechtfertigt sein, als Geschichtsschreibung eher auf die Darstellung von Nachwirkungen als auf die von Vorgeschichten verzichten kann: Die Entwicklung der Kontrapunktlehre im 18. und 19.Jahrhundert, die ,Theorie' hieß, ist ohne Rekurs auf die Kontrapunktlehren früherer Epochen, die noch nicht zur Theorie gezählt wurden, unverständlich; dagegen kann die musica speculativa des Mittelalters auch ohne Berücksichtigung der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts angemessen beschrieben werden.
HANS HEINRICH EGGEBRECHT
Über die Begriffe Musiktheorie und Geschichte im Titel einer Geschichte der Musik theorie Bemerkungen zu Carl Dahlhaus' Text ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie'
1. Daß der Begriff der Musiktheorie seit der Antike nach Inhalt und Umfang beständig sich verändert hat, besagt in der Tat nicht, daß in einer Geschichte der Musiktheorie nur das abzuhandeln sei, was jeweils in einer Epoche Musiktheorie genannt wurde, oder aber durchgehend nur das, was etwa im 19. Jahrhundert so hieß. Die Veränderung des Theorie-Begriffs ist aber mehr eine Fragestellung der Begriffsgeschichte (schon im Mittelalter ist der Sprachgebrauch uneinheitlich) als ein methodologisches Problem einer Geschichte der Musiktheorie. Deren Autoren müssen wissen, was sie unter dem Titel Musiktheorie behandeln wollen. Sie werden dabei weder von dem Riemannschen Theorie-Begriff, noch etwa von einem Kompromiß zwischen diesem und älteren Begriffen von Theorie ausgehen; vielmehr müssen sie versuchen, den Begriff der Musiktheorie im Blick auf deren neu zu schreibende Geschichte neu zu umreißen, - so wie Hugo Riemann diesen Begriff aus seiner Sicht für seine Zeit repräsentativ umschrieben hatte, z. B. in seinem ,Grundriß der Musikwissenschaft' (1908, zit. nach der 4., von ]. Wolf durchgesehenen Auflage, Leipzig 1928, S. 13 ff.), wo er unter Musiktheorie versteht einerseits „die spekulative Theorie der Musik" (Musikästhetik; hierher gehören z. B. auch Rhythmik und Metrik), andererseits „die Musiktheorie im engeren Sinne"
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(„angewandte Musikästhetik", „die für den praktischen Unterricht berechnete Musiktheorie", „musikalische Fachlehre": Satzlehre, Kompositionslehre; hierher gehören z. B. auch Harmonielehre und Kontrapunkt). Ein für eine neu zu schreibende Geschichte der Musiktheorie konzipierter TheorieBegriff ist in der Tat „additiv" (wie Dahlhaus schreibt: „Resultat einer ,Addition' von älteren und neueren Theoriebegriffen"), aber kein „Kompromiß": in ihm verbindet sich zu einem Begriff die Geschichte der Sache mit ihrem aktuellen Status, und die Definition des Begriffs erfaßt weniger den Wandel und die Addition der Begriffsinhalte als vielmehr die in der Geschichte greifbaren und gegenwärtig aktuellen Prinzipien der Sache, die zugleich die Gesichtspunkte der zu schreibenden Geschichte liefern, - so etwa wie die (einst von Dahlhaus und mir gemeinsam entworfene) Definition im Sachteil des Riemann Musiklexikons es versuchte: „Theorie der Musik (griech. 8ewpia, Betrachtung, Erklärung, Erkenntnis) ist, als Gegenbegriff zu Praxis (griech. rrpä~LC:, handelnde und herstellende Tätigkeit, Ausführung, Ausübung), das geistige Durchdringen und begriffliche Erfassen des Klingenden in seiner natürlichen Beschaffenheit, seiner musikalischen Geltung und seiner als Praxis sich ereignenden Gestaltung, Wirkung und Bedeutung." Ein wie auch immer eruierter und detaillierter Begriff von Musiktheorie ist nicht nur „additiv", sondern auch „selektiv". Die Selektion im Begriff entsteht einerseits zufolge der überlieferung der Quellen, andererseits und mehr noch als Folge des aktuellen Status und Auffassens der Sache. So hatte seinerzeit Hugo Riemann (a.a.O. S. 1 7 f.) „die Entwicklung der theoretischen Erkenntnis des Wesens der Musik" als „ein stetiges Fortschreiten bis zum Stand der Gegenwart" aufgefaßt, und dementsprechend hatte die Geschichte der Musiktheorie, „sofern sie das allmähliche Auffinden der Gesetze zeigt, welche heute zu Recht bestehen" (genauer in seinem Sinne: sofern sie zeigt, daß die heutigen Gesetze zu Recht bestehen), für ihn ein „aktuelles Interesse", das zugleich in hohem Grade selektiv war. Die aktuelle Auffassung der Musiktheorie projiziert sich automatisch auf deren Geschichtsschreibung: sie setzt die Akzente, motiviert die Auswahl des Stoffes, interpretiert die Fakten und knüpft die Fäden. Die Auffassung sollte sich ihrer selbst so bewußt sein, daß auch die Projektion bewußt geschieht. Denn was in einer Geschichte der Musiktheorie Geschichte hat, genauer: als Geschichte gilt, hängt ab von dem Begriff der Musiktheorie, deren Geschichte geschrieben werden soll. 2. Zweifellos erfordern die unterschiedliche Auffassung der Musiktheorie in den Epochen und Schulen und die Verschiedenheit der in ihnen erörterten Gegenstände eine je auf sie sich einlassende, also je verschiedene Art der Behandlung, Befragung und Darstellung; insofern ist die Akzentsetzung, wie Dahlhaus sagt, eher „kasuell" auszumachen. Gleichwohl können oder sollten - zumal dort, wo mehrere Autoren beteiligt sind - hinsichtlich der Gesamtkonzeption einer Geschichte der Musiktheorie Entscheidungen prinzipieller Art getroffen werden (die deswegen nicht außerwissensc!'iaftlich zu sein brauchen). Nicht zuletzt jene Gesichtspunkte, an denen Dahlhaus die „kasuelle" Akzentsetzung demonstriert: der wissenschaftsgeschichtliche Horizont, die Relation zur kompositorischen Praxis und die Berücksichtigung der musikalischen Sozialund Institutionengeschichte, gehören zu den übergeordneten Aspekten, die Riemanns ,Geschichte der Musiktheorie' fernlagen, heute jedoch im Begriff von Musiktheorie, deren Geschichte geschrieben werden soll, wesentlich sind. Die Reflexion auf die Perspektiven des Ganzen bedeutet eine zwischen Geschichte und Gegenwart vermittelnde Aufhellung der im heutigen Begriff von Musiktheorie ohnehin gelegenen Inhalte und Fragestellungen. Dabei gerät die Gegenwartsperspektive nur
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scheinbar in Konflikt mit der historischen Bestandsaufnahme. Die geisteswissenschaftliche Maxime, jede Epoche als das zu umfassen und darzustellen, ,was sie war' und ,als was sie sich selber begriff', ist ebensosehr die konzeptionelle Forderung eines aktuellen Interesses und ebensowenig aus der Sache selbst und ihrer Geschichte zu begründen wie Riemanns positivistisches Fortschrittskonzept. In der Geschichtsschreibung geht es ohne Interpretationen nicht ab, d.h. nicht ohne Manipulation, gesteuertes Verfahren. Der Manipulator oder Steuerer ist das aktuelle Interesse; es muß als erstes erörtert werden. Hat man sich auf die Generalakzente geeinigt, so werden sie - je nachdem was die Epoche anbietet - im Gang der Darstellung verschieden stark, teilweise gar nicht zu setzen sein; andererseits jedoch werden sie durchgängig mitentscheiden, was in einer neu zu schreibenden Geschichte der Musiktheorie als Geschichte darzustellen, was also an Faktischem zu akzentuieren, zu verknüpfen und zu beleuchten ist. Wo aber keine Einigung über den Standort, die Perspektiven und Akzente zu erzielen ist, wäre dies das ehrliche Symptom einer pluralistischen Begriffsauffassung heute, die in einer pluralistisch verlaufenden Geschichtsdarstellung adäquat gespiegelt würde. 3a. Wenn die Gliederung der Geschichte der Musiktheorie in Epochen nicht übereinstimmt mit der seitens der kultur- oder geisteswissenschaftlichen Geschichtsschreibung etablierten Epochengliederung, so ergibt das außer Querständen zugleich auch Modifikationen, Ergänzungen und Korrekturen der bisherigen Gliederung und Benennung der musikgeschichtlichen Zeiträume. Daß sich in der Musiktheorie des Trecento wenig oder keine Spuren von „Renaissance" im Burckhardtschen Sinne zeigen, geht konform mit der Kompositionsart des Trecento, die auch ihrerseits den Renaissance-Begriff abweist. Und daß die Musiktheorie von Rameau bis Schönberg einen geschlossenen Traditionszusammenhang bildet, entspricht dem geschlossenen Traditionszusammenhang in der harmonischen Basis des kompositorischen Denkens dieser Zeitspanne und relativiert die Begriffe Klassik und Romantik zu Erscheinungen in einem übergeordneten Zusammenhang. Daß eine Disziplin wie die Musiktheorie aus den epochalen Kontexten ausschert, liegt der geisteswissenschaftlichen Betrachtung so wesensfern wie der soziologischen. 3b. Nochmals sind die von Dahlhaus für das 18. und 19. Jahrhundert als charakteristisch angesprochenen Merkmale der Musiktheorie zugleich überzuordnende Gesichtspunkte des Ganzen: Begründung des Wissenschaftscharakters der Musiktheorie ist ein in ihrem Begriff liegendes Prinzip und somit zugleich ein durchgängiger Aspekt ihrer Geschichte. Die Spaltung der Musiktheorie in Ästhetik und Handwerkslehre erscheint im Mittelalter (z.B. bei Johannes de Muris} als Dualismus von Musica speculativa (Boethius-Tradition} und Musica practica (Praxis der Ars nova notandi); was die ,Musica Enchiriadis' an ,Handwerk' lehrt, indem sie es zugleich theoretisch begründet, versteht sie andererseits ,ästhetisch' als „Superficies quaedam artis musicae ... Quae ... speculationem et interius gerit ... " Und die Divergenz zwischen dem Anspruch der Oberzeitlichkeit eines theoretischen Systems und dem Bestreben, dem Wandel der Kompositionspraxis gerecht zu werden, ist - wenn auch unter wechselnden Vorzeichen - schon den Theoretikern der alten Zeiten ein Problem gewesen. (Die Relativierung des Gültigkeitsanspruchs von Systemen in dem Sinne, daß sie ein Stück Geschichte darstellen, wurde erst durch den geisteswissenschaftlichen Rekurs auf die Jeweiligkeit und Fortschrittsfremdheit kulturgeschichtlicher Phänomene zu einer aktuellen Auffassung.}
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4. Außer den von Dahlhaus genannten Gesichtspunkten, die zu beriicksichtigen sind, um eine Geschichte der Musiktheorie als ein sowohl les- als auch benutzbares Buch entstehen zu lassen, ist also zu verabreden, unter welchen Interpretationsaspekten die Geschichte der Musiktheorie geschrieben werden soll. Daß der Text von Carl Dahlhaus und meine Replik weniger divergieren, als es zunächst erscheinen mochte, wird daraus ersichtlich, daß Dahlhaus selbst schon einen Katalog von Aspekten des Ganzen angesetzt hat. Ich fasse dies zusammen und ergänze es (durch eingeklammerte Hinzufügungen) seitens der „konstanten Fragestellungen" und der zunächst im Blick aufs Mittelalter entwickelten Gesichtspunkte, die ich in meinem Beitrag im Bericht ,über Musiktheorie' (1970) zur Sprache brachte: Verfolgung der Geschichte des Begriffs und Begriffsfeldes ,Musiktheorie' (griech. Ursprung; Konstituente des abendländischen Begriffs von Musik; Vergleich mit außereuropäischen, Theorie'-Begriffen) Begriindung des Wissenschaftscharakters der Theorie der Musik und der wissenschaftsgeschich tliche Aspekt; Verhältnis zwischen Musiktheorie, Philosophie und Ästhetik Verfolgung der Problem- und Dogmengeschichte (Traditionsprozesse, Selektionen, ideologische Determinationen) Betonung des Zusammenhangs der Musiktheorie mit der Geschichte der Komposition (und Notation) Relation zwischen überzeitlichem Geltungsanspruch und praxisbezogener Erneuerung von Systemen Verhältnis zwischen ,Theorie' und ,Lehre' sowie zwischen ,Theorie'/,Lehre' und ,Praxis' (Behandlung von Musiktheorie auch an Hand von Kompositionsanalyse) Betonung des Zusammenhangs der Musiktheorie mit der Sozial- und Institutionengeschichte Epochengliederung der Musikgeschichte seitens der Musiktheorie (Integrale Interpretation verschiedener Teilgebiete der Musiktheorie) (Integration der ,extrem historischen', der ,historisch-systematischen' und der ,systematisch-prinzipiellen' Perspektiven) (Einbeziehung der wissenschaftlichen Rezeption der Geschichte der Musiktheorie). Man wird diesen Katalog noch modifizieren und ergänzen und kann eine Rangfolge der Aspekte ermitteln. Dies wäre für das anvisierte Projekt die vordringlichste Aufgabe. Wie weit sinnvoll man bei dessen Durchführung dann die Ausbreitung der „Stoffmassen" (des „Materials") abtrennen kann von den reflektiven Gesichtspunkten, bleibt abzuwarten.
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CARL DAHLHAUS
Bemerkungen zu einigen Einwänden
Zu 1. „Die Definition des Begriffs" - Musiktheorie - „erfaßt weniger den Wandel und die Addition der Begriffsinhalte als vielmehr die in der Geschichte greifbaren und gegenwärtig aktuellen Prinzipien der Sache". Erstens sind nicht alle „in der Geschichte greifbaren" Prinzipien zugleich „gegenwärtig aktuell", und das Kriterium der Aktualität genügt nicht, um auszumachen, was berücksichtigt werden soll und was nicht. Zweitens ist die Definition des Riemann-Lexikons - die ich mir halb widerstrebend zu eigen gemacht habe, weil ich einsah, daß das heikle Verfahren pauschalen Definierens in einem Lexikon unvermeidlich ist - für die Zwecke einer Geschichte der Musiktheorie zu weit gefaßt: Physikalische Akustik, Tonpsychologie, Musikästhetik und sogar Musikgeschichtsschreibung werden durch die Definition eingeschlossen, obwohl sie in einer Geschichte der Musiktheorie seit dem späteren 18. Jahrhundert schwerlich berücksichtigt werden können. Zu 2. Selektion aufgrund des jeweils „aktuellen Interesses" dürfte ein Merkmal jeglicher Geschichtsschreibung sein, aber nicht das einzige. Die Berufung auf das „aktuelle Interesse" stellt darum weniger eine Lösung der Schwierigkeit - der Bestimmung des Gegenstandes einer Geschichte der Musiktheorie - dar, als daß es selbst ein Teilmoment des Problems bildet, einen Ausgleich zwischen Kriterien zu finden, die sich partiell widerstreben, und zwar (a) dem der Aktualität, (b) dem der Bedeutung einer Theorie für deren Zeitgenossen und (c) dem der geschichtlichen Kontinuität. Zu 3a. Zweifellos: Der „geschlossene Traditionszusammenhang" in der Theorie - genauer: der Harmonielehre - des 18. und 19. Jahrhunderts entspricht dem „geschlossenen Traditionszusammenhang in der harmonischen Basis des kompositorischen Denkens dieser Zeitspanne". Doch wäre erstens zu fragen: Worin ist der nicht weniger geschlossene Traditionszusammenhang der Kontrapunktlehre begründet? Und zweitens: Ist die Obereinstimmung in der „harmonischen Basis" (seit 1 700, wenn nicht früher) so entscheidend, daß demgegenüber die Stildifferenzen, die mit den Termini ,Spätbarock', ,Klassik' und ,Romantik' gemeint sind, zu einem sekundären Moment verblassen? Erst dann würde der „Querstand" zwischen Stilkategorien einerseits und „harmonischer Basis" /Musiktheorie andererseits zur Revision der Stilbegriffe zwingen. Zu 3b. Sind die „überzuordnenden Gesichtspunkte" Konstanten? Ist die musica disciplina des Mittelalters dem Wissenschaftsanspruch der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts oder die musica speculativa der modernen Musikästhetik genügend ähnlich, um denselben „übergeordneten Gesichtspunkt" zu repräsentieren?
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HANS HEINRICH EGGEBRECHT
Bemerkungen zu den Einwänden von Carl Dahlhaus*
Zu 1. Bei meiner These, daß „die in der Geschichte greifbaren und gegenwärtig aktuellen Prinzipien der Sache .„ die Gesichtspunkte der zu schreibenden Geschichte liefern", und der Gegenthese, daß „nicht alle" in der Geschichte greifbaren Prinzipien zugleich gegenwärtig aktuell seien und „das Kriterium der Aktualität" nicht genüge, „um auszumachen, was berücksichtigt werden soll und was nicht", ist zu erörtern, was „Prinzipien der Sache" sind und was „Aktualität" heißt. Ein Prinzip der Sache Musiktheorie ist z. B., daß sie ein wie auch immer geartetes Verhältnis zur Materie des Hörbaren einerseits und zur Musikpraxis andererseits hat, und dieses Prinzip der Sache ist auch heute aktuell. Ein Prinzip der Sache Musiktheorie ist m. E. auch (z.B.), daß sie sich nicht nur verbal, sondern auch in kompositorischen Denkprozessen abspielt (-die verbal überlieferte Musiktheorie ist oft nur ein Bächlein daneben), und dieses Prinzip der Sache ist in der Geschichte greifbar, wird aber erst heute eigentlich ,gesehen'. Und so geht es auch mit manchen anderen Punkten des Katalogs der Aspekte, die ich sub 4. im Ansatz skizziert habe. So geht es aber womöglich auch mit der heutigen generellen Definition des Prinzips der Sache, wie sie im Riemann Musiklexikon versucht wurde: Wenn die aktuelle Vorstellung von Musiktheorie auch etwa physikalische Akustik, Tonpsychologie, Musikästhetik und Musikgeschichtsschreibung (und gewiß noch viel mehr, nämlich z. B. auch die Musik, auf die Musiktheorie sich bezieht) mit einschließt, so fragt sich, ob die Vorstellung vom Prinzip der Sache „zu weit" ist oder ob nicht eine Geschichte der Musiktheorie, die (im Anschluß an Riemann) an einem isolierbaren Theoricbegriff festhält, problematisch geworden ist. Wenn aber ein Prinzip der Sache, deren Geschichte geschrieben werden soll, gegenwärtig nicht aktuell ist, so werde ich es wohl kaum zu einem ,Gesichtspunkt' meiner Geschichtsschreibung erheben (dies war gemeint), und wo es gleichwohl ,berücksichtigt' wird, kann gefragt werden, ob dahinter nicht doch ein gegenwärtiges Interesse, etwas ,Aktuelles' steckt, z. B. ein aktueller Begriff von Geschichtsschreibung. - Andererseits kann der oder ein heute aktueller Begriff von Musiktheorie in Widerspruch geraten zu dem, was in der bisherigen Geschichte der Musiktheorie faktisch, d. h. zur geschichtlichen Quelle geworden ist: für eine soziologische ,Hinterfragung' und für eine Theorie, die sich auch auf die ,nicht-artifizielle' Musik richtet, gibt die bisherige Geschichte der Musiktheorie in ihren Quellen und Fakten wenig her. Und wo jene Fragen akut sind, rücken auch sie das ganze Projekt des Neuschreibens einer Geschichte der Musiktheorie in die skeptische Distanz, - überspitzt formuliert: indem ich die Geschichte der Musiktheorie des Mittelalters schreibe, schreibe ich an der Geschichte eines Thcoricbegriffs, der - in seinen Prinzipien der Sache - für mich nicht mehr aktuell ist. Zu 2. Kann bei der Bestimmung des Gegenstandes einer Geschichte der Musiktheorie das Kriterium der Aktualität abgelöst werden (sozusagen als ein Drittel) von der Bedeutung einer Theorie für deren Zeitgenossen und von der geschichtlichen Konti-
*Diese Bemerkungen sowie die anschließende Replik von Carl Dahlhaus (auf die dann nicht nochmals zu replizieren vorher verabredet war) wurden zu einem Zeitpunkt nach dem Berliner Colloquium geschrieben.
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nuität? Ist es nicht ein aktuelles Interesse, das die Bedeutung einer Theorie für deren Zeitgenossen und das Phänomen der geschichtlichen Kontinuität bedeutsam erscheinen läßt? Zu 3a. Erstens: Die Kontrapunktlehre steht im Zeitraum von Rameau bis Schönberg gegenüber der durch die Harmonielehre erfaßten ,harmonischen Basis' m. E. auf einer anderen Ebene: einerseits zeigt sie Züge des Historismus, andererseits wird sie seitens der harmonischen Basis affiziert. Und zweitens: Daß die Stildifferenzen, die mit dem Begriff Klassik und Romantik gemeint sind, „zu einem sekundären Moment verblassen", war nicht gemeint. Eine Revision der Stilbegriffe Klassik und Romantik sollte hier nur insoweit angesprochen sein, als diese Stilbegriffe seitens des geschlossenen Traditionszusammenhangs in der harmonischen Basis des 18. und 19. Jahrhunderts „zu Erscheinungen in einem [eben diesem] übergeordneten Zusammenhang" relativiert werden. Zu 3b. Gemeint ist das Konstante im Prinzipiellen. Wenn es in der ,Musica Enchiriadis' heißt, daß dasjenige, was hier als eine gewisse Erscheinungsweise der Ars musica {superficies quaedam artis musicae) dargelegt worden sei, als ,speculatio' in sich enthalte, daß nach derselben harmonischen Abmessung, die den Zusammenklängen das Maß gibt, auch die ganze Welt in ewiger Eintracht zusammengefügt sei( ... quod eiusdem moderationis ratio, quae concinentias temperat vocum ... totusque mundus concordia aeterna coierit), so steht das {hier unter dem Namen ,speculatio') im Prinzip auf der gleichen Ebene wie im 19.Jahrhundert (unter dem Namen ,Ästhetik') eine andere Abbildsoder eine Ausdruckstheorie. Der übergeordnete {konstante) Gesichtspunkt ist in diesem Falle, wie gesagt, die Richtung der Musiktheorie auf das ,Machen' und das ,Bedeuten', das mit dem ,Machen' so interdependent ist, wie jene beiden Richtungen der Theorie es sind.
CARL DAHLHAUS
Zu Hans Heinrich Eggebrechts zweiter Replik
Zu 1. Zu den „Prinzipien der Sache", die in der Geschichte der Musiktheorie wirksam waren, gehört zweifellos der spätantik-mittelalterliche Gedanke einer Verknüpfung der musica instrumentalis mit der musica humana und mundana, allgemeiner formuliert: die Idee eines bios theoretikos, einer Bildung durch Kontemplation. Von einer „Aktualität" dieses Gedankens wird niemand sprechen wollen; dennoch kann er ein „Gesichtspunkt der Geschichtsschreibung" sein. Daß das Kriterium der Aktualität nicht genügt, um eine Geschichte der Musiktheorie zu fundieren, leugnet auch Eggebrecht nicht. Allerdings richtet sich seine Skepsis, die aus der Diskrepanz erwächst, nicht gegen das Kriterium der Aktualität, sondern gegen den Vorsatz, überhaupt eine Geschichte der Musiktheorie zu schreiben. Zu 2. Die Kriterien der Aktualität in der Gegenwart und der Bedeutung für die Zeitgenossen sind - das ist Eggebrecht zuzugestehen - oft miteinander vermittelt, sind aber insofern trennbar, als sie auch in Widerspruch zueinander geraten können.
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Zu 3b. Die „Konstante", auf die sich Eggebrecht beruft, ist äußerst abstrakt. Und da es keine Regel gibt, nach der sich entscheiden ließe, bis zu welchem Grade von Abstraktheit eine „Konstante" überhaupt noch eine geschichtliche Realität ist (und nicht vielmehr ein Gedankending, das zu hoch über der Wirklichkeit schwebt, um sie zu beriihren), dürfte die Streitfrage - sofern sie überhaupt eine ist - nicht lösbar sein.
LUDWIG FINSCHER
Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie Stellungnahme zum Expose von Carl Dahlhaus
1. Ich stimme den überlegungen von Dahlhaus weitgehend zu, soweit sie Methode und Modalitäten der Darstellung betreffen. Seine Aufschlüsselung der wichtigsten Gesichtspunkte (unter 4. a-d) dürfte fruchtbar sein; selbstverständlich müßte auch sie konsequent historisiert werden unter den historischen Aspekten, die für die einzelnen Teilabschnitte der Darstellung dingfest zu machen wären. So ist es schon in sich ein historisches Problem, ob und auf welche Weise ein Zeitalter „Grundzüge der Musik·theorie" (Entwicklungszüge oder Konstanten?) überhaupt erkennen läßt, in welchem Maße und auf welchen Gebieten Problem- und Dogmengeschichte möglich ist und wie die übergreifenden Systeme einzelner Theoretiker in sich strukturiert und von „Außenbeziehungen" abhängig sind. Die theoretischen Systementwürfe des 16. Jahrhunderts in Italien haben eine andere Struktur, andere und anders akzentuierte Außenbeziehungen als selbst Systeme der selben Zeit in Deutschland, erst recht als Systeme des 1 7. und/oder 18. Jahrhunderts. Daß und warum das so ist, kann gezeigt werden und sollte in die Darstellung eingehen.
2. Die historische ,Relativierung' der Darstellungsmethode und Darstellungsmodi, die ja eigentlich deren historische Fixierung ist, macht es andererseits sicherlich nicht überflüssig, nach der Summe (oder Totalität) der möglichen Inhalte zu fragen, die eine Geschichte der Musiktheorie haben könnte, diese Inhalte in eine systematische Ordnung zu bringen, in der die konkreten historischen Inhalte Platz haben müßten, und aus dem Verhältnis beider die je historisch möglichen und historisch sinnvollen Fragestellungen für die Teilabschnitte der Gesamtdarstellung zu entwickeln. Der von Dahlhaus (S. 9) beschriebene „Kompromiß" wäre auf diese Weise fruchtbar zu machen. Was alles kann und soll in einer Geschichte der Musiktheorie behandelt werden? Ein Rohentwurf für einen Katalog der Inhalte und dessen Ordnungsschema ist als Anhang beigefügt. Was von diesen Inhalten taucht im konkreten historischen Material für den jeweiligen Teil der Darstellung überhaupt auf, und was nicht? Charakteristisch für eine theoriegeschichtliche Epoche, eine Region, eine Schule, einen Theoretiker ist nicht nur das, was vorliegt, sondern ebenso das, was fehlt, und die historische Begründung dafür, daß es fehlt. Auch sie wäre zu erarbeiten. 3. Die von Dahlhaus (3.) kritisierte traditionelle Epochengliederung ist für die Geschichte der Musiktheorie sicherlich kaum fruchtbar zu machen; selbst die kritische Abgrenzung gegen sie bringt nur geringen Erkenntnisgewinn, weil die üblichen Begriffe
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zu wenig differenziert und zu wenig mit konkreten Inhalten gefüllt sind. Andererseits wird man auf einzelne, je zu konkretisierende und in der Darstellung zu diskutierende Teilaspekte dieser Begriffsbildung kaum verzichten können; sie wären zu ergänzen durch je historisch relevante und historisch differenzierte ,neue' Begriffe. Die vorläufigen Kapitel-überschriften unserer ersten Stoffgliederung, in denen sich historische und historiographische Terminologie vermischt, müßten unter diesem Aspekt noch einmal diskutiert werden. So würde ich sehr zögern, den mir anvertrauten Zeitraum (Italien zwischen Tinctoris und Zarlino) als ,italienische Renaissance' zu bezeichnen; näher liegen - will man sich überhaupt auf die Abgrenzung durch rein deskriptive Namensnennung, also Tinctoris - Zarlino beschränken - Begriffe wie ,italienischer Humanismus' und ,italienischer Neuplatonismus'. Andererseits hat die italienische Trecento-Theorie (in den pragmatisch-praxisbezogenen Elementen der Notations-Theorie und der musica-ficta-Lehre bei Marchettus von Padua) durchaus und im Gegensatz zur französischen ars-nova-Theorie Züge, die als ,renaissancehaft' sinnvoll interpretiert werden könnten, zumal sie mit Merkmalen der literarischen ,Renaissance' ihrer Zeit eng verbunden zu sein scheinen. Gegen solche Renaissance-Züge wäre das, was bei Ramos de Pareja, Tinctoris und Gafurius als ,neu' erscheint, umso deutlicher (und für die Darstellung übrigens auch viel plastischer und leichter) abzugrenzen. Schwieriger und wohl erst von dieser Abgrenzung her in Angriff zu nehmen wäre die Frage, ob das, was wiederum bei Zarlino und Vicentino als neu gegenüber der Tinctoris-Generation und der Zwischengeneration erscheint, auf eine neue Weise renaissancehafte Züge erkennen läßt und sinnvoll auf diese hin interpretiert werden kann.
4. Unter den angedeuteten Gesichtspunkten ergibt sich für die Darstellung der italienischen Theorie von Tinctoris bis Zarlino etwa der folgende Aufriß: 1.
Sachimmanente Abgrenzung des Zeitraums
a. b. c. II.
Besonderheit der Situation und Entwicklung in Italien Die Kontroverse Hothby - Ramos als Grenzpunkt Das Neue bei Zarlino; Zarlino als Gründer einer ,neuen' Tradition
Ideengeschichtliche Hintergründe und Bezüge. Italienischer Humanismus und Neuplatonismus. Implizite und explizite Musiktheorie (Ficino und Gafurius)
III. Organisationsformen. Musiklehre an Universitäten. Komponierende und reme Theoretiker. Akademien. Buchdruck IV. Darstellungsmodi a. b. c. d. e. V.
Systementwürfe und ihr historischer Stellenwert Aufteilung des Systems in praxisbezogene Einzelschriften (Tinctoris); impliziter statt expliziter Systemanspruch Die literarische Kontroverse als humanistisch-,akademische' Erkenntnisform Der gelehrte Briefwechsel lingua accademica und lingua volgare
Systeminhalte und ihre qualitative Abstufung innerhalb des Systems. Praxisbezug und Systemzwang. Der komponierende und der ,reine' Theoretiker (II)
VI. Stufen der geschichtlichen Entwicklung. Die ,großen' Theoretiker
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VII. Problemgeschichte a. b. c. d. e. f. g. h.
Tonsystem (Hothby/Ramos; Gafurius/Spataro usw .} Tonartenlehre (Aron) Terminologie (Tinctoris) Das Mensuralsystem unter Praxisbezug und unter Systemzwang (Tinctoris Gafurius) Kontrapunktlehre. Zusammenklangslehre. Musica ficta. Textierung usw. Gattungen und genera Affekte und Figuren Geschichtsschreibung
Natürlich wird sich ein solcher Entwurf, je mehr er sich mit historischem Detail füllt, verändern, erweitern und neu ordnen müssen. Im augenblicklichen Stand unserer Überlegungen soll er nur als Diskussionsgrundlage dienen.
Anregungen zur Systematik 1.
Grundlagenlehre 1.1. Physiologie 1.2. Psychologie 1.3. Akustik
2.
Elementarlehre 2.1. Tonsysteme 2.2. Temperaturen 2.3. Stimmungen
3.
Kornpositionslehre 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
4.
Kontrapunkt Harmonielehre Melodielehre Rhythmuslehre
Darstellungslehre 4.1. Notationslehre 4.2. Instrumentenlehre 4.3. Aufführungslehre
5.
Wirkungslehre 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.
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Psychologie (1.2.) Therapeutik Propädeutik Pädagogik Ethik
6.
Musikanschauung 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5.
7.
Mythologie Theologie Philosophie Ästhetik Ethik
Systematik 7 .1. 7 .2. 7.3. 7 .4.
Systemzusammenhang Systemabstufung Definition Klassifikation
CARL DAHLHAUS
Bemerkungen zu einigen Einwänden
1. Mit dem Ausdruck „Grundzüge der Musiktheorie" {der zweifellos zu unbestimmt ist) sind Merkmale gemeint, die für eine Epoche im Ganzen charakteristisch sind, ohne unveränderlich zu sein. So ist etwa der ,Physikalismus' bei Rameau anders beschaffen als bei Schönberg {Partialtonreihe und Entwicklung des Dissonanzbegriffs) oder Hindernith, doch unterscheidet er die Denkweise des Zeitalters insgesamt von den intellektuellen Gewohnheiten früherer Epochen. 2. Ist die Systematik ein System, das aus Prinzipien erwächst, oder eine bloße Gruppierung der geschichtlich realisierten Möglichkeiten? 3. ,Humanismus' und ,Neuplatonismus' sind, wie Finscher mit Recht sagt, Teilaspekte und darum schwerlich als Epochennamen brauchbar. Tinctoris war kein ,Platoniker' und Zarlino schwankte zwischen den Autoritäten Plato und Aristoteles.
CONST ANTIN FLOROS
Anmerkungen zum Projekt ,Geschichte der Musiktheorie'
1. Entscheidend ist die Frage, wie weit der Theoriebegriff gefaßt werden soll. Faßt man ihn im weitesten Sinne, so fallen darunter auch die Gebiete der Stillehre, der Kompositionslehre, der Musikanschauung, -ästhetik, -philosophie und -pädagogik. Praktische und systematische Gründe sprechen aber dafür, das Projekt auf die Geschichte der Musiktheorie ,im engeren Sinne' zu beschränken. Eine Geschichte der
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Musiktheorie im weitesten Sinne würde nämlich den Charakter einer Enzyklopädie tragen 1 und wäre selbst in 1800 Druckseiten kaum zu behandeln. Außerdem haben sich die Gebiete Ästhetik, Philosophie und Pädagogik der Musik längst als selbständige Disziplinen der modernen Wissenschaft etabliert, und es wäre immerhin denkbar, daß das Staatliche Institut für Musikforschung sich entschließen könnte, auf die „Geschichte der Musiktheorie" großangelegte Geschichten der Musikanschauung, Ästhetik etc. folgen zu lassen. Darum unterbreite ich folgenden Vorschlag: Themen, die von der Sache her mehr in die Gebiete ,Geschichte der Musikanschauung' usw. gehören, sollten nur dann eingehender behandelt werden, wenn es die speziell musiktheoretischen Fragestellungen erfordern. 2. Der Vorschlag von Carl Dahlhaus (Paper S. 10), in Anbetracht der Stoffmassen bestimmte Gesichtspunkte bei der Darstellung in den Vordergrund zu stellen, hat vieles für sich. Bei der Abwägung der Gesichtspunkte sollte man meines Erachtens denjenigen musiktheoretischen Gegenständen den Vorzug geben, die für die jeweilige kompositorische Praxis relevant gewesen sind. Themen der spekulativen Musiktheorie könnten kürzer abgehandelt werden. Auf jeden Fall möchte ich dafür plädieren, in den Darstellungen auch auf das Verhältnis zwischen Theorie und Kompositionspraxis einzugehen. 3. Die Lehre von dem Notationssystem bildet einen unentbehrlichen (und vielfach zentralen) Bestandteil der älteren Musiktheorie und darf daher in einer geschichtlichen Darstellung nicht fehlen. Insofern kann ich die Ausführungen von Hans Heinrich Eggebrecht (,über Musiktheorie', 19 70, S. 1 7) nur unterstreichen. Innerhalb einer Geschichte der Musiktheorie sollen allerdings nur die Prinzipien der Notationssysteme dargelegt werden. Eine erschöpfende Darstellung muß der Notationskunde vorbehalten bleiben.
F. ALBERTO GALLO
Methodologische Bemerkungen zu einer Geschichte der mittelalterlichen Musiktheorie
Es scheint, daß jeder Versuch rückwirkender Anwendung von heutigen Theorie-Begriffen auf mittelalterliche Stoffe die Gefahr von Mißverständnissen oder Kompromissen, Mängeln oder Entstellungen mit sich bringt. Das Mittelalter besaß zahlreiche ,theoretische' Begriffe: es genügt, die Definitionen von Egidius Romanus und von Johannes Dacus zu nennen, nach welchen die Wissenschaft als scientia, sapientia, philosophia,
1
Einen enzyklopädischen Charakter trägt zum Beispiel die meines Erachtens vorzügliche Arbeit von Joseph Smits van Waesberghe ,Musikerziehung: Lehre und Theorie der Musik im Mittelalter' (Musikgeschichte in Bildern III/3), die allerdings andere Ziele verfolgt.
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doctrina, disciplina, ars, methodus oder facultas aufgefaßt werden konnte 1 . Dem muß die bekannte Unterscheidung der Wissenschaft in Theorica 2 und Practica hinzugefügt werden: eine besonders vieldeutige und komplexe Unterscheidung auf musikalischem Gebiet, wenn man bedenkt, daß Ugolinus Urbevetanus den ,Libellus' von Johannes de Muris als „viam mediam inter puram practicam et theoricam" betrachtete 3 . Alle mittelalterlichen ,theoretischen' Begriffe zeigen jedenfalls eine gemeinsame Eigenart: sie beziehen sich auf Worttexte über die Musik. Von der Anerkennung dieser Eigenart sollte daher eine moderne Geschichte der mittelalterlichen Musiktheorie ausgehen. Der Forscher des musikalischen Mittelalters hat es im wesentlichen mit zwei verschiedenen Typen von Quellen zu tun, und zwar mit solchen, die Musiknoten, und solchen, die Worttexte über die Musik enthalten. Nach meiner Meinung sollte eine jede wissenschaftliche Untersuchung unter paralleler Verwendung beider Quellentypen fortschreiten. Da die allgemeine Musikgeschichtsschreibung fast ausschließlich auf Quellen des ersten Typus beruht, ist es nützlich, diese methodologische Lücke auszufüllen und eine spezielle Geschichte zu schreiben, die ausschließlich die Quellen des zweiten Typus auswertet. So wird die allgemeine Musikgeschichte durch eine Geschichte der Musiktheorie ergänzt. Die notenschriftlichen Quellen sollten hier nur soweit in Betracht gezogen werden, als sie ausdrücklich in den verbalen Quellen erwähnt werden - wie im Falle der Musikbeispiele oder der Zitate von bestimmten Musikstücken. Auf diese Art wird man mit Genauigkeit unterscheiden können, welche Elemente der mittelalterlichen Musik einfachen, an den usus gebundenen Verfahren und welche hingegen durch die Verbalisierung bewußt einer regula unterworfen wurden. Die Unterscheidung zweier Typen von Quellen trägt dazu bei, daß nicht nur die ,theoretischen', sondern auch die ,geschichtlichen' Begriffe des Mittelalters zu ihrem Recht kommen. Die Quellen von notierter Musik gehörten den Gebieten des religiösen Dienstes und der privaten Unterhaltung an und waren als solche von kurzer Lebensdauer: der Mensch des Mittelalters kannte nur die Musikproduktion seiner eigenen Zeit und diejenige der ihm vorausgegangenen Generation; so konnte sich ein ,geschichtliches' Bewußtsein kaum entwickeln 4 • Die Quellen von Worttexten über die Musik gehörten hingegen dem Gebiet der Schule, der wissenschaftlich-literarischen Kultur an und konnten als solche längere Zeiträume überdauern: sie wurden von einer Generation nach der anderen abgeschrieben und studiert, die jeweiligen Interessenten unterwarfen sie den gleichen Prozeduren, die für die .Schriften anderer Disziplinen in Anwendung waren: Zusammenfassungen, abbreviationes, glose, Kommentare. Hier konnte sich nicht nur ein ,geschichtliches' Bewußtsein, sondern auch die Überzeugung bilden, daß durch die aufeinanderfolgenden Abhandlungen ein Fortschritt in der Sache erfolge. Der bekannte Topos, daß die Modemen die Alten übertreffen, weil sie sich auf sie wie Zwerge
1 Vgl. F. A. Gallo, Die Musik in der Einteilung der Wissenschaften bei Egidius Romanus und Johannes Dacus. In: Kongreßbericht der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft, Kopenhagen 1972 (im Druck).
2
Vgl. über diesen Begriff im allgemeinen 0. Pedersen, Theorica. A Study in Language and Civilisation. In: Classica et Mediaevalia XXII (1961), S. 151-166. 3 Ugolini Urbevetani Declaratio musicae disciplinae, ed. A. Seay, II. American Institute of Musicology 1960, S. 61. 4
Vgl. dazu die richtigen Bemerkungen von F. Zaminer, Griechische Musikaufzeichnungen. In : Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewußtseins, Kassel usw. 19 71, S. 16-1 7.
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stützen, die ihrerseits auf den Schultern von Riesen stehen 5 , ist bei Johannes Boen auf die ,geschichtliche' Entwicklung der musikalischen Grundlehre angewendet: „Moderni ... quasi nani super humeros gygantum plus longe respicientes „." 6 • Vom Zuwachs an Kenntnissen, der aus der Verwertung vorausgehender Erfahrungen sich herleitet, spricht z. B. Hieronymus de Moravia, wobei er vier chronologisch aufeinanderfolgende „positiones" der „musica mensurabilis" unterscheidet, da „una super aliam in aliquibus addit scientiam" (CS 1, 94 b). Am Ende des Mittelalters beschreibt ein bekannter Passus von Johannes Tinctoris die unterschiedliche Lage für die zwei Typen von Quellen. Während c:lie Erinnerung bei notierter Musik nicht weiter als bis zur vorausgegangenen Generation zurückreiche, d. h. bis zu derjenigen von Dunstahle, sei für die Worttexte über die Musik eine noch wirkende und lebendige tausendjährige Tradition aufgezeichnet: „Boetius, Martianus, Guido, Joannes de Muris „. alii theoricam, alii practicam hujus artis Uam vulgo dispersis codicibus) posteris relinquerunt" (CS IV, 154 a). Die angeführten Namen sind gewiß nicht zufällig gewählt worden, sondern sie repräsentieren fast symbolisch die wichtigsten Gattungen, in welche das Mittelalter die ,Geschichte' der musikalischen ,Theorie' begrifflich und terminologisch einteilte: Boethius für die musica speculativa, Martianus Capella für die ars musica, Guido für die musica plana, Johannes de Muris für die musica mensurabilis. In diesem Sinne bilden c:lie zum System der Artes liberales gehörigen Abhandlungen über Musik von Martianus Capella bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus eine relativ selbständige Gattung. Im 11. Jahrhundert unterscheidet Guido seine Lehrschrift über die musica plana von der spekulativen Abhandlung des Boethius „cuius liber non cantoribus, sed solis philosophis utilis est" (GS II, 50 b). Im 13. Jahrhundert grenzt Franco von Köln seine ,Ars cantus mensurabilis' gegen die Schriften von Boethius und Guido ab: „Cum de plana musica quidam philosophi sufficienter tractaverint .„ theorice praecipue Boetius, practice vero Guido „." (GS III, 1 b). Für eine Darstellung der mittelalterlichen Musiktheorie stellt sich die Aufgabe, auf die Eigenart der Quellen einzugehen und den Gegenstand von dorther anzugehen. Es gilt daher, die musikalischen Vorstellungen und Begriffe jener Vergangenheit von ihren eigenen Voraussetzungen her zu erfassen und nicht heutige Theorie-Begriffe auf das Mittelalter ohne weiteres zu übertragen.
KLAUS WOLFGANG NIEMÖLLER
Zu historiographischen Problemen der Musiktheorie
Der Begriff der Musiktheorie ist gerade unter neueren Aspekten eines allgemeinen Theoriebegriffes auch in historischer Hinsicht problematisch geworden. Sicherlich wird deshalb ,Musiktheorie' in jeder Epoche umfassender auszulegen sein und zwar sowohl
5
Vgl. E. J eauneau, Nani gigantum humeris insidentes. Essai d'interpretation de Bernard de Chartres. In: Vivarium V (1967), S. 79-99. 6
Johannes Boen, Ars musicae, ed. F. A. Gallo. American Institute of Musicology 1972, S. 35.
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hinsichtlich des historischen Quellenbefundes und seiner Gegenstände als auch hinsichtlich eines heutigen Gebrauchs des Begriffes ,Theorie'. Theorie ist weiterhin im Bereich der Musiktheorie keineswegs ein Gegensatz zur musikalischen Praxis überhaupt. Methodische Fragen sind aber auch die stoffliche Systematisierung, die Berücksichtigung der Musiktheorie als ,Musiklehre' und die Fragen der Tradierung von einer Epoche zur anderen. 1. Zunächst müssen diejenigen Schriften, die - in welcher Hinsicht auch immer Musiktheoretisches darbieten, als eine Ganzheit angesehen werden. Das gilt namentlich für Gesamtdarstellungen, wie sie seit dem Mittelalter (summa) bis ins 1 7. Jahrhundert zumindest tendentiell vorkommen. Dabei können einzelne Teilbereiche durchaus gesondert behandelt sein, etwa in Gaforis Theorica musicae und Practica musicae. Sicherlich kann man die ,Practica' Gafurs nicht als die eigentliche ,Musiktheorie' bezeichnen, die , Theorica' aber in den Bereich einer spekulativen Musikphilosophie verweisen. Es könnte vielleicht den Anschein haben, als wenn Aspekte im weiten Feld dessen. was man gemeinhin unter ,Musikanschauung' begreift, nicht in den Rahmen einer Geschichte der Musiktheorie gehörten. Tatsächlich sind hier aber Querverbindungen, die als Total erfaßt werden müssen, z. B. bei den Zahlenverhältnissen. Die ,Drei' bedeutet in der Mensur Perfektion, in der Trinität aber auch theologisches Symbol. Gerade die ältere Musiktheorie kann nur unzulänglich als autonomer Fachbereich behandelt werden. Bis heute haben immer wieder übergreifende Wissenschaften Spuren ihrer hegemonialen Ansprüche auch in der Musiktheorie hinterlassen, in der älteren Zeit vor allem Theologie und Philosophie, in der jüngsten Vergangenheit Psychologie und Soziologie.
2. Der allgemeine Theoriebegriff in der Wissenschaft unserer Zeit wird etwa in Naturwis enschaften oder Soziologie so angewandt, daß Meßergebnisse oder Aussagen über Hypothesen und vorläufige Gesetzmäßigkeiten zu zusammenfassenden Erklärungen in einer Theorie vereinigt werden. Dieser allgemeine Begriff einer , wissenschaftlichen Theorie' (H. Seiffert, 19 71) wirft die Vorstellung von Theorien, die ,aufgestellt' werden, auch auf andere Fachbereiche. Hier wird dann Theorie mehr spekulativ, werden Modelle von Erklärungen und Vorstellungen geschaffen, an denen Einzelphänomene gemessen werden. Das geschieht vielfach ohne Berücksichtigung historischer Relationen. In diesem Zusammenhang wäre etwa das Buch von K. Boehmer ,Zur Theorie der offenen Form in der Musik' (1969) zu erwähnen, in der Boehmer bis Guido und Ockeghem zurückgeht. Sicherlich werden auch in der ,Geschichte der Musiktheorie' Theorien aufgestellt werden müssen. Theoriebildung in dem geschilderten Sinne kann aber keine Grenzziehung für Darzustellendes bilden. 3. Das Spannungsverhältnis von Musiktheorie im engeren Sinne und musikalischer Praxis, ihr Abgegrenztsein und ihr Verschränktsein, muß besonders bedacht werden. Zeitgenössische Auffassungen etwa in d~r Zeitschrift für Musiktheorie - subsumieren unter Musiktheorie: das Setzen von Maßstäben durch den Komponisten, praktische Handwerkslehre und auch die Analyse eines Musikwerkes. Auch im Rahmen einer Geschichte der Musiktheorie ergeben sich gleichermaßen verschiedenartige Akzente und Aspekte. Sie sollten nicht dogmatisch kategorisiert werden, ob sie zu behandeln sind oder nicht. Die bereits angesprochene Trennung von Musiktheorie und Musikästhetik beispielsweise ist gerade in älterer Zeit kaum zu vollziehen. Musikästhetische Gedankengänge erscheinen insofern unter musiktheoretischem Vorzeichen, als sie mit tonsystematischen oder satztechnischen Erörterungen verbunden sind, etwa der Tonartencharakter beim Aufbau der Kirchentöne oder der Begriff des ,ornamentum' 1m
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Zusammenhang der Klausellehre. Selbst Darlegungen über die Wirkung der Musik sind durch ihre Kanonisierung mehr als musikästhetische Anschauungen. 4. Probleme treten schließlich auch im Detail der stofflichen Darbietung auf. Es liegt zunächst nahe, einzelne Sachkomplexe für sich abzuhandeln. Es wäre aber auch zu diskutieren, inwieweit neben der systematischen Behandlung einzelner Themen auch das musiktheoretische Werk einzelner Theoretiker zu würdigen ist, sofern sie herausragende, zentrale Bedeutung haben, wie z. B. Gafur, Tinctoris und Glarean. Es ist auch nicht zu übersehen, daß biographische Daten eine Rolle spielen können (LehrerSchüler-Verhältnis, Beruf, Wirkungsort, Komponist oder nicht usw.). Auch individuelle, nicht nur allgemein historische Implikationen sind solcherart zu berücksichtigen. 5. Außer der Beziehung zur Praxis ist in einer Geschichte der Musiktheorie vor allem die Beziehung zur Musikerziehung relevant. Musiktheorie, die ,musica' von Trivium und Quadrivium, war seit je Bildungsinhalt. Als solche konnte sie sogar ein Eigenleben führen neben der Entwicklung der Komposition. In vielen gedruckten Traktaten des 16. Jahrhunderts überwiegen die didaktischen Intentionen die musiktheoretischen. Die Lehrschriften spiegeln in den behandelten Gebieten die Anforderungen des Musikunterrichts und der Musikpraxis in den Schulen. Eine Weiterentwicklung erfolgt vielfach mehr in der Methode als in der Sache eines theoretischen Komplexes. Andererseits können didaktische Oberlegungen aber auch zur Veränderung theoretischer Systeme führen, etwa die Erweiterung der Solmisation vom Hexachord auf das Heptachord. 6. In Anbetracht der Forderung, daß die in Bänden aufgeteilte Geschichte der Musiktheorie dennoch ein Ganzes bilden soll, wäre zu überlegen, wie bei Tradierungen von Theoremen etwa vom Mittelalter zum 16. Jahrhundert zu verfahren ist. So behandeln auch die theoretischen Schriften des 16. Jahrhunderts etwa die Solmisation, die jedoch in der Sache bereits im Mittelalter ausgebildet ist. Es wäre genauer zu prüfen, inwieweit im jeweiligen Einzelband ein Rückbezug hergestellt wird. 7. Hinsichtlich der Darstellungsweise bedarf schließlich die Frage der Dokumentation im weitesten Sinne einer Abstimmung. Sicherlich werden wesentliche Positionen in den einzelnen Theoremen durch wörtliche Zitate dokumentiert werden, auch wenn in vielen Fällen Editionen der musiktheoretischen Schriften vorhanden sind. Wieweit darf ein Anmerkungsapparat beansprucht werden, wieweit sollen Obersetzungen verwandt werden, all das müßte tendentiell in einen Rahmen gebracht werden.
CARL DAHLHAUS
Zu K. W. Niemöllers Bemerkungen ,Zu historiographischen Problemen der Musiktheorie'
Zu 1: Daß sämtliche Schriften (einer Epoche, eines Autors oder einer Theoretikergruppe), die Musiktheoretisches enthalten, „als eine Ganzheit angesehen werden müs-
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sen", ist ein Postulat, das nicht immer erfüllbar sein dürfte, jedenfalls nicht ohne Gewaltsamkeit. Auch die Klitterung heterogener Traditionsbestände oder eine Reihung von Teildisziplinen, die beziehungslos nebeneinanderstehen oder sich sogar widersprechen und durchkreuzen, kann zu den Kennzeichen eines musiktheoretischen Corpus gehören. „Bis heute haben immer wieder übergreifende Wissenschaften Spuren ihrer hegemonialen Ansprüche auch in der Musiktheorie hinterlassen". Der Wechsel der Disziplinen universalen Anspruchs, die von außen in die Musiktheorie eingriffen, gehört zu den entscheidenden Momenten von deren Geschichte. Ob ein Autor sich auf die Philosophie oder die Physik stützt, um die Musiktheorie wissenschaftlich zu legitimieren, bedeutet einen Unterschied, der eine Verständigung nahezu ausschließt (Riemanns Versuch, die Theorien Hauptmanns und Helmholtz' „tunlichst zu verschmelzen", mutet denn auch hybrid an).
KLAUS WOLFGANG NIEMÖLLER
Zur Problematik der Konzeption einer Geschichte der Musiktheorie
In den Stellungnahmen zu Dahlhaus' Expose schälen sich Divergenzen und Obereinstimmungen heraus, die insgesamt den Fragenkomplex aber sicherlich für alle Mitarbeiter erhellen. Im Rahmen seiner Oberlegungen über nationale und lokale Traditionen eines ganz anderen Jahrhunderts hat Stephan die Musik als Lehr- und Bildungsfach für die Geschichte der Musiktheorie ebenfalls ins Blickfeld gerückt und den musikpädagogischen Aspekt ebenfalls angemeldet. Er ist ohne Zweifel ein Punkt, der bei einer Systematik, wie sie Finscher aufgestellt hat, ebenfalls zu berücksichtigen wäre und in seinem Aufriß unter III. Organisationsformen auch berücksichtigt ist. Die Grenzziehung infolge der uneinheitlichen Terminologie bleibt weiterhin schwierig. Für den jeweiligen Zeitraum bietet allerdings die Selektion, die sich durch die Quellen ergibt (Eggebrecht), eine Hilfe. Die von Gallo vorgeschlagene Verfahrensweise, aus der Einteilung der Quellenschriften nach ihren stofflichen Schwerpunkten auch systematische Gesichtspunkte abzuleiten, deckt sich mit Zaminers Feststellung, daß wir es in der Geschichte der Musiktheorie immerhin mit einem Kontinuum von Publikationen eines Fachschrifttums zu tun haben. Die von allen erkannte Notwendigkeit, die verschiedenartigsten Bezüge in die Oberlegungen mit einzubeziehen, erhält bei Gallo gerade noch den spezifischen Akzent des einem Schrifttum Eigentümlichen. Als sprachlich-begriffliche Darstellung kann Musiktheorie durchaus in Darstellungsform und Ausdrucksweise auf Schrifttum ganz anderer Thematik zurückgreifen und hat das zweifelsohne immer wieder getan. Die von Zaminer geforderte Besinnung auf die ,musica' als Fachdisziplin scheint ein notwendiger Akt zu sein. Die von Eggebrecht erwähnte Spaltung in Ästhetik und llandwerkslehre ist m. E. in dieser Form nicht mit dem Dualismus von musica speculativa und musica practica zu identifizieren. Abgesehen davon, daß die musica speculativa natürlich nicht nur Musikanschauung beinhaltet, erscheint das gemeinte Problem auch als Spannungsverhältnis von antiker und christlicher Oberlieferung theoretischer Fragestellungen. Es war richtig, daß Braun darauf hinwies, daß im 15./16. Jahrhundert die Bezeichnung ,musica practica' nach heutiger Auffassung Theorie umgriff. Der
Unterschied ist dann allerdings nicht zwischen m usica theorica und m usica practica zu suchen. Musica im Sinne der von Zaminer dargelegten Disziplin war überhaupt der Begriff für Musiktheorie, Musiklehre bis hin zur praktischen übung, die sich ja auch im Schrifttum als Notenbeispiel präsentiert. Erklingende Musik kann deshalb auch vielfach als ,cantus' bezeichnet werden, um diesen Gebrauch von ,musica' zur Bezeichnung des Lehrhaften zu verdeutlichen. Unter solchen Gesichtspunkten ist auch Finschers Anregung zur Systematik in der Reihenfolge der Rubriken etwas problematisch. Im Falle der Psychologie hat er selbst in 5.1 auf 1.2 hingewiesen. Diese Trennung von 1. und 5. durch musiktheoretische Punkte ,im engeren Sinne' erscheint als zu weit. Daß die Klassifikation als Abschluß erscheint, entspricht nicht dem historischen Quellenkontext (entsprechend einem Einfluß anderen Schrifttums). Klassifikationen der Musik, wie sie auch im philosophischen Schrifttum des Mittelalters erscheinen, gehören in die Kephalaia, sind aber nicht Endergebnis detailliert dargestellter musiktheoretischer Abstraktionen. Musikanschauung und Klassifikation bilden vielmehr einen engen Zusammenhang. Sie weitgehend zu eliminieren, wie Floros es anregt, erscheint kaum möglich. Sicherlich erscheint es auch kaum möglich, noch ein musiktheoretisches Metamodell zu erstellen, das für alle Epochen seine Verbindlichkeit erweist. Sicherlich können aber solche abstrahierenden überlegungen v0n Reinecke, z. B. über die prinzipielle Offenheit der Systeme einerseits, über die Selbstanregung andererseits, Finschers Punkten 7 .1 und 7 .2 allgemein verbindliche Konturen verleihen.
HANS-PETER REINECKE
Theoretische Randbemerkungen Zu Carl Dahlhaus' Expose ,Methode einer Geschichte der Musiktheorie'
Dahlhaus bezeichnet die „konventionelle Bestimmung des Gegenstandes einer Geschichte der Musiktheorie" als „Resultat einer ,Addition' von älteren und neueren Theoriebegriffen". Er weist aber in bezug auf das Mittelalter auf ein Faktum hin, das mir für die Problematik wesentlich erscheint: „Von den überlieferungsbeständen, die man heute als ,Musiktheorie des Mittelalters' bezeichnet, ist nur ein Teil auch im Mittelalter ,Theorie' genannt worden". Hier spiegelt sich eine mehrfach gestufte Problematik. Von den relationalen Verknüpfungen musikalischen Verhaltens, wie siez. B. für das Mittelalter - wie auch für jede andere Epoche - rekonstruierbar sind (als , überlieferungsbestände' oder auch für die Gegenwart: als erreichbare Daten), ist nur für einen Teil zu erwarten, daß er innerhalb des Kontextes der Verhaltensrelationen reflektiert und so als ,Theorie' explizit gemacht wird. Im Zweifelsfall bleibt der größere Teil der Relationen den agierenden Individuen und/oder Gruppen mehr oder minder unbewußt; das System ist erst für den außenstehenden Beobachter in umfassenderer Form formulierbar. Man wird mindestens von drei Ebenen der Theorie-Problematik auszugehen haben: (1) Für die Formulierung der musikalisches Verhalten allgemein betreffenden (möglichen) Relationen bedarf es der Entwicklung eines Metamodells (Tm)· Dieses Modell hätte musikalisches Verhalten möglichst umfassend - allerdings auf sehr abstrakter
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Ebene - zu beschreiben, so daß die konkreten Systeme einzelner Epochen (bzw. Kulturen) als Teilsysteme innerhalb dieses Metasystems figurieren würden. Ein solches Modell zu entwickeln ist keineswegs utopisch, sondern wegen des hohen Abstraktionsgrades vielleicht noch am leichtesten zu bewerkstelligen. Danach wäre das Modell einer Metatheorie der Musik - sofern man unter ,Musik' konkrete Relationsmuster sp~zifischen Verhaltens versteht, welche dominante und jederzeit identifizierbare gemeinsame Merkmale enthalten - als offenes System relationaler Verknüpfungen einer spezifischen Art von Kommunikation zu entwickeln, die sich nach ihren syntaktischen, pragmatischen und semantischen Aspekten beschreiben lassen. Zumeist wird der Theoriebcgriff des ,naiven' Sprachgebrauchs weitgehend auf syntaktische Aspekte bezogen und innerhalb derselben noch auf spezifische Merkmale - z. B. der Tonhöhenorganisation - eingeschränkt. Eine Metatheorie der Musik muß jedoch die Möglichkeit offen lassen, z. B. neben der Syntaktik etwa der relationalen Organisation der ,Tonsysteme' usw. - auch diejenige des konkreten Gebrauchs einzubeziehen, was wiederum nicht unter Ausschluß der pragmatischen Analyse gelingt. Semantische Beziehungen zeigen sich allenthalben und bedürfen daher keiner besonderen Rechtfertigung. (2) Als Sonderfälle, die sich als einzelne Teilstrukturen (Te) der unter (1) angedeuteten Metastruk tur (Tm) abbilden lassen, erscheinen dann die konkreten Einzelsysteme, wie sie für unterschiedliche Epochen, Kulturen usw. formulierbar sind. Sofern das Metamodell adäquat ist, lassen sich die spezifischen Einzeltheorien (Te) miteinander vergleichen, d. h. es lassen sich über der Menge der Einzeltheorien spezifische Mctarelationen formulieren: R (Tei• Tej)· Die Formulierung von Dahlhaus, daß man „angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, denen der Thcoriebegriff in der Musikgeschichte (und nicht nur in ihr) unterworfen war ... kaum eine Methode der Geschichtsschreibung ... festsetzen kann", scheint mir zunächst zu skeptisch zu sein. Ich würde diesem Skeptizismus nur dann zustimmen, wenn man zu schnell an eine Geschichtsschreibung herangeht, d. h. schon zu einem Zeitpunkt, zu dem ein adäquates metatheoretisches Modell noch nicht existiert. Möglicherweise - und das würde Dahlhaus' Skeptizismus rechtfertigen - bleibt keine Wahl, als konventionell, d. h. ohne explizite Metatheorie, zu beginnen und diese von einer kommenden Musikwissenschaftlergeneration entwickeln zu lassen einfach deshalb, weil gegenwärtig die Verbindung von musikthcorctischem Fachwissen und systemthcoretischen Voraussetzungen noch nicht selbstverständlich ist. Ich würde also an die Stelle eines grundsätzlichen einen pragmatischen Skeptizismus setzen. (3) Als Sonderfall erweist sich in diesem Zusammenhang das Vorhandensein einer epochen- oder kulturspezifischen expliziten Theorie, d. h. einer Menge von Regeln des kommunikativen Gebrauchs von Musik (bzw. des metakommunikativen Aspekts über Musik), wie sie sich den in dem jeweiligen sozialen System agierenden Personen bzw. Gruppen explizit darstellten oder darstellen. Dabei stände nicht zur Frage, ob diese Regeln ,falsch' oder ,richtig' verstanden wurden oder werden, weil die Art des Verständnisses, nicht aber das Kriterium eines irgendwie gearteten ,adäquaten' Verständnisses Gegenstand der Bemühungen ist. Es sei noch angedeutet, daß ,Musiktheorien', soweit sie explizit formuliert wurden oder werden, meist mit dem Anspruch ausgestattet sind, vollständige, in sich geschlossene Systeme zu sein. Demgegenüber wird man jedoch davon ausgehen müssen, sie als offene Systeme zu betrachten, d. h. man muß die Verknüpfung einzelner ,Elemente'
mit anderen Elementen in Rechnung stellen, die selbst aber nicht mit anderen verknüpft sind, anders ausgedrückt: Es bestehen unsymmetrische Relationen zu dem i. e. S. außermusikalischen Bereich. Zudem ist eine Reihe von Bedingungen als erfüllt aufweisbar, wie sie für kreisförmige, selbstregulierende Kommunikationssystemegelten, ohne daß darauf hier näher eingegangen werden soll. Von Interesse ist aber vielleicht der Hinweis, daß manche Feststellungen in bezug auf die Unterschiedlichkeit der Teilsysteme so z. B. diejenige der Stimmungen und Temperaturen seit dem 16. Jahrhundert gegenüber z. B. der Geschichte der Kontrapunkt- und Harmonielehre seit dem 18. Jahrhundert (Dahlhaus S. 1 O) durchaus als Verschiebungen des pragmatischen Aspekts innerhalb eines gemeinsamen methodischen Ansatzes interpretierbar sein dürften. Wie weit sich das konkret realisieren läßt, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
CARL DAHLHAUS
Zu Hans-Peter Reineckes, Theoretischen Randbemerkungen'
Zu 2: Unklar bleibt, ob mit den „konkreten Einzelsystemen, wie sie für unterschiedliche Epochen, Kulturen usw. formulierbar sind", die in Texten überlieferten Theoriebestände gemeint sind, oder ob an Theorien gedacht ist, die erst konstruiert werden sollen. Im ersten Fall dürfte die Bildung einer „Metatheorie", wie sie Reinecke postuliert, kaum möglich sein, weil das tradierte Corpus musiktheoretischer Schriften zu heterogen ist, um sich einem System zu fügen; demnach bliebe auch der „Skeptizismus", den Reinecke als Übertreibung zu empfinden scheint, unangefochten. Im zweiten Fall wäre das Buch, das geschrieben werden soll, nicht mehr eine Geschichte der Musiktheorie: eine Darstellung von Theorien, die bereits existieren, sondern selbst Musiktheorie: Entwurf von Systemen für musikalische Repertoires der Vergangenheit und Gegenwart. Zu 3: „Dabei stände nicht zur Frage, ob diese Regeln" - die Normen „einer epochenoder kulturspezifischen expliziten Theorie" „ ,falsch' oder ,richtig' verstanden wurden oder werden, weil die Art des Verständnisses, nicht aber das Kriterium eines irgendwie gearteten ,adäquaten' Verständnisses Gegenstand der Bemühungen ist". Daß vergangene Theorie lediglich aus sich selbst verstanden, nicht aber in Relation zu der Praxis, auf die sie zielt, als adäquat oder inadäquat bestimmt werden soll, scheint mir eine zu rigorose Einschränkung der Aufgabe zu sein, die eine Geschichte der Musiktheorie zu erfüllen hat.
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RUDOLF STEPHAN
Hinweise auf einige mehr am Rande liegende Fragen ,Zur Methode einer Geschichte der Musiktheorie'
Das Expose von Dahlhaus ist, wie man es von ihm nicht anders erwartet, klar und vernünftig. Es bedarf nur, was die neuere Geschichte der Musiktheorie betrifft, der Ergänzung durch den Hinweis auf die nicht nur im Bereich der Musik selbst, sondern auch dem der Musiktheorie anzutreffende nationale Differenzierung. Differenzen in der Entwicklung sind, mindestens seit dem 18. Jahrhundert, zwischen deutscher, französischer und italienischer Theorie festzustellen, wobei es sich nicht nur um in den verschiedenen Ländern vertretene verschiedene Ansichten handelt, sondern um teilweise eigenständige Traditionen. Solche Traditionen, die oftmals direkt an bestimmte Lehranstalten geknüpft sind, entstehen auch im 19. Jahrhundert. Diese sind teilweise, weil die Texte bisher kaum erschlossen sind, schwer in ihrer Bedeutung abzuschätzen. Die tschechische, russi ehe, vielleicht auch die ungarische Musiktheorie sind bei uns nur sehr wenig bekannt, obgleich einige Namen gelegentlich in der Literatur auftauchen. Dem nationalen Gesichtspunkt ähnlich und auch direkt mit ihm zusammenhängend, wenn auch selbstverständlich nicht gleichberechtigt, ist der lokale. Gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielen lokale Differenzierungen, meist im Zusammenhang mit renommierten Lehranstalten man denke etwa an Berlin, Leipzig, Frankfurt, München, Wien, die alle ihre eigenen Lehrgänge hatten , eine erhebliche Rolle, zumal solche mehr lokalen Traditionen oftmals auch in den w.thrhaft bedeutenden Theorien, in solchen von durchaus überlokalcr Bedeutung, ihren eigentümlichen Niederschlag finden. Schenker ist nicht nur ein bec.lcutenc.ler, sondern auch ein spczifüch Wiener Theoretiker, was die Wirkung seines Werkes erheblich beeinträchtigte. Die Bedeutung des lokalen ist, wie im übrigen auch die des nationalen Moments, stetem Wandel unterworfen. Sie ist an die Bec.lcutung und die Funktion der entsprechenden Konservatorien oder Akademien, an den Rang deren führender Persönlichkeiten geknüpft. llm l 910 hatte jedes bessere (und manches kleinere) Konservatorium seinen eigenen Theoriekurs. Es ließe sich dagegen einwenden, daß die Aufkl;irung dieser Sachverhalte weniger c.lie Aufgabe einer Geschichte der Musiktheorie als die einer Geschichte der Musikerziehung oder Geschichte der musikalischen Lehranstalten sei. Doch wer vermöchte das rigoros zu trennen? Vor allem, wenn es darum geht, die Stoffmassen das sind die Massen de: theoretischen Werke, der Lehrbücher von der Allg.:meincn Musik bis zur Fugenlehre auf übersichtliche und nützliche Weise vorzuführen. Geschicht dies, so ist bereits in der Bibliographie dem lokalen Gesichtspunkt Rechnung getragen, etwa bei der Aufzählung der Titel der 'cric ,Lchrg~ingc an Dr. Hochs Konservatorium in Frankfurt am Main'. Nicht stets liegen die Verh:iltnissc so offen zutage. Vielfach wird die direkte Zweckbestimmung nur in den Untertiteln angegeben. Damit wäre der zweite Problemkreis, der bisher noch wenig diskutiert wurde, erreicht, der der bibliographischen Information. Ich meine nicht nur die der späteren Benutzer des Werkes, sondern zunächst einmal die der Bearbeiter (vor allem die der Artikel über das 19. und 20. Jahrhundert). Die vielfach außerordentlich hohe Auflagenzahl, der oftmals beträchtliche Grad der Veränderung von Auflage zu Auflage wären doch wohl von eigens engagierten Bibliographen oder anderen llilfskr~tften festzustellen. Gewiß ist Tatsache und Umfang der Bearbeitung, seien es Änderungen des Autors selbst oder die späterer Herausgeber, bei
zahlreichen Werken bekannt, aber lahlreiche, namentlich fremdsprachige Werke sind viel zu sei ten, als daß man Differenzen der einzelnen Ausgaben feststellen könnte. Ein weiteres Problem, das grundsätzlicher Klärung bedarf, ist, inwiefern solche neueren Werke, die den Theoriebegriff in einem emphatischeren Sinne verwenden oder unter einen um fassen deren Theorie begriff fallen, also Werke von der Art der ,Logik der Polyphonie' von Muthesius, in der Darstellung der Geschichte auch dann Berücksichtigung finden sollen, wenn die Autoren nicht selbst Komponisten sind, ihre Schriften also nicht zugleich (oder vornehmlich) der Rechtfertigung der eigenen kompositorischen Praxis dienen.
FRIEDER ZAMINER
Geschichte der Musiktheorie als Geschichte einer Disz iplin Bemerkungen zum Expose von Carl Dahlhaus
1. Ist der Begriff der Musiktheorie (Theorie der Musik) heute und war er früher so fest umrissen, daß die Aufgabe einer Darstellung ihrer Geschichte von dorther klar genug vorgezeichnet erscheint? über die tiefgreifenden geschichtlichen Veränderungen hinaus gab es vielfach ein Nebeneinander von divergierenden oder rivalisierenden Richtungen (z. B. Kanoniker und Harmoniker in der Antike) und eigenen Traditionen (z. B. Byzanz und lateinisches Abendland). Eine ausgearbeitete Wort- und Begriffsgeschichte von ,Musiktheorie' könnte, so lehrreich sie wäre, den Mitarbeitern die Beantwortung der Frage daher schwerlich abnehmen, von welchem Begriff der Musiktheorie das geplante Unternehmen als Ganzes ausgehen soll. Dahlhaus schlägt vor, am „gewohnten" „terminologischen Kompromiß" festzuhalten, auch wenn dieser, wie er einräumt, ,faul' sein mag. Entsprechend bleibt er bei der „konventionellen Bestimmung des Gegenstands einer Geschichte der Musiktheorie", die nach seinen Worten „das Resultat einer ,Addition' von älteren und neueren Theoriebcgriffen" sei. Dem Vorschlag zuzustimmen fällt nicht schwer, zumal es eine vernünftige Alternative offenbar nicht gibt. Dennoch fragt sich, ob das Gebiet damit in seiner Eigenart und in seinem Umfang hinreichend klar bezeichnet ist. Bezüglich des Umfangs drängt sich die Frage auf, welche Fächer in die Darstellung einbezogen werden sollen, gegebenenfalls auch von wann bis wann. Daß z. B. die Metrik ein Fach der antiken Musiktheorie war, bedeutet nicht, daß sie als Fach der späteren Musiktheorie danustellcn wäre, auch wenn die antike Metrik im späteren Fachschrifttum immer wieder eine Rolle spielt. Nicht klar ist sodann die Stellung der ,Instrumentenkunde', die einst fast nahtlos in die Musiktheorie überging (z. B. im Falle von Orgel/Organum). Ferner galt die Historie der Musik zeitweise als zur Theorie der Musik gehörig. Hat sie deshalb Anspruch, in die Darstellung mit aufgenommen zu werden? Und wenn ja, in welcher Epoche? Schließlich bedarf der Klärung, was mit jenen Teilen des Musikschrifttums geschehen soll, die weder nach neuerer, noch nach ursprünglicher Auffassung zur Theorie zählten (z. B. das antike Fach der Vortragslehre, das Aristcidcs Quintilianus i:~aryeXTLKOV nennt und zu dem er Instrumentenspiel, Gesang und Schauspiel rechnet; noch Anfang des 19. Jahrhunderts spricht Gottfried Webcr von einer „Theorie der vortragenden Tonkunst").
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Andererseits fragt man sich, ob nicht im Begriff ,Geschichte der Musiktheorie' vorausgesetzt und mit dessen Annahme bereits anerkannt ist, daß es so etwas wie ,die Musiktheorie', d. h. einen entsprechend weit gefaßten Begriff von ihr gibt, der an der Identität des zugrundeliegenden Phänomens über alle Veränderungen und wechselnden Benennungen hinweg festhält. Offenbar nicht anders wird im Falle der Geschichte der Musik vorausgesetzt, daß es ,die Musik', im Falle der Geschichte der Philosophie, daß es ,die Philosophie' gibt usw. Als unklar oder umstritten erweist sich dann die Frage, wie weit die Identität reicht und welches die Merkmale eines solchen Begriffs der Musiktheorie sind. Mit Recht hat Dahlhaus den problematischen Aspekt dieser Frage betont. Fällt es doch schwer, für so verschiedenartige Fachrichtungen, wie sie unter dem Namen Musiktheorie zusammengefaßt werden, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Trotzdem ist er dafür, vom „gewohnten Kompromiß" auszugehen, weil ihm die einseitigen Auffassungen des Gegenstands weniger sinnvoll erscheinen. Da „Gewöhnung" noch kein ausreichender Rechtfertigungsgrund ist, möchte man wissen, ob sich hinter dem „Kompromiß" nicht doch ein berechtigter Anspruch verbirgt. Die folgenden Überlegungen versuchen einige Gründe dafür zu nennen. Die Geschichte der Musiktheorie stellt sich heute nicht so sehr als die Geschichte einer oder mehrerer Theorien und auch nicht bloß als die eines Theoriebegriffs oder als die einer Mehrheit zusammengehöriger Fächer dar. Vielmehr erscheint sie im ganzen als ein relativ selbständiger Komplex, als die Geschichte einer Disziplin. Die relative Selbständigkeit bekundet sich am deutlichsten in der Tatsache, daß diese Disziplin von jeher ihr eigenes Fachschrifttum hervorgebracht hat. Ob man es im gegebenen Fall vorzieht, prägnanter von Musikspekulation, Wissenschaftslehre von der Musik, Musiklehre usw. zu sprechen, ob das Gewicht dabei mehr auf der ,Theorie' oder auf der ,Praxis' liegt, erscheint demgegenüber bereits als Frage zweiter Ordnung. Hinzu kommt, daß man es innerhalb des gesamten Gebiets zwar mit verschiedenen Fächern, aber selten mit starren Grenzen zu tun hat. Entsprechend hat sich das Verhältnis der Begriffe Theorie und Praxis im Laufe der Musikgeschichte stark gewandelt, wobei es aus heutiger Sicht öfter seltsame Grenzverschiebungen gegeben hat (wohl in Abhängigkeit von der jeweiligen philosophischen Grundauffassung). - Das ganze Gebiet der Musiktheorie als Disziplin anzusprechen, mag heute befremden; es läßt sich aber vielleicht aus seiner Geschichte einsichtig machen und rechtfertigen (was hier nur angedeutet werden kann). Spätestens seit ihrer Aufnahme in das System der Artes liberales fand die Musica als disciplina Anerkennung, d. h. hauptsächlich als offizielles Lehrund Bildungsfach (an Schulen, später auch Hochschulen). Eine Geschichte des disciplina-Begriffs könnte zeigen, wie weit die Musica damit übereinstimmte. Sicher ist, .daß die Musiktheorie den Charakter als Disziplin bis weit über das Mittelalter hinaus bewahrt und selbst in neuerer Zeit nie ganz verloren hat. Man muß es in diesem Sinne ihrer Eigenart zugute halten und als Tatsache hinnehmen, daß sie sich in dem weiten Spannungsfeld zwischen Philosophie, Theologie, exakter Wissenschaft, Sprachlehre ( chrift, Grammatik, Metrik), Rhetorik, Handwerk, Kunst und Technik konstituiert, entfaltet und behauptet hat. Dieser Stellung entspricht, daß sie in bestimmten Ausprägungen oder im Einzelfall bald mehr philosophische, bald wissenschaftliche, bald handwerkliche usw. Züge annahm. Es würde dem hier ins Auge gefaßten Begriff der Disziplin nicht widersprechen, wenn man ihn mit dem Namen Musiktheorie verbindet; hat sich doch dieser seit dem 19. Jahrhundert als zusammenfassende Bezeichnung der (noch verbliebenen) einschlägigen (nicht-wissenschaftlichen) Lehr- und Bildungsfächer durchgesetzt.
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2. Daß nicht alle Fächer der Musiktheorie einheitlich behandelt werden können, leuchtet ein. Ist die Forderung nach individueller Darstellung der einzelnen Fächer nicht eine Konsequenz aus der Einsicht, daß es oft mehr diese Einzelfächer sind, die Geschichte haben, als das komplette Gebiet?
3. Für die Geschichte der Musiktheorie ist wohl weniger die Gliederung der Geistesgeschichte als die der Musikgeschichte von Interesse. Und da scheint doch zweifelhaft, ob man sagen kann, daß die Musiktheorie einen gegenüber der Musik selbständigen Verlauf nimmt. Daß es keine ,klassische' und keine ,romantische' Musiktheorie gegeben hat, ist noch kein Beweis für eine wirklich selbständige Entwicklung dieser Theorie. Vielmehr scheint es gerade umgekehrt die Musik zu sein, die hier eine von der Musiktheorie nicht vollzogene (und damals auch gar nicht mitvollziehbare) Sonderentwicklung durchgemacht hat. {Von der geiste"sgeschichtlichen Periodeneinteilung hat sich die Musikgeschichtsschreibung ja schon seit längerer Zeit zu lösen versucht; vgl. Handschin, Musikgeschichte, 1948, S. 18 ff.; auch die kritischen Bemerkungen von Schrade zu den Etikettierungen ,Renaissance' und ,Humanismus' im Zusammenhang mit der Musiktheorie, in: ZfMw 13, 1930/31, S. 575.) Da Musiktheorie kein einheitliches Gebiet ist, wäre zu fragen, ob nicht jede Gliederung ihre Problematik hat. Eine Geschichte der Rhythmustheorie würde sich vermutlich anders gliedern als eine solche der Theorie der Harmonik (Descartes könnte da wichtiger sein als Rameau}. 4. Den als Postulat formulierten Vorschlägen stimme ich zu. Allerdings scheint nicht ganz klar zu sein, was unter den „Grundzügen der Musiktheorie eines Zeitalters" zu verstehen ist.
CARL DAHLllAUS
Bemerkungen zu einigen Einwänden
Zu 1: Die Instrumentenkunde dürfte aus der Geschichte der Musiktheorie herausfallen. Ist „Identität des zugrundeliegenden Phänomens" eine notwendige Bedingung von Geschichtsschreibung? Genügt nicht wie in der Geschichte der Motette die geschichtliche Kontinuität? Oder zeigt sich „Identität" - die nicht Merkmalsgleichheit voraussetzt überhaupt erst in der Kontinuität? Zu 3: Daß es keine ,klassische' und keine ,romantische' Musiktheorie gegeben hat, besagt, daß keine für die ,klassische' oder ,romantische' Musik spezifische Theorie entwickelt worden ist. Es handelt sich also durchaus um eine musikgeschichtliche und nicht bloß geistesgeschichtliche Behauptung.
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DOPPELCHORIGKEIT IM 17. JAHRHUNDERT Zu den ,fehlenden' Theorien WERNER BRAUN
Aus den Diskussionsbemerkungen zum Problem einer Geschichte der Musiktheorie möchte ich zwei Meinungen herausgreifen, weil sie den von mir vertretenen Grundsätzen zu entsprechen scheinen. Ludwig Finscher hält für theoriegeschichtlich charakteristisch „nicht nur das, was vorliegt, sondern ebenso das, was fehlt". „Die historische Begriindung dafür, daß es fehlt", wäre zu erarbeiten. Das deckt sich - wenigstens verbal - mit dem in meinem Papier empfohlenen „Nachweis von ... gewissermaßen ungeschriebenen Theorien". Den anderen Aspekt spricht Hans Heinrich Eggebrecht an. Er betont den „Zusammenhang der Musiktheorie mit der Geschichte der Komposition (und Notation)" und möchte Musiktheorie „auch an Hand von Kompositionsanalyse behandeln". Ich hatte mich etwas allgemeiner ausgedrückt mit der Vermutung, daß eine „Geschichte der Musiktheorie doch wohl in der sie umgebenden Musik ihren eigentlichen Bezugspunkt" habe. Aber ich sah damals in meiner Stellungnahme zu den Erklärungen von Carl Dahlhaus - ,und ich sehe heute den engen Bezug von „Kompositionsanalyse" und „fehlenden Theorien". Er soll an einem konkreten Fall untersucht werden - wodurch vielleicht auch die Rückfrage von Carl Dahlhaus nach der die jeweiligen Theorien „umgebenden Musik" wenn nicht beantwortet, so doch erläutert werden kann. Folgender Weg bietet sich an: Ich greife ein für die Musik eines bestimmten Zeitraums bezeichnendes kompositorisches Grundphänomen heraus, von dem anzunehmen ist, daß es auch die gleichzeitigen Theoretiker irgendwie interessiert hat. Dieses Grundphänomen versuche ich mir anhand von Einzelkompositionen klarzumachen, die durch den gleichen vertonten Text miteinander verbunden sind; ich will dabei verschiedene Existenzformen des zu beschreibenden Grundphänomens kennenlernen. In einem zweiten Arbeitsgang prüfe ich dann die zeitgenössische Theorie nach Auskünften über den mich interessierenden Gegenstand. Und schließlich drittens - vergleiche ich meine durch Analyse zustande gekommenen eigenen Theorien mit den alten Aussagen zur Sache. Es wird sich dann zeigen, in welchem Umfang ein bestimmtes kompositorisches Grundphänomen von der „umgebenden Theorie" zur Kenntnis genommen worden ist. Den detaillierten Untersuchungsgang kann ich hier allerdings nur sehr abgekürzt wiedergeben. Als ein besonders für die erste Hälfte des 1 7. Jahrhunderts wichtiges kompositorisches Grundphänomen muß die Doppelchörigkeit gelten, und zwar die aus zwei gleich hohen und gleichartigen Stimmengruppen bestehende. Sie hat sich - nach Auskunft der Handschriften - auch nach 1620 großer Beliebtheit erfreut - trotz geistlichen Konzerts und trotz kriegerischer Ereignisse. Zum Vergleich herangezogen wurden achtstimmige Vertonungen der Einsetzungsworte des Abendmahls vonJacobus Gallus (um 1585), Heinrich Schütz (um 1620? ), Balthasar Petri (um 1640) und Johann Rudolph Ahle (um 1665): also aus einem Zeitraum von rund achtzig Jahren und aus unter-
schiedlichen sozialgeschichtlichen Zusammenhängen 1 . Der Stand des Hofkapellmeisters (Schütz) ist unter den Autoren ebenso vertreten wie der des Organisten (Ahle) und der des gewissermaßen ,nebenamtlichen' Musikers (Petri 2 ). Bei der Analyse der vier ausgewählten Werke wurden der komplexe Charakter und der Beziehungsreichtum des Phänomens ,Doppelchörigkeit' offenbar, das mit der Entwicklung einzelner ,Parameter' wie Takt, Harmonik, Tonart, Stil und mit der Geschichte einzelner Gattungen - zumal der Motette - eng verbunden ist, das aber dennoch - über diese ,Determinanten' hinaus - eine eigene geschichtliche Größe darstellt. Das Kernproblem in der doppelchörigen Schreibweise läßt sich mit der Frage fassen: wie können zwei ,an sich' und ,in sich' vollständige Stimmgruppen zu einem übergeordneten sinnvollen musikalischen Ganzen verschmelzen? Unter diesem Gesichtspunkt ergeben sich drei Grundformen der Chorzuordnung im paarig achtstimmigen Satz, die offenbar schon die Anfänge dieser Technik in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestimmt haben (vgl. V. Ravizza, Frühe Doppelchörigkeit in Bergamo, in: Mf 25, 1972, s. 127-142): 1.
Der Gruppenwechsel a) b) c)
2.
Die Gruppenverzahnung a) b)
3.
als notengetreue Wiederholung, als modifizierte / erweiterte Wiederholung, als einfache Fortsetzung (textlich und musikalisch).
durch längeres Verweilen in der Achtstimmigkeit, durch enggeführte Einsätze (Chorkanon).
Die Gruppenintegration,
bei der es sich um eine Steigerungsform der Gruppenverzahnung handelt, die bis zur vorübergehenden Auflösung der ,Chöre' reicht. Von hier aus sind begründete Werturteile möglich, wobei grundsätzlich - nicht aber ausschließend - zu unterscheiden ist zwischen dem Gebrauchswert und dem künstlerischen Wert. Der einfache Gruppenwechsel dominiert in den Arbeiten lokaler ,Größen' und in der Komposition des J. Gallus. Als Gründe für die scheinbare oder tatsächlich geübte satztechnische Zurückhaltung kommen in Betracht: Unvermögen (Petri), Freude am rein
1
Neuausgaben: DTO Jg. XXi. Bd. 40, Wien 1913, S. 72-76, Nr. XXVI: „Dominus Jesus in qua nocte", a 8, aus ,Opus musicum' III, 1587 Ü· Gallus); Bärenreiter-Ausgabe 1722, 2. Aufl. 1964: „Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da er verraten ward", a 8, SWV 495 (H. Schütz); Handbuch der deutschen evangelischen Kirchenmusik I, 2, Altargesang II, Göttingen 1942, S. 358-368: „Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da er verraten ward", 8, aus ,Neu-verfassete Chor-Music, in welcher XIV. Geistliche Moteten enthalten', op. 10, Mühlhausen 1668 U. R. Ahle).
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B. Petri, „Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da er verraten ward", a8, handschriftlich in dem aus Sangerhausen stammenden Dresdener Manuskript Mus. 1/C/2. Zu dieser Quelle vgl. den Kritischen Bericht zu der in Anm. 1 genannten Bärenreiter-Ausgabe und W. Steude, Neue SchützErmittlungen, in: DJbfM für 1967, Leipzig 1968, S. 55 und 64. Einern Gelegenheitsdruck von 1633 zufolge stammte Petri aus Kindelbruck und war Stadtschreiber in Wiehe, einem Ort nahe Sangerhausen.
2
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akkordischen Klangwechsel (Gallus), Ideal emer auch im vollen Satz sich äußernden ,Einfachheit', Rücksicht auf bescheidene Musiziermöglichkeiten. All diese Motive führten zu oder zielten auf ,Gebrauchswert', dessen jeweilige ,Höhe' wiederum vom jeweiligen künstlerischen Leistungsstand abhängig war. Einen schlichten und doch interessanten und schönen achtstimmigen Satz verfertigte J. Gallus - was seine überaus große Verbreitung erklärt. J.R. Ahles Achtstimmigkeit leidet an der Bevorzugung eines einzigen Chores: 55 Textsilben werden allein von der ersten Chorgruppe vorgebracht, vier weitere nur von der zweiten. Hier ist die Grenze des von der Idee der Doppelchörigkeit Zulässigen überschritten; die Komposition des Mühlhäuser Organisten entpuppt sich als unvollkommen doppelchörig gemachtes vierstimmiges Werk: als Arrangement. Recht beliebt auch bei lokalen Komponisten war die Gruppenverzahnung durch enggeführte Einsätze, oft in Verbindung mit dem durch Samuel Scheidt in Umlauf gebrachten sogenannten , Transpositionseffekt' 3 , wobei ein und dieselbe enggeführte ,Clausula' ein wenig mechanisch auf verschiedenen, regulär im ,perfekten' Quint-QuartVerhältnis stehenden Stufen erscheint. Für die Gruppenintegration bietet innerhalb des hier untersuchten Repertoires H. Schütz die einzigen Belege. Sie erfolgt bei ihm auf vierfache Weise: a) durch intensivierte Wiede.r holung, indem z. B. der zuvor gebrachte Abschnitt transponiert und im hörbaren Stimmtausch wiederkehrt; b) durch spiegelbildliche Anordnung bei korrespondierenden Stellen. In der Prima Pars beginnt Chorus· 1, in der Secunda Pars Chorus 2, wobei die Anfänge sich in der musikalischen Gliederung deutlich entsprechen und im Hören aufeinander bezogen werden müssen: ! 2usw. - 2! usw. c) durch ,zerfaserte' Einsätze. Die Gruppen treten nicht nur ,en bloc' ein und enden nicht nur so, sondern die Stimmen verselbständigen sich, und die ,Gruppendisziplin' scheint gefährdet; d) durch Gruppenbildung über die Chorgrenzen hinweg. In buntem und raschem Wechsel entstehen neue vier- und mehrstimmige Verbände; für kurze Zeit scheint ,Anarchie' zu herrschen. Daß es sich dabei um eine sehr kunstvolle ,Unordnung' handelt, die einen wohlbegründeten Platz im Ganzen hat - nämlich in der Mitte der Komposition, so daß ein durchführungsartiger Eindruck entsteht -, braucht kaum besonders betont zu werden. Auch leuchtet ein, daß der hohe artifizielle Wert durch Einschränkungen des ,Gebrauchs' erkauft wurde. Nur sehr leistungsfähige Chorgemeinschaften - gute Hofkapellen und ihnen vergleichbare Ensembles - waren zur Realisierung eines solchen Werks imstande4. An dieser Stelle ist die nachvollziehende, nachträgliche ,Theorie' zu einem gewissen Abschluß gelangt. Das Grundphänomen Doppelchörigkeit hat sich als eine reale geschichtliche Größe in einem bestimmten Zeitraum dargestellt (Objektfixierung), es wurde in der Analyse von repräsentativen Beispielen auf drei technische Grundsituationen reduziert (Objektbeschreibung) und auf seine grundsätzlichen Bedeutungen befragt (Objektbewertung). So kann nun der zweite Arbeitsgang beginnen: die Ermittlung von alten Aussagen zur Sache ,Doppelchörigkeit'. Es muß betont werden, daß die
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Vgl. W. Braun, Samuel Scheidts Bearbeitungen alter Motetten, in: AfMw 19/20, 1962/63, S. 69.
Die häufig fehlerhafte Überlieferung der Schütz-Motette in der in Anm. 2 zitierten Dresdener (Sangerhäuser) Quelle beweist den bloßen Repertoire-Charakter dieser Notierung.
Untersuchungen hier noch nicht abgeschlossen sind, die folgenden Mitteilungen also einen durchaus vorläufigen Charakter haben. Ein Großteil des einschlägigen Materials findet sich in übergeordneten Zusammenhängen. Wie beiläufig kommt etwa in der Kontrapunktlehre auch das Komponieren mit mehr als vier oder fünf Stimmen zur Sprache. Verhältnismäßig selten erscheint die 5 Doppelchörigkeit unter eigener Überschrift, so bei Nicola Vicentino 1555 und hun6 dert Jahre danach bei Athanasius Kircher . Monographische Erörterungen des Themas sind aus dieser Zeit bisher nicht bekannt geworden. Weitere Aufschlüsse über die damalige Objektfixierung vermitteln die alten Bezeichnungen selbst: zusammengesetzte Formulierungen und eigentliche Fachbegriffe. Jene spiegeln - mit den Worten des Michael Praetorius 7 - die Praxis des per choros-Setzens, -Anstellens, -Umwechselns, -Variierens und -Singens, was letzten Endes nichts anderes ist als eine ,dynamisierte' Umschreibung des aus dem Umkreis Adrian Willaerts bekannten Ausdrucks ,coro spezzato'. (Vgl. G. Zarlino, lstitutioni harmoniche, Venezia 1573, pars 3, c. 66, S. 329.) Betont ,gelehrte' Varianten des nüchternen Hinweises auf acht Stimmen („cantio octo vocum") begegnen bei Kircher 1650: „Octophonium sive Octicinium" (ebenda, S. 160). Doch hinter solch hohem Anspruch steht kein eigentliches Problembewußtsein: „Est enim octicinium nihil aliud, quam replicatum quoddam quadricinium, in duos Choros dispertitum ... " (ebenda, S. 159). Auch diese ,Theorie' dient der Praxis: Man möchte möglichst alle Formen des Musiklebens berücksichtigen, bei der Herstellung neuer Werke helfen und sich für vielfältige und abwechslungsreiche Aufführungen einsetzen. Ansätze zu einer ,unbefangeneren' Haltung finden sich in den Ausblicken auf die gattungsbezogene Achtstimmigkeit, auf die Motetten, Concerte und Canzonen a 8, paradoxerweise also in Verbindung mit ,konkreten' Fällen. Damit folgte aber auch die Objektbeschreibung den Geboten einer Handwerkslehre, die zudem über den einfachen Sachverhalt der bloßen Chorantiphonie kaum hinauszukommen suchte. Von Vicentino bis zu Kircher ist das richtige, ,ordentliche' Alternieren im akkordischen Satz, mit oder ohne „mutatio toni" (ebenda, S. 160), der wichtigste Punkt. Vereinzelt wurden dem Kompositionsschüler dazu noch Akkordtabellen angeboten, um ihm die Verdoppelungsmöglichkeiten der Töne vierstimmiger Grundklänge zu zeigen (A. Kircher, Musurgia universalis I, Romae 1650, S. 269 f.). Stärkeres ,theoretisches' Engagement brachte die bereits von Vicentino angeschnittene Frage mit sich, welche Intervalle unter welchen Voraussetzungen die Bässe im vollen Satz zueinander bilden durften. Sie wurde über Gioseffo Zarlino (Ist. harm., S. 330), Giovanni Maria Artusi 8 bis zu Praetorius und weiter getragen und allmählich auf die Verdoppelungsmöglichkeit aller Stimmen ausgeweitet, so daß die Geschichte der Doppel-
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„Online comporre a due chori Psalmi e dialoghi, et altre fantasie", in: N. Vicentino, L'antica musica ridotta alla modema prattica, Roma 1555, BI. 85 r/v.
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,Nota VII. Pinacis VIII. IX. X. Polyphoniarum vocum Musarithmos continentis praxin exhibcns. Propositio V. Dato verborum themate, octophonam melothesiam construere', in: A. Kircher, Musurgia universalis II, Romae 1650, S. 159-164. 7
Urania oder Uranochorodia, Wolfenbüttel 1613, Commonefactio.
8 L'arte del contrapunto II, Venezia 1589, c. 16, zit. bei M. Praetorius, Syntagma musicum III,
Wolfenbüttel 1619, S. 94.
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chörigkeit durch die Vorgeschichte des ,Orchesters' abgelöst erscheint 9 . Mit den Existenzformen kunstvollerer Satzarten haben sich die Theoretiker dagegen in diesem Zusammenhang kaum oder wieder nur sehr ,praktisch' beschäftigt. Kircher verweist ganz allgemein auf seine früheren Ausführungen zum ,contrapunctus floridus' (Musurgia universalis II, S. 163), und Pedro Cerones Clausel-Katalog von 1613 betrifft auch den achtstimmigen Satz, der mit 24 Proben zwar längst nicht so reich vertreten ist wie die Vier- und Fünfstimmigkeit {118 und 104 Beispiele), aber immer noch besser als der zwei- und siebenstimmige Satz (13 bzw. 8 ,Clausulas'; für die Drei- und Sechsstimmigkeit standen 34 und 53 Exempel bereit) 1 0 . Daß die beiden Chöre stets am Ende zusammentreten mußten, ist öfters betont worden 11 ; warum das aber auch sonst der Fall sein konnte und welche Gruppierungen sonst möglich waren - das blieb unerörtert. Hier bieten die auf der Rhetorik gründenden Lehrbücher die willkommene Ergänzung, indem sie auch das musikalische Kunstwerk als eine zusammenhängende, wohlgegliederte, sinnvolle und wirkende Verlaufsgestalt interpretieren. Daß die gleichzeitige Tätigkeit aller acht Stimmen die Ausnahme und nicht die Regel darstellt, wird so auf neue Art - nicht nur als satztechnische Verlegenheitsmaßnahme - plausibel. Durch die rhetorisch-musikalische Figurenlehre waren sogar Einzelheiten der Chorverbindung benennbar. So kann der Gruppenwechsel mit einigen Wiederholungsfiguren gleichgesetzt werden (etwa anadiplosis und epanalepsis). Auch in die nächsthöhere Stufe der Doppelchörigkeit: die Gruppenverzahnung, reicht die musikalische Rhetorik hinein. Die anaploke bei Joachim Burmeister entspricht dem vorhin genannten ,Chorkanon'. Sogar für Schützens ,intensivierte Wiederholung' stand ein gelehrter Fachausdruck bereit: die analepsis (M. Ruhnke, Joachim Burmeister. Ein Beitrag zur Musiklehre um 1600, Kassel u. Basel 1955, S. 152, 156 u. 151). Mit der alten Objektbewertung wird der Bereich der handwerklichen Musiktheorie mit den Bezirken Musikanschauung und Musikpolitik vertauscht. Dorthin gehören die Spekulationen um eine himmlische Musik - die nach den Andeutungen der Bibel als ein unentwegtes per choros-Singcn vorgestellt wurde , hierher der Wunsch der Kirchenbehörden nach einfacher, verständlicher Musik und die offiziellen empfehlenden Hinweise auf Jakob Ilandl-Gallus. Obwohl also grundsätzlich alle drei Grundformen einer theoretischen Musikbetrachtung mehr oder weniger deutlich ausgeprägt vorliegen, kann von einer eigenständigen und detaillierten Theorie der Doppclchörigkeit kaum die Rede sein, und wenn Musiktheorie Sammelbegriff sein soll „für alle jene Überlegungen, die musikalische Praxis ermöglichen, erklären, begleiten, korrigieren und transzendieren", so sind wir hier auf das Phänomen der teils ,fehlenden', teils ,unvollständigen' Theorien gestoßen. Zur Erklärung dieses scheinbar negativen Befundes reicht freilich die bloß ,historische Begründung' nicht aus. Sie ist gewiß möglich und liegt nahe; denn für andere musikalischkompositorische Grundphänomene und für die großen Gattungen gibt es ausführlichere und ,bessere' Theorien: für die Zwei- bis Vierstimmigkeit, das Lied, das Streichquartett. Vielleicht war das Interesse der ,praktischen Theoretiker' um 1620 zu stark mit
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Vgl. Max Schneider, Die Besetzung der vielstimmigen Musik des 17. und 16. Jahrhunderts, in:
AfMw 1, 1918/19, S. 207 f. 1
O P. Cerone, EI Melopeo y Maestro, Tractado de musica theorica y practica II, Napoles 1613,
s. 865-870. 11
G. Zarlino, Istitutioni harmoniche, S. 329; A. Kircher, Musurgia universalis II, S. 159.
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aktuellen Problemen Generalbaß, Ziergesang, Concerto - besetzt, als daß noch Raum gewesen wäre für ähnlich ausführliche Stellungnahmen zu der traditionsbelasteten Doppelchörigkeit. Daneben und darüber hinaus sind ,systematische' Gründe zu bedenken. Offenbar ist die alte Theorie entweder sehr ,konkret' - als Kompositionsanleitung, Aufführungsanweisung usw. - oder sehr ,abstrakt': nämlich überall dort, wo über die Voraussetzungen und Perspektiven von Musik nachgedacht wird, uber Tonsysteme, Zusammenklänge, über ,Stil', über das Wesen der Musik. Zwischen diesen beiden Polen liegen die weder ganz konkreten noch ganz abstrakten Grundphänomene, die der Theorie nur indirekt und mehr beiläufig zugänglich waren: insofern sie auch eine konkrete und eine abstrakte Bedeutung besaßen. Damit aber wäre gewissermaßen von der ausschließenden Betrachtung her ein Beitrag zum Begriff und Umfang von ,Musiktheorie' geleistet und gleichzeitig die Fragwürdigkeit der glatten Antithese Theorie und Praxis beleuchtet: Die ,fehlenden' oder unvollständigen Theorien machen der interpretierenden wie der systematischen Musikwissenschaft ihre Aufgaben bewußt.
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DISKUSSIONSBERICHT
Wenn man die einleuchtenden Erörterungen des Referats extrapoliert im Hinblick auf das Gesamtkonzept einer Geschichte der Musiktheorie, würde der vorgesehene Rahmen offenbar gesprengt. Der Gedanke, etwa bei Beethoven das absolvieren zu müssen, was anhand der Doppelchörigkeit gezeigt wurde, nämlich die fehlende Theorie, wäre bedrückend. Es gilt daher zu überlegen, wie weit man hier gehen kann (DAHLHAUS). Solche überlegungen empfehlen sich um so mehr, als implizite theoretische Strukturen oft vieldeutig sind. Vielleicht sollte man sich auf die geschriebene Theorie beschränken und die ungeschriebene nur soweit heranziehen, als sie die geschriebene verdeutlicht (REINECKE). Die Formulierung, daß in Komposition Theorie steckt, scheint problematisch: Daß man sich nachträglich eine Theorie ausdenken kann, die zu bestimmten Kompositionen zu passen scheint, heißt noch nicht, daß eine solche Theorie tatsächlich in Kompositionen enthalten ist. Auch trifft der Begriff der ungeschriebenen Theorie hier schwerlich zu, da er sinnvoll nur auf eine mündlich tradierte und nicht auf eine nicht vorhandene oder nachträglich ausgedachte Theorie bezogen werden kann. Im übrigen würde eine aus Kompositionen des 1 7. Jahrhunderts neuerdings herausgelesene Theorie innerhalb einer historischen Darstellung eher ins 20. als ins 17. Jahrhundert gehören (STEPHAN). Im Falle der Wiener Klassik liegen Welten zwischen Komposition und dem, was zu gleicher Zeit und im gleichen Raum theoretisch expliziert worden ist (z. B. von Daube). Eine so auffällige Diskrepanz zwischen dem Stand der Komposition und dem der Theorie (als zwei offenbar weit getrennten Traditionszusammenhängen) bedürfte in einer Geschichte der Musiktheorie doch wohl der Interpretation (FINSCHER). Sind die aus den Kompositionen nachträglich gewonnenen theoretischen Einsichten zur Doppelchörigkeit von der zeitgenössischen Theorie nicht auf andere Weise bereits erfaßt? Zwei Beispiele aus anderen Bereichen. 1) Machauts Rondeau Nr. 1 beginnt, abweichend von der Regel, daß am Anfang ein perfekter Klang steht, mit dem imperfekten Klang fis - a - cis, der wie ein Paenultima-Klang behandelt wird und als solcher durch die damalige Theorie legitimiert erscheint. Man kann diesen Fall, der in keinem Traktat erklärt wurde, theoretisch fassen, sozusagen in Ergänzung zu dem, was die zeitgenössische Theorie gelehrt hat. 2) Zu den Scherzi aus op. 33 von Haydn: in dem Begriff Scherzo, der sich, wie wahrscheinlich gemacht wurde, auf das geistreiche Umgehen mit achttaktigen Perioden bezieht, ist jener theoretische Prozeß erfaßt, d~r sich in den Stücken selbst abspielt. Damit verglichen erscheinen die Reflexionen der zeitgenössischen Theorie (z. B. Koch) sehr dürftig (EGGEBRECHT). Ob man sagen kann, daß kompositorische überlegungen, wie z. B. in den beiden genannten Fällen, auf Theorie basieren, erscheint zweifelhaft. Was früher durch Kompositionsunterricht vermittelt oder durch kompositorische Praxis erworben wurde, war eben nicht Theorie, sondern Praxis und würde deshalb eher in eine Geschichte des Kompositionsunterrichts oder der Kompositionsübung gehören. Aber man sollte in dieser Frage vielleicht keine grundsätzlichen Entscheidungen fällen, sondern einengewissen Spielraum lassen (STEPHAN). Der Ausdruck Theorie wird in der Diskussion verschieden gebraucht: erstens im engeren Sinne von kodifizierter Theorie, Theorie in Gestalt erhaltener schriftlicher Dokumente; zweitens - in einem weiteren Sinne auch Momente mit umfassend, die, ohne daß sie sich in Texten niedergeschlagen hätten, als Gedanke, als Entwurf in Kompositionen enthalten und von ihnen ablesbar
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sind. Ein anderer Punkt: Die Relevanz von Theorien wird oft erst von der Praxis her deutlich. Es wäre z. B. verfehlt, die Theorie der Sonatenform in sich darzustellen, ohne Blick auf das, was sich in der Musik, etwa bei Haydn und Beethoven, tatsächlich ereignet hat. Wie weit man die Praxis einbeziehen soll, ist eine Frage der jeweiligen Einschätzung (DAHLHAUS). Ist die Frage des ,Spielraums', auf die in der Diskussion wiederholt hingewiesen wurde, nicht eine rein historische Fragestellung? Aus der jeweiligen historischen Konstellation von expliziter Theorie und Komposition wäre erst einmal abzuleiten, wie weit es notwendig ist, Komposition in den Darstellungszusammenhang mit einzubeziehen. Man denke z. B. an die Dodekaphonie, wo Theorie kaum vorhanden ist (FINSCHER). Grundlegend ist in der Tat die Frage, wie weit der Theoriebegriff gefaßt werden soll. Ob man sagen kann, daß Theorie nur verbalisierte Theorie sei, scheint zweifelhaft. Es müßte vielmehr geprüft werden, ob man nicht berechtigt ist, von einem kompositorischen theoretischen Denken zu sprechen (EGGEBRECHT). Was wäre dann aber die kompositorische Praxis? Ist sie bloßer Ausfluß der Theorie? Angewandte Theorie? In die Geschichte der Musiktheorie käme dann die Musikgeschichte mit hinein, was für das Projekt überaus problematisch wäre (STEPHA ). Der Versuch, die Theorie zum Gegenstand einer separaten historischen Darstellung zu machen, ist es, der sich als problematisch erweist. Aus dem kompositionsgeschichtlichen und musikgeschichtlichen Kontext läßt sich die Theorie letztlich nicht herauslösen. Das für sie Wesentliche spielt sich eher im kompositorischen Denken als in den (demgegenüber) z. T. dürftigen Reflexionen ab (EGGEBRECIIT). Andererseits darf nicht aus den Augen verloren werden, daß ein Werk mit dem Titel ,Geschichte der Musiktheorie' Erwartungen hinsichtlich seines Inhalts weckt. Der engere Theoriebegriff sollte daher den Schwerpunkt bilden und der weiter gefaßte nicht gleichberechtigt danebengestellt werden (NIEMÖLLER). Wenn man sich auf den engeren Theoriebegriff einigt, ist die Einbeziehung von Kompositionen nicht ausgeschlossen; denn ein weiter Bereich der Theorie ist an vorliegenden Kompositionen entwickelt, die im gegebenen Fall mit heranzuziehen wären, wobei außerdem auf Aspekte hingewiesen werden könnte, die den Theoretikern an den Stücken nicht wesentlich gewesen sind (STEPHAN). Die ,Dürftigkeit', von der vorhin gesprochen wurde, ist wohl der Preis, der hier gezahlt werden muß (DAHLHAUS). Die ,Dürftigkeit' der Sache ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite zeigt, daß Theoriegeschichte zu einem ganz großen Teil Ideengeschichte ist. Dabei ergeben sich in einer Geschichte der Musiktheorie Systemzusammenhänge, die von der kompositorischen Praxis weit wegführen - in den Bereich des ,spekulativen überbaus', der bis zum 19. Jahrhundert eine massive Rolle spielte (FINSCHER). Wenn alle Mitarbeiter dem zustimmen, daß unter Theorie im Ti tel des Projekts primär die verbalisierte Theorie zu verstehen ist, wäre die Diskussion ein Stück vorangekommen. Wichtig ist, daß diese Frage präsent bleibt, ihre Beantwortung sollte am Gegenstand selbst erfolgen (EGGEBRECIIT). Nachdem die ,fehlenden' und die ,ungeschriebenen' Theorien als Gegenstand der geplanten Darstellung hier erörtert wurden, bleibt die Frage, in welchem Umfang verbalisierte Theorien ausgeklammert werden sollen, etwa im Falle von Singlehren und Spiellehren. Man wird zwar nicht die Anweisung ,una voce super Ja scmper est canendum fa', wohl aber ihre Begründung zur Theorie rechnen dürfen. Ähnlich verhält es sich mit den Verzierungslehren. Sobald eine Fülle von Material bereitgestellt ist und die Sammlung den Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Ordnung erkennen läßt, sollte man dieses Teilgebiet in die Musiktheorie mit hineinnehmen (BRAUN). Eine weitere Frage ist die, wie weit Stiltheorien und Polemiken zwischen verschiedenen Richtungen (z. B. Marco Scacchi, Römische Schule) Gegenstand der Darstellung sein sollen (ZIINO). Wie Gattungs- und Stillehren insgesamt mit zum Stoff gehören, so
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auch die Auseinandersetzungen über diese Lehren. Wenn die Stillehre im 1 7. J ahrhundert behandelt wird, ist die Einbeziehung der Polemiken für die Darstellung wohl unerläßlich (STEPHAN). Ähnlich im 18./19. Jahrhundert etwa der Streit um die wahre Kirchenmusik (DAHLHAUS) ... und im 14. Jahrhundert der Streit um die Vorteile der italienischen und französischen Notation (EGGEBRECHT). Man kommt aber im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert dann doch in Schwierigkeiten. In dem Maße, in dem der Theoriebegriff sich verändert und zusammenschrumpft, was im 20. J .i.hrhundert wohl der Fall ist, wuchern die ,Randgebiete' aus. Man denke an die musikalische Jugendbewegung, Schütz-Renaissance usw. (FINSCHER). Hier liegt ein Grundproblem: Man muß damit fertig zu werden versuchen, daß die Masse des Geschriebenen zur Gegenwart hin gewaltig zunimmt (DAHLHAUS). Das Problem hängt mit dem Stellenwert der jeweiligen Auseinandersetzungen zusammen. Und danach müßte dann entschieden werden, was herauszulassen ist (REINECKE). Die Frage des Stellenwertes ist wiederum eine Frage der geschichtlichen Konstellation. Die Schütz-Renaissance etwa hatte für die Musikanschauung wie für die komponierte Musik im 20. Jahrhundert zeitweise beträchtliche Bedeutung (FINSCHER). Eine Entscheidung in dieser Frage muß den Autoren überlassen bleiben; denn auch hier lassen sich keine allgemeinen Richtlinien aufstellen (EGGEBRECHT).
Frieder Zaminer
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QUELQUES REMARQUES SUR LE PROJET SUZANNE CLERCX-LEJEUNE
Quelques observations genfrales 1) Dans le plan du livre sur l'Histoire des theories musicales, il convient d'eviter Je terme «Baroque» pour designer une epoque. Le «Baroque» est un terme esthetique et n'indique pas necessairement un temps determine, surtout dans certains pays (Ja France par exemple). Par contre, il semble que !es termes Moyen age et meme Renaissance ont une signification plus historique qu'esthetique et pourraient etre utilises dans Je plan general de notre travail. Enfin, a quelle epoque du XVIIIe siede, faudrait-il supprimer Je «Baroque » et ou? ll est certes possible d'utiliser des termes pour designer des epoques; Je siede de Louis XIV, par exemple a eu une influence europeenne mais ce n'est pas Je cas des styles de Louis XV et de Louis XVI qui sont trop specialement fram;ais. Finalement, l'indication du plan en suivant !es siedes semble Ja plus rationnelle. 2) Je suppose que dans le «Mehrstimmigkeitslehre bis Tinctoris», sera envisagee l'ecole liegeoise jusque Jacques de Liege, bien etudiee par J. Smits van Waesberghe. Le titre, en ce .cas, ne pourrait-il etre: De l'apogee carolingienne a Tinctoris? 3) A-t-on envisage l'etude des theoriciens anglais du Moyen age (par ex.: Odington) ou bien les inscrit-on dans l'ecole fran