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German Pages 874 [881] Year 2013
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JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 61
HERAUSGEGEBEN VON
PETER HÄBERLE
Mohr Siebeck
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle Universität Bayreuth Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht 95447 Bayreuth
ISBN 978-3-16-152417-2 / eISBN 978-3-16-159062-7 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua belichtet, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Inhaltsverzeichnis Abhandlungen Gustavo Zagrebelsky: Die Verfassungslehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Norman Weiss: Bedeutung und Funktion von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit im demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Eberhard Schmidt-Assmann/Timo Rademacher: Rechtsschutzgarantien des internationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Vgl. NF 59 (2011), 411: Peters
Felix Ekardt: Ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse versus öffentlich-rechtliche Verhältnismäßigkeit und Abwägung: Ergänzungs- oder Ausschlussverhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Jan Henrik Klement: Das Schwinden der Legalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Christoph Görisch: Verfassungsnotwendige Staatsaufgaben in vergleichender Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Thorsten Siegel: Europäisierung als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
Markus Kotzur: Daseinsvorsorge als Unionsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
Vgl. NF 49 (2001), 63: Tsatsos
Charlotte Gaitanides: Kontrolle unabhängiger Institutionen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Lorenz Langer/Andreas Th. Müller: Ius cogens und die Werte der Union . . . .
229
Sabine Schlacke: Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . .
293
Gerrit Hellmuth Stumpf: Wissenschaftliches Fehlverhalten und akademische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
Michael Kilian: Texte und Zeichen im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . .
411
Klaus Ferdinand Gärditz: Landesverfassungsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449
Vgl. NF 26 (1977), 1: Beutler
IV
Inhaltsverzeichnis
Michael Schwarz: In keinem unbekannten Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
495
Jürgen Mittelstrass: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . .
513
Antrittsvorlesungen Stephan Rixen: Rationalität des Rechts und „Irrationalität“ demokratischer Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
525
Vgl. NF 59 (2011), 457: Hufeld
Kay Windthorst: Rationalität des Rechts durch Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
541
Ralf Brinktrine: Seniorendemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
557
Steffen Augsberg: Innovative Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen . . .
579
Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen Klaus Stern: Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . .
599
Vgl. NF 59 (2011), 535: Doehring; NF 60 (2012), 355: Schmitt Glaeser
Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum Jörg Luther: Europäische Verfassungsreformen: Einsichten und Aussichten der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
629
Vgl. NF 32 (1983), 507: E. E. Hirsch; 59 (2011), 635: Can
Helmut Goerlich: Laizität und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
651
Vgl. NF 32 (1983), 507: E. E. Hirsch; 59 (2011), 635: Can
Hüseyin Yildiz: Die Rolle der zivilen, bürokratischen und militärischen Herrschaftselite in der Staatspolitik der Türkei und ihr Verhältnis zum Staat . . Vgl. NF 32 (1983), 507: E. E. Hirsch; 59 (2011), 635: Can
669
Inhaltsverzeichnis
V
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika Gerhard Casper: Forswearing Allegiance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
699
Vgl. NF 51 (2003), 607, m. w. N.: Wiegandt
Udo Fink/Ines Gillich: Der Einfluss des Völkerrechts auf die US-amerikanische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
725
II. Afrika Christina Murray: Kenya’s 2010 Constitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
747
Peter Häberle: Die neue Verfassung von Kenia (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
789
Heinrich Scholler: Verfassungsgebung in Afrika – dargestellt am Beispiel Äthiopiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
797
Vgl. NF 36 (1987), 679: Scholler
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abhandlungen
Die Verfassungslehrer von
Professor Dr. Gustavo Zagrebelsky, Universität Turin Thema der Turiner Tagung der Italienischen Vereinigung der Verfassungsrechtslehrer im Oktober 2011 war der Beitrag der Verfassungslehre zur Verfassungsentwicklung des Landes in den 150 Jahren, die seit der politischen Einigung der Nation vergangen sind. Am Ende der Tagung war natürlich die Aufmerksamkeit auf einige Probleme der Gegenwart zu richten. Die alle diese Probleme im Grunde zusammenfassende Frage lautet, ob es eigentlich eine gemeinsame Aufgabe gibt (und wenn ja welche), die die Verfassungslehrer als ihre Eigene anerkennen.*
1. Die Wissenschaft von der Verfassung: eine praktische Wissenschaft Die erste Frage betrifft unmittelbar die Bezeichnung „Verfassungslehrer“ (costituzionalisti)1. Gibt es wirklich „die Verfassungslehrer“ als eine eigene Kategorie von Personen, die einen geistigen Beruf ausüben, der die Verfassung zum Gegenstand hat? Oder gibt es nur eine Vielzahl von Individuen, die zwar jeder für sich einen Stellenwettbewerb in dieser Rechtsmaterie gewonnen haben, aber geistig nicht von einer gemeinsamen Aufgabe geeint sind? Solche Fragen sind natürlich mit besonderer Vorsicht anzugehen. Wir lehnen es selbstverständlich ohne Umschweife ab, eine Korporation zu sein oder als solche angesehen zu werden. Die geistige Tätigkeit und die der heutigen Sicht der Dinge entsprechend ihr eigene Freiheit widersetzen sich jeglicher Einordnung in feste organische Gesellschaftsstrukturen. Daraus aber zu folgern, jeder habe Selbststand, könne und solle in sich und für sich selbst mit seinen
*
Übersetzt von Prof. Jörg Luther, Universität des östlichen Piemont, Alessandria. Dem seit den fünfziger Jahren gängigen Begriff der „costituzionalisti“ verdankt die 1986 gegründeten Vereinigung der „costituzionalisti“ ihren Namen, deren Mitglieder ordentliche Professoren in den Disziplinen des Verfassungsrechts sind. Im öffentlichen Sprachgebrauch gelten als costituzionalisti nicht nur diese auch anwaltlich tätigen Verfassungsrechtslehrer, sondern auch andere als Verfassungsexperten anerkannte Politik- und Sozialwissenschaftler. Der noch von G. Radbruch verwandte ältere Begriff des „Konstitutionalisten“ bezeichnete nur Vertreter der Ideen des Konstitutionalismus (Anm. d. Ü.). 1
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Gustavo Zagrebelsky
Gedanken, Ideen und Studien stehen, so als ob es keine Gemeinsamkeit gäbe, die unserem Beruf einen gesellschaftlichen Sinn verleihe, geht einen Schritt zu weit. Als Ausgangpunkt können wir einen Satz aufnehmen, den Carl Schmitt 1936 als Imitation von Art. 16 der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte formuliert hat: „ein Volk, das keinen Rechtsstand hat, hat keine Verfassung“2. Wohlgemerkt nur ein Ausgangpunkt, nicht mehr. Im damaligen Kontext der politischen Geschichte barg diese Formel viel Gift. Es ging darum, eine „arische“ Rechtswissenschaft herzustellen, sie von den liberal-demokratischen Verfassungsideen zu befreien und einem Stand von Juristen anzuvertrauen, der durch die nationalsozialistische Ideologie diszipliniert wurde. All dies ist abzuwerfen und gehört auf die Müllhalde der Erfahrungen des Totalitarismus. Aber es bleibt etwas Wahres und Wesentliches, das sich immer dann offenbart, wenn sich das profane Publikum, speziell durch seine Informationsmedien in einer verfassungsrechtlich umstrittenen Frage an die „Verfassungslehrer“ wendet, um eine Antwort oder zumindest eine Orientierung zu erhalten. Die uns gegenüber bestehenden Erwartungshaltung beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, es gäbe jenseits aller aus der Freiheit des Denkens entstehenden Differenzen etwas, das unser Bewußtsein als „Verfassungslehrer“ eint, den Sinn eines geistigen Berufs stiftet, der nicht irgend eine beliebige „Materie“, sondern gerade die Verfassung zum Gegenstand hat. Aus diesem Grunde – wegen der Eigenart ihres Gegenstandes, nämlich der Verfassung – kann die Diskussion um die Stellung der „Verfassungslehrer“ nicht auf die Frage der Ausrichtung an der Freiheit von Macht – in allen ihren möglichen Formen – verkürzt werden, die sich die auch in anderen Bereichen tätigen Intellektuellen stellen. Verfassungslehrer zu sein bedeutet nicht dasselbe wie Wirtschaftwissenschaftler, Historiker oder Moralphilosoph zu sein. In der Tat richtet man an Letztere – soweit ersichtlich – nicht dieselben Erwartungen wie an den „Verfassungslehrer“. Die Verfassungsstudien haben ihren gemeinsamen Dreh- und Angelpunkt in der Verfassung und die Verfassung ist eine geschichtlich bestimmte oder geschichtlich zu bestimmende Gegebenheit, deren Erkenntnis vorrangig der Verfassungswissenschaft aufgegeben ist. Anders liegt es bei den Beispielen der Wirtschaftswissenschaft, der Geschichtsschreibung, der Philosophie etc. Die Wirtschaftswissenschaft existiert letztlich nur als eine Vielzahl von Theorien und Lehren zur Natur des Menschen in ihrer Beziehung zu den wirtschaftlichen Tatsachen und zu den „Gesetzen“, die man aus dieser angenommenen Natur ableitet. Ähnliches gilt auch für die Geschichtswissenschaft und die Philosophie, deren Betrachtungen der tatsächlichen Gegebenheiten auf a priori angenommenen bestimmten Anschauungen von den Kräften beruhen, die die Welt und das menschliche Handeln in der Welt bewegen und sich damit auf bestimmte Deutungsmuster gründen. Nun mag man einwenden, in der Verfassungswissenschaft verhalte es sich ebenso. Gilt nicht auch hier im Grunde der Satz: „Was wahrhaft grundlegend ist – also das „Konstitutionelle“ im tiefsten Sinne – kann nie gesetzt, sondern immer nur vorausgesetzt werden“? Ist nicht auch die Wissenschaft der Verfassungslehrer durch eine Unzahl von a priori, von vorpositiven, metaphysisch 2 Aufgabe und Notwendigkeit des deutschen Rechtsstandes, in: Deutsches Recht (Zentralorgan des Bundes Nationalsozialischer Deutscher Juristen) 1936, S. 181.
Die Verfassungslehrer
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oder historistisch bestimmten Annahmen determiniert, die die Lehren in ihrer Gesamtheit letztlich wie eine Polyphonie, ja gelegentlich sogar wie eine Kakophonie erklingen lassen? Wenn die Verfassungslehrer sich hierzu befragen würden, ließen sich gewiss unterschiedlich ausfallende Antworten registrieren. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich daher auch nicht von den Ökonomen, Historikern etc. Dagegen unterscheiden sie sich von ihnen in einer anderen Hinsicht, nämlich in der Aufgabe, die ihnen aus der Verfassung erwächst. Insofern gehört die Verfassungsrechtswissenschaft unbestreitbar zu den praktischen Wissenschaften, die nicht einfach der Praxis dienen, sondern als Wissenschaften im aristotelischen Sinn im Verlaufe ihrer Entwicklung ihren Gegenstand erst herstellen. Ihr Gegenstand ist mithin nicht unabhängig von dem sich mit ihm befassenden wissenschaftlichen Denken. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich allerdings die Rechtswissenschaft im Allgemeinen und die Verfassungsrechtswissenschaft im Besonderen zunächst nicht von der Wirtschaftswissenschaft, der Geschichtswissenschaft oder der Moralphilosophie. Der Unterschied liegt vielmehr in der Natur der Aufgabe: die Verfassung soll konstituieren und dem hat auch die Wissenschaft zu entsprechen, die sich mit ihr befasst. Diskurse über die Verfassung, die eher eine Dispersion bewirken oder jedenfalls nicht vorrangig darauf abzielen eine die Verfassung stützende Verfassungswissenschaft zu „konstituieren“ sind daher auch keine Diskurse der Verfassungslehre. Es mögen politische oder verfassungspolitische Ansprachen sein, Parteischriftsätze in verfassungsrechtlichen Verfahren oder Gutachten für Akteure der politischen Arena, die diese Verfassungsargomente nutzen. Es können sogar Angriffe auf die Verfassung sein. Keinesfalls stellen diese Diskurse Verfassungsrecht dar, da sie von der Aufgabe der Verfassung ganz und gar unabhängig oder sogar gegen sie gerichtet sind. Das ist nicht schwierig zu verstehen. Eine Verfassungswissenschaft, die nicht auf eine gemeinsame Grundorientierung abzielt, sondern sich in zahlreiche, sich untereinander bekämpfende Parteiungen auflöst, zerstört zu aller erst sich selbst. Sie widerspricht ihrer Aufgabe, Wissenschaft von der Verfassung zu sein, und wird in ihrer Gesamtheit entweder hilf- und nutzlos oder aber ein Repertorium polemischer und instrumenteller Argumente, eine Handreiche für Andere. Sodann zersetzt sie aber auch die Verfassung selbst, weil diese einen einheitlichen Brennpunkt des politischen und gesellschaftlichen Lebens des Gemeinwesens bildet. In dieser zweiten Hinsicht ist daher auch der Satz von Schmitt durchaus berechtigt: eine gespaltene, konfl iktbefangene und über ihre Grundlagen uneinige Verfassungswissenschaft annulliert sich nicht nur selbst, sondern zerstört auch ihren Gegenstand. Sie begeht Verrat an ihrer praktischen Aufgabe. Jener Satz wurde im Rückblick auf die gewiss ideenreiche, aber nichts desto weniger zersetzend wirkende politische Fragmentierung der Verfassungswissenschaft in der Krise der Republik geschrieben und beabsichtigte in der Vorausschau die Wiederherstellung einer der totalitären Gewalt gewidmeten Einheit. Eine Einheit auf Kosten der Freiheit, die die Funktion der Verfassungsrechtswissenschaft als Wissenschaft liquidieren und sie auf eine bloße Dienstleistung reduzieren sollte.
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Gustavo Zagrebelsky
2. Konvergenz und Divergenz zur Verfassung Die Aufgabe, vor der die Verfassungslehrer in einer freien Gesellschaft und in einer konstitutionellen Demokratie stehen, lässt sich nun mithilfe einer berühmten Formel von Peter Häberle3 präzisieren, den unsere Vereinigung gestern aufzunehmen die Ehre hatte. Aufgabe ist es, in einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ – eine Wendung, in der die eingangs zitierte Schmittsche Formel vom „Rechtsstand“ anklingt, die aber ihren Sinn völlig umkehrt – eine konvergierende Freiheit bzw. eine freie Konvergenz unserer Grundorientierungen anzustreben. Ohne eine derartige Konvergenz – dies sei wiederholt – gibt es nicht „die Verfassungslehrer“, sondern nur eine Vielzahl Verfassungslehrer, die nicht die Verfassung mit herstellen, sondern sie für die unterschiedlichsten Interessen verschleißen, vielleicht sogar um eine andere herzustellen. Ohne sie gibt es mithin keine Verfassung. Und wenn es auf der anderen Seite ohne jene Konvergenz „die Verfassungslehrer“ nicht als eine Einheit gibt, dann gibt es auch keine Wissenschaft von der Verfassung. Denn eine praktische Wissenschaft wie die Verfassungsrechtswissenschaft, die sich ihrer Ziele nicht vergewissert, ist nicht nur unpraktisch, sondern sie ist auch keine Wissenschaft. Sie ist dann nur eine Sammlung anderer, vielleicht durchaus nobler und berechtigter, aber divergierender Ansichten.
3. Verfassungslehrer in der Diaspora? Die voran gegangenen Betrachtungen sollten nur als Einführung in eine Reflexion über uns selbst als Juristen der Verfassung dienen, zu der die der Geschichte der Nation gewidmeten Feiern einladen. Kurzum: Verdienen wir tatsächlich den Titel „die Verfassungslehrer“ in dem zuvor bestimmten Sinn, der wohl ja auch diese Vereinigung rechtfertigt, die uns einmal jährlich versammelt? Wir können die Prägnanz dieser Fragestellung erfassen, wenn wir sie spezifi zieren und kontextualisieren, also auf den Moment der Verfassung beziehen, den wir heute erleben. Wir versuchen, die Frage so distanziert wie möglich zu reformulieren, indem wir die folgende Tatsache in den Blick nehmen, ohne sie bewerten zu wollen: Das Leben der Verfassung von 1947 wurde durch einen großen Bruch gezeichnet, der am Ende der siebziger Jahre einsetzte und sich dann nach und nach ausweitete, als der damalige Sekretär der sozialistischen Partei die Losung von der Verfassungsreform als der „großen Reform“ ausgab. Erinnern wir uns. Diese Wendung und ihr Begriff sind ein Bestandteil der Luft geworden, die die Verfassungslehrer atmen. Sogar der damalige Staatspräsident trug dazu bei, die Reform zwar nicht zu verwirklichen, aber doch als die unserer Zeit angemessene Verfassungsideologie zu verbreiten (speziell durch seine Botschaft an die Kammern vom 26. Juni 1991, kurz vor dem Ende seines Mandates). Aber damit nicht genug, auch verschiedene, einzelne Verfassungslehrer waren Protagonisten dieser Wende.4 3 Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975), in Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. Berlin, 1996, S. 155 ff. 4 Vgl. nur G. Amato, in: Il PSI e la riforma delle istituzioni, Venezia, 2010, S. 39 ff.
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In welchem Sinn aber hat man von einer Wende zu sprechen? Bis zum damaligen Zeitpunkt – auch hieran sei erinnert – galt unter uns ein Verbot, nämlich das Verbot die Verfassung in ihrer Gesamtheit oder auch nur in einzelnen Teilen in Frage zu stellen. Wer sich nicht daran hielt, der wurde mit dem Vorwurf zum Schweigen angehalten, er sei einem naiven „Verfassungs-ingenieurwesen“ verfallen. Dieser Vorwurf beruhte auf einer klaren Wertrangordnung, in der die politische Dynamik den institutionellen Formen, nicht aber die institutionellen Formen der politischen Dynamik unterzuordnen waren. Verbreitet war die Furcht, einem geringschätzig so genannten „konjunkturabhängigen Gebrauch der Institutionen“ Vorschub zu leisten. Auch an diese Formel sei erinnert. Sie ist heute wohl auch deshalb außer Übung gekommen, weil sie keine Abgrenzung mehr zu leisten vermag, wenn (fast) alles „konjunkturabhängig“ geworden ist. Nun genau damals wurde in das Haus der Verfassungslehrer etwas geworfen, was sich im Nachhinein als eine Art Brandsatz mit retardierter Zündung erwiesen hat. Die Verfassung wurde zum Gegenstand und gleichzeitig auch zum Mittel eben jenes „konjunkturabhängigen“ Gebrauchs, der bisher als Missbrauch der Verfassung galt. So wurde ausdrücklich gesagt, die Direktwahl der Spitze der Exekutive – der Kern der „großen Reform“ – sollte die Machtverhältnisse zwischen den größten Parteien der Linken, dem Partito Comunista Italiano und dem Partito Socialista Italiano, zugunsten von Letzterem verschieben. So erschien es dann auch 1989 aus rein politischen und nicht verfassungsbezogenen Gründen angezeigt, „mehr auf eine endgültig vernichtende Niederlage des ex-PCI zu setzen, als unserseits (die PSI) die Führung der Linken zu übernehmen.“ Das Thema der Verfassungsreform erhielt später andere Bedeutungen, aber hierin lag der Anfang, l’arché, der wie jeder Anfang die Folgen beeinflussen sollte. Folge war die Diaspora, der Auszug der Verfassungslehrer in alle Gebiete der Politik, hin zu den „Politikkonzepten“. „Die Verfassungslehrer“ als freie Gelehrte der Verfassung, die es als ihre gemeinsame Aufgabe verstehen, mit ihrem Denken die bestehende Verfassung zu bereichern, existieren als solche nicht mehr. Der Teufel – im wortwörtlichen Sinne des diabolischen, Zwietracht säenden Spalters – hat sich unter ihnen eingenistet. Die Zahl der der Verfassungsreform gewidmeten Tagungen, Runden Tische, Kommissionen, Gemeinschaftswerke und Webseiten – glücklicherweise nicht auch die der Vereinigungen – im Verfassungsrecht hat sich unverhältnismäßig vervielfacht. Diese Vervielfachung ist keineswegs ein Zeichen von Vitalität, eher ein Zeichen des Verfalls, unserer Preisgabe der Wissenschaft von der Verfassung. Die Spaltung ist bei uns nicht in die Details, sondern in die Grundlagen eingezogen. Kaum war die Herausforderung angenommen, sich mit der Legitimität der Verfassung oder, weniger dramatisch, mit der Angemessenheit der Verfassung als einer „glaubhaften Erzählung der italienischen Gesellschaft“5 – eine in Mode gekommene Wendung – zu befassen, da wurde alles möglich: die Projekte, die Absichten, die besonderen Ambitionen gewannen die Oberhand und erzeugten nichts anderes als Spaltungen in Form getrennter „Erzählungen“. Jedenfalls haben sie kein neues Verständnis von eben jener „Sache“ hervorgebracht, die wir Verfassung nennen und die 5 Vgl. das Nachwort der Herausgeber in R. Bifulco, A. Celotto, M. Olivetti (Hg.), Commentario alla Costituzione, Torino, 2006, vol. III, S. 2824.
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Gustavo Zagrebelsky
zuvor die Wege der Verfassungslehrer in ihren Studien und in praktischen Tätigkeiten durch die Zielsetzung geeint hatte, ihr zum Leben zu verhelfen. Wir, d. h. nicht jeder Einzelne für sich bzw. pro partibus, sondern wir als eine Gemeinschaft haben aufgehört, die Verfassung als etwas über uns Stehendes zu denken und haben sie stattdessen auf verschiedene Art und Weise und zu verschiedenen Zwecken uns selbst unterworfen.
4. Verfassungsrechtliche Unentschiedenheiten Übertreibung? Schauen wir nur in groben Umrissen auf einige jener Fragen, die man als die „verfassungsrechtlichen Unentschiedenheiten“ unserer Zeit charakterisieren könnte. Sie sind es, die unsere Reden entzweien, so dass einer Meinung immer eine andere, divergierende und zumeist gegensätzliche entgegen gehalten werden kann. Infolgedessen befragen gewöhnlich die großen Meinung machenden oder häufig nur den common sense registrierenden Zeitungen „die Verfassungslehrer“ zu den jeweiligen Streitfragen und registrieren ihre Ideen in zwei Spalten. In die eine Spalte kommt, wer Weiß antwortet, in die andere, wer Schwarz antwortet (und vielleicht in eine dritte Spalte kommt, wer mit Grau antwortet, um nichts Falsches zu sagen, und wer zunächst keine Stellung nimmt, um schließlich der Meinung zu folgen, die an den Schaltstellen der Macht überwiegt). Zu diesen Grundfragen sei nur eine Liste von Beispielen gegeben: (a) Ist die Verfassung, die wir bearbeiten und auslegen, ein allgemeiner und dauerhafter Entwurf des zivilen und politischen Lebens, der sich im großen Strom des neueren Konstitutionalismus hält und von seinen konkreten geschichtlichen Entstehungsbedingungen daher relativ unabhängig ist? Oder ist sie im Gegenteil Ergebnis einer Reihe partikulärer und kontingenter Kompromisse zwischen längst nicht mehr existierenden politischen Kräften aus einer Zeit, die mit der unsrigen wenig oder nichts mehr gemein hat? Gibt es heute noch Zukunftserwartungen, die in die gegenwärtige Verfassung gelegt werden, oder nicht? Und wenn ja, welche? (b) Noch davor stellt sich die Frage nach dem „Stand der Erinnerung“ an den Gründungsmythos der Republik. Wie steht es um jene geistige Kraft, ohne die keine Verfassung von einer Generation zur anderen weitergelten kann, weil sie die Generationen in der Kontinuität einer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung aneinander bindet? Welche Idee haben wir von den Ereignissen, die nach dem Fall des Faschismus über die Fortsetzung des Krieges in unserem Land und über den Widerstand der Resistenza zur verfassungsgebenden Versammlung und zur Verfassung geführt haben? Welche Wirkung hat der Revisionismus der nationalen Geschichtsschreibung unter uns? Hat er etwa die Bedeutung jenes „brennenden Dornbuschs“ eines Giuseppe Dossetti verdrängt, der einst die Väter der Verfassung bewegte und an den Umberto Allegretti in seinem Referat6 zur Eröffnung dieser Tagung der Verfassungslehrer erinnert hat?
6 U. Allegretti, Gli apparati organizzativi e la democrazia (2011), www.associazionedeicostituziona listi.it
Die Verfassungslehrer
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(c) Ist die Verfassung eine Urkunde, die einen Bruch in unserer Verfassungserfahrung bedeutet, oder steht sie ideologisch nur in einer Kontinuität, ohne einer der Vergangenheit gegenüber authentisch regenerierenden Kraft Ausdruck zu verleihen und ohne eine neue Verfassungsepoche zu eröffnen? M.a.W.: Wie sollen wir den Wert der Verfassung im gesamten Zeitrahmen der Erfahrungen unserer nationalen Einheit und im Verlaufe ihrer verschiedenen Entwicklungsphasen bis hin zu jener einschätzen, die der Republik unmittelbar voraus ging? (d) Stellt in dieser zweiten Linie der Pluralismus der Parteien gegenüber der Einparteienherrschaft des Faschismus eine Neukonzeption des politischen Lebens für die Demokratie dar oder nur die Fortsetzung einer Besitzergreifung der Institutionen durch Parteienherrschaft? Hat den Platz der einen Partei eine Mehrzahl von Parteien eingenommen, ohne dass sich etwas in der Sache geändert hat? (e) Ist das auf den politischen Parteien errichtete parlamentarische Regierungssystem Ausdruck einer heute noch gültigen Idee partizipativer und deliberativer Politik, die an die verhältnismäßige Repräsentation anknüpft, oder ist die Idee der Zukunft die auf einen bipolaren Wettbewerb gegründete sog. „entscheidende Demokratie“, die sich an die mehrheitliche Repräsentation und an Mehrheitsprämien im Wahlsystem bindet? Hat die Demokratie, die wir im Sinn haben, die Form des Kelsenschen Kompromiss oder eines sich durchsetzenden politischen Führers? (f ) Mit dieser Alternative verknüpft sich auch die Antwort auf die Frage nach dem Fortbestand der „verfassungsrechtlichen Unterscheidung“, der Differenz zwischen Sein und Sollen in der Verfassungsmaterie. Kann eine vollendete Tatsache von uns als normative Tatsache anerkannt werden, die es zulässt, alle möglichen Folgerungen abzuleiten? M.a.W.: Ist die Verfassung im normativen Sinn immer noch dieselbe oder hat sie sich in ihrer Substanz gewandelt, auch ohne ihre Form geändert zu haben? Lassen sich die Änderungen der Formel des Wahlsystems noch als dem Schema der parlamentarischen Demokratie immanent verstehen oder müssen wir sie als Elemente eines neuen Demokratiemodells anerkennen, das nicht mehr der von den Verfassungsvätern gewollten Demokratie entspricht? (g) Ist die Verfassung ein Gesellschaftsprojekt oder doch wenigstens die Spur eines Pfades, den die Idee einer möglichen und erstrebenswerten Gesellschaft führt (so die abgemilderte These von Massimo Luciani in seinem Beitrag zur Tagung der Verfassungslehrer7)? Oder ist sie nur eine Verbriefung von Individualrechten als Waffen und Rüstungen für einen Wettbewerb ohne Gemeinwohlzwecke, in dem der Erfolg nur mit der Durchsetzung der Interessen der Stärkeren identifi ziert wird? (h) Diese Alternative ist entscheidend auch für das Freiheitsverständnis, das Verständnis der letzten Grundlage der Verfassung selbst. Freiheit oder Befreiung? Von der Beantwortung dieser Frage hängt der effektive Wert, die Verstärkung oder Dämpfung der Wirkungskraft zentraler Bestimmungen der Verfassung ab, von Art. 18, in dem einige die Arbeit als Grundlage der Republik durch die Wettbewerbsfreiheit ersetzen möchten, über die Gleichheit in Art. 3, speziell in seinem
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M. Luciani, Costituzione, Stato, Economia, www.associazionedeicostituzionalisti.it. „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik.“
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zweiten Absatz,9 und Art. 410, der Arbeit als Recht und nicht als bloßem Ergebnis wirtschaftlicher Tatsachen, bis hin zur Garantie der Steuerprogression in Art. 53, ja generell zu allen Grundsatznormen der Verfassung, die soziale Rechte betreffen. (i) Zum letzten Punkt wurde jüngst erneut die Frage nach der normativen Geltung und unmittelbaren Anwendbarkeit dieser Grundsatznormen auf konkrete soziale Beziehungen aufgeworfen, eine Frage, die längst begraben und der Verfassungsarchäologie überlassen schien. Die Theorie der nicht unmittelbar rechtwirksamen, nur „programmatischen Normen“ wurde wieder ausgegraben. Auf ihrer Grundlage wurde von den Kammern des Parlaments ein Verfassungsstreitverfahren gegen den Kassationsgerichtshof in einem Fall angestrengt, der den Namen von Eluana Englaro trägt.11 Waren sich die Verfassungslehrer in dieser dramatischen Angelegenheit wirklich einig in der Beurteilung der Wirksamkeit der Grundsatznormen der Verfassung? (j) Dieses Verfahren hat auch Licht auf eine weitere Divergenz unter uns geworfen, die die Rolle der Rechtsprechung in ihrem Verhältnis zur Politik und zur Gesetzgebung betrifft. Handelte es sich in diesem Fall um eine pathologische Überschreitung der Schranken dieser Gewalt oder um die unvermeidbare und daher physiologische Übernahme einer Rolle, die im Verfassungsstaat allen Gerichten zukommt, wenn sie „Recht sprechen“? (k) Auf der obersten Stufe der Skala der Unentschiedenheiten stehen sogar Zweifel, die die Natur des Rechts betreffen. Ist Recht nur das Gesetz, d. h. die in (auch Verfassungs-)Gesetzesform gekleidete Rechtsmacht, oder ist Recht eine Synthese aus dem Gesetz und etwas, das nicht Gesetz in diesem Sinne ist? Es ist die Frage nach der doppelten Seele des Rechts, die Art. 20 Absatz 3 der deutschen Verfassung und Art. 103 der spanischen Verfassung andeuten, nach denen die öffentlichen (verwaltenden und rechtsprechenden) Gewalten „Gesetz und Recht“ unterworfen sind. Bei uns fi nden wir keine vergleichbare Spur der Frage im Verfassungstext, aber sie reicht insofern auch über die jeweiligen Textformeln hinaus, als sie sich aus der Eigenart des Verfassungsstaates selbst oder doch aus unseren Anschauungen hiervon ergibt. (l) Ganz oben auf der Skala unserer Unentschiedenheiten steht zuletzt die Annahme oder Ablehnung jener (Denk-)Richtung der Verfassungslehre, für die der Name des „Neokonstitutionalismus“ geläufig ist. Ihm widersetzt sich als methodologische Grundhaltung ein fortdauernder Verfassungspositivismus (abgemildert und versüßt in der auf Alessandro Pace zurückgehenden Formel des „(wohl) temperierten Positivismus“)12. Diese Frage impliziert viele weitere Probleme, speziell zum Verfassungsbegriff, und kann hier deshalb nur angerissen werden. Wenn es ein Auseinandergehen in diesen Punkten gibt, dann ist der Blick auf sie zu schärfen und müssen sie hervorgehoben werden, allerdings nicht um lediglich die 9
„Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich beschränken und so die volle Entwicklung der Person und die wirksame Teilnahme aller arbeitenden Menschen an der politischen , wirtschaftlichen und sozialen Organisation des Landes hindern.“ 10 „Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Bedingungen, durch die dieses Recht verwirklicht warden kann.“ 11 Corte costituzionale, Urteil Nr. 334/2008, Europäische Grundrechte Zeitschrift 2009, 198 ff., 234 ff. (Rechtsmässige Einstellung der künstlichen Ernährung einer Komapatientin). 12 A. Pace, Metodi interpretativi e costituzionalismo, in Quaderni costituzionali, 1/2001, S 60.
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Grundlinien eines Konfl ikts zu markieren. Es geht darum aufzuzeigen, wie tief und wie weit das Bedürfnis geht, dem Beruf der Verfassungsrechtswissenschaft entsprechend ihn beizulegen bzw. sich und die Dinge wieder zusammen zu setzen (ricomposizione).
5. Zwei Daseinsformen Handelte es sich bisher gewissermaßen um die Diaspora der Ideen der Verfassungslehre, so ist nun auf eine andere, sozusagen „berufl iche“ Zerstreuung einzugehen, die von dieser ideellen Diaspora ermöglicht, legitimiert bzw. gefördert wird. Zur Orientierung können wir auf eine Unterscheidung zurückgreifen, die die gesellschaftliche Stellung der geistigen Berufe betrifft und auf Antonio Gramsci zurückgeht. In seiner tiefgehenden Überlegung zur sozialen Rolle der „Intellektuellen“ hat Gramsci zwei Formen ihres Daseins in der Fremdansicht und in der Selbstwahrnehmung unterschieden. Die Intellektuellen sind entweder eine autonome und unabhängige Gruppe der Gesellschaft oder eine spezialisierte Gruppe der Gesellschaft, die sich gewissermassen eine „Ergänzung“ der Machthaber in der Wirtschaft und in der Politik bildet.13 M. a. W. und brutaler gefragt: Leben die Intellektuellen ihren eigenen Beruf und fi nden sie in ihm den Grund ihrer eigenen Existenz oder leben sie nur wie Parasiten, die nicht unbedingt nutzlos sind, aber anderen gesellschaftlichen Gruppen nutzen, mit denen sie Schulter an Schulter arbeiten und denen sie ideologische Dienste erweisen, indem sie ihren materiellen Interessen eine geistige Form geben? Sind sie eine eigene Einrichtung oder, wenn man so will, eine Ausstattung der Macht? Diese Alternative ist eng verbunden mit der von Mario Dogliani zu Beginn der Tagung aufgeworfenen Frage nach der „Aufgabe“ dessen, der einen geistigen Beruf ausübt. Gramsci hatte seiner Unterscheidung klug hinzugefügt, das Problem sei vielschichtig aufgrund der verschiedenen Formen, in denen sich die verschiedenen Kategorien von Intellektuellen und ihre Beziehungen zu anderen Gruppen und zu den Inhabern anderer sozialer Gewalten im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Ich würde meinerseits anmerken, dass generalisierte und klare Zuordnungen schwieriger geworden sind durch das Fliessen und Durchdrungensein der intellektuellen Welt, die keine Entsprechung in anderen Bereichen menschlicher Tätigkeiten findet. Wir können zwei Extreme defi nieren: Einerseits geht es um die Herstellung von Ideen, die nur das Denken als Herrscher und als vorrangiges Ziel anerkennen, und andererseits um die Herstellung von Ideen, die andere Herrscher und das Handeln als vorrangiges Ziel anerkennen. Zwischen diesen beiden Polen, der unergiebigen freien intellektuellen Belanglosigkeit und der das freie Denken korrumpierenden Unterwürfigkeit, existieren viele Zwischenlagen. Extrem gewendet kann man sagen: wenn wir frei sind, sind wir überflüssig, wenn wir nützlich sind, sind wir nicht frei. Diese Tendenzen haben aus verschiedenen, ja entgegen gesetzten Gründen die Unfähigkeit der Intellektuellen als solcher gemein, eine konstruktive gesellschaftliche Funktion auszuüben. Sie verurteilen sie zur Bedeutungslosigkeit und geben sie letztlich auch 13
A. Gramsci, Pensare la democrazia. Antologia dai „Quaderni dal carcere“, Torino, 1997, S. 307 ff.
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der Verachtung preis. In ihrer Gesamtheit werden diejenigen, die sich intellektuellen Tätigkeiten widmen, zerrieben und unergiebig. Was nun uns als Verfassungslehrer betrifft, ist es an der Zeit, über die Gefahren nachzudenken, die wir gerade durch die Zerstreuung der geistigen Grundlagen unseres Berufs laufen. Unser Wirken läuft Gefahr, in tausend Rinnsale zu zerfl ießen. Die Zerstreuung ergibt sich aus der Unfähigkeit, die Grundanliegen unserer geistigen Bemühungen zu bestimmen und hierauf unsere Kräfte zu richten. Deshalb übersetzen sich die Freiheit und Unabhängigkeit, die wir zu Recht als Vorrecht beanspruchen, nicht in die Qualität der Funktion einer Gemeinschaft, die sich einer gemeinsamen Aufgabe bewusst ist, sondern eher in einen kaum zu rechtfertigenden Anspruch auf einen „Status“. So kommt es auch leicht zur Ironie über den Dünkel der Intellektuellen, über ihre leere Aufgeblasenheit und schließlich über ihre Nutzlosigkeit, über ihr Parasitenelend: alles konzentriert in dem jüngst wieder aufgetauchten Wort vom „Kulturabfall“ („culturame“). In dieser Situation der Zerstreuung flüchten sich manche in die reine Spekulation als Selbstzweck, eine Flucht aus der Wirklichkeit. Manche versuchen sich irgendwie mit den Machthabern der Wirtschaft und Politik zu arrangieren, um „Ratgeber“ zu werden. M.a.W.: Es besteht die Gefahr, dass der „Ratgeber“ den „Intellektuellen“ ersetzt. Unsere Welt wird immer reicher an Beratern und immer ärmer an Intellektuellen. Man kann sogar lachen darüber, stellt man sich den „Ratgeber“ nur einmal als die heutige Version von Gramsci’s „intellettuale organico“ vor. Dieser verbündete sich mit den großen geschichtlichen Wirkkräften der Gesellschaft, um die „Hegemonie“ zu erringen und einer gewiss zweideutigen, aber unzweifelhaft grandiosen Aufgabe zu widmen. Die „Ratgeber“ dagegen verschwinden im unerschöpfl ichen Wald der Ministerien, Anstalten, Institute, Stiftungen, Betriebe usf. und binden sich an die kleinen oder großen Machthaber, bieten ihnen intellektuelle Dienste und erhalten im Gegenzug Schutz, Gefälligkeiten, Bezüge. Sie kennen sich untereinander „persönlich“, sind sich aber ihrer „Funktion“ nicht bewusst. In ihrer Gesamtheit erfüllen die Ratgeber keineswegs die ihnen von der Gesellschaft zugedachte intellektuelle Funktion und sind gerade dann gelähmt, wenn sie einmal nicht als bedeutungslose Einzelne, sondern in ihrer Gesamtheit als Träger einer Wissenschaft eine Stellung zu nehmen gefordert sind, der ein besonderes Gewicht zukommen sollte.
6. Versuchungen Man wird einwenden: Was ist daran schlecht, wenn derjenige, der befiehlt, durch jemanden informiert und erleuchtet wird, der die Dinge kennt, von denen er redet? Daran ist gewiss nichts Schlechtes, solange der Ratgeber nicht gewissermaßen in das „Organigramm“ des jeweiligen Machthabers eintritt. Diese Grenze leuchtet theoretisch ein, bleibt freilich praktisch vage. In einem Fall behält man die Freiheit, im anderen verliert man sie, gewiss freiwillig, aber nicht folgenlos. Es gibt so etwas wie die Erwartung oder die Hoffnung etwas zu erreichen und deshalb nimmt man Einladungen an. An dieser Tagung darf man nicht fehlen, denn wenn man fehlt, sieht es so aus, als ob man „nicht dazu steht“. So verliert man seine Zeit und vergeudet sein Leben in pseudo-kulturellen Veranstaltungen, denn „man weiß ja nie“, irgendeine
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Wohltat wird man früher oder später bekommen. Die von jemandem zu verteilenden Positionen sind so viele, da ist vielleicht auch ein Platz für unsereins. Aber dafür muss man sich sehen lassen, verfügbar sein und hofieren. Der Tiefpunkt ist erreicht, wenn der Intellektuelle sein Gehirn, seine Intelligenz, sein Wort einem Machtmenschen leiht, der ihn dafür bezahlt, Reden, Zeitungsartikel und Interviews zu schreiben. Daraus ist sogar ein intellektueller Beruf, der Ghostwriter geworden. Es erscheint uns normal, wenn den höchsten Respekt verdient, wer Reden schreibt, die andere dann als eigene halten und – wie im viel zitierten Fall von Arthur Schlesinger jr. für Adlai Stevenson und die Brüder Kennedy sogar auf höchstem Niveau – an einem klaren literarischen Plagiat teilnimmt. Und normal ist es auch, wenn er sich dann in dieser Rolle gefällt und selbst lobt: Ich bin in Tizio und Caio eingegangen und habe aus ihrem Mund meine Worte hervorgehen lassen! Die eigenen Worte erhalten so eine Macht, die sich niemand hätte träumen lassen. So glaubt man, seinen intellektuellen Beruf am besten auszufüllen, in dem man auf die Schultern des Machthabers steigt. Noam Chomsky hat einige Bemerkungen zu den öffentlichen Auftritten von Schauspieler-Politikern gemacht, nützliche Gebrauchshinweise für jeden, der ihren Worten lauscht: „Wenn man im Fernsehen von einem „Teleprompter“ liest, macht man eine eigenartige Erfahrung. Es ist so, als ob die Worte in die Augen eintreten und aus dem Mund wieder austreten, ohne durch das Gehirn zu gehen. Und wenn es Reagan macht, müssen die Fernsehtechniker zwei oder drei „Teleprompter“ besorgen, damit sein Gesicht sich nach verschiedenen Seiten wendet und das Publikum meint, er schaue ins Publikum, während er in Wirklichkeit nur von einem Teleprompter zum nächsten schaut. Nun ja, wenn es Euch gelingt, das Publikum dazu zu bringen, so jemanden zu wählen, habt ihr das Spiel gewonnen und es von jeder politischen Entscheidung ausgeschlossen. Und man muss so tun, als ob niemand lacht. Wenn es Euch gelingt, habt ihr einen weiten Schritt zur politischen Entmündigung des Volkes getan.“14 Dieses Verhalten bzw. diese Art von Diensten verstoßen nicht nur gegen die Deontologie unseres Berufs, sondern richten sich auch gegen die Demokratie. Es ist letztlich ein Dienen von der Art der Servilität, wie sie besonders in autokratischen Herrschaftsformen üblich ist. Wenn die Machthaber in einer Demokratie nichts zu sagen haben, was ihrem eigenen Verstand entspringt, ist es besser, dass sie schweigen. Und wenn sie durch Schweigen keine politische Karriere machen, dann ist es eben besser, dass sie keine machen. Wenn ihr Verstand nur Dummheiten gebiert, ist es gut, dass die Bürger sie als das sehen, was sie sind. Wer dagegen das Kulturdefizit der Politiker durch nicht desinteressierte „Ratschläge“ verdeckt, trägt dazu bei, die Politik zu entleeren. Er liefert nur mit Worten, Ideen und Bildern eine Rückendeckung der Ausübung, Eroberung, Ausweitung und Bewahrung der reinen Macht, einer Macht um der Macht willen.
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E. Herman / N. Chomsky, Manufactoring Consent, New York 1998.
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7. Einige Folgerungen Die bisher gemachten Ausführungen enthalten implizit Indikationen für unser „Seinsollen“, d. h. wie wir als Verfassungslehrer sein sollen. Das hat natürlich einen etwas unangenehmen Beigeschmack. In solchen Fällen sagt man daher gewöhnlich, man wolle niemandem Ratschläge erteilen, was offenbar heißen soll, dass man sie aber doch gibt. Die Berechtigung, auf diesem Weg weiterzugehen, folgt aus der Tatsache, dass wir uns auch persönlich und direkt betroffen fühlen. Zunächst einmal gilt es, die eigene Existenz nicht ständig mit sich umher zu tragen („portare in giro“). Der Ausdruck stammt vom Verfasser von Ithaca, Konstantinos Kavafi s, in „Was an dir liegt“ (Per quanto sta in te)15: „Wenn du nicht das Leben haben kannst, dass du dir wünschst (. . .) so vergeude es doch (wenigstens) nicht damit, es mit dir umher zu tragen und dem alltäglichen törichten Spiel der Begegnungen und Einladungen preiszugeben, bis es zu einem Ekel erregenden Fremdkörper wird.“
Es „nicht mit sich umher zu tragen“ bedeutet, dass wir uns darauf konzentrieren sollen, was wir für Wesentlich halten. Die Aufgabe der Berater der Machthaber verlangt dagegen, überall dorthin auszuschweifen, wo uns die Interessen des Beratenen hinziehen. Wenn einem jegliches Zentrum abhanden gekommen scheint, bedeutet dieses Ausschweifen, die eigene Existenz zu zerstreuen. Aber wer ist dieser Intellektuelle, der seine eigene Existenz „mit sich umher trägt“? Er ist der Mensch, von dem man sagt, er sei „für jede Saison gut“. Wesentliche Bedingung der Integrität, der Glaubhaftigkeit und letztlich auch der Wirksamkeit hinsichtlich der eigenen Aufgabe ist jene Kohärenz des intellektuellen Strebens und seiner Wege, die normalerweise „intellektuelle Redlichkeit“ genannt wird. Sie ist heute besonders gefordert, da das breite Publikum der Nicht-Spezialisten dazu zwingt, die schwierigen Probleme den Spezialisten anzuvertrauen, die ihr Leben Studien gewidmet haben, die sich nicht jedermann leisten kann. Wem darf man nun vertrauen? Kann man jemandem vertrauen, der gestern das Gegenteil davon vertreten hat, was er heute mit demselben Anspruch, Ernst genommen zu werden, vertritt? Auf die Wichtigkeit dieses Vertrauensverhältnisses ist besonders Bedacht zu nehmen, weil der Vertrauensbruchs zu Lasten der gesamten Kategorie gehen kann, die gewissermaßen im Wege der Gruppenverantwortung von der negativen Beurteilung einzelner mit erfasst werden kann. Das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber der Welt der Intellektuellen in unserem Land hat im Gesinnungswandel und im Wankelmut einen besonderen Grund. Wenn nun der „Lautsprecher“ der Intellektuellen nicht die Stimme der Machthaber sein kann, wo sollen sie dann Verstärkung für ihre eigene Stimme suchen? Die Antwort ergibt sich aus der Demokratie. Im Grunde genommen ist die nicht selten gemachte Annahme einer Allianz von Verstand und Macht nicht nur eine Illusion. Sie verrät auch den undemokratischen Hintergedanken, die Erzeugnisse des Verstandes seien in der Gesellschaft von oben nach unten zu verbreiten und die große Masse der Bürger solle passiv bleiben, da sie nicht in der Lage seien, aktiv an ihrer intellek15
C. Kavafi s, Settantacinque poesie, Torino, 1992, S. 59.
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tuellen Gestaltung teilzunehmen. In einer demokratischen Gesellschaft ist einem Träger intellektueller Funktionen nur eine einzige Allianz möglich, das Bündnis mit der Allgemeinheit der Bürger, zu der er Kommunikationskanäle zu öffnen hat. Es geht nicht darum, Fernsehstar oder Volksagitator zu werden. Hierzu bleibt stets die Mahnung Max Webers zu befolgen, das Lehramt gehöre weder den Propheten, noch den Demagogen. Es geht vielmehr nur darum, zur Bildung der öffentliche Meinung beizutragen, indem man die strenge Disziplin der Studien bewahrt, ohne auf Kommunikationsmittel zu verzichten, die auch Millionen von Bürgern erreichen. Und indem man ihren Gebrauch zu erlernen versucht, um Kultur, Denkvermögen und die Lust an Ideen zu fördern. Das ist nicht einfach. Man muss dazu die richtige Sprache finden. Die „republikanische Leidenschaft“, von der Umberto Allegretti am Ende seines Vortrags sprach, geht auch diese weniger aristokratischen Wege, denen man sich (leider?) zu fügen hat.
Bedeutung und Funktion von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit im demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland* von
Privatdozent Dr. Norman Weiß**, Universität Potsdam Heute wird selbstverständlich von einer aktiven Zivilgesellschaft als relevanter Akteurin des politischen Prozesses ausgegangen. Dies gilt für den innerstaatlichen Rahmen ebenso wie für die völkerrechtliche Ebene. Das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure im verfassungsrechtlich eingehegten Rahmen des politischen Prozesses ist mit Fragen verbunden, denen sich dieser Aufsatz nähern wird. Zunächst wird der Begriff der Zivilgesellschaft hergeleitet (I) und danach wird auf die Funktionen der Öffentlichkeit in einem rechtsstaatlich verfaßten republikanischen Gemeinwesen eingegangen (II), bevor zum Schluß aktuelle Themen, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben, vorgestellt und als erste Forschungsfragen formuliert werden (III).
* Die Beschäftigung mit dem Thema geht zurück auf meinen Beitrag: Zur Rolle der Zivilgesellschaft für den Schutz der Menschenrechte, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.) Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. 15 Jahre nach der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien, 2008, S. 232–257. Der vorliegende Text ergänzt die seinerzeit präsentierten Überlegungen im Grundsätzlichen. Ich danke Claudia Mahler, Christoph Menke und Justus J. Vasel für kritische Anmerkungen in unterschiedlichen Stadien der Texterstellung. Lutz Römer hat mich bei der Literaturbeschaffung unermüdlich unterstützt. Die Literaturangaben sind nachstehend aus Raumgründen kurz gehalten; Zitate wurden auf das Notwendigste beschränkt. ** Dr. iur. habil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam, Privatdozent an der dortigen Juristischen Fakultät.
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I. Der Begriff der Zivilgesellschaft 1. Rasche Karriere eines Begriffs „ohne Herkunft“ oder doch ein Modebegriff mit einer ungewöhnlich langen Karriere? 1 Das „Deutsche Universalwörterbuch“2 aus dem Jahre 1989 verzeichnet die Zivilgesellschaft nicht.3 Dieser Befund wiederholt sich mehrfach.4 In der deutschsprachigen politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur hat die Zivilgesellschaft etwa seit 1989/1990 Konjunktur.5 Es handelt sich in diesem Zusammenhang beim Begriff der Zivilgesellschaft um einen Rückimport aus dem Englischen – „civil society“. Dieser, inhaltlich im Lauf der Zeit durchaus gewandelte Begriff steht zunächst für das, was von Aristoteles „koinonia politiké“ und im Lateinischen „societas civilis“ genannt worden war. Von hier ausgehend haben die europäischen Sprachen die entsprechenden Übernahmen entwickelt: Eben „civil society“, „société civile“, „società civile“ und im Deutschen – etwa bei Immanuel Kant,6 Friedrich Hegel,7 Karl Marx,8 Jürgen Habermas9 oder
1 Die zweite Variante lehnt sich an an Klaus von Beyme, Zivilgesellschaft – Karriere und Leistung eines Modebegriffs, in: Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, Begriff, Geschichte, Chancen, 2000, S. 41–55. 2 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2. Aufl. 1989, dies gilt auch für die 3. Aufl. 1996. Hingegen ist der Begriff in: Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, 3. Aufl. 1999, Bd. 10: Vide-Zz, verzeichnet. 3 Zur Bedeutung von Lexika und Wörterbüchern als historischen Quellen für die Begriffsgeschichte vgl. Reinhart Koselleck/Ulrike Spree/Willibald Steinmetz, Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich, in: Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, 2006, S. 402–461 (S. 414). 4 So kennt Meyers Großes Universallexikon in 15 Bänden (ab 1980 erschienen) den Begriff „Zivilgesellschaft“ nicht. Signifi kant die Befunde in der Brockhaus Enzyklopädie: Noch die 19. Aufl age (ab 1986) enthält im 24. Band (Weli-Zz, 1994) kein Stichwort „Zivilgesellschaft“. Bereits die 20. Aufl age (ab 1996) verzeichnet in ihrem Band 24 (Wek-Zz, 1999) einen etwas mehr als einspaltigen Eintrag (S. 605 f.) für „Zivilgesellschaft“. Die 2006 erschienene 21. Aufl age behandelt „Zivilgesellschaft“ in ihrem Band 30 (2006, S. 646 ff.) als Schlüsselbegriff, dem sieben Spalten gewidmet werden. 5 Vgl. nur Klaus Naumann, Mythos „Zivilgesellschaft“, Literaturübersicht zu einer unübersichtlichen Kontroverse, in: Vorgänge 1991/6, S. 57–68; Herfried Münkler, Wieviel Tugend braucht die Demokratie? Voraussetzungen der Zivilgesellschaft, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 38 (1991), S. 612– 617; Klaus M. Schmals/Hubert Heinelt (Hrsg.), Zivile Gesellschaft, Entwicklung, Defi zite, Potentiale, 1997; Frank Adloff, Zivilgesellschaft, Theorie und politische Praxis, 2005. 6 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Anhang: § 83 Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems, 2. Aufl. 1793, in: Werke in zwölf Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, 1977, Bd. 10, S. 391. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), (nach der Ausgabe von Eduard Gans, hrsg. von Hermann Klenner) 1981, §§ 33, 182 ff., 258 und passim. 8 Karl Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, Die Judenfrage Nr. III, 1845, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 1956 ff., Bd. 2, S. 119 ff. 9 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Aufl. 1990 (erschien zuerst 1962).
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Ernst-Otto Czempiel10 – „bürgerliche Gesellschaft“ (civis = Bürger). Der hieran orientierte Begriff der „Bürgergesellschaft“ ist in der jüngeren Diskussion vereinzelt geblieben.11 Dasjenige, was mit wechselnden Bezeichnungen unter Zivilgesellschaft zu verstehen sei, ist jedenfalls „ein Konzept mit langer historischer Tradition“.12 Eine neue Bedeutung der „Civil Society“, die dann zur Zivilgesellschaft im heutigen Sinne wird, zeichnet sich seit Ende der 1980er Jahre ab.13 Die deutsche Begriffsbildung14 spiegelt auch antibürgerliche und antimilitärische15 Reflexe ihrer Theoretiker, Träger- und Resonanzgruppen. Einerseits arbeitet sich der Begriff Zivilgesellschaft an der bürgerlichen Gesellschaft und der preußisch-deutschen Geschichte ab, ist also ein „rückblickender Begriff “, andererseits erscheint er als „vorausschauender Begriff “, als einer jener „Vorgriffe, die eine neue oder andere Zukunft herauf beschwören“.16 Zu diesen Neuerungen gehört nicht zuletzt eine Entlastung des an die Grenzen seiner Steuerungsfähigkeit stoßenden Staates.17 Der Wortstamm mag auch 10
Ernst-Otto Czempiel, Das amerikanische Sicherheitssystem 1945–1949, Studie zur Außenpolitik der bürgerlichen Gesellschaft, 1966. 11 So betrachtete Bert van den Brink, Die politisch-philosophische Debatte über die demokratische Bürgergesellschaft, in: ders./Willem van Reijen (Hrsg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, 1995, S. 7–26 (Anm. 3, S. 24) den Begriff Bürgergesellschaft „als geeignetste Übersetzung von ‚civil society‘“. Ebenso Chris Hann, Zivilgesellschaft oder Citizenship? Skeptische Überlegung eines Ethnologen, in: Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, Begriff, Geschichte, Chancen, 2000, S. 85–109 (S. 88 f.). Hingegen versteht Gerd Hepp, Wertewandel und Bürgergesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52–53/1996 vom 20. Dezember 1996, S. 3–12, Bürgergesellschaft als „pragmatisches Reformprojekt“, als „eine Revitalisierung und Erweiterung des Bürgerdialogs“ (S. 8). Vgl. auch Helmut Klages, Von der Zuschauerdemokratie zur Bürgergesellschaft?, in: Hermann Hill (Hrsg.), Bürgerbeteiligung, Analysen und Praxisbeispiele, 2010, S. 11–21. 12 So zutreffend Dieter Gosewinkel/Dieter Rucht, „History meets sociology“: Zivilgesellschaft als Prozess, in: Dieter Gosewinkel u. a. (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und transnational (WZB-Jahrbuch 2003), 2004, S. 29–60 (S. 31). Der Beitrag analysiert die jüngeren historischen Arbeiten zum Thema und stellt die vielfältigen Aspekte des Wandels dar, den das Konzept im Lauf der Zeit erfahren hat. 13 Für die Begriffsentwicklung im angelsächsischen Sprachraum vgl. etwa: John Keane (Hrsg.), Civil Society and the State: New European Perspectives, 1988. Zur Bedeutung in den Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks vgl. infra Fn. 65. 14 Für eine Begriffsgeschichte dieses „sehr alten“ Begriffs vgl. Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier/ders./Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, Begriff, Geschichte, Chancen, 2000, S. 13–39. 15 Dabei soll nicht verkannt werden, dass bereits John Locke, The Second Treatise on Government, An Essay concerning the True Original, Extent, and End of Civil Government, in: ders., Two Treatises on Government, 1690, und Charles Louis de Secondat de Montesquieu, De l’Esprit des Loix ou du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les moeurs, le climat, la religion, le commerce, &c, 1748, von einer friedlich und gewaltfrei wirkenden bürgerlichen Gesellschaft ausgehen. Zu Recht macht aber Jörg Leonhard, Zivilität und Gewalt: Zivilgesellschaft, Bellizismus und Nation, in: Dieter Gosewinkel/Sven Reichardt (Hrsg.), Ambivalenzen der Zivilgesellschaft, Gegenbegriffe, Gewalt und Macht (WZB Discussion Papers, Nr. SP IV 2004–501), 2004, S. 26–41, auf das Legitimations- und Identifi kationspotential des Kriegführens im Nationalstaat vor 1914 aufmerksam. Erst nach 1945 habe sich ein wirklicher Gegensatz von Zivilgesellschaft und Bellizismus herausgebildet (S. 39 ff.). 16 Reinhart Koselleck, Stichwort: Begriffsgeschichte, in: ders., Begriffsgeschichten, Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, 2006, S. 99–102 (S. 100). 17 Für diese vielfach geteilte Diagnose vgl. Ireneusz Pawel Karolewski, Civil Society and its Discontents, in: Jochen Franzke (Hrsg.), Making Civil Society Work, 2006, S. 7–25 (S. 9 f.). Mit Blick auf die internationale Verflechtung hierzu beispielsweise: Markus Kotzur, Souveränitätsperspektiven – ent-
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als eine deutliche Absage an jene unselige Unterscheidung18 zwischen (deutscher) Kultur und (westlicher) Zivilisation verstanden werden, die im sogenannten Augusterlebnis des Jahres 1914 kulminierte19. Wenn also die Begriffsgeschichte keine eindeutigen Schlußfolgerungen zuläßt, mag ein Blick auf den dogmengeschichtlichen Hintergrund20 und Kontext der „Zivilgesellschaft“ weiterhelfen. Grob vereinfachend lassen sich zwei Begriffsstränge unterscheiden: Zunächst die republikanische Begriffsverwendung der bürgerlichen Gesellschaft in aristotelischer Tradition, die einen Bürgerhumanismus impliziert; 21 sodann der Ansatz des Liberalismus,22 der die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft betont und die letztere entpolitisiert. In Hegels Rechtsphilosophie (1821) werden republikanische und liberale Theorietradition miteinander verbunden.23 Mit dem Modell der Korporationen entwickelt Hegel ein Konzept der politisch integrierenden, intermediären freiwilligen Zusammenschlüsse von Menschen.24 Er versucht, „die liberale Konzeption negativer Freiheit mit der republikanischen Tradition der politischen Gesellschaft unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zusammenzuführen“.25 Bedacht werden muss allerdings, dass nach Hegel in der bürgerlichen Gesellschaft „das Interesse der Einzelnen als solcher de[n] letzte[n] Zweck, zu welchem sie vereinigt sind“, darstellt, wohingegen für den Staat gilt: „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist ein allgemeines Leben zu führen.“26 wicklungsgeschichtlich, verfassungsstaatlich, staatenübergreifend betrachtet, in: JöR N. F. 52 (2004), S. 197–218; Helge Rossen-Stadtfeld, Demokratische Staatlichkeit in Europa: ein verblassendes Bild, in: JöR N. F. 53 (2005), S. 45–77. Zur Gegenposition siehe infra Fn. 273. 18 Prominent bei Thomas Mann, Gedanken im Kriege (1914), in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, 1974, Bd. XIII, S. 527–545, und ders., Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Gesammelte Werke in zwölf Bänden, 1960, Bd. XII, S. 9–589. Vgl. zu diesem Phänomen die breit angelegte Untersuchung von Barbara Beßlich, Wege in den „Kulturkrieg“, Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, 2000. Siehe auch Klaus Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, 1975. Dort, S. 47–49, den „Aufruf an die Kulturwelt“, in dem die später so genannten „Ideen von 1914“ formuliert wurden. 19 Intensive Darstellung bei Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht, Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, 1997, S. 494 ff. siehe auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, 1992, S. 778 f. 20 Ausführlich Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft, Politische Kontexte und demokratietheoretische Bezüge der neueren Begriffsverwendung (Bürgerschaftliches Engagement und NonprofitSektor, Bd. 4), 2001, S. 270–309. 21 Vgl. die Nachweise bei Herfried Münkler, Die Idee der Tugend, Ein politischer Leitbegriff im vorrevolutionären Europa, in: Archiv für Kulturgeschichte 1991, S. 379–403; ders. Zivilgesellschaft und Bürgertugend, Bedürfen demokratisch verfaßte Gemeinwesen einer sozio-moralischen Fundierung? (Öffentliche Vorlesungen, Heft 23), 1994. 22 Wichtig ist hier Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, 1767, der von der schottischen Moralphilosophie, von den Schöpfern der US-amerikanischen Verfassung und von Alexandre de Toqueville rezipiert wurde. Zu Parallelen und Unterschieden vgl. Leonard Krieger, Europäischer und amerikanischer Liberalismus, in: Lother Gall (Hrsg.), Liberalismus, 1976, S. 147–161. 23 Einzelheiten bei Rolf-Peter Horstmann, Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Klassiker Auslegen, Bd. 9), 1997, S. 193–216. 24 Hegel (Fn. 7), § 250 ff. 25 Klein (Fn. 20), S. 295. 26 Beide Zitate Hegel (Fn. 7), § 258.
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Diese Überlegungen bilden den Abschluß einer Entwicklung von der societas civilis cum imperio hin zur societa civilis sine imperio: Anders als in der alten Zeit ist Herrschaft nunmehr allein in der monarchischen Staatsgewalt konzentriert und einem „nivellierten Untertanenverband“27 gegenübergestellt, was dazu führt, dass zwischen den verschiedenen Elementen der Gesellschaft Freiheit herrscht und diese Freiheit vom Staat zu garantieren ist. In den §§ 1–4 II 13 ALR hat dieses Verständnis am Ende des 18. Jahrhunderts seinen Niederschlag gefunden.28 Parallel dazu stellte sich die Frage, ob der Staat selbst vermehrt Freiheitssphären seiner Bürger als Korrektiv für die Machtkonzentration respektieren müsse.29 Unter den geschichtlichen Bedingungen der Französischen Revolution und der ihr zugrundeliegenden Auf klärung wurde eine im Wortsinne bürgerliche Rechtsordnung geschaffen, die die Gesellschaft als spezifisch bürgerliche gleichermaßen voraussetzte, konstituierte und beschützte.30 Eng damit verbunden war die Frage, ob der Gesellschaft auch ein Anteil an der Entscheidungsgewalt des Staates zukommen solle. Da der Staat und die ihn tragenden Teile der Gesellschaft – Adel, Beamte, Militär – daran kein Interesse hatten, führte der Weg zu einer Beteiligung zunächst nur über die Revolution. Folgerichtig wurde die Beteiligung nicht verwirklicht, wo die Revolution ausblieb. Auch in den deutschen Staaten ist es unter den besonderen Bedingungen der Zeit zwischen 1800 und 1866 zur Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft gekommen.31 Dabei war die Kultur ein wesentlicher Faktor für die weitere Entwicklung,32 27 So Erich Angermann, Das „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft“ im Denken des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Politik 1963, S. 89–101 (S. 92 ff.). 28 Dreyzehnter Titel: Von den Rechten und Pfl ichten des Staats überhaupt Allgemeine Grundsätze § 1. Alle Rechte und Pfl ichten des Staats gegen seine Bürger und Schutzverwandten vereinigen sich in dem Oberhaupte desselben. § 2. Die vorzügliche Pfl icht des Oberhaupts im Staate ist, sowohl die äußere als innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten, und einen jeden bey dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen zu schützen. § 3. Ihm kommt es zu, für Anstalten zu sorgen, wodurch den Einwohnern Mittel und Gelegenheiten verschafft werden, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, und dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden. § 4. Dem Oberhaupte im Staate gebühren daher alle Vorzüge und Rechte, welche zur Erreichung dieser Endzwecke erforderlich sind. 29 Angermann (Fn. 27), S. 96 ff., argumentiert, die Gesellschaft des nivellierten Untertanenverbandes werde aktiv und suche den mit Absolutheitsanspruch auftretenden Staat aus immer mehr Bereichen des Gemeinschaftslebens zurückzudrängen, der sich seinerseits auch aus bestimmten Bereichen – Religion, freie Bildung der Persönlichkeit und Wirtschaft – zurückgezogen und auf die Kernaufgabe Wahrung von Recht und Sicherheit beschränkt habe. Vgl. auch Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 1959/1973, S. 30 ff. 30 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie, Verfassungsgeschichte, 1991, S. 209–243 (S. 214 ff.). 31 Siehe Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, Bürgerwelt und starker Staat, 1983, S. 285 ff. zur allgemeinen Entwicklung und S. 721 ff. zur Rolle des realitätsorientierten (nachrevolutionären) Liberalismus, der vor allem in der „Neuen Ära“ (nach 1858) erfolgreich war. Lothar Gall, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Liberalismus, 1976, S. 162–186. 32 Dies wird anschaulich beispielsweise bei Theodore Ziokowski, Berlin, Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, 2002. Zur Bedeutung der „Leserevolution“ zwischen 1800 und 1866 eindringlich Nipperdey (Fn. 31), S. 587 ff.
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sie stellte freilich auch ein Ventil dar, als andere Wege verschlossen blieben: Folgerungen, die aus dem Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu ziehen gewesen wären, und die nach der notwendigen Mitwirkung des Volkes an den siegreichen Befreiungskriegen eigentlich nicht mehr übergangen werden konnten, nämlich die Beteiligung der Bürger an der Herrschaft, an Willensbildung und Ausübung von Hoheitsgewalt, wurden durch die nach 1815 durchgeführte Restaurationspolitik ignoriert.33 Das Scheitern der Revolution von 1848 tat ein übriges, um einerseits das deutsche Bürgertum zu entpolitisieren und andererseits die „überschießende Angst“34 vor der sozialen Revolution im kollektiven Bewußtsein der Bürger zu verankern. Die mehrheitliche35 Entwicklung des deutschen Bürgers zum Bourgeois anstatt zum Citoyen hat hier ihre Wurzeln; diese Weichenstellung determinierte im Laufe der Zeit auch die vormodernen sozialen Bewegungen, die sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft herausbildeten und zunächst eine „neue Ebene des politischen Prozesses“36 eröffneten, dann aber an Prägekraft verloren: Das, was man im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die bürgerliche Gesellschaft, das bürgerliche Zeitalter genannt hatte, war offenbar [. . .] eher eine Fessel für die Entfaltung jener ursprünglichen, in Auf klärung und bürgerlichem Auf bruch wurzelnden Werte und Überzeugungen gewesen.37
Bedacht werden muss allerdings, dass es die zuvor beschriebene strikte Trennung von Staat und Gesellschaft in der Realität auch zu Zeiten Hegels nicht gab,38 dem Wesen des Staates als „organisierte Wirkeinheit“39 nach auch gar nicht geben konnte. Jedenfalls kann mit dem Auf kommen des Sozialstaates, der nicht nur regulierend, 33 Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund vgl. Reinhart Koselleck, Die Restauration und ihre Ereigniszusammenhänge 1815–1830, in: Louis Bergeron/François Furet/ders., Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780–1848, 1969, Nachdruck 2003, S. 199–229 (S. 201–217); Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 1. Bd.: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 5., durchgesehene Aufl. 2002, S. 53–70. Speziell zum Spektrum des nachrevolutionären Denkens vgl. Theo Stammen/Friedrich Eberle, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 1), 1988, S. 1–25. 34 Nipperdey (Fn. 31), S. 622. Diese Furcht war im kollektiven Gedächtnis tief verankert: „[W]enn sich die Völker selbst befrein,/da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn./Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte/der Feuerzunder still gehäuft,/das Volk, zerreißend seine Kette,/zur Eigenhilfe schrecklich greift!/Da zerret an der Glocke Strängen/der Aufruhr, daß sie heulend schallt/und, nur geweiht zu Friedensklängen,/die Losung anstimmt zur Gewalt./Freiheit und Gleichheit! Hört man schallen,/der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,/die Straßen füllen sich, die Hallen,/und Würgerbanden ziehn umher.“ (Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke, 1799). 35 Exemplarisch für eine anders verlaufene bürgerliche Familiengeschichte vgl. Lother Gall, Bürgertum in Deutschland, 1989. 36 Zur Tradition außerparlamentarischer Bewegungen vgl. Nipperdey (Fn. 31), S. 617 ff., 722 ff., 729 ff. (das Zitat auf S. 617). Die Geschichte sozialer Bewegung faßt auch Joachim Raschke, Soziale Bewegungen, Ein historisch-systematischer Grundriß, 1985, S. 22 ff. zusammen. 37 So treffend Gall (Fn. 35), S. 500. 38 Böckenförde (Fn. 30), S. 219; den Staatsbegriff problematisierend Claus-Ekkehard Bärsch, Die Rechtspersönlichkeit des Staates in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Zur Kritik der Substantiierung der Macht und der Homogenität der Gesellschaft, in: Gerhard Göhler/Kurt Lenk/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Die Rationalität politischer Institutionen, Interdisziplinäre Perspektiven, 1990, S. 423–442. 39 Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff.; das Argument fi ndet sich bei Böckenförde, aaO.
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sondern auch leitend wirkte, die Verflochtenheit von Staat und Gesellschaft nicht mehr geleugnet werden.40 Dies gilt um so stärker für den „Steuerungsstaat“ des 20. Jahrhunderts,41 der die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung und soziale Wohlfahrt der Gesellschaft als Ganzes übernahm und sich als „Staat der Industriegesellschaft“42 weit von einer klassischen Staatsrolle entfernt hatte.43 Dass Kooperation das Verhältnis von Staat und Gesellschaft prägt, beschrieb Ernst Forsthoff bereits im Jahre 1950: „Die Verwaltung hat an solchen Arrangements ebenfalls Interesse, da sie, je mehr sie in das Sozialleben ausgreift, auf eine Kooperation mit den Sozialfaktoren angewiesen ist.“44 Und zu ergänzen ist eine Formulierung von Manfred Hättich: „Wo Gesellschaft ist, da ist Kooperation.“45 Es läßt sich eine „geistesgeschichtliche Kontinuität des ideologischen Musters“46 bürgerliche Öffentlichkeit beobachten, die in den Staaten Europas den Dualismus Polis-Oikos im 18. Jahrhundert wiederbelebt und die bürgerliche Öffentlichkeit als politischen Raum zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat konstituiert, in dem die bürgerliche Gesellschaft eine besondere Kontrolle der Staatstätigkeit vornimmt.47 40
Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I. Band: Allgemeiner Teil, 1950, S. 3: „Diese Schranke zwischen Staat und Gesellschaft ist inzwischen gefallen. Der moderne Staat fi ndet das Sozialleben nicht in einem Zustand präformierter Ordnung vor. Im Gegenteil: Die Herstellung und Aufrechterhaltung einer angemessenen Sozialordnung ist die vordringlichste, seine ganze Kraft in Anspruch nehmende Aufgabe des Staates geworden.“ Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 80), 1968, S. 154, betont, dass Staat und Gesellschaft eine dialektische Einheit bilden. 41 Hierzu Franz-Xaver Kaufmann, Diskurse über Staatsaufgaben, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 15–41 (S. 28 ff.). Aber schon im 19. Jahrhundert zeichnete sich der Interventionsstaat in Deutschland mit der 1879 begonnenen Schutzzollpolitik ab; Umverteilungspolitik der Reichsregierung zeitigte verbandliche Interessenvertretung neuartigen Ausmaßes – näher Nipperdey (Fn. 19), S. 576 ff.; Ullrich (Fn. 19), S. 176 ff. mit dem Hinweis, dass die schwache Stellung von Parteien und Parlament die außerparlamentarische Interessenvertretung begünstigte. 42 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1971. 43 Zur Einordnung als „Gewährleistungsstaat“ vgl. die Beiträge in Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005. Der gewährleistende Staat wird entlastet, weil er andere Akteure mit in die Verantwortung einbezieht. Zu den aktuellen Herausforderungen für den Sozialstaat prägnant Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger?, Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 3–29. 44 Forsthoff (Fn. 40), S. 62. Bitter bilanziert er zwanzig Jahre später, dass die ausgeweitete, von den Bedürfnissen der Gesellschaft diktierte Leistungsverwaltung, „die Domäne des mittleren und gehobenen Dienstes“ – (Fn. 42), S. 108 – zwar auf Kosten der individuellen Freiheit gehe, der Staatlichkeit aber nichts einbringe – ebenda, S. 109. 45 Manfred Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung (Ordo Politicus, Bd. 7), 1967, S. 89. 46 Habermas (Fn. 9), S. 57. 47 Habermas (Fn. 9), S. 66 ff.; 86 ff. Vgl. auch Anthony de Jasay, The State, 1998, S. 142: „Liberal doctrine holds that civil society is capable of controlling the state [. . .]“. Von hoher Bedeutung war im 19. Jahrhundert August Ludwig von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, 1853, S. 9 ff. und passim. Ausführlich Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit (Sprache und Geschichte, Bd. 4), 1979. Zur Vielgestaltigkeit von Staat und Gesellschaft auf dem Weg in „Modernität und Totalität“ nach der französischen Revolution
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In der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland setzte sich die während des sogenannten Dritten Reiches begonnene soziostrukturelle Veränderung48 des Bürgertums fort; im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs bildete sich eine kleinbürgerliche Mittelstandsgesellschaft heraus, für die der Rückzug ins Private kennzeichnend war.49 Mit einer zeitlichen Verzögerung50 kann die Entwicklung hin zu einer „Staatsbürgergesellschaft“, im weiteren Verlauf und als Ergebnis einer sich intensivierenden politischen und gesellschaftlichen Liberalisierung jedoch auch zu einer „civil society“ im angelsächsischen Sinne [beobachtet werden]. [. . .] bestimmte gesamtgesellschaftliche und politische Entwicklungen [. . .] führten zu einer (Wieder-)Entstehung von Bürgerlichkeit, politisch, sozial und kulturell, und nun eben einer gesellschaftlich verallgemeinerten Bürgerlichkeit jenseits der vormaligen Sonderformation Bürgertum.51
Dieser in den 1970 Jahren und seither fortgesetzte und vertiefte Prozess zeigt den Erfolg der sogenannten Westernisierung oder Verwestlichung der Bundesrepublik Deutschland.52 Ergebnis war der moderne Verfassungsstaat, den Dolf Sternberger als offen und pluralistisch charakterisierte.53 Dieser Staat korrespondiert mit einer liberalisierten Gesellschaft, deren Mentalitäten, Wahrnehmungsmuster und Handlungsformen sich signifi kant von denjenigen der Zeit vor 1945, aber auch vor 1933 unterscheiden. Diese Liberalisierung ist für die Bundesrepublik Deutschland als Lernprozess charakterisiert worden.54 vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 2000, S. 406–479. 48 Anschaulich beispielsweise bei Joachim Fest, Nicht ich, Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, 5. Aufl. 2006, S. 73 ff., 102 ff., der „eine Art bürgerlicher Entwicklungsgeschichte in unbürgerlicher Zeit“ (S. 103) schildert. 49 Hierzu die prägnante Übersicht bei Eckart Conze, Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 512–542 m.w.Nw. Früh in diese Richtung bereits Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, 2. Aufl. 1954: „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (S. 218), zum Rückzug ins Private S. 122 ff. Zu aktuellen Konstellationen Paul Kaiser, Bürgerlichkeit ohne Bürgertum? in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9–10/2008, S. 26–32. 50 Diese Verzögerung kann einem Richtungsstreit zwischen konservativer und liberaler Denkschule zugeschrieben werden. Hierzu Christina von Hodenberg, konkurrierende Konzepte von „Öffentlichkeit“ in der Orientierungskrise der 60er Jahre, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Auf bruch, Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, 2003, S. 205–226 (S. 208 ff.). 51 Conze (Fn. 49), S. 535 f. Neuere Ansätze der Bürgertums- und Bürgerlichkeitsforschung wurden im Oktober 2007 auf einer von Cornelia Budde u. a. organisierten Konferenz in Loccum: „Bürgertum und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert im internationalen Vergleich“ präsentiert. Ein Tagungsbericht fi ndet sich unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1922 (zuletzt besucht am 29. Februar 2012). 52 Ausführlich hierzu Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, 1999. Außerdem Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2. Bd: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, 5. durchgesehene Aufl. 2002, S. 142 ff., 213, 270, 311 und passim. 53 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, Rede bei der 25-Jahr-Feier der „Akademie für Politische Bildung“ (1982), in: ders., Schriften, Bd. X: Verfassungspatriotismus, 1990, S. 17–31 (S. 29). 54 Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980 (Moderne Zeit, Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des
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2. Heutiges Verständnis von Zivilgesellschaft a) Definitionsversuche Festzuhalten ist, dass sich das heutige Konzept von Zivilgesellschaft abgrenzen will von der tendenziell unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft.55 Für die seit den späten 1980er Jahren übliche Verwendung des Begriffs hat sich keine verbindliche, systematisierende Kriterien verwendende Defi nition herausgebildet, wie ein Blick in die breitgefächerte Literatur zeigt.56 Je nach Herangehensweise werden normative oder formale Kriterien stärker in den Vordergrund gestellt, wobei der Staat einen kontinuierlichen Bezugspunkt darstellt.57 Das erste hier angeführte Beispiel greift Elemente der sogenannten „neuen sozialen Bewegungen“ auf und nimmt nicht nur formale, sondern auch eine inhaltliche Abgrenzung vor: Gemeinhin meint Zivilgesellschaft eine Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen, Initiativen und Bewegungen, die weitgehend unabhängig von staatlichen, parteipolitischen oder privatwirtschaftlichen Institutionen wirken. Die Zugehörigkeit zu diesen gesellschaftlichen Gruppen ist freiwillig, die Organisationsstruktur demokratisch. Achtung der allgemeinen Menschenrechte, Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Wertvorstellungen, Anerkennen der Grundsätze des bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsmodells und des demokratischen Rechtsstaats gehören ebenfalls zu den zivilgesellschaftlichen Prinzipien. Auch ein konsequentes Agieren nach dem Legalitätsprinzip und eine aus der Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols resultierende unbedingte Gewaltlosigkeit in den eigenen Handlungsansätzen bilden den gemeinsamen Nenner, der die Zivilgesellschaft einerseits von rechtsextremen Strukturen abgrenzt, sie andererseits aber auch von revolutionär-antifaschistischen Politikkonzepten unterscheidet.58
Damit werden traditionelle Interessenvertretungen wie politische Parteien und Verbände, Kirchen59 und kirchliche Hilfswerke, ja auch nationale Menschenrechts19. und 20. Jahrhunderts, Bd. I), 2002, S. 7–49. Bilanzierend auch Reinhard Hildebrandt, Staat und Zivilgesellschaft, 2011. 55 Erlaubt sei der Hinweis auf die Vielfältigkeit soziologischer Gesellschaftsbegriffe, wie sie etwa in den vierzehn Beiträgen in Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schoer (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe, Konzepte moderner Zeitdiagnosen, 1997, zum Ausdruck kommt. Vgl. bereits den Hinweis auf die Vieldeutigkeit des Gesellschaftsbegriffs bei Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960, S. 84–99. 56 Diesen Befund teilt auch Georg Kneer, Zivilgesellschaft, in: ders./Armin Nassehi/Markus Schoer (Hrsg.) (Fn. 55), S. 229–251 (S. 234 ff.). So versucht etwa Norbert Brieskorn, Zivilgesellschaft – Chancen und Grenzen eines sozialwissenschaftlich-philosophischen Konzepts, in: Julia Inthorn u. a. (Hrsg.), Zivilgesellschaft auf dem Prüfstand, Argumente – Modelle – Anwendungsfelder (Globale Solidarität – Schritte zu einer neuen Weltkultur, Bd. 11), 2005, S. 2–19, eine komplexe Charakterisierung anhand von sieben Merkmalen, die dreifach entfaltet wird und somit kaum noch benutzbar erscheint. 57 Vgl. Simone Chambers/Jeffrey Kopstein, Civil Society and the State, in: John S. Dryzek/ Bonnie Honig/Anne Philips (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Theory, 2006, S. 363–381. 58 Joachim Kolb, Antifa-Bündnisse ohne bürgerliche Loblieder, Möglichkeiten und Grenzen einer zivilgesellschaftlichen Bekämpfung von Rechtsextremismus in Ostdeutschland, in: ak – analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 439 vom 8. Juni 2000, S. 26 ff. 59 Als Beispiel für die aktuelle Diskussion sei nur genannt Ralf K. Wüstenberg, Kirchen als Institutionen in Transformationsprozessen? Das sich einigende Deutschland in vergleichender Perspektive, Vortrag auf dem Internationalen Historiker-Kolloquium „Kirchen und Zivilgesellschaft“ des Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte Europas, 20.–22. September 2007.
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institutionen60 aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen. Das mag bewegungsideologisch gerechtfertigt sein, erscheint sachlich allerdings unangemessen.61 Die meisten der vorgenannten Akteure, die auch als intermediäre Organisationen bezeichnet werden,62 dürften sich überdies selbst auch als Teil der Zivilgesellschaft sehen. Allerdings ist pure Interessenvertretung mit der Gemeinwohlkonnotation von Zivilgesellschaft63 nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen. Den institutionellen Kern der Zivilgesellschaft bilden nach Habermas jene nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis, die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit in der Gesellschaftskomponente der Lebenswelt verankern. Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen fi nden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten. Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstaltender Öffentlichkeiten institutionalisiert.64
Mit dieser Defi nition wird versucht, den Schwierigkeiten der rechtsstaatlichen Regulierung der Machtkreisläufe in komplexen Gesellschaften gerecht zu werden, indem eine wichtige Schnittstelle funktional bestimmt wird. Da allerdings im Rahmen der institutionalisierten Kooperation mit dem Staat die Neigung besteht, kritische oder gesellschaftlich alternative Akteure nicht zuzulassen oder ihnen weniger Gehör einzuräumen, stellt sich die Frage, ob eine solche, tendenziell bestimmte Gruppen ausschließende Zivilgesellschaft den von Habermas geforderten Resonanzboden wirklich in einem umfassenden Sinne bilden kann. Während der bleiernen Endzeit sowjetischer Hegemonie in den Staaten Mittelund Osteuropas ist es dort sowie in der Sowjetunion selbst zu einer zunehmenden 60 Nationale Menschenrechtsinstitutionen stellen wohl einen Grenzfall dar. Auf staatlichem Gründungsakt beruhend, sollen sie nach den einschlägigen Pariser Prinzipien (Principles relating to the Status of National Institutions (The Paris Principles), GV-Res. 48/134 vom 20. Dezember 1993) bei der Wahrnehmung ihrer (u. a.) Untersuchungs-, Kontroll- und Bildungsaufgaben gleichwohl das gesellschaftliche Interesse an der Beachtung der Menschenrechte wahren und in der Zusammensetzung ihrer Mitarbeiter und Leitungsgremien gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln. Vgl. Valentin Eichele, Die nationale Menschenrechtsinstitution, Eine Einführung, 2006. 61 Auch Habermas (Fn. 9), S. 46 (= Vorwort zur zweiten Aufl age), bezieht Kirchen, Berufsverbände und politische Parteien in den Begriff der Zivilgesellschaft ein. Der Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft bestehe darin, dass jene die Sphäre des Ökonomischen mit umfasse, die Zivilgesellschaft sie hingegen ausschließe. 62 Wolfgang Streeck, Vielfalt und Interdependenz, Überlegung zur Rolle intermediärer Organisationen in sich ändernden Umwelten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987), S. 471–495. 63 Zu dieser Ute Hasenöhrl, Zivilgesellschaft, Gemeinwohl und Kollektivgüter (WZB Discussion Paper Nr. SP IV 2005–401), 2005. Hasenöhrl plädiert dafür, den Gemeinwohlbegriff auszuklammern und durch den Bezug auf Kollektivgüter zu ersetzen (S. 30 ff.). Dies wiederum läßt dann auch Raum dafür, „bloße“ Interessenvertreter als Teil der Zivilgesellschaft zuzulassen. Demgegenüber verbindet Michael J. Sandel, The Problem With Civility, in: ders. Public Philosophy, Essays on Morality in Politics, 2005, S. 54–53, die Gemeinwohlorientierung mit einer starken Verankerung der Demokratie in der Gesellschaft; hierzu infra bei und in Fn. 212 f. 64 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 5. Aufl. 1997, S. 443.
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Verwendung des Begriffes Zivilgesellschaft gekommen.65 Diese Verwendung hatte einen nach den einzelnen Ländern stark ausdifferenzierten Charakter, der insgesamt die verschiedenen Facetten der Opposition zum System von Apathie über Reform bis hin zur revolutionären Umgestaltung darstellte.66 Die Transformationsforschung beschäftigt sich nicht nur mit dem Wandel, den die Zivilgesellschaft in diesen Ländern herbeigeführt hat, sondern auch mit dem Wandel, dem die unter den Bedingungen totalitärer Staatlichkeit herausgebildete Zivilgesellschaft nach dem Systemwechsel selbst unterliegt.67 Der Begriff Zivilgesellschaft fi ndet sich heute auch in einer prominenten Übersetzung aus dem Italienischen. Der kommunistische Autor Antonio Gramsci (1891– 1937) beantwortete in seinen ab 1929 entstandenen „Gefängnisheften“ die Frage, warum die sozialistische Revolution im rückständigen Rußland Erfolg hatte, aber im Westen scheiterte, mit einem nachgerade klassisch gewordenen Bild: Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand [. . .].68
Die Verwendung von „Zivilgesellschaft“ in dieser Bedeutung mag überraschen. Eine 1980 in der DDR erschienene Auswahl von Schriften Gramscis verwendete denn auch den (klassenkämpferisch verstandenen) Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, um die italienische „società civile“ zu übertragen.69 Die Herausgeber des in den 1990er Jahren begonnenen „Deutschen Gramsci-Projekts“ erklären ihre Wortwahl damit, „der Quelle ständiger Verwechslung mit der sozialökonomischen Formation [keine] weitere Nahrung“70 geben zu wollen. Gramscis Überlegungen zur „società civile“, eine in marxistischer Tradition stehende Lesart von Hegel, unterscheiden sich in jedem Fall klar von einem liberalen Ansatz. Sie ist gerade nicht freiheitlicher „oikos“, der von staatlichem Regulierungseinfluß frei oder freizuhalten ist. Sie ist vielmehr ein Raum, in dem die den Staat beherrschende Gruppe auch gesellschaftliche Hegemonie ausübt.71 Staat und Zivilge65 Ausführlich hierzu Ernest Gellner, Die Bedingungen der Freiheit, Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, deutsch 2. Aufl. 2001; Michael Walzer, Was heißt zivile Gesellschaft?, in: Bert van den Brink/ Willem van Reijen (Hrsg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, 1995, S. 44–70; Agnes Arndt, Intellektuelle in der Opposition, Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volksrepublik Polen, 2007. 66 Hierzu Agnes Arndt, Semantisches Mißverständnis, Der Begriff „Zivilgesellschaft“ spielte in Polen keine zentrale Rolle, in: WZB-Mitteilungen, Heft 118, 2007, S. 11–13. 67 Hierzu Aron Buzogány/Rolf Frankenberger (Hrsg.), Osteuropa, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (Weltregionen im Wandel, Bd. 2), 2007. 68 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 4, hrsg. von Klaus Bochmann/Wolfgang Fritz Haug, Hefte 6–7, 1992, Heft 7 § 16 (S. 874). 69 Vgl. Antonio Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Guido Zamis, 1980, S. 272–273. 70 Klaus Bochmann, Editorische Vorbemerkung, in: Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 4, hrsg. von Klaus Bochmann, 1991, S. 18. Zutreffend können sie sich darauf berufen, dass Gramsci zwischen der „società civile“ und der „società borghese“ unterscheidet. 71 Hierauf weist zu Recht auch Noberto Bobbio, Gramsci and the Concept of Civil Society, in: Keane (Fn. 13), S. 73–99 (S. 77 ff.), hin.
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sellschaft dienen bei Gramsci wechselseitig dem Schutz der herrschenden Klasse. Revolutionäre Veränderungen zugunsten des Proletariats in den kapitalistischen Staaten der Zwischenkriegszeit, auf die seine Überlegungen zielen, können nicht durch gewaltsame Angriffe auf den Staat, sondern nur durch die langsame Eroberung der „società civile“ erreicht werden.72 Das nämlich ist eine Besonderheit der Konzeption Gramscis: Die „società civile“ ist bei ihm zwar ökonomisch und politisch determiniert, aber dennoch dank ihrer Zwischenstellung handlungs- und reaktionsfähig, so dass von ihr aus Veränderungen der staatlichen Macht- und der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse bewirkt werden können. Ist somit der Funktionszusammenhang der Hegemoniebildung für Gramsci ein entscheidendes Moment der „società civile“,73 so scheint der Begriff „Zivilgesellschaft“, der nach den Ereignissen von 1989/90 auf der Suche nach einem geistigen Ahnherren linker Provenienz mit Gramsci in Verbindung gebracht wurde, für Gramscis Konzept nicht gut gewählt. Jedenfalls verträgt sich Gramscis Ansatz kaum mit der herrschaftskritischen Konnotation, die der Zivilgesellschaft heute gemeinhin beigelegt wird. Schließlich sei der Hinweis erlaubt, dass sich das Phänomen „Zivilgesellschaft“ nicht auf den innerstaatlichen Raum begrenzen läßt: Es wird diskutiert, ob es eine europäische oder gar eine globale Zivilgesellschaft gibt.74
b) Abgrenzungen zu anderen gesellschaftlichen (Teil-)Formationen Zivilgesellschaft ist ferner abzugrenzen von Begriffen und Formationen wie „neue soziale Bewegungen“75, „Nichtregierungsorganisationen“76, „Dritter Sektor/NonProfit-Organisationen/privater Sektor“77 und „Bürgerinitiativen“78. Dies kann hier 72 Die Ausführungen folgen den Darlegungen von Joseph A. Buttigieg, Gramscis Zivilgesellschaft und die civil-society-Debatte, in: Das Argument, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 206: Ethik und Staat, 36 (1994) 4/5, S. 529–554. 73 Hier sind freilich verschiedene Lesarten möglich. Peter Alheit, Zivile Kultur, Verlust und Wiederaneignung der Moderne, 1994, S. 291 f., 297 f., erkennt hierin die Möglichkeit für einen zivilisierenden Bildungsprozess. 74 Hierzu nur: John Keane, Global Civil Society?, 2003; David Chandler, Constructing Global Civil Society, Morality and Power in International Relations, 2004; Michèle Knodt/Barbara Finke (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft, Konzepte, Akteure, Strategien, 2005; Ingo K. Richter/Sabine Berking/Ralf Müller-Schmid (Hrsg.), Building a Transnational Civil Society, Global Issues and Global Actors, 2006; Christiane Frantz, Transnationale Zivilgesellschaft in Europa: Traditionen, Muster, Hindernisse, Chancen, 2009; Elisabeth Conradi, Kosmopolitische Zivilgesellschaft, Inklusion durch gelingendes Handeln, 2011. 75 Zur Bandbreite vgl. Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, 1987; Roland Roth, Demokratie von unten, Neue soziale Bewegungen auf dem Weg zur politischen Institution, 1994. 76 Vgl. nur Elmar Altvater/Achim Brunnengräber/Markus Haake/Heike Walk (Hrsg.), Vernetzt und Verstrickt, Nicht-Regierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft, 1997. 77 Umfassend hierzu die Beiträge in Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.), Dritter Sektor – Dritte Kraft, Versuch einer Standortbestimmung, 1998; Karl Birkhölzer/Ansgar Klein/Eckhard Priller, Dritter Sektor/ Drittes System: Theorie, Funktionswandel und zivilgesellschaftliche Perspektiven (Bürgergesellschaft und Demokratie, Bd. 20), 2004; Craig N. Murphy, Private Sector, in: Thomas G. Weiss/Sam Daws (Hrsg.), The Oxford Handbook on the United Nations, 2007, S. 264–276.
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aus Raumgründen nicht geleistet werden; letztendlich ist der Begriff der Zivilgesellschaft umfassender. 78
c) Fazit Hier soll nicht der Versuch einer eigenen Definition von Zivilgesellschaft unternommen werden. Vielmehr gilt es jene Elemente zusammenzufassen, die mit Blick auf die weitere Untersuchung von Bedeutung sind und eine kategoriale Lokalisierung ermöglichen.79 Zivilgesellschaft ist im nichtstaatlichen Bereich angesiedelt und konstituiert sich in einer Vielzahl von freiwilligen Zusammenschlüssen von Personen. Diese Individuen können sich in ihren jeweiligen Rollen konsekutiv oder gleichzeitig in unterschiedlichen Zusammenschlüssen aktiv engagieren oder solche Zusammenschlüsse als Sympathisanten unterstützen.80 Die Zusammenschlüsse können hinsichtlich ihres Organisationsgrades und ihrer Dauerhaftigkeit untereinander stark variieren.81 Sie können auf ein Ziel oder Projekt begrenzt sein oder mehrere Ziele verfolgen. Zu ihren Zielen können ebenso die Mitgliederinteressen wie Gemeinwohlinteressen zählen. Nicht selten rücken die Akteure in Aktionsfelder ein, aus denen sich entweder gesellschaftliche Institutionen wie die Familie oder der Staat zurückziehen. „Idealerweise ist die zivile Gesellschaft ein Handlungsraum von Handlungsräumen.“82 Die Zivilgesellschaft ist dementsprechend als ein Konglomerat von Akteuren zu bezeichnen, deren Spektrum „von Attac bis zur Milliardärsstiftung“83 reicht. In vielen Staaten sind ihre Handlungsspielräume eingeengt,84 nicht selten sind die handelnden Personen bedroht oder akut gefährdet,85 insbesondere, wenn sie Funktionen auf
78 Einzelheiten bei Peter John, Bedingungen und Grenzen politischer Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel von Bürgerinitiativen, Eine historisch-deskriptive Analyse, 1979, S. 52 ff.; Gunnar Folke Schuppert, Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, Verfassungstheoretische Aspekte politischer Beteiligung, in: AöR 1977, S. 369–409. 79 Vgl. auch die Übersicht in: Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ Deutscher Bundestag (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, 2002. 80 Zur Datenlage in Deutschland vgl. Thomas Gensicke/Sibylle Picot/Sabine Geiss (Hrsg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004, Ergebnisse einer repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement, 2005. 81 Vgl. Ingo Bode, Organisationsentwicklung in der Zivilgesellschaft, Grenzen und Optionen in einem unerschlossenen Terrain, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2/2007, S. 92–101. 82 Walzer (Fn. 65), S. 56, auch 69. 83 Heribert Prantl, Doch, es gibt das Positive, in: Süddeutsche Zeitung vom 30. April/1. Mai 2009, S. 4. 84 Siehe die Beiträge in: Heiko Pleines (Hrsg.), Participation of Civil Society in New Modes of Governance, The Case of New EU Member States, Part 2: Questions of Accountability (Forschungsstelle Osteuropa, Bremen: Arbeitspapiere und Materialien, Nr. 74), 2006; Alfred B. Evans (Hrsg.), Russian civil society, A critical assessment, 2006. 85 Indiz hierfür ist die „Erklärung zu den Menschenrechtsverteidigern“, GV-ReS. 53/144 vom 9. Dezember 1998, die den Schutz dieser Personen verbessern will; hierzu Benjamin Beuerle, Zur Umsetzung der „Erklärung zu den Menschenrechtsverteidigern“ fünf Jahre nach ihrer Verabschiedung – eine Bestandsaufnahme, in: MenschenRechtsMagazin 2004, S. 47–52.
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den Gebieten Demokratieförderung, Umgang mit Globalisierungsfolgen und Schutz der Menschenrechte wahrnehmen.86
II. Öffentlichkeit und ihre Funktionen im republikanischen Rechtsstaat Hier kann nicht auf die – Habilitationsschriften füllende – Diskussion um den Begriff des Rechtsstaats, sein vorgebliches Sich-Überlebt-Haben und die mitunter behauptete inhaltliche Unbestimmtheit eingegangen werden.87 Im Anschluß an Katharina Sobota ist in aller Kürze darauf hinzuweisen, dass neben der Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Willkürverbot (hergeleitet aus Art. 3 Abs. 1 GG) der Begründungszwang und die Öffentlichkeit des Staatshandelns zu den fundamentalen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips gehören.88 Der Staat, der – wie es in Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurf für das Grundgesetz so treffend formuliert wurde – um der Bürger willen da ist,89 kann Heimlichkeit nicht zu seiner Maxime erheben.90 Verantwortlichkeit der handelnden Personen und Kontrollierbarkeit ihres Handelns sind unentbehrliche Charakteristika des Rechtsstaats,91 die eine Öffentlichkeit erfordern.92 Bereits 1848 formulierte Carl Welcker: Das ganze politische Leben freier Völker bewegt sich in der Oeffentlichkeit, wie man athmet in der Luft.93
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Siehe die Fallstudien aus sechs Ländern auf vier Kontinenten in: Jochen Franzke (Hrsg.), Making Civil Societies Work – Zivilgesellschaft und gesellschaftliche Praxis (Potsdamer Textbücher, Bd. 9), 2006. 87 Vgl. nur Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, Ein neuer Schlüssel zur Lehre vom Rechtsstaat, 1984; Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986; Ulrich Karpen, Der Rechtsstaat des Grundgesetzes, 1992; Wolf Heintschel von Heinegg, Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, in: Rainer Hofmann u. a. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 107–139; Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR II (3. Aufl. 2004), § 26, S. 541–612. 88 Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, 1997, S. 471 ff. 89 Vgl. JöR N. F. 1, 1951, S. 48. 90 Vgl. zu dieser Frage grundsätzlich Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, Grundgesetz und Europäische Union (Ius Publicum, Beiträge zum Öffentlichen Recht, Bd. 106), 2002. 91 Gegen die Marginalisierung des Rechtsstaats bei der Verwaltungsmodernisierung wendet sich nachdrücklich Karl-Peter Sommermann, Verwaltung im Rechtsstaat, in: Klaus König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2002, S. 87–118. 92 Das heißt natürlich nicht, dass jede amtlicherseits vorliegende Information – etwa die Höhe des zu versteuernden Einkommens von Privatleuten – jedermann zugänglich sein muss. Der Schutz individueller Daten schränkt das Öffentlichkeitsprinzip ebenso ein wie das Interesse an der Funktionsfähigkeit des Staatswesens. 93 Carl Welcker, Öffentlichkeit, in: Carl von Rotteck/ders. (Hrsg.), Das Staatslexikon, Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 1848 (Nachdruck 1990), 10. Bd., S. 246–282 (S. 247).
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Doch wie sieht nun die Öffentlichkeit94 aus, die diese Funktionen ausübt? 95 Ist sie gleichbedeutend mit der im ersten Teil charakterisierten Zivilgesellschaft? Auch hier nur einige Stichworte: Einerseits kann Öffentlichkeit von der privaten Sphäre (dem griechischen „oikos“) abgegrenzt, andererseits kann sie vom Bereich des Geheimen unterschieden werden. Wird Öffentlichkeit als Publizität staatlichen Handelns begriffen, so verlangt sie gleichzeitig nach dem Publikum, also „der“ Öffentlichkeit im Sinne einer Personenallgemeinheit. Anders als die typischerweise auf eine gewisse Dauerhaftigkeit angelegten und nach gewissen Ordnungsprinzipien gegliederten zivilgesellschaftlichen Akteure kann das Publikum sich spontan bilden, unstrukturiert zusammensetzen und nur situativ, zeitlich und örtlich begrenzt bestehen.96 Je nach Standort und Funktion des staatlichen Akteurs kommt dem Publikum eine unterschiedliche Rolle zu.97 Schließlich ist auch die Öffentlichkeit kein herrschaftsfreier Raum. Der Zugang zum Diskurs und die Auswahl von Themen sind von unterschiedlich begründeten Machtpositionen, zumindest von einer generellen Etabliertheit abhängig.98 Der Rechtsstaat des Grundgesetzes ist republikanisch (Art. 20 GG); Deutschland ist eine Republik (in Anlehnung an Art. 1 Satz 1 WRV). Zwar hat die Republik vielfältige Bedeutungen – Staatsbegriff, Staatsform, freiheitliches Gemeinwesen, Idealstaat –, doch sind diese in Teilen „in die Begriffe Demokratie und Rechtsstaat übergegangen“99. Aber der Republik wohnt begriffl ich ein starker eigenständiger 94 Zum Begriff ausführlich Hölscher (Fn. 47), S. 81 ff., 118 ff. Vgl. auch Alfred Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 152), 1971, S. 23 ff., 248 ff., 273 ff. 95 Hierzu bereits Habermas (Fn. 9), S. 154 ff., 304 ff.; ausführlich die vom öffentlichen Interesse oder Gemeinwohl ausgehende Untersuchung von Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, Eine Analyse von Gesetzgebung und Rechtsprechung, 1970 (2. Aufl. 2006). Aus neuerer Sicht und kritisch gegenüber Habermas’ inhaltslosem Öffentlichkeitsbegriff: Jürgen Gerhards/Friedhelm Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Müller-Doohm/Klaus Neumann-Braun (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, 1991, S. 31–89; Karl-Siegbert Rehberg, Die „Öffentlichkeit“ der Institutionen, Grundbegriffl iche Überlegungen im Rahmen der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, 1995, S. 181–211; Ulrich Sacrinelli, Demokratiewandel im Zeichen medialen Wandels? Politische Beteiligung und politische Kommunikation, in: A. Klein/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Möglichkeiten und Grenzen, 1997, S. 314–345. 96 Darauf macht zu Recht Stefan Marschall, Öffentlichkeit und Volksvertretung, Theorie und Praxis der Public Relations von Parlamenten (Studien zur Kommunikationswissenschaft, Bd. 40), 1999, S. 38 f., aufmerksam. Hierzu bereits Heinhard Steiger, Zur Funktion der Öffentlichkeit parlamentarischer Verhandlungen heute, in: Studium generale 1970, S. 710–733 (S. 723 ff.). 97 Klassisch zu den verschiedenen Publikumsrollen Niklas Luhmann, Politische Soziologie, 2010, S. 353 ff. Der Text entstand als Vorlesungsmanuskript Ende der 1960er Jahre. 98 So auch Gerhards/Neidhardt (Fn. 95), S. 59. Dementsprechend schildert Ulrich Rödel, Zivilgesellschaft und selbstorganisierte Öffentlichkeiten: in Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 1994, S. 34–45 (S. 36 f.), die Bemühungen Neuer Sozialer Bewegungen, die Ausgrenzung ihrer Themen aus der institutionalisierten politischen Öffentlichkeit zu überwinden. Die Neugründung periodisch erscheinender Printmedien wird als extensive Erweiterung des öffentlichen Raumes begriffen. Diese Funktion übernimmt heute das Internet. 99 Hierzu prägnant Josef Isensee, Republik – Sinnpotential eines Begriffs, Begriffsgeschichtliche Stichproben, in: JZ 1981, S. 1–8 (S. 8). Zum Unterschied, den das Grundgesetz zwischen Rechtsstaat und Demokratie macht, siehe Heinrich Amadeus Wolff, Das Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und De-
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Bezug zur Öffentlichkeit im Sinne der Bürgerschaft inne. Seit der Definition Ciceros100 Est igitur res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus
wird diskutiert, welcher Grad von Unmittelbarkeit notwendig ist, um „den Staat“ zur Sache des Volkes, zur wahren Res populi zu machen.101 So wird mit Blick auf die zu wählende Staatsform die These vertreten, es komme nicht notwendigerweise darauf an, dass die Interessen des Volkes vom Volke wahrgenommen werden, sondern darauf, dass sie überhaupt wahrgenommen werden.102 Am besten geeignet sei hierfür eine gemischte Verfassung, die monarchische, aristokratische und demokratische Elemente enthält103 und dem Gemeinwohl diene (res ad communem utilitatem)104. Damit gewinnt der Gedanke der Partnerschaft Bedeutung, der dazu beiträgt, das Volk zu konstituieren.105 Einem solchen Interessenverband gegenüber kann sich der Staat als Gegenstand und Wahrer des Interesses nicht abschotten; er muss – in welcher konkreten Form auch immer – grundsätzlich offen sein. Ist ein Staatswesen demokratisch verfaßt, so liegt diesbezüglich eine klare Grundsatzentscheidung vor. Typischerweise ist die Beteiligung des Volkes aber stark formalisiert, so dass sich die Frage nach den Ansatz- und Wirkungsmöglichkeiten der Öffentlichkeit ebenfalls stellt. Nachfolgend soll die Bedeutung der Öffentlichkeit für die drei Staatsgewalten skizziert werden.
1. Legislative und Öffentlichkeit a) Das Parlament: Kontrolleur und Kontrollierter Das aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) hervorgegangene Parlament ist einerseits selbst „Öffentlichkeit“, da es neben der Gesetzgebungsfunktion (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG) auch die Aufgabe hat, den von ihm gewählten (Art. 63 GG) und ihm verantwortlichen Kanzler und die Bundesregierung (Art. 43 Abs. 1 GG) zu kontrollieren. Andererseits sind der Bundestag und die Abgeordneten – als „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) – selbst nach Art. 42 Abs. 1 und 3 GG der Kontrolle durch die mokratieprinzip, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung, FS für Helmut Quaritsch, 2000, S. 73–93. 100 Marcus Tullius Cicero, De re publica, 51 v.Chr., 1.39–41. 101 Vgl. nur Wilfried Röhrich, Im Umgang mit der Macht: Das Prinzip der Repräsentation, in: Stefan Brink/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung, FS für Hans Herbert von Arnim, 2004, S. 639–651 m.w.Nw. 102 So Werner Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Über Verwendung und Bedeutung von Res publica, Regnum, Imperium und Status von Cicero bis Jordanis (Orbis Antiquus, Heft 16/17), 1961, S. 13 ff. m.w.Nw. Ihm folgend Isensee (Fn. 99), S. 3. 103 Cicero (Fn. 100), 1.45, 1.69. 104 Marcus Tullius Cicero, Pro Sestio, 56 v.Chr., 91. 105 Diesen Gedanken entwickelt Elizabeth Asmis, The State as a Partnership: Cicero’s Defi nition of Res Publica in his Work On the State, in: History of Political Thought XXV/4 (2004), S. 569–598.
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Öffentlichkeit106 ausgesetzt. Auch Untersuchungsausschüsse des Bundestages erheben die erforderlichen Beweise in öffentlicher Sitzung (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG). Der Bundesrat verhandelt ebenfalls öffentlich (Art. 52 Abs. 3 Satz 3 GG). Die Öffentlichkeit kann jeweils ausgeschlossen werden. Diese Vorschriften reflektieren auf klärerisches Gedankengut: Erst die französische Revolution brachte die Öffentlichkeit ins Parlament, wohingegen das britische Parlament und ihm zunächst folgend der amerikanische Kongress die öffentliche Debatte nicht gekannt hatten und auch Berichterstattung nur eingeschränkt stattgefunden hatte.107 Für Deutschland brachte die Paulskirchenverfassung von 1848 (§ 111) den Durchbruch des Öffentlichkeitsprinzips, das sich im Anschluß in der Reichsverfassung von 1871 (Art. 22) und in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 29) fi ndet. Eine repräsentative Regierungsform kann auf die Öffentlichkeit parlamentarischer Debatten nicht verzichten: Wenn Herrschaft im Zeichen der Volkssouveränität durch Vertreter ausgeübt wird, so haben die Vertretenen darauf Anspruch, über die Aktivitäten der Repräsentanten und ihre Gründe informiert zu sein.108 Das Volk als Souverän kann seine Kontrollrechte nur ausüben, wenn ihm das öffentlich tagende Parlament Zugang und so die Möglichkeit der informierten Diskussion zwischen Repräsentanten und Repräsentierten eröffnet. So können Inhalte geklärt und die Legitimität sowie die Akzeptierbarkeit parlamentarischer Entscheidungen erhöht werden.109 Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus.110
Außerdem wird die Grundlage gelegt dafür, dass die handelnden Politiker zur Verantwortung gezogen werden können,111 aber nicht nur im Sinne nachholender Kontrolle, sondern zunehmend auch im Wege vorhabenbegleitender Rechtfertigung112. „Verhandeln“ im Sinne der vorstehend zitierten Vorschriften des Grundgesetzes erfaßt die Plenarsitzungen und ist dabei weit zu verstehen, erstreckt sich also nicht nur auf die eigentliche Debatte, sondern auf den gesamten Prozess der Entscheidungsfi ndung. Umstritten ist, ob auch die Ausschüsse dem Öffentlichkeitsprinzip unterliegen. § 69 Abs. 1 Satz 1 GeschO-BT sieht die grundsätzliche Nichtöffentlich106
Aus politikwissenschaftlicher Sicht: Stefan Marschall, Parlamentarische Öffentlichkeit – Eine Feldskizze, in: Heinrich Oberreuter/Uwe Kranenpohl/Martin Sebaldt (Hrsg.), Der Deutsche Bundestag im Wandel, Ergebnisse neuerer Parlamentarismusforschung, 2. Aufl. 2002, S. 168–186. 107 Siehe Steiger (Fn. 96), S. 710 f. 108 Hans Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, 39/2001, Art. 42 Rn. 9, 26 ff. 109 Ausführlich zum Vorstehenden: Leo Kißler, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, Theorie, Empirie, Reform (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 25), 1976; Hans-Jürgen Hett, Die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen, das Grundrecht der Informationsfreiheit und Informationspfl ichten der Exekutive, 1987, S. 51 ff.; Joachim Link, Die Parlamentsöffentlichkeit, in: ZParl 23 (1992), S. 673–708. 110 BVerfGE 70, 324 (355). 111 Hierzu Röhrich (Fn. 101), S. 644 ff. 112 Zutreffend Steiger (Fn. 96), S. 719, der freilich schon Anfang der 1970er Jahre beklagt, dass dies in der Praxis nicht erreicht werde, S. 720 ff.
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keit113 von Ausschußsitzungen vor. Dies ist verfassungsrechtlich zulässig114 und soll den Abgeordneten ein freieres Redeverhalten ermöglichen sowie das Aushandeln von Kompromissen erleichtern.115 Zu bedenken ist aber, dass der Bundestag große Teile seiner Arbeit in die Ausschüsse verlagert, wo die Spezialisten unter den Abgeordneten die Entscheidungen herstellen, deren Ergebnisse im Plenum dann nachvollzogen werden.116 Angesichts dessen erscheint es sinnvoll, die Ausschüsse als wesentlichen Ort parlamentarischer Arbeit ebenfalls dem Öffentlichkeitsgebot im Sinne des Publikumszugangs zu unterstellen.117 Zwar besteht nach der Geschäftsordnung des Bundestages (§ 69 Abs. 1 Satz 2 GeschO-BT) die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zuzulassen.118 Doch hiervon wird wenig Gebrauch gemacht.119 Seit 1995 ermöglicht § 69a GeschO-BT die sogenannte erweiterte öffentliche Ausschußberatung, an der alle Abgeordneten der fachlich beteiligten Ausschüsse teilnehmen können, womit quasi eine verkleinerte Plenumssituation hergestellt und das Plenum von besonders fachspezifischen Themen entlastet wird.120 Hierbei soll zum Abschluß eine öffentliche Aussprache durchgeführt werden, um die Beschlußempfehlung und den Bericht des federführenden Ausschusses zu beschließen. Das gegen eine generelle Ausschußöffentlichkeit vorgebrachte Effektivitätsargument kann akzeptiert werden, weil Anfang und Ende des parlamentarischen Verfahrens im Plenum öffentlich sind.121 Nicht verhehlt werden soll an dieser Stelle auch, dass das Interesse der Medien an der Alltagsarbeit eher gering ist und oftmals gerade für diese markanteren Eckpunkte, die personalisierbar und visualisierbar sind, ausreicht.122 Von der Berichterstattung ist die Direktübertragung von Debatten, meist nach vorheriger Regierungserklärung zu unterscheiden.123 War dieses Format klassischerweise im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen beheimatet und musste 113
Klein (Fn. 108), Rn. 38: Lediglich kein Zutritt des Publikums, aber Erklärungs- oder Berichtsöffentlichkeit. 114 BVerfGE 1, 144 (152). 115 So Jürgen Jekewitz, Parlamentsausschüsse und Ausschußberichterstattung, Zu Herkunft, Aufgabe und Inhalt einer überkommenen Institutionen, in: Der Staat 25 (1986), S. 399–424 (S. 417 ff.). 116 Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983) – (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 528), 1988, S. 304 ff.; Hett (Fn. 109), S. 148 ff. 117 So bereits Heinrich Oberreuter, Scheinpublizität oder Transparenz? Zur Öffentlichkeit von Parlamentsausschüssen, in: ZParl 6 (1975), S. 77–92. Aktuell: Martin Morlock, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 42 Rn. 24 m.w.Nw. Für eine fakultative Sitzungsöffentlichkeit plädiert Klein (Fn. 108), Rn. 44 f. 118 Außerdem gibt es nach § 70 GeschO-BT die Möglichkeit, öffentliche Anhörungssitzungen einzuberufen. Bei diesen sollen gerade auch Experten aus der Zivilgesellschaft zu Wort kommen. 119 Klein (Fn. 108), Rn. 40; ferner Susanne Linn/Frank Sobolewski, So arbeitet der Deutsche Bundestag, Organisation und Arbeitsweise, Die Gesetzgebung des Bundes, 25. Aufl. 2012, S. 30. Der Text kann unter https://www.btg-bestellservice.de/pdf/10041000.pdf abgerufen werden (zuletzt besucht am 1. März 2012). 120 Auch dies geschieht eher selten; vgl. Hans-Achim Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Kommentar, 2001, § 69a, Rn. 1; Schreiner/Linn (Fn. 119), S. 51. 121 So auch Bröhmer (Fn. 90), S. 106 ff. Skeptischer Kißler (Fn. 109), S. 328 ff. 122 Dies betont auch Marschall (Fn. 96), S. 70 ff. 123 Georg Paul Hefty, Für und wider das Parlamentsfernsehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Dezember 2007, S. 14.
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dort mit anderen Programminhalten konkurrieren, so verfügt das Parlament mit dem gleichfalls öffentlich-rechtlichen Dokumentationskanal „Phoenix“ seit 1997 über ein Spezialmedium, das gegebenenfalls auch zehn Stunden am Stück überträgt (und dabei achtbare Einschaltquoten erzielt).124 Die Direktübertragung erreicht zwar einerseits (weitgehend) ungefi ltert das Publikum, prägt aber andererseits die Debatte:125 Wer weiß, dass die Kamera läuft, spricht und agiert anders und trägt beispielsweise auch andere, übertragungsgeeignete Kleidung. Es mag auch die Rednerauswahl der Fraktionen beeinflussen, so dass die unbekannteren Fachpolitiker den publikumsbekannten „Allzweckwaffen“ weichen müssen. Gleichzeitig machen sich die Spitzenpolitiker im Parlament rar und suchen lieber die direkte TV-Öffentlichkeit, während der Jahre 1997–2007 vornehmlich bei Sabine Christiansen.126 Die Öffentlichkeit, mit der das Parlament es auf diese Weise „im eigenen Hause“ zu tun bekommt, läßt sich grob in drei Gruppen unterteilen: erstens Schüler, Studenten, Soldaten und sonstige Adressaten politischer Bildungsmaßnahmen, zweitens Besucher aus den Wahlkreisen der Abgeordneten und drittens – die auf einer eigenen Tribüne sitzenden – Pressevertreter.127 Alle drei Gruppen sind während der Plenarsitzung in eine passive Zuhörerrolle gezwängt, danach unterscheiden sie sich deutlich: Bei der zweiten Gruppe, den Besuchern aus dem Wahlkreisen, kann ein politisches Interesse vorausgesetzt werden, das zu einer entsprechenden gezielten Kommunikation nicht nur innerhalb der Gruppe, sondern gerade auch mit den „Daheimgebliebenen“ führen kann. Demgegenüber ist bei der ersten Gruppe eher mit einer gewissen Apathie zu rechnen, die freilich eine spontane, private Äußerung von (überraschter) Zufriedenheit oder bestätigten Vorurteilen nicht ausschließt. Die Medienvertreter schließlich sind von Berufs wegen verpfl ichtet, das Erlebte zu kommunizieren, nehmen also eine klar unterscheidbare Sonderrolle ein. Ihre Nachricht muss sich wiederum gegenüber anderen auf dem Markt behaupten.128 Das Parlament fungiert somit erstens gegenüber der Regierung als Öffentlichkeit und stellt sich zweitens bei seiner eigenen Arbeit selbst der Öffentlichkeit. Drittens verfügt das Parlament über weitere, wichtige Schnittstellen zur Öffentlichkeit: die eigene Medienarbeit129 und die Lobby. Während das Publikum – ob auf der Galerie 124 Das Parlamentsfernsehen produziert seit 1995 die Bilder selbst; sie können im Berliner Breitbandkabelnetz digital empfangen werden. Einzelheiten Michael F. Feldkamp/Birgit Ströbel, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994–2003 (begründet von Peter Schindler), 2005, S. 794 ff. Für die Zeit davor vgl. Gregor Mayntz, Die Fernsehberichterstattung über den Deutschen Bundestag, Eine Bilanz, in: ZParl 24 (1993), S. 351–366. 125 Hierzu Armin Burkhardt, Das Parlament und seine Sprache, Studien zu Theorie und Geschichte parlamentarischer Kommunikation, 2003, S. 309 ff. m.w.Nw. 126 Vgl. Eckart Lohse, Kerben im Mikrofonhals, Der Bundestag geht in die Sommerpause, Macht ja nichts, denn die Politik-Prominenz verbreitet sich ja ohnehin lieber im Fernsehen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Juli 2007 Nr. 27, S. 6; Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber, Der Bundestag als Entscheidungszentrum, 1997, S. 250 ff. 127 Vgl. Feldkamp/Ströbel (Fn. 124), S. 782 f. Hinzu kommen natürlich Personen, die das Reichstagsgebäude besichtigen. 128 Zu den damit verbundenen Fragestellungen etwa Marschall (Fn. 96), S. 47 ff. m.w.Nw. 129 Ausführlich zur „Parlaments-PR“: Marschall (Fn. 96), S. 85 ff., 111 ff. Auch wenn der Staat und seine Organe sich am öffentlichen, herrschaftsfreien Diskurs beteiligen, liegt hoheitliches Handeln vor. Hierzu Herbert Bethge, Die staatliche Teilhabe an öffentlicher Kommunikation, in: Af P-Sonderheft 2007, S. 18–21.
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oder medial vermittelt – lediglich zuhören kann, verfügt der Lobbyist über das Mittel der direkten Ansprache und Einflußnahme und interagiert so vor allem mit dem Parlament als Legislativorgan.130
b) Das Parlament als Legislativorgan und sein Verhältnis zur Öffentlichkeit Heute bestehen vielfältige institutionalisierte Beziehungen, nicht nur zwischen dem Parlament, sondern dem Staat als ganzem und den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteuren:131 Die Gesellschaft des kooperativen Pluralismus und der kooperative Staat leben nicht im Zustand der Distanz, der Nicht-Einmischung und der Nicht-Identifi kation zueinander, sondern im Zustand gegenseitiger Durchdringung und Verschränkung.
Auf die von der Korporatismus- und Lobbyismusforschung diskutierten Fragestellungen132 kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden, beispielsweise Veränderungen bei etablierten Mustern staatlich-verbandlicher Kooperation oder die Ausdifferenzierung der Akteurskonstellationen133 und deren Folgen, etwa den zunehmenden Einfluß nur bestimmter Akteure134. Der Einfluß mächtiger Normadressaten auf die sie betreffende Normsetzung kann möglicherweise eine Neubewertung des „allgemeinen“ Gesetzes und der Verfassungsstaatlichkeit insgesamt notwendig machen: Jenseits Forsthoffscher Nachrufe auf den klassischen Staat ist der (nach innen) „kooperierende Verfassungsstaat“135 von heute daher vor die Herausforderung gestellt, verfassungsrechtliche Bindungen und europarechtliche Vorgaben unter veränderten 130 Zur Bedeutung der Verbände vgl. Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, 1955; Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956 (=unveränderter Nachdruck 1978). Aktuell z. B.: Leo Kißler, Parlament und Gesellschaftliche Interessen, in: Graf von Westphalen (Fn. 109), S. 314– 346; Martin Sebaldt/Alexander Straßner, Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, Eine Einführung, 2004, S. 140 ff. 131 Vgl. bereits Ernst-Hasso Ritter, Der kooperative Staat, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, in: AöR 1979, S. 389–413, das nachfolgende Zitat auf S. 409. Umfassend zu dieser Entwicklung die Beiträge in Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der kooperative Staat, Krisenbewältigung durch Verhandlung?, 1995. 132 Hierzu Stammer (Fn. 130), S. 9; Thomas von Winter, Vom Korporatismus zum Lobbyismus, Forschungsstand und politische Realität, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16/3 (2003), S. 37–44 (S. 40 ff.) m.w.Nw. Für einen breit angelegten Überblick siehe Martin Sebaldt/Alexander Straßner (Hrsg.), Klassiker der Verbändeforschung, 2006. 133 Aus der Perspektive der Elitenforschung mit dem vorsichtigen Hinweis auf Chancen für Angehörige von Nicht-Eliten: Viktoria Kaina, Deutschlands Eliten zwischen Kontinuität und Wandel, Empirische Befunde zu Rekrutierungswegen, Karrierepfaden und Kommunikationsmustern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/2004, S. 8–15 (S. 14 f.). 134 Arthur Benz, Kooperativer Staat?, Gesellschaftliche Einflußnahme auf staatliche Steuerung, in: A. Klein/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Möglichkeiten und Grenzen, 1997, S. 88–113 (S. 99 ff.); Walter Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 38, Rn. 42 ff. unter Bezugnahme auf Robert A. Dahl, Who governs? Democracy and Power in an American City, 1961. 135 Lothar Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, Normprägende und normersetzende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 901), 2002.
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Bedingungen zu verwirklichen. Holzschnittartige Lösungsvorschläge führen, das macht die Analyse Michaels deutlich, nicht weiter, viel spricht für den Ansatz der kooperativen Verantwortung.136 Die in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtende Beteiligung von internationalen Anwaltskanzleien an der Gesetzesformulierung bringt zwar zusätzliche Expertise, ist aber eben auch mit dem Risiko des Loyalitätskonfl iktes behaftet, wie das Gesetz zur Stabilisierung des Finanzmarktes (2008) zeigt.137 Problematisch ist ferner die zunehmende Entmachtung des Parlaments durch (Vor-) Entscheidungen in anderen, überdies nicht oder nicht unmittelbar durch Wahlen legitimierten Gremien138 im Rahmen einer extensiv verstandenen, sogenannten deliberativen oder diskursiven Demokratie.139 Denn recht eigentlich betrachtet entspricht der vom Grundgesetz konzipierte republikanische Rechtsstaat den diskurstheoretischen Konzeptionen, die Habermas entwickelt,140 so dass für ein „emanzipierendes“ oder auch nur aus Bequemlichkeit geschehendes Ausbrechen aus der Verfassungsordnung kein Bedarf besteht. Sorge muss es allerdings auch bereiten, dass die Parlamentarier nicht nur als gewählte „Vertreter des ganzen Volkes“ anzusehen sind, sondern die Zahl der Vertreter von Partikularinteressen unter ihnen hoch ist: Gewerkschaftsfunktionäre, Verbandsgeschäftsführer, Funktionäre des Bauernverbands, etc.141 Die Einrichtung von Institutionen (wie Ombudsstellen), die sich Gemeinwohlinteressen oder den Interessen von ansonsten nicht vertretener oder schwierig zu organisierender Gruppen (Kinder, Embryonen, Steuerzahler) annehmen, könnte hier ein Gegengewicht schaffen,142 ist aber ihrerseits nicht frei von Folgeproblemen: Besonders problematisch dürfte in 136
Michael (Fn. 135), S. 313 ff. und passim. Vgl. nur Thomas Salter, Das Geschäft mit den Gesetzen, in: Die Tageszeitung vom 14. August 2009, abruf bar unter http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/das-geschaeft-mit-dengesetzen/ (besucht am 1. März 2012). 138 Hierzu aus neuerer Zeit nur Julia von Blumenthal, Auswanderung aus den Verfassungsinstitutionen: Kommissionen und Konsensrunden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/2003, S. 9–15; Thomas Puhl, Entparlamentarisierung und Auslagerung statlicher Entscheidungsverantwortung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2005, § 48. Zur Entmachtung des Parlaments Eckart Klein, Gesetzgebung ohne Parlament?, Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 24. September 2003, 2004. Diese Entwicklung ist nicht auf das Parlament beschränkt; beispielsweise ist in der Bundesrepublik Deutschland seit längerem das Kabinett als politisches Entscheidungszentrum von Koalitionsausschüssen, uncharmant „Elefantenrunden“ genannt, abgelöst; hierzu Waldemar Schreckenberger, Informelle Verfahren der Entscheidungsvorbereitung zwischen der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen: Koalitionsgespräche und Koalitionsrunden, in: ZParl 3/1994, S. 329–345. 139 Positiv Habermas (Fn. 64), S. 349 ff.; kritisch Ingeborg Maus, Zur Auf klärung der Demokratietheorie, Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, 1992, S. 32 ff., 180 ff.; vermittelnd Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie, Die demokratische Transformation moderner Politik, 1995, S. 102 ff.; Donald D. Searing u. a., Public Discussion in the Deliberative System: Does it Make Better Citizens?, in: British Journal on Political Science 37 (2007), S. 587–618. 140 So auch Bertram Keller, Im Taumel der Freiheit: Demokratie und Repräsentation bei Jürgen Habermas, in: Der Staat 2000, S. 185–207. 141 Hierzu Eike von Hippel, Machtmißbrauch der Lobby als Herausforderung, in: Stefan Brink/ Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung, FS für Hans Herbert von Arnim, 2004, S. 79–86 (S. 80); vgl. auch von Beyme (Fn. 126), S. 207 ff. 142 Vorschläge bei Eike von Hippel, Rechtspolitik: Ziele, Akteure, Schwerpunkte, 1992, S. 161 f., der das Beispiel Greenpeace aber wohl zu unkritisch sieht. 137
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praktischer Weise die Frage nach der angemessenen Gewichtung ihres Einflusses sein. Überdies besteht die Gefahr, dass über das Ziel der „wahren“ Gleichberechtigung hinausgeschossen und eine Zersplitterung, ja Refeudalisierung der Gesellschaft bewirkt würde. Die Gleichheit aller Staatsbürger würde abgelöst von einer Gruppenrepräsentanz, bei der sich langfristig wohl Mächtigkeiten durchsetzten und am Ende zu Stimmgewichtungen führten. Dies überwunden zu haben, hat gerade im deutschen Konstitutionalismus lange genug gedauert.
2. Exekutive und Öffentlichkeit Die geheime Verwaltung143 als Merkmal der modernen bürokratischen Herrschaft im Sinne Max Webers144 wird – neben Armee und Polizei – als Machtmittel gegen die Interessen der bürgerlichen Gesellschaft145 oder – anders gewendet – im Sinne des staatlich definierten Gemeinwohls eingesetzt. Der absolute, aber auch noch der konstitutionelle Staat versuchten nicht nur die Gesellschaft sondern auch das Parlament, das noch nicht als Herrschaftsinstrument sondern als Gegenspieler der monarchischen Regierung fungierte, über das Wissen, die Gründe und das Tun der staatlichen Verwaltung im Unklaren zu halten.146
a) Entwicklung Von dieser gefestigten Ausgangssituation her erscheint der heutige Stand der Verwaltungsöffentlichkeit überraschend groß. Bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland war das Amtsgeheimnis kennzeichnend für die Verwaltung. Dabei blieben die Arcana imperii freilich nicht absolut verschlossen, die Entscheidung über Zeitpunkt, Inhalt, Umfang und Empfänger von Informationsweitergabe lag aber frei und unkontrolliert bei der Verwaltung. Die späten 1960er Jahre brachten in der Bundesrepublik Deutschland eine signifikante Ausweitung leistungs- und sozialstaatlicher Verwaltungsprogramme;147 gleich143 Eine frühe Kritik formulierte Karl Freiherr vom Stein, Brief an Gagern vom 24. August 1821, in: Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. VI, bearb. von Alfred H. von Wallthor, 1965, Nr. 368 (S. 381), „[. . .] daß wir fernerhin von besoldeten, buchgelehrten, interessenlosen und ohne Eigentum seienden Buralisten regiert werden. Das geht, so lange es geht. [. . .] sie erheben ihr Gehalt aus der Staatskasse und schreiben, schreiben, schreiben im stillen, mit wohlverschlossenen Türen versehenen Büro, unbekannt, unbemerkt, ungerühmt, und ziehen ihre Kinder wieder zu gleich brauchbaren Schreibmaschinen an.“ 144 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie (posthume Erstausgabe 1922), 5. revidierte Aufl. 1972, nachgedruckte Studienausgabe, 1985, S. 572. 145 So die Einschätzung von Habermas (Fn. 9), S. 155; vgl. bereits Welcker (Fn. 93), S. 250, 281 und passim. 146 Ausführlich hierzu Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie, 1986; Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, 1992, S. 229 ff., 381 ff.; Lutz Raphael, Recht und Ordnung, Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, 2000; Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung, Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, 2005. 147 Vgl. bereits die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, in: Verhand-
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zeitig wurden gegenüber der Verwaltung Beteiligungs- und Mitentscheidungsforderungen geltend gemacht und Legitimationsmodelle diskutiert.148 Das Geheimhaltungsprinzip erklärte sich nicht mehr von selbst, umgekehrt wurde die Informiertheit und Einbindung individueller Betroffener oder einer (räumlich und sachlich begrenzten) Allgemeinheit als Element erfolgreicher Verwaltung erkannt, um gerade auch die intendierten umfangreichen Vorhaben verwirklichen zu können.149 Dabei blieb die größere Verwaltungsöffentlichkeit funktionell darauf beschränkt, die Akzeptanz von Verwaltungshandeln zu erhöhen; eine Einbindung in Entscheidungsabläufe oder ein generelles Akteneinsichtsrecht waren auf dieser Entwicklungsstufe weder vorstellbar noch gewünscht.150 War eine echte gesellschaftliche Beobachtung und Kontrolle der Verwaltung solcherart noch nicht möglich, so entwickelte sich in der Folgezeit eine begrenzte Aktenöffentlichkeit. Die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes (VwVfG) und der Länder lösten mit diesem Prinzip den überkommenen Grundsatz der Nichtöffentlichkeit ab. § 29 Abs. 1 VwVfG regelt die Akteneinsicht durch Beteiligte am Verwaltungsverfahren dergestalt, dass grundsätzlich ein ermessensunabhängiger Anspruch auf Akteneinsicht besteht, soweit dies zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Nach Abs. 2 der Vorschrift schränken Geheimhaltungsinteressen der Verwaltung das Recht auf Akteneinsicht ein; sie unterliegen ihrerseits aber einer Kontrolle durch die Gerichte151. Zweck des Rechts auf Akteneinsicht ist es, dem Betroffenen Klarheit über die von der Verwaltung bereits gesammelten tatsächlichen oder rechtlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung zu verschaffen, damit er seine im Rechtsstaat unverzichtbaren Mitwirkungsmöglichkeiten auch wirksam wahrnehmen kann.152 Die auf diese Weise ermöglichte unmittelbare rezeptive Öffentlichkeit blieb allerdings an ein „rechtliches Interesse“ gebunden. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte den Beteiligten Akteneinsicht gewährt werden nur zur Klärung tatsächlicher Unsicherheit über ein Rechtsverhältnis, zur Regelung rechtlich relevanten Verhallungen des Deutschen Bundestages, 5. Wahlperiode, Stenographische Berichte Bd. 63, S. 3656–3665 (80. Sitzung vom 13. Dezember 1966): „Gesamtprogramm“, „fortschrittliche Gesellschaftspolitik“, „konzertierte Aktion“ und „Globalsteuerung“. Zur „konzertierten Aktion“ zwischen 1967 und 1977 vgl. Manfred Kern, Konzertierte Aktion als Versuch einer Verhaltensabstimmung zwischen Regierung und Wirtschaftsverbänden (Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Untersuchungen Bd. 24), 1973. 148 Hierzu den Überblick bei Edwin Czerwick, Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland, Von Weimar zur Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2002), S. 183–203 (S. 197 ff.). 149 Prägnant Helge Rossen-Stadtfeld, Kontrollfunktion der Öffentlichkeit – ihre Möglichkeiten und ihre (rechtlichen) Grenzen, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S. 117–203 (S. 123); ausführlich Bernhard W. Wegener, Arkantradition und Informationsfreiheitsrecht, 2006. 150 Vgl. etwa Fritz Haueisen, Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren, in: NJW 1967, S. 2291–2294; Häberle (Fn. 95), S. 107 f. 151 Hierzu Ursula Ziegler, Die gerichtliche Kontrolle der Geheimhaltungsmittel der Exekutive, in: ZRP 1998, S. 25–28. 152 Vgl. etwa BVerwE 92, 132 (136 ff.). Mit Blick auf das schweizerische Recht: Alexander Dubach, Das Recht auf Akteneinsicht, Der verfassungsmässige Anspruch auf Akteneinsicht und seine Querverbindungen zum Datenschutz – unter besonderer Berücksichtigung der elektronischen Datenverarbeitung (Computer und Recht, Bd. 20), 1990, S. 1 ff.
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tens nach der Einsichtnahme und zur Erlangung einer hinlänglich gesicherten Anspruchsgrundlage.153 Lediglich berechtigte Interessen – die im Rahmen von § 12 Abs. 1 GBO eine Grundbucheinsicht rechtfertigen können – sollten ausgeschlossen sein.
b) Heutiger Stand Damit ist das Verwaltungsverfahren vom Prinzip der „beschränkten Aktenöffentlichkeit“ geprägt. Allerdings können weiterreichende Einsichtsrechte durch besondere Rechtsvorschrift begründet werden, um das Informationsinteresse der Öffentlichkeit oder eines größeren Kreises der Bevölkerung zu befriedigen. Dementsprechend können die zuständigen Behörden nach pfl ichtgemäßem Ermessen in atomrechtlichen, gentechnischen oder immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren Akteneinsicht gewähren (z. B. § 6 AtVf V, § 4 Abs. 1 Satz 2 GenTAnhV, § 10a 9. BImSchV). Auch diese beträchtliche Erweiterung der Publizität knüpft die Kontrolle der Verwaltung noch an ein konkretes Genehmigungsverfahren, Einsichtsrechte enden also mit dem Abschluß des Verfahrens. Das Prinzip der beschränkten Aktenöffentlichkeit wird an dieser Stelle demzufolge noch nicht durchbrochen. Nicht zu unterschätzen ist auch der internationale Einfluß auf die Fortentwicklung der Verwaltungsöffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Neben einer Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats aus dem Jahre 1981154 ist hier jedoch hauptsächlich der Einfluß des Rechts der Europäischen Gemeinschaften/Europäischen Union zu nennen. Dieser hat sich, der an einzelnen Politikbereichen orientierten Struktur des Gemeinschaftsrechts folgend, mit Blick auf die Verwaltungsöffentlichkeit schrittweise und punktuell bemerkbar gemacht. Am Anfang dieser Entwicklung stand das Umweltschutzrecht (seit 1987 in Art. 130r EWGV, heute Art. 191 ff. AEUV niedergelegt). In den diesbezüglichen Aktionsprogrammen hatte die Gemeinschaft die wichtige Rolle hervorgehoben, die der Information der Öffentlichkeit bei den Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zukommt. Der hieraus entwickelte Grundsatz der umfassenden Umweltinformation hat einerseits zur Begründung von Informationspfl ichten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten geführt und andererseits ein Informationszugangsrecht der Bürger etabliert. Zu dessen Verwirklichung im Bereich des Umweltrechts wurde v. a. die Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt155 verabschiedet. Diese hat in der Bundesrepublik Deutschland für jedermann ein subjektives Recht auf Zugang zu 153
Entwurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes, BT-DrS. 7/910, S. 53. Ministerkomitee, Empfehlung Nr. R (81) 19, vom 25. November 1981, Präambel, Erwägungsgründe 3 und 4, abruf bar unter http://www.access-info.org/documents/Access_Docs/Thinking/ Get_Connected/Recommendation_81_19.pdf (zuletzt besucht am 1. März 2012). Daraus ist die Konvention über den Zugang zu öffentlichen Dokumenten hervorgegangen (vom 18. Juni 2009), die allerdings noch nicht in Kraft getreten ist; Deutschland hat sie bislang noch nicht unterschrieben. 155 Vom 7. Juni 1990, ABl. EG Nr. L 158/1990, S. 56–58. Hierzu Matthias von Schwanenflügel, Das Öffentlichkeitsprinzip des EG-Umweltrechts – Zur Bedeutung der Richtlinie über den freien Zugang zu Umweltinformationen, in: DVBl. 1991, S. 93–101. 154
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Umweltinformationen begründet,156 das nur durch den gebotenen Schutz öffentlicher Belange begrenzt wird (vgl. § 7 f. UIG). Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen ist die Erweiterung bestehender und die Öffnung neuer Diskursräume unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationsformen.157 Damit ist eine neue Qualität der Behördenkontrolle durch Öffentlichkeit erreicht, die durch das deutsche Recht zunächst allerdings nur in Ansätzen verwirklicht wurde. Landesverfassungsrechtlich haben Umweltinformationsansprüche Grundrechtsrang verliehen erhalten (etwa in Art. 6 Abs. Verfassung Mecklenburg-Vorpommern oder Art. 21 Abs. 4 Verfassung Brandenburg). Daneben statuiert Art. 21 Abs. 3 S. 2 der brandenburgischen Landesverfassung ein originäres Grundrecht auf Informationszugang für Verbände. Zutreffenderweise wird die Verknüpfung zur politischen Mitgestaltung hergestellt und so der republikanische Bezug der Öffentlichkeit unterstrichen. So sehr das grundsätzlich zu begrüßen ist, so berechtigt sind Hinweise auf damit verbundene Risiken, die sich im Zusammenhang mit Demokratie generell ergeben: Sind die Bürger hinreichen kompetent und überhaupt (nachhaltig) interessiert? Da einerseits aufgeklärter Absolutismus, Aristokratie oder paternalistisch-fürsorgliche Expertenherrschaft keine echten Optionen mehr darstellen, und andererseits Bürger der Art, wie sie Paul Kirchhof beschrieben hat,158 nicht „vom Himmel fallen“ und überdies das Massenpublikum durchaus anfällig für demagogische Ansprache ist, kann eine Lösung langfristig nur in freiheitlicher, diskriminierungsfreier und befähigender Bildung liegen.159 Verantwortung hierfür tragen jedoch keineswegs nur die staatlichen Bildungseinrichtungen, sondern zuvörderst die Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) aber auch Familien insgesamt und gesellschaftliche Gruppen, Vereine, Parteien, Kirchen. Der sich in diesen landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen andeutende Schritt hin zu einer „allgemeinen Aktenöffentlichkeit“, wie es sie beispielsweise schon länger in Spanien, Schweden, Portugal oder den USA gibt, hat sich in der Bundesrepublik Deutschland erst allmählich durchsetzen können.160 Das Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG)161 vom 5. September 2005 ist am 1. Januar 2006 in Kraft getreten.162 Nach seinem § 1 Abs. 1 Satz 1 hat jedermann einen voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von Bundesbehörden. Ein Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder sonstiger Art ist nun nicht mehr erforderlich. Nach wie vor besteht aller156
Zum Prozess siehe Roland Bieber, Informationsrechte Dritter im Verwaltungsverfahren – Ansätze zu legislativer und dogmatischer Neubewertung –, in: DÖV 1991, S. 857–867. 157 Hierzu und zum folgenden Rossen-Stadtfeld (Fn. 149), S. 137 f. 158 Paul Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, Kontinuität und Erneuerung des deutschen Verfassungsstaates in Freiheitlichkeit, Weltoffenheit und demokratischer Solidarität, in: DVBl. 1999, S. 637–657 (S. 640 ff.), zu den Bedrohungen: „Orientierungsarmut der Freiheitsberechtigten“, S. 650 f. 159 So unter anderem Frankenberg (Fn. 5), S. 201 ff. 160 Vgl. etwa das rechtspolitische Plädoyer bei Jean Angelov, Grundlagen und Grenzen eines staatsbürgerlichen Informationszugangsanspruchs, 2000. 161 BGBl. 2005 I S. 2722. 162 Hierzu Michael Kloepfer/Kai von Lewinski, Das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG), in: DVBl. 2005, S. 1277–1288; Dieter Kugelmann, Das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes, in: NJW 2005, S. 3609–3613.
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dings das Antragserfordernis (§ 7 IFG); aber grundsätzlich muss dem Antragsteller Zugang zu den begehrten Informationen gewährt werden, es sei denn, im Einzelfall stehen schützenswerte und höherwertige Interessen Dritter dem Informationszugang entgegen (§ 5 und 6 IFG). Die Behörde muss dies in jedem Einzelfall prüfen und darlegen. Allerdings bestehen weitere Ausnahmetatbestände, die das Recht auf Informationszugang einschränken oder ganz verwehren können. Diese zahlreichen, kasuistisch aufgezählten Ausnahmen sollen die Funktionsfähigkeit der Verwaltung gewährleisten sowie das Staatswohl und Staatsinteresse schützen (§ 3 und 4 IFG).163 So darf beispielsweise Zugang zu personenbezogenen Daten nur dann gewährt werden, soweit das Informationsinteresse des Antragstellers das schutzwürdige Interesse des Betroffenen überwiegt oder der Betroffene eingewilligt hat. Bezüglich der Inhalte von Personalakten und Personalverwaltungssystemen besteht kein Informationszugangsanspruch. Informationen über Namen und dienstliche Anschriften von Beschäftigten sollen jedoch grundsätzlich zugänglich gemacht werden. Dasselbe gilt für Informationen zu Gutachtern und Sachverständigen. Zugang zu Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen wird nur mit Zustimmung des Unternehmens gewährt.
c) Probleme Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Verwaltung immer häufiger die Adressaten ihrer Steuerungsbemühungen nicht nur im Vorfeld der Entscheidung einbezieht, sondern auch mit ihnen über die Modalitäten des Vollzugs verhandelt, also tatsächlich kooperativ agiert.164 Dies wird mit Blick auf Rechtsstaatlichkeitsanforderungen und auf Effizienz des Verwaltungshandelns thematisiert, aber auch unter politischlegitimatorischen Gesichtspunkten diskutiert.165 Unter Rechtsstaatsgesichtspunkten ist an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu erinnern. Letztendlich könnte die Gefahr bestehen, dass, wenn der Bürger als Kunde der Verwaltung verstanden wird und auch entsprechend auftritt, die unterschiedliche Argumentations- und Tauschfähigkeit der Kunden selektiv wirken kann.166 Während also auf der einen Seite Unterschiede zwischen den Bürgern drohen, die aus deren Kundenposition resultieren, sieht sich die Verwaltung auf der anderen Seite dem Verbandseinfluß ausgesetzt, der in einem solchen Verhandlungsprozess ausge163 Für ausführliche Erläuterungen vgl. Serge-Daniel Jastrow/Arne Schlatmann, Informationsfreiheitsgesetz, Kommentar, 2006, § 3, Rn. 15 ff.; § 4. Aktuell: Friedrich Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, Kommentar, 2. Aufl 2012, § 3 und § 4. 164 Umfassend Nicolai Dose, Die verhandelnde Verwaltung, Eine empirische Untersuchung über den Vollzug des Immissionsschutzrechts (Schriften zur Rechtspolitologie, Bd. 4), 1997. Dort S. 19 ff. zu den verschiedenen Forschungsansätzen. Vgl. außerdem Arthur Benz, Kooperative Verwaltung, Funktionen, Voraussetzungen und Folgen, 1994; Helge Rossen, Vollzug und Verhandlung, Die Modernisierung des Verwaltungsvollzugs, 1999, S. 336 ff. 165 Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, Genese, aktuelle Bedeutung und funktionelle Grenzen eines Bauprinzips der Exekutive, 1991, S. 150 ff., 299 ff. und passim; Benz (Fn. 164), S. 318 ff. 166 Benz (Fn. 134), S. 98.
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übt wird.167 Immerhin tritt er offen zu Tage und ermöglicht so den Bürgern Einblicke in Interaktionsprozesse, die es nach dem alten Modell auch gegeben hatte. Aus politisch-legitimatiorischer Perspektive stehen einerseits asymmetrische Einflußmöglichkeiten der Kooperationspartner und andererseits die legitimationsbeschaffende Funktion solcher Kooperation im Mittelpunkt des Interesses. Dabei wird ausdrücklich gewarnt: Je mehr sich die öffentliche Verwaltung in „sozietale Diskurse“ neuer Art verstricken läßt, umso weniger kann sie der demokratisch-rechtsstaatlichen Form des offi ziellen Machtkreislaufs genügen. Derselbe Neokorporatismus, der die Gefahren einer gesamtgesellschaftlichen Desintegration bewältigen und damit die von neuem auf brechenden Legitimationspropbleme eindämmen soll, stört den in eigener Regie ablaufenden Prozeß der Selbstlegitimation.168
Die intensivsten Formen der Beteiligung von Bürgern sind sicher einerseits auf der kommunalen Ebene insgesamt und sektoral im Bereich der Bauleit- und Stadtentwicklungsplanung andererseits zu beobachten.
d) Zwischenfazit Das Verhältnis von Exekutive und Öffentlichkeit hat trotz der vorstehend skizzierten Entwicklungen einen strukturellen Antagonismus bewahrt. Kooperation und Bürgerbeteiligung sind zwar als wichtige Elemente in die Arbeit der Verwaltung aufgenommen worden und tragen erheblich zur Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen bei. An der Grundkonstellation – Bindung der Behörden an Recht und Gesetz und die daraus resultierende, gegebenenfalls zwangsweise Durchsetzung derselben – hat das gleichwohl nichts geändert. Im dritten Teil soll dies im Lichte der Erfahrungen von „Stuttgart 21“ noch einmal untersucht werden (unten III).
3. Judikative und Öffentlichkeit Die Reichsjustizgesetze, also Gerichtsverfassungsgesetz (GVG),169 Strafprozessordnung (StPO),170 Zivilprozessordnung,171 Konkursordnung172 und Rechtsanwaltsordnung173 sind gleichzeitig am 1. Oktober 1879 in Kraft getreten.174 Ihre Funktion war es, die politische Einigung Deutschlands im Deutschen Reich von 1871 auf dem 167
Mit Blick auf die Regierung Rudzio (Fn. 131), S. 75 ff. Habermas (Fn. 64), S. 423. 169 Vom 27. Januar 1877, RGBl. 1877 S. 41; Neufassung vom 9. Mai 1975 BGBl. 1975 I S. 1077, zuletzt geändert BGBl. 2003 I S. 3007. 170 Vom 1. Februar 1877, RGBl. 1877 S. 253; BGBl. 1950 I S. 455, Neufassung BGBl. 1987 I S. 1074, 1319. 171 Vom 30. Januar 1877, RGBl. 1877 S. 83; BGBl. 1950 I S. 455. 172 Vom 10. Februar 1877, RGBl. 1877 S. 351 in der Fassung vom 20. Mai 1898, RGBl. 1898 S. 612. Heute: Insolvenzordnung vom 4. Oktober 1994 (BGBl. 1994 I S. 2866). 173 Vom 1. Juli 1878, RGBl. 1878 S. 177; Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1. August 1959 (BGBl. 1959 I S. 565). 174 Zu den Reichsjustizgesetzen insgesamt siehe die Beiträge in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), 75 Jahre Reichsjustizgesetze, 1954. 168
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für den jungen Nationalstaat wichtigen Gebiet der Justiz nachzuvollziehen.175 Gleichzeitig legten sie Zeugnis ab für den Stand der Rechtsstaatlichkeit176 der damaligen Zeit. Hierzu gehörte die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen aller Gerichtszweige (§ 169 Satz 1 GVG)177 und die öffentliche Verkündung des Urteilstenors (§ 173 Abs. 1 GVG), die selbst dann ohne weiteres öffentlich zu erfolgen hat, wenn die Öffentlichkeit aufgrund besonderer Gründe ausgeschlossen war. Sinn dieser Regelungen ist es generell und besonders mit Blick auf die Strafgerichtsbarkeit, dass keine Geheimjustiz erfolgt.178 Es handelt sich um eine der „grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats“179 und soll das Vertrauen in die Justiz festigen. Die Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens ist von herausragender Bedeutung für die Rechtspflege;180 deshalb dürfen Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz nur aus zwingenden Gründen in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen gemacht werden. Eine weitere Funktion der Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens ist es, der Möglichkeit vorzubeugen, dass sachfremde Umstände auf das Gericht und so auf das Urteil Einfluss gewinnen.181 Hier ist jedoch zu beachten, dass nicht nur zu weitreichende Einschränkungen der Öffentlichkeit, sondern auch deren Überdehnung den Richterspruch mit sachfremden Einflüssen konfrontieren können. Dementsprechend kann selbstverständlich in den Medien über Gerichtsverhandlungen berichtet werden,182 allerdings verbietet § 169 Satz 2 GVG Ton- und Bildaufzeichnungen, um das Massenpublikum als wirkungsmächtigen und eventuell verzerrenden Faktor auszuschließen. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist allerdings nicht unumstritten.183 Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht wird dieses Verbot überdies durch § 17a BVerfGG durchbrochen, wonach sowohl Teile der mündlichen Verhandlung als auch der öffentlichen Entscheidungsverkündung im Rundfunk übertragen werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner „N-TV-Entscheidung“ vom 24. Januar 2001 mehrheitlich bekräftigt, dass die Ton- und Bildberichterstattung aus Gerichtsverhandlungen unzulässig ist, und die Öffentlichkeit als „Saalöffentlichkeit“ defi niert.184 175 Allgemein Richard Thoma, Das Staatsrecht des Reiches, in: Gerhard Anschütz/ders. (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1930, unveränderter Nachdruck 1998, S. 69–80 (S. 77). 176 Näher: Otto Hintze, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat, in: ders., Regierung und Verwaltung, Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hrsg. von Gerhard Oestreich, 2. Aufl. 1967, S. 97–163; Reinhold Zippelius, Die Entstehung des demokratischen Rechtsstaates aus dem Geiste der Auf klärung, in: JZ 1978, S. 1125–1131. 177 Vgl. zum folgenden insgesamt Otto Rudolf Kissel/Herbert Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, § 169. 178 Grundlegend Anselm von Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1821. 179 BGHSt 7, 218 (221); 9, 280 (281) 180 BVerfGE 70, 324 (358). Siehe grundsätzlich hierzu Eberhard Rothberg, Öffentlichkeit der Rechtspflege, in: Studium Generale 23 (1970), S. 752–768. 181 BGHSt 9, 280 (282). 182 BVerfGE 103, 44 (61 f.). 183 Vgl. Klaus Olbertz, Fernsehöffentlichkeit von Gerichtsverfahren unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG, 2002. 184 BVerfGE 103, 44 (62) = EuGRZ 2001, S. 59–70. Eine kritische Analyse des Urteils bei Tobias Gostomzyk, Die Öffentlichkeitsverantwortung der Gerichte in der Mediengesellschaft (Materialien zur interdisziplinären Medienforschung, Bd. 54), 2006, S. 159 ff. m.w.Nw.
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Ohne dies hier vertiefen zu können, so muss doch die Bedeutung dieses Urteils für die Grundrechtsdogmatik insgesamt unterstrichen werden. Aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG folge ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf Zugang, wenn eine im staatlichen Verantwortungsbereich liegende Informationsquelle auf Grund rechtlicher Vorgaben zur öffentlichen Zugänglichkeit bestimmt ist, der Staat den Zugang aber verweigert.185
Diese Neuausrichtung einer objektiv-rechtlichen Bindung des Gesetzgebers in ein subjektives Recht war notwendig, um dem Rundfunkveranstalter die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zu eröffnen. Diesen Weg hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor stets abgelehnt,186 seither aber erneut beschritten.187 Weite Teile der familiengerichtlichen Streitigkeiten sind kraft Gesetzes von der Öffentlichkeit ausgenommen (§ 170 GVG). In Unterbringungssachen kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden (§ 171 a GVG); ebenso zum Schutze der Privatsphäre (§ 171 b GVG) oder zum Schutze anderer wichtiger Rechtsgüter und Interessen (§ 172 GVG). Eine besonders wichtige Kategorie bildet hierbei heute der Schutz von Prozessbeteiligten, Opfern und Zeugen.188 Angesichts der heutigen Bedeutung von Massenmedien läßt sich die Frage nach einer eigenen Öffentlichkeitsarbeit der Justiz nicht mehr verdrängen.189 Dabei sollte es weniger um Beiträge zur politischen Meinungsbildung durch hohe und höchste Richter gehen, als vielmehr um eine sachdienliche Information über die Sacharbeit der Gerichte. Öffentlichkeitsarbeit der Justiz hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits 1997 als direkt aus der Verfassung abgeleitete Pfl icht bezeichnet.190 Öffentlichkeitsarbeit kann und sollte gelegentlich Hilfestellung zu einer Versachlichung der Diskussion geben. Umgekehrt vermag eine verstärkte Außenorientierung des Justizapparates das Nachdenken über die eigene Rolle und Tätigkeit im republikanischen Rechtsstaat fördern.
4. Eine Zwischenbilanz zu Staat und Öffentlichkeit a) Zustimmungsfunktion Der moderne Staat ist auf die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft angewiesen, wenn er erfolgreich Politik machen und regieren will.191 „Regieren“ heißt, dass verbindliche Entscheidungen herbeigeführt werden, um in bestimmten Politikfeldern 185
BVerfGE 103, 44 (44, 2. Leitsatz). Etwa in BVerfGE 91, 125 (136 ff.). 187 Vgl. BVerfGE 105, 279 (300 f.). 188 Hierzu Walter Odersky, Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nach dem Opferschutzgesetz, in FS Pfeiffer 1988, S. 325–338; Helmut Seitz, Das Zeugenschutzgesetz, in: JR 1988, S. 309–313. 189 Weiterführend Gostomzyk (Fn. 184), S. 176 ff. Siehe ferner Martin W. Huff, Notwendige Öffentlichkeitsarbeit der Justiz, in: NJW 2004, S. 403–407 plus S. 432. 190 BVerwG, in: NJW 1997, S. 2694–2696 mit Besprechung von Martin W. Huff, Die Veröffentlichungspfl icht der Gerichte, in: NJW 1997, S. 2651–53. 191 So bereits Hans F. Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, in: Der Staat 1970, S. 161–186 (S. 172). 186
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konkrete Ziele zu erreichen, indem das Verhalten anderer Beteiligter gesteuert wird.192 Dieses Regieren geschieht durch Rechtssetzung193 und Rechtsanwendung, also in allen drei Staatsgewalten. Folgt man bei deren Betrachtung einem institutionentheoretischen Ansatz, so kommt man nicht umhin, die Perspektiven von „öffentliche[m] Recht, Politikwissenschaft und Soziologie eng zu verzahnen“194. Dies soll nachfolgend aus der Perspektive des öffentlichen Rechts versucht werden, wobei ergänzend auf Erkenntnisse der Governanceforschung zurückgegriffen wird. Auch diese folgt einem institutionalistischen Ansatz, soweit sie den akteurszentrierten Steuerungsansatz der „Government-Perspektive“ zu überwinden sucht,195 und nimmt das Verhältnis von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren,196 also Strukturen in den Blick. Erfaßt werden von der Governanceforschung nicht zuletzt Unternehmen, deren gesellschaftliche Verantwortlichkeit untersucht wird.197 Die Steuerung des Verhaltens seiner Bürger erreicht der Staat nicht von selbst; das wirksame Regieren ist nicht voraussetzungsfrei, eine Einbeziehung der gesellschaftlichen Sphäre notwendig. Dies spricht bereits Art. 6 der Französischen Menschenund Bürgerrechtserklärung aus: La loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont le droit de concours personellement ou par leurs représentants à sa formation.
Hier wird eine Erkenntnis aufgegriffen, die Immanuel Kant formuliert hat: Da die Gesetzgebung niemandem Unrecht tun dürfe, um ohne Transzendenzbezug legitimiert zu sein, und da niemand sich selbst Unrecht zufüge, könne 192 Statt aller Karl-Rudolf Korte/Manuel Fröhlich, Politik und Regieren in Deutschland, Strukturen, Prozesse, Entscheidungen, 2004, S. 15, 175 ff. 193 Hierzu die ausführliche Untersuchung von Schulze-Fielitz (Fn. 116), insbesondere S. 184 ff., 246 ff., 375 ff. 194 Hans-Joachim Mengel, Institutionelles Denken im öffentlichen Recht, in: Gerhard Göhler/Kurt Lenk/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Die Rationalität politischer Institutionen, Interdisziplinäre Perspektiven, 1990, S. 403–422 (S. 409). In diese Richtung auch Rehberg (Fn. 95). 195 Hierzu Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (Schriften zur Governance-Forschung, Bd. 1), 2. Aufl. 2006, S. 11–20, die eher eine Akzentverschiebung als einen Paradigmenwechsel im Gange sieht. Ähnlich bereits Helmut Willke, Kontextsteuerung durch Recht? Zur Steuerungsfunktion des Rechts in polyzentrischer Gesellschaft, in: Manfred Glagow/ders. (Hrsg.), Dezentrale Gesellschaftssteuerung, Probleme der Integration polyzentrischer Gesellschaften, 1987, S. 3–26; Fritz W. Scharpf, Politische Steuerung und Politische Institutionen, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), S. 10–21 (S. 14 f.). 196 Werner Jann, Der Wandel verwaltungspolitischer Leitbilder: Von Management zu Governance?, in: Klaus König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2002, S. 279–303; Wulf Damkowski/Claus Precht, Public Management, Neuere Steuerungskonzepte für den öffentlichen Sektor, 1995; sowie die Beiträge in Arthur Benz (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Eine Einführung, 2004. Vgl. aber auch Helmut Willke, Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht, Schritte zur Legitimierung einer wissensbasierten Infrastruktur, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 685–711, der für eine Anleitung zur Selbststeuerung plädiert (S. 706). Kritisch zu Willkes Ansatz Habermas (Fn. 64), S. 405 ff., 416 ff., der demgegenüber die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse in einem „Zentrum-Peripherie-Modell“ verortet (S. 429 ff.). 197 Zur Corporate Social Responsibility vgl. Thomas Clarke/Marie dela Rama (Hrsg.), Corporate Governance and Globalization, Vol. II: Development and Regulation, 2006; Matthias Münstermann, Corporate Social Responsibility: Ausgestaltung und Steuerung von CSR-Aktivitäten, 2007.
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nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.198
Dabei geht es nicht nur um eine formale Mitwirkung, sondern um die inhaltliche Zustimmung der Bürger.199 Diese Zustimmung ist nicht selbstverständlich, sie muss durch im Wortsinne mehrheitsfähige Politik erwirkt werden; dabei stehen nicht länger nur die Ziele im Wettstreit miteinander: Die Wertgemeinschaft, auf der die Bürgerdemokratie beruhte, ist in der Massendemokratie aufgelöst, eben weil die extensiv entfaltete Demokratie auch die unbürgerliche Bevölkerung gleichberechtigt umfaßt und aktiviert. Nicht mehr auf gemeinsamer Wertgrundlage wird nunmehr gestritten, sondern um die Wertgrundlage.200
Ein Blick auf die Auseinandersetzungen um die Volkszählung,201 den § 218 StGB202 sowie den NATO-Doppelbeschluß und die nachfolgende Stationierung von Mittelstreckenraketen 203 zeigt, welche Widerstände es dabei mitunter zu überwinden gilt und welche mentalitätsgeschichtlichen Erklärungen 204 hierfür in Betracht zu ziehen sind (zu aktuellen Fragen unten III). Weitere Grundlagen der vom Staat benötigten Zustimmung sind einerseits die Rückbindung politischer Entscheidungen an die öffentliche Meinung,205 andererseits die informatorische Einbindung betroffener Gruppen oder sogar die konkrete Be198 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 46, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band IV, 1963, S. 432. 199 Josef Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, Stationen in einem laufenden Prozeß, in: Petra Kolmer/Harald Korten (Hrsg.), Recht, Staat, Gesellschaft: Facetten der politischen Philosophie, 1999, S. 21–68 (S. 26). Vgl. auch Bas Denters/Oscar Gabriel/Mariano Torcal, Political confidence in representative democracies: socio-cultural vs. political explanations, in: Jan W. van Deth/José Ramon Montero/Anders Westholm (Hrsg.), Citizenship and Involvement in European Democracies, A comparative analysis, 2007, S. 66–87. 200 Trotz des heute irritierend erschrocken klingenden Tones nach wie vor zutreffend Theodor Geiger, Demokratie ohne Dogma, Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, 1963, S. 356 (Hervorhebungen im Original). 201 Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25. März 1982, BGBl. 1982 I S. 369; BVerfGE 65, 1; Barbara Pfetsch, Volkszählung ’83: Ein Beispiel für die Thematisierung eines politischen Issues in den Massenmedien, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß, Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1983 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 49), S. 201–231. 202 BVerfGE 46, 160 und 90, 145. Christian Starck, Der verfassungsrechtliche Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens, in: JZ 1993, S 816–822. 203 BVerfGE 66, 39 und 68, 1. Theodor Schweisfurth, Die „Zustimmung“ der Bundesregierung zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland, in: AVR 1984, S. 195–219; Stephan Layritz, Der NATO-Doppelbeschluß, Westliche Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von Innen-, Bündnis- und Außenpolitik, 1992, S. 91 ff. 204 Pointiert Reinhard Schwickert, Soziale Herrschaftsverweigerung in der westdeutschen Gegenwart, Die politischen Folgelasten einer lage-entrückten Staatsräson, in: Der Staat 1986, S. 521–544. 205 Hierzu Niklas Luhmann, Öffentliche Meinung, in: ders., Politische Planung, Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 1971, S. 9–34. Bereits Welcker (Fn. 93), S. 253, hatte erklärt, dass sich der Gesamtwille des Volkes in der öffentlichen Meinung spiegele, die „Eins und Dasselbe mit der Freiheit, Gerechtigkeit und Gesundheit des Staats“ sei und diesen so zu „zu einem Gemeinwesen des ganzen Volkes“ mache (S. 262).
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rücksichtigung von deren Interessen. Öffentlichkeit wirkt so als „System, in dem die Agenda des politischen Systems mitdefi niert wird“.206 Öffentlichkeit ist heterogen und vielgestaltig, sie ist, um John Stuart Mill zu paraphrasieren,207 ein Marktplatz vieler Ideen. Dass Öffentlichkeit als Kommunikationssystem dabei Eigengesetzlichkeiten bei der Sammlung, Verarbeitung und Anwendung von Informationen, nicht zuletzt im Rahmen der Meinungsbildung, folgt, kann hier nur erwähnt werden.208 Die klassischen und modernen Demokratietheorien 209 erfassen die Bedeutung und Funktion zivilgesellschaftlicher Akteure naturgemäß unterschiedlich. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Voraussetzungen und Auswirkungen verstärkte und in neuartigen Formen sich vollziehende politische Partizipation für das Gelingen demokratischer Ordnungen hat.210 Aus der Sicht der prozessualen Demokratietheorien gehört zu den Voraussetzungen einer auf Verständigung orientierten politischen Beteiligung das Zusammenspiel von zwei Sphären der Öffentlichkeit. Dabei handelt es sich nach Habermas erstens um eine „verfaßte“ Öffentlichkeit, die auf Meinungsund Willensbildung im Parlament und im Rechtswesen des Verfassungsstaates beruht. Diese wird ergänzt durch eine „nichtverfaßte“ Öffentlichkeit, die vor allem aus autonomen, zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen besteht;211 insbesondere Bürgerinitiativen können bislang unpolitischen Menschen als Anlaufstelle dienen. Prozessuale Demokratietheorien sind allerdings zu stark auf die wachsende Partizipation fokussiert, als dass sie zur gleichzeitigen Optimierung mehrerer Ziele – darunter eben auch effektive politische Steuerung und Entscheidungsfähigkeit angesichts komplexer Problemlagen – beitragen. Geht man wie neuere Ansätze der Demokratietheorie davon aus, dass es für den Erfolg einer Demokratie nicht nur auf den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung ankommt, sondern auch Institutionen und Akteure sowie eine Streuung wirtschaftlicher, bildungsbezogener und gesellschaftlicher Machtressourcen eine wichtige Rolle spielen,212 so kann das Verlangen nach mehr Partizipation als Chance und nicht primär als Gefährdung von Demokratie begriffen werden.213 Das solcherart als „Sozialkapital“ verstandene gemeinschaftliche Handeln und das daraus gegebenenfalls folgende Streben nach größerer politischer Beteiligung ist allerdings keine unwan206
Gerhards/Neidhardt (Fn. 95), S. 40. John Stuart Mill, On liberty, 1859. Zitiert nach ders., On Liberty and Utilitarianism, 1992, dort S. 21 ff. 208 Hierzu Gerhards/Neidhardt (Fn. 95), S. 44 ff., 69 ff. 209 Für eine ausführliche Zusammenstellung vgl. Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Eine Einführung, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl age 2000, unveränderter Nachdruck 2006. 210 Hierzu speziell mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland Dieter Roth, Partizipative Demokratie, in: Stefan Brink/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung, FS für Hans Herbert von Arnim, 2004, S. 761–778. Grundlegend Hans Rattinger, Einführung in die Politische Soziologie, 2009, S. 225 ff. 211 Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Politik, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Die Chancen der Freiheit, Grundprobleme der Demokratie, 1992, S. 11– 24. 212 Vgl. den Überblick zu den verschiedenen Funktionsvoraussetzungen der Demokratie bei Schmidt (Fn. 209), S. 438 ff., 450 ff. 213 Robert D. Putnam, Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, 1993; siehe auch Kenneth Newton, Support for Democracy. Social Capital, Civil Society and Political Performance (WZB-Discussion Paper Nr. SP IV 2005–402), 2005. 207
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delbare Größe, wie die Stichworte Parteien- und Politikverdrossenheit belegen.214 Aus diesen Verdrossenheiten eine allgemein nachlassende Unterstützung der Demokratie in der Bevölkerung abzuleiten, erscheint aber zu weitgehend,215 denn der fortbestehende Beteiligungswille sucht sich andere Kanäle. Auch Hinweise auf eine veränderte Mediennutzung durch die Bürger (Informationsorientierung weniger gegenüber Unterhaltungsorientierung vieler) und durch staatliche Akteure (Standardisierung, Spektakularisierung) erlauben keine eindeutigen Schlußfolgerungen 216 (zu den aktuellen Fragen unter III). Zutreffend ist die Erkenntnis, dass „[n]ur ein demokratischer Staat [. . .] eine demokratische zivile Gesellschaft schaffen, nur eine demokratische zivile Gesellschaft [. . .] einen demokratischen Staat aufrechterhalten [kann]“.217 Nicht vergessen werden darf allerdings auch, dass die Demokratie ihrerseits Erwartungen und sogar Ansprüche gegenüber den Bürgern geltend machen kann: zuvörderst die Erwartung auf aktive Beteiligung und auf Interesse an den zur Entscheidung anstehenden Fragen, aber – unter kosmopolitischem Blickwinkel – unter Umständen auch ein grenzüberschreitendes Interesse an Menschen und Problemen.218 Das hier ein hochkomplexes Geflecht widerstreitender Interessen besteht, macht die aktuelle Diskussion über die Schuldenkrise im Euroraum deutlich (dazu unter III). Soziologische Überlegungen zu einer reflexiven Modernisierung gehen davon aus, dass die fortschreitende Modernisierung219 – wie sie sich eben auch in der Entwicklung einer starken und ausdifferenzierten Zivilgesellschaft zeigt – die Grundlagen der industriegesellschaftlichen Modernisierung auf hebt und nicht von den bestehenden Institutionen, Organisationen und Teilsystemen eingehegt werden kann.220 214 Robert D. Putnam, Tuning In, Tuning Out: The Strange Disappearance of Social Capital in America, in: Political Science & Politics, 28 (1995) 5, S. 664–683 (S. 666 ff.); Thomas Jäger/Dieter Hoffmann (Hrsg.), Demokratie in der Krise? Zukunft der Demokratie, 1995; Hans Herbert von Arnim, Politikerverdrossenheit, Wertewandel und politische Institutionen, in: Volker J. Kreyher/Carl Böhret (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, Problemaufrisse und Antizipationen, 1995, S. 31–37. 215 In diese Richtung argumentiert auch Helmut Klages, Der „schwierige Bürger“, Bedrohung oder Zukunftspersonal? in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Demokratie am Wendepunkt, Die demokratische Frage als Projekt des 21. Jahrhunderts, 1996, S. 233–253; ferner Olaf Winkel, Wertewandel und Politikwandel, Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/96 vom 20. Dezember 1996, S. 13–25. 216 Wolfgang van den Daele/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Kommunikation und Entscheidung, Politische Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren, 1996. Putnam (Fn. 214), S. 677 ff., verdächtigt allerdings das durch den Fernsehkonsum veränderte Freizeitverhalten, das bürgerschaftliche Engagement insgesamt verringert zu haben. 217 Walzer (Fn. 65), S. 65. 218 Hierzu Michael Saward, Democracy and Citizenship: Expanding Domains, in: John S. Dryzek/ Bonnie Honig/Anne Philips (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Theory, 2006, S. 400–419 (S. 412 ff.). 219 Instruktiv zu Modernisierung, Modernität und Postmoderne: Christian Lutz, Die „Postmoderne“ – das Ende des Projekts Moderne?, in: Volker J. Kreyher/Carl Böhret (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, Problemaufrisse und Antizipationen, 1995, S. 79–90; Thomas Nipperdey, Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, Essays, 2. Aufl. 1986, S. 44–59. 220 Hierzu Ulrich Beck, Vom Veralten sozialwissenschaftlicher Begriffe, Grundzüge einer Theorie reflexiver Modernisierung, in: Christoph Görg (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, Perspektiven kritischer Soziologie, 1994, S. 21–43 (S. 31 ff.); sowie ausführlich ders. (Fn. 236).
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Es gilt als wichtiges Ziel politischen Handelns, die Öffentlichkeit für sich und seine Ziele zu gewinnen; hierfür braucht man in der Regel zunächst Medienöffentlichkeit. Hierfür werden aktives „news management“ oder die Inszenierung von sogenannten Pseudoereignissen eingesetzt. Diese Strategie verfolgen aber nicht nur Politiker und staatliche Stellen, sondern auch die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure, die Aufmerksamkeit für ihre Belange erreichen und ihren Zielen durch öffentliche Unterstützung Nachdruck verleihen wollen.221 Man denke nur an die zahlreichen spektakulären Aktionen von Greenpeace oder das Vorgehen der „Cap Anamur“ im Jahre 2005222. Gehen diese Akteure erfolgreich aus der Konkurrenz um die gesellschaftliche Zustimmung hervor, so führt dies in ihren Augen zur Delegitimierung staatlicher Entscheidungen. Das Regieren gegen eine mobilisierte (Teil-) Öffentlichkeit und die veröffentlichte Meinung ist freilich möglich, solange an der Wahlurne Erfolge errungen werden, wie die Kanzlerschaft Helmut Kohls (1982– 1998) deutlich macht.
b) Auswirkung auf staatsleitende Prinzipien Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG stellt lakonisch fest, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Satz 2 erläutert, dass einerseits das Volk sie in Wahlen und Abstimmungen ausübt, andererseits besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung Staatsgewalt ausüben. Hierin kommt die funktionale Delegation der Staatsgewalt an die vielfältig verästelten Organe zum Ausdruck, die für den modernen Staat unerläßlich ist, aber bereits in der Antike notwendig gewesen war. Art. 20 Abs. 2 GG (i. V. m. Abs. 1) ist zugleich auch Sitz des Demokratie- und Mehrheitsprinzips. Diese Prinzipien gelten für die „Wahlen und Abstimmungen“ des Volkes, aber auch für diejenigen, die im Parlament stattfinden. Mehrheitsentscheidungen setzen Willensbildung voraus, für die unter anderem Information unverzichtbar ist. Information ist, nicht zuletzt durch die Auswahl, Intensität und den Zeitpunkt der Informationsweitergabe, stets auch Beeinflussung. Ob objektive Information überhaupt möglich ist, soll hier dahinstehen. Im politischen Raum ist die Information durch Interessenvertreter, die auf diese Weise Entscheidungen beeinflussen wollen, an der Tagesordnung. Heute steht jedoch – angesichts der fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung223 hinsichtlich der relevanten Akteure – die überkommene Dominanz verbandsförmiger Interessenvertretung in Frage.224 Ein hohes Mitsteuerungspotential ist den in westlichen Demokratien allerdings immer noch zu verzeichnen. Die Auflö221 Eine aktuelle quantitative Analyse zur Medienpräsenz bezogen auf Dänemark fi ndet sich bei Anne Skorjær Binderkrantz, Interest groups in the media: Bias and diversity over time, in: European Journal of Policy Research 2012, S. 117–139. 222 Siehe Arnd Pollmann, Nussschale. War die Cap Anamur-Aktion eine PR-Maßnahme?, in: Freitag, 32/2004; abruf bar unter http://www.freitag.de/2004/32/04321102.php (zuletzt besucht am 2. März 2012). 223 Skeptisch schon vor fast vierzig Jahren Zacher (Fn. 191), S. 165: Pluralismus dürfe nicht zu Fragmentierung führen. 224 So von Winter (Fn. 132), S. 39 f. Zu den Diskussionslinien der letzten sechzig Jahre vgl. Rudolph Bauer, Zivilgesellschaftliche Gestaltung der Bundesrepublik: Möglichkeiten oder Grenzen? Skeptische
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sung des einstmals beherrschenden „Elitenkartells“225 ist einerseits auf die rückläufigen Mitgliederzahlen der Verbände und den dadurch bedingten geminderten Vertretungsanspruch sowie die geringere Mächtigkeit und andererseits auf das Auf kommen der neuen sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) zurückzuführen.226 Damit einher geht eine neue Form der Einflußnahme durch die Öffentlichkeit: Bürgerinitiativen und NRO gründen ihren Einfluß anders als beispielsweise Gewerkschaften nicht auf das Potential ihrer Leistungsverweigerung, sondern auf die Macht von organisiertem Protest und medienwirksamen Auftritten, wie etwa das Beispiel Greenpeace zeigt. Soziale Bewegungen und NRO beleben aber auch jene Formen von Präsenzöffentlichkeit neu, die im medialen Zeitalter marginalisiert zu werden drohen. Ihnen kann auf diese Weise eine besondere Authentizität zukommen; diese darf allerdings nicht mit einer – gar demokratischen – Legitimation gleichgesetzt werden. Die vermeintlich bessere Moral darf das Mehrheitsprinzip nicht unterlaufen.227 Dass es zwischen Marktplatz und Wahllokal zu Periodenverschiebungen kommen kann, ist im Interesse einer über den Tag hinaus funktionierenden Staatstätigkeit zu akzeptieren.228 Schon länger wird Politikern der Vorwurf gemacht, sie dächten nur bis zum nächsten Wahltermin. Besteht also einerseits kein Bedarf an einer noch kurzfristiger orientierten Politik, so bedeutet auf demokratische Mehrheiten gestütztes Regieren andererseits, dass solcherart legitimierte und mandatierte Politikziele auch gegen lautstark agierende Interessengruppen durchgesetzt werden können.229 Im Lichte der Proteste gegen Abriss und Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs scheint diese Feststellung neubewertet werden zu müssen (dazu unten III). Wenn die Öffentlichkeit als Kontrollinstrument eingesetzt wird, ist aus der Perspektive staatlicher (Entscheidungs-)Verfahren stets nach den Auswirkungen auf das sorgsam austarierte Gewaltenteilungsgefüge zu fragen. Die Öffentlichkeit ist den beteiligten Staatsorganen – etabliert und organisiert – nicht vergleichbar, ihre Wirkung beruht ja gerade auch auf ihrer Spontaneität und Unorganisiertheit. Das InterAnmerkungen aus Sicht der Nonprofit-Forschung, in: Klaus M. Schmals/Hubert Heinelt (Hrsg.), Zivile Gesellschaft, Entwicklung, Defi zite, Potentiale, 1997, S. 133–153 (S. 134 f.) 225 Kenneth F. Dyson, Die Ideen des Staates und der Demokratie, Ein Vergleich „staatlich verfaßter“ und „nicht staatlich verfaßter“ Gesellschaften, in: Der Staat 1980, S. 485–515 (S. 510). 226 Hierzu beispielsweise Streeck (Fn. 62), S. 474 ff. Rudzio (Fn. 131), S. 87 ff. 227 Diese vermeintlich bessere Moral vermag freilich, wie sich am Beispiel der Partei Bündnis90/Die Grünen zeigt, dank publizistischer Unterstützung diskursiv aufgebläht zu werden und auf diese Weise übergewichteten Rechtfertigungsdruck auf die Politik der parlamentarischen Mehrheit oder des regelmäßig größeren Koalitionspartners auszuüben. 228 Wichtige Hinweise zu dieser Frage bei Stephan Ruß-Mohl, Konjunkturen und Zyklizität in der Politik: Themenkarrieren, Medienaufmerksamkeits-Zyklen und „lange Wellen“, in: Adrienne Héritier (Hrsg.), Policy-Analyse, Kritik und Neuorientierung (PVS-Sonderheft 24/1993), 1993, S. 356–368. 229 Ein Beispiel hierfür waren die sogenannten Hartz-Reformen, die die rot-grüne Bundesregierung gegen den erbitterten Widerstand von gewerkschaftlich mitorganisierten „Montagsdemonstrationen“ durchsetzte. Erst kontinuierliche Wahlerfolge der Partei „Die Linke“, hervorgegangen aus der durch die Hartz-Reformen initiierten „Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) – ein Zusammenschluß enttäuschter Sozialdemokraten und von Gewerkschaftsfunktionären – und der zuletzt als „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) fi rmierenden „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) haben zu teilweisen Rücknahmen dieser Reformen geführt. Die neuerlangte Mächtigkeit eines Akteurs bewirkt einen Politikwechsel trotz fortbestehender demokratischer Legitimation der Regierung, weil ein gefühlter Legitimationsverlust eingetreten ist.
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esse der Öffentlichkeit ist sprunghaft, oft nicht nachvollziehbar in seiner Themenauswahl und unkalkulierbar in seiner Beständigkeit. Das, worüber Massenmedien intensiv berichten, wird in der Öffentlichkeit als bedeutsam wahrgenommen. Die Auswahl durch die Medien kann vom Thema selbst abhängen, aber auch davon, ob ein „attraktiver“, gut medial vermittelbarer – manchmal auch nur ein lärmender – Akteur dieses Thema formuliert. Themen brauchen überdies ihre Zeit, wie sich an so wichtigen Beispielen wie Alterung der Gesellschaft und Klimawandel zeigen läßt, die beide trotz hoher sachlicher Relevanz und Dringlichkeit für lange Zeit nicht aufgegriffen wurden,230 und in der Folge möglicherweise übertrieben und alarmistisch behandelt wurden. Die medial behandelten Themen und das zu ihnen existierende öffentliche Meinungsklima wirken sich stark auf die individuelle Meinungs- und Einstellungsbildung aus.231 Soll Öffentlichkeit als Gestaltungselement in ein Verfahren einbezogen werden, so verlangt es das Prinzip der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG), dass das Verfahren so ausgestaltet wird, dass auch vergleichsweise wenig öffentlichkeitswirksame Minderheitenpositionen Berücksichtigung finden. Öffentlichkeit darf nicht neue strukturelle Asymmetrien begründen.232 Ist Öffentlichkeit für den Rechtsstaat gleichermaßen kennzeichnend wie unverzichtbar, so muss sie ihre Funktionen notwendigerweise auch in rechtsstaatlich strukturierten Bahnen wahrnehmen. Doch dies ist nicht die einzige Schwierigkeit, die es zu erkennen und zu lösen gilt: vor allem aus der Perspektive des demokratischen Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) werden kritische Fragen mit Blick auf die Rolle von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft gestellt.233 Gerade in Verhandlungssystemen zwischen Staat und Gesellschaft sind aber nicht nur unorganisierte Interessen ausgeschlossen, sondern es verlieren auch die in Interessenverbänden organisierten Bürger gegenüber den miteinander kooperierenden staatlichen und gesellschaftlichen Eliten an Einflußmöglichkeiten. Außerdem entziehen sich politische Prozesse in Politiknetzwerken, die mittels nichtöffentlicher Kontakte zwischen Funktionären und Experten stattfi nden, einer demokratischen Kontrolle.234 Obwohl ihre demokratischen Rechte hierdurch nicht angetastet werden, werden die Einflußmöglichkeiten der Bürger auf diese Weise faktisch gleich mehrfach eingeschränkt. 230 Zu Interessen und Zwängen in den Medien vgl. den Überblick bei Rudzio (Fn. 131), S. 395 ff. Ferner Barbara Pfetsch, Politik und Fernsehen: Strukturen und Bedingungen politischer Kommunikation, in: ZPol 1996, S. 331–347. 231 Zu diesem Fragenkomplex vgl. Michael Schenk/Uwe Pfennning, Individuelle Einstellungen, soziale Netzwerke, Massenkommunikation und öffentliches Meinungsklima: Ein analytisches Interdependenzmodell, in: Stefan Müller-Doohm/Klaus Neumann-Braun (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, 1991, S. 165–184; Uwe Krähnke, Selbstbestimmung, 2007, S. 108 ff. 232 Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II: Grundrechte in Deutschland, Allgemeine Lehren 1, 2006, § 45, Rn. 83. Ähnlich bereits Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie (1969), in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 1991, S. 326–359 (S. 358), mit der Forderung nach „Waffengleichheit der Interessengruppen“. Zu den Stärken und Schwächen von Fraenkels pluralistischer Demokratietheorie siehe Schmidt (Fn. 209), S. 235 ff. 233 Beispielsweise von Zacher (Fn. 191), S. 174 f. 234 Benz (Fn. 134), S. 107.
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Hier setzen Überlegungen an, die Leistungsschwächen des modernen Interventionsstaates235 zum Anlaß nehmen, ein neues Gesamtmodell von Politik zu entwerfen, das zunächst politische Teilhaberechte erweitern will. Sodann soll die Verbesserung von effektiven Partizipationschancen in einzelnen Politikbereichen wirksamer als bisher zusammengefaßt werden. Dieser reflexive Ansatz236 strebt einerseits eine Demokratisierung der internen Strukturen bestehender staatlicher Institutionen an. Andererseits wird vorgeschlagen, die Meinungsbildung in pluralen gesellschaftlichen Öffentlichkeiten selbst stringenter zu gestalten und gleichzeitig wirksamer mit bestehenden Formen institutionalisierter politischer Willensbildung und Entscheidungsfi ndung zu verbinden.
d) Offene Fragen Zu klären bleibt weiterhin, wie Art und Umfang des Einflusses der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure einerseits als Teil der Öffentlichkeit und andererseits als Kooperationspartner des Staates bestimmt werden können und welche Rolle der Staat tatsächlich spielt: Gibt er Steuerungskompetenzen ab und macht sich vom Informationsinput der Interessenvertretungen abhängig? Gelingt es ihm umgekehrt, die Vielfalt der Interessen und Durchsetzungsstrategien durch Einbindung in formalisierte Diskurs- und Verhandlungsprozesse zu kanalisieren und beherrschbar, zumindest kalkulierbarer zu machen? 237 Föderalismus vervielfacht die Zahl der staatlichen Akteure und sorgt für Koordinationsnotwendigkeiten zwischen ihnen, die sich mitunter schwierig gestalten. Dies ist Ausdruck der „paralysierenden Binnenkomplexität hochentwickelter Staatsapparate“.238 Die seit den 1950er Jahren gewachsene internationale, vor allem europäische Verflechtung hat diese Komplexität zusätzlich erhöht und den Kooperationsbedarf weiter steigen lassen.239 Diese Entwicklung hin zu immer komplexeren Systemen läßt es gleichzeitig zu, dass auch andere, nichtstaatliche Akteure ihren Platz finden und als Kooperationspartner akzeptiert werden. Hinsichtlich einer wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteursgruppe, der neuen sozialen Bewegungen, ergeben sich Besonderheiten, vor allem aus der Sozialstruktur 235 Zum Hintergrund vgl. Bob Jessop, Veränderte Staatlichkeit, Veränderungen von Staatlichkeit und Staatsprojekten, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 43–73; s. a. Ulrich (Fn. 196), S. 13 ff. sowie die in Fn. 17 genannte Literatur. 236 Etwa bei Ulrich Beck, Die Erfi ndung des Politischen, Zur Theorie einer reflexiven Modernisierung, 1993; Rainer Schmalz-Bruns, Perspektiven demokratischer Gestaltung – die neuere Diskussion um Demokratie und politische Institutionen, in: Christoph Görg (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, Perspektiven kritischer Soziologie, 1994, S. 157–176 (S. 168 ff.). 237 Vgl. von Winter (Fn. 132), S. 42 m.w.Nw. 238 Claus Offe, Die Staatstheorie auf der Suche nach ihrem Gegenstand, in: Jahrbuch für Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 1 (1987), S. 301–321 (S. 311). 239 Die Diskussion wird in mehreren Disziplinen unter dem Stichwort Mehrebenensystem geführt; vgl. beispielsweise Thomas König (Hrsg.), Das europäische Mehrebenensystem (Mannheimer Jahrbuch für europäische Sozialforschung, Bd. 1), 1996; Gabriele Bauschke u. a. (Hrsg.), Pluralität des Rechts – Regulierung im Spannungsfeld der Rechtsebenen, 2003; Hubert Heinelt/Michèle Knodt (Hrsg.), Politikfelder im EU-Mehrebenensystem, Instrumente und Strategien europäischen Regierens, 2008.
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ihrer primären Trägergruppen und ihrer Resonanzgruppen.240 Im Unterschied zu älteren sozialen Bewegungen – Arbeiterbewegung: wirtschaftsbezogene, Bürgertum: staatsbezogene Problemkomplexe – thematisieren neue soziale Bewegungen Probleme im Zusammenhang mit der soziokulturellen Identität, die allerdings starke Rückwirkungen in den wirtschaftspolitischen und staatlichen Raum haben. Über die Paradigmata von Lebensweise und Lebensstil, welche mittels der soziokulturellen Identität ins Spiel gebracht werden, entfaltet sich ein hohes Mobilisierungs- und Resonanzpotential, das mit einer Integrationskrise des überkommenen politischen Vermittlungssystems durch Parteien und Verbände einhergeht. Deshalb werden soziale Bewegungen als „demokratische Produktivkraft“ verstanden, die „den Modus repräsentativer Demokratie in fruchtbarer Weise ergänzen“ und „ein wichtiges Potential für ein demokratisches Gemeinwesen“ bilden.241 Auch neue soziale Bewegungen integrieren allerdings nur Teile der Bevölkerung, bei eng gesteckten Themen oftmals nur zeitweilig, sozusagen für die Lebensdauer des Projekts. Ein Überblick über die sich in sozialen Bewegungen manifestierende Protestaktivität in der Bundesrepublik Deutschland als Verhaltensform der Bürgerschaft zeigt nicht nur inhaltliche Veränderungen zwischen 1950 (v. a. Arbeitskonfl ikte) und 2000 (ab 1980er: Menschen- und Bürgerrechte, Frieden und Abrüstung), sondern auch geänderte, offensivere Protestformen. Jüngstes Beispiel ist die in vielen Ländern aktive „Occupy-Bewegung“, die für sich in Anspruch nimmt, 99% der Gesellschaft zu vertreten (siehe unten III). Man sollte freilich der Versuchung widerstehen, nur emanzipatorische oder sonst „inhaltlich korrekte“ soziale Bewegungen zu erfassen.242 Entscheidend dafür, dass es sich um eine soziale Bewegung handelt, sind die Vorstellung, die Gesellschaft sei gestaltbar, und der darauf auf bauende Versuch, auf ihre Grundstrukturen einzuwirken. Folglich sind auch Neonazis als neue soziale Bewegung zu bezeichnen. Demokratische Produktivkraft können solche repressiven Bewegungen freilich nicht entfalten; allerdings in Form von Gegenbewegungen anstoßen. Die fortschreitende Kooperation von Staat und Gesellschaft droht die Unterschiede einzuebnen, die trotz schon immer bestehender Verflechtungen zwischen beiden nach wie vor zu beobachten sind. Die gegenseitige Entgrenzung wird aus beiden Perspektiven als Bedrohung der jeweiligen Autonomie empfunden, ist aber neben einem defensiven Entscheidungsstil der Preis für die Sicherheit vor Überraschungen, die ja das Ziel der Verflechtung darstellt. „Wandel durch Annäherung“243 läßt sich auch hier beobachten und stärkt das Verlangen nach unkonventionellen, wenig institutionalisierten intermediären Organisationen, die sich später, um sich dauerhaften 240 Hierzu und zum folgenden Joachim Raschke, Soziale Bewegungen, Ein historisch-systematischer Grundriß, 1985, S. 413 ff. 241 Dieter Rucht, Soziale Bewegungen als demokratische Produktivkraft, in: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Möglichkeiten und Grenzen, 1997, S. 382–403 (S. 384). 242 Zutreffend Rucht (Fn. 241), S. 391. 243 Egon Bahr, Wandel durch Anregung, in: Deutschland Archiv, Zeitschrift für Fragen der DDR und der Deutschlandpolitik, Heft 8/1973, S. 862–865 (= „Tutzinger Rede“ vom 15. Juli 1963). Auch abruf bar unter: http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/tutzinger_rede.pdf (zuletzt besucht am 20. März 2009).
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Einfluß zu sichern, ihrerseits institutionalisieren und professionalisieren sowie mit dem Staat und anderen Organisationen verflechten.244
III. Aktuelle Praxis zivilgesellschaftlicher Akteure und neue Forschungsfragen Nachstehend kann es nur um einzelne exemplarische Beispiele gehen, wobei versucht werden soll, neben der innerstaatlichen, deutschen Ebene auch die zwischenstaatliche Ebene hinreichend zur Geltung zu bringen, denn „nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen und gesellschaftlichen Gruppen [stehen] in einem komplexen multinationalen Beziehungsgeflecht“.245 So beteiligen sich zivilgesellschaftliche Akteure seit geraumer Zeit aktiv an dem, was Global Governance genannt wird.246 Für Politikfelder wie Umweltschutz oder Abrüstung (etwa Landminenverbot247) ist ihre Rolle genauso wichtig wie für den Menschenrechtsschutz. Insgesamt wird ihnen eine hohe legitimitätsstiftende Funktion zugeschrieben, auf der internationalen Ebene wird gar erwartet, sie könnten diagnostizierte Demokratiedefizite abmildern.
1. Praxisbeispiele a) Nationale Ebene Inwieweit zivilgesellschaftlicher Druck politische Entscheidungen zu beeinflussen vermag, ist im Einzelfall schwer zu ermitteln. Die jahrzehntelang aktive Anti-Atomkraft-Bewegung hat sicherlich dazu beigetragen, dass nach dem Machtwechsel 1998 die sich ihr personell und sachlich verbunden fühlende rot-grüne Bundesregierung mit den Energiekonzernen den Atomausstieg vereinbarte.248 Der Wählerwille bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 legitimierte die schwarz-gelbe Bundesregierung aus ihrer Sicht dazu, diesen Ausstieg teilweise rückgängig zu machen und die Laufzeiten der Kraftwerke zu verlängern. Hieran konnte auch der neumobilisierte Protest der 244
Siehe hierzu auch Streeck (Fn. 62), S. 488 ff. Guter Überblick bei Bauer (Fn. 224), S. 137. Kotzur (Fn. 17), S. 212. 246 Jan Aart Scholte, Civil Society and Democracy in Global Governance, in: Global Governance 8 (2002), S. 281–304; Klaus Dingwerth, Effektivität und Legitimität globaler Politiknetzwerke, in: Tanja Brühl u. a. (Hrsg.), Unternehmen in der Weltpolitik, Politiknetzwerke, Unternehmensregeln und die Zukunft des Multilateralismus, 2004, S. 74–95; Paul Wapner, Civil Society, in: Thomas G. Weiss/Sam Daws (Hrsg.), The Oxford Handbook on the United Nations, 2007, S. 254–263. 247 Die „International Campaign to Ban Landmines“ (ICBL), deutsch „Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen“ hatte seit 1991 auf den Abschluß eines entsprechenden Vertrages hingewirkt. Die sogenannte Ottawa-Konvention („The 1997 Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Anti-Personnel Mines and on Their Destruction“) wurde 1997 vereinbart und trat 1999 in Kraft. Die ICBL wurde im Jahr 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Siehe auch http://www.icbl.org/index.php (besucht am 10. April 2012). 248 Siehe Alexander W. Schneehain, Der Atomausstieg: eine Analyse aus verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Sicht, 2005. 245
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Anti-Atomkraft-Bewegung, der eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich wähnte, nichts ändern. Erst der durch ein Erdbeben mit anschließender Flutwelle ausgelöste Reaktorunfall in Japan im März 2011 führte zu einer Kehrtwende der Bundesregierung, die nun eine Neubewertung der Risiken vornahm und eine neuerliche Verkürzung der Restlaufzeiten verkündete. Dies verprellte freilich einen Teil der eigenen Anhängerschaft und stieß bei der Anti-Atomkraft-Bewegung auf tiefe Skepsis. Im Falle des Bahnhofsneubaus in Stuttgart (S 21) schien zunächst alles den bei Großprojekten üblichen Gang zu gehen. Das Projekt wurde im Jahr 1994 der Öffentlichkeit vorgestellt, nach einer Machbarkeitsstudie aus dem Folgejahr wurde das Raumordnungsverfahren Ende 1996 eingeleitet. Nachdem Finanzierungsschwierigkeiten aufgetreten und im Jahr 2001 endgültig gelöst worden waren, wurde das Planfeststellungsverfahren ab 2001 abschnittsweise eingeleitet. Teilabschnitte wurden in den Jahren 2005 und 2006 genehmigt. In Baden-Württemberg und auf Bundesebene wurde das Projekt politisch breit unterstützt, lediglich Bündnis90/Die Grünen sprachen sich im Land dagegen aus. Ein im Jahre 2007 beantragter Bürgerentscheid wurde von der Stadt Stuttgart zurückgewiesen. Ab 2007 kam es zu Kundgebungen gegen S 21, an denen jeweils mehrere tausend Menschen teilnahmen, regelmäßiger Protest formierte sich ab November 2009, nachdem die Gerichte den Antrag auf Bürgerentscheid endgültig verworfen hatten. Als bei der Kommunalwahl im Juni 2009 die Parteien, die das Projekt unterstützten, deutliche Stimmenverluste erfuhren, erlangte die hartnäckige, aber bis dahin nicht überwältigende Ablehnung eines überregionalen Verkehrsprojekts schließlich Aufmerksamkeit über Stuttgart hinaus, was ihre Resonanz enorm verstärkte. Freilich wurden die Bewegung(steilnehmer), ihre Haltungen und Ziele durchaus zwiespältig gesehen, was die Wortschöpfung „Wutbürger“ belegt.249 Nach dem Baubeginn im Februar 2010 nahmen die Proteste weiter zu; im September 2010 erfolgte ein massiver Polizeieinsatz, bei dem mehrere hundert Menschen verletzt wurden. Von Oktober bis November 2010 fanden darauf hin sogenannte Schlichtungsgespräche unter der Leitung des ehemaligen Politikers Heiner Geißler statt.250 Diese sollten eine aktuelle und umfassende Information ermöglichen und anschließend eine Neubewertung der Situation vornehmen, was angesichts einer gerichtlich bestätigten Verwaltungsentscheidung, die von einem breiten, parteiübergreifenden politischen Konsens getragen worden war, eine Unsicherheit von Behörden und Landesregierung belegte, wie mit der Situation umzugehen sei.251 Die Schlichtung wurde stundenlang im Fernsehen übertragen und bescherte dem Sender Phoenix ungeahnte Einschaltquoten für ein Programm, das von ermüdender Detailfülle geprägt war und jeglichen Spannungsbogen vermissen ließ; das Interesse dürfte allerdings auch dem zuvor erreichten Grad der Eskalation geschuldet gewesen sein.252 249
Dirk Kurbjuweit, Der Wutbürger, in: Der Spiegel 41/2010 vom 11. Oktober 2010, S. 26 f. Hierzu beispielsweise Dennis Eger, Stuttgart 21: Schlichtung, Mediation, Theater? Eine neue Form der Legitimation politischer Prozesse?, 2011. 251 Wenn man annimmt, Öffentlichkeit trage zur „Spannungsbalance“ (Arnold Gehlen) des Staates bei, so ließe sich die Schlichtung als institutionalisierte Stabilisierung dieser Spannungsbalance begreifen. 252 So auch Frank Brettschneider, Kommunikation und Meinungsbildung bei Großprojekten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2011, 44/45, S. 40–47 (S. 42 f.). 250
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Bei der Landtagswahl im März 2011 verlor erstmals seit 48 Jahren die CDU ihre Mehrheit; es kam zur Bildung einer grün-roten Landesregierung. Zwar hatte die Schlichtung zu einer Versachlichung der Diskussion um S 21 geführt, aber die widerstreitenden Positionen in der Sache nicht versöhnt. Bei der landesweiten Volksabstimmung am 27. November 2011 sprachen sich 58,9 Prozent der Abstimmenden gegen den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung von S 21 aus – bei einer Beteiligung von 48,3% der Stimmberechtigten.253 Bürgerbeteiligung in vergleichbarer Form müsste zukünftig allerdings, um tatsächlich befriedend zu wirken und Akzeptanz für Großprojekte herzustellen, früher ansetzen. Ob die Beteiligungsmöglichkeiten des Verwaltungsverfahrens – etwa in §§ 72 ff. VwVfG, § 9b AtomG, § 31 WHG, §§ 8 f. LuftVG, § 7 AbfG, § 17 FernStrG, § 10 BImSchG – hierfür geeignet und ausreichend sind, wird kontrovers diskutiert. Ein unverbundenes (bloß) deliberatives Anhörungsverfahren ohne rechtliche Folgen erscheint im Rahmen der Verwaltungsentscheidung wenig sinnvoll. Als Ergänzung zu Parlamentsentscheidungen mag es sinnvoll sein, wird eine zu berücksichtigende Position dadurch doch explizit gemacht, die ansonsten durch die Eigengesetzlichkeiten der innerparteilichen Meinungsbildung und im parlamentarischen Prozess gegebenenfalls nicht hinreichend berücksichtigt werden würde.
b) Internationale Ebene Nichtregierungsorganisationen spielen als generelle Akteure innerhalb des Systems der Vereinten Nationen eine immer stärkere Rolle und bearbeiten vor allem die Politikfelder Menschenrechtsschutz, Umweltschutz, Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Konfl iktprävention.254 Sie sind in den letzten Jahrzehnten zum auch völkerrechtlich anerkannten 255 Akteur auf der internationalen Ebene geworden; 256 Bild und Arbeitsweise der NRO sind vielgestaltig. Ihre Stellung im System der Vereinten Nationen ist jenseits der Akkreditierung beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) 257 allerdings noch weitgehend von Un253 Zahlen (und weitere Informationen zur Volksabstimmung sowie zu S 21 insgesamt) etwa unter http://www.lpb-bw.de/volksabstimmung_stuttgart21.html (besucht am 12. April 2012). 254 Vgl. Thomas Fitschen, Vereinte Nationen und nichtstaatliche Organisationen, in: Helmut Volger (Hrsg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, 2007, S. 309–329 (S. 309 ff.); Sergey Ripinsky/Peter van den Bossche, NGO Involvement in International Organizations, A Legal Analysis, 2007. 255 Vgl. nur: Stephan Hobe, Der Rechtsstatus von Nichtregierungsorganisationen nach gegenwärtigem Völkerrecht, in: AVR 1999, S. 152–176. 256 Etwa Peter Willetts (Hrsg.), „The Conscience of the World“, The Influence of Non-Governmental Organisations in the U. N. System, 1996; Thomas Risse/Anja Jetschke/Hans-Peter Schmitz, Die Macht der Menschenrechte, Internationale Normen, kommunikative Prozesse und politischer Wandel in den Ländern des Südens, 2002; Nils Geißler, Einfluss und Rolle der Nichtregierungsorganisationen beim Schutz der Menschenrechte, in: Erwin Müller/Patricia Schneider/Kristina Thony (Hrsg.), Menschenrechtsschutz, Politische Maßnahmen, zivilgesellschaftliche Strategien, humanitäre Intervention, 2002, S. 62–78. 257 Einführend zum ECOSOC Wolfgang Spröte, Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), in: Helmut Volger (Hrsg.), Lexikon der Vereinten Nationen, 2000, S. 662–665; Frederic L. Kirgis Jr., United Nations Economic and Social Council, in: EPIL IV (2000), S. 1089–1093.
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verbindlichkeit geprägt. Zwar eröffnen die Vereinten Nationen den NRO eine förmliche Beteiligung an den Sitzungen des ECOSOC nach einem in Art. 71 SVN festgelegten Modus.258 Doch entspricht diese Beteiligungsmöglichkeit nicht mehr den heutigen Anforderungen. Um die Organisation der Vereinten Nationen zu stärken, ihre Arbeit wirksamer zu machen und die Rolle der für das Funktionieren der Organisation in vielen Bereichen inzwischen unverzichtbaren Nichtregierungsorganisationen aufzuwerten, hatte der Generalsekretär die „Gruppe namhafter Persönlichkeiten für die Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft“ unter dem Vorsitz des damaligen brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso einberufen. Deren Bericht „We the Peoples . . .“259 wurde im Juni 2004 vorgelegt; die Vorschläge fanden jedoch keinen nennenswerten Eingang in das Ergebnisdokument des Weltgipfels von 2005. Dort wird lediglich ihr Beitrag zur Arbeit der Vereinten Nationen gewürdigt;260 die empfohlene institutionalisierte Beteiligung von NRO ist bislang nicht verwirklicht worden.261 Das soll freilich nicht heißen, dass es keine tatsächlichen Fortschritte gegeben hätte. So koordiniert eine Arbeitsgruppe die Kooperation und Information von Nichtregierungsorganisationen mit Blick auf den Sicherheitsrat bereits seit 1995, der seine Arbeitsmethoden überdies weitgehend unbeachtet von Öffentlichkeit und Wissenschaft angepasst und offener gestaltet hat.262 Die Aktivitäten der NRO in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen reichen vom sogenannten Agenda-setting bis zu Formulierungsvorschlägen für einzelne Artikel oder ganze Verträge und geschehen beispielsweise durch Lobby- und Kampagnenarbeit in den internationalen Organisationen aber auch direkt bei den Regierungen. Auf diese Weise wurde unter anderem auf die Beratungen über das Übereinkommen gegen Folter und über die Kinderrechtskonvention Einfluß genommen.263 Wichtig war und ist auch das gemeinsame Auftreten in sogenannten NRO-Foren, die die Weltkonferenzen vorbereitet oder begleitet haben. So haben sich zur Welt258 Einzelheiten hierzu bei Rainer Lagoni/Eleni Chaitidou, Art. 71, in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, A Commentary, Bd. 2, 2. Aufl. 2002, S. 1068–1082; Anna-Karin Lindblom, Non-Governmental Organizations in International Law, 2005, S. 374 ff. 259 „We the Peoples: Civil Society, the United Nations and Global Governance“ (UN-Dok. A/58/817) vom 11. Juni 2004. 260 UN-Dok A/RES/60/1 vom 16. September 2005, Nr. 169. Einzelheiten bei Helmut Volger, Die Reform der Vereinten Nationen, in ders. (Hrsg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, 2007, S. 487–571 (S. 533 ff.). 261 Siehe Jens Martens, Zukunftsperspektiven der Mitwirkung von Nichtregierungsorganisationen in den Vereinten Nationen nach dem Weltgipfel 2005, in: Sabine von Schorlemer (Hrsg.), „Wir, die Völker (. . .)“ – Strukturwandel in der Weltorganisation, 2006, S. 53–67. 262 Hierzu James A. Paul, A Short History of the NGO Working Group on the Security Council, 2001; online verfügbar unter: http://www.globalpolicy.org/component/content/article/185/40407. html (zuletzt besucht am 2. März 2012). Ferner Helmut Volger, Mehr Transparenz und mehr Beteiligung, Die informelle Reform der Arbeitsmethoden des UN-Sicherheitsrats, in: Vereinte Nationen 2010, S. 195–203. 263 Hierzu und zu weiteren Beispielen Wolfgang S. Heinz, Der Einfluss von Nichtregierungsorganisationen auf das Berichtsprüfungs- und Individualbeschwerdeverfahren im Menschenrechtsschutz der Vereinten Nationen, in: Sabine von Schorlemer (Hrsg.), „Wir, die Völker (. . .)“ – Strukturwandel in der Weltorganisation, 2006, S. 27–44 (S. 31 ff.).
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menschenrechtskonferenz in Wien (1993) mehr als 1.000 NRO, zur Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) mehr als 30.000 Menschen zum NRO-Forum getroffen.264 Dies signalisiert den Staaten die Mächtigkeit der nichtstaatlichen Organisationen, belegt gleichzeitig aber auch ihre Vielfalt (mit der möglichen Folge der Zersplitterung). Die NRO-Foren dienen der Netzwerkarbeit und dem Informationsaustausch. Die NRO verabreden dort auch Strategien für ihr Vorgehen auf der jeweiligen Weltkonferenz selbst. Im Umfeld der Weltkonferenzen entfalten die NRO eine vielfältige Lobby- und Kampagnenarbeit. Das Generalsekretariat der Vereinten Nationen unterstützt diese Organisationen dabei in einem gewissen Umfang auch logistisch. Die Hochzeit der Weltkonferenzen ist allerdings vorbei und die Debatten über wirtschaftliche und soziale Themen finden zunehmend wieder in den Organen und Gremien der Vereinten Nationen statt.265 Dementsprechend wird es zukünftig vor allem darauf ankommen, die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der NRO dort auszubauen.266 Daran wird abzulesen sein, wie weit die Bemühungen der Vereinten Nationen reichen, die internationale Demokratie im Ansatz zu unterstützen, indem sie den NRO auf unterschiedliche Weise Foren bieten, um die von den Regierungen dominierte internationale Politik aktiv zu begleiten und so „Global deliberations“ ermöglichen. Überdies ergänzen sich die Vereinten Nationen und die NRO in ihrem Bestreben, Einfluß auf die Staaten und Regierungen zu nehmen, und arbeiten auch aus diesem Grund zusammen.267Nach dem Scheitern des Weltklimagipfels von Kopenhagen im Dezember 2009 wird allerdings darüber diskutiert, wie sinnvoll bisherige Strategiemodelle der weltweiten Mobilisierung noch sind.268
2. Forschungsfragen und Ausblick Es kann hier nur darum gehen, Forschungsfragen zu umreißen und mögliche Diskussionsrichtungen aufzuzeigen. Blickt man zunächst auf die Akteure, so ist die Grundfrage, wer für wen spricht. Der informelle Charakter zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse steht formellen Zugehörigkeits- und Zurechnungskriterien oft entgegen. Die Piratenpartei steht 264 Einzelheiten bei Manfred Nowak (Hrsg.), World Conference on Human Rights, Vienna June 1993, The Contribution of NGOs, Reports and Documents, S. 71; vgl. auch Michael G. Schechter, United Nations Global Conferences, 2005. 265 Allerdings haben die sogenannten G20 seit 2008 regelmäßig Treffen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs eingerichtet, um die globalen Themen zu beraten und koordiniertes Vorgehen zu erreichen. Diese Form des „Weltregierens“ durch einen exklusiven Staatenclub gefährdet einerseits die Bedeutung der Vereinten Nationen und schließt andererseits zivilgesellschaftliche Akteure grundsätzlich von der Mitwirkung aus. 266 Hierzu Fitschen (Fn. 254), S. 319 ff. 267 So auch Wapner (Fn. 246), S. 261 f. 268 Hierzu Malte Kreutzfeldt/Nadine Michel, Strategiestreit nach der „historischen Chance“, in: Die Tageszeitung vom 6./7. Februar 2010, S. 7. Das dort in Bezug genommene Papier von Jürgen Maier, Klimagipfel gescheitert: Nach der COP ist vor der COP??, Diskussionsanstoss vom 7. Januar 2010, wurde dem Verfasser freundlicherweise von Malte Kreutzfeldt überlassen. Maier spricht sich darin für einen Bottom-up-Ansatz aus, der dafür sorgen soll, dass zu Hause die Weichenstellungen vorgenommen werden, die es ermöglichen sollen, anschließend auf der UN-Ebene weitergehende Verpfl ichtungen zu übernehmen.
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derzeit für den Versuch, das an sich unvereinbare zusammenzuführen und macht mit „Liquid Democracy“ den ständigen Prozesscharakter von Debatte und Entscheidungsfi ndung nebst nachheriger Infragestellung deutlich. Der Verweis auf das vergleichbare Experimentieren mit Entscheidungsfindungen während bestimmter Phasen der Französischen Revolution und dessen zeitweiliges Abgleiten in Terror und Diktatur mag irritieren, darf aber nicht unterbleiben. Denn die Versachlichung von Debatten in der repräsentativen Demokratie westeuropäischen Zuschnitts nach dem Kriege darf durchaus als Gewinn gelten, für den der Preis gelegentlicher Blässe nicht zu hoch ist. Repräsentativität zivilgesellschaftlicher Akteure ist mithin schwer zu messen, was sich auch auf die Legitimität der vertretenen Positionen auswirkt. Sicherlich kann die Mächtigkeit einer Position nicht von der Lautstärke der Sprecher abhängen. Ganz banal ist dann auch zu fragen, wann eine Streitfrage beendet ist. Die Diskussionen um Stuttgart 21 oder Endlager für Atommüll zeigen die damit verbundenen Implikationen. Welche Art von Partizipation ist geeignet, wirklich eine hinreichende Zahl von Interessen und Positionen zu berücksichtigen? Wann beugt sich eine Minderheit der Einsicht, keine Mehrheit errungen zu haben? Wie können hohe Beteiligungsraten erreicht werden? 269 Bei der Volksabstimmung über S 21 waren rund 7,6 Millionen Menschen stimmberechtigt, 3,68 Millionen haben sich an der Abstimmung beteiligt. 2.160.411 davon haben den Weiterbau befürwortet. Einer solchen Mehrheit fehlt gelegentlich die Überzeugungskraft, wenn auch Ministerpräsident Kretschmann nach der Abstimmung klarstellte, die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger sei in der Demokratie das Maß aller Dinge. Diese Fragen lassen sich, wenn man nicht am offenbar für einige Teile der Gesellschaft schwer erträglichen Modell der repräsentativen Demokratie als Regelfall, ergänzt durch gelegentliche Ergänzung durch Abstimmungen in Sachfragen, festhalten will, kaum in allgemein gültiger Weise entscheiden. Ein sinnvoller Schritt scheint es zu sein, Elemente direkter Demokratie zu verstärken, wie dies in den Bundesländern zunehmend der Fall ist. Die berechtigte Warnung vor der Irrationalität von Volkes Stimme mit Blick auf Themen wie Wiedereinführung der Todesstrafe oder dem Umgang mit Kinderschändern darf nicht als bequeme Ausflucht dienen, eine stärkere Entscheidungsbefugnis insgesamt zu blockieren. Sachfragen wie der Nichtraucherschutz (Bayern 2010) oder der obligatorische Religionsunterricht (Berlin 2009) sind selbstverständlich einem Bürgerentscheid zugänglich. Allerdings wäre eine höhere Beteiligung wünschenswert.270 Fraglich ist hingegen auch bei Sachthemen, inwieweit es ein grenzüberschreitendes Interesse von Bürgern – aber auch von Politikern – gibt, das entsprechende Entscheidungen sinnvoll einordnet. Ob tatsächlich ein „kosmopolitisches Moment“271 erfahren und handlungsleitend wird, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Manche Aspekte 269 Hierzu Wolfgang Merkel/Alexander Petring, Partizipation und Inklusion, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Demokratie in Deutschland 2011. Abruf bar unter http://www.demokratie-deutschland2011.de/common/pdf/Partizipation_und_Inklusion.pdf (besucht am 12. April 2012). 270 Vgl. Patrizia Nanz/Miriam Fritsche, Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen, 2012. 271 Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007, S. 94 ff.
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der Diskussionen über die Schuldenkrise im Euroraum lassen hieran Zweifel aufkommen. Zivilgesellschaftlichen Akteuren hat sich nicht nur mit Blick auf den Menschenrechtsschutz in den letzten zwanzig Jahren ein erweitertes Betätigungsfeld eröffnet. Der Nationalstaat ist trotz Globalisierung und Verflechtung weder obsolet272 noch machtlos273 und gerade für den Schutz der Menschenrechte unverzichtbar,274 doch es gibt eine Reihe teils ergänzender, teils kontrollierender Funktionen, die zivilgesellschaftliche Akteure wahrnehmen können und müssen. Diese Akteure treten dem Staat hierbei als neue Figurationen des „globalen Zeitalters“ zur Seite.275 Formalisierte und verstetigte internationale Kontrollmechanismen und -prozesse verlangen nach Teilnehmern, die wie Staaten und internationale Organisationen über Dauerhaftigkeit und einen gewissen Organisationsgrad verfügen. So sind es vor allem größere, international aufgestellte NRO, die sich auf der völkerrechtlichen Ebene an diesen Verfahren beteiligen. Wiener Erklärung und Aktionsprogramm anerkennen die wichtige Rolle von NRO und fordern ihre stärkere Beteiligung in allen Phasen des Menschenrechtsschutzes (Nr. I.38). Fast zwanzig Jahre später ist ihre Beteiligung erkennbar größer geworden, ohne dass die Hauptverantwortung der Staaten geschmälert oder gar ersetzt worden wäre. Gleichzeitig sind weitere zivilgesellschaftliche Akteure als bedeutsam identifi ziert worden und werden in den aktuellen Dokumenten der Vereinten Nationen mittlerweile auch unmittelbar angesprochen: So setzen die Vereinten Nationen beispielsweise im Kampf gegen Korruption und Bestechung auf eine verstärkte Einbeziehung von und Zusammenarbeit mit NRO, der Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor.276 Sie fordern ferner eine aktive Einbeziehung von NRO und Zivilgesellschaft in den Entwicklungsprozess277 und plädieren für deren verstärkte Einbindung in die Schaffung einer Friedenskultur278. Diese sinnvollen Tätigkeiten müssen und können im Rahmen der Anforderungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wahrgenommen werden. 272 Vgl. Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem, Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung, 2001, S. 118 ff.; Alfred van Staden/Hans Vollaard, The Erosion of State Sovereignty: Towards a Post-territorial World?, in: Gerard Kreijen (Hrsg.), State, Sovereignty and International Governance, 2002, S. 165–184. 273 Hierzu Linda Weiss, Is the State being Transformed by Globalization?, in: dies. (Hrsg.), States in the Global Economy: Bringing Domestic Institutions Back In, 2003, S. 293–317; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, Globalisierung und Denationalisierung als Chance, 1998, S. 392 ff. Ein Versagen der Staaten konstatiert hingegen Thilo Bode, Globalisierung und Demokratie, in: Stefan Brink/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung, FS für Hans Herbert von Arnim, 2004, S. 31–42. 274 Hierzu Norman Weiß, Die Verantwortung des Staates für den Schutz der Menschenrechte, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.) Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. 15 Jahre nach der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien, 2008, S. 517–540. 275 Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Staat und Gesellschaft im Globalen Zeitalter, 1996, dt. 1998, S. 189 ff., 220 ff. 276 United Nations Declaration Against Corruption and Bribery in International Commercial Transactions vom 16. Dezember 1996, UN-Dok. A/RES/51/191; United Nations Convention against Corruption vom 31. Oktober 2003 , UN-Dok. A/RES/58/4. 277 Agenda for Development vom 20. Juni 1997, UN-Dok. A/RES/51/240. 278 Declaration and Programme of Action on a Culture of Peace, vom 13. September 1999, UNDok. A/RES/53/243.
Rechtsschutzgarantien des internationalen Rechts von
Prof. Dr. Dres. h.c. Eberhard Schmidt-Aßmann und Timo Rademacher, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Gerichtsschutz ist bekanntermaßen ein Fluchtpunkt des nationalen Verwaltungsrechts1. Er wird es immer mehr auch für das internationale Verwaltungsrecht2. Die Frage nach festen Gewährleistungen eines solchen Rechtsschutzes, die Frage nach Rechtsschutzgarantien, soll diese Entwicklung verdeutlichen und ihr eine normative Absicherung geben. Wer nach Rechtsschutzgarantien im internationalen Recht sucht, darf freilich nicht die klaren Tatbestandsstrukturen einer Garantie wie der des Art. 19 Abs. 4 GG erwarten. Das internationale Recht kennt keinen einheitlichen Normsetzer und keine zentral und hierarchisch angelegte Rechtsquellenlehre. Es ist entscheidend vom guten Willen der Staaten abhängig, die nach wie vor die wichtigsten Kräfte im Prozess der internationalen Rechtsbildung darstellen. Das gilt auch für den Menschenrechtsschutz3. Die Staaten sind es, die im Konsens handeln und die entsprechenden Verpfl ichtungen im Wege freiwilliger Selbstbindung eingehen müssen, damit Vertragsrecht entsteht. Sie sind es, die entsprechende Übungen tätigen müssen, damit sich Völkergewohnheitsrecht bildet. Vieles hängt hier von den ökonomischen und sozialen Bedingungen der jeweiligen Politikbereiche, von unterschiedlichen Traditionen der beteiligten Rechtskulturen und von der Durchsetzungsfähigkeit (und vom Verhandlungsgeschick) der Akteure ab, die den Entstehungsprozess der entsprechenden Abkommen und Konventionen prägen.
1 E. Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, DV 44 (2011), S. 105 ff. 2 Vgl. Report of the International Law Association, Berlin Conference: Accountability of International Organizations, in: International Organizations Law Review (IOLR) 2004, S. 225 ff.; F. Francioni (Hrsg.), Access to Justice as a Human Right, 2007, S. 1 ff.; E. de Wet, Holding International Institutions Accountable, in: A. v. Bogdandy / R. Wolfrum / J. von Bernstorff / Ph. Dann / M. Goldmann (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions, 2010, S. 855 ff.; A. A. C. Trindade, Access of Individuals to International Justice, 2011. 3 J. Delbrück, Menschenrechtsschutz im Mehrebenensystem, in: Festschrift für Schmidt-Jortzig, 2011, S. 665 (676 f.); C. A. Feinäugle, Hoheitsgewalt im Völkerrecht, 2011, bes. S. 225 ff.
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Eberhard Schmidt-Aßmann und Timo Rademacher
Doch lässt sich in der Nachkriegsentwicklung – und das heißt für einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert – nicht nur für den europäischen Rechtskreis, sondern auch im weltweiten Rahmen die Tendenz beobachten, den Individualanspruch auf eine wirksame Kontrolle durch eine unabhängige Instanz als ein wichtiges allgemeines Ordnungselement des internationalen Rechts anzuerkennen4 und seine Gewährleistung in die entsprechenden Vertragswerke aufzunehmen. Die Entwicklung führt von den Instituten des klassischen Völkerrechts, das Rechtsschutzfragen im Zusammenhang mit fremdenrechtlichen Mindeststandards und der Gewährung diplomatischen Schutzes behandelt, zu individualrechtlichen Garantien des neueren Völkervertragsrechts, für die die Art. 8 und 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der UN von 1948 die zentrale Referenz bilden. Dieser große Entwicklungsbogen, der im positiven Völkerrecht ansetzt und auf ein Widerlager in der völkerrechtlichen Theorie angewiesen bleibt, soll im Folgenden zunächst an drei Referenzbereichen nachgezeichnet werden (I), um sodann einige aufeinander zulaufende Linien herauszuarbeiten (II und III). Im Zentrum des Beitrages steht der Individualrechtsschutz. Die Streitentscheidung und Streitbeilegung zwischen Staaten liegen außerhalb des Untersuchungsrahmens5.
I. Rechtsschutzgarantien in völkerrechtlichen Verträgen und anderen Rechtsakten Die im Folgenden analysierten Referenzbereiche betreffen zwar weit auseinander liegende Regelungssituationen. Sie erscheinen gerade deswegen aber durchaus geeignet, eine allgemeine Entwicklungsrichtung aufzuzeigen: Das wichtigste Gebiet ist zweifellos der Menschenrechtsschutz; er wird daher im Zentrum unserer Überlegungen stehen (1). Interessant ist – zweitens – das internationale Wirtschaftsrecht, das Formen der schiedsgerichtlichen Streitschlichtung in den Dienst des Individualrechtsschutzes stellt (2). Einen dritten Referenzbereich bildet das Statusrecht der Internationalen Organisationen, das das Rechtsschutzthema über das Hoheitshandeln der Staaten hinaus auf die zunehmend wichtiger und intensiver werdende Tätigkeit der internationalen Akteure erstreckt (3).
1. Rechtsschutzgarantien und Menschenrechtsschutz Hier kann an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung vom Dezember 1948 angeknüpft werden6. Nach deren Art. 8 hat jeder 4 Besonders prononciert Trindade, Access of Individuals (Fn. 2), der gerichtlichen Rechtsschutz als Teil eines „international ordre public“ (S. 205 ff.) begreift. 5 Vgl. dazu nur Chr. Walter, Der Rechtsschutz durch den Internationalen Gerichtshof, in: D. Ehlers / F. Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 1; Chr. Tietje, Rechtsschutz und Streitbeilegung in der Welthandelsorganisation, dort § 3, jeweils mit weiteren Nachweisen. 6 Zum Folgenden auch E. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 241 ff.; ferner die Darstellungen bei M. Ruffert / Chr. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2009, Rn. 481 ff.; Delbrück, Menschenrechtsschutz (Fn. 3), S. 668 ff.
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„einen Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem zuständigen innerstaatlichen Gericht gegen Handlungen, durch die seine ihm nach der Verfassung oder dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzt werden“. Art. 10 der Deklaration ergänzt dieses Recht um die Garantie eines fairen Verfahrens. Selbst wenn die Erklärung nicht den Rang eines förmlichen Rechtssatzes hat, steht ihre „prägende Wirkung“ außer Zweifel, Teile des Schrifttums behandeln sie heute sogar als Völkergewohnheitsrecht7. Für die genauere Analyse rechtlich bindender Völkerrechtsakte lohnt es sich, zunächst einen Blick auf einige Spezialgebiete zu werfen (a), bevor die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte (b) und danach die regionalen Pakte – für Europa also die Art. 6 und 13 der EMRK – behandelt werden (c).
a) Frühe und spezielle Garantien Ansätze für Garantien eines Individualrechtsschutzes finden sich früh im Flüchtlingsrecht. So muss ein Flüchtling nach Art. 16 Nr. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention im Gebiet der Konventionsstaaten freien und ungehinderten Zugang zu den Gerichten erhalten. Speziell gegen seine Ausweisung „soll“ ihm zudem gestattet werden, ein Rechtsmittel einzulegen (Art. 32 Nr. 2). Die Bestimmungen über den Rechtsschutz ruhen hier auf älteren Traditionen des völkerrechtlichen Fremdenrechts8. War es dort zunächst der Gedanke der Inländergleichbehandlung, so sind es heute eher Überlegungen eines Mindeststandards, die einige elementare Gewährleistungen zu Völkergewohnheitsrecht haben erstarken lassen9. Dazu gehört ein Recht auf Rechtsschutz. Der Aufenthaltsstaat muss dem Ausländer „angemessene Behandlung und notwendigen Schutz“ zukommen lassen und ihm eine „aktive Rechtsverfolgung“ gestatten10. „So wäre das Fehlen jeden Rechtsschutzes vor Übergriffen der Verwaltung mit dem modernen Völkerrecht nicht mehr in Einklang zu bringen“11. Entsprechend haben sich die durch die Garantienormen Berechtigten individualisiert. Während Schutzgewährung auf dem Boden der InländergleichbehandlungsThese noch überwiegend als eine allein dem Heimatstaat geschuldete Pfl icht angesehen wurde12, ist sie in der Flüchtlingskonvention zu einem Recht des Ausländers selbst geworden. Das ist nicht allein durch die spezifische Situation des Flüchtlingsrechts veranlasst. Jüngere Konventionen unterstreichen diese Entwicklung zur Individualisierung und verbinden sie mit einer Ausdifferenzierung der Durchsetzungs7 M. Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte – HGR – Bd. VI/2, 2009, § 173 Rn. 37; dort Rn. 54 auch zu der von Teilen der Literatur angenommenen Geltung der Garantien des Art. 10 als Völkergewohnheitsrecht. 8 Vgl. nur Francioni, Access to Justice (Fn. 2), S. 2 ff. 9 Zur Entwicklung Chr. Tomuschat, Der fremdenrechtliche Mindeststandard im Völkerrecht, in: HGR VI/2 § 178 Rn. 5 ff., zur Einbeziehung der Regeln zur prozessualen Fairness in den Mindeststandard dort Rn. 40 mit Hinweis auf D. Weissbrodt (Hrsg.), The Right to a Fair Trial, 2001. 10 G. Dahm / J. Delbrück / R. Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2, 2. Aufl. 2002, § 96 II 7. 11 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht (Fn. 10), S. 121. 12 Vgl. die bei Chr. Tomuschat (Fn. 9), Rn. 6 zitierte Ansicht H. Triepels.
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mechanismen13. So verpfl ichtet das UN-Übereinkommen gegen Folter von 1984 die Vertragsstaaten dazu, Rechte auf Anrufung einer Behörde und eine umgehende unparteiische Prüfung ihres Falles durch diese vorzusehen (Art. 6). Ähnlich müssen die Staaten nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 Möglichkeiten schaffen, Freiheitsentziehungen bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen, unabhängigen Behörde anfechten und auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen lassen zu können (Art. 37 lit. d). In Strafverfahren sind Kindern Mindestgarantien einzuräumen (Art. 40 Abs. 2 lit. b). Manche Konventionen haben zudem eigene internationale Kontrollgremien geschaffen, die – regelmäßig allerdings nur nach Maßgabe einer Fakultativklausel und entsprechender Unterwerfungserklärungen der Vertragsstaaten – auch mit Individualbeschwerden befasst werden können14.
b) Der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) Die wichtigsten Rechtsschutzgarantien des Völkervertragsrechts enthält der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte von 1966, dem heute mehr als 160 Staaten angehören. Die Struktur, in der das neuere Völkerrecht die Frage der Rechtsschutzverbürgungen behandelt, hat hier ihre allgemeine, aus zwei bzw. drei Elementen geformte Grundausprägung erhalten: erstens ein gegen die Vertragsstaaten gerichteter Individualanspruch auf Rechtsschutz (aa), zweitens eine pakteigene Kontrollinstanz (bb) und drittens die Möglichkeit, dieses Gremium mit einer Individualbeschwerde anzurufen (cc). Die beiden erstgenannten Elemente sind obligatorisch, das dritte ist fakultativ. Aus der Sicht des europäischen Rechts mit einer obligatorischen Menschenrechtsbeschwerde und einem ständigen Menschenrechtsgerichtshof mag das alles noch recht rudimentär und zerbrechlich erscheinen. Wir sollten aber nicht sofort Vergleiche ziehen, sondern realistisch abschätzen, was im Weltmaßstab erreichbar ist, und was an Ansätzen eines Individualrechtsschutzes erreicht worden ist15. Unbeschadet ihrer Schwächen stellt diese dreigliedrige Architektur die Standardkonstellation des heutigen Individualrechtsschutzes des allgemeinen Völkerrechts dar.
aa) Individualrecht auf Rechtsschutz Nach Art. 14 Abs. 1 dieses Paktes hat jedermann das Recht, dass über eine gegen ihn erhobene Anklage und seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpfl ichtungen (law suit) von einem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz be13 Darstellung der Konventionen bei W. Heintschel von Heinegg, Spezielle Menschenrechtspakte, in: HGR VI/2 § 175; kurz auch St. Kadelbach, in: D. Ehlers / F. Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 2 Rn. 7 ff. 14 Vgl. Art. 14 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung; Art. 22 der Konvention gegen Folter; Art. 1 und 2 des Fakultativprotokolls von 1999 zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (1979). 15 Zu entsprechenden Subjektivierungstendenzen der neueren Völkerrechtsentwicklung vgl. A. Peters, Das subjektive internationale Recht, JöR NF 59 (2011), S. 411 ff.
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ruhenden Gericht (tribunal) öffentlich verhandelt wird. Die Tatbestandmerkmale des Art. 14 Abs. 1 ICCPR werden heute weit ausgelegt und erfassen in der Auslegung durch den zuständigen Menschenrechtsausschuss neben den üblichen zivilrechtlichen Fällen auch die meisten öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten16. Dafür spricht auch die historische Interpretation17. Gewährleistet wird das Recht auf ein faires und auf ein öffentliches Hearing, das das Recht auf Zugang zu einem Gericht umfasst. Für Strafverfahren sind weitere Garantien angefügt (Absätze 2–7). Dass diese Rechte individuelle Rechte sind, wird in den „Allgemeinen Bemerkungen“ (General Comments) des Ausschusses zu Art. 14 ausdrücklich hervorgehoben. An den Anfang seiner Gewährleistungen hat Art. 14 die Gleichheit vor Gericht gestellt („All persons shall be equal before the courts and tribunals.“). Dieser interessanterweise auf Initiative der Sowjetunion eingefügte Grundsatz, der bei der Ausarbeitung des Paktes zunächst außerordentlich umstritten war, wird heute auch als Verpfl ichtung der Staaten verstanden, durch positive Maßnahmen freien Zugang zu Gericht für jedermann zu gewährleisten18. Ähnlich wie Art. 13 EMRK verpfl ichtet Art. 2 Abs. 3 ICCPR die Vertragsstaaten zudem, ein allgemeines Beschwerderecht gegen die Verletzung von Paktrechten zu gewährleisten, das speziell auch Akte der öffentlichen Gewalt erfasst19. Insoweit besteht allerdings keine Pfl icht, gerade Gerichte als Beschwerdeinstanzen einzusetzen; vielmehr kommen auch Verwaltungs- oder Gesetzgebungsorgane sowie Ombudsstellen in Betracht. Diese Instanzen müssen aber in der Lage sein, den Beschwerden, denen sie stattgeben, Geltung zu verschaffen (Art. 2 Abs. 3 lit. c). Außerdem ist eine Pfl icht der Vertragsstaaten festgelegt, den gerichtlichen Rechtsschutz auszubauen (lit. b).
bb) Vertragseigenes Kontrollgremium Vertragseigenes Kontrollgremium ist ein „Ausschuss für Menschenrechte“ (Art. 28 ff. ICCPR), der nicht mit dem seit 2006 existierenden UN-Menschenrechtsrat und mit dessen Vorgängerin, der durch Manipulation und Verschleierungstaktiken „unrettbar in Mißkredit geratenen“ UN-Menschenrechtskommission 20, verwechselt werden darf. Anders als diese besteht der Ausschuss nicht aus Staatenvertretern, sondern aus 18 Sachverständigen, die in persönlicher Eigenschaft gewählt 16 So M. Nowak, U. N. Covenant on Civil and Political Rights, CCPR-Commentary, 2. Aufl. 2005, Art. 14 Rn. 20; Chr. Vedder, Die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte und ihre Verfahren, in: HGR VI/2 § 174 Rn. 47. Die Schwierigkeiten zahlreicher Länder der 3. Welt, für Verwaltungsstreitigkeiten geeignete gerichtliche Instanzen zu schaffen (dazu Chr. Tomuschat, Völkerrechtliche Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für K. Redeker, 1993, S. 273 (278)), dürfen nicht als Gründe für eine in diesem Punkte einschränkende Interpretation genommen werden. 17 Dazu mit Nachweisen Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 6), S. 247 f. 18 Nowak, CCPR-Commentary (Fn. 16), Rn. 11: „positive measure to organize the judicial system“. 19 Spezielle Garantien bestehen z. B. im Zusammenhang mit Ausweisungen (Art. 13). 20 So die Qualifi zierung der 2006 abgelösten Menschenrechtskommission durch H.-G. Dederer, Die Durchsetzung der Menschenrechte, in: HGR VI/2 § 176 Rn. 22. Zum Ganzen ausführlich D. Karrenstein, Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, 2011, bes. S. 121 ff.
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werden, ihr Amt in persönlicher Eigenschaft ausüben21 und auf diese Weise Gewähr für eine hinreichende Unabhängigkeit bieten sollen. Der Ausschuss ist nach bisherigem Konzept zwar kein Justizorgan, sondern verwendet vorwiegend Mittel der zwischenstaatlich-diplomatischen Konfl iktlösung22. Seine Verfahrensordnung von 2005/2011 lässt aber Ansätze prozessrechtlicher Regelungen erkennen23. Nach Art. 40 ICCPR haben die Vertragsstaaten dem Ausschuss auf Anforderung darüber zu berichten, welche Maßnahmen sie zur Verwirklichung der im Pakt verbrieften Rechte unternommen haben. Dieses Staatenberichtsverfahren dient allgemeinen Kontrollzwecken. Der Ausschuss prüft und kommentiert die vorgelegten Berichte nach Art. 66 ff. seiner Geschäftsordnung24. „Einzelne Menschenrechtsverletzungen können dabei als Beispiele eine Rolle spielen. Die Berichte, die öffentlich zugänglich sind, entfalten durch die Anprangerung von Mißständen in der Weltöffentlichkeit Wirkung“25. Nach Art. 41 kann sich jeder Vertragsstaat durch Erklärung zudem einem Staatenbeschwerdeverfahren unterwerfen. Der Ausschuss darf allerdings eine Beschwerde („Mitteilung“) nur von solchen Staaten entgegennehmen und prüfen, die sich ihrerseits diesem Verfahren unterworfen haben 26. „Das Staatenbeschwerdeverfahren folgt dem Muster klassischer völkerrechtlicher Streitbeilegung, angelehnt an Art. 33 UNCh. Individuelle Menschenrechtsverletzungen sind nicht förmlich Gegenstand des Verfahrens“27. In der Praxis spielt die Staatenbeschwerde allerdings bisher keine Rolle.
cc) Individualbeschwerde Umso mehr gewinnt die Individualbeschwerde an Bedeutung. Sie setzt den Einzelnen in den Stand, „seine völkerrechtlich garantierten Menschenrechte in einem völkerrechtlich geregelten Verfahren selbst, im eigenen Namen, gegen den Staat geltend zu machen“28. Die Beschwerde kann gegen diejenigen Staaten erhoben werden, die das Fakultativprotokoll (FP) vom 16. 12. 1966 ratifiziert haben. Das sind bisher immerhin mehr als 110 Staaten, wobei allerdings so wichtige Länder wie die Vereinigten Staaten und China fehlen. Die Beschwerde ist streng individualrechtlich ausgerichtet. Beschwerdebefugt ist derjenige, der behaupten kann, durch einen Vertragsstaat in einem seiner im Menschenrechtspakt niedergelegten Rechte verletzt zu sein (Art. 2 FP). Verlangt wird 21 Ähnlich Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens gegen die Diskriminierung der Frau; Art. 8 Abs. 1 des Übereinkommens gegen Rassendiskriminierung. 22 Im Einzelnen Dederer (Fn. 20), § 176 Rn. 66 ff. 23 Verfahrensordnung des Menschenrechtsausschusses, Doc. CCPR/C/3/Rev. 9 vom 13. 1. 2011. 24 Vgl. die Darstellung bei Dederer (Fn. 20), § 176 Rn. 68 f. 25 Vedder (Fn. 16), § 174 Rn. 134. 26 Das sind bisher 48 Staaten, s. zum jeweils aktuellen Stand die UN Treaty Collection zum Status of Treaties unter treaties.un.org. 27 So Vedder (Fn. 16), § 174 Rn. 136. 28 Dederer (Fn. 20), § 176 Rn. 72; Chr. Tomuschat, Human Rights – Between Idealism and Realism, 2. Aufl. 2008, S. 194; Nowak, CCPR Commentary (Fn. 16), Preamble First OP Rn. 2: „[. . .] one of the most important procedures for the international protection of human rights“.
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dazu ein gewisses Maß an substantiierter Darlegung29. Zulässig ist die Beschwerde zudem nur, wenn der Beschwerdeführer zuvor alle ihm nach innerstaatlichem Recht zustehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat (local remedies rule). Der Ausschuss berät über die Beschwerden in nicht öffentlicher Sitzung. Die Darlegung seiner Rechtsauffassung (view), die in einer gerichtlichen Entscheidungen ähnlichen Form aufgebaut ist, endet mit der Feststellung der Verletzung bzw. Nicht-Verletzung von Paktvorschriften30. Sie wird dem betreffenden Staat und dem Beschwerdeführer mitgeteilt (Art. 5 Protokoll); daneben ist eine Veröffentlichung üblich geworden31. Überhaupt kann man in der Praxis eine zunehmende Juridifizierung des Beschwerdeverfahrens beobachten. Zu einer stärkeren Verrechtlichung tragen auch die General Comments bei, die mittlerweile „zentrale Erkenntnisquellen für die Auslegung und Anwendung der UN-Menschenrechtsverträge“ darstellen32. Sie fassen die Erfahrungen des Ausschusses im Umgang mit Berichten und Beschwerden, geordnet nach den Garantienormen des Paktes, zusammen und bringen sie so juristisch in Form. Comments sind zwar keine förmlichen Rechtsquellen; sie bieten aber wichtige Orientierungshilfen und in ihrer intensiven Bearbeitung einen Fundus von Argumenten im Prozess der Rechtsentwicklung33, so dass der Feststellung Eckart Kleins zuzustimmen ist: „Die Darstellung menschenrechtlicher Probleme ohne Berücksichtigung einschlägiger ‚Allgemeiner Bemerkungen‘ ist nach dem heutigen Stand nicht mehr lege artis“34.
c) Garantien in den regionalen Menschenrechtspakten Rechtsschutzgarantien finden sich auch in den regionalen Menschenrechtspakten – uns besonders vertraut in den Art. 6 und 13 der EMRK, ähnlich gefasst aber auch in den amerikanischen, afrikanischen und arabischen Pakten35; der ost- und südosta29
Im Einzelnen Dederer (Fn. 20), § 176 Rn. 76. S. Vedder (Fn. 16), § 174 Rn. 140: „Diese Auffassungen haben sich in ihrer äußeren Gestalt weitgehend gerichtlichen Urteilen in kontradiktorischen Verfahren angenähert“. 31 Im Zeitraum vom 1. 8. 2010 bis zum 31. 7. 2011 registrierte der Ausschuss 116 Individualbeschwerden; zu 151 Verfahren wurden Stellungnahmen (Views) verfasst. Insgesamt gingen seit In-KraftTreten des Zusatzprotokolls 2.076 Individualbeschwerden ein (zu den Zahlen s. den Report of the Human Rights Committee zu seiner 100., 101. und 102. Sitzung, UN-Doc. A/66/40 (Vol. I), Summary und S. 96 ff.; mit der Umsetzung seiner Stellungnahmen ist der Ausschuss nicht zufrieden: „The Committee again notes that many States parties have failed to implement the Views adopted under the Optional Protocol.“ summary, S. iv). 32 So Dederer (Fn. 20), § 176 Rn. 85. 33 E. Klein, „Allgemeine Bemerkungen“ der UN-Menschenrechtsausschüsse, in: HGR VI/2 § 177 Rn. 14, 37 ff. 34 Klein (Fn. 33), § 177 Rn. 31. 35 Art. 8, 25 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK, auch „Pakt von San José“ genannt) vom 22. 11. 1969, in Kraft seit dem 18. 7. 1978 (von den US und Kanada bislang nicht ratifiziert); Vergleich von EMRK und AMRK bei J. Abr. Frowein, Die Europäische und Amerikanische Menschenrechtskonvention, EuGRZ 1980, S. 442 ff.; Trindade, Access of Individuals (Fn. 2), S. 59 ff. Art. 7, 26 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (sog. „BanjulCharta“) vom 27. 6. 1981, in Kraft seit dem 21. 10. 1986; Art. 12, 13, 25 der Arabischen Menschenrechtscharta vom 22. 5. 2004, in Kraft seit dem 15. 3. 2008. Vgl. Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht (Fn. 6), Rn. 514 ff.; Delbrück, Menschenrechtsschutz (Fn. 3), S. 671 ff. 30
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siatische Raum fehlt. Freilich muss man auch die vorhandenen Garantien im Kontext der kulturellen Rahmenbedingungen und politischen Verhältnisse lesen36 : Die arabischen Verbürgungen stehen (etwas pauschal formuliert) unter dem Vorbehalt ihrer Übereinstimmung mit dem islamischen Recht. Der afrikanischen Charta fehlte es lange an einer wirksamen Kontrollinstanz; erst im Juni 2006 nahm ein Gerichtshof seine Arbeit auf 37. Die amerikanische Konvention kommt der europäischen zwar nahe, sie leidet jedoch darunter, dass die USA sie zwar gezeichnet, bisher aber nicht ratifiziert haben. Die amerikanische und die afrikanische Konvention kennen anders als Art. 35 EMRK eine Individualbeschwerde nur unter stark einschränkenden Bedingungen. Legt man dessen ungeachtet die Normtexte zugrunde, so zeigen sich gerade in den Fragen des Gerichtsschutzes erhebliche Übereinstimmungen vor allem in den Elementen, die die Qualität des Rechtsschutzes ausmachen: dem Recht auf Gehör, der Unabhängigkeit des Gerichts und dem Grundsatz der Verfahrensfairness. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen38 : „Verwaltungsrechtsschutz ist heute Gegenstand einer Vielzahl völkerrechtlicher Regelungen. Diese beschränken sich nicht auf die Aufstellung vager, beliebig zu erfüllender und nahezu unbegrenzten nationalen Gestaltungsspielraum belassender Prinzipien, sondern enthalten teilweise bereits detaillierte und konkrete Vorgaben für den nationalen Verwaltungsrechtsschutz“. Klarer als bei den Freiheitsrechten, bei denen die unterschiedlichen Vorstellungen der großen Kulturkreise über Individuum und Gemeinschaft, Ehe und Familie, Staat und Religion hinter den Normtexten nur allzu schnell sichtbar werden, dürften hier übergreifend ähnliche Grundvorstellungen eines „Richterbildes“ wirken. Für den europäischen und den amerikanische Rechtskreis kann dazu auf die beiden Regeln des römischen Prozessrechts, das nemo iudex in sua causa und das nemo damnatus nisi auditus vel vocatus39, verwiesen werden. Es wäre reizvoll zu sehen, inwieweit sich diese Grundanforderungen ähnlich auch in den Traditionen der anderen Rechtskreise nachweisen lassen.
2. Rechtsschutzgarantien im internationalen Wirtschaftsrecht Wir gehen jedoch nicht dieser rechtsvergleichend-historischen Perspektive nach, sondern wenden uns – in die entgegengesetzte Richtung blickend – jüngeren Entwicklungen des internationalen Wirtschaftsrechts als dem zweiten der oben genannten Referenzbereiche zu. Hier bieten das Investitionsschutzrecht (a) und das WTORecht (b) Rechtsschutzgarantien einer ganz eigenständigen Erscheinungsform, näm-
36 Zum Folgenden K. Stern, Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: HGR VI/2 § 185 Rn. 19 ff. 37 Der Gerichtshof wurde durch das Protokoll zur Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 9. 5. 1998 (in Kraft seit 25. 1. 2004) eingerichtet. Eine Individualbeschwerde gegen einen Staat ist erst möglich, wenn er eine entsprechende Erklärung abgegeben hat, Art. 34 Abs. 6 Protokoll. Bislang (Stand September 2011) haben das fünf Staaten getan. 38 Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 6), S. 237. 39 Nachweise bei D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1982, N 39 und 56.
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lich als Verbindungen völkerrechtlicher und privatrechtlicher Gewährleistungselemente.
a) Garantieformen im Investitionsschutzrecht Auch dieser Schutz hat freilich eine Geschichte. Sie führt zurück in das allgemeine völkerrechtliche Fremdenrecht und zu den Handels-, Schifffahrts- und Niederlassungsabkommen, die Staaten zur Förderung ihrer Wirtschaftsbeziehungen seit langem miteinander zu schließen pflegen40. In diesem Rahmen gehört auch das Recht der in einem Gastland tätigen fremden Wirtschaftssubjekte auf Zugang zu und Rechtsschutz durch die Gerichte dieses Landes zu den Mindeststandards41. Das Zugangsrecht seinerseits ist der ursprünglichen Konzeption nach allerdings nur der Rechtsreflex eines allein zwischen den beteiligten Staaten bestehenden völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses. Der Einzelne kann es dem Gastland gegenüber nicht durchsetzen, sondern muss den diplomatischen Schutz seines Heimatlandes zu erlangen suchen42. Das in den letzten Jahrzehnten entwickelte Investitionsschutzrecht versucht nun, den investierenden Unternehmen Möglichkeiten zu eröffnen, direkt gegen das Gastland klagen zu können. Es kombiniert dazu völkerrechtliche Verträge mit einer Reihe von Streitschlichtungsmechanismen, staatliche Souveränität mit privatautonomer Gestaltung43. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das ICSID in Washington D. C. (International Centre for the Settlement of Investment Disputes), dessen Gründung auf Initiativen der Weltbank zurückgeht44. Den Rahmen bildet das „Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten“ von 1965, ein allein zwischen Staaten abgeschlossener Vertrag, dem bisher 140 Staaten beigetreten sind45. In ihm errichten die vertragsschließenden Staaten ein Zentrum für Streitschlichtung als Internationale Organisation und statten es mit Verfahren aus, deren Parteien auf der einen Seite der private Investor und auf der anderen Seite ein Staat, eben der Gaststaat ist, in dessen Hoheitsgebiet sich das Investitionsvorhaben befi ndet. 40
Zum Folgenden A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, Rn. 1209 ff. Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht (Fn. 40), Rn. 1213. 42 Zu den traditionellen Wegen des Investitionsschutzes (Rechtsschutz durch die innerstaatlichen Gerichte des Gastlandes oder diplomatischer Schutz durch das Sitzland des Unternehmens) und ihren Nachteilen Chr. Tietje, Internationaler Investitionsrechtsschutz, in: Ehlers/Schoch (Fn. 5), § 4 Rn. 4 ff. sowie A. Reinisch, Internationales Investitionsschutzrecht, in: Chr. Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2009, § 8 Rn. 1 ff. und § 18 Rn. 1 ff. 43 Ähnlich Reinisch (Fn. 42), § 8 Rn. 7: „Es ist daher durchaus zutreffend, das Internationale Investitionsrecht als typisches Beispiel des modernen transnationalen Rechts, das aus den Elementen des klassischen Völkerrechts, des innerstaatlichen Rechts sowie allgemeiner Handelsprinzipien besteht, anzusehen.“ 44 Darstellung bei Tietje (Fn. 5), Rn. 23 ff.; A. Reinisch, Die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, in: Chr. Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, 2009, § 18 Rn. 26 ff. Zu Investitionsschutzregimen im Rahmen anderer internationaler Organisationen vgl. R. Wolfrum, in: R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 2, 1995, S. 589 ff. 45 Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung und Anwendung des Übereinkommens sind dem Internationalen Gerichtshof zu unterbreiten (Art. 64). 41
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Die Grundlage für die Durchführung eines Schiedsverfahrens im Rahmen des ICSID muss eine schriftliche Schiedsabrede zwischen einem Vertragsstaat (oder dessen Untergliederungen) und einem Angehörigen eines anderen Vertragsstaates sein (Art. 25 ICSID-Übereinkommen). Die unterschiedlichen Konstruktionen, die zu einer solchen Abrede führen können, zeigen den zwischen traditionellem Völkerrecht und modernem Individualrechtsschutz oszillierenden Charakter des Investitionsschutzrechts deutlich46 : Die Abrede kann zum einen zwischen den Parteien selbst in einem zwischen ihnen geschlossenen privaten Investitionsvertrag getroffen sein (contract claim). Sie kann aber auch dadurch zustande kommen, dass der Investor das Angebot annimmt, das der Gaststaat in einem mit seinem Heimatstaat geschlossenen völkerrechtlichen Investitionsschutzvertrag abgegeben hat (treaty claim). Der zuletzt genannte Weg ist der in der Praxis am meisten genutzte. Weltweit existieren mehr als 2.500 solcher Schutzverträge, von denen etwa 1.000 entsprechende Schiedsklauseln enthalten sollen. Die Zuständigkeit des ICSID schließt andere Wege der Rechtsdurchsetzung wie die Gewährung diplomatischen Schutzes oder Klagen vor nationalen Gerichten aus (Art. 26, 27 ICSID-Übereinkommen). Die Durchführung des Schiedsverfahrens richtet sich nach dem Verfahrensrecht des ICSID-Übereinkommens (Art. 36 ff.), das weitgehend zwingendes Recht ist, von dem die Parteien einvernehmlich nur in den ausdrücklich vorgesehenen Fällen abweichen dürfen47. Das Verfahren ist vom Gedanken der Gleichordnung der Parteien bestimmt48. „Nach weithin, auch von internationalen Spruchkörpern geteilter Meinung, bedeutet die Vereinbarung einer internationalen Streitbeilegung, daß die beteiligten Staaten die multinationalen Unternehmen in entsprechenden Verfahren als gleichgeordnete Parteien anerkennen“49. In der Sache eröffnet das Investitionsschutzrecht Privaten damit den Zugang zu einer unabhängigen, nichtstaatlichen Rechtsschutzinstanz, deren Schiedssprüche für beide Parteien bindend sind und die beide genau zu befolgen haben (Art. 53 ICSIDÜbereinkommen). Jeder Vertragsstaat hat insbesondere für die Vollstreckung jedes Schiedsspruchs in seinem Hoheitsgebiet so zu sorgen, „als handle es sich um ein rechtskräftiges Urteil eines seiner innerstaatlichen Gerichte“ (Art. 54 Abs. 1 ICSIDÜbereinkommen). Verglichen mit den klaren zwei- bzw. dreigliedrigen Garantien der Menschenrechtspakte wirkt das Rechtsschutzsystem des Investitionsschutzrechts kompliziert und störanfällig. Verunsichernd wirkt es ferner, dass nicht eindeutig geklärt ist, inwieweit das Schiedsgericht neben dem Recht des Vertragsstaates Völkerrecht anzuwenden hat50. Auf der anderen Seite führt das ICDIS-System aber zu Entscheidungen, die in ihren Bindungswirkungen über die Stellungnahmen erheblich hinausgehen, 46
Zu diesen Konstruktionen vgl. Tietje (Fn. 5), Rn. 11, 54 und 70. Detailregelungen sind in den Rules of Procedure vom 10. 4. 2006 enthalten, ICSID Convention, Regulations and Rules, ICSID/15 April 2006, S. 73 ff. 48 Etwa in der Zuerkennung von Immunität auch für die private Partei (Art. 22 ICSID-Übereinkommen). 49 So Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht (Fn. 10), § 108 II 2, S. 253. 50 Vgl. Art. 42 Abs. 1 ICSID-Übereinkommen: unklar ist, ob die Investitionsverträge nur auf Völkerrecht verweisen oder ob sie selbst dem Völkerrecht zugeordnet werden können. Vgl. Wolfrum (Fn. 44), S. 628 f.; R. Dolzer, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, 6. Abschnitt Rn. 51. 47
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mit denen die Menschenrechtsausschüsse ihr Verfahren beenden. Zudem muss man berücksichtigen, dass der ICSID-Mechanismus mittlerweile ein international eingespielter Mechanismus ist51, der, wenn die entsprechenden Schiedsabreden getroffen sind, die Vertragsstaaten in ähnlicher Weise in eine Rechtsschutzautomatik einbezieht, wie das die Menschrechtspakte und die Fakultativprotokolle tun. Die Strukturen sind unterschiedlich, aber die Schutzwirkungen sind vergleichbar. In der Literatur werden beide Bereiche daher zutreffend in Parallele gesetzt52 : „Im modernen Völkerrecht gibt es zwei bedeutungsvolle Sachbereiche, in denen genau diese Konstellation gegeben ist: der Menschenrechtsschutz, insbesondere in seiner gerichtlichen Absicherung durch Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, sowie das hier interessierende internationale Investitionsschutzrecht.“
b) Garantieformen im Welthandelsrecht Nicht übersehen werden sollten allerdings auch die allgemeinen Juridifizierungstendenzen des Welthandelsrechts. Sie betreffen vor allem die WTO-Streitbeilegung nach der „Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten“ vom 15. 4. 199453. Dieses Verfahren steht zwar nur Mitgliedern, d. h. im wesentlichen Staaten, nicht aber Privaten offen. Doch ist ein gewisses Bemühen erkennbar, Letztere nicht ganz ohne Einfluss auf das Verfahren zu lassen. In diese Richtung zielt die erweiterte Praxis der amicus curiae briefs54. Außerdem kennen sowohl die USA wie auch die EU besondere Verfahren, die ihre Bürger in die Lage versetzen, bei ihrer Regierung bzw. bei der Kommission die Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens förmlich anzuregen55. Die Bedeutsamkeit, die das Welthandelsrecht dem Gerichtsschutz in den einzelnen Staaten beimisst, unterstreicht Art. X Abs. 3 lit. b des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, der die Vertragsparteien dazu verpfl ichtet, Gerichtsschutz in Zollangelegenheiten zu gewährleisten. Selbst wenn diese Bestimmung nach herrschender Anschauung nur eine objektive Staatenverpfl ichtung und kein subjektives Recht beinhaltet56, lassen sich weitere Abkommen fi nden, die die subjektive Berechtigung schon in ihrem Text zweifelsfrei ausweisen. Ein Beispiel bietet Art. 41 Abs. 4 des 51 Vgl. Reinisch (Fn. 44), § 18 Rn. 37: „Die Schiedsgerichtsbarkeit des ICSID kann als sehr erfolgreich angesehen werden.“ Bislang wurden 225 Verfahren nach den ICSID-Regeln abgeschlossen, weitere 130 sind anhängig (Stand 1. 8. 2011). 52 Tietje (Fn. 5), § 4 Rn. 8. 53 Dispute Settlement Understanding – DSU – Annex II des WTO-Übereinkommens. Dazu M. Hilf, Das WTO-Streitbeilegungssystem auf dem Weg zur internationalen Gerichtsbarkeit, in: FS R. Wahl, 2011, S. 707 ff. 54 Vgl. Hilf, WTO-Streitbeilegungssystem (Fn. 53), S. 717 und 721. 55 S. die sog. Handelshemmnis-Verordnung 3286/94 der EU vom 22. 12. 1994. Sie gibt Individuen das Recht, bei der Kommission die Einleitung eines Verfahrens zu beantragen, wenn sie sich durch (behauptete) Verstöße von Drittstaaten gegen das internationale Wirtschaftsrecht geschädigt sehen (Art. 3, 4). Der Antragsteller setzt dadurch ein formalisiertes Untersuchungsverfahren in Gang, in dem ihm Anhörungsrechte zustehen. Ob die Kommission den Streitschlichtungsmechanismus der WTO letztlich anruft, setzt voraus, dass dieser Schritt den „Interessen der Gemeinschaft“ entspricht. Insofern steht ihr ein weites Ermessen zu, vgl. dazu EuG Urteil vom 14. 12. 2004, Slg. 2004, II-4325. 56 S. Hörmann, in: M. Hilf / S. Oeter, WTO-Recht, § 8 Rn. 3 m. w. N.
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TRIPs, der zugleich Mindestanforderungen für den nationalen Rechtsschutz festlegt57. Das Welthandelsrecht ist sicher primär staatenzentriert. Seine Freiheits- und Rechtsschutzgarantien zugunsten der Marktteilnehmer „haben jedoch individualschützende Funktionen und sehen in zahlreichen Rechtsbereichen (wie etwa dem Zoll-, Antidumping-, Subventions-, Beschaffungs- und geistigen Eigentumsrecht) individuelle Verfahrensrechte vor, die weit über das autonome Außenwirtschaftsrecht hinausgehen und zum Entstehen eines internationalen Verwaltungsrechts beitragen“58.
3. Rechtsschutzgarantien im Recht der Internationalen Organisationen Im Recht der internationalen Organisationen als dem dritten der oben genannten Referenzbereiche hat das Thema der Rechtsschutzgarantien einen anderen Zuschnitt. Es geht hier nicht (wie unter 1 und 2) um eine die staatlichen Rechtsordnungen überformende oder ergänzende Garantieschicht des internationalen Rechts, die die Staaten in Pfl icht nimmt, sondern um Garantien gegenüber dem Handeln internationaler Hoheitsträger. Der Vielgestaltigkeit dieser Hoheitsträger, ihrer Rechtsgrundlagen und ihrer Aktivitäten entsprechend, muss man sich auf sehr unterschiedliche Erscheinungsformen des Rechtsschutzes und der Rechtsschutzgewährleistungen einstellen. Gerade hier macht sich das Wesen des Völkerrechts als einer stark fragmentierten Rechtsordnung hemmend bemerkbar. Es geht um kaum mehr als um gebietsspezifische Regelungsbeispiele und Regelungsansätze, für die sich in jüngster Zeit allerdings eine gewisse Verdichtung beobachten lässt59.
a) Ein Ausgangspunkt – Die Konvention über Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen von 1946 Betrachtet man die Entwicklung von den unterschiedlichen Rechtsschutzsituationen aus, die aus dem Handeln internationaler Organisationen entstehen können, so kann eine praktische Überlegung als Ausgangpunkt genommen werden: Internationale Organisationen benötigen, um ihre Aufgaben dauerhaft und ungestört wirksam erfüllen zu können, der Immunität von der Jurisdiktion mindestens ihres Sitzlandes, besser noch aller derjenigen Länder, in denen sie Aktivitäten entfalten sollen. Fragen des Rechtsschutzes kommen hier nicht originär, sondern eher „kompensatorisch“ ins Spiel, insofern es nicht angängig erscheint, einer Institution umfassend Immunität einzuräumen, ohne sie zugleich in Pfl icht zu nehmen, auf andere Weise für Möglichkeiten einer Streitbeilegung zu sorgen. Ein solcher Zusammenhang deutet sich im Recht der Vereinten Nationen schon früh in der etwa zeitgleich mit der UN-Charta selbst verabschiedeten Konvention 57 „Die Parteien eines Verfahrens erhalten Gelegenheit zur Nachprüfung der Entscheidungen der Verwaltungsbehörden [in Sachen des geistigen Eigentums, die Verf.] durch ein Gericht [. . .].“ 58 E.-U. Petersmann, Wirtschaftliche Grundrechte (WTO), in: HGR VI/2 § 182 Rn. 9. 59 Vgl. die Darstellung bei Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 75 ff. (im Blick auf die Bindungen des UN-Sicherheitsrates an Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit).
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über Vorrechte und Immunitäten der UN vom 13. 2. 1946 an, die die der UN nach Art. 105 der UN-Charta zukommende Immunität ausgestaltet. Nachdem dazu in den voraufgehenden Bestimmungen genaue Regelungen getroffen sind, heißt es in Art. 29, die UN hätten andere „appropriate modes of settlement“ verfügbar zu machen. Eine vergleichbare Vorschrift findet sich in Art. 31 der Konvention über die Vorrechte und Immunitäten der Sonderorganisationen der UN vom 21. 11. 1947. Allerdings bezieht sich diese Verpfl ichtung nur auf Streitigkeiten aus „Verträgen“ und auf andere Streitigkeiten „of private law character“. Beide Begriffe werden in der Praxis der UN-Organe eher eng ausgelegt60. Sie umfassen nur die üblichen Streitigkeiten aus privatrechtlichen Verträgen und die Schadenshaftung der UN bzw. ihrer Bediensteten aus deliktischem Verhalten (tort claims). Das UN-Recht folgt insoweit der im common law üblichen Einordung der Amts(träger)haftung zum private law und kann insoweit wenigstens Teile des Sekundärrechtsschutzes erfassen. Eine Entwicklung, wie sie im Rahmen der EMRK zu dem verwandten Begriff der „civil rights and obligations“ (Art. 6 Abs. 1) stattgefunden und zu einer weitreichenden Einbeziehung auch öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten geführt hat, ist ihm dagegen unbekannt. So fallen etwa Streitigkeiten aus bestehenden Dienstverhältnissen nicht unter Art. 29 der Immunitätskonvention61. Gleiches gilt für die Bewerberauswahl bei der Besetzung von Dienstposten. Auch vergaberechtliche Auswahlentscheidungen sind nicht erfasst, obwohl das Vergaberecht als solches durch privatrechtliche Verträge bestimmt wird62. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass erst recht alle spezifisch „politischen“ Entscheidungen von UN-Organen, etwa Maßnahmen des Sicherheitsrates, nicht in Art. 29 einbezogen werden. Soweit der Schutzbereich reicht, formuliert Art. 29 allerdings keinen bloßen Programmsatz, sondern eine verbindliche Rechtspfl icht der UN, die erst bei der Ausformung der „appropriate modes of settlement“ einen gewissen Gestaltungsspielraum gibt. Für Streitigkeiten über Inhalt und Reichweite der Vorschrift ist nach Art. 30 der Konvention der Internationale Gerichtshof zuständig, dessen Rechtsgutachten von den Parteien als verbindlich zu akzeptieren sind – ein Verfahren, das freilich nur Staaten, nicht Einzelnen zur Verfügung steht. Von einer Garantie des Individualrechtsschutzes ist Art. 29 der Immunitätskonvention nach alledem noch ein erhebliches Stück entfernt. Die Pfl ichten der UN sind allein staatsbezogene Pfl ichten. Eine Auffangzuständigkeit nationaler Gerichte soll selbst dann nicht existieren, wenn die UN ihren Konventionspfl ichten nicht nachkommen. Der dominierende Schutzzweck bleibt die Immunität. Immerhin anerkannt ist, dass Gerichtsfreiheit in den Konventionsstaaten ein Privileg ist, das zu Ausgleichsregelungen Veranlassung gibt63. Trotz des eingeschränkten Schutzbereichs 60
S. die Nachweise bei A. J. Miller, IOLR 2009, S. 7 (104 ff.). H.-J. Prieß, Internationale Verwaltungsgerichte, S. 74; ebenso P. H. F. Bekker, The Legal Position of Intergovernmental Organizations, S. 194 ff. 62 Immerhin hat die Generalversammlung 2006 den Generalsekretär aber aufgefordert, Streitbeilegungsmöglichkeiten zugunsten (unterlegener) Bieter zu schaffen, s. Nr. 12 der Resolution der Generalversammlung A/Res/61/246 vom 22. 12. 2006; umgesetzt wurde das bislang nicht, s. Chapter 11 Nr. 39 ff. des United Nations Procurement Manual – Rev. 6 – März 2010, das zwar eine begründete Information unterlegener Bieter und auf Antrag deren „debriefi ng“ vorsieht. Rechtsbehelfe (vorbeugend oder nachlaufend) stehen dem Anbieter aber nicht zu. 63 Vgl. Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 313 ff. 61
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kann man hinter Art. 29 der Konvention so immerhin eine Grundvorstellung von der Gebotenheit einer Justizgewährung im Recht internationaler Organisationen ausmachen.
b) Die Situation im Recht des öffentlichen Dienstes Für das Recht des öffentlichen Dienstes in internationalen Organisationen existieren konkretere Vorstellungen. Hier ist zunächst einmal auf den Bestand vorhandener Dienstgerichte (Administrative Tribunals) zu verweisen: Die Dienstgerichtsbarkeit der Internationalen Arbeitsorganisation ILO reicht bis in die Völkerbundzeit zurück. Sie wurde 1946 durch eine Ergänzung der ILO-Statuten64 auch für andere internationale Organisationen zugänglich gemacht. Heute ist sie für mehr als 50 Organisationen tätig und steht in diesem Rahmen etwa 46.000 international Bediensteten zur Verfügung. Seit 1950 verfügt auch die UN selbst über eine eigene Dienstgerichtsbarkeit65, die in jüngster Zeit mit einer Tendenz zu einer stärkeren Professionalisierung und Juridifizierung umgestaltet worden ist. Das alte, aus Bediensteten der UN bestehende Joint Appeals Board, das keine bindenden Entscheidungen treffen, sondern nur Empfehlungen an den Generalsekretär abgeben konnte, ist 2009 durch eine zweistufig ausgebaute Gerichtsbarkeit ersetzt worden66, deren Richter von der Generalversammlung nach einer Vorauswahl durch das sog. Internal Justice Council für eine befristete und nicht wiederholbare Amtsperiode gewählt werden67. Die Umgestaltung hatte die UN lange (seit 1984) beschäftigt. Der abschließende Untersuchungsbericht, der Redesign Panel Report von 2006, kritisierte das bisherige System als „outmoded, dysfunktional and ineffective“ und zweifelte an der notwendigen Unabhängigkeit68. Für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang sind die Reformbemühungen vor allem deshalb wichtig, weil sie das Bewusstsein für die Gebotenheit eines Gerichtsschutzes geschärft haben. Die ältere Literatur ging noch davon aus, dass die Rechtsschutzmechanismen von den internationalen Dienstherren aus freiem Entschluss zur Verfügung gestellt würden69. Seit den 1970er Jahren sahen die Dienstge64 Statute of the Administrative Tribunal of the International Labour Organization vom 9. 10. 1946, ergänzt am 29. 6. 1949; zuletzt ergänzt am 11. 5. 2008. 65 Ursprünglich GA Res. 351 (IV), UN Doc A/Res/351 vom 24. 11. 1949. 66 S. grundlegend die beiden Resolutionen A/Res/61/261 und A/Res/62/228. Ein Vergleich des alten und des neuen Rechtsschutzsystems und zu den Hintergründen der Reform bei Ph. Hwang, Reform of the Administration of Justice System at the United Nations, The Law and Practice of International Courts and Tibunals 2009, S. 181 ff. und Th. Laker, „Administration of Justice“ in den Vereinten Nationen – ein Werkstattbericht, ZaöRV 2010, S. 567 ff. 67 Zu den Anforderungen an das richterliche Personal, eventueller vorzeitiger Entlassung aus dem Dienst und den Verbürgungen der Unabhängigkeit s. Art. 4 des Statuts des UN Dispute Tribunal (Erste Instanz), Annex I von UN-Doc. A/Res/63/253 vom 24. 12. 2008. Art. 3 von Annex II enthält entsprechende Regelungen für das Revisionsgericht, das UN Appeals Tribunal. 68 Report of the Redesign Panel on the United Nations system of administration of justice vom 26. 7. 2006, U. N. Doc A/61/205, Summary. 69 Etwa H.-P. Furrer, in: H. Mosler (Hrsg.), Gerichtsschutz gegen die Exekutive Bd. 2, 1970 – Länderberichte, S. 1218 (1258): „Du point du vue strictement juridique, l’existence, la structure et les modalités de fonctionement d’une juridiction administrative internationale dépendent de la seule volonté de l’organisation qui l’a instituée. Dans l’état actuel de la société internationale, il n’existe aucune
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richte der UN und der ILO den Zugang dann allerdings als einen speziell im Dienstrecht ausgebildeten allgemeinen Rechtsgrundsatz („general principle of international civil service law“) an70. Teilweise wurde aus der langjährigen Praxis dieser Gerichte auch auf ein internationales Sondergewohnheitsrecht für den Rechtsschutz international Bediensteter geschlossen71. Der zitierte Redesign Panel Report von 2006 greift noch auf einen anderen Begründungsansatz zurück, der breiter als alle Sonderrechtssätze des internationalen Dienstrechts ansetzt und deshalb für die Frage einer allgemeinen Justizgewährungspfl icht bedeutsamer ist: „Establishing a professional system of internal justice is essential if the United Nations is to avoid the double standard [. . .] where the standards of justice that are now generally recognized internationally and that the Organization pursues in its programmatic activities are not met within the Secretariat or the funds and programmes themselves.“72 Eine ähnliche Formulierung des double standard-Arguments fand sich bereits in einer Entscheidung des IGH aus dem Jahre 195473, wurde aber seinerzeit von der Literatur (und wohl auch vom IGH selbst) nicht als zwingender Rechtssatz betrachtet. Inwieweit sich diese Argumentation heute zu einem harten rechtlichen Maßstab verfestigt hat, oder ob sie nach wie vor nur einen rechtspolitisch wünschenswerten Gleichlauf des von anderen Verlangten mit dem eigenen Tun ausdrückt, ist später zu untersuchen (dazu unter II 3 a). Speziell für das Dienstrecht internationaler Organisationen kann jedenfalls von einer individuellen Rechtsschutzgarantie ausgegangen werden.
c) Außenwirksames Verwaltungshandeln internationaler Organisationen Anders stellt sich die Situation auf einem Felde dar, das in jüngerer Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen hat: dem die Rechte Privater unmittelbar betreffenden und in diesem Sinne „außenwirksamen“ Hoheitshandeln internationaler Organisationen. Beispiele bieten die von der UN auf Grund von Kapitel VII der UN-Charta eingerichteten Territorialverwaltungen (aa) und die bei der Terrorismusbekämpfung vom UN-Sicherheitsrat praktizierten sog. smart sanctions (bb). Auf den ersten Blick ernorme qui impose, d’une manière générale, aux organisations l’obligations d’ouvrir à leurs fonctionnaires des voies de droit contre les décisions du pouvoir administratif, ou d’assurer que ces voies de droit, une foi ouvertes, soient conformes à un standard préétabli et restent ouvertes en permanence.“ 70 ILO Administrative Tribunal Judgement No. 122 (ILO Official Bulletin 1969, 120 (122)); bestätigt ausdrücklich von UNAT Judgements No. 150 und 230. Zu Allgemeinen Rechtsgrundsätzen im internationalen öffentlichen Dienstrecht s. G. Ullrich, Das Dienstrecht der Internationalen Organisationen, 2009, S. 78 ff., speziell zum „Grundrecht auf Rechtsschutz“ S. 130 ff. 71 So R. Hofmann, Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft, in: R. Hofmann / A. Reinisch / Th. Pfeiffer / S. Oeter / A. Stadler, Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft. Vielfalt der Gerichte – Einheit des Prozessrechts?, 2007, S. 1 (12 f.), s. dort Fn. 40 m. Nachweisen zur Gegenauffassung. 72 Report of the Redesign Panel on the United Nations system of administration of justice vom 26. 7. 2006, U. N. Doc A/61/205, Ziff. 9 und f. 73 Rechtsgutachten des IGH, ICJ Reports 1954, S. 47 (57): „It would [. . .] hardly be consistent with the expressed aim of the Charter to promote freedom and justice for individuals and with the constant preoccupation of the United Nations Organization to promote this aim that it should afford no judicial or arbitral remedy to its own staff for the settlement of any disputes which may arise between it and them.“
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scheint die Rechtslage klar: Die entsprechenden Aktivitäten unterfallen, soweit sie der UN zuzurechnen sind, der Immunitätskonvention, die sie von der Jurisdiktion nationaler Gerichte freistellt, ohne auch nur zu anderen „appropriate modes of settlement“ zu verpfl ichten, denn Art. 29 der Konvention ist nach bisher herrschender Ansicht auf Hoheitsakte nicht anwendbar (vgl. oben a). Was in den einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates speziell zum Rechtsschutz gesagt wird, wirkte denn auch zunächst eher ernüchternd. Interessant ist jedoch zum einen die breite internationale Diskussion, die auf unterschiedlichen Wegen versucht, die rechtliche Notwendigkeit von Rechtsschutzmechanismen zu begründen. Interessant ist zum anderen aber auch, dass diese Diskussion die zunächst wenig rechtsschutzsensible Praxis des Sicherheitsrates in dem einen oder anderen Punkte dazu veranlasst hat, die entsprechenden Grundlagenakte in Fragen des Rechtsschutzes „nachzurüsten“. Die folgende Darstellung kann diese Entwicklung nur in wenigen Grundlinien aufzeigen74.
aa) Das Beispiel der Territorialverwaltung im Kosovo Die zugrundeliegende Resolution 1244 des Sicherheitsrates vom 10. 6. 199975 hat eine auch zivile Fragen regelnde UN-Verwaltung (UNMIK) geschaffen, an deren Spitze ein Sondergesandter des UN-Generalsekretärs steht. Die Aufgaben sind weit gespannt. Durch eine Verordnung, die UNMIK selbst unter Bezugnahme auf diese Grundlage erlassen hat, sind sie weiter konkretisiert worden76. Der Fülle der Befugnisse entspricht kein hinreichend effektiver Rechtsschutzmechanismus. Zwischen 2000 und 2006 war eine Ombudsperson77 für Beschwerden gegen UNMIK zuständig, die zwar formell unabhängig war, aber nur Empfehlungen aussprechen konnte. 2006 wurde die Ombudsperson abgelöst78, aber anders als etwa von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats79 vorgeschlagen, nicht durch einen Menschen74 Vgl. die Darstellung von J. Abr. Frowein, UN-Verwaltung gegenüber dem Individuum – legibus solutus?, in: H.-H. Trute / Th. Groß / H. Chr. Röhl / Chr. Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 333 ff.; ausführlich M. J. Matheson, Council Unbound: The Growth of UN Decision Making on Confl ict and Postconfl ict Issues after the Cold War, 2006; s. ferner die Nachweise bei Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 77 ff. 75 Abgedruckt in Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrates im Jahr 1999, S. 35 ff. 76 UNMIK Regulation 1999/1, Abschnitt 1, Nr. 1: „All legislative and executive authority with respect to Kosovo, including the administration of the judiciary, is vested in UNMIK and is exercised by the Special Representative of the Secretary-General.“ 77 Eingerichtet durch die UNMIK-Resolution 2000/38 vom 30. 6. 2000. 78 In dem Maße, in dem UNMIK Befugnisse auf die kosovarische Selbstverwaltung übertrug (aber die Letztentscheidungsbefugnis behielt), wurde auch die Zuständigkeit der Ombudsperson erweitert. 2006 wurde sie aber dahingehend modifi ziert, dass sie nur noch die Selbstverwaltungstätigkeit der Kosovaren und nicht länger die Tätigkeit der UNMIK betrifft. 79 Resolution 1417 (2005) vom 25. 1. 2005, Ziff. 4. Vgl. voraufgehend den Vorschlag der European Commission for Democracy through Law (Venice Comission), Opinion No. 280/2004 on Human Rights in Kosovo – Possible Establishment of Review Mechanisms, 8.–9. 10. 2004, die sich ebenfalls für einen eigenen Kosovo-Menschenrechtsgerichtshof und gegen die Jurisdiktion des EGMR aussprach. Letzteres hätte nach Auffassung der Kommission einer Änderung/Ergänzung der EMRK bedurft, um nicht-staatliche, nicht-europäische Organisationen in das Konventionssystem aufnehmen zu können, dort Ziff. 81–86.
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rechtsgerichtshof (nach dem Vorbild des EGMR) 80, sondern durch ein wieder nur beratend tätiges Human Rights Advisory Panel ersetzt81. Immerhin beschließt dieses Panel nach öffentlicher Anhörung und veröffentlicht seine Erkenntnisse82. Außerdem besteht eine Claims Commission, die über Haftungsansprüche aus Akten der UNMIK entscheidet83. Versuchen, diejenigen Staaten, die sich mit Personal an der UNMIK beteiligen, in Haftung zu nehmen, hat der EGMR in den Rechtssachen Berami und Saramati eine Absage erteilt, weil UNMIK ein Unterorgan der UN sei und ihre Handlungen daher grundsätzlich der UN zuzurechnen seien84. Auf eine Prüfung, inwieweit der im UNMIK-System bestehende Rechtsschutz dem EMRK-Rechtsschutz im Sinne seiner Bosphorus-Rechtsprechung und der equivalent protection-Doktrin im wesentlichen „gleichwertig“ sei (vgl. unten II 3 b), hat sich der Gerichtshof nicht eingelassen, weil eine solche Kontrolle einen Eingriff in die nach Kapitel VII der UN-Charta getroffenen Maßnahmen der Friedenssicherung darstellen würde85. Die Literatur hält den Rechtsschutz gegen UNMIK-Akte für unzulänglich86. Sie argumentiert zum einen raumbezogen, indem sie darauf verweist, dass im Kosovo schon vor seiner Unterstellung unter die UN-Territorialverwaltung die Rechtsschutzgarantie des Art. 14 ICCPR gegolten habe und nun der Bevölkerung nicht wieder genommen werden könne. Diese Begründung wird besonders deutlich im General Comment 26 des UN-Menschenrechtsausschusses zur Continuity of Obligations formuliert87. Eine andere Begründung hebt organisationsbezogen darauf ab, dass die UN-Territorialverwaltung nicht freier gestellt sein könne als die UN, die sie eingerichtet habe88. Hier geht es im Grunde um Bindungen der UN selbst. Diese bilden den Kern der Diskussionen, die um den Rechtsschutz gegen die smart sanctions geführt werden (dazu bb). 80 Vgl. dazu European Commission for Democracy through Law (Fn. 79), Ziff. 106: dieser Menschenrechtsgerichtshof sollte Entscheidungen von UNMIK und KFOR für nichtig erklären und Entschädigungen zusprechen können. Zur Venice Commission knapp G. Nolte, Human Rights Protection against International Institutions in Kosovo, in: P.-M. Dupuy / B. Fassbender / M. N. Shaw / K.-P. Sommermann, Festschrift für Chr. Tomuschat, S. 245 (248 f.). 81 UNMIK-Regulation 2006/12 vom 23. 3. 2006. Das Advisory Panel „shall examine complaints from any person or group of individuals claiming to be the victim of a violation by UNMIK of the human rights“, Section 1.1. Seit 2006 gingen bei dem Panel 525 Beschwerden ein, in insgesamt 55 Fällen stellte es eine Rechtsverletzung durch UNMIK fest (Stand 16. 9. 2011). 82 Abschnitte 16 und 17.2 der UNMIK-Regulation 2006/12. 83 UNMIK-Resolution 47/2000 Section 7 (Third Party Liability) vom 18. 8. 2000. Allerdings nur dann, wenn sich die die UNMIK nicht auf die „operational necessitiy“ der angegriffenen Handlung beruft. 84 EGMR Urteil vom 27. 5. 2007, EuGRZ 2007, S. 522 ff. Tz. 142 f. 85 AaO. Tz. 149; dagegen kritisch Frowein, UN-Verwaltung (Fn. 74), S. 342 ff. 86 Frowein, UN-Verwaltung (Fn. 74), S. 342 f.; J. Werzer, The UN Human Rights Obligations and Immunity: An Oxymoron Casting a Shadow on the Transitional Administrations in Kosovo and East Timor, Nordic Journal of International Law 2008, S. 105 (139 f.); G. Nolte (Fn. 80), S. 245 (256 ff.). 87 UN Doc A/53/40 Annex VII (1998). Zustimmend C. Stahn, International Territorial Administration in the former Yugoslavia: Origins, Developments and Challenges ahead, ZaöRV 2001, S. 107 (139); Werzer (Fn. 86), S. 105 (115). 88 E. de Wet, The Chapter VII Powers of the United Nations Security Council, 2004, S. 322; prägnant auch Werzer (Fn. 80), S. 105 (115): „It is redundant to mention that the UN transitional administrations, as subsidiary organs of the Security Council, are bound by human rights to the same extent as the latter“.
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bb) Das Beispiel der Individuellen Sanktionen des UN-Sicherheitsrates (Listing-Verfahren) Als Reaktion auf die Zunahme von Terroranschlägen errichtete der Sicherheitsrat ein Sanktionsregime, das sich gezielt gegen Einzelpersonen und Personenvereinigungen wendet. Grundlage ist die Resolution 1267 vom 15. 10. 199989. Die Namen terrorverdächtiger Personen können danach in einer Liste erfasst werden, die den UN-Staaten mitgeteilt wird und diese nach Maßgabe des Art. 25 der UN-Charta verpfl ichtet90, Sanktionen (Sperrung von Bankkonten, Beschränkung der Reisefreiheit) gegen diese Personen zu ergreifen. Die Verwaltung der Liste, einschließlich der Entscheidungen über Aufnahme und Streichung von Namen, obliegt einem Sanktionsausschuss, der ein Unterorgan des Sicherheitsrates ist und diesem in seiner Zusammensetzung entspricht 91. Rechtsschutzfragen des Listing haben Literatur und Rechtsprechung seither vielfach beschäftigt 92. Einen Kulminationspunkt der Diskussionen bildete die Entscheidung des EuGH in den verbundenen Rechtssachen Kadi und Al Barakaat vom 3. 8. 200893. Interessant ist der Streitstand zunächst einmal, weil wohl in keinem anderen Zusammenhang wie hier Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht so sehr nach allen Richtungen hin untersucht worden sind, inwieweit sie Rechtsschutzgarantien eine Grundlage bieten können. Zur Begründung einer solchen Garantie werden verschiedene Wege vorgeschlagen: eine direkte Bindung internationaler Organisationen an die Menschenrechte bzw. an entsprechendes Gewohnheitsrecht, oder abgeleitete Bindungen über ihre Mitgliedsstaaten (dazu unter II 3). Die Diskussionen haben eine Entwicklung auf der Ebene der UN angestoßen: Kannte die Resolution 1267 (1999) anfangs überhaupt keine Möglichkeit, Betroffene gegenüber ihrer Listung zu Gehör kommen zu lassen, so dass ihnen nur der Weg verblieb, ihren Heimatstaat um diplomatischen Schutz zu bitten94, so wurde mit der
89 Resolution 1267 (1999), abgedruckt in Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrates im Jahr 1999, S. 162 ff. Sie ist Bezugspunkt für Folgeresolutionen, durch die das System aktualisiert, erweitert und modifi ziert wurde. Nachweise dazu bei Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 8 ff. und 142 ff. 90 Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 17 f. spricht daher von einer „quasi-unmittelbaren Individualgerichtetheit des 1267-Sanktionsregimes“. 91 Der Sanktionsausschuss verfährt nach „Verfahrensrichtlinien“ vom 7. 11. 2002, zuletzt geändert am 26. 1. 2011, die von dem Ausschuss selbst erlassen werden (rechtliche Grundlage ist Artikel 5 (d) der Sicherheitsratsresolution 1390 (2002): Der Ausschuss wird beauftragt und ermächtigt „to promulgate expeditiously such guidelines and criteria as may be necessary“). Ausführlich zu Funktion und Stellung des Sanktionsausschusses C. Feinäugle, German Law Journal 2008, S. 1513 ff. 92 Dazu der Überblick bei Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 17 ff. 93 EuGH Urteil vom 3. 9. 2008, Slg. 2008 I-6351, sowie zusammenfassend EuG Urteil vom 30. 9. 2010, EuGRZ 2011, S. 48 ff. 94 2002 wurde das Verfahren in den Guidelines des Sanktionskomitees geregelt. Es oblag dem Betroffenen, seinen Heimat- oder Aufenthaltsstaat davon zu überzeugen, sich für ihn einzusetzen. Das Verfahren und die erfolgreichen Fälle seiner Anwendung beschreibt J. Abr. Frowein, The UN Anti-Terrorism Administration and the Rule of Law, in: P.-M. Dupuy / B. Fassbender / M. N. Shaw / K.-P. Sommermann, Festschrift für Chr. Tomuschat, S. 785 (790 f.). Zur weiteren Entwicklung vgl. A. v. Arnauld, Der Weg zu einem „Solange“ 1½. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013 (i.E.).
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Resolution 1730 (2006) zunächst immerhin ein sog. Focal Point eingerichtet95, der Streichungsanträge Betroffener direkt entgegennehmen und an das Sanktionskomitee weiterleiten konnte. Die Resolution 1822 vom 30. 6. 2008 brachte weitere Verbesserungen, so etwa die Pfl icht zur Begründung der Listung und die regelmäßige Überprüfung von Amts wegen. Die anhaltende Kritik und die EuGH-Entscheidung Kadi und Al Barakaat veranlassten erneut Korrekturen: Die Resolution 1904 (2009) führte ein Ombudsverfahren ein, durch das der Betroffene selbst in Kontakt mit dem Sanktionskomitee treten und sein De-Listing beantragen kann. In diesem Punkte sind im Jahr 2011 nochmals Verbesserungen vorgesehen worden96. Ein weiteres Urteil der Europäischen Gerichte – diesmal ein Urteil des Gerichts vom 30. 9. 2010 – hatte zuvor den Druck auf die UN zum Ausbau rechtsstaatlicher Sicherungen weiter erhöht97. Heute kann das Streichungsvotum der Ombusstelle im Sanktionsausschuss nur einstimmig zurückgewiesen werden; den Ausschussmitgliedern bleibt allerdings der Rekurs an den Sicherheitsrat selbst98. Ein voller gerichtlicher oder diesem gleichkommender Rechtsschutz fehlt zwar auch weiterhin. Aber die Entwicklungstendenz zu mehr Rechtschutz ist auch hier eindeutig.
4. Zwischenergebnis Die Suche nach den Garantien individuellen Rechtsschutzes im internationalen Recht führt zu einem differenzierten Befund: Eindeutig ist eine Entwicklung hin zu mehr Rechtsschutz festzustellen. Der bisher erreichte Stand ist unterschiedlich. Anerkannt ist der Schutz in den Menschenrechtspakten. Anerkannt ist er auch in einigen wichtigen Bereichen des internationalen Wirtschaftsrechts, insbesondere im Investitionsrechtsschutz. In allen diesen Fällen nimmt das internationale Recht die Staaten in die Pfl icht, entsprechende Rechtsschutzmechanismen vorzuhalten oder zu schaffen. Völkerrecht kommt insoweit in seiner Bedeutung als Determinationsrecht der nationalen Rechtsordnungen zur Geltung. Gegenüber dem Handeln internationaler Organisationen, also in der Bedeutung des Völkerrechts als Aktionsrecht internationalen Verwaltungshandelns, kann von einer konsolidierten Rechtslage bisher nur in Ansätzen gesprochen werden. Anerkannt ist Rechtsschutz als allgemeiner Rechtsgrundsatz immerhin im Sondergebiet des öffentlichen Dienstrechts. Für das außenwirksame Handeln, mit dem die UN und andere internationale Organisationen zunehmend auf die Rechtssphäre des Einzelnen einwirken, sehen die einschlägigen Rechtsgrundlagen dagegen bisher nur Ansätze für einen Individualrechtsschutz vor, die aber gerade in jüngster Zeit ausgebaut worden sind. Gerichte und Schrifttum drängen auf weitere Verbesserungen.
95 Dazu C. A. Feinäugle, Die Terrorlisten des Sicherheitsrates – Endlich Rechtsschutz des Einzelnen gegen die Vereinten Nationen, ZRP 2007, S. 75 (76 ff.) m. w. N. 96 Sicherheitsrats-Resolution 1989 vom 17. 5. 2011. 97 EuG Urteil vom 30. 9. 2010, EuGRZ 2011, S. 48, mit ausführlicher Darstellung der zwischenzeitlich beschlossenen Verbesserungen Tz. 10 ff. 98 Resolutionen des UN-Sicherheitsrats 1988 und 1989 (2011).
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II. Auf dem Wege zu einer übergreifenden Garantie: Vier Gewährleistungsdimensionen Die untersuchten Rechtsgebiete lassen jedenfalls keinen Zweifel daran, dass der Rechtsschutz heute ein ganz zentrales Thema des internationalen Rechts bildet. Ergänzend zu den hier vorgestellten Sektoren kann etwa auf das Umweltvölkerrecht und die detaillierten Rechtsschutzvorgaben der Aarhus-Konvention verwiesen werden99. Zwei große Diskussionszusammenhänge sind es, die diesem Thema die entscheidenden Impulse geben100 : Da ist zum einen der eher objektiv-institutionell argumentierende Diskurs über Global Governance/Global Administrative Law, der nach Legitimität und Verantwortlichkeit (legitimacy and accountability) der auf internationaler Ebene anzutreffenden Akteure fragt und die besondere Eignung der Gerichte als Kontrollinstanzen herausstellt101. Da ist zum zweiten der subjektiv-individuell ansetzende Diskurs des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes, der gerade den Verfahrensgrundrechten und dem Gedanken eines access to justice besondere Bedeutung beimisst102. Beide Themen lassen sich auch in die Diskussionen um eine „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ einbringen103. Um einige Strukturfragen des Themas insgesamt herauszuarbeiten, ist es hilfreich, im Anschluss an die access to justice-Diskussionen vier Gewährleistungsdimensionen eines Zugangsanspruchs zu unterscheiden104: – Zugang zu nationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch nationale Akteure, – Zugang zu internationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch nationale Akteure, – Zugang zu internationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch internationale Akteure, – Zugang zu nationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch internationale Akteure.
99 Dazu R. Grohmann, Rechtsschutz gegen grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, 2005; A. Schwerdtfeger, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhus-Konvention, 2010. 100 A. Reinisch, Verfahrensrechtliche Aspekte der Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft, in: R. Hofmann / A. Reinisch / Th. Pfeiffer / S. Oeter / A. Stadler, Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft. Vielfalt der Gerichte – Einheit des Prozessrechts?, 2007, S. 81 ff. 101 Dazu die Beiträge in G. Anthony / J.-B. Auby / J. Morison / T. Zwart (Hrsg.), Values in Global Administrative Law, 2011; A. v. Bogdandy / R. Wolfrum / J. von Bernstorff / Ph. Dann / M. Goldmann (Hrsg.), The Exercise of Public authority by International Institutions, 2010; A. v. Bogdandy / I. Venzke, Zur Herrschaft internationaler Gerichte: Eine Untersuchung internationaler öffentlicher Gewalt und ihrer demokratischen Rechtfertigung, ZaöRV 70 (2010), S. 1 ff. 102 Dazu nur A. Peters, Das subjektive internationale Recht, JöR Bd. 59 (2011), S. 411 ff.; auch A. v. Arnauld, Die Rückkehr des Bürgers: Paradigmenwechsel im Europäischen und Internationalen Verwaltungsrecht?, JöR Bd. 59 (2011), S. 497 ff.; Trindade, Access of Individuals (Fn. 2), S. 34, 205 ff. 103 Dazu die Nachweise bei M. Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, 2010, S. 61 ff. 104 Zum Folgenden systematisch Francioni (Fn. 2), S. 23 ff.
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1. Zugang zu nationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch nationale Akteure Für die Pfl icht der Staaten, Rechtsschutz vor ihren Gerichten gegen ihr eigenes Hoheitshandeln zu gewähren, bieten die Art. 2 Abs. 3 und Art. 14 ICCPR eine sichere völkervertragliche Grundlage. Sie wird durch die Menschenrechtspakte der großen Weltregionen zusätzlich abgesichert. Vor dem Hintergrund der Art. 8 und 10 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung kann insoweit heute sogar von einem völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz wirksamen Rechtsschutzes ausgegangen werden. Die Garantie ist von einzelnen sektoralen Verbürgungen unabhängig, insofern sie auf das Vorliegen eines Rechtsstreits bzw. einer Rechtsverletzung als allgemein gefasste Tatbestandsmerkmale abstellt. Dabei ist eine Tendenz, diesen Schutz speziell als Gerichtsschutz zu interpretieren, unverkennbar, ohne schlechthin alle Verwaltungsentscheidungen zu erfassen. Der schlechte Zustand der staatlichen Gerichtsbarkeit in nicht wenigen Paktstaaten ist eine ernst zu nehmende Gefahr für den Rechtsschutz. Er darf aber nicht dazu genutzt werden, die normative Garantie als solche anzuzweifeln. In diesem Zusammenhang ist vielmehr die ausdrücklich festgeschriebene Pfl icht der Vertragsstaaten hervorzuheben, ihren Gerichtsschutz weiter auszubauen (Art. 2 Abs. 3 lit. c ICCPR). Soweit ein Schutz durch Gerichte nach den einschlägigen Konventionen nicht zwingend geboten ist, sind wenigstens andere Beschwerdemöglichkeiten vorgesehen, die ihrerseits Gewähr für einen wirksamen Rechtsschutz bieten müssen und in diesem Ziel mittelbar auch durch die local remedies rule der völkerrechtlichen Beschwerde nach dem Fakultativprotokoll von 1966 unterstützt werden.
2. Zugang zu internationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch nationale Akteure Bei dieser zweiten Gewährleistungsdimension muss zunächst einmal in Rechnung gestellt werden, dass es einen weltweit zuständigen Menschenrechtsgerichtshof nicht gibt105. Wohl aber existieren für einzelne wichtige Politikfelder Rechtsschutzeinrichtungen, denen prägender Charakter zugesprochen werden kann. Zu erinnern ist zum einen an die Streitschlichtungsinstanzen des Investitionsschutzrechts, die Individualklägern offen stehen und die gerade zum Ausgleich für vermutete Schwächen des nationalen Rechtsschutzes geschaffen worden sind. Bei ihnen handelt es sich zwar um sektorale Garantien; doch geht es um einen außerordentlich wichtigen Bereich, in dem die Notwendigkeit von Rechtsschutz breit anerkannt ist. Für den Menschenrechtsschutz liegen die Dinge differenzierter: Der Menschenrechtsrat steht Beschwerden Einzelner gegenüber nicht offen. Möglich sind die Individualbeschwerden zum Menschenrechtsausschuss nach Art. 28 ICCPR in Verbindung mit Art. 1 des genannten Fakultativprotokolls. Diesem Protokoll sind heute immerhin mehr als 110 Staaten beigetreten. Der Ausschuss ist kein Gericht mit ver105 Zu Möglichkeiten seiner Einrichtung vgl. M. Nowak, Ein Weltgerichtshof für Menschenrechte, Vereinte Nationen 2008, S. 205 ff.
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bindlicher Entscheidungsbefugnis; sein Verfahren nimmt jedoch mehr und mehr gerichtsähnliche Züge an. Ausgeprägter ist der Menschenrechtsschutz speziell durch internationale Gerichtshöfe auf der Ebene der regionalen Pakte. Gut entwickelt ist die Individualklage in der EMRK, während der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof nur von Staaten oder von einer besonderen Kommission mit individuellen Rechtsverletzungen befasst werden kann106. In ihrem Bemühen, den Schutz des Einzelnen gegenüber staatlichen Zugriffen zu stärken, zielen beide Gerichtshöfe jedoch in dieselbe Entwicklungsrichtung107.
3. Zugang zu internationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch internationale Akteure Für die Pfl icht Internationaler Organisationen fehlt es dagegen an einer entsprechenden ausdrücklichen Verbürgung. Das Dienstrecht dieser Organisationen und das diesbezügliche Sondergewohnheitsrecht sind ein zu schmaler Bereich, um daraus die gewohnheitsrechtliche Anerkennung einer allgemeinen Rechtsschutzgewährungspfl icht für weitere Fallgruppen belastender Administrativentscheidungen zu folgern108. Auf der anderen Seite ist das Bemühen, gerichtliche oder andere hinreichend qualifizierte Beschwerdemöglichkeiten gegen solche Entscheidungen zu schaffen, unverkennbar. In einem Bericht der International Law Association aus dem Jahre 2004 heißt es denn auch109: „The right to a remedy may be seen as a norm of costumary international law“. Das ist ein wichtiges Datum – mindestens für ein sich bildendes Recht. Die Literatur sucht nach weiteren verdichtenden Argumenten110 : Zwei dieser Argumente, das „Argument des double standard“ (a) und das „Argument des Überwirkens“ (b) sollen hier vorgestellt werden. Für beide bilden die Rechtsschutzgarantien der Menschenrechtspakte, bilden also vor allem Art. 14 und Art. 2 Abs. 3 ICCPR die Ausgangsbasis.
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Ist er das, so kann der Gerichtshof den betroffenen Individuen rechtliches Gehör gewähren, in dessen Rahmen sie auch weitere, von dem klagenden Staat oder der Kommission nicht vorgetragene Rügen erheben können. Vgl. Trindade, Access of Individuals (Fn. 2), S. 43. 107 Trindade, Access of Individuals (Fn. 2), S. 59 ff. 108 Zustimmend A. Reinisch, „Governance Without Accountability?“, in: German Yearbook of International Law 44 (2001), S. 282 ff.; B. Fassbender, Targeted Sanctions Imposed by the UN Security Council and Due Process Rights, IOLR 2006, S. 437 (464); allg. zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht T. Treves, Customary International Law, MPEPIL, Stand Nov. 2006. 109 ILA Report: Accountability of International Organizations (Fn. 2), S. 266. 110 E. de Wet, Judicial Review as an emerging Principle of Law and its Implications for the International Court of Justice, in: Netherlands International Law Review, 57 (2000), S. 181. Detaillierte Behandlung der unterschiedl. Begründungsansätze, Internat. Organisationen an Menschenrechte allgemein zu binden, bei C. Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, 2012, S. 389 ff.
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a) Das double standard Argument Dieses Argument ist vor allem auf die UN zugeschnitten. Es nimmt Organisationen in Pfl icht, die ihre Mitglieder auf bestimmte rechtsstaatliche Gewährleistungen festlegen, sich selbst aber nicht an diese Festlegungen halten. Eine solche Praxis erscheint als Verstoß gegen das Verbot des venire contra factum proprium oder das estoppelPrinzip, die ihrerseits zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts zählen und als solche nicht nur Staaten, sondern auch andere Völkerrechtssubjekte binden111. Der Anknüpfungspunkt ist klar: Es sind die Rechtsschutzgarantien der Art. 14 und Art. 2 Abs. 3 ICCPR, die vor mehr als vier Jahrzehnten unter maßgeblicher Beteiligung der UN geschaffen wurden und seither von nahezu allen Staaten rezipiert worden sind. Selbst wenn seinerzeit für die UN das politische Handeln im Vordergrund stand, für das sich Rechtsschutzfragen praktisch nicht stellten, ist heute der zwischenzeitlich erfolgten Ausweitung des UN-Handlungspotentials Rechnung zu tragen. Für ihr Verwaltungshandeln kann sich die UN, obwohl nicht selbst Paktmitglied, den Anforderungen der zitierten Bestimmungen nicht entziehen112. Der Estoppel-Gedanke führt hier allerdings nicht zu einer bloßen Unterlassungs-, sondern zu einer Handlungspfl icht. Das erschwert seine Konkretisierung. Der gebotene Rechtsschutz muss nicht in allen Einzelheiten dem entsprechen, was Art. 14 IPCCR sonst verlangt. Insbesondere kann der Kreis der Rechtsmaterien in Randbereichen anders bestimmt werden, als es der überkommenen Auslegung in den General Comments zu dieser Bestimmung entspricht. So erscheint es denkbar, vor allem in sicherheitsrechtlichen Fragen statt einer gerichtlichen Kontrolle eine solche durch einen qualifizierten Beschwerdeausschuss oder eine Ombudsperson als hinreichende Rechtsschutzmöglichkeit zu akzeptieren. Keine Abstriche können dagegen von der Beschwerdeberechtigung des individuell Betroffenen gemacht werden. Möglichkeiten einer nur objektiven Kontrolle genügen nicht. Diese subjektiv-rechtliche Ausrichtung ist beiden Rechtsschutzgarantien des ICCPR gemeinsam. Sie ist auch beim Rechtsschutz gegen das Handeln internationaler Organisationen unverzichtbar.
b) Das Argument des „Überwirkens“ Auch dieses Argument nimmt seinen Ausgang bei den staatengerichteten Garantienormen der Art. 2 Abs. 3 und Art. 14 ICCPR. Es verweigert den Staaten die Möglichkeit, sich der mit der Ratifi kation dieser Vorschriften eingegangenen Rechtschutzpfl ichten dadurch zu entziehen, dass sie Verwaltungstätigkeiten an andere Träger delegieren. Das Grundmodell dieses Arguments fi ndet sich mutatis mutandis bereits in der ersten EUROCONTROL-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts113. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es zu ei111
Ausf. dazu Fassbender (Fn. 108), S. 466 ff. m. w. N; Janik (Fn. 110), S. 416 ff. Ähnlich Chr. Tomuschat, Die Europäische Union und ihre völkerrechtliche Bindung, EuGRZ 2007, S. 1 (7 f.). 113 BVerfGE 58, 1 (41 f.): eine Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 GG gestatte es nicht, „den Grundrechtsteil des Grundgesetzes vorbehaltlos zu relativieren“; vgl. auch BVerfGE 59, 63 (91). 112
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ner festen Argumentationsfigur ausgestaltet. Die Linie der Urteile reicht von Waite und Kennedy114 über Bosphorus Airways115 bis zu Nederlandse Kokkelvisserij116. Danach können die Konventionsstaaten der EMRK zwar Hoheitsrechte auf Internationale Organisationen übertragen; sie bleiben aber dafür verantwortlich, dass diese Organisationen einen „äquivalenten“, d. h. nicht notwendig identischen, aber „vergleichbaren“ Schutz bieten117. Eine Übertragung dieser für einen regionalen Menschenrechtspakt angenommene Verantwortungszurechnung auf den ICCPR erscheint gerade im Blick auf die Rechtsschutzgarantien angezeigt; denn der Pakt ist an ihrem effektiven Erhalt nicht weniger interessiert als die EMRK an der Wahrung ihrer Garantien. Da mehr als 160 Staaten dem ICCPR beigetreten sind, ist der Anwendungsbereich einer so begründeten Rechtsschutzverantwortung denkbar weit. Die wirklichen Konstruktionsschwierigkeiten des Überwirkungs-Arguments liegen bei der Frage des Letztverpflichteten. Verantwortlich sind ratione personae allein die Konventionsstaaten der EMRK bzw. des ICCPR, nicht aber die von den Konventionsstaaten gegründeten Internationalen Organisationen. Die Annahme einer Vertragspfl icht zu Lasten Dritter verbietet sich. In der Literatur fi ndet sich der Versuch, mit einer „Treuepfl icht“ der Internationalen Organisation gegenüber ihren Mitgliedstaaten zu helfen118. Die Rechtsschutzgewährung wird damit jedoch zu einem bloßen Reflex institutioneller Arrangements. Eine hinreichend feste Argumentationskette zu einer individuellen Garantie ist damit nur schwer zu schmieden. Mehr spricht dafür, die Überwirkungs-Rechtsprechung gegenüber den Internationalen Organisationen gegenwärtig nur als faktisch wirkendes Argument anzusehen; sie sind dadurch lediglich angehalten – im Interesse ihrer Mitgliedsstaaten und nach Maßgabe der equivalent protection-Formel – in ihrem Recht einen den Art. 14 und 2 Abs. 3 ICCPR vergleichbaren Rechtsschutz vorzuhalten119. Eine festere Zurechnung der ursprünglich nur staatengerichteten Pfl ichten zu Internationalen Organisationen lässt sich derzeit nur dann konstruieren, wenn man in der Rechtsschutzgarantie Völkergewohnheitsrechts nach Art. 38 Abs. 1 lit. b des IGHStatuts sieht, diesen Grundsatz von seiner bislang subjektbezogenen Zuordnung zu den Staaten löst und ihn stattdessen als akzessorisch zur Ausübung der konkreten Hoheitsgewalt neu fundiert. Wird eine das Rechtsschutzerfordernis auslösende hoheitliche Befugnis von einem Staat auf eine Internationale Organisation übertragen, folgt demnach die völkerrechtliche Pfl icht zur Rechtsschutzgewähr notwendig ver114
EGMR Urteil vom 18. 2. 1999, EuGRZ 1999, S. 207 Tz. 68 („angemessene andere Mittel“). EGMR Urteil vom 30. 6. 2005, EuGRZ 2007, S. 662 Tz. 154 ff. 116 EGMR Urteil vom 20. 1. 2009, EuGRZ 2011, S. 11 (18 f.); zu weiteren Nachweisen Janik (Fn. 110), S. 404 f. 117 Dazu im Einzelnen C. Janik, Die EMRK und internationale Organisationen, ZaöRV 70 (2010), S. 127 ff.; dies. (Fn. 110), S. 171 ff. 118 So Feinäugle, Hoheitsgewalt (Fn. 3), S. 101 ff. für den Fall der UN (Prinzip der „UN-Treue“). Er sieht ein solches Prinzip wechselseitiger Rücksichtnahme in einer Reihe von Vorschriften der UNCharta angelegt und verweist weiter auf Ähnlichkeiten zur Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 EUV. 119 Dieses faktische Argument bekommt aber dann entscheidendes Gewicht, wenn nationale Gerichte wegen des fehlenden Rechtsschutzes auf internationaler Ebene mit einer Umsetzungsverweigerung gegenüber den Akten der Internationalen Organisation (Konstellation des Urteils Kadi) oder mit einer Immunitätsverweigerung reagieren (zur wachsenden Bereitschaft nationaler Gerichte, Immunitätsregelungen in begründeten Fällen außer Kraft zu setzen, sogleich II 4). 115
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bunden mit120. Der konstruktive Vorteil gegenüber der Idee der Treuepfl icht liegt in der Verankerung nicht in einzelnen institutionellen Arrangements, sondern in den universal geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts.
4. Zugang zu nationalen Instanzen gegen Rechtsverletzungen durch internationale Akteure Der Zugang zu nationalen Gerichten ist insofern zunächst einmal ein Thema nationaler Rechtsschutzgarantien und ihrer völkerrechtskonformen Anwendung. Selbst wenn die nationalen Garantien primär den Rechtsschutz gegenüber der eigenen Hoheitsgewalt zum Gegenstand haben, erscheint eine „Residualverantwortung“ nationaler Gerichte für den Rechtsschutz gegenüber internationaler Hoheitsmacht nicht generell ausgeschlossen121. Hierbei sind allerdings die völkerrechtlichen Verbürgungen von Immunität als ein Gegenargument in Rechnung zu stellen122. „Kein Staat sitzt über einen anderen Staat zu Gericht.“123 Dieser Grundsatz gilt als allgemeine Regel des Völkerrechts. Für Internationale Organisationen ist die Immunität regelmäßig vertraglich festgeschrieben. Sie folgt hier anders als bei Staaten nicht schon abstrakt aus dem Souveränitätsgedanken, sondern muss sich konkret aus dem Funktionsschutz der Organisation legitimieren124. Auf das Junktim, das die ImmunitätsKonvention der UN zwischen Immunität und Rechtsschutzkompensation knüpft, ist oben hingewiesen worden. Überhaupt ist die Immunität im heutigen Völkerrecht kein alleiniger Höchstwert mehr125. Die Gewichte haben sich im Zuge der Konstitutionalisierung und menschenrechtlichen Aufrüstung des internationalen Rechts verschoben126. Heute exis120
Für eine solche Akzessorietät der ursprünglich nur staatengerichteten allgemeinen Rechtsgrundsätze zur konkret ausgeübten Hoheitsgewalt v. a. D. Sarooshi, International Organizations and Their Exercise of Sovereign Powers, 2005, S. 15; zur Übertragbarkeit menschenrechtlicher Standards auf Intern. Organisationen kraft Völkergewohnheitsrecht allg. Janik (Fn. 110), S. 431 f.: „im Entstehen begriffene Bindung“. 121 Frowein, UN-Verwaltung (Fn. 74), S. 341 f.; v. Arnauld (Fn. 102), S. 517 f.; W. Kahl, in: HStR XI (i.E.), § 223 Rn. 47: „Reservekompetenz“; B. Fassbender, Art. 19 Abs. 4 GG als Garantie innerstaatlichen Rechtsschutzes gegen Individualsanktionen des UN-Sicherheitsrates, AöR 132 (2007), S. 257 ff., insb. 268, 283 f., der in einem eigenen UN-Gericht aber die klar vorzugswürdige Lösung sieht, S. 285 f. 122 Vgl. dazu nur C. D. Classen, Rechtsschutz gegen fremde Hoheitsgewalt – zu Immunität und transnationalem Verwaltungshandeln, VerwArch 2005, S. 464 ff. 123 G. Dahm / J. Delbrück / R. Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/1, 2. Aufl. 1989, § 71 I; vgl. auch zum Folgenden dort §§ 72–75; ferner H. Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang, 1985, S. 10 ff.; C. Feldmüller, Die Rechtsstellung fremder Staaten und sonstiger juristischer Personen des ausländischen öffentlichen Rechts im deutschen Verwaltungsprozeßrecht, 1999, S. 36 ff. 124 Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht (Fn. 6), Rn. 182. 125 Zur Rechtsentwicklung vgl. K. Doehring, Völkerrecht, 1999, § 12 Rn. 658 mit der treffenden Charakterisierung der älteren Auffassung: Zeiten, in denen die Souveränität der Nationalstaaten „wie ein Heiligtum“ qualifi ziert wurde. 126 Vgl. dazu Francioni (Fn. 2), S. 47 ff.; Trindade, Access of Individuals (Fn. 2), S. 194 ff. Restriktiver im Sinne eines Festhaltens am traditionellen Schutzniveau aber die Rechtsprechungsberichte von Chr. Maierhöfer, Der EGMR als „Modernisierer“ des Völkerrechts? – Staatenimmunität und ius cogens auf dem Prüfstand, EuGRZ 2002, S. 391 ff. und ders., Weltrechtsprinzip und Immunität: das Völkerstrafrecht vor den Haager Richtern, EuGRZ 2003, S. 545 ff.
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tiert jenseits eines Kernbereichs eine breite Zone, in der die Gerichte nach Abwägung zu bestimmen haben, inwieweit die beanspruchte Immunität eines Staates oder einer Internationalen Organisation notwendig und verhältnismäßig ist, um einen Ausschluss des Rechtsschutzes zu rechtfertigen127. Wichtige Kriterien sind dafür die Schwere der Rechtsverletzung und die Nähe des Forumstaates zu dem Rechtsschutzbegehren128. Die Rechtsprechung des EGMR gibt für eine solche konkrete Bestimmung unter Rechtfertigungszwang genügend Beispiele. Ein gewandeltes Verständnis von Immunität ist insbesondere dort notwendig, wo internationale Akteure und staatliche Verwaltungen miteinander kooperieren und sich die Kooperationsbeiträge nicht exakt auseinander halten lassen. Die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, das Hineinwirken fremder Hoheitsträger in den nationalen Rechtsraum und die vielfältigen Formen grenzüberschreitender interadministrativer Zusammenarbeit verlangen, auch bei der Bestimmung des Umfangs der Immunität zu neuen Bewertungen zu kommen129. Die das internationale Recht durchziehenden Rechtsschutzgarantien haben heute ein anderes „Rechtsschutzklima“ geschaffen und zu ihrem Teil das ältere souveränitätszentrierte Verständnis völkerrechtlicher Dogmen überwunden. Nationale Gerichte sind daher befugt und verpfl ichtet, den konkreten Umfang beanspruchter Immunität abwägend zu bestimmen130. Sie dürfen sich dem Individualrechtsschutz nicht generell unter Berufung auf ein zu weit interpretiertes Immunitätsdogma versagen.
III. Die Frage nach einer übergreifenden Garantie des Individualrechtsschutzes Kann man im Lichte dieser Entwicklungen heute von einer „übergreifenden Garantie“ individuellen Rechtsschutzes gegen Akte öffentlicher Gewalt im Völkerrecht ausgehen? Die Frage bedarf zunächst der Präzisierung. Als „übergreifende Garantie“ soll hier eine Gewährleistungsform verstanden werden, die sektoren- und ebenenübergreifend und damit integrativ angelegt ist: Sektorenübergreifend ist sie, wenn sie über die genannten Gebiete etwa des Wirtschafts- und Umweltrechts hinaus grundsätzlich alle Bereiche erfasst, in denen öffentliche Gewalt dem Einzelnen begegnet. Ebenenübergreifend ist sie, wenn sie das Handeln sowohl von Staaten als auch von Internationalen Organisationen einbezieht. Die Frage nach einer solchen übergreifenden Garantie kann nur mit großer Behutsamkeit behandelt werden. Für das insofern höher verdichtete Unionsrecht hat der Europäische Gerichtshof immerhin seit den Entscheidungen Les Verts und Johnston versus Chief Constable von 1986 durchgängig einen entsprechenden allgemeinen 127 Neuere Rechtsprechungsbeispiele bei G. Ullrich, Die Immunität internationaler Organisationen von der einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit, ZaöRV 2011, S. 157 ff. 128 Francioni (Fn. 2), S. 50 f. 129 Ebenso W. Kahl, Rechts- und Sachkontrolle in internationalen Sachverhalten, in: HStR XI (i.E.), Bd. 10 i. E., § 223 Rn. 42 f. 130 Auf die je nach Sachlage eingeschränkten Folgen eines nationalen Urteils gegenüber den Akten eines internationalen Akteurs geht ein Chr. Walter, Grundrechtsschutz gegen Hoheitsakte internationaler Organisationen, AöR 129 (2004), S. 39 (73 ff.).
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Rechtsgrundsatz angenommen und damit den Boden für die heutige positiv-rechtliche Fassung in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Europäischen GrundrechteCharta gelegt131. Die Völkerrechtsordnung ist dagegen bekanntermaßen eine stark fragmentierte Rechtsordnung. Die untersuchten Referenzbereiche liegen weit auseinander und erschweren die Feststellung von Gemeinsamkeiten132. Wenn wir trotzdem weiter nach einem integrativen Verständnis der vorhandenen Garantien suchen wollen, inwieweit das Völkerrecht über die konkreten Verbürgungen hinaus den Individualrechtsschutz heute auch als einen allgemeinen Rechtsgedanken ansieht, so sind dafür drei Gründe maßgebend: Zum einen könnte ein solcher Grundsatz die vorhandenen Garantien stärken und abrunden. Zum zweiten könnten durch einen ebenenübergreifenden Rechtsgedanken gerade jene Zwischenbereiche besser geschützt werden, die sich für den Rechtsschutzsuchenden als besonders prekär erweisen, nämlich die aus internationalen Verwaltungskooperationen hervorgehenden administrativen Verflechtungen. Schließlich könnte ein völkerrechtlicher Rechtsgrundsatz bei der Auslegung nationaler Rechtsschutzgarantien zusätzliche Akzente setzen.
1. Individualrechtsschutz – keine Norm des zwingenden Völkerrechts Keine Grundlage für Rechtsschutzgarantien des internationalen Rechts bietet das völkerrechtliche ius cogens. Eine solche Fundierung, die das Europäische Gericht erster Instanz in seiner Yusuf und Al Barakaat-Entscheidung 2005 in Erwägung gezogen hatte133, hätte zwar den Vorzug, eine für alle Völkerrechtssubjekte (einschließlich der UN und ihrer Organe) verpfl ichtende, von einzelnen Vertragsformulierungen unabhängige Garantie zu bieten. In der Literatur finden sich ähnliche Vorschläge. Besonders weit geht Antônio A. C. Trindade, der den Zugang zu Gericht einschließlich bestimmter Prozessgarantien „in all and any circumstances“ gewährleisten will134 und damit als Teil des ius cogens ausweist. Er leitet dabei die Rechtsschutzgarantie als notwendigen Teil eines Gesamtanspruchs des Einzelnen auf Recht (right to the law) ab, den er selbst als alle Rechtssätze überwölbenden „Imperative of Jus Cogens“ ansieht135. Diese Zuordnung der Rechtsschutzgarantie zum ius cogens überzeugt letztlich aber nicht: Das ius cogens soll nach der Defi nition in Art. 53 des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens nur solche „von der Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit“ anerkannten Normen erfassen, von denen nicht abgewichen werden darf 136. Dass An131 EuGH Urteil vom 23. 4. 1986, Slg. 1986, S. 1339 bzw. EuGH Urteil vom 15. 5. 1986, Slg. 1986, S. 1651. 132 Dass eine solche Frage nach Gemeinsamkeiten im Blick auf die Rolle einer „Judikative“ im Völkerrecht gleichwohl möglich ist, betonen zu Recht Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht (Fn. 6), Rn. 107. 133 EuG Urteil vom 21. 9. 2005, EuGRZ 2005, S. 592 ff. Tz. 277–281 und 332 ff. 134 Trindade, Access for Individuals (Fn. 2), S. 199. Inhaltlich zieht er die Art. 8 und 25 der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention heran, die weitgehend Art. 14 ICCPR entsprechen. 135 AaO, S. 196 ff. 136 Im Detail ist die Lehre vom ius cogens in ihrem Umfang freilich noch wenig gesichert, vgl. St. Oeter, Erga omnes-Menschenrechte, in: HGR IV/2 § 180 Rn. 6 ff.
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sprüche auf Individualrechtsschutz in ganzer Breite dazu gehören, ist jedoch schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil die wichtigste ausdrückliche Fassung solcher Ansprüche in Art. 14 ICCPR eine Abweichung für Fälle des Notstandes zulässt137 und die Völkerrechtspraxis weitere Ausnahmen macht138. Gerichtsschutz ist daher nicht als absolutes Recht anerkannt139. Das lehrt im Blick auf die besonders rechtsschutzfreundliche deutsche Rechtsordnung auch der Ausnahmetatbestand des Art. 19 Abs. 4 S. 3 i. V. m. Art 10 Abs. 2 S. 2 GG.
2. Individualrechtsschutz als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts Zu erwägen ist aber, den Anspruch auf Individualrechtsschutz gegen Hoheitshandeln als einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts anzusehen. Ein solcher Grundsatz könnte sich auf einen die Rechtsquellen des Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts übergreifenden Geltungsgrund stützen: auf die genannten Pakte und Konventionen, auf das durch diese mit konstituierte Gewohnheitsrecht und auf die Traditionen der Staaten140. Als Grundsatz ist das Institut Ausnahmeregelungen und Modifikationen zugänglich. Das gilt insbesondere in der Frage, für welche Materien der Rechtsschutz auf jeden Fall Gerichten anvertraut sein muss und für welche Materien ein Schutz durch hinreichend qualifizierte Beschwerdestellen genügt. Die Rechtsentwicklung, insbesondere die Auslegung des Art. 14 Abs. 1 ICCPR und des Art. 6 Abs. 1 EMRK zeigen zwar eine Tendenz zum Gerichtsschutz. Doch belässt der Grundsatz hier genügend Spielraum für andere Lösungen. Wichtig bleibt, dass eine hinreichend wirksame Rechtskontrolle erfolgt, die auch über gewisse Druckmittel der Rechtsdurchsetzung verfügt. In diesem flexiblen Rahmen kann heute von einem internationalrechtlich anerkannten Grundsatzanspruch auf gerichtlichen Individualrechtsschutz ausgegangen werden. Wenn von diesem Grundmodell abgewichen werden soll, bedarf es dafür rechtfertigender Gründe141 und hinreichender Kompensationsregelungen, die auch gegebenenfalls in Formen eines entschädigungsrechtlichen Sekundärrechtsschutzes bestehen können142. 137 S. Art. 4 Abs. 2 ICCPR, der die Rechtsschutzgarantie gerade nicht als notstandsfeste Norm kennzeichnet. 138 So im Ergebnis auch EuG Urteil vom 21. 9. 2005, EuGRZ 2005, S. 592 ff., Tz. 342 f., das eine Beschränkung des Gerichtszugangs aus Gründen der Staatenimmunität als der ius cogens-Garantie „immanent“ ansieht. 139 Diese Feststellung schließt es nicht aus, in Einzelfällen der Verletzung anerkannter ius cogensRechte, z. B. des Folterverbotes, die Notwendigkeit von Rechtsschutz aus dem ius cogens-Gedanken abzuleiten. Zu entsprechenden Fällen Oeter (Fn. 136), Rn. 28, 38; restriktiv EGMR Urteil vom 21. 11. 2001 (Al-Adsani), EuGRZ 2002, S. 403 ff. 140 Einen ähnlich kombinierten Geltungsgrund hat der EuGH für den unionsrechtlichen Rechtsschutz angenommen: EMRK und Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, s. EuGH Urteil vom 15. 5. 1986 ( Johnston vs. Chief Constable), Slg. 1986, S. 1651, 1. und 2. Leitsatz. Zur Eignung des Völkergewohnheitsrechts und der Allgemeinen Rechtsgrundsätze als Anknüpfung für die allgemeine Bindung Intern. Org. an menschenrechtliche Standards ausführlich Janik (Fn. 110), S. 431 ff. und 488 ff. 141 Zu Ausnahmen in Fällen öffentlichen Notstandes oder wichtiger sicherheitsrechtlicher Rechtsdurchsetzungsinteressen vgl. Francioni (Fn. 2), S. 43 ff. und 51 ff. Zu Durchsetzungsinteressen von UN-Sanktionen auch EGMR Urteil vom 30. 6. 2005 (Bosphorus Airways), EuGRZ 2007, 662 Tz. 150. 142 Vgl. Frowein (Fn. 74), S. 346 f.
Ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse versus öffentlich-rechtliche Verhältnismäßigkeit und Abwägung: Ergänzungs- oder Ausschlussverhältnis? von
Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A.* Ökonomische Bewertungen im Wege quantifizierender Kosten-Nutzen-Analysen und das Modell liberal-demokratischer Verfassungen mit ihren diversen konkurrierenden Rechtsgarantien für Freiheiten und sonstige – nach hiesiger Auffassung stets freiheitsförderliche – Belange sind letztlich zwei konkurrierende normative Modelle des abwägenden Interessenausgleichs. Ökonomische Quantifizierungen, wie sie die neoklassische, aber nicht jedwede Strömung der Ökonomik vornimmt, werden zuweilen gerade im öffentlich-rechtlichen Diskurs hart kritisiert, jedoch mit den falschen Argumenten. Das Problem ist nicht so sehr das ökonomische „Menschenbild“ und erst recht nicht die Vorstellung, dass sämtliche Konfl ikte letztlich in irgendeine Form von Abwägung münden (selbst dann, wenn es z. B. „nur“ um die unklare Interpretation einer Norm ohne Spielraum auf der Rechtsfolgenseite geht). Dennoch bestehen gegen ökonomische Bewertungen durchschlagende Einwände. Diese betreffen – obwohl dies im Wesentlichen unbemerkt bleibt – bereits die empiristische Theoriebasis, also die Vorstellung, Normen könnten anders als Fakten nicht objektiv richtig sein, und die ethische (und letztlich auch juristische) Gerechtigkeit reduziere sich auf die Frage nach den (empirisch messbaren) faktischen Präferenzen der Beteiligten. Auch die Methodik des Quantifizierens von Abwägungen leidet an unheilbaren Defekten. Als Beispiel fungiert nachstehend – wohlgemerkt nur exemplarisch – die Debatte um den Klimawandel aus einerseits ökonomischer und andererseits öffentlich-rechtlicher Perspektive.
* Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A. leitet die Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock.
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I. Problemstellung: Ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse als mit dem (insbesondere) öffentlichen Recht konkurrierendes Abwägungsparadigma Wissenschaft ist die methodische, rationale und zweckfreie Form der Wahrheitsbzw. Gerechtigkeitssuche. Sollen Fakten objektiv erhoben werden, spricht man von Wahrheit, sollen normative Maßstäbe des gesellschaftlichen Zusammenlebens objektiv begründet werden, spricht man von Gerechtigkeit, einerlei ob es um Ethik bzw. Gerechtigkeitstheorie (die Begriffe werden vorliegend synonym verwendet) geht oder um deren konkretisierte und sanktionsbewehrte Variante, das Recht und seine Interpretation.1 Daran anknüpfend lässt sich der Konfl ikt um interpersonelle Entscheidungen jedweder Art als Konfl ikt widerstreitender Belange und damit als Abwägungsproblem auffassen, das ein Sollens-Problem (welches allerdings auch Fakten-Erhebungen einschließt) darstellt. Die Abwägung im weiteren Sinne ist ein Kernthema der Diskussion im öffentlichen Recht. Gemeint ist hiermit ein – wenn nicht das – Grundphänomen des Rechts und gerade des öffentlichen Rechts: dass es eben um einen gerechten Ausgleich kollidierender Belange geht, einerlei ob es um Rechtsetzung oder Rechtsanwendung geht, und einerlei ob es im Falle der Rechtsanwendung um eine Norminterpretation oder um eine explizit als „Abwägung“ erkennbare Ermessensprüfung, Verhältnismäßigkeitsprüfung oder planerische Abwägung geht. Denn letztlich muss jedwede Rechtsetzung und Rechtsanwendung den kollidierenden menschenrechtlichen Freiheiten und sonstigen normativ anzuerkennenden Belangen der dahinter stehenden Menschen gleichzeitig gerecht zu werden versuchen. Zurückzuführen ist all dies deshalb auf das verfassungsrechtliche Erfordernis, dass jedweder Gesetzgeber (sei er regional, national oder transnational) kollidierende Belange abwägend in einen gerechten Ausgleich bringen muss. Der Rahmen der gesetzgeberischen Abwägung wird meist Verhältnismäßigkeitsprüfung genannt. Für die Verwaltung, wo der Gesetzgeber diese Abwägung zu einem erheblichen Teil bereits vorgenommen hat, beschränkt sich die Abwägung – meist ohne juristisch so bezeichnet zu werden – dagegen auf das (nie frei von – oft erheblichen – Spielräumen geschehende) Interpretieren des Tatbestands der Normen, die der Gesetzgeber als Ausdruck seiner Abwägung geschaffen hat, sowie auf das Ausfüllen explizit so bezeichneter Ermessens- oder planerischer Abwägungsspielräume. Diese gesamte Grundstruktur trifft cum grano salis unabhängig davon zu, ob von nationalem, europäischem oder internationalem Recht die Rede ist. Eine konkurrierende Methode der Abwägung – vorliegend immer im Sinne des eben verwendeten weiten Wortsinns und nicht von „planerischer Abwägung auf der Rechtsfolgenseite“ o. ä. – ist die sogenannte ökonomische Bewertung, die Kosten und/oder Nutzen politischer Optionen auszurechnen versucht. Gegenstand der Klimaökonomik, die vorliegend als Beispiel fungieren soll, ist das Errechnen optimaler Klimapolitik-Pfade. Eine ökonomisch angeleitete Suche nach optimalen Klimapolitik-Pfaden liegt z. B. auch den siebenjährlichen Berichten des (rein natur- und wirtschafts-)wissenschaft1 Vgl. zur Terminologie näher Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethische und politische Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel, Neuausgabe Baden-Baden 2011, § 1 D. III. 2.
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lichen UN-Weltklimarats, des IPCC, zugrunde, dessen Empfehlungen politisch durchaus registriert werden. Dafür werden die drohenden Klimawandelsschäden sowie die zumeist in Geldwerte übersetzten allgemeinen Vor- und Nachteile möglicher klimapolitischer Schritte in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Drohende Klimaschäden, Klimapolitik-Kosten und in Geldwerte übersetzte Klimapolitik-Vorteile werden in der Wirtschaftswissenschaft also gemeinhin saldiert, um auf diesem Wege einen optimalen Klimaschutzpfad angeben zu können.2 Zugrunde liegt der Gedanke der Effizienz respektive der ökonomischen Bewertung oder der Kosten-NutzenAnalyse. Klassisch ist dafür neben den eher zusammenfassenden IPCC-Berichten der Ende 2006 mit globalem Echo vorgestellte Review an die britische Regierung von Nicholas Stern.3 Der juristische Diskurs hat sich in der Vergangenheit häufig recht kritisch, zuweilen gar polemisch, mit ökonomischen Ansätzen auseinandergesetzt.4 In der gesamten Debatte wurde zuweilen die ökonomische Bewertung respektive Politikzielfi ndung und Abwägung vermengt mit der Debatte über die wirksamsten Instrumente z. B. der Klimapolitik (die vorliegend unerörtert bleibt5). Dies gilt insbesondere für einen hier nicht zu vertiefenden Sonderfall, die Debatte um die ökonomische Analyse des Rechts, die neben ökonomischen Bewertungen oft stärker von ökonomisch analysierten Steuerungswirkungs- und Instrumentenfragen handelt (entweder rechtspolitisch – oder rechtsdogmatisch integriert in eine teleologische Norminterpretation).6 Vorstehend soll gezeigt werden, dass die beliebtesten Kritikpunkte an ökonomischen Bewertungen – nämlich die an Anthropologie bzw. Menschenbild „der“ Ökonomen sowie an deren Neigung, konsequent alles einer Abwägung zuzuführen – zwar nicht überzeugen, dass jedoch wesentliche andere Einwände bestehen. „Klare Zahlen“ von ökonomischer Seite mögen zwar vielen Politikern und Medienvertretern entgegenkommen. Sind jedoch die hinter den Zahlen verdeckten Fakten oder normativen Vorstellungen falsch oder zweifelhaft, sind auch die Zahlen wertlos und eine letztlich nicht voll einlösbare Objektivitäts-Suggestion.7 Nebenbei kritisiert der vorliegende Beitrag damit die unter Wirtschafts- und Naturwissenschaftlern weithin geteilte Be-
2 Exemplarisch statt vieler Nordhaus, A Question of Balance. Weighing the Options on Global Warming Policies, New Haven 2008, S. 5; Lüdemann/Magen, Effi zienz statt Gerechtigkeit?, Preprint des Max-Planck-Instituts für Gemeinschaftsgüter (Nr. 221), Bonn 2008, S. 5; Posner, Notre Dame Journal of Law, Ethics and Public Policy 1986, 85 ff. 3 Stern, Stern Review Final Report, 2006, http://www.hm-treasury.gov.uk/stern_review_report. htm; eine ausführliche Darstellung bietet ferner Nestle, The Costs of Climate Change in the Agricultural Sector, Dissertations-Manuskript, Flensburg 2012 (angefertigt bei zwei führenden Klimaökonomen, Olav Hohmeyer und Nicholas Stern). 4 Pars pro toto Grzeszick, JZ 2003, 647 ff.; Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl. Tübingen 1998; differenzierend, aber dennoch eher kritisch Winter, KJ 2001, 300 ff. 5 Zur Debatte über Governance/Steuerung/Instrumente ausführlich Ekardt, Theorie, § 6. 6 Zur Debatte um die ökonomische Analyse des Rechts z. B. Tontrup, in: Engel (Hg.), Methodische Zugänge zu einem Recht der Gemeinschaftsgüter, Baden-Baden 1998, S. 41 ff.; Mathis, in: Mathis (Hg.), Efficiency, Sustainability, and Justice to Future Generations, Berlin 2011, S. 3 ff.; Cserne, ebd., S. 31 ff.; Hammer, ebd., S. 211 ff. 7 Kritisch dazu (indes nur auf Tatsachen-Unsicherheiten bezogen) auch Stehr/von Storch, GAIA 2008, 19 ff.
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schränkung des Begriffs „Wissenschaft“ auf (a) scheinbar empirische Aussagen und (b) speziell quantifizierbar-zahlenförmige Aussagen.8
II. Probleme der Kosten-Nutzen-Analyse beim Tatsachenmaterial Probleme mit klimaökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen gibt es bereits beim verwendeten Tatsachenmaterial, was hier aus Raumgründen nur kurz resümiert wird.9 Das erste Problem der Klimaökonomik besteht darin, dass viele Klimaökonomen die drohenden Schäden eines globalen Klimawandels unterschätzen. Reduziert die Menschheit den Einsatz fossiler Brennstoffe für Strom, Wärme, Treibstoff und stoffl iche nicht in wenigen Jahrzehnten weitgehend durch Nutzung von mehr Energieeffizienz, mehr erneuerbare Energien – die theoretisch weitgehend treibhausgasfrei sind – und Suffizienz (Genügsamkeit), drohen der Welt deshalb ökonomische und friedenspolitische Schäden sowie Verluste an Menschenleben in hohem Ausmaß. Dabei besteht ein flagranter globaler und intergenerationeller Konfl ikt10 : Trotz der in Europa und Deutschland oft beanspruchten Rolle als „Klimavorreiter“ emittiert ein Deutscher immer noch etwa die dreifache Treibhausgasmenge eines Chinesen und das etwa Zwanzigfache eines Afrikaners11; gleichzeitig werden die Bewohner der Entwicklungsländer vom Klimawandel vergleichsweise stärker betroffen sein.12 Gleiches gilt für künftige Generationen: Sie sind die Geschädigten des Klimawandels, ohne ihn verursacht zu haben. Insgesamt sind die weltweiten Emissionen seit 1990 um rund 40% gestiegen. Auch in den westlichen Ländern sind die Emissionen im Kern (nur) konstant geblieben, und selbst dies fast ausschließlich auf „Umwegen“, indem man den Industriezusammenbruch Osteuropas 1990 und die Verlagerung von Produktionsstätten in Schwellenländer statistisch als „einheimische Klimapolitik“ verbucht. Wie andernorts näher dargelegt wurde, ist bereits jene naturwissenschaftliche Grundlegung in der bisherigen Klimaökonomik nicht oder nicht durchgängig so repräsentiert, indem das Ausmaß der Treibhausgas-Reduktionserfordernisse kleiner geschätzt wird als im Weltklimarat (IPCC), der die weltweite naturwissenschaftliche Klimaforschung bündelt.13 Eine weitere problematische 8 Zu den philosophiehistorischen Hintergründen jener Denkweise bei Hobbes (sowie Hume, Smith u. a.) siehe Ekardt/Richter, ARSP 2006, 552 ff. 9 Ausführlich dazu Ekardt, Theorie, §§ 1 B., 5 C. III. und Ekardt, in: Ekardt (Hg.), Klimagerechtigkeit: Ethische, rechtliche, ökonomische und transdisziplinäre Zugänge, Marburg 2012, S. 9 ff. 10 Zum Nachhaltigkeitsgedanken (also zum Ziel „mehr Generationengerechtigkeit, mehr globale Gerechtigkeit“) siehe Ekardt, Theorie, § 1 C.; Ott/Döring, Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, 2. Aufl. 2008. 11 Vgl. auch Baumert/Herzog/Pershing, Navigating the Numbers, Greenhouse Gas Data and International Climate Policy, Washington 2005, S. 22. 12 Böhringer/Welsch, Effektivität, Fairness und Effi zienz in der internationalen Klimapolitik: Contraction and Covergence mit handelbaren Emissionsrechten, Jahrbuch Ökologische Ökonomik 2009, 261 (265); gegen Konsequenzen daraus Nordhaus, Question, S. 6 – und dafür Stern, A Blueprint for a Safer Planet: How to manage Climate Change and create a new Era of Progress and Prosperity, London 2009, S. 13. 13 Kritisch dazu Parry u. a., Assessing the costs of adaptation to climate change: a review of the UNFCCC and other recent estimates, 2009, http://www.iied.org/climate-change/key-issues/economicsand-equity-adaptation/costs-adapting-climate-change-significantly-under-estimated; Ekardt, Theo-
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Tatsachenannahme in klimaökonomischen Berechnungen der „optimalen Klimapolitik“ ist die Kernannahme „ewigen“ Wirtschaftswachstums.14
III. Gerechtigkeit und Objektivität: Warum nicht nur Naturwissenschaften und Konsumenten-Präferenzen „objektiv“ sind 1. These zum Kern einer liberal-demokratischen Ethik und Rechtskonzeption – und zu ihrer Deckung Konkret interessieren sollen vorliegend jedoch keine naturwissenschaftlichen Faktenfragen, sondern normativen Frage, sondern der ökonomische Umgang mit der zentralen Sollens- bzw. Wertungsfrage von „Klimagerechtigkeit“: Inwieweit sollen bestimmte (unsichere, ggf. allerdings drastische) negative und irreversible Folgen, ggf. nach einer Abwägung mit Gegenwartsinteressen, abgewendet oder hingenommen werden, und wer soll ggf. wozu verpfl ichtet werden? Denn aus Naturbeobachtungen über drohende Schäden folgt für sich genommen nicht logisch, dass diese Beobachtungen zu begrüßen oder zu kritisieren ist; auch dieser Basis-Umstand ist in der wirtschafts- und naturwissenschaftlichen Debatte oft nicht hinreichend präsent.15 Damit ist man im Bereich der Gerechtigkeitstheorie. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass in die klimaökonomischen Modelle nicht nur angreif bare deskriptive (s. o.), sondern auch angreif bare normative, ethische Annahmen eingehen. Allerdings würden sehr viele Ökonomen bestreiten, dass ihr Fach mit Ethik überhaupt etwas zu tun hat, wenn Kosten-Nutzen-Berechnungen bzw. die „Effi zienz“ bestimmter möglicher klimapolitischer Pfade untersucht werden.16 Man wird im Folgenden sehen, dass dies jedoch unzutreffend ist. Wir müssen dafür etwas allgemeiner ansetzen. Führen wir einmal folgende später noch kurz zu begründende These, ohne sie sogleich in allen juristischen Einzelheiten zu diskutieren, ein: Gerecht ist eine Gesellschaft dann, wenn in ihr jeder nach eigenen Vorstellungen leben kann und alle anderen das auch können – wenn also jeder gleichermaßen (!) ein so bezeichenbares Recht auf Freiheit hat und Freiheitskonfl ikte gewaltenteilig-demokratisch gelöst werden. Gerecht wäre menschliches Zusammenleben dann, wenn es die Menschenrechte auf Freiheit einschließlich der elementaren Freiheitsvoraussetzungen (wie Leben, Gesundheit und Existenzminimum) sowie berie, § 5 C. III.; als das wesentliche IPCC-Dokument siehe IPCC, Climate Change 2007. Mitigation of Climate Change, 2007. 14 Dazu, dass Nachhaltigkeit in einer physikalisch endlichen Welt (trotz der Potenziale z. B. der Solarenergie) nicht mit dauerhaftem Wirtschaftswachstum vereinbar ist, zumindest nicht in den Industriestaaten, vgl. Daly, Beyond Growth. The Economics of Sustainable Development, Boston 1996; Wuppertal-Institut, Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt, Frankfurt a. M. 2008; Paech, Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum, Marburg 2005; Ekardt, Theorie, § 1 B. II. m. w. N. auch zu Gegenpositionen. 15 Allenfalls angedeutet, aber immer wieder in den Hintergrund tretend bei Stern, Blueprint, S. 86 ff. 16 Exemplarisch hierfür Wink, Generationengerechtigkeit im Zeitalter der Gentechnik, BadenBaden 2002; Nordhaus, Question, S. 175 f.; Böhringer/Welsch, Jahrbuch Ökologische Ökonomik 2009, 261 ff.
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stimmte die Freiheit unterstützende sonstige Arrangements („freiheitsförderliche Bedingungen“) optimal verwirklicht, einschließlich der ständig nötigen abwägenden Konfl iktlösung zwischen den kollidierenden Belangen. Interpretiert man liberal-demokratische Rechtsordnungen so wie eben, ergibt sich in allen nachstehenden Aussagen dieses Beitrags eine Deckung zwischen genuin ethischer und juristischer Perspektive. Die eben genannten normativen Prinzipien und besonders die Menschenrechte sind bekanntermaßen Gegenstand völkerrechtlicher Verträge, europarechtlicher konstitutioneller Dokumente und nationaler Verfassungen. Der Ethik fehlt zwar die Konkretheit und Sanktionsbewehrung des Rechts, womit auch sie über Prinzipien der genannten Art – und daraus herleitbare Abwägungs- und Institutionenregeln – nicht hinauskommt; sie kann jedoch die hinter Menschenrechten und Demokratie stehenden „letzten“ (cum grano salis kantianischen) Prinzipien Menschenwürde und Unparteilichkeit ihrerseits begründen und so ihre Vernünftigkeit ausweisen, was das Recht seinerseits nicht kann.17 Die menschenrechtliche Freiheit wird in rechtlichen Verfassungsdokumenten auf allgemeine Handlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit etc. aufspalten.18 Dabei wird indes der Schutz der elementaren Freiheitsvoraussetzungen wie Leben, Gesundheit und Existenzminimum (und damit z. B. eines basalen Zugangs zu Energie, aber auch eines hinreichend stabilen Globalklimas) ebenso wie die Freiheit auch der Mitglieder der künftigen Generationen und der anderen Erdteile in der liberal-demokratischen Tradition meist nur am Rande berücksichtigt. Jedoch besteht ein starkes Argument dafür, den Schutz der elementaren Freiheitsvoraussetzungen als bereits im Freiheitsbegriff selbst logisch enthalten anzusehen: Denn ohne die elementaren Freiheitsvoraussetzungen kann es niemals Freiheit geben.19 Ähnliche (parallel rechtsinterpretative und ethische) Argumente sind für eine Erweiterung der Menschenrechtsgeltung in die intertemporale und global-grenzüberschreitende Dimension denkbar, ungeachtet hier nicht näher zu thematisierender charakteristischer Einschränkungen, die dabei 17 Zum Verhältnis von Recht und Ethik näher Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt a. M. 1995, S. 127 ff. und Ekardt, Theorie, § 1 D.: Recht kombiniert stets normative und instrumentelle Rationalität. M. E. besteht in der Sache nur bedingt ein Gegensatz zu Häberle, AöR 1974, 437 ff., nur wird vorliegend das, was dort „Verfassungstheorie“ heißt, in anderer Weise begründet. 18 Inhaltlich hat diese Aufspaltung letztlich kaum eine Bedeutung – außer die, dass der Gesetzgeber der Grundrechtskataloge die Abwägung kollidierender Freiheiten (dazu Ekardt, Theorie, § 4 C. I. und § 5) teilweise schon vorstrukturiert hat, indem er in den Grundrechtskatalogen Aussagen über das Gewicht der jeweiligen Freiheit getroffen hat, und damit den Abwägungsspielraum des einfachen Gesetzgebers verkleinert. A.a.O. wird vom Verfasser vertreten, dass auch die völker- und europarechtlichen Kataloge die allgemeine Handlungsfreiheit garantieren und nicht nur ausgewählte Freiheiten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit usw. Damit entsteht erstens eine Deckung der menschenrechtlichen Rechtsebenen. Zweitens wird damit für alle Rechtsebenen verdeutlicht, dass verfassungsrechtliche Beschränkungen einzelner Grundrechte auf die Staatsbürger (etwa die Berufsfreiheit in Deutschland) typischerweise nicht den Ausschluss der Nicht-Staatsbürger von dem jeweiligen Grundrechte bedeutet, sondern lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit mit ihren geringeren Abwägungs-Vorstrukturierungen an die Stelle des spezifi schen Freiheitsgrundrechts treten lässt. – Die Frage, ob verfassungsrechtliche Gleichheitsrechte dem Gesagten etwas hinzufügen oder lediglich weitere Ausbuchstabierungen der gleichen Freiheitsrechte aller sind (letzteres meint der Verfasser), muss vorliegend dahinstehen. 19 Zur gesamten Thematik von Freiheitsverständnis und Nachhaltigkeit ausführlich m. w. N. Ekardt, Theorie, § 3–5; speziell zur intertemporalen Dimension auch Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen, Würzburg 1999.
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verbleiben.20 Neben diesen Menschenrechten sind nach hier vertretener Auffassung solche (überaus zahlreichen) Belange zulässige Gegenstände von Entscheidungen öffentlicher Gewalt, die die Freiheit fördern, aber nicht zwingend für sie erforderlich sind und die deshalb – da nicht logisch im Freiheitsbegriff enthalten – keine Menschen- bzw. Grundrechte sind (z. B. Kulturförderung, die Schaffung von Kindergartenplätzen, die Biodiversität u.v. a.m.). Ob die letztgenannte Eingrenzung – anstelle einer Rede z. B. generell von „öffentlichen Interessen“ – rechtlich wirklich in dieser Form überzeugt, ist für den Gedankengang des vorliegenden Beitrags nicht entscheidend.21 Ebenfalls für den weiteren Gedankengang nicht entscheidend ist, ob die diesseitig vertretene These zutrifft, dass nationale und transnationale Menschenrechtskataloge bei korrekter Interpretation Abwehrrechte gegen die öffentliche Gewalt und Rechte auf Schutz durch die öffentliche Gewalt gleichermaßen kennen und auch gleichrangig behandeln 22 ; andernfalls wären Grundrechte im Nachhaltigkeitskontext jedenfalls witzlos, da Klimawandel, Ressourcenknappheit usw. in erster Linie von Privaten und nicht direkt von Staaten verursacht werden. Die – im juristischen Diskurs dominante und sich gegen starke Verpfl ichtungen z. B. auf Klimaschutz aussprechende – Gegenthese dazu wäre, dass starke abwehrrechtliche (nicht zuletzt Wirtschafts-)Grundrechte mit eher schwachen und vagen (bloßen) Schutz“pfl ichten“ und öffentlichen Interessen konkurrieren. Für die vorliegend verfolgte Kritik ökonomischer im Gegensatz zu juristischen (und ethischen) Abwägungsansätzen mag das auf sich beruhen.
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Zu der für den Klimaschutz sehr relevanten Frage, dass auch „nicht sicher“ drohende Gefährdungen grundrechtlich relevant sind (Vorsorge), siehe in Auseinandersetzung mit der uneinheitlichen, in Deutschland eher skeptischen Judikatur Ekardt, Theorie, § 5 C. II. 2.; ausführlich auch Pissarskoi, in: Ekardt, Klimagerechtigkeit, S. 105 ff. 21 Auch wenn der Bezug zur Freiheit hier nicht so oft hergestellt wird, so dürfte doch unstreitig sein, dass die „bloß freiheitsförderlichen“ Bedingungen jedenfalls keine Menschenrechte darstellen – es gibt ein Grundrecht auf das Existenzminimum, aber kein Grundrecht auf einen Kindergartenplatz. Diese Aussage liegt also, trotz der für Juristen u. U. weniger vertrauten Begründung und der hiesigen Begrifflichkeit, auf der Linie der gängigen deutschen Diskussion zum Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG): Der Gedanke eines „Existenzminimums“ ist notwendiger Weise nicht beliebig weit zu fassen, sei es nun in sozialer oder ökologischer Hinsicht. Allerdings sind die Freiheitsvoraussetzungen Leben und Gesundheit (in Deutschland und der EU) bereits explizit als grundrechtlich gekennzeichnet. Die Diskussion, ob ein Randbereich von Gesundheit „nicht elementar und daher nicht vom Grundrechtsschutzbereich erfasst“ ist, wäre damit wenig praxisrelevant. – Der gängige juristische Diskurs spricht demgegenüber von „öffentlichen Interessen“ oder „Gemeinwohlbelangen“ (paradigmatisch Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970); zur wiederum parallel ethischen und rechtlichen Kritik am Gemeinwohlbegriff – und zur Füllbarkeit der Reste jener Begriffl ichkeit in der Rechtsinterpretation durch den Begriff der freiheitsförderlichen Bedingungen – siehe Ekardt, Theorie, § 4 F. I. 22 Vgl. Schwabe, JZ 2007, 134 ff.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, Tübingen 2001; Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, Tübingen 2000, S. 503; Vosgerau, AöR 2008, 346 ff.; Steinberg, NJW 1996, 1985 ff.; ausführlich Ekardt, Theorie, § 4 E. (auch zu Einwänden gegen starke Schutzrechte mit den Topoi Demokratie, Gewaltenbalance, fehlender Individualbezug, Vorrang der Abwehrrechte, Klageflut u. a. m.); ähnlich auch Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Berlin 1985, S. 101 ff.
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2. Deskriptive Anthropologie (homo oeconomicus) versus normative Präferenztheorie/Effizienztheorie Man befi ndet sich mit alledem im Bereich der philosophischen Gerechtigkeitstheorie oder ihres praxisrelevanteren, konkretisierten und sanktionierten „Verwandten“, des Rechts. Demgegenüber beschreibt eine Handlungstheorie das rein faktische Verhalten von Menschen, anders als eine normative gerechtigkeitstheoretische (moralische oder rechtliche) Betrachtung, die davon handelt, wie Menschen und Gesellschaften sich verhalten bzw. sich ordnen sollten. Statt Handlungstheorie kann man auch von Anthropologie, Gesellschaftstheorie oder „Menschenbild“ sprechen. Die von vielen Ökonomen mehr oder minder verfolgte Handlungstheorie des Inhalts „der Mensch ist rein faktisch (fast) nur eigennützig“, also die ursprünglich auf Thomas Hobbes zurückgehende Lehre vom homo oeconomicus, ist zwar der Hauptstreitpunkt in vielen Kontroversen mit der Ökonomik und auch eine gängige juristische Kritik, da man hierin einen Widerspruch zu einem liberal-demokratischen Menschenbild sieht.23 Diese Lehre, die Ökonomen das Erklären und Prognostizieren faktischer Entwicklungen ermöglicht, wird hier aber nicht näher behandelt. Andernorts wurde diesbezüglich für das Phänomen Klimawandel und der mangelnden gesellschaftlichen Reaktion darauf analysiert, wie Unternehmen, Wähler/Konsumenten und Politikern häufig in Teufelskreisen aneinander gekoppelt sind – und wie bei ihnen Faktoren wie Konformität, emotionale Wahrnehmungsprobleme mit raumzeitlichen Fernfolgen eigener Handlungen/Bequemlichkeit/Gewohnheit, Eigennutzen, tradierte Werthaltungen, technisch-ökonomische Pfadabhängigkeiten und Kollektivgutstrukturen bisher wirklich einschneidende Klimaschutzbemühungen vereitelt haben.24 Diese nötige Ausdifferenzierung erreichen ökonomische Anthropologien zwar nicht immer, sie treffen mit dem Verweis auf die menschliche Neigung zum Eigennutzenstreben jedoch einen wesentlichen Punkt, und ökonomische Ansätze lernen insoweit wie erwähnt auch seit langem dazu und werden differenzierter. Nebenbei ist mit dem eben zum Klimawandel Skizzierten übrigens eine wichtige Erkenntnis über die (schwierigen) Transformationsbedingungen hin zu einem wirksameren Klimaschutz gewonnen. Den homo oeconomicus zum Hauptkritikpunkt an der ökonomischen Bewertung aufzubauen, ergibt jedoch aus zwei Gründen wenig Sinn. Erstens sind auch innerhalb der Ökonomik seit längerem deutlich differenziertere Ansätze unter Überschriften wie Bounded Rationality oder Behavioral Economics im Vordringen begriffen.25 Zweitens – und vor allem – wäre es ein grundlegendes Missverständnis, sich unter Menschenbild etwas Normatives vorzustellen, also ein Bild davon, „wie der Mensch sein soll“ bzw. wie die Gesellschaft sein soll, womit Anthropologie/Gesellschaftsthe23
Letzteres meist unter Berufung auf BVerfGE 4, 7 ff. Vgl. näher Ekardt, Theorie, § 2. Etwas unsystematisch erscheint dagegen die Aufl istung bei Rogall, Nachhaltige Ökonomie 2009, S. 63 ff. – der außerdem auf S. 176 unzutreffend davon ausgeht, Suffi zienz (also Verzicht) sei per se „freiwillig“, obwohl sie doch am ehesten durch preislichen Druck zustande kommen dürfte (dazu Ekardt, a.a.O., § 6). 25 Grundlegend z. B. Simon, Quarterly Journal of Economics 1955, 99 ff.; zusammenfassend zur Debatte Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, Berlin 2006; kurz auch Hammer, in: Mathis, Efficiency, S. 211 (220 f.). 24
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orie und Gerechtigkeitstheorie vermischt würden. Die Vermischung ist deshalb so unglücklich, weil damit eine Tendenz entsteht, Fakten im Sinne eines bestimmten gewünschten Sollens in verdrehter Perspektive zur Kenntnis zu nehmen26 – oder umgekehrt nicht zu der Frage durchzudringen, wie genau man eine rein normative Aussage überhaupt rechtfertigen kann.27 Kurz: Wie auch immer sich der Mensch rein faktisch im Klimaschutz verhalten mag, so sag das in jedem Fall nichts darüber aus, wie er sich (ethisch und rechtlich) verhalten soll. Deshalb statuiert bei richtigem Verständnis auch die Menschenbildlehre in der deutschen Rechtsprechung28 keine Aussage darüber, wie der Mensch ist, sondern eine Konzeption davon, wie das Zusammenleben sein soll – nämlich so, dass es eine Abwägung kollidierender Belange und kein bloßes Recht des Eigennützigeren und Stärkeren gibt. Das Problem ökonomischer Bewertungen liegt übrigens auch nicht bei irgendeiner Theorie des glücklichen Lebens. Eine solche Theorie wäre zwar in der Tat eine normative Theorie. Doch für eine solche Theorie fehlen unter dem Vorzeichen des Freiheitsprinzips allgemeine Maßstäbe, so dass es eine solche Theorie überhaupt nicht geben kann. Damit erübrigt sich auf theoretischer Ebene eine Diskussion des Streits zwischen einigen Ökonomen, die vielleicht wirtschaftliches Gewinnstreben für besonders glücksbringend halten, und ihren häufig marxistisch inspirierten Kritikern 29, die stattdessen das Ausleben eines „wahren Bedürfnisses nach Solidarität“ o. ä. für glücksbringender halten. Insoweit macht ein liberal-demokratischer Rahmen keine Vorgabe; normativ darf Klimaschutz also nur als Schutz anderer Menschen formuliert werden, nicht dagegen als eine Art Zwangsbeglückung der um des Klimaschutzes willen in ihrer Freiheit Beschränkten.30 Das Problem liegt aber weniger in der Anthropologie mehr in der von der (nicht nur Klima-)Ökonomik zugrunde gelegten Gerechtigkeitstheorie, also in der Effi zienzlehre bzw. normativen Präferenztheorie, wie die Effizienzlehre vorliegend meist genannt wird, also in der Theorie dessen, wie Menschen und Gesellschaften sein sollen:
3. Missverständnisse über Objektivität, Rationalität und Normativität Um herauszuarbeiten, dass (a) eine objektive Gerechtigkeitstheorie möglich ist, dass (b) damit auch ein Rechtssystem in seinen Ausgangsprinzipien (einschließlich der darauf auf bauenden konkreten Entscheidungen) nicht als „beliebig“ begriffen 26 Dazu am Beispiel von Wehrpfl icht und Gender-Debatte (und ihrer Freunde und Feinde gleichermaßen) Ekardt, DVBl 2001, 1171 ff. 27 Nicht treffend daher etwa – statt vieler – Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit. Zur Formel vom „sozialen“ Staat in Art. 20 Abs. 1 GG, Tübingen 2008, S. 330 f.; problematisch teilweise auch Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005. 28 Grundlegend wiederum BVerfGE 4, 7 ff. (seitdem st. Rspr.). 29 Vgl. statt vieler Hosang/Fraenzle/Markert, Die emotionale Matrix. Grundlagen für gesellschaftlichen Wandel und nachhaltige Innovation, München 2005. 30 Dazu allgemein Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, Köln 1992; konkret anhand von Nachhaltigkeit und Klimaschutz (einschließlich der Tatsache, dass rein faktisch Nachhaltigkeit durch andere Glückskonzepte natürlich trotzdem leichter durchsetzbar wäre, was aber eben keine normative sondern eine faktisch-durchsetzungsbezogene Erwägung ist) Ekardt, Theorie, § 4 F. IV.
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werden muss, dass (c) sie den oben kurz beschriebenen Inhalt haben muss und dass (d) die Effizienzlehre bzw. normative Präferenztheorie eine andere, aber unzutreffende Gerechtigkeitstheorie ist, muss folgende Frage gestellt werden, die an die Ausführungen zur Freiheit anschließt: Gibt es eine sichere Basis, um beispielsweise die oben thesenhaft skizzierten Prinzipien für objektiv gerecht zu halten? Die damit eingeleitete Debatte um die labile gerechtigkeitstheoretische Basis der ökonomischen Kosten-Nutzen-Analyse ist (auch) für Juristen zwingend nötig. Denn der alleinige Hinweis, die quantifizierende Kosten-Nutzen-Analyse stehe im Widerspruch zu eher normativ/qualitativ/argumentativ verfahrenden Abwägungsvorstellungen liberal-demokratischer Verfassungen (dazu näher unten IV.), und verbindliche Rechtsvorgaben seien doch wohl gegenüber ökonomischen Bewertungen vorrangig, würde die Kosten-Nutzen-Analyse nicht widerlegen. Denn dann könnten Ökonomen schlicht die Geltung des Rechts anzweifeln und behaupten, all das vom Recht, was ihrer Effizienz-Ethik widerspreche, sei eben ungerecht (oder, wie Ökonomen sagen würden, ineffizient) und müsse daher weichen. Gerechtigkeit, dies sei nunmehr etwas näher betrachtet, meint definitorisch wie gesagt die Richtigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung. Gerechtigkeit ist also nicht etwas „Zusätzliches“, welches im Anschluss an die Forderung nach „Wohlstand“ o. ä. formuliert werden kann, auch wenn sich dies in ökonomischen Diskursen häufig so anhört.31 Sie meint also gerade nicht bloße materielle Verteilungsgerechtigkeit.32 Jedwede Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft sein soll (und mag sie schlicht lauten „die Gesellschaft soll möglichst reich sein, wobei wir alles in Geld ausdrücken, und die Wohlstandsverteilung ist dabei egal“ – oder „richtig ist, was der Summe der am Markt ablesbaren faktischen Präferenzen entspricht“), ist per se ein Gerechtigkeitskonzept, ob nun ein richtiges oder ein falsches. Konzepte von der gelungenen Gesellschaft behandeln per se die Gerechtigkeit, so wie Physik oder Biologie oder Soziologie per se die deskriptive Wahrheit behandeln (auch wenn einzelne Forschungsergebnisse dann inhaltlich nicht wahr, sondern vielmehr unwahr sein mögen, den Anspruch also verfehlen). Die Grundvorstellung neoklassischer (nicht nur Klima-)Ökonomen, es gelte den Wohlstand an möglichst monetär fassbaren Gütern zu maximieren, ist damit weder trivial noch überhaupt als „empirisch“ einzuordnen. Diese Grundvorstellung ist vielmehr eine normative Vorstellung – sie ist also eine empiristische (Effizienz-)Ethik33, die wie der homo oeconomicus erstmals bei Thomas Hobbes auftaucht. Die Effizienz-Ethik soll, anders als die deskriptive Anthropologie des homo oeconomicus, nichts erklären oder prognostizieren, sondern sie soll vielmehr normativ richtige Entscheidungen vorschlagen. Daraus ergibt sich: – „Effizienz versus Gerechtigkeit“ bzw. „Effizienz versus Ethik und Recht“ als Gegenüberstellung, wie sie sowohl Ökonomen wie auch ihre z. B. juristischen Kritiker pflegen, ist gerade unzutreffend.34 Sinnvoll ist allein der Streit darüber, ob die 31 Exemplarisch Panther, in: Nutzinger (Hg.), Gerechtigkeit in der Wirtschaft – Quadratur des Kreises?, Marburg 2006, S. 21 ff. 32 Vgl. Ekardt, Theorie, § 1 D. III. 2.; teilweise eher enger liest sich z. B. Vogt, in: Ekardt, Klimagerechtigkeit, S. 57 ff. 33 Treffend von ökonomischer Seite dazu Gawel, in: Gawel (Hg.), Effi zienz im Umweltrecht, Baden-Baden 2001, S. 9 ff. und 43 ff. 34 Insoweit m. E. etwas irreführend daher Nutzinger, in: Nutzinger (Hg.), Regulierung, Wettbewerb
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Effizienz-Ethik eine überzeugende Ethik und eine überzeugende Grundlage für das Recht ist. Nicht sinnvoll ist es dagegen begriffl ich, wenn das IPCC in seinem für 2014 geplanten Fünften Sachstandsbericht voraussichtlich die Ethik bzw. die Gerechtigkeitstheorie (die Begriffe sind bekanntlich gleichbedeutend) erstmals aufzunehmen als „Zusatz“ zur Effi zienzanalyse. Dies setzt dann irrig voraus, Ethik (oder Gerechtigkeit) sei eine Art diffuser Ausschnittsbereich aus den Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, etwa Fragen, die irgendwie „besonders bedeutsam“ erscheinen oder gar eine religiöse Konnotation zu haben scheinen. – Nicht überzeugend ist es auch, wenn im juristischen Schrifttum „der“ Ökonomik als Normwissenschaft das Recht und die Rechtswissenschaft als rein faktenbezogener Gegenstand entgegengehalten werden.35 Daran ist nicht nur schief, dass „die“ Ökonomik als Disziplin nur zu einem kleinen Teil von der (normativen) ökonomischen Bewertung handelt und zum größeren Teil von deskriptiven Fragen wie faktischen wirtschaftlichen Entwicklungen oder der Entwicklung von Governance-Instrumenten respektive rechtspolitischen Optionen und Rechtswirkungsanalysen.36 Vor allem ist schief, dass Rechtsfragen selbst normative Fragen sind – Fakten kommen erst als Subsumtionsmaterial bei der Rechtsfi ndung ins Spiel.37 – Die Entgegensetzung „Ethik versus Effizienz“ handelt teilweise auch eher davon, inwieweit vermehrt soziale Verteilungsgerechtigkeit an bestimmten materiellen Gütern im Sinne von verstärkter Umverteilung stattfi nden soll.38 Dies ist jedoch eine spezielle und zudem nicht wirklich zielführende, da nur in Ansätzen entscheidbare Fragestellung, auf die wir am Ende am Rande kurz zurückkommen werden. Doch gibt es eine objektive Gerechtigkeit? Gibt es unter nachmetaphysischen, globalisierten, multikulturellen Bedingungen noch objektive, allgemeingültige Maßstäbe, einerlei ob man sie nun „ethisch“ oder „effi zient“ nennt? Das Freiheitsprinzip würde z. B. Diktaturen als ungerecht erscheinen lassen – aber lässt sich das Freiheitsprinzip objektiv und damit universal begründen? Dass Tatsachenaussagen, z. B. zur Anthropologie oder zu Klimadaten, zwar teilweise unsicher und schwer beweisbar sein mögen, aber grundsätzlich wahr und damit objektiv begründet, also rational, sein können, wird selten bestritten.39 Weniger klar ist, ob auch moralischrechtliche Normen richtig und objektiv/rational sein können. Sehr viele Ökonomen setzen implizit voraus, dass allein Wirtschafts- und Naturwissenschaften, zumindest und Marktwirtschaft, Göttingen 2003, S. 77 ff.; Grzeszick, JZ 2003, 647 ff.; Mathis, Efficiency instead of Justice? Searching for the Philosophical Foundations of the Economic Analysis of Law, Berlin 2009. 35 Exemplarisch etwa Eidenmüller, Effi zienz, passim; klarer Winter, KJ 2001, 300 ff. 36 Letzteres wird u. a. von Suchanek, Normative Umweltökonomik, Tübingen 2000 unzutreffend als „normativ“ eingeordnet, obwohl die Aussage, dass ein Politikinstrument in Relation zu einem vorausgesetzten (ggf. mit anderen Zielen/Prinzipien abgewogenen) Ziel effektiv ist, zweifelsfrei eine deskriptive – instrumentell rationale – und keine präskriptive Aussage ist. 37 Ausführlich dazu Ekardt, Theorie, § 1 D. III. 2.–4. und grundlegend Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991. 38 Vgl. dazu Panther, in: Nutzinger, Gerechtigkeit, S. 21 ff. 39 Eine Ausnahme bilden Konstruktivisten, präsent auch im juristischen Diskurs, z. B. Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt a. M. 1989; Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, Frankfurt a. M. 2006.
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aber allein empirische Wissenschaften, seien es vielleicht manchmal auch Sozialwissenschaften, rational sein können. Es soll deshalb kurz skizziert werden, dass es sehr wohl rationale und damit objektive Normen gibt.40 Man muss dazu vorab folgende Begriffe festhalten: – „Objektiv“ meint „nicht subjektiv“, also nicht abhängig von bestimmten Perspektiven, kulturellen Hintergründen oder Einstellungen – also universal und überall gültig. Mit den juristischen Termini objektives vs. subjektives Recht hat dies nichts zu tun. – Vernunft respektive Rationalität meint die Befähigung, Fragen mit Gründen, also objektiv, zu entscheiden. Geht es um die Frage nach der Gültigkeit von ethischen bzw. rechtlichen Gerechtigkeitsprinzipien, spricht man von normativer Vernunft. Dagegen handeln die instrumentelle und die theoretische Vernunft von Fakten. Die instrumentelle Vernunft handelt davon, welche Mittel eine als richtig vorausgesetzte Norm, etwa ein bestimmtes Klimaziel (oder auch ein ganz eigennütziges Ziel wie einen Diebstahl), am wirksamsten umsetzen – z. B. vielleicht durch einen Emissionshandel. Die theoretische Vernunft handelt von Faktenermittlung ohne konkreten Handlungsbezug wie z. B. in der naturwissenschaftlichen Klimaforschung. Fakten der theoretischen Vernunft gehen dabei in Entscheidungen der normativen Vernunft als Subsumtionsmaterial mit ein. Von der normativen Rationalität akzeptieren indes Ökonomen meist nur die Abwägungskomponente; ihr Abwägungsgegenstand sind für Ökonomen dann tendenziell in Geldwerten ausgedrückte Präferenzen. Dass jene Beschränkung des Konzepts von Rationalität nicht überzeugt, sehen wir im weiteren Verlauf. Nicht gemeint mit Objektivität ist hier wie gesagt, dass – diese Scheidung wurde bereits vorgenommen – die faktische Entstehung von Normen bei jemandem erklärt werden kann (etwa durch Analyse seiner ökonomischen Interessen, seiner Gene oder seiner schweren Kindheit) – oder das faktisch konstatiert werden kann, dass jemand bestimmte normative Ansichten pflegt. Ebenso wenig ist gemeint, dass jedenfalls die Tatsachenelemente einer normativen Lehre – etwa das Bestehen eines Klimawandels im Rahmen einer normativen Theorie der Klimagerechtigkeit – objektiv überprüft werden kann. Vielmehr geht es hier um die Objektivität der normativen Aussagen selbst. Es geht also z. B. auch nicht um die faktische historische Genese der Menschenrechte (in der beispielsweise auch reine wirtschaftliche Machtinteressen des aufstrebenden Bürgertums eine gewisse Rolle spielten), es geht vielmehr um die norma40 Begründungsansätze, die dem nachstehende entfalteten Ansatz (teilweise) ähnlich sind, entwickeln dagegen – aber ohne Bezug zur Nachhaltigkeit und zum Klimaschutz – Alexy, Recht, S. 127 ff.; Illies, The Grounds of Ethical Judgement. New Transcendental Arguments in Moral Philosophy, Oxford 2003, S. 129 ff.; Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, Freiburg u. a. 1985; Apel/Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1993; teilweise Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 56 ff.; implizit auch Ott/Döring, Theorie, S. 91 ff. Die Klassiker Kant und Rawls, A Theory of Justice, Cambridge/ Mass. 1971 bleiben demgegenüber begründungstheoretisch mindestens unvollständig, obwohl sich die Grundbegriffe Vernunft, Menschenwürde, Unparteilichkeit, Freiheit und gewaltenteilige Demokratie mit ihnen verbinden lassen; näher zum gesamten (gegenüber den zitierten Autoren heterodoxen) diskursethischen Ansatz Ekardt, Theorie, § 3.
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tive Begründung, warum es richtig ist, Menschenrechte in einer Verfassung zu haben. Ob es objektiv gültige (also rational belegbare) Normen und Tatsachen gibt, hat auch nichts mit der – zutreffenden – Beobachtung zu tun, dass uns Menschen rein faktisch bei der Tatsachen- und Normerkenntnis immer wieder unsere subjektiven Sichtweisen in die Quere kommen. Diese Neigung zur „subjektiven Brille“ haben Menschen natürlich. Doch beweist das keineswegs, dass Objektivität – etwa durch sorgfältige Prüfung und Diskurs mit anderen – schlechthin unmöglich ist.41 An einem Fakten-Beispiel erläutert: Es mag sein, dass es Naturwissenschaftler gibt, die sich pro oder contra Vorliegen eines vom Menschen verursachten Klimawandels äußern, weil sie sich davon finanzielle Vorteile versprechen. Ihre Aussagen wären damit nicht objektiv, sondern subjektiv verzerrt. Daraus folgt aber in keiner Weise, dass man nicht auch objektiv und unverzerrt Erkenntnisse zum Klimawandel gewinnen kann. Die Feststellung faktisch häufig sehr „subjektiver“ Perspektiven setzt vielmehr schon logisch voraus, dass es auch objektive Perspektiven gibt – denn sonst wäre das Subjektive an den subjektiven Perspektiven gar nicht sinnvoll bestimmbar. Für normative Fragen (anders als für Tatsachenfragen) bestreiten Ökonomen, Soziologen und Politologen überwiegend rundheraus die Möglichkeit objektiver Aussagen. „Norm“ ist für (nicht nur Klima-)Ökonomen meist einfach das, was die Menschen rein faktisch präferieren. Rational seien dann allein (möglichst) quantifizierende Abwägungen, die die ihrerseits nicht rational überprüf baren Präferenzen in eine einheitliche „Währung“ (Geld) brächten und sie damit vergleichbar machten. Wenn ein neoklassischer Ökonom nach der richtigen Klimapolitik fragt, würde er also nicht fragen: Welchen klimapolitischen Rahmen geben die Freiheit, und zwar auch die Freiheitsvoraussetzungsrechte der räumlich und zeitlich weit entfernt Lebenden, und die aus der Freiheit ableitbaren Abwägungsregeln vor, in dessen Rahmen dann verschiedene politische Entscheidungen denkbar sind? Ökonomen würden vielmehr üblicherweise fragen: Wie viel würden die heute lebenden Menschen für ein stabiles Globalklima zahlen bzw. was wären, in Marktpreisen ausgedrückt, die Vor- und Nachteile des Klimawandels einerseits und der Klimapolitik andererseits? Wobei eine solche Präferenztheorie dann meinen kann: Richtig ist, worauf sich alle einigen können. Oder: Richtig ist, was sich als mathematische Summe der jeweils in Geld ausgedrückten Präferenzen ergibt. Andere meinen demgegenüber eher: Richtig sind einfach die faktischen Präferenzen der jeweiligen Mehrheit.42 Wichtig ist in jedem Fall, dass diese Sichtweisen auf eine eigennutzenzentrierte Handlungstheorie bzw. Anthropologie (homo oeconomicus), wie sie oben erwähnt wurde, zwar in gewisser Weise auf bauen, aber von dieser trotzdem strikt getrennt betrachtet werden können. Zugespitzt formuliert, kann man den Unterschied noch einmal in folgende einfache Formel bringen: „Menschen sind rein faktisch eigennützig“ (= Anthropologie) – „und das ist auch gut so, und das Hören auf die rein faktischen Präferenzen der Men41 Ebenso für genau diese Differenzierung der (insoweit oft verkannte) Klassiker Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City/NY 1960, S. 2. 42 Dies wird häufig nicht explizit ausgesprochen, aber implizit vorausgesetzt; vgl. statt vieler Stern, Blueprint, Kap. 5; Panther, in: Nutzinger, Gerechtigkeit, S. 21 ff.; anders Ott/Döring, Theorie, S. 41 ff. passim.
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schen ergibt die beste gesellschaftliche Grundordnung“ (= Gerechtigkeitstheorie, und zwar konkret die normative Präferenztheorie respektive Effizienz-Ethik). Die normative Präferenztheorie respektive Effizienz-Ethik ist die theoretische Basis dafür, wie viel Klimaschutz die jeweiligen Ökonomen für objektiv richtig bzw. „effizient“ halten.43 Jedes andere Vorgehen, insbesondere eine normative Argumentation ohne „Zahlen“, wie sie im weiteren Verlauf entwickelt wird, wird dabei letztlich für unwissenschaftlich und irrational erklärt. Die Gleichsetzung von Wissenschaft mit Fakten und Zahlen entspricht der ideengeschichtlichen Basis des KostenNutzen-Denkens: dem erkenntnistheoretischen und ethischen Empirismus seit den Zeiten von Hobbes, Hume und Smith.
4. Warum die normative Präferenztheorie eine zweifelhafte Alternative zu einer universalistischen Rechts- und Ethikkonzeption ist Gegen die normative Präferenztheorie und das empiristische Erkenntnis- und Wissenschaftsverständnis an ihrer Basis sprechen jedoch gewichtige Einwände, nicht nur, aber auch beim Klimaschutz: – Der in der Ökonomik noch am ehesten vertraute Einwand ist der, dass die gängigen Methoden, die faktischen Präferenzen als Zahlenwerte zu ermitteln, schlicht nicht funktionieren; dazu in Abschnitt IV. näher. Hier soll stattdessen – für Ökonomen vielleicht weniger erwartet – gezeigt werden, dass unabhängig von solchen „Anwendungsproblemen“ die Präferenztheorie schon als solche nicht überzeugend ist: – Unser rein faktisches Wollen ist nach der Präferenztheorie per se richtig (man kann allenfalls noch fragen, ob es um Durchschnittsnutzen, um Nutzensummen oder um einen echten Konsens gehen soll). Einen Prüfstein dafür, „wie die Welt tatsächlich läuft“, gibt es damit nicht mehr. Gerechtigkeitstheorie bzw. Ethik als eigenwertige Disziplin wäre damit sinnlos und per se abgeschafft. – Doch wir stehen nicht nur vor einem praktischen, sondern auch vor einem logischen Problem. Denn es liegt ein Sein-Sollen-Fehlschluss vor: Warum sollten unsere rein faktischen Präferenzen (Sein) per se als richtig gelten (Sollen)? – Sollen nach diesen Maßstäben dann beispielsweise auch mehrheitlich gewollte Diktaturen als gerecht gelten? Und soll die faktische Ignoranz etwa gegenüber den Belangen künftiger Generationen, die heute noch keine Präferenz äußern können, damit per se in Ordnung sein? – Plädiert man für Mehrheits- statt für Durchschnittspräferenzen, stellt sich die weitere Frage: Wessen Präferenzen sind überhaupt gemeint: Dürfen 50,1% einer Gesellschaft beliebige Entscheidungen treffen, oder 73,4%, oder 84,5%? Und warum überhaupt sollte die Mehrheit per se immer Recht haben, ohne dabei durch irgendwelche Rahmensetzungen, wie sie die liberale Demokratie in Gestalt von Freiheitsgarantien vorsieht, gehindert zu sein – und nicht nur innerhalb der Abwägungsspielräume, die jene Garantien belassen? 43 So auch trotz ihrer Gegensätzlichkeit Stern, Blueprint, Kap. 3, 5 und Nordhaus, Question, S. 38 ff. und 59 ff.
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– Insbesondere aber enthält die Präferenztheorie der Gerechtigkeit einen logischen Selbstwiderspruch. Denn wer sagt, es gebe keine allgemeinen normativen Sätze, und deshalb müsse allgemein auf Präferenzen abgestellt werden, stellt selbst eine allgemeine Aussage über Normen auf. Die Aussage „alles ist relativ bei Normen“ widerlegt sich also selbst. Objektive Moral ist in ihrer Möglichkeit logisch eben gerade nicht bestreitbar; ihre Leugnung widerspricht sich selbst. All das heißt natürlich nicht, dass eigennützige Präferenzen für die tatsächliche Durchsetzung respektive Governance von normativen Belangen, etwa des Klimaschutzes, nicht eine wesentliche Rolle spielen. Festgestellt wurde hiermit lediglich, dass auf diese Weise keine ethisch-rechtsprinzipielle Fundierung – und auch keine normative Begrenzung oder Widerlegung – etwa des Klimaschutzes geleistet werden kann. Dies kann aber stattdessen vielleicht das Freiheitsprinzip einschließlich seiner Abwägungsregeln. Dieses Prinzip kann künftige Generationen einbeziehen, kommt zudem ohne die Probleme der eben dargestellten Art aus, bewahrt dabei aber die Grundintention – jeder soll über sich selbst bestimmen können – und leitet sie allererst zwingend her.
5. Für eine universalistisch-rational begründete liberale Demokratie als bessere Alternative zur empiristischen Welt von bloßen Kosten und Nutzen Dies gilt allerdings nur unter einer wesentlichen Bedingung: nämlich dann, wenn das Freiheitsprinzip einschließlich aller daraus herleitbaren Prinzipien (wie der gewaltenteiligen Demokratie) den alleinigen universalen Maßstab für Gerechtigkeit begründet. Doch warum sollte dem so sein? Und warum sollte so eine Aussage „objektiv“ sein können? In aller Kürze dazu folgende Überlegung. In einer pluralistischen Welt streitet man notwendigerweise über normative Fragen. Selbst Fundamentalisten und Autokraten tun dies unweigerlich zumindest gelegentlich. Und sie bedienen sich dabei der menschlichen Sprache. Wer aber mit Gründen (also rational, also mit Worten wie „weil, da, deshalb“) streitet, also in normativen Fragen Sätze „X ist richtig, weil Y“ formuliert, setzt logisch (1) die Möglichkeit von Objektivität in der Moral und (2) die Freiheit voraus, ob er das nun faktisch will oder nicht44: 1. Wir setzen logisch voraus, dass normative Fragen überhaupt mit Gründen und ergo objektiv und nicht nur subjektiv-präferenzgesteuert entschieden werden können; sonst widersprechen wir uns selbst. Wir setzen das sogar jeden Tag voraus, wenn wir normative Thesen aufstellen und diese begründen, also mit dem Anspruch auf objektive Einsehbarkeit kennzeichnen (anstatt sie nur als subjektiv zu präsentieren. 44
So genannte elenktische/negative/transzendentalpragmatische Argumente der folgenden Art verwenden insbesondere auch Alexy, Recht, S. 127 ff.; Illies, Grounds, S. 129 ff.; Kuhlmann, Letztbegründung, passim; mehr implizit auch Ott/Döring, Theorie, S. 91 ff. und passim; leicht abgeschwächt und in den Konsequenzen recht anders als vorliegend Habermas, Moralbewusstsein, S. 56 ff. Die Struktur des negativen (eben gerade nicht deduktiven) Arguments, mit welchem man einen infi niten Regress oder ein „beliebig gesetztes Basisaxiom“ gerade vermeidet, fi ndet sich aber bereits bei Platon, Augustinus und Thomas von Aquin (als logische Figur, nicht konkret zur im Text behandelten Thematik). Zu einigen Missverständnissen, die insoweit im Diskurs Philosophie/Recht/Ökonomik oft auftreten, siehe den Disput zwischen Dilger, Zf U 2006, 383 ff. und Ekardt, Zf U 2006, 399 ff.
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Und es dürfte nahezu unmöglich sein, ein Leben lang nie Sätze mit „weil, da, deshalb“ zu normativen Fragen zu formulieren. Damit ist kein Entkommen vor der grundsätzlichen Möglichkeit (!) von Objektivität in normativen Fragen. Wir setzen die Möglichkeit objektiver Aussagen aber auch dann logisch voraus, wenn wir sagen: „Ich bin Skeptiker und sage, es gibt objektiv nur subjektive Aussagen über Moral“. Diese Aussage kann nur gültig sein, wenn es eben doch Objektivität gibt. Damit hebt sich die Kritik an der Objektivität logisch selbst auf. 2. Wir setzen ferner logisch voraus, dass die möglichen Diskurspartner gleiche unparteiische Achtung verdienen. Denn Gründe sind egalitär und das Gegenteil von Gewalt und Herabsetzung; und sie richten sich an Individuen mit geistiger Autonomie, denn ohne Autonomie kann man keine Gründe prüfen. Niemand könnte sagen „Meine These X und ihre Begründung würde zwar von Herrn P leicht widerlegt werden können, du, lieber Q, solltest sie als Dummkopf aber glauben.“ Und es würde auch niemand sagen können: „Nachdem wir P zum Schweigen gebracht hatten, konnten wir uns endlich überzeugen, dass X ein guter Grund für Y ist.“ Es widerspricht mithin gerade dem Sinn von „Gründen“, das Begründen als relativ zur Person des Adressaten zu verstehen – ein Grund überzeugt und kann von jedem eingesehen werden. Jemand, der in einem Gespräch über Gerechtigkeit Gründe gibt (also Sätze mit „weil, deshalb, da“ spricht), dann aber dem Gesprächspartner die Achtung streitig macht, widerspräche ergo dem, was er selbst logisch voraussetzt. Folgerichtig muss der, der sich einmal auf den Streit über Gerechtigkeit mit Gründen und damit auf die Vernunft einlässt, den Partner als Gleichen achten – einerlei, ob er sich der Implikationen seines Be-Gründens bewusst ist oder ob er etwa zu bloßen Überredungszwecken zu diskutieren meint; denn es geht ja um streng logische Implikationen unseres Sprechens (nicht dagegen um unser rein faktisches Selbstbild, aus dem für sich genommen gar nichts folgt). Die somit vernunftgebotene Achtung vor der Autonomie als Selbstbestimmung muss nun aber gerade dem Individuum gelten und damit Respekt vor der individuellen Autonomie sein: Kollektive als solche sind nämlich gar keine möglichen Diskurspartner. Dieses ist vielmehr der einzelne argumentierende Mensch.45 Dies ist die Begründung für das Prinzip der Achtung vor der Autonomie der Individuen (Menschenwürde).46 Ergänzend, aber davon kaum unterscheidbar ist damit letztlich zugleich auch das Prinzip begründet, dass Gerechtigkeit Unabhängigkeit von subjektiven Perspektiven meint (Unparteilichkeit). Aus ihnen wiederum folgt das Recht auf Freiheit für alle Menschen. Und zwar nur das Freiheitsprinzip; mangels zwingender Begründung können andere Prinzipien mit ihm folglich nicht in Konkurrenz treten. Deshalb ist die gleiche freiheitliche Selbstbestimmung mitsamt den sie fördernden Umständen das alleinige Kriterium der Gerechtigkeit. Wer überhaupt Mensch ist, setzt 45 Eine ganze Reihe fi ktiver oder real vorgebrachter Einwände gegen diese Herleitung (1) der Möglichkeit von Vernunft und damit des Universalismus und (2) von Würde und Unparteilichkeit als alleinigen universalen Prinzipien aus der Vernunft wird eingehend diskutiert (und widerlegt) bei Ekardt, Theorie, § 3 F.-G. 46 Dass dies von verschiedenen Ansätzen das richtige Würdeverständnis ist, zeigen neben dem Umstand, dass jenes Verständnis über die nötige ethische Fundierung verfügt, auch rechtsinterpretative Argumente z. B. aus Art. 1 Abs. 2 GG; dazu m. w. N. Ekardt, Theorie, § 4 B.; teilweise ähnlich Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997.
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nach alledem (nur) das Recht auf Selbstbestimmung für alle ergo notwendig voraus. Und dieses Recht auf Freiheit gilt für alle Menschen, auch wenn ich nie mit ihnen rede. Denn Gründe in Gerechtigkeitsfragen (anders als Äußerungen in privaten oder ästhetischen Fragen) richten sich an jeden, der sie potenziell widerlegen könnte – womit ich alle Menschen als zu Achtende anerkennen muss, sobald ich denn überhaupt manchmal im Leben in Gründen spreche; und das tut jeder. Dies macht als Kontrollüberlegung wiederum ein Exempel deutlich. Niemand könnte ernstlich sagen: „Der abwesende Herr P könnte meine Thesen zwar jederzeit widerlegen – du aber solltest sie wegen deiner Dummheit glauben.“ Wer so etwas sagt, hätte gerade nichts begründet. – Wichtig ist ferner, dass hier das Freiheitsprinzip umfassend begründet wird, also z. B. nicht nur die Redefreiheit. Denn auch Eigentum, freies Sich-Versammeln, freie Berufswahl usw. usf. fördern mittelbar (mal mehr, mal weniger) die Autonomie und damit den Diskurs. Wie sich sogleich weiter zeigen wird, ist damit nicht gesagt, dass diese Gehalte keinen Abwägungen unterlägen. Dennoch sind sie prima facie erst einmal (rechtlich und ethisch) garantiert.47 Trifft das Gesagte zu, sind als Konsequenz aus Unparteilichkeit und Würde (vgl. z. B. Art. 1 Abs. 2 GG: „darum“) auch das Freiheitsprinzip sowie die daraus ableitbaren Institutionen – die gewaltenteilige Demokratie – und Abwägungsregeln objektiv begründet. Und weil potenzielle Diskurspartner wie eben gesehen erfasst sind, muss ich auch räumlich und zeitlich entfernt lebenden Menschen Freiheit zugestehen. Das ist eines der zentralen Argumente für die Erstreckung des Freiheitsprinzips auf künftige Generationen, also für globale Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit und damit für Nachhaltigkeit – neben dem Gedanken, dass Freiheit als solche Schutz genau dort impliziert, wo der Freiheit die Gefahren drohen. Ein Konzept von Vernunft und Autonomie, wie es vorliegend skizziert wird, optiert hier also anders als ein „ökonomisch-hobbesianisches“. Dennoch geht es bei beiden Ansätzen natürlich um die Freiheit. Aber für den vorliegenden Ansatz eben nicht nur im Sinne von faktischen Konsumentenpräferenzen.48
47 Dass die vermeintliche Alternative, statt des Abwägens schlicht die Freiheit von vornherein enger zu interpretieren (im Sinne einer „wahren Freiheit“, also unter Ausschluss der Freiheit fernzusehen, Wochenendflugreisen zu machen u. a. m.), trotz ihrer klassischen Verankerung bei Kant keine gute Idee wäre, wird näher begründet bei Ekardt, Theorie, § 4 C. I. – dort auch zur juristischen Debatte um die Reichweite von Art. 2 Abs. 1 GG; in der Grundtendenz anders Murswiek, Verantwortung, passim. 48 Auf anderem Wege kommen zu diesem Ergebnis auch Rothlin, Gerechtigkeit in Freiheit – Darstellung und kritische Würdigung des Begriffs der Gerechtigkeit im Denken von Friedrich August von Hayek, Frankfurt a. M. 1992 und Ott/Döring, Theorie, S. 78 ff. und 91 ff.; mehr als (m. E. nur bedingt zielführende) Kritik an der Profitorientierung des Wettbewerbs ausgerichtet dagegen Hoffmann, in: Hoffmann/Scherhorn, Eine Politik für Nachhaltigkeit. Neuordnung der Kapital- und Gütermärkte, Erkelenz 2009, S. 23 ff.
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IV. Friktionen bei der Durchführung ökonomischer Quantifizierungen im Vergleich zu normativen Abwägungen – und die Kollision mit dem Geltungsanspruch des Rechts 1. Der Geltungsanspruch des Rechts Den generationenübergreifenden und globalen Konfl ikt zwischen vielen kollidierenden Freiheiten zu lösen, also das richtige Ausmaß an Klimapolitik zu bestimmen, ist nicht einfach. Sowohl das normative Wägen selbst als auch die relevanten Tatsachen (siehe oben Abschnitt II.), anhand derer sich erkennen lässt, inwieweit ein bestimmter normativer Belang tatsächlich beeinträchtigt ist, sind von Unsicherheiten geprägt. Man kann allerdings, wie nachstehend nur knapp skizziert wird49, ethisch und auf vergleichbarem Argumentationswege juristisch Abwägungsregeln aus dem Freiheitsprinzip ableiten und Abwägungsinstitutionen herleiten, letztlich auf der Linie der juristischen Debatte um Verhältnismäßigkeitsprüfungen und planerische Abwägungen, aber mit darüber auch hinausgehenden und durch das bis hierher Gesagte weiter unterfütterte Weise. Rechtliche Vorgaben – zumal sie wie gesehen ethisch unterlegbar sind – sind als solche verbindlich. Allein daraus erwächst für die ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse ein schwerwiegendes Problem, denn die Ergebnisse jener Analyse konfrontieren die öffentlichen Gewalten sozusagen mit einer zweiten, konkurrierenden Normativität neben der juristischen Normativität. Es soll nachstehend freilich gezeigt werden, dass neben der wackeligen theoretischen Grundlage ökonomischer Bewertungen und neben der problematischen Konkurrenz zu rechtlichen Abwägungsvorgaben auch inhaltlich die ökonomischen Kosten-Nutzen-Abwägungen aufgrund vielfältiger Anwendungsprobleme den juristischen Vorgaben unterlegen sind.
2. Die Unausweichlichkeit von Abwägungen und die juristischen Abwägungsregeln Abwägungen sind auch bei Grundrechten unausweichlich, und sie sind ganz generell nichts Sensationelles. Um es etwas plastischer zu formulieren: Indem die Politik die Industriegesellschaft zulässt, Industrieanlagen genehmigt, den Autoverkehr zulässt usw., nimmt sie sehenden Auges statistisch Tote, also Beeinträchtigungen des Rechts auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen, aufgrund der freigesetzten Luftschadstoffe usw. in Kauf. Dies geschieht in Abwägung mit unser aller Konsumfreiheit und mit der wirtschaftlichen Freiheit der Konsumenten. Man spricht insoweit meist camoufl ierend von stochastischen Schäden. Das meint statistische Krankheits- und Todesfälle, die jedenfalls langfristig und in Kombination mit anderen Schadensursachen im Gefolge der industriegesellschaftlichen Lebensform auftreten. Da es gerade keine allgemeine Formel „Schädige niemanden“ (neminem laedere50 ) 49
Näher Ekardt, Theorie, § 5; ähnlich Susnjar, Proportionality, Fundamental Rights, and Balance of Powers, Leiden 2010 und teilweise auch Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a. M. 1986. 50 Ausgeblendet werden die Probleme z. B. bei Hochhuth, Relativitätstheorie des öffentlichen Rechts, 2000.
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gibt (weil ansonsten letztlich nahezu alles verboten wäre, denn überaus viele menschliche Handlungen sind auf irgendeinem Wege für irgendjemanden unvorteilhaft), ist dies für sich genommen aber gerade nicht skandalös.51 Das durchaus Absurde liegt vielmehr in Schizophrenien wie „wir wollen mehr Klimaschutz und trotzdem ständiges Wirtschaftswachstum“, also in politischen Formelkompromissen, die die nötigen schmerzlichen Abwägungen gerade leugnen.52 Verteidigt werden muss die Effizienz-Ethik damit gegen den von John Rawls unter der (ein weiteres Mal) irreführenden Überschrift „Effi zienz versus Gerechtigkeit“ erhobenen Vorwurf. Dieser lautet, die Effizienzlehre respektive Präferenztheorie – anders gesagt: die empiristische Ethik – erkenne keine absoluten (also abwägungsfreien, nicht zu verwechseln mit universalen im Sinne von „überall geltenden“!) Rechte an.53 Das tut die Effizienzlehre zwar in der Tat nicht, genauso wenig wie der vorliegend vertretene Abwägungsansatz; dazu besteht angesichts der vielfältigen Freiheitskollisionen, die gerade den ganz gewöhnlichen Gegenstand von (auch Klima-)Politik ausmachen, aber auch wenig Anlass. Unabwägbare Freiheitsgarantien können nur ganz vereinzelt gerechtfertigt werden; im Wesentlichen dann, wenn das Zulassen einer Abwägung einmal den freiheitlichen Charakter der Ordnung insgesamt untergraben würde.54 Die richtigen Abwägungsregeln – wie in Abschnitt I. klargestellt immer in einem weiten Wortsinne – lassen sich im Kern aus den Freiheitsrechten selbst ableiten. Dies zeigt sich zunächst für die Grundregel von Abwägungen, die in der gewohnten Begriffl ichkeit der Abwägung als Verhältnismäßigkeitsprüfung meist unter der Überschrift „legitimer Zweck“ thematisiert wird: dass das Abwägungsmaterial einerseits vollständig sein muss und andererseits keine unzulässigen Belange enthalten darf. Wenn die andernorts näher ausgeführte Vermutung zutrifft, dass die Selbstbestimmung respektive die neu interpretierte Freiheit – und alles, was daraus folgt – das einzige begründbare Gerechtigkeitskriterium und der einzige mögliche Regelungsgegenstand öffentlicher Gewalten ist, kann man auch relativ leicht als Abwägungsregel angeben, welches das (allein) zulässige Material gerechter Abwägungen ist: nämlich eben die Freiheit aller Beteiligten, die wie gezeigt die elementaren Freiheitsvoraussetzungen einschließt, und sonstige freiheitsförderliche Bedingungen.55 Weitere – im juristischen Diskurs als Geeignetheits- und Erforderlichkeitsregel bekannte – Abwägungsregeln handeln davon, jedem nur soviel Freiheit zu nehmen, wie zur Mehrung der Belange anderer wirklich nötig ist. Ferner gibt es eine Angemessenheitsregel (die evident einseitige Abwägungen verbietet), aber auch weitere, in der 51
Winter, KJ 2001, 300 ff.; Hammer, in: Mathis, Efficiency, S. 211 ff.; Ekardt, Theorie, § 5 A. Insgesamt werden im Schrifttum selten Abwägungsregeln unter Einbeziehung der Schutzrechte entwickelt; vgl. aber Calliess, Rechtsstaat, S. 373 ff. und Cremer, Die öffentliche Verwaltung 2008, 102 ff. 53 Vgl. Rawls, Theory, passim; zu wenig zwischen Gerechtigkeitsprinzipien und der anschließenden Abwägung scheiden auch Heinig, Sozialstaat, S. 353 ff. und Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt a. M. 1991, S. 188 ff.; zur häufigen latenten Universalitäts-Absolutheits-Verwechslung auch in der deutschen (auch juristischen) Abwägungsdebatte in Ekardt, Theorie, § 4 E. II. 54 Ausführlich dazu Ekardt, Theorie, § 5 – u. a. gegen BVerfGE 115, 118 ff. 55 „Legitimer Zweck“ ist eine gängige, aber ungenaue Bezeichnung für diese Abwägungsregel, die von einem rein bipolaren Grundrechtsverständnis her gedacht ist; zur multipolaren Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung näher Calliess, Rechtsstaat, S. 344 ff.; Ekardt, Theorie, § 5 C. 52
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deutschen Judikatur eher angedeutete Regeln z. B. an die Erhebung des zugrunde liegenden Tatsachenmaterials. Daneben gibt es formale Abwägungsregeln, im Falle der Rechtsetzung z. B. über Kompetenz und Verfahren in der Gesetzgebung. Sind im Falle der Gesetzgebung Abwägungsregeln verletzt, kann ein Verfassungsgericht die getroffene Maßnahme oder Nicht-Maßnahme beanstanden und damit die Politik an ihren normativen Rahmen erinnern. Bezogen auf den Klimawandel wurde mehrfach andernorts begründet, dass der bisherige Klimaschutz mangels Intensität einige Abwägungsregeln verletzen dürfte und insofern ein Mehr an Klimaschutz menschenrechtlich (und nicht etwa nur ethisch) geboten ist.56
3. Friktionen des ökonomischen Quantifizierens (einschließlich Zahlungsbereitschaftsanalysen) und seiner modernen Relativierungen und Ergänzungen Ökonomen quantifi zieren demgegenüber alle betroffenen Belange und errechnen dann, welches das „richtige“ Maß an Klimaschutz ist. Dabei soll alles, was für Menschen einen Wert besitzt, wofür also eine Präferenz besteht, in Geldeinheiten übersetzt werden, bis hin zu Leben und Gesundheit, oder es soll unberücksichtigt bleiben.57 In den USA wird dies auch vom Gesetzgeber zuweilen so praktiziert58, manchmal auch von der EU, wenn neue Gesetzgebungsakte geplant werden.59 Besondere Abwägungsregeln benötigt man dabei nicht, die ermittelten Nutzen- oder Schadenstatsachen verschmelzen gewissermaßen mit den Präferenzen und ergeben am Ende monetarisierte Daten. Dies klingt insofern attraktiv, als damit kein Spielraum beschrieben wird, sondern theoretisch „genau eine“ Politikempfehlung abgegeben werden kann und „klare Zahlen“ herauskommen. Jedoch ist das ökonomische Bewerten von Kosten und/oder Nutzen in mehrfacher Hinsicht problematisch: (a) So ist wie gesehen bereits die dahinterstehende normative Präferenztheorie als solche nicht überzeugend. (b) Weiterhin fehlt es – wie ebenfalls schon anklang – schon für Nutzen und Schäden, die einen Marktpreis haben (Beispiel: „Schäden der schleswig-holsteinischen Tourismusindustrie aufgrund des Klimawandels in den nächsten 50 Jahren“), schlicht an hinreichend präzisen Fakten als Subsumtionsmaterial, wenn wie beim Klimawandel die gesamte Weltwirtschaft mit unüberschaubar vielen Einzelhandlungen, hochkomplexen Auswirkungen z. B. auf Ökosysteme und Umweltmedien wie Boden und 56 Ausführlich Ekardt, Theorie, §§ 4, 5 (u. a. auch zu einem die Abwägung einhegenden Recht auf gleiche Emissionen bei gleichzeitiger Pfl icht zu drastischen Emissionsreduktionen, auch intertemporal und global); in Kurzform z. B. auch Ekardt, Jahrbuch für Recht und Ethik 2011, 107 ff. Zum Sonderproblem, inwiefern ein Ausgleich aufgrund der sogenannten historischen Emissionen der Industriestaaten angemessen ist, siehe Exner, in: Ekardt, Klimagerechtigkeit, S. 205 ff. und Meyer, ebd., S. 83 ff. 57 Vgl. Nordhaus, Question, S. 4; ausführlich zu ökonomischen Bewertungsmethoden für menschliches Leben Hammer, in: Mathis, Efficiency, S. 211 ff.; kritisch dazu Burtraw/Sterner, Burtraw, Climate Change Abatement, 2009, http://www.rff.org/Publications/WPC/Pages/09_04_06_Climate_Change_Abatement.aspx. 58 Vgl. dazu Hofmann, Abwägung im Recht, Tübingen 2007, S. 81 ff.; Winter, KJ 2001, 300 ff. Ein Menschenleben „zählt“ dabei 5 Mio. Dollar. 59 KOM, SEC (2005) 791; ausführlich Hofmann, Abwägung, S. 50 ff.
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Wasser (und ihre Reaktion untereinander), komplexe soziale Reaktionsversuche (sowie Reaktionen auf diese Reaktionsversuche) und zudem Zeiträume von mehr als 100 Jahren involviert sind. Ungelöst – und innerhalb der Quantifi zierungslogik unlösbar – bleibt selbst bei relativ guter Datenlage außerdem das Problem, dass generell unsicheren zukünftigen Ereignissen dann, wenn nicht einmal Eintrittswahrscheinlichkeit und mögliches Schadensausmaß genau bestimmt werden kann, per se kein Zahlenwert zugeordnet werden kann. Allein wegen dieses Aspekts können insbesondere ökonomische Aussagen zu einem so komplexen Geschehen wie dem globalen Klimawandel immer nur höchst scheinpräzise sein. (c) Ferner60 : Die Berechnung von Klimawandelkosten (und im Vergleich dazu Klimapolitikkosten) kann das Problem nicht lösen, dass sich wesentliche Belange der Abwägung nicht in Geldeinheiten quantifizieren lassen61, etwa (massive) Schäden an Leben und Gesundheit, Naturschäden, bestimmte soziale Schäden u. a. m. Dies gilt trotz einer sehr breiten und subtilen Diskussion innerhalb der Ökonomik, die dieses Problem zu lösen versucht. Denn die Abwesenheit von Schäden an Leben und Gesundheit durch den Klimawandel hat einfach keinen Marktpreis, ebenso wenig wie der Frieden im Sinne von „Abwesenheit von Auseinandersetzungen um Ressourcen“; damit kann beides jedoch nicht sinnvoll quantitativ mit den wirtschaftlichen Effekten von Klimawandel und Klimapolitik verrechnet werden. Dies sind auch nicht etwa Randprobleme; vielmehr ist einer ökonomischen Bewertung wirklich relevanter und weitreichender Sachverhalte damit der Weg versperrt. Ökonomen versuchen allerdings in immer neuen und subtilen Formen, das Problem der Belange ohne Marktwert zu lösen. Insbesondere wird versucht, den Kosten und Nutzen z. B. von Klimawandel und Klimapolitik dadurch auf die Spur zu kommen, dass man die hypothetische Zahlungsbereitschaft der Bürger für die Abwesenheit von Wirbelstürmen, für das Fortbestehen bestimmter Naturräume oder letzten Endes schlicht für eine höhere eigene Überlebenswahrscheinlichkeit zu ermitteln versucht. Eine solche Ermittlung wird meist zunächst durch Verhaltensbeobachtung auf indirektem Wege versucht. Die damit erhobene „Moral der Märkte“ will beispielsweise den Wert von Naturräumen anhand der Kosten ermitteln, die Menschen dafür aufwenden, im Grünen oder in seiner Nähe zu sein. Dabei mögen hier eine Reihe intensiv diskutierter, z. T. allerdings auch auf Missverständnissen beruhende Fragen dahinstehen (z. B. ob es nicht diverse Verzerrungen durch die Art der Präferenzermittlung gibt; ob Zahlungsbereitschaftsanalysen in sämtlichen kulturellen Kontexten zu ähnlichen Ergebnissen führten oder nicht; ob freiwillige Spenden adäquat mit marktgängigen Tauschgeschäften verglichen werden könnten; ob Leute nicht einfach deshalb keine Zahlungsbereitschaft zeigen, weil sie etwas als ihr Recht ansehen u. a. m.). Unabhängig von alledem bleiben m. E. zwei generelle, kaum ausräumbare Kritikpunkte an der Quantifizierung nicht-marktlicher Güter: 60 Zur nachstehenden Kritik siehe teilweise auch Mathis, Efficiency, S. 113 f.; Otsuka, Philosophy & Public Affairs 2006, 109 ff.; Meyer, Philosophy & Public Affairs 2006, 136 ff.; Beckenbach, JbÖkolÖkon 2003, 13 ff.; Meyerhoff/Sturm, JbÖkolÖkon 2003, 85 ff.; Binswanger, Sinnlose Wettbewerbe, Freiburg 2010, S. 67 ff.; die Kosten-Nutzen-Analyse verteidigend dagegen Barkmann/Marggraf, GAIA 2010, 250 ff.; Lienhoop/Hansjürgens, GAIA 2010, 255 ff.; Hirschfeld, in: Ekardt, Klimagerechtigkeit, S. 277 ff. 61 Pars pro toto Unnerstall, Rechte, S. 180. Dies wird auch zugestanden von Stern, Blueprint, S. 92.
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– Wie auch immer man Zahlungsbereitschaften zu erfragen oder zu beobachten versucht: Letztlich wohnt der Ermittlung dessen, was jemandem z. B. sein eigenes Leben oder die Abwesenheit von Klimakriegen monetär wert ist, immer ein fi ktives und daher nicht ausreichend informatives Element inne. Auch Vorstellungen wie die, der Wert eines menschlichen Lebens könne durch den Wert des verlorenen Einkommens abgebildet werden, erscheinen eher grotesk.62 Auch Beobachtungen darüber, für welches Einkommen Menschen einer gefahrgeneigten Berufstätigkeit, z. B. Bauarbeiter, nachgehen, können kaum zu einer sinnvollen Quantifizierung führen, u. a. weil man so pauschal unterstellen würde, der Bauarbeiter habe sich freiwillig für seine Tätigkeit und ihr genaues Risiko (das er u. U. nicht einmal kennt) entschieden. Und warum überhaupt sollten Menschen, die doch offenbar zur Inkaufnahme hoher Risiken bereit sind, als repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung gelten dürfen? Ein Ausweichen auf die Wiederherstellungskosten hilft bei alledem m. E. auch nur sehr gelegentlich; denn einerseits muss dies nicht den vollen Schaden abbilden; und andererseits lässt sich vieles (etwa bei Todesfällen) nicht wiederherstellen. Dass zudem Beobachtungen von Präferenzen („Moral der Märkte“) immer eine Verzerrung zu Lasten der heute noch nicht beobachtbaren künftigen Generationen erhalten, kommt hinzu. – Überdies – und vor allem – ist die Zahlungsbereitschaft naturgemäß durch die Zahlungsfähigkeit beschränkt und würde dann beispielsweise zu dem bemerkenswerten Ergebnis führen, dass Bill Gates’ Interessen extrem viel mehr wert sind als die eines Bangladeschis, weil Bill Gates viel und der Bangladeschi gar nichts zahlen kann. Dies bemerkt auch ein Klimaökonom wie Nicholas Stern, konträr zum ökonomischen Mainstream, und doch bietet auch er plötzlich monetäre Werte für nicht-marktliche Schäden an.63 Wenn er dann beim Klimawandel jeden Menschen gleich viel zählen lässt, so ist das zwar cum grano salis richtig (siehe Abschnitt III. 5.), aber im Rahmen der Präferenztheorie, die keine normativen Maßstäbe kennt, ohne Begründung. Allerdings gibt es auch Bemühungen unter Ökonomen (wenngleich nicht majoritär), die ökonomische Bewertung teilweise qualitativ statt quantitativ durchzuführen.64 Es wird dann eingeräumt, dass man nicht alles in eine Zahlenform bringen 62 Siehe nochmals zu den verschiedenen Ansätzen Hammer, in: Mathis, Efficiency, S. 211 ff. (dort auch zu der hier nicht zu erörternden Frage, ob ein entgangenes Einkommen zumindest einen Anhaltspunkt für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche von Hinterbliebenen bilden könnte). 63 Vgl. Stern, Stern Review, S. 148. Trotz der Länge des Stern Review von rund 1000 Seiten bleiben die Hinweise Sterns zu nicht-marktlichen Effekten weitestgehend undeutlich, und auch der Versuch, anhand der Literaturbelege seine Position nachzuvollziehen, führt (abgesehen davon, dass ein Nachverfolgen u. a. wegen vager Angaben oft kaum möglich ist) lediglich zu Behauptungen. – Ebenso verzerrend ist, dass es in der Realität eine große Rolle spielen wird, ob andere (etwa für den Klimaschutz) „mitbezahlen“ würden. 64 Vgl. dazu etwa Lienhoop/Hansjürgens, GAIA 2011, 229 ff. (mit einigen so nicht treffenden Wiedergaben der Position von Ekardt); Spash, Ecological Economics 2007, 690 ff.; Brouwer u. a., Guidelines for estimating costs and benefits of policy instruments for biodiversity conservation, 2011, www.policymix.nina.no; MacMillan/Hanley/Lienhoop, Ecological Economics 2006, 299 ff.; siehe auch Gawel, Effizienz, S. 9 ff. und 43 ff.; eher an einer reflektierteren Monetarisierung und weniger an deren Ergänzung interessiert ist z. B. Nestle, Costs, passim; beides wird kombiniert bei Hirschfeld, in: Ekardt, Klimagerechtigkeit, S. 277 ff.
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könnte, etwa das konkrete Gewicht eines menschlichen Lebens; ferner wird ggf. versucht, die Zahlungsbereitschaften sorgfältiger zu ermitteln, indem man die Befragten z. B. ausführlicher informiert oder untereinander diskutieren lässt. Dies ist ein Fortschritt hin zu differenzierteren Ansätzen. Dennoch bleiben auch hier zentrale Probleme: (aa) Die Orientierung an rein faktischen Präferenzen mit all ihren geschilderten Kritikpunkten bleibt auch hier bestehen. (bb) Zudem wird sich der empiristische Ansatz hier selbst untreu, indem er quasi voraussetzt, Menschen wüssten nicht, was sie wollen, und müssten über ihre „wahren Interessen“ (die es unter empiristischen Vorzeichen definitionsgemäß nicht geben kann) aufgeklärt werden. (cc) Wenig gesehen wird auch, dass selbst „nur“ mit den genannten Zugeständnissen die ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse oft nur noch kleine Teilbereiche von Abwägungen wird abbilden können. Ähnliche Kritikpunkte ergeben sich, wenn die Kosten-Nutzen-Analyse wie im geplanten Fünften Sachstandsbericht des IPCC um ethische Erwägungen ergänzt werden und damit dann gemeint ist, dass die rein faktischen Präferenzen der Menschen dahingehend, dass sie an bestimmten Stellen eine (zumal monetäre) Abwägung ablehnen, berücksichtigt werden.65 Der Kritikpunkt aa wiederholt sich hier schlicht. Zudem bleibt unklar, wessen ethische Erwägungen hier maßgeblich sind und warum diese dann die Präferenzen der anderen, die jene Erwägungen nicht teilen, dann beliebig übertrumpfen dürfen. Die genannten Kritikpunkte wiederholen sich erneut sinngemäß, wenn in neueren ökonomischen Ansätzen „unersetzliche Güter“ von der Abwägung ausgenommen werden sollen.66 Wer soll denn in einem empiristischen (anders als in einem kantianischen) Theorierahmen, der kein normatives Richtig oder Falsch kennt, festlegen können, welche Güter „unersetzlich“ sind? Und was heißt überhaupt „unersetzlich“ – Großmutters alte Vase ist sicherlich unersetzlich, doch bedeutet dies, dass ich zu ihrer Bewahrung ohne jede Abwägung und auf alle Zeiten verpfl ichtet bin? Oder wie sieht es mit einem stabilen Globalklima aus – zumindest wenn die Menschheit kurzfristiges Vergnügen und Gewinnstreben dem langfristigen Überleben vorzieht, spricht hier wenig für „Unersetzlichkeit“. Und eine sorgfältige Beobachtung der „Moral der Märkte“ als Offenbarer der faktischen Präferenzen von Konsumenten, Unternehmen und vielleicht auch Politikern deutet stark darauf hin, dass jene Präferenzen kaum zugunsten des Klimaschutzes ausschlagen.
4. Friktionen des ökonomischen Diskontierens Ein weiteres Problem ökonomischer Ansätze, gerade wenn es um Langfristbezüge wie beim Klimaschutz geht, ist das Diskontieren67: Künftige Schäden sollen angeb65
Das fordern z. B. explizit Lienhoop/Hansjürgens, GAIA 2011, 229 ff. Vgl. die Nachweise in Fn. 64 sowie Mathis, in: Mathis, Efficiency, S. 165 ff. 67 Ausführlich und kritisch zur Diskontierung Unnerstall, Rechte, S. 320 ff.; dagegen für die Diskontierung Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988; differenzierend Mathis, in: Mathis, Efficiency, S. 165 ff., wo Diskontierung am Maßstab alternativer Investitionen für zulässig erachtet wird (eine Folgefrage wäre, was von der darin liegenden Wachstumsorientierung zu halten ist). 66
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lich weniger als heutige zählen. Das ist zwar wenigstens vordergründig verständlich, wenn es sich beim Schadensopfer heute und in zehn Jahren um die gleiche Person handelt. Dennoch: – Warum sollte der Schaden eines Bangladeschis in 50 Jahren per se weniger wichtig sein als mein Schaden heute? Man könnte sagen: Künftige Menschen können noch keine Präferenzen äußern, also sind sie uninteressant. Das wäre, wie schon anklang, die unmittelbar in der Präferenztheorie angelegte Aussage. Dann allerdings müsste man konsequenterweise nicht diskontieren, sondern alle Schäden, die jemanden treffen, der heute noch nicht lebt, schlicht für unbeachtlich erklären, sonst wird die Präferenztheorie selbstwidersprüchlich hinsichtlich ihrer empiristischen Grundlage. Und auch gegenüber heute Lebenden ist die Diskontierung rein um des Zeitablaufs willen unstimmig. Wieso sollte denn, wenn man die Präferenztheorie zugrunde legt, ein ökonomischer Theoretiker mir vorgeben dürfen, ob ich eine Gegenwartspräferenz habe und mir die Zukunft egal sein sollte? Alle Menschen gefragt haben werden Ökonomen wohl kaum. – Auch zur Beobachtung von Präferenzen anhand einer „Moral der Märkte“ wurden oben bereits durchgreifende Kritikpunkte formuliert. Darüber hinaus ist ganz besonders für den Klimawandel in seiner hohen Komplexität festzuhalten: Es existieren keine beobachtbaren Markt- oder Zinsentwicklungen, die überhaupt etwas darüber aussagen würden, welche faktischen Präferenzen in Bezug auf Schädigungen über mehrere Jahrhunderte hinweg – und mit irreversiblem Charakter – bestehen. Überdies werden bei Rückschlüssen aus Marktpreisen erneut einseitig nur die Präferenzen der heute Lebenden betrachtet, was wiederum (zirkelschlüssig) vorab voraussetzt, dass dies auch normativ so sein darf. Letztlich ist hier wieder auf die obige Quantifizierungskritik zu verweisen. – Auch durch das pauschale Erwarten von „ewigem Wachstum“ kann die Diskontierung nicht gerechtfertigt werden, egal ob bei heute schon Lebenden oder gegenüber künftigen Generationen; dazu sei an die Grenzen des Wachstums erinnert. – Und selbst wenn man all dies unberücksichtigt ließe, wäre eine Diskontierung jedenfalls nur denkbar, wenn der zu diskontierende Schaden tatsächlich trotz der o.g. Kritik monetär abbildbar ist. Und das ist er oft nicht. – Eine Präferenzermittlung anhand einer „Moral der Märkte“ findet sich bei Nicholas Stern immerhin kritisiert (und den meisten anderen Ökonomen zum Vorwurf gemacht) 68, nicht dagegen das wachstumsbezogene Diskontieren. Stern führt freilich auch ein zumindest diskutables Argument für die Diskontierung an: die unsichere Eintrittswahrscheinlichkeit künftiger Schadensereignisse. Dass sie das Gewicht von normativen Belangen in Abwägungen abstrakt mindert, wurde andernorts festgehalten.69 Auch insoweit kann freilich bezweifelt werden, dass sich dies mathematisch ausdrücken lässt. Jedenfalls dann, wenn sich für die künftigen Ereignisse gar keine rechnerische Wahrscheinlichkeit angeben lässt, ist eine vermeintlich klare Diskontierungsrate letztlich willkürlich und deshalb allgemeinen juristischen Abwägungsregeln nicht überlegen. 68 69
Vgl. Stern, Blueprint, S. 80 ff. und 95 f. Siehe dazu Ekardt, Theorie, § 5 C. II. 2.
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V. Ausblick: Verbleibende (wesentliche) Ergänzungsleistungen der Kosten-Nutzen-Analyse für die öffentlich-rechtliche Abwägung Trotz der vielfältigen Kritikpunkte besteht zwischen öffentlich-rechtlicher Abwägung und ökonomischer Kosten-Nutzen-Analyse kein reines Ausschlussverhältnis. Vielmehr gibt es durchaus Elemente des Ergänzens, auch wenn die Kosten-NutzenAnalyse mit dem großen rechtlichen Abwägungsrahmen weder konkurrieren noch ihn in seiner Verbindlichkeit ersetzen kann: – Die gesamte vorliegend formulierte Kritik schließt innerhalb rechtlicher (oder ethischer) Abwägungsregeln Tatsachen-Quantifizierungen durch den Gesetzgeber nicht aus; solche Tatsachenquantifizierungen von Nutzen und Schäden sind sogar sehr hilfreich und dienen einer korrekten Tatsachenermittlung. Wenn sich also sagen lässt, welche Schäden an Gebäuden doppelt so häufige Hochwasser verursachen, dann müssen die öffentlichen Gewalten allein schon um der Abwägungsregel willen, die eine sorgfältige Tatsachenermittlung gebietet, dies auch so rezipieren.70 Dies ist dann eine wichtige Information zur Ermittlung des Gewichts z. B. der Eigentumsfreiheit in den nötigen Abwägungen. – Ferner darf innerhalb des objektiven Rahmens der Abwägungsregeln (!) der nationale oder transnationale Gesetzgeber seinen Spielraum für subjektive Gewichtungen auch so transparenter und nachvollziehbarer machen, dass er normativen Belangen einen Zahlenwert zuordnet; dies ist dann aber eben eine subjektive Entscheidung und hat nichts Objektives an sich, und diese subjektive Entscheidung hat dann kein Ökonom als vermeintlich objektiv vorzugeben, sondern ein demokratisch legitimierter Politiker zu treffen.71 Eine solche „freiwillige Quantifizierung“ des Gewichts von Belangen dürfte nicht strikt geboten und oft auch nicht leicht durchführbar sein, es ist aber doch zuweilen hilfreich; so lässt sich für die Gerichte nämlich ggf. auch leichter die Einhaltung einiger der Abwägungsregeln überprüfen. An diesen Punkten ist die Forschung zur ökonomischen Bewertung unzweifelhaft sehr wertvoll und kann zu ungeschminkten, realistischen Betrachtungen führen. Allerdings müsste die neoklassische Ökonomik hier ihre eigenen Intentionen ernst nehmen und z. B. auch die Kosten möglicher Klimakriege mit in die Überlegungen einbeziehen.72 Wenn man schon Zahlenwerte ermitteln möchte, sollte man jedenfalls die wirklich monetären Kosten und Nutzen, soweit sie erkennbar sind, vollständig anzugeben versuchen. Das zeigt dann, dass die konkreten monetären Klimaschäden wie Ernteausfälle oder Unwetterschäden – und erst recht Klimakriege – teurer wären als eine effektive Klimapolitik; hier liegen zentrale Leistungen der IPCC-Berichte und z. B. auch des Stern-Reports. Aussagen über die Eintrittswahrscheinlich70 Beispielhaft dazu anhand des Hochwasserschutzes Hirschfeld, in: Ekardt, Klimagerechtigkeit, S. 277 ff. 71 Vgl. dazu Hofmann, Abwägung, S. 251 ff. Diese „freiwillige Quantifi zierung“ hat u. U. Vorteile bei der Gleichbehandlung und Überprüf barkeit. 72 Stern, Stern Review, S. 151 spricht lediglich allgemein von eventuell zunehmender „Instabilität“.
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keiten von Ereignissen dagegen werden Wirtschafts- und Naturwissenschaftler oft nur mit einem geringeren Präzisionsgrad liefern können, als man es vielleicht erhoffen könnte; dafür sind die natürlichen Gegebenheiten des Klimawandels und der Weltwirtschaft einfach zu komplex. Zahlen erübrigen aber eben wirklich keine komplexen Abwägungen. Das gilt auch dann, wenn sie z. B. darum geht, künftig Wohlstand anders zu messen, wie dies aktuell eine Enquête-Kommission des Bundestages diskutiert.73 Und die analogen Kritikpunkte wie für Effizienzansätze (Sein-Sollen-Fehler etc.). treffen cum grano salis auch unter Naturwissenschaftlern populäre Versuche, normative Ziele etwa in puncto Biodiversität oder Ökosystemzuständen stets in Zahlenform auszudrücken und aufgrund empirischer Fakten normativ zu rechtfertigen, zumal gegen solche „Nachhaltigkeitsindikatoren“ u. ä. noch weitere Vorbehalte bestehen.74 Die Schwierigkeit, solche Angaben zu machen, bedeutet aber eben nicht, dass im Leben überhaupt gar keine objektiven normativen Aussagen möglich sind. Wie erwähnt zulässig bleibt es freilich, in freier politischer Entscheidung im Rahmen der Abwägungsregeln Ziele auch quantitativ anzugeben. Sie folgen aber eben nicht aus irgendwelchen Fakten, und das komplexe, ethisch unterfütterte Feld des juristischen Abwägens kann schlicht nicht durch einen Satz von Indikatoren ersetzt werden.75
73 Kritisch zum oft dahinterstehenden ethischen Fähigkeiten-Ansatz – siehe z. B. Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 – Ekardt, Theorie, § 4 C. III. 74 Dazu näher Ekardt, Theorie, §§ 1 C. I., 5 C. II. 1. 75 Auf der Basis des Gesagten lässt sich abschließend auch die Frage beantworten, ob die verbreiteten Vorwürfe gegen die Ökonomik, dass ihre Effi zienzansätze die soziale Verteilungsgerechtigkeit zu wenig berücksichtigen, berechtigt sind. Die Antwort dürfte „jein“ lauten. Denn es lässt sich ein striktes Gebot zur weitgehenden Umverteilung von vornherein gar nicht herleiten. Bestimmte soziale Elemente ergeben sich gerechtigkeitstheoretisch zwar im Rahmen der Abwägungsregeln, etwa ein Recht auf das Existenzminimum; jenseits dessen besteht jedoch Spielraum für den Gesetzgeber in puncto soziale Verteilungsfragen; vgl. Ekardt/Heitmann/Hennig, Soziale Gerechtigkeit in der Klimapolitik, 2010; ausführlicher Ekardt, Theorie, § 4 F. III. und § 5.
Das Schwinden der Legalität Von der Doppelbewegung aus Verrechtlichung und Entrechtlichung * von
Dr. Jan Henrik Klement, Universität Heidelberg A. These: Die Doppelbewegung des Rechts Beim Lesen wissenschaftlicher Klassikertexte1 überraschen die vielen stillen Ähnlichkeiten in Methode und Stil, in der (Selbst-)Beschreibung des Forschens und Entdeckens, in anthropologischen und gesellschaftlichen Beobachtungen. In dem, was sie meist wie nebenbei in das akademische Bewusstsein einschreiben, finden auch Wissenschaftler zusammen, die inhaltlich kaum weiter auseinanderliegen könnten. Die These der Doppelbewegung, die der vorliegende Text für das Recht entfalten wird, ist dafür ein Beispiel. Franz Böhm, einer der Väter des Freiburger Ordoliberalismus, lernte ausgerechnet von Karl Marx, wie neue soziale Ordnungen noch im Schoße der alten entstehen können: zum Teil verborgen, zum Teil unterschätzt, oft umgeben von der schützenden Macht des alten Denkens, das sie gerade durch ihren Widerspruch zunächst noch tragen – bis eben zu jenem Zeitpunkt, in dem sie scheinbar plötzlich hervortreten und selbst zur Ordnung werden.2 Gewiss handelte es sich bei der im Kapitalismus wachsenden sozialistischen Gesellschaft um eine Utopie, um eine vorausgedachte Möglichkeit, die so niemals Wirklichkeit wurde. Bei der Privatrechtsgesellschaft 3 hingegen, die – glauben wir Franz Böhm – nach der französischen Revolution nur deshalb so leichtfüßig an die Stelle der alten Feudal- und Ständegesellschaft treten konnte, weil sie schon zu deren Hochzeiten als Lückenbüßerin in * Der Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 18. Januar 2012 auf Einladung der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen vor dem „Forum Junge Rechtswissenschaft“ gehalten hat. Für die anregende Diskussion sei an dieser Stelle allen Teilnehmern gedankt. Frau cand. iur. Susanne Abraham, Heidelberg, hat bei der Literaturrecherche geholfen; auch ihr dankt der Verfasser herzlich. 1 Grundlegend zum Begriff Peter Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. 2 Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1980 [zuerst 1966], S. 105 (107), unter Hinweis auf Karl Marx. 3 Hierzu auch Ernst-Joachim Mestmäcker, Der Kampf ums Recht in der offenen Gesellschaft, Rechtstheorie 20 (1989), 273 (281).
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den ungeordneten Freiräumen fungierte, soll es sich um eine geschichtliche Tatsache handeln. Doch ob Zukunft oder Vergangenheit, ob Utopie oder Realität, beide Autoren erklären einen scheinbaren Sprung in einer gesellschaftlichen Entwicklung, indem sie Ungleichzeitiges gleichzeitig machen. Behauptet wird nicht die Zirkularität der Geschichte und nicht die Zwangsläufigkeit bestimmter Prozesse. In Anknüpfung an Marx und Böhm lässt sich aber sagen, dass bis zu einem gewissen Grad in jeder Bewegung schon die Gegenbewegung angelegt ist, jede These ihre Antithese in sich trägt, jede Macht nach ihrer Gegenmacht ruft. Der Philosoph, Historiker und Ökonom Karl Polanyi beschreibt in seinem heute wieder drückend aktuellen Buch „The Great Transformation“ aus dem Jahr 1944 anschaulich (und unter Verwendung dieses Begriffs) eine „Doppelbewegung“, welche die Dynamik der modernen Gesellschaft über einen langen Zeitraum bestimmt habe, nämlich das Gegeneinander, gerade deshalb letztlich aber doch auch Miteinander von Wirtschaftsliberalismus und „Gesellschaftsschutz“.4 Der Soziologe Niklas Luhmann wusste Doppelbewegungen wie kaum ein zweiter in die Rhetorik des Paradoxes zu kleiden5 und damit die Neugierde seiner Leser für im Grunde genommen oft banale Sachverhalte zu wecken. Die Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Paradigmen wird im entfalteten Paradox darin begreif bar als ein fortwährendes Spiel von Frage und Antwort, Aktion und Reaktion. Auch wenn zumeist erst der historische Rückblick ein klares Urteil erlaubt, kann der Wissenschaftler die Bewegungen in gewissen Grenzen antizipieren, indem er die Zeichen einer möglichen Zukunft in dem erkennt, was heute schon ist. Die Heuristik der Doppelbewegung ist auch der Rechtswissenschaft fast selbstverständlich geworden. Nur zu dem Preis extremer Vereinfachung, die in jeder Kausalitätsbehauptung steckt, kann sie offenbar jenen Fundus an disziplinärer Erinnerung auf bauen und bewahren, der für verlässliche Entscheidungsroutinen in der Rechtspraxis erforderlich ist. Recht wird als geronnene Politik, aber auch als verarbeitete Geschichte verstanden.6 Staatsorganisationsrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes gelten als „Antworten auf Weimar“ und manche Grundrechte und Grundrechtstheorien als „Antworten auf das Dritte Reich“. Oberhalb der Ebene konkreter Rechtsfragen liegt die These, dass die Idee einer konstitutionellen Bindung der Macht als solche niemals geboren worden wäre, hätte sich im Prozess der Staatsbildung nicht zunächst die regulative Macht freiheitsbedrohend in einer Hand zusammengeballt.7 Das moderne, Recht und Philosophie gemeinsame Denken vom Individuum her8 wäre ohne den Staat (und andere, Kollektivität auf bewahrende Institutionen) chancenlos – so wie umgekehrt in der Formulierung subjektiver Rechte des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft zugleich die Verfügbarkeit dieser Rechte angelegt ist.9 4
Karl Polanyi, The Great Transformation, 1978 [zuerst engl. 1944], S. 182. Besonders schön ist seine Bemerkung, dass die Paradoxie Voraussetzung der Logik sei: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 138. 6 Mit Blick auf die Präambeln von Verfassungen Peter Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 601 (602). 7 Michael Stolleis, Vormodernes und postmodernes Recht, Merkur 2008, 425 (429). 8 Dietmar von der Pfordten, Normativer Individualismus und das Recht, JZ 2005, 1069 ff. 9 Winfried Brugger, Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen Verfassung und des Grundgesetzes, AöR 126 (2001), 337 (352 f.), weist darauf hin, dass die amerikanische Verfassung von 1787 gerade auch deshalb keinen Grundrechtsteil enthielt, weil der Eindruck vermieden werden sollte, 5
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Im Folgenden geht es nicht um eine Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern um Gegenwart und Zukunft, und nicht die Inhalte des Rechts sollen im Mittelpunkt stehen, sondern „das Recht selbst“, seine Form und seine Bindungskraft. Gilt Polanyis Gesetz dialektischer Bewegung auch für die sozialen Systeme, die Sinn und Wirklichkeit des Rechts vermitteln? Die Unbefangenheit, mit welcher die politische Praxis, aber auch die Rechtsprechung in jüngerer Zeit rechtliche Bindungen abstreift oder umgeht, wenn sie dies um der Erreichung höchster Ziele wie der Rettung systemrelevanter Banken und der gemeinsamen europäischen Währung oder der „Umsetzung“ europäischen Richtlinienrechts für geboten erachtet (oft deshalb, weil es die Folgen vorangegangener Rechtsverstöße zu korrigieren gilt10 ), geben Anlass zu der Untersuchung. Verhält es sich mit dem Recht wie mit den vielen Ideen und Lehren, Paradigmen und Institutionen, deren innerer Verfall gerade dann begann, als ihr äußerer Glanz am hellsten, die Zustimmung und Zufriedenheit der Akteure am größten war? Ist die Zeit, in der sich der Typus des Verfassungsstaats und damit des Rechtsstaats weltweit durchzusetzen scheint,11 in der zumindest in Deutschland wohl alle bedeutenden politischen Fragen auch mit Bezug zum Verfassungsrecht öffentlich diskutiert und gelöst werden,12 zugleich der Beginn eines schleichenden Autoritätsverlusts des Rechts? Ermuntert und ermutigt von den Klassikern sei die These formuliert, dass das Recht einiges von dem, was es an Reichweite gewann, an Dichte, Genauigkeit und Verbindlichkeit verlor. Und zugespitzt: Die Verrechtlichung hat dem Recht selbst geschadet. Das Recht steckt in einer Doppelbewegung aus Verrechtlichung und Entrechtlichung.13
B. Von der Verrechtlichung Zunächst sind einige Anmerkungen zu der hellen Seite der Doppelbewegung, nämlich zu dem Siegeszug zu machen, den das Recht nach dem Zweiten Weltkrieg antrat und der bis heute andauert.
dass das mit den Grundrechten abzuwehrende Verhalten des Staates „eigentlich erlaubt“ sei und erst verboten werden müsse. 10 Erinnert sei nur an Art. 126 AEUV i. V. m. Art. 51 EUV i. V. m. das Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defi zit. 11 Peter Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 601. 12 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (86). 13 Angedeutet auch von Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 2. Kapitel Rn. 23: „Rechtliche Übersteuerung schädigt das Recht selbst.“ Mit Blick auf die Verfassung stellt Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 46 f., die Gleichzeitigkeit der Gefahren der Verrechtlichung und der Verpolitisierung fest.
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I. Begriff der Verrechtlichung Beim Stichwort „Verrechtlichung“ ist nicht allein an die Zunahme und Verdichtung von Vorschriften für die „Bürger“ zu denken, also für außerhalb der Hoheitsgewalt stehende Dritte.14 „Verrechtlichung“ ist in erster Linie ein Vorgang im Inneren der Hoheitsgewalt.15 Der Verhaltensbefehl nach außen, also die an den Dritten gerichtete Norm, um deren Herstellung es letztlich geht, wird zum Endpunkt einer immer längeren Kette rechtsgebundener Entscheidungen. Mehr und mehr Vorschriften haben keinen anderen Sinn als den, die Erzeugung anderer Vorschriften zu regeln.16 Ob ein Vorgang als Rechtsetzung oder als Rechtsanwendung17 gesehen wird, ist in vielen Fällen nur eine Frage der Perspektive.18 Von rechtlich gebundener Rechtsetzung als einem neuen Phänomen zu sprechen, wäre allerdings irreführend. Ob es verrechtlichte Entscheidungen19 von Beginn des Rechts an gab oder ob es sich, was wahrscheinlich ist, um eine spätere Evolution in einer wachsenden Gesellschaft handelte, mag dahinstehen. Jedenfalls wird es schon vor dem Eintritt in das 20. Jahrhundert richtig gewesen sein zu sagen, dass nicht nur einige, sondern die meisten Rechtsetzungsakte nicht rechtlich frei sind. Die Vorstellung von einer zweigliedrigen Beziehung zwischen einem Normgeber und Normadressaten ist im gewaltengegliederten modernen Staat meistens unterkomplex. Während über die Auslegung eines Vertrags im Normalfall nur die Vertragsparteien selbst und nicht die Gerichte entscheiden, verlässt sich die Rechtsordnung nur selten darauf, dass die Bürger selbst aus den Gesetzestexten mit Hilfe der juristischen Auslegungsmethoden das für sie Geltende herauslesen und ihr Verhalten daran ausrichten.20 Oft ist das Gesetz nicht einmal unmittelbar verbindlich. So muss ein unzuverlässiger Gewerbetreibender sein Gewerbe im Allgemeinen erst einstellen, wenn die Verwaltung ihm gegenüber eine wirksame Untersagungsverfügung erlassen hat. Der Verwaltungsakt ist hier Rechtsvollzug und Rechtsquelle zugleich.21 Das Tötungsver14
Dazu Jan Henrik Klement, Verantwortung, 2006, S. 19 ff. Ganz in diesem Sinne unterscheidet Rüdiger Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Verrechtlichung, 1980, S. 15 (16), eine „nach innen“ und eine „nach außen“ gerichtete Form der Verrechtlichung. 16 H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2002 [zuerst 1961], S. 81, spricht von „secondary rules“. 17 Rechtsanwendung ist ein mehrgliedriger Vorgang aus dem Verstehen einer Norm durch ihren Adressaten, der Entscheidung für ein der Norm entsprechendes Verhalten und der willentlichen Ausführung dieses Verhaltens. Die kognitive Seite ist für den Begriff der Rechtsanwendung unverzichtbar. Jemand, der die Norm nicht kennt, sich aber zufällig so verhält, wie die Norm es will, „befolgt“ die Norm nicht. Das gleiche gilt, wenn das normgemäße Geschehen mit vis absoluta erzwungen wird. Das Verhalten, das die Norm befolgt, kann rein tatsächlicher Art sein oder aber seinerseits die Setzung einer Norm. 18 Matthias Jestaedt, in: Hans-Uwe Erichsen/Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 9 Rn. 11. 19 Verrechtlichte Entscheidungen sind Entscheidungen, die in rechtswidriger Weise oder mit rechtswidrigem Inhalt getroffen werden können. 20 Von der „graduell abgestufte[n] Fremdbindung“ als einem spezifi schen Kennzeichen des öffentlichen Rechts gegenüber dem Zivilrecht spricht Oliver Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 (32 f.). 21 Zum Verwaltungsakt als Rechtsquelle Friedrich Schoch, Der Verwaltungsakt zwischen Stabilität und Flexibilität, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 199 (233 f.); Hans Meyer, Der Verwaltungsakt in der 15
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bot der §§ 211, 212 StGB richtet gewiss auch einen unmittelbaren Verhaltensbefehl an alle Menschen, die sich im Geltungsbereich des StGB auf halten. Doch selbst eine so prominente Norm wie diese, die tief im allgemeinen Bewusstsein verankert ist, hat doch ein zweites Gesicht als Maßstabsnorm für die staatsanwaltschaftliche Anklageerhebung und die richterliche Urteilsfindung, wenn das Tötungsverbot nicht befolgt wurde. Der Prozess zur Erzeugung der Norm, die den Verurteilten zur Duldung der Freiheitsentziehung verpfl ichtet, hat also mehrere Instanzen. Auch im Fall der Verwaltung, die zwischen Gesetz und Einzelfall vermittelt und dem Bürger in einem Verwaltungsakt sagt, was für ihn rechtens sein soll22, besteht die Rechtsanwendung aus Rechtsetzung.23 Das „Sollen“ der Norm wird stufenweise erzeugt.24 Es ist wohl nicht falsch zu sagen, dass das wachsende Bedürfnis nach einer Dekonzentration der Rechtsetzungsgewalt vom Parlament in die Peripherie der Exekutive ein Signum der Rechtsentwicklung des 20. Jahrhunderts ist und parlamentszentrierte Rechtsetzungsmodelle selbst in der akademischen Debatte25 in die Nähe des Weltfremden und Unmöglichen gerückt sind.26 Für das gerichtliche Urteil gilt Entsprechendes. Es ist auch Rechtsetzung. Rechtliche Verbindlichkeit haben zwar nicht unbedingt die Rechtsansichten, die das Gericht in der Urteilsbegründung vertritt.27 Rechtsetzung ist aber zweifellos der Entscheidungsausspruch selbst, weil und soweit dieser eine Verbindlichkeit schafft, die so vorher nicht bestanden hat, oder eine zuvor bestehende Verbindlichkeit beseitigt. Zugleich ist nicht zu bezweifeln, dass es sich um eine Form verrechtlichter Rechtsetzung handelt. Rechtsetzung durch die Gerichte heißt nicht, dass die Gerichte die Normen, nach denen sie zu entscheiden haben, selbst erzeugen.
II. Ubiquität der Rechtsbindung Die rechtliche Bindung der Rechtsetzung ist also nichts Neues. Verhältnismäßig neu ist nur, dass es keine rechtlich ungebundene Rechtsetzung mehr gibt. Die Rechtsbindung ist bis zum Gesetzgeber und noch weiter hinaufgeklettert. Das Paradebeispiel dafür ist die Konstitutionalisierung des Rechts durch das Grundgesetz,28 Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Eberhard Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 551. 22 So die Beschreibung der Funktion des Verwaltungsakts bei Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 3. Aufl. 1924, S. 92 ff.; BVerwGE 135, 209. 23 Zutreffend Ulrike Lembke, Einheit aus Erkenntnis? Zur Unzulässigkeit der verfassungskonformen Gesetzesauslegung als Methode der Normkompatibilisierung durch Interpretation, 2009, S. 176 f. – Die in der Rechtsdogmatik übliche Herausnahme der Einzelfallentscheidung aus dem Begriff der Norm darf nicht den Blick auf die funktionale Identität verstellen: Auch die Einzelfallentscheidung erzeugt ein Sollen. 24 Ota Weinberger, Alternative Handlungstheorie, 1996, S. 252. 25 Exemplarisch Arthur Benz, Normanpassung und Normverletzung im Verwaltungshandeln, in: Arthur Benz/Wolfgang Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption, 1992, S. 31 (32). 26 So schon Hans Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaats, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, 1953, S. 59 (66). 27 Dazu statt vieler Norbert Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2011, Rn. 26. 28 Rechtsvergleichend Peter Häberle, Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfas-
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also jene Form der Verrechtlichung, mit der die Bundesrepublik auf die Entrechtlichung im Nationalsozialismus antwortete.29 „Konstitutionalisierung“ meint nicht nur, dass die Verfassung Regeln zur Konstitution der gesetzgebenden Organe und zum Gesetzgebungsverfahren sowie den (ungeschriebenen) Normgeltungsbefehl enthält, der aus einem tatsächlichen Geschehen im Parlament ein Gesetz werden lässt. Konstitutionalisierung ist vielmehr auch und vor allem eine inhaltliche Präformation des „einfachen“ Rechts durch die Verfassung.30 Der Gesetzgeber der Weimarer Republik war noch „selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat“31. Seine Bindung an die Grundrechte war grundsätzlich nur politischer Natur.32 Heute ist neben dem „einfachen“ Gesetzgeber (Artt. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber (Art. 79 Abs. 3 GG) an die Grundrechte gebunden. Selbst der pouvoir constituant fi ndet in Art. 146 GG noch Vorgaben für die Verfassungsneuschöpfung. Wenn die Verfassungsbindung der Legislative ein Eckstein im Gebäude des Rechtsstaats ist, dann ist die dogmatische Entwicklung, die sich seit 1949 vollzogen hat, gleichsam die Inneneinrichtung und damit Vollendung des Bauwerks. Nicht die formale Bindung als solche, sondern erst das hohe Maß an Materialisierung der Verfassung und insbesondere der Grundrechte33 führt zu Interferenzen von Verfassungsrecht und einfachem Recht und trägt damit die Kompetenzfülle des Bundesverfassungsgerichts,34 das über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Bindungen wacht. Gemeinsam rechtfertigen Verfassungsbindung, Materialisierung der Verfassung und umfassende Kontrollzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts das schon klassische Menetekel, der „Gesetzgebungsstaat“ gleite hinüber in einen „Jurisdiktionsstaat“35 sungsstaat, AöR 114 (1989), 361 ff.; Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 1: „The work of governments and parliaments is today structured by an ever-expanding web of constitutional constraints.“ 29 Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht im Prozess der Verrechtlichung politischer Gestaltungsmacht, in: Dieter Grimm u. a. (Hrsg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft, 2011, S. 89 (92). 30 Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 21, spricht von einem „higher law constitutionalism model“, das vom „legislative supremacy model“ zu unterscheiden sei. 31 RGZ 118, 325 (327). Der Weg zum Vorrang der Verfassung wird nachgezeichnet von Christoph Schönberger, Der Vorrang der Verfassung, in: Ivo Appel/Georg Hermes/Christoph Schönberger (Hrsg.), Öffentliches Recht im offenen Staat. Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag, 2011, S. 385 ff. 32 Vgl. nur Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Vorbem. 5b vor Art. 109: Grundrechte als kasuistisch gefasste Darlegung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpfl ichten der Reichsverfassung, Bd. 1, 1929, S. 1 (37 f.). Siehe näher Bernhard Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, EuGRZ 1984, 457 (458); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wie werden in Deutschland die Grundrechte im Verfassungsrecht interpretiert?, EuGRZ 2004, 598 (599). 33 Peter Häberle, Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat – das Beispiel des deutschen Grundgesetzes, AöR 114 (1989), S. 361 (377 ff.). 34 Statt vieler Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht im Prozess der Verrechtlichung politischer Gestaltungsmacht, in: Dieter Grimm u. a. (Hrsg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft, 2011, S. 89 ff. 35 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (25). Anders Günter Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, 853 (856): Richterstaat als „Konkretisie-
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– eine Entwicklung, die allerdings mit der Errichtung eines Verfassungsgerichts, ja von Gerichten überhaupt bis zu einem gewissen Grad notwendig verbunden36 und damit der Preis, ja Inbegriff der Rechtsstaatlichkeit ist.37 Die Spielräume, die dem einfachen Recht bleiben, sind gewiss nicht so klein, dass sich der politische Wettbewerb in bloßem Verfassungsvollzug zu erschöpfen drohte,38 doch ist politischer Wettbewerb ohne Verfassungsbezug undenkbar geworden. Der Gesetzgeber ist nicht mehr die alleinige Spitze im Prozess der Normherstellung.39 Er bindet nicht nur, sondern wird mit jedem neuen anthrazitfarbenen Band aus Karlsruhe stärker selbst gebunden. Strukturelle Schwierigkeiten, dem eher wortkargen Verfassungstext positive Vorgaben für die Rechtsetzung zu entnehmen, werden durch prozedurale Maßstäbe wie Berücksichtigungs-, Rationalisierungs- und Beobachtungspfl ichten40 ausgeglichen. Allem Anschein nach entwickelt sich damit in der Rechtsprechung allmählich eine Abwägungsfehlerlehre für die Gesetzgebung, die ganz wie ihr planungsrechtliches Vorbild41 neben dem Abwägungsergebnis auch den Abwägungsvorgang einbezieht.42 Die Ansicht, das Parlament dürfe seine Gesetze „auch aus dem Bauch heraus“ erlassen,43 klingt in den von der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts geschulten Ohren zumindest in den sogenannten grundrechtssensiblen Sphären schon fast nach einer Provokation. Neue materielle Anforderungen wie der
rung des Rechtsstaats“. Siehe auch Basil Bornemann, Politisierung des Rechts und Verrechtlichung der Politik durch das Bundesverfassungsgericht?, Zf RSoz 28 (2007), 75 ff. 36 Vgl. Rupert Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: Ulrich Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 2002, S. 15 (22). 37 Die Warnung vor dem Richterstaat schlägt deshalb leicht in eine Ablehnung des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung um. Siehe dazu auch Wolfgang Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1155 (1158). 38 In diesem Sinne aber Rupert Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: Ulrich Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 2002, S. 15 (24); Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (86). 39 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (101). 40 Exemplarisch BVerfG, Urt. v. 10. 6. 2009 – 1 BvR 706/08 u. a., BVerfGE 123, 186 (266). 41 BVerwG, Urt. v. 5. 7. 1974 – IV C 50.72, BVerwGE 45, 309. 42 Befürwortend Michael Kloepfer, Abwägungsregeln bei Satzungsgebung und Gesetzgebung, DVBl. 1995, 441 ff.; Wilfried Erbguth, Und der Gesetzgeber schuldet wirklich nichts als das Gesetz?, JZ 2008, 1038 ff.; nur für die administrative Normsetzung Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Band 3, Art. 19 Abs. 4 Rn. 217 f. (Stand: Februar 2003). Ausführliche Darstellung und Analyse bei Wolfgang Köck, Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzgebungsrechtslehre, VerwArch 93 (2002), 1 (13 ff.). Ablehnend Klaus Schlaich, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 41 (1981), 99 (112); Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 846 ff.; kritisch auch Wolfgang Durner, Anmerkung [zu BVerfG, Beschl. v. 12. 10. 2010 – 2 BvF 1/07], DVBl. 2011, 92 (99 f.). 43 Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (209).
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Grundsatz der Widerspruchsfreiheit44 und das Gebot der Folgerichtigkeit45 schließlich zwingen den Rechtsetzer in das von der Rechtswissenschaft vor allem zu Zwecken der Lehre entworfene dogmatische System, das er einem Bonmot aus dem 19. Jahrhundert zufolge doch angeblich mit nur einem Federstrich zur Makulatur werden lassen kann.46 Zur Verfassungsbindung kommt die Bindung an das Völkerrecht47, das immer tiefer in nationale Politik und nationales Recht eingreift – man denke an die Entscheidungen des EGMR48 zu den letztlich doch erlaubten italienischen Kruzifi xen49 und zur nachträglich verbotenen nachträglichen Sicherungsverwahrung50. Noch weitaus kraftvoller aber setzt sich das Unionsrecht durch. Zumindest in seinem Ausgangspunkt war es weniger ein Recht zur Etablierung einer supranationalen Politik als vielmehr zur Zurückdrängung und Beschränkung der seit dem späten 19. Jahrhundert51 in immer mehr Rechtsregeln sedimentierten nationalen (Wirtschafts-)Politik. 52 An die Stelle von Politik setzten die Römischen Verträge das Ordnungsmodell einer Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Integration über die Trias von Vertragsfreiheit, Wettbewerb und Eigentum, nicht aber über eine hoheitliche und damit politisch-rechtliche Steuerung erfolgt.53 Dieses negative, Politik verdrängende Modell eines „Konstitutionalismus ökonomischer Vernunft“54 ist bis heute der unionsrechtliche Grundtatbestand, auch wenn die Union hier nicht stehen geblieben ist, sondern über die auch als „positive Integration“ bezeichnete Rechtsangleichung längst zu eigenen, politisch defi nierten Entwürfen gefunden hat. Der nationale Gesetzgeber wird durch das europäische Sekundärrecht zwar nicht vollständig blockiert, oft aber in die Rolle eines Notars, Umsetzungsgehilfen, Lückenfüllers gedrängt und 44 BVerfG, Urt. v. 7. 5. 1998 – 2 BvR 1991, 2004/95, BVerfGE 98, 106 (118 f.); ferner BVerfG, Urt. v. 27. 10. 1998 – 1 BvR 2306/96, 1108, 1109, 1110/97, BVerfGE 98, 265 (301); BVerfG, Beschl. v. 3. 5. 2001 – 1 BvR 624/00, DVBl. 2001, 1135 (1136); BVerfG, Urt. v. 20. 12. 2007 – 2 BvR 2433, 2434/04, BVerfGE 119, 331 (366, 378); ferner BVerwG, Urt. v. 22. 12. 1999 – 2 BvR 2433, 2434/04, BVerwGE 110, 248 (249 f.); s. auch Paul Kirchhof, Die Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspfl icht, StuW 2000, 316 (322 ff.). 45 BVerfG, Urt. v. 9. 12. 2008 -2 BvL 1/07, NJW 2009, 48 (49). 46 Kritisch Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (52). Ausführlich Christian Bumke, Die Pfl icht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), 77 (85 ff.); Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 ff. 47 Dazu Maria Behrens, Global Governance, in: Arthur Benz/Nicolai Dose (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, 2. Aufl. 2010, S. 93 (101 ff.). 48 Die Einschätzung, dass der EGMR das Netz seiner Menschenrechtsjudikatur zunehmend enger gezogen habe, fi ndet sich etwa bei Uwe Volkmann, Fremdbestimmung – Selbstbehauptung – Befreiung, JZ 2011, 835 (836). 49 EGMR, Urt. v. 18. 3. 2011 – 30814/06, NVwZ 2011 737 ff. 50 EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009 – 19359/04, NJW 2010, 2495. 51 Zu der Entwicklung Michael Stolleis, Auferstanden aus der Wende: Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Recht?, Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 500 (502 ff.). 52 Dazu Ernst-Joachim Mestmäcker, Die Wiederkehr der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts, Rechtshistorisches Journal 10 (1991), 177 (191 f.). 53 Ernst-Joachim Mestmäcker, Der Kampf ums Recht in der offenen Gesellschaft, Rechtstheorie 20 (1989), 273 (286 ff.). 54 Armin von Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), 3 (28).
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damit „veradministriert“. Der Staat, so schreibt Michael Stolleis, wirkt „eingesponnen in europäische und internationale sowie nichtstaatliche normative Netzwerke wie ein Ritter, der nur noch mühsam gehen kann“.55 Eine neue europäische Heimat des Politischen entwickelt sich nur allmählich.56 Von diesen „harten“ normativen Formen sind faktische Impulse zur Verrechtlichung der Rechtsetzung zu unterscheiden. Offenbar zieht jede Verrechtlichung neue Verrechtlichung nach sich. Zum einen ist in der rechtsstaatlichen Architektur auch jenseits von Gleichheitsgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip ein dunkler Drang nach Perfektion angelegt, der in „einer gewissen Selbstläufigkeit zur weiteren Konkretisierung und Normerzeugung“57 führt. Zum anderen wird der politische Prozess geprägt, kanalisiert und behindert durch das immer schon vorhandene Normenmaterial, in das sich der Gesetzgeber – weil niemals alles zugleich revidiert werden kann – mehr oder weniger einpassen muss, wenngleich er nicht rechtlich dazu verpfl ichtet ist.58 Ein eher wahllos herausgegriffenes Beispiel ist die Vorschrift, mit welcher das am 1. Juni 2012 in Kraft getretene Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) die Zuständigkeiten für die Abfallentsorgung zwischen den Kommunen und den privaten Abfallverantwortlichen (und damit mittelbar der privaten Entsorgungswirtschaft) verteilt. Obwohl hierfür schon aus Gründen der Praktikabilität eines im Alltag wenig akademischen Geschäfts eine klare und einfache Vorschrift erforderlich wäre, wurde mit § 17 KrWG eine der schwierigsten und, das kann schon jetzt gesagt werden, am meisten umstrittenen Vorschriften des öffentlichen Wirtschafts- und Umweltrechts in die Welt gesetzt. Es liegt nahe, hierfür nicht nur Schwierigkeiten in der Sache selbst und das Geflecht aus wirtschaftlichen und öffentlichen Interessen verantwortlich zu machen, die seit jeher das deutsche „duale Entsorgungsmodell“ prägen. Die Zunahme der Komplexität des Rechts in jeder neuen Runde des gesetzgeberischen Tätigwerdens scheint vielmehr auch in der Komplexität des Rechts selbst angelegt zu sein.59 Das Ringen um einen politischen Kompromiss, das erst im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat ein Ende fand,60 setzte auf einer schon im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz von 1996 schief gewachsenen Regelung auf. Das dort angelegte System aus Grundsätzen, Ausnahmen und Rückausnahmen war schon damals so schwierig, dass die deutschen Verwaltungsgerichte bis zuletzt nicht zu einer einheitlichen, den unions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung tragenden Lösung fanden und eine „rechtssichere“ politische Bewertung des Status quo und der legislativen Möglichkeiten im Gesetzgebungsverfahren unmöglich war. Offenbar fiel es dem Gesetzgeber leichter, das System noch komplizierter zu machen und als politisches Signal das Wort „Abfall“ aus dem Gesetzestitel 55
Michael Stolleis, Vormodernes und postmodernes Recht, Merkur 2008, 425 (426). Anregend Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 502 ff. 57 Rainer Wahl, Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung 13 (1980), 273 (278). 58 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995 [zuerst 1993], S. 416: „Rechtsnormen werden zum Sediment vergangener Politik mit zunehmenden Schwierigkeiten bei ihrer Reliquidierung für neue politische Ambitionen.“ 59 Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 39: „Je mehr Rechtsmassen die Politik anhäuft, desto dichter das Dickicht, in dem sie gefangen“. 60 Ausführlich Jan Henrik Klement, Ein neuer Kampf um das Abfallrecht, VerwArch 103 (2012), 218 (221 ff.). 56
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zu streichen statt einen echten Neuanfang 61 zu wagen. Der Gesetzgeber bindet, er fesselt sich im Zeitablauf selbst.
III. Ursachen der Verrechtlichung Die Vermehrung des Rechts ist eine offenkundige Tatsache. Schwieriger ist es für den Juristen, die Ursachen der Entwicklung zu beschreiben, weil dies den Blick in die Kulissen der Rechtsbühne voraussetzt. In der Verrechtlichung führen viele Entwicklungslinien zusammen. An vorderer Stelle zu nennen sind der internationale Siegeszug der Idee der Menschenrechte, der auch etablierte Verfassungsstaaten mit neuen Normen überzieht und der durch wirtschaftliche Entgrenzungen ausgelöste Zwang zur normgestützten Generierung von Vertrauen. Das Recht greift aber nicht nur nach „außen“, auf neues Terrain, sondern es verdichtet sich auch nach „innen“. In einer Doppelbewegung hat sich der Staat zwar einerseits aus der Wahrnehmung einiger Aufgaben zurückgezogen und Markt und Wettbewerb – oft auf Veranlassung der Europäischen Union – in einer früher nicht gekannten Weise in seine Strategien zur Gemeinwohlkonkretisierung eingebunden. Andererseits aber sieht er sich eben deshalb und oft mit überschießender Tendenz dazu veranlasst, in die „Privatrechtsgesellschaft“ einzugreifen und die Zwecke, die er bisher mit eigenem Personal und eigener Infrastruktur zu erreichen suchte, nun mit Normen durchzusetzen. Auch wenn die dezentrale Koordination durch zivilrechtliche Verträge als technische Hülle erhalten bleibt, wird sie mithin materiell auf vielen Feldern durch kollektive Formen der Zukunftsgestaltung ersetzt oder ergänzt. Die Rationalität des Vertragsrechts wird von Gerechtigkeit auf politische Ziele umgestellt. Je mehr „Gemeinwohlverantwortung“ auf Private verlagert wird, desto weniger lassen Staat und Europäische Union die Privaten einfach „privat“ sein. Sieg und Schwächung der Privatrechtsgesellschaft sind deshalb zwei Seiten derselben Entwicklung.62 Die Vermehrung des Rechts reagiert zudem auf den Verlust gesellschaftlicher Normalität, auf die Instabilität nicht rechtlich stabilisierter Lebensverhältnisse und die davon begünstigte Vorstellung vieler Menschen, alles zu dürfen, was das Recht nicht verbietet. Der Versuch, das Fehlen gesellschaftlichen Vertrauens durch Recht auszugleichen, ist verhängnisvoll, weil die rechtliche Stabilisierung von Vertrauen das nicht rechtlich stabilisierte Vertrauen untergräbt. Jede Verrechtlichung leitet damit die nächste Runde der Verrechtlichung ein.63
61 Vorschläge bei Jan Henrik Klement, in: Arndt Schmehl (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum KrWG, 2012, vor § 17 (im Erscheinen). 62 Zu dieser Doppelbewegung auch Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 41. Flankiert wird die Entwicklung durch eine Ausweitung des grundrechtlichen Kontrollanspruchs auf zivilrechtliche Beziehungen, s. Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), 1 (23 f.). 63 Zu dieser „Pathologie der rechtlichen Freiheit“ Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011, S. 157 ff.
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C. Vom Schwinden der Legalität I. Drei Thesen Das Recht ist also buchstäblich überall. Doch hat das Recht des „Richterstaats“, so lautet die These der Doppelbewegung, auch deutliche Schwächen. Parallel zur Verrechtlichung und teilweise gerade durch sie hervorgerufen hat es an Dichte und Bindungskraft verloren. Der Verlust an Dichte ist die Vergrößerung des Abstands zwischen dem bei der Rechtsetzung erwarteten oder erwartbaren Normverständnis und dem Inhalt, der dem Rechtssatz im Prozess der Rechtsanwendung tatsächlich zugesprochen wird. Der Verlust an Bindungskraft ist die Relativierung der Geltung der Norm. Der Schweizer Staatsrechtslehrer Hans Huber prägte schon 1953 die Formel vom „Schwinden der Legalität“. Das Gesetz, so schrieb er, erleide einen Autoritätsverlust, der Anspruch auf Verfassungs- und Gesetzestreue werde als Formalismus diskriminiert. Vom Juristen werde erwartet, dass er „sogar Begründungen liefern könne und solle, wenn materielle Interessen gegen das Gesetz durchgesetzt werden“64. Die Schwächung des Rechts bedeutet in erster Linie eine Verschiebung von Entscheidungsverantwortung innerhalb der Hoheitsgewalt. Eine Schwächung des Rechts bedeutet eine Stärkung vor allem der Rechtsanwendung.65 Sie verkleinert die Macht von Verwaltung und Gerichten nicht, sondern vergrößert sie. Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Verwaltung und Gerichte aus jeder Art von Recht, auch aus dem schwachen, einen vollstreckbaren Tenor zu machen haben. Das Rechtssystem ist wie eine Maschine, die so gebaut ist, dass sie stets ein bestimmten Mindestanforderungen genügendes Endprodukt auswirft, mit welchen Zutaten auch immer man in sie einwirft. Je schlechter die Zutaten sind, desto komplizierter wird der Verarbeitungsprozess, und gelegentlich muss mit heimlichen Beimischungen nachgeholfen werden, um das Zielprodukt noch erreichen zu können. Der Zusammenhang zwischen Eigenschaften des „Inputs“ und Eigenschaften des „Outputs“ wird immer undeutlicher und kann sich ganz verflüchtigen. Zurückübersetzt: Was das Recht nicht vorgibt, das muss die Rechtsanwendung in das Recht und in die Entscheidung hineinlegen. Sie muss Instrumente entwickeln, die die Rechtsanwendung vom Recht emanzipieren. Drei Formen des Schwindens der Legalität sind nachfolgend herauszuarbeiten: Erstens geht es um einen Wandel der Methoden des Verstehens des Rechts. Den Interpreten werden größere Spielräume bei der Auslegung gewährt; das Verstehen des Rechts wird zu einem offenen Argumentationsprozess (nachfolgend II.). Zweitens wird in die Kette aus Rechtsetzung, Auslegung und Rechtsbefolgung an dritter Stelle eine Zwischenstufe eingebaut, der wir den Namen Rechtsbildung geben können. „Rechtsbildung“ ist weder Rechtsetzung noch Auslegung. Mit ihr führt der Rechtsanwender zu Ende, was der Rechtsetzer begonnen hat (III.). 64 Hans Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaats, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, 1953, S. 59 (72). 65 Zutreffend bemerkt Bernd Rüthers, Wozu auch noch Methodenlehre?, JuS 2011, 865 (867), dass die juristische Methodenlehre die Machtgrenze zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung definiert.
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Drittens ist zu beobachten, wie die Ausnahme vom Recht zur Normalität wird. Der Rechtsanwender wähnt sich nicht mehr an das Recht gebunden, weil er außerrechtlichen Orientierungen höhere Bedeutung einräumt, oder er liest die Kompetenz zur Erzeugung von Ausnahmen in das Recht selbst hinein (IV.).
II. Von der Begriffsjurisprudenz zur dynamischen Auslegung 1. Begriffsjurisprudenz Vom Ausdruck „Begriffsjurisprudenz“ sollte sich der Leser nicht schrecken lassen. Er wird nicht auf eine Zeitreise in das 19. Jahrhundert mitgenommen und nicht an Versuchen logischer Deduktionen aus einem im Gesetz repräsentierten, aber nicht vollständig ausgedrückten, sich letztlich außerhalb der Positivität in den Köpfen von Wissenschaftlern vollendenden66 Begriffssystem beteiligt. Ohnehin ist der starke Verdacht zu äußern, dass eine in diesem Sinne „begriffl iche“ Rechtswissenschaft nicht wirklich betrieben wurde, sondern ein kluger Einfall ihrer Gegner war.67 Jedenfalls wird der Ausdruck „Begriffsjurisprudenz“ wohl fast ausschließlich dazu verwendet, um zu sagen, was die Rechtswissenschaft nicht ist, nicht sein soll.68 Wenn hier gleichwohl von Begriffsjurisprudenz gesprochen wird, dann soll damit nur die Assoziation eines – nicht unbedingt logisch geordneten – Baukastens von im Laufe der Zeit in ihrer Bedeutung festgefügten Rechtsbegriffen verbunden sein. Die Bedeutung dieser Rechtsbegriffe wird in der Rechtsanwendung nicht oder allenfalls zu rhetorischen Zwecken in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt. Das Gesetz spricht die Sprache der Juristen, eine hochformalisierte Fachsprache, die der Widersprüche der Alltagssprache enthoben ist. Rechtsanwendung ist der Beruf der Gelehrten, die diese Sprache gelernt haben. Die juristische Ausbildung ist das Sich-hinein-Sozialisieren in die Begriffswelt,69 das Sammeln „gelungener Gebrauchsbeispiele“ für die Worte des Gesetzes.70 Rechtswissenschaft ist die ständige Pflege der Fachsprache, um Missverständnisse zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu vermeiden. Ihre Vermittlung hebt die Differenz von „Sender“ und „Empfänger“ nicht auf, verringert sie aber beträchtlich. Neue Fälle, die zu einer Verfeinerung der bestehenden Sprachkon66 Rudolph von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 4. Aufl. 1891 [Nachdruck 1964], S. 7: „[. . .] der civilistische homunculus, d. h. der Begriff, wird produktiv und begattet sich mit andern seinesgleichen und zeugt Junge“. 67 Der Begriff tauchte wohl erstmals auf bei dem (zwischenzeitlich zum Vertreter der „Interessenjurisprudenz“ avancierten) Rudolph von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 4. Aufl. 1891 [Nachdruck 1964], S. 337. 68 Siehe auch Jan Schröder, Begriffsjurisprudenz, in: Albrecht Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band I, 2. Aufl. 2008, Sp. 500: Begriffsjurisprudenz als „missbilligende Bezeichnung“. 69 Zutreffend Jan Schapp, Die juristische Methode als der Weg zum Verstehen und Anwenden des Rechts, Jura 2001, 217: „Der junge Jurist erwirbt seine Kenntnis des Gesetzes nicht dadurch, daß er es gemäß den Regeln der Methodenlehre auslegt.“ Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 2003 [zuerst 1945], Nr. 6, S. 14, nennt das Erlernen eines „Sprachspiels“ sogar eine „Abrichtung“. 70 Stephan Pötters/Ralph Christensen, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze, JZ 2011, 387 (390).
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ventionen zwingen, treten selten auf. Dementsprechend gesichert ist der gegenseitige Erwartungshorizont. Diese heile Welt wird heute oft belächelt und durch postmoderne Gegenbilder ersetzt, die es nachfolgenden Juristen noch schwerer machen, sich im Recht „zuhause“ zu fühlen und dem eigenen Tun einen Sinn zu geben. Tatsächlich ist eine begrifflich durchgeformte Rechtssprache bis heute ein unverzichtbares Arbeitsmittel der Juristen und ein Grundbaustein des Rechtssystems geblieben.71 Es ist die Einigung auf ein gemeinsames Sprachspiel, die es der Rechtsetzung ermöglicht, die in der Rechtsanwendung produzierten Entscheidungen vorauszusehen und damit demokratisch zu legitimieren. Gewiss lässt sich einwenden, dass die Begriffe nicht einfach da sind, sondern im juristischen Diskurs ihren Inhalt erst erlangen müssen.72 Der Einwand, dass „alles ganz anders“ verstanden werden könnte, ist deshalb berechtigt. Die Vermutung, Rechtswissenschaft sei ein Instrument zur Entfaltung individueller Willkür mit Rechtskraft, ist dagegen falsch. Denn die Bedeutungszuschreibung, selbst wenn sie vom Anfang her besehen „willkürlich“ sein mag, vollzieht sich in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht in dem Augenblick, in dem das Recht zur Anwendung gelangt. Die Bedeutung des Rechts ist für den Rechtsanwender in der Regel eine geschichtliche Tatsache, etwas, das sich jenseits seines Wahrnehmungshorizonts vollzogen hat, woran er anknüpfen kann, was er nicht in Frage zu stellen braucht. Wir verstehen Begriffe, wie wir sie verstehen, weil sie in den uns erreichbaren Quellen so verstanden werden und weil wir wissen, dass auch die an der Normsetzung beteiligten Personen sie vernünftigerweise so verstanden haben. Die Frage nach den Gründen für das Normverständnis verliert sich in Verweisungsketten. Die Erinnerung an einen ex ante bestehenden Zustand der Ungewissheit, der Rechtsunsicherheit verblasst. Rechtswissenschaft ist also auch heute noch Begriffsjurisprudenz und soll dies auch sein. Das selbstreferentielle Argument wird zum Teil als Auslegung nach dem Wortlaut,73 zum Teil als „systematische Auslegung“ bezeichnet74. Die Wörterbücher, die zur Handhabung dieser Art von Jurisprudenz verfasst werden und die die Worte des Gesetzes ergänzen, sind im deutschen Sprachraum die Kommentare. Die Sprachregeln der Dogmatik sind das bis heute wirksamste Abgrenzungsmerkmal der Juristen gegenüber der politischen Öffentlichkeit, die die juristische Sprache nicht spricht. 71 So auch Rudolph von Jhering, Wieder auf Erden, in: Scherz und Ernst, 4. Aufl. 1891 [Nachdruck 1964], S. 362: „Wenn auf irgend einem Gebiet das begriffl iche und begriffsbildende und in strenger Konsequenz fortschreitende Denken am Platz ist, so ist es auf dem Gebiet des Rechts“. Zutreffend weist deshalb Thomas Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit, 2004, S. 16, darauf hin, dass Jhering nicht die Arbeit mit Begriffen angeprangert habe, sondern nur das „Eigenleben“ von Begriffen, ihre Lösung von den Rechtssätzen, auf denen sie beruhen. 72 Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143 (143, 147), formulieren die „Auslegungsparadoxie“, dass die Interpretation juristischer Texte „ebenso begründungsbedürftig wie unbegründbar“ sei. 73 Jan Schapp, Die juristische Methode als der Weg zum Verstehen und Anwenden des Rechts, Jura 2001, 217 (220), weist indirekt auf die Sozialisationsgebundenheit des Wortlaut-Arguments hin, wenn er meint, der Wortlaut des Gesetzes als Auslegungskriterium bleibe zweifelhaft, „da das Gesetz die Sprache des Juristen spricht, deren Verständnis gerade das Problem des Auslegenden ist“. 74 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 1. Kapitel Rn. 5.
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Die Interpretation eines Gesetzes ist bei aller methodischen Fertigkeit oft nur so zu begründen, dass der Jurist eine bestimmte Interpretation gelernt hat – und er hat sie gelernt, weil es sich um den Sprachgebrauch der Gerichte und Rechtslehrer handelt.75 Das Recht funktioniert auch heute nur, weil wir nicht immer alles zugleich in Frage stellen, was der radikale Skeptiker in Frage stellen kann.
2. Die Entdeckung des Zwecks im Recht Damit ist nicht gesagt, dass es ein Recht, in dem jeder Interpret seinen Platz vorfi ndet und mithin die Kenntnis des Sachverhalts und Gelehrsamkeit zur Lösung eines Falles genügen, jemals in Reinform gegeben hätte oder dass ein solches Recht wünschenswert sei. Zu vermuten ist nur, dass die Auslegung beruht heute weniger als noch im 19. Jahrhundert auf der Anwendung einer gewachsenen und gelernten Rechtssprache beruht.76 Sie hat sich in drei Richtungen verändert. Erstens wurde die Auslegung „enthistorisiert“ und in die Gegenwart geholt. Sie ist heute ein offener Argumentationsprozess, der vor allem durch das Zweck-Mittel-Schema bestimmt wird. Der Rückgriff auf das Sprachspiel, die Auslegung nach dem Wortlaut wird oft nur als erster Anhaltspunkt akzeptiert, die systematische Auslegung vielfach als zu formal empfunden. Als überzeugend gilt nur die teleologische Auslegung,77 sei es in ihrer subjektiven Spielart, die nach dem Willen des Gesetzgebers fragt, sei es in ihrer objektiven Variante, die dem Recht selbst die Zwecke entnimmt, nach denen es auszulegen ist. Die Auslegung wurde zweitens „entprofessionalisiert“, weil jetzt an ihr nicht mehr nur Gelehrte teilhaben.78 Das Studium der Rechtswissenschaft besteht dementsprechend weniger aus der Vermittlung von Wissen als aus der Vermittlung der Techniken, die zur ständigen Neuerzeugung der Sprache im Prozess ihrer Anwendung befähigen.79 Drittens wurde die Auslegung „dynamisiert“, weil sie in jedem Fall neu vollzogen werden muss. Rudolf von Jhering hat „unser“ Recht treffend charakterisiert, wenn er schrieb, die „Idee des Rechts“ sei „ewiges Werden“, ein „Bild des Suchens, Ringens, Kämpfens, kurz der mühseligen Anstrengung“.80 75 Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143 (155): „Einer (Rechts-)Regel folgen setzt voraus, daß eine entsprechende gesellschaftliche, durch Gewohnheit etablierte Praxis schon existiert.“ 76 Eine Abwendung vom „strengen Formalismus“ des Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts „zugunsten differenzierterer Lösungen, die weniger Gefahr laufen, die Angemessenheit des Ergebnisses im Einzelfall zu verfehlen“, beobachtet auch BVerfG, Beschl. v. 15. 1. 2009 – ZBvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (265). 77 Exemplarisch Claus-WilhelmCanaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 91 Fn. 23: „Vielmehr gebührt letztlich stets der teleologischen Auslegung der Vorrang, und das wird im praktischen Ergebnis heute auch nahezu allgemein berücksichtigt.“ 78 Siehe Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff. Klassische Gegenposition bei Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften mit einer Einführung von Hattenhauer, 1973, S. 104: Repräsentation des Volkes durch die Juristen. 79 Treffend Gerd Roellecke, Zur Unterscheidung von Rechtsdogmatik und Theorie, JZ 2011, 645 (646): Juristen müssen heute „mehr können als lesen“. 80 Rudolf von Jhering, Der Kampf um’s Recht, hrsg. von Felix Ermacora, 1992 [zuerst 18. Aufl. 1993], S. 69. Die historische Rechtsschule Savignys charakterisierte von Jhering dagegen als „romantische“
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Hier ist nicht der Ort, näher auf die seit der Wende zur Interessenjurisprudenz dominierenden Methoden der subjektiv-teleologischen und der objektiv-teleologischen Auslegung einzugehen. Es genügt festzuhalten, dass beide Methoden die Rechtsanwendung zu einem überaus anspruchsvollen, im Ausgang recht ungewissen Vorgang machen. Das gilt zum einen wegen des undeutlichen Bezugspunkts beider Theorien, der mit dem „Zweck des Gesetzes“ und dem „Willen des Gesetzgebers“ eher metaphorisch beschrieben ist. Zum anderen verlangen beide Formen teleologischer Auslegung eine Prognose der empirischen Folgen der verschiedenen zur Rede stehenden Interpretationsvorschläge81 und befrachten den Interpreten mit allen denkbaren Schwierigkeiten der wirklichkeitswissenschaftlichen Welterkenntnis. Schon das Verstehen des Rechts wird damit zu einem kreativen Vorgang.
III. Von der Auslegung zur Rechtsbildung 1. Begriff der Rechtsbildung Zum Wandel der Methoden der Auslegung ist schon so viel gesagt und geschrieben worden, dass es mit den vorstehenden Ausführungen sein Bewenden haben soll. Ausführlicher zu besprechen ist ein Phänomen, das zwar im Grunde genommen ebenfalls allgegenwärtig ist, von der Wissenschaft aber bisher nicht als einheitlicher Gegenstand erkannt wurde. Für dieses Phänomen sei hier die Bezeichnung als „Rechtsbildung“ vorgeschlagen. Rechtsbildung ist ein Vorgang, der zwischen das Verstehen einer Norm (Auslegung) und das nach außen wirksame Handeln des Normadressaten (Normbefolgung) geschaltet ist. Um das besser verständlich zu machen, ist auf die Ausführungen zum arbeitsteiligen Normerzeugungsprozess und zur Verrechtlichung der Rechtsetzung zurückzukommen. 82 Dass Normen oft arbeitsteilig erzeugt werden und ein und derselbe Akt dann zugleich Rechtsanwendung und Rechtsetzung ist, sagt noch nichts über das Verhältnis von Bindung und Freiheit bei der Entscheidung über die neue Norm. Der Urteilsspruch ist Rechtsetzung auch dann, wenn sein Inhalt von der Rechtsordnung vollständig determiniert ist. Sehen wir genauer hin, so ist eine verrechtlichte Entscheidung allerdings nie ein reiner Rechtsanwendungsakt.83 So sehr sie sich auch bemühen, können Rechtstexte das Handeln von Menschen, das sie vorschreiben, schon aus sprachlichen Gründen nicht vollständig „atomisiert“ genau fassen. Auch wenn es vollständig ausgelegt ist,84 lässt Schule, die der Vorstellung anhänge, das Recht bilde sich „schmerzlos, mühelos, tatenlos [. . .] gleich der Pfl anze des Feldes“ (ebd., S. 71). 81 Jan Henrik Klement, Verantwortung, 2006, S. 161. 82 Oben B. I. 83 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 348 f.; prononciert M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 313, 322: „Rechtsanwendung bedeutet Rechtsetzung in Bindung an bestehendes Recht.“ 84 Fertig ausgelegt ist ein Rechtssatz, wenn sein Inhalt mit rein deskriptiven Begriffen angegeben wird (dazu Ota Weinberger, Normenlogik und logische Bereiche, in: Amedeo G. Conte/Risto Hilpinen/Georg Henrik von Wright [Hrsg.], Deontische Logik und Semantik, 1977, S. 176 [185 f.]). Ein deskriptiver Begriff ist ein Begriff, der direkt einen empirisch beobachtbaren Gegenstand bezeichnet.
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das Recht seinem Adressaten mithin immer noch einen Verhaltensspielraum.85 Es ergibt sich daraus Freiheit im Sinne der Abwesenheit rechtlicher Bindung. Klare Fälle werden oft als politische Gestaltungsspielräume bezeichnet, man denke etwa an die Freiheit der Gemeinde bei der Entscheidung, ob sie eine freie Fläche im Bebauungsplan als Industriegebiet oder als Wohngebiet ausweist. Aber auch jenseits der klaren Fälle bleibt immer eine Lücke zwischen Rechtsbindung und Handeln. Selbst das gerichtliche Urteil als die typischerweise präziseste aller Normen delegiert noch Entscheidungen an den Gerichtsvollzieher. Der Begriff der Rechtsbildung nimmt nun eben diese, mal größere und mal kleinere Lücke zwischen dem Inhalt der einen Normsetzer steuernden Norm (Innenverhältnis) und dem Inhalt der von ihm im Außenverhältnis rechtmäßig gesetzten Norm in den Blick. In dem Begriff spiegelt sich die Beobachtung, dass die Lücke zwischen vorgängiger und erzeugter Norm nicht gänzlich juristisches Niemandsland ist. Ganz im Sinne der These von der Verrechtlichung der Normerzeugung ist sie vielmehr oft Gegenstand verfahrensrechtlicher und auch inhaltlicher Vorgaben. Darin liegt kein Widerspruch. Man stelle sich vor, jemand hätte sich zum Geburtstag ein Segelboot gewünscht, aber seine Freunde schenkten ihm nur einen Baum, eine Säge und eine Bauanleitung. Aus dem Baum lassen sich hunderte verschiedene Boote bauen, und auch die Bauanleitung gibt nicht alles vor. Gleichwohl ist die Freiheit des Baumeisters hier von vornherein durch das zur Verfügung stehende Material und die normativen Erwartungen beschränkt, die mit dem Geschenk verbunden sind und die sich (nicht nur) in der Beifügung der Bauanleitung ausdrücken. Es ist eine solche Mischung aus Freiheit und Bindung, die der Begriff der Rechtsbildung in Abgrenzung zum rein kompetenzorientierten Begriff der Rechtsetzung meint. Eine Rechtsbildung fi ndet statt, wenn das Recht dem Normadressaten zwar nicht die zu erzeugende Norm vorgibt, wohl aber Anweisungen erteilt, wie er sie zu fi nden hat (z. B. § 40 VwVfG). Rechtsbildung ist nicht Rechtsetzung, aber auch nicht Auslegung, denn sie schließt sich an das fertig ausgelegte Recht an. Dass die Abgrenzung zwischen beiden Sphären schwierig ist,86 macht sie nicht überflüssig und entbindet nicht von der Pfl icht zu größtmöglicher begriffl icher Klarheit. Es ist deshalb kritisch zu prüfen, ob alles, was gemeinhin als „Auslegung“ bezeichnet wird, auch tatsächlich Auslegung ist.87 Die These „Von der Auslegung zur Rechtsbildung“ besagt, dass der Inhalt des außenwirksamen Rechts immer weniger durch Auslegung und immer mehr durch andere Verfahren bestimmt wird, ohne dass deshalb politischem (rechtlich ungebundenem88 ) Entscheiden mehr Raum gegeben wäre.89 Das Recht wird einerseits verDie Feststellung, ob dem Verhaltensgebot des Rechtssatzes Folge geleistet wurde, hängt dann nur noch von der Kenntnis des Sachverhalts ab. 85 Dieser Verhaltensspielraum ist zu unterscheiden von einem Spielraum bei der Auslegung selbst (zu diesem schon B. I. 2.). 86 Peter Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung, ZSR 97 (1978), 1 (31). 87 Siehe dazu im Folgenden unter 3. und 5. c), d). 88 Zur Entgegensetzung von „politisch“ und „rechtlich“ Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 19. 89 Zur Ersetzung der Auslegung durch andere Verfahren allgemein auch Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143 (156 mit Fn. 69).
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mehrt so gesetzt und interpretiert, dass eine Lücke zwischen der Auslegung und dem Außenhandeln überhaupt entsteht, andererseits wird die Ausfüllung der Lücke verrechtlicht. Im Ergebnis werden Teile der Setzung der außenwirksamen Norm auf den Normadressaten „verlagert“, gewissermaßen „outgesourct“. Das Recht verpfl ichtet den Normanwender in größerem Umfang, eine von ihm nicht vollständig getroffene Entscheidung „spruchreif “ zu machen, ohne ihm dabei aber freie Hand zu lassen. Die Pfl icht ist eine systeminterne Norm, weil sie sich ausschließlich an (hoheitliche) Normanwender richtet und die Rechtsentstehung anleitet. Die systemexterne Norm, die das Handeln des hoheitlichen Normanwenders gegenüber dem Bürger oder auch direkt das Handeln des Bürgers bestimmt, steht erst am Ende der Rechtsbildung fest. Wenn zum Beispiel von einem Wandel der Grundrechtsanwendung von der „Auslegung“ zur „Konkretisierung“ die Rede ist, wenn es heißt, an die Stelle der Ermittlung des Sinns von etwas Vorgegebenen trete die schöpferische Ausfüllung von etwas nur der Richtung nach Festgelegtem,90 dann sind damit Formen der Rechtsbildung gemeint. Auch die sogenannte Prozeduralisierung des Rechts setzt in vielen Fällen einen Zwischenraum zwischen Rechtsbindung und Außenhandeln voraus, der dann durch prozedurale Pfl ichten ausgefüllt wird. Rechtsbildung ist eine Art „dritter Weg“ zwischen rechtlicher Bindung und politischer Freiheit. Im Folgenden sind dafür einige Beispiele zu geben.
2. Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft Ein erster, konstruktiv einfacher Fall sind die sogenannten Rezeptionsbegriffe.91 Der rechtliche Gehalt eines Rezeptionsbegriffs erschöpft sich darin, die in einem anderen, genuin nicht zum Recht gehörenden, „Sprachspiel“ geleistete Bedeutungszuschreibung für rechtsverbindlich zu erklären. Vom Begriff der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG etwa ist der Verfassungsinterpret nach einer weit verbreiteten Auffassung aufgerufen, unmittelbar auch die geistig-ethischen Grundlagen der Verfassung zu rezipieren,92 also philosophisch zu reflektieren statt (nur) „juristisch“ auszulegen. Wie bei der normativen Ermächtigungslehre im Verwaltungsrecht93 ist das Verständnis eines Begriffs als Rezeptionsbegriff eine Frage der Auslegung. Der Inhalt des Rezeptionsbegriffs aber ist der Auslegung entzogen. Das Recht selbst kennt den Inhalt nicht, aber es beauftragt den Rechtsanwender, ihn in bestimmter Weise und bestimmter Richtung zu suchen. Der Willkür des Normanwenders lässt es unmittelbar keinen Raum.
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Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (22). Von „Schleusenbegriffen“ spricht Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders./ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 35. 92 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (2); anders Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17 (Stand: Februar 2005). 93 Vgl. BVerfG, Urt. v. 20. 2. 2001 – ZBvR 1444/00, BVerfGE 103, 142 (156 f.); Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Band 3, Art. 19 Abs. 4 Rn. 185 (Stand: Februar 2003). 91
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Die von Peter Häberle propagierte kulturwissenschaftliche Interpretationsmethode,94 die den Rechtsanwender nicht nur bei der Basisnorm zum Schutz der Menschenwürde, sondern in der ganzen Breite und Vielfalt des Rechts in die Tiefe des kulturellen Kontextes führt,95 fi ndet in Rezeptionsbegriffen eine Brücke zu einem positivistischen Grundverständnis vom Recht. Der Rezeptionsbegriff wird hier vom Ausnahmefall zur Normalität. Gerade das Kunstvolle dieser Art der Verfassungsinterpretation macht sie allerdings für viele Juristen nicht nur bewundernswert, sondern auch „unnachahmbar“, weil sie den vorgeschriebenen Auslegungshorizont, der im juristischen Studium zumeist nicht einmal mehr wahrgenommen wird, nicht erreichen.96 Die kulturwissenschaftliche Interpretation ist eine wissenschaftliche Avantgarde. Sie vergrößert die Distanz von Rechtsetzung und Rechtsanwendung jedenfalls solange, wie sie nicht für die Alltagsdogmatik „kleingerechnet“ wird und sich in ihr verfestigt. Die Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft ist damit eine theorieimmanente Ergänzung, vielleicht auch Begrenzung der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Das kulturwissenschaftliche Herangehen rückt die Rechtswissenschaft in den Mittelpunkt der Rechtsetzung und weist dem Verfassungsgeber und dem Gesetzgeber, zugespitzt formuliert, die Rolle von Stichwortgebern zu.
3. Der Griff nach Zwecken außerhalb des Rechts Das Recht öffnet sich nicht nur für die Kulturwissenschaften, sondern auch für die Wirklichkeitswissenschaften. Die Tendenzen zur Einbeziehung der „Realfolgen“ in die Gesetzesauslegung sind dabei nicht auf die Formen der objektiv-teleologischen und der subjektiv-teleologischen Auslegung beschränkt, von denen schon die Rede war.97 Es mehren sich die Fälle, in denen nicht einmal versucht wird, die eine Inhaltsbestimmung rationalisierenden Zwecke dem Gesetzgeber oder dem Gesetz zuzurechnen. Mehr oder weniger offen gibt der Rechtsanwender die Zwecke, wenn er sonst nicht weiterweiß, als seine eigene, außerhalb des Rechts plausibilisierte Wertung zu erkennen. Von zwei vorgeschlagenen Auslegungshypothesen wird diejenige gewählt, die, als Norm in Geltung gesetzt, in der realen Welt voraussichtlich die „besseren“ Ergebnisse bringt. Diese pragmatische Form der Rechtsbildung wird oft als „folgenorientierte Auslegung“ bezeichnet.98 Sie hat sich als Methode nie allgemein durchsetzen können, begegnet dem aufmerksamen Juristen aber unter anderem Namen an vielen Orten der Dogmatik. Er fi ndet sie etwa in der normativen ökono94 Siehe etwa Peter Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, 1033 (1034 f.): Verfassung als „Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption“. Juristische Texte seien deshalb von vornherein in ihren „kulturellen Kontexten“ zu sehen. Der Vorgang sei eine „schöpferische Re-Produktion“. 95 Wobei Häberle allerdings zwischen den verschiedenen Stufen der Normenhierarchie differenziert und die juristische Fachsprache insbesondere im Verwaltungsrecht ausdrücklich als maßgeblich anerkennt: Peter Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 601 (608). 96 Vom „Erfahrungshorizont“ der Verfassung spricht Peter Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, 1033 (1034). 97 Oben C. II. 2. 98 Ausführlich Martina Renate Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995.
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mischen Analyse des Rechts99, die das Recht auf ökonomische Effizienz hin auslegt, aber auch in der „leitbildorientierten“ Verfassungsauslegung.100 Dass die Folgenorientierung keine Form der „Auslegung“ mehr ist, sondern eine Technik der Rechtsergänzung und -verdichtung, ist offensichtlich. Sie lebt von dem zunächst bestechend erscheinenden Argument, nur ein Art „Notbehelf “ zur Verhinderung reiner Willkür zu sein, wenn die als „traditionell“ bezeichneten Methoden nicht zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis führen. Versteht man die Auslegung nicht als mechanischen, sondern von Menschen betriebenen und damit der „bounded rationality“ unterworfenen Vorgang, sollte indes deutlich sein, dass die nachgeschaltete Folgenorientierung eine Vorwirkung auf das Auslegungsergebnis hat. Das Wissen um die Möglichkeit folgenorientierten Entscheidens ruft die Situation rechtlicher Unentscheidbarkeit erst hervor.101
4. Normen als Prinzipien In besonderer analytischer Klarheit wird eine Form der Rechtsbildung von der sogenannten Prinzipientheorie der Grundrechte beschrieben, die auf Ronald Dworkin und Robert Alexy zurückgeht. Dieser Lehre zufolge ist die einzige echte Rechtsnorm, die der Grundrechtskatalog enthält, ein ungeschriebenes Optimierungsgebot.102 Dieses verpfl ichtet den Rechtsanwender dazu, von zwei bei der Beurteilung eines Sachverhalts kollidierenden Prinzipien, die er der Verfassung durch Auslegung entnommen hat, dasjenige als normativ verbindlich zu erachten, das in Anbetracht des Sachverhalts von relativ höherem Gewicht ist.103 Das Optimierungsgebot ist eine „systeminterne Norm“, weil es sich nur an den hoheitlichen Rechtsanwender – Legislative, Exekutive oder Judikative – und nicht nach außen richtet. Die einzelnen Grundrechte sind, als Prinzipien verstanden, nur noch Faktoren in einer Rechnung, deren Ergebnis die Norm ist. Die Prinzipientheorie verfolgt das Anliegen, Normenkollisionen in einer inhaltlich dichter werdenden, von Inkonsistenzen und Spannungslagen geprägten Rechtsordnung zu vermeiden. Das Recht soll nicht gleichzeitig etwas verbieten und gebieten. Angesichts der normativen Dichte der Verfassung muss die Freiheit des Selbstwiderspruchs vom Rechtsanwender hergestellt werden, der die Normen hierzu nach der Prinzipientheorie nicht als definitives Sollen, sondern eben nur als Abwägungsfaktoren interpretiert. Die Kollision wird in das Innere des Rechtssystems verlagert und nach außen unsichtbar gemacht. Die Bedeutung der Abwägung wächst folglich mit der Zahl der Grundrechtskollisionen.104 Die Zahl der Grundrechtskollisionen 99
Anne van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 18 Fn. 8. Dazu Uwe Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), 157 (159): Leitbilder als „eine spezifi sche Brücke zu den Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft“, die „den Prozess der Auslegung [der Verfassung] insgesamt stärker steuern als der klassische Methodenkanon. 101 Jan Henrik Klement, Verantwortung, 2006, S. 187. 102 Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756 (762 f.). 103 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75 f. 104 Deutlich wird dieser Zusammenhang schon in der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsge100
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wiederum wächst mit der Zahl der Grundrechtsdimensionen und mit der Größe der grundrechtlichen Schutzbereiche. Die Prinzipientheorie ist also ein Kind der Verrechtlichung. Das Unternehmen, eine möglichst große Zahl von Hoheitsakten und womöglich auch Unterlassungen einer grundrechtlichen Kontrolle zu unterwerfen, schwächt die Bindungskraft der Grundrechte.105 Zugleich stärkt es den Verfassungsanwender, und zwar vordergründig das Parlament, das die „Insichkonfl ikte“ der Grundrechte befrieden muss,106 letztlich aber das Verfassungsgericht.107 Nur noch die Prinzipientheorie kann die Expansion der Grundrechtsinhalte und die darin wurzelnde Kasuistik des Bundesverfassungsgerichts widerspruchsfrei erklären, ohne sie freilich normativ genau anleiten zu können. Rückblickend sind alle Entscheidungen richtig, vorhersagbar aber sind sie nicht. Diese Schwächung des Rechts wird nicht nur als unvermeidliche Nebenfolge der lückenlosen Entfaltung des Grundrechtsschutzes angesehen. Manche halten sie vielmehr um ihrer selbst willen für erstrebenswert. 108 Die Auslegung der Verfassung soll nicht das letzte und auch nicht das wichtigste Wort sprechen, weil nicht sie, sondern die Abwägung die rationalste Methode der Rechtsfindung sei.109 Prinzipienkollisionen werden deshalb nicht nach Möglichkeit gemieden, sondern geradezu gesucht, etwa durch den Grundsatz einer weiten Interpretation der grundrechtlichen Schutzbereiche, durch die lückenlose Entfaltung neuer Grundrechtsdimensionen, durch die „Erfindung“ neuer Grundrechte.110 Die Prinzipientheorie ist insoweit eine normative Theorie.111 Weil allerdings auch den vom Verfassungsgeber gesetzten Normen eine Abwägung zugrunde liegt,112 versteckt sich hinter dem Bekenntnis zur Abwägung noch eine weitere, nicht begründete Wertung: Die Abwägung der Juristen, die Abwägung des Verfassungsgerichts ist rationaler, besser als die politische Abwägung des Verfassungsgebers.113 Je mehr diese Wertung auch auf die unteren Ebenen der richts, vgl. BVerfG, Urt. v. 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 (210): „Es wird deshalb eine ‚Güterabwägung‘ erforderlich“ (Hervorhebung von mir, J. H. K.). 105 Ralf Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, in: Arthur Kaufmann/Ernst-Joachim Mestmäcker/Hans F. Zacher (Hrsg.), Festschrift für Werner Maihofer, 1988, S. 87 (92), bemerkt hierzu, die Funktion der Wertordnungstheorie des Bundesverfassungsgerichts bestehe nicht zuletzt darin, „das Grundgesetz und mit ihm das gesamte Rechtssystem zu flexibilisieren“. 106 Peter Häberle, Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat, AöR 114 (1989), 361 (382), spricht davon, dass die „Kompetenz und Potenz“ des Gesetzgebers wachse. 107 Peter Häberle, Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat, AöR 114 (1989), 361 (381). 108 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 290 f. 109 Zur Abwägung als „Subsumtionsersatz“ auch Fritz Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, DVBl. 1995, 904 (905); siehe schon Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (55). 110 Matthias Jestaedt, Deutsche Rechtswissenschaft im Kontext von Europäisierung und Internationalisierung, JZ 2012, 1 (5), weist zutreffend darauf hin, dass der „Gedanke verhältnismäßiger Rechtsgüterzuordnung“ die Entwicklung lückenloser Grundrechtsgewährleistungen zur Voraussetzung und Folge hat. 111 Näher mit Nachweisen Jan Henrik Klement, Common Law Thinking in German Jurisprudence, in: Matthias Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, 2012, S. 173 (185 ff.). 112 Allgemein für die Rechtsetzung Winfried Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), 1 (7). 113 Jan Henrik Klement, Common Law Thinking in German Jurisprudence, in: Matthias Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, 2012, S. 173 (187 f.). Allgemein zur Marginalisierung des verfas-
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Rechtsordnung und der Gerichtsbarkeit „durchsickert“,114 desto mehr werden die Gerichte zu den eigentlichen Entscheidungsträgern.
5. Positivrechtliche Interpretationsregeln Wenn positivrechtliche Interpretationsregeln115 ins Spiel kommen, versteckt sich die Rechtsbildung einmal mehr hinter der Fassade gewöhnlicher Auslegung. Das Recht scheint der juristischen Methodenlehre wenigstens einen Teil ihrer Bedeutung zu nehmen, indem es selbst Vorgaben für seine Auslegung macht. Auf den ersten Blick ist das eine vorzügliche Nachricht vor allem für jene unter den Juristen, die sich fast bis zur Entscheidungsunfähigkeit in erkenntnistheoretischen Zweifeln verstrickt haben. Das Recht zieht sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf der Subjektivität. Der Rechtsanwender wendet Normen an, um den Sinn von Normen zu ermitteln. Das Recht gibt dem Juristen vor, wie nach seinem Sinn zu suchen ist, und es stößt ihn zurück, wenn er im Begriff ist, bestimmte Grenzen zu überschreiten.
a) Interpretationsregeln und Machtverteilung Mannigfaltige Beispiele aus der Rechtsgeschichte zeigen, dass positivrechtliche Interpretationsregeln immer auch mit der Machtverteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zu tun haben. Wer sie an den Kategorien von „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ zu messen versucht, muss die Bedeutung der Interpretationsregeln deshalb verfehlen. Das zeigt schon das einfache Beispiel des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 5. Februar 1794 (ALR). In § 6 war den Juristen dort verboten, „bey künftigen Entscheidungen“ auf „Meinungen der Rechtslehrer“ ebenso wie auf „ältere Aussprüche der Richter“ Rücksicht zu nehmen. Gewiss lässt sich dieses preußische Reinheitsgebot auch im Lichte des romantischen Postulats volksnahen Rechts116 deuten. Es ist dann Teil des Versuchs, ein Recht zu schaffen, das der sungsändernden Gesetzgebers im „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“ Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Staat im Wort: Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 183 ff. 114 Von der institutionellen Trennung des Bundesverfassungsgerichts von der Fachgerichtsbarkeit versprach man sich einst einen Schutz der juristischen Rationalität, vgl. Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess, 1968, S. 58 f., wo der Abgeordnete Dehler mit den Worten zitiert wird, es könne dem Ansehen des obersten Bundesgerichts als Spitze der Fachgerichtsbarkeit nur dienlich sein, wenn es in der „reinen Rechtssphäre“ bleibe. Möglicherweise hat die Eigenständigkeit des Bundesverfassungsgerichts aber der juristischen Rationalität eher geschadet. Gerichte, die sich nicht auf die Verfassung „spezialisieren“ müssen, weil ihnen auch die Auslegung „einfachen“ Rechts anvertraut ist, werden den juristischen Methoden wohl eher treu bleiben und werden deshalb weniger zu einer Ausweitung ihrer Machtsphäre neigen. Das zeigt auch der „judicial self restraint“ des EuGH gegenüber den europäischen Organen. 115 Begriff bei Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 332, 347 ff. 116 Kritisch hierzu Peter Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 601 (608); Friedrich E. Schnapp, Warum können juristische Laien Gesetze nicht „verstehen“?, Jura 2011, 422 ff.
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Bürger ohne professionelle Hilfe verstehen kann,117 und einen Staat zu errichten, in dem nicht Menschen herrschen, sondern das Recht selbst.118 So sehr man Friedrich den Großen, den Schöpfer des ALR, dafür aber auch loben mag, nie sollte man vergessen, dass das „geschriebene Recht“ nichts anderes war als der Wille des Königs selbst, der es gemacht hat und der, wie § 6 ALR zeigt, unbeschadet der notwendigen Arbeitsteilung Anspruch auf die letztverbindliche Interpretation erhebt.119 Die Verbote des Professoren- und Präjudizienrechts atmen damit den Geist des Absolutismus, des Willens zur ungeteilten Macht.120 Sie sind Zeichen des Misstrauens des Regenten gegenüber den eigenen Beamten und Richtern. Auch die institutionalisierte Rechtswissenschaft erkannte Friedrich der Große als einen Machtfaktor, den es durch strikte Rückbindung an den „Text“ der Gesetze zu bändigen galt. Eine neuere positivrechtliche Interpretationsregel findet sich in der Europäischen Grundrechtecharta. Art. 52 Abs. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV binden die Gerichte bei der Auslegung der Grundrechte an die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, der die Grundrechtecharta ausgearbeitet hat. Die Erläuterungen sind, so will es die Charta, von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten „gebührend zu berücksichtigen“. In einer für das Unionsrecht typischen Weise121 wird die Methode der subjektiven Auslegung damit objektiviert: Die Absichten des Normgebers werden rechtsverbindlich festgestellt und diesbezüglichen Spekulationen die Spitze genommen. Wieder ist deutlich, dass es letztlich um Kompetenzen geht. Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta sollen für die Grundrechtstheorie und den Europäischen Gerichtshof den Raum des argumentativ Möglichen verengen. Die Herren der Verträge wollen auch die Herren des Rechts sein, das aus den Verträgen fl ießt. 117 Dazu Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 333; Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 129 f. 118 Matthias Albrecht, Die Methode der preußischen Richter in der Anwendung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, 2005, S. 70 f. 119 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, S. 334 f. 120 Hans Hattenhauer, Preußens Richter und das Gesetz, in: ders. (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786 bis 1806, 1988, S. 37 (40): „Es ging ihm mehr um Staatsorganisation als um Bürgerglück“. 121 Zwar fi ndet eine subjektiv-teleologische Auslegung im Unionsrecht grundsätzlich nicht statt (zum Primärrecht vgl. Ernst-Joachim Mestmäcker, Zum Begriff des Mißbrauchs in Art. 86 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft, in: Karsten Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Peter Raisch, S. 441 [442]; Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechs JuS 2004, 180 [183]), doch werden den Normen in Verordnungen und Richtlinien Erwägungsgründe vorangestellt, auf die der EuGH bei der Auslegung Bezug nimmt (vgl. empirische Auswertung bei Mariele Dederichs, Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, EuR 2004, 345 [358 f.]). Um eine subjektiv-teleologische Auslegung handelt es sich dabei nicht (vgl. Jürgen Basedow, Der Europäische Gerichtshof und das Privatrecht, AcP 210 [2010], 157 [168 f.]; a. A. Walter Georg Leisner, Die subjektiv-historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2007, 689 [706]), denn die positivierten Begründungserwägungen sind ihrerseits auslegungsbedürftig. Die „echte“ subjektiv-teleologische Auslegung könnte allerdings hinsichtlich des Sekundärrechts, aber auch nachträglich eingefügter oder veränderter Primärrechtsvorschriften mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Materialien zur Entstehungsgeschichte der Normen in Zukunft eine größere Bedeutung erlangen (Philipp Dann, Thoughts on a Methodology of European Constitutional Law, GLJ 6 [2005], S. 1453 [1463]). Die Entscheidung des EuG zur Auslegung des Art. 263 Abs. 4 AEUV aus dem Jahr 2011 ist auch in dieser Hinsicht bemerkenswert, vgl. EuG, Beschl. v. 9. 6. 2011 – T-18/10, Inuit Tapiriit Kanatami, EWS 2012, 90 (92 Rn. 49).
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Die letzte hier zu nennende Interpretationsregel schließlich stammt aus dem Völkerrecht. Die Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK verpfl ichtet den Interpreten eines völkerrechtlichen Vertrags dazu, bei der Auslegung jeden „in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare[n] einschlägige[n] Völkerrechtssatz“ zu berücksichtigen. Diese zunächst harmlos erscheinende Vorschrift wird in jüngerer Zeit zum Generalschlüssel der völkerrechtlichen Systembildung erhoben.122 Hier wird also eine Kompetenzverschiebung in die andere Richtung versucht: weg von den Vertragspartnern, hin zu den Interpreten und der sie begleitenden Wissenschaft.
b) Interpretationsregeln und Hermeneutik Zweifellos ist der Rechtsanwender an positivrechtliche Interpretationsregeln gebunden. Er hat sein Rechtsverständnis an ihnen auszurichten, weil und soweit sie Bestandteil des positiven Rechts sind. Die Interpretationsregeln verändern aber „nur“ die zu ermittelnde Bedeutung des Rechts,123 nicht hingegen das methodengerechte Verstehen. Entgegen dem ersten Anschein machen sie die juristische Hermeneutik und Methodenlehre weder entbehrlich, noch nehmen sie in irgendeiner Form auf sie Einfluss. Die Regeln geben dem Interpreten lediglich zusätzliche Informationen über den Inhalt des Rechts. Die Frage, ob das Recht eine Interpretationsregel enthält und wie sie zu verstehen ist, ist ihrerseits durch Auslegung zu beantworten.124 Nur ein Jurist mit den Fähigkeiten des Barons von Münchhausen könnte deshalb aus dem Recht eine juristische Methodenlehre entwickeln.125 Als Inhaltsbestimmungen sind die Interpretationsregeln nicht „Auslegungsregeln“ im eigentlichen Sinne,126 auch wenn sie oft so genannt werden (man denke nur an die gleich zu besprechende verfassungskonforme „Auslegung“). Die juristischen Methoden stehen also immer mit einem Bein außerhalb des Rechts.127 122 Champbell McLachlan, The Principle of Systematic Integration an Article 31 (3) (c) of the Vienna Convention, ICLQ 54 (2005), 279 (280): „general principle of treaty interpretation, namely that of systemic integration within the international legal system“. Die Bewertung der Norm als „master-key“ fi ndet sich ebd., S. 281, sowie bei Carmen Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1 (28). 123 Zutreffend bemerkt Champbell McLachlan, The Principle of Systematic Integration an Article 31 (3) (c) of the Vienna Convention, ICLQ 54 (2005), 279 (282): „The rules of interpretation are themselves one of the means by which the system as a whole gives form and meaning to individual rules.“ 124 H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2002 [zuerst 1961], S. 126: „Canons of ‚interpretation‘ cannot eliminate, though they can diminish, these uncertainties; for these canons are themselves general rules for the use of language, and make use of general terms which themselves require interpretation. They cannot, any more than other rules, provide for their own interpretation.“ 125 Zum Münchhausen-Dilemma der Verfassungsauslegung Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 35 f. 126 Von „unechten“ oder „scheinbaren“ Auslegungsregeln spricht Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 348. Auch Karl Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 318, weist darauf hin, dass sich im Prozess der „Rechtsschöpfung“ methodologische und verfassungsrechtliche Erwägungen „verschlingen“ können. 127 In diesem Sinne auch Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung durch Gesetz, 1999, S. 269 f., 332; Hans-Joachim Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen, in: Robert Alexy u. a., Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003, S. 179 (198).
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Es überrascht deshalb nicht, dass Auslegungsverbote, wie sie in Gestalt von gesetzlich angeordneten Bindungen an den Willen eines Gesetzgebers schon verhängt wurden,128 und Versuche einer Eingrenzung des Kreises der Auslegungsmethoden129 als „Denkmäler gesetzgeberischer Naivität“ in die Rechtsgeschichte eingegangen sind.130 Positivrechtliche Interpretationsregeln, die die Auslegung nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, gibt es aber auch heute noch. Sie sind so sinnvoll oder sinnlos und so bindend oder kompetenzverlagernd wie andere Rechtsregeln auch. Falsch wäre es, sie als Atavismen absolutistischer Herrschaftsexperimente zu verharmlosen. Je höher das europäische „Mehrebenensystem“ das Recht auftürmt, desto größer wird vielmehr auch die Bedeutung von Interpretationsregeln. Prominente Beispiele sind die verfassungskonforme und die richtlinienkonforme Rechtsbildung, um die es jetzt gehen soll.
c) Die verfassungskonforme Rechtsbildung Die sogenannte verfassungskonforme Auslegung ist die wohl bekannteste positivrechtliche (wenngleich ungeschriebene) Interpretationsregel. Sie sagt dem Rechtsanwender, dass er einem Rechtssatz im Wege der Auslegung einen mit Verfassungsrecht kollidierenden Inhalt nicht zuschreiben darf, wenn auch eine nicht verfassungswidrige Auslegung „vertretbar“ ist.131 Die Prüfung der Verfassungskonformität von Normen – mit allen ihren Unwägbarkeiten – wird damit in die Hände des Interpreten gelegt. Auch wenn die verfassungskonforme Auslegung die fortdauernde Geltung einer Norm sichert, weil diese sonst eines Tages vom Bundesverfassungsgericht verworfen werden müsste, schwächt ihre Anwendung deshalb die Rechtsbindung des ermächtigten Normadressaten. In dieser Beziehung ist sie mit den Auslegungsregeln Friedrichs des Großen und der Grundrechtecharta vergleichbar. Auf den leisen Sohlen einer verharmlosend als „Auslegung“ bezeichneten Kompetenz wird der Rechtsanwender mit der Verfassung munitioniert, um sich – weitgehend frei von
128 Berühmt ist das Auslegungsverbot des Cesare Beccaria in seinem 1764 erschienenen Buch „Dei delitti e delle pene“, s. Carl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, hrsg. von John Lekschas und Walter Griebe, 1966, S. 42 ff. Zur Begründung führt Beccaria ebd., S. 44, unter anderem aus: „Es ist aber das Joch einer Menge von kleineren Tyrannen und Unterobrigkeiten desto unerträglicher, je unbeträchtlicher der Abstand des Unterdrückten von dem Unterdrücker ist. Ich halte die Bedrängung von kleinen Despoten weit unseliger, als die Oberherrschaft eines Einzigen.“ Zum Einfluss Beccarias auf Friedrich den Großen Hans Hattenhauer, Preußens Richter und das Gesetz, in: ders. (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786 bis 1806, 1988, S. 37 (41 f.). 129 Exemplarisch § 46 Preußisches Allgemeines Landrecht: „Bey Entscheidungen streitiger Rechtsfälle darf der Richter den Gesetzen keinen andern Sinn beylegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben, in Beziehung auf den streitigen Gegenstand, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes, deutlich erhellet.“ Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 166, weist mit Recht darauf hin, dass die Auslegung in Preußen keineswegs vollständig „verboten“ war. 130 Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1997, S. 117 mit Fn. 34. 131 Exemplarisch BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1985 – 2 BvF 2,3,4/83 und 2/84, BVerfGE 69, 1 (55).
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öffentlicher Kontrolle – gegen das Gesetz stellen zu können.132 Der „lange Dienstweg“ des Rechtsstaats, der von der Verfassung über das Gesetz führt, wird durch einen kurzen Dienstweg ersetzt.133 Das reibungslose, autonome Funktionieren des Rechtssystems wird über die demokratische Legitimation gestellt, das Bundesverfassungsgericht auf Kosten des Gesetzgebers entlastet. Statt diesen Vorgang „Auslegung“ zu nennen,134 wäre es ehrlicher, von verfassungskonformer „Rechtsbildung“ zu sprechen. In einer neueren Monographie wird gegen die verfassungskonforme „Auslegung“ eingewandt, sie vermenge die Ermittlung des Inhalts einer Norm mit der Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit.135 Allerdings betrifft die Frage, ob dem Verfassungsrecht die zur verfassungskonformen Auslegung ermächtigende Interpretationsregel zu entnehmen ist, durchaus den Inhalt des Rechts und ist deshalb im Wege klassischer Auslegung zu beantworten. Richtig aber ist, dass die Interpretationsregel, wenn sie denn gilt, vom Rechtsanwender zusätzlich zur Auslegung eine weitere Operation verlangt. Sie erzeugt eine Lücke zwischen dem durch Auslegung ermittelbaren Inhalt des Rechts und dem außenwirksamen Handeln des Interpreten. Diese Lücke füllt sie durch die Anweisung, die fertig ausgelegte Bestimmung auf ihre Vereinbarkeit mit dem höherrangigen Recht zu überprüfen. Ist das Ergebnis positiv, wird die Auslegungshypothese bestätigt. Fällt es hingegen negativ aus, ist die erstbeste Auslegung durch die nächstbeste verfassungskonforme Interpretation zu ersetzen. Mit diesem Inhalt ist das Gesetz durch Verwaltungsakt oder Richterspruch nach außen verbindlich zu machen. Auslegung und Rechtmäßigkeitskontrolle werden also nicht vermengt, wohl aber miteinander gekoppelt. Der Rechtsanwender erhält die Kompetenz, eine sich nicht in die Normenhierarchie einfügende Norm durch eine andere, fügsamere zu ersetzen.136
d) Insbesondere: Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Auch die „richtlinienkonforme Auslegung“ als Unterfall der „unionsrechtskonformen Auslegung“ verlagert Rechtsetzungskompetenzen auf die Judikative und sollte deshalb besser richtlinienkonforme Rechtsbildung heißen. Nicht anders als die verfassungskonforme Auslegung bezieht sie ihre Kraft aus der Normenhierarchie, deren „rechtsimmanenter“ Durchsetzung sie dient. Doch sind auch wichtige Unterschiede festzustellen. Die verfassungskonforme Auslegung stellt nicht nur die prak132 Dazu auch Ulrike Lembke, Einheit aus Erkenntnis? Zur Unzulässigkeit der verfassungskonformen Gesetzesauslegung als Methode der Normkompatibilisierung durch Interpretation, 2009, S. 109 ff. 133 Kritisch dazu auch Christoph Möllers, Methoden, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 3 Rn. 30. 134 Ausführliche Kritik bei Ulrike Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, S. 26 ff. 135 Ulrike Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, S. 227 f., 236. 136 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77 (139): „weitreichende Korrekturmöglichkeiten gegenüber dem Gesetzgeber und dessen Produkten, den Gesetzen“; ebd., S. 140: „Teilnichtigerklärung ohne Normtextänderung“. Kritisch auch Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (74 ff.).
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tische Wirksamkeit der Verfassung her, sondern verhindert auch, dass ein vom Normgeber geschaffener Rechtssatz rechtsnormativ bedeutungslos wird (weil die ihm zugeordnete Norm verfassungswidrig und damit nichtig ist). Diese zweite Funktion tritt bei der richtlinienkonformen Auslegung zurück. Die Geltung (genauer: Anwendbarkeit137) nationalen Rechts steht hier im Normalfall nicht auf dem Spiel und wird vom Europäischen Gerichtshof auch nicht zur Legitimation der richtlinienkonformen Auslegung herangezogen. Eine nationale Norm ist nicht allein deshalb unionsrechtswidrig, weil sie eine Richtlinie nicht umsetzt (ohne gegen ein aus der Richtlinie abzuleitendes Verbot zu verstoßen). Es geht bei der richtlinienkonformen Auslegung also im Wesentlichen um die Einbeziehung der Exekutive und der Rechtsprechung in die Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht. Der Auftrag hierzu, und darin überwiegen wieder die Ähnlichkeiten zur verfassungskonformen Auslegung, ist kein Postulat richtigen Verstehens, sondern Inhalt einer vom Gerichtshof aus Art. 288 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleiteten Norm.138 In jüngerer Zeit nun hat der Bundesgerichtshof die richtlinienkonforme „Auslegung“ in zwei Entscheidungen, welche die Wirkungen der europäischen Regelungen zum Verbrauchsgüterkauf auf das Bürgerliche Gesetzbuch betrafen, zur „richtlinienkonformen Rechtsfortbildung“ erweitert und sich damit nahezu auf Augenhöhe mit dem Gesetzgeber begeben.139 Die Entscheidungsgründe sind wohl so zu lesen, dass das Gericht den Grundfall der richtlinienkonformen Auslegung – zu Unrecht – noch für eine gewöhnliche Auslegung hält, während es mit seiner Neuschöpfung ganz bewusst über die – wie er sie nennt – „einfache Gesetzesauslegung im engeren Sinne“ hinausgeht.140 Den Unterschied zwischen den beiden Argumentformen erblickt der Bundesgerichtshof darin, dass die richtlinienkonforme Auslegung nur die Auswahl eines noch durch den „Wortlaut“ eines Gesetzes gedeckten Interpretationsergebnisses erlaube, während der Rechtsanwender bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung nicht mehr an diesen „Wortlaut“ gebunden sei.141 Der Bundesgerichtshof hat sich damit wenigstens für eine Teilmenge der richtlinienkonformen Rechtsbildung vom irreführenden Begriff der Auslegung abgewendet und den Blick auf ein rechtsbildungs- und damit kompetenzorientiertes Verständnis freigemacht. In der Sache allerdings ist unklar, ob der Bundesgerichtshof die „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung“ tatsächlich als positivrechtliche Interpretationsregel legitimieren oder nicht doch aus dem Fundus einer tradierten Methodenlehre 137 Zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – Rs. 6–64, Costa/ E. N. E.L, Slg. 1964, 1251; BVerfG, Beschluss v. 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286 (301). 138 EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984 – Rs. 14/83, Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 26. 139 BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (34 ff. Rn. 20 ff.); BGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 (1076 Rn. 28 ff.). – Ebenfalls im Jahr 2011 hat das Bundesverfassungsgericht eine „vertraglich veranlasste“ Ausweitung des durch Art. 19 Abs. 3 GG definierten personellen Schutzbereichs der deutschen materiellen Grundrechte auf juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland aus dem europäischen Primärrecht hergeleitet (primärrechtskonforme Verfassungserweiterung), vgl. BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428 (3431). Kritisch dazu Christian Hillgruber, Anmerkung [zu BVerfG, a.a.O.], JZ 2011, 1118 (1120). 140 BGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 (1076 Rn. 28). 141 Diese Differenzierung ablehnend Stephan Pötters/Ralph Christensen, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze, JZ 2011, 387 ff.
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schöpfen will. Letzteres liegt nahe, weil das Gericht ausdrücklich auf das Instrument der „teleologischen Reduktion“ Bezug nimmt,142 mit dem die Gerichte seit jeher offensichtlich unstimmige Lücken in den Gesetzen korrigierend (nicht auslegend) ausfüllen, ohne dies für positivrechtlich begründungsbedürftig zu erachten. Im Widerspruch dazu erwecken die Urteilsgründe über weite Strecken aber zunächst den Eindruck, als wolle der Bundesgerichtshof die Kompetenz zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung direkt aus dem Unionsrecht ableiten. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass der Gerichtshof von den nationalen Gerichten zur Durchsetzung des Richtlinienrechts mehr „als bloße Auslegung im engeren Sinne“ verlange. Wo es nötig und möglich sei, müsse das Recht richtlinienkonform fortgebildet werden, um Widersprüche zum Unionsrecht zu vermeiden.143 In der Tat geht der europäische Begriff der „Auslegung“ noch über den ohnehin schon weiten, Formen der Rechtsbildung einbeziehenden Auslegungsbegriff des Bundesgerichtshofs hinaus. Wie in vielen anderen Fällen auch denkt das Unionsrecht vom Ergebnis her und kümmert sich nicht um begriffl iche Kategorien, die Teil der mitgliedstaatlichen Strategie zur Zielerreichung sind oder sein können. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist sollen in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung Normen gelten und angewendet werden, die der Umsetzungsverpfl ichtung aus der Richtlinie vollständig gerecht werden. Alles, was die Gerichte zur Geltung der entsprechenden Normen beitragen, ist Auslegung im „funktionalen“, unionsrechtlichen Sinne – wie auch immer die Mitgliedstaaten den Vorgang nennen mögen. Der Clou der Pfl icht zur richtlinienkonformen Auslegung liegt deshalb in den Worten „wo dies nötig und möglich ist“, mit denen der Gerichtshof die Umsetzungspfl icht der Gerichte einschränkt. Entsprechend dem Grundsatz, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, in welchen Formen und durch welche Institutionen sie für unionsrechtskonforme Rechtszustände sorgen, vertritt der Gerichtshof nicht nur einen funktionalen Auslegungsbegriff, sondern er respektiert auch die spezifischen kulturellen Prägungen der juristischen Arbeit in den einzelnen Mitgliedstaaten.144 Der Kanon richterlicher Methoden wird durch das Unionsrecht grundsätzlich weder erweitert noch beschränkt. Wie der Bundesgerichtshof selbst sagt, verlangt das Unionsrecht von den Gerichten zwar „das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz [. . .] in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden“ und dabei den Beurteilungsspielraum auszuschöpfen, den ihm das Recht einräumt.145 Wie die anderen staatlichen Organe haben auch die Gerichte zur Richtlinienumsetzung aber nur das beizutragen, was nach nationalem Recht und den in der nationalen Rechtskultur anerkannten Methoden in ihren Kompetenzen liegt.146 Die142 BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (35 ff. Rn. 21); BGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 (1076 Rn. 30). 143 BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (35 Rn. 21); BGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 (1076 Rn. 30). 144 Direkter Verweis auf die „Auslegungsmethoden“ des nationalen Rechts bei EuGH, Urt. v. 5. 10. 2004 – C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer u. a./Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e. V., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. 145 EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984 – Rs. 14/83, Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 28. 146 EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984 – Rs. 14/83, Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 26: „im Rahmen ihrer Zuständigkeiten“. Ebenso EuGH, Urt. v. 4. 7. 2006 – C-212/04, Adeneler, Slg. 2006 I-6057 Rn. 109, 111.
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se Zurückhaltung des Gerichtshofs ist tief begründet, denn die juristischen Methoden stehen, wie gesehen, in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung mit der innerstaatlichen Macht- und Kompetenzverteilung. Sie gehören damit zur mitgliedstaatlichen Organisations- und Verfahrensverantwortung (Art. 291 Abs. 1 AEUV). In den Grenzen des Loyalitätsgebots ist es deshalb Sache des nationalen Rechts, ob es die Umsetzung von Richtlinienrecht beim Gesetzgeber monopolisiert oder andere Organe einbezieht. Zudem gibt es keine unionsrechtlichen oder erkenntnistheoretischen Maßstäbe, anhand derer der Gerichtshof zwischen richtigen und falschen Auslegungsmethoden unterscheiden könnte. Die Methodenfrage hat weniger mit „Wahrheit“ als vielmehr mit der wechselseitigen Erwartbarkeit im Verhältnis von Normgeber und Normadressat zu tun. Diese Erwartbarkeit und das in ihr wurzelnde Rechtsvertrauen können sich nur geschichtlich entwickeln. Sie lassen sich nicht einfach von oben verordnen und kontrollieren. Der Bundesgerichtshof konnte die „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung“ deshalb nicht direkt aus dem Unionsrecht herleiten und sich auch nicht auf die Judikatur des Gerichtshofs stützen. Anstatt die Kompetenz zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung nun aus dem nationalen Recht zu begründen, versteckt sich der Bundesgerichtshof in den Entscheidungen zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hinter der dürren Statur der „teleologischen Reduktion“. Er schöpft damit zwar vordergründig aus rechtsmethodischer Überlieferung, füllt diese aber mit neuen Inhalten. Man mag eine teleologische Reduktion mit guten Gründen erlauben, wenn die „planwidrige Regelungslücke“ im Gesetz selbst liegt, durch Auslegung erkennbar wird, ein „objektiver“ Systembruch ist. Es liegt in der Idee des Rechts selbst und damit in seiner objektiven Bedeutung, dass es frei von solchen Brüchen ist. Der Bundesgerichtshof aber verlagert die „planwidrige Regelungslücke“ in die (angebliche) Vorstellungswelt der Legislative. Er verlangt dabei nicht einmal einen Inhalts- oder Erklärungsirrtum, also eine Differenz zwischen dem Willen des Gesetzgebers und dem Inhalt des Gesetzes, sondern lässt einen einfachen Motivirrtum genügen. Eine „Regelungslücke“ ist nach der neuen Rechtsprechung schon die fehlende Eignung einer Vorschrift zur vollständigen Umsetzung einer Richtlinie; „planwidrig“ ist die Lücke, wenn der Gesetzgeber beim Erlass der Vorschrift irrtümlich von dieser Eignung ausging.147 Damit nicht genug. Während zur Anfechtbarkeit einer aufgrund eines Eigenschaftsirrtums im Sinne von § 119 Abs. 2 BGB abgegebenen Willenserklärung eine positive Fehlvorstellung nachgewiesen werden muss, soll bei der Richtlinienumsetzung nunmehr148 ein bloßes „sachgedankliches Mitbewusstsein“ genügen. Die Planwidrigkeit ist also auch zu bejahen, wenn sich der Gesetzgeber nicht damit auseinandersetzte, ob „seine“ Norm innerhalb des von der Richtlinie eröffneten Umsetzungsspielraums liegt, sondern er wie selbstverständlich davon ausging.149 Die ver147 BGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073 (1077 Rn. 34): „Widerspruch zur konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers“. 148 Anders war wohl noch BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (36 Rn. 25), zu verstehen. Hier stellte der BGH auf die in der Gesetzesbegründung „explizit vertretene Auffassung“ des Gesetzgebers ab, seine Regelung genüge den Anforderungen der Richtlinie. 149 In der Sache ebenso schon zuvor BAG, Urt. v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538 (544
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fassungsrechtlich erforderliche Umsetzung des Unionsrechts durch den Gesetzgeber wird damit zum mentalen Akt degradiert. Der Gesetzgeber muss nur seinen allgemeinen Willen zur Unionstreue bekunden, schon spannt sich unter sein Unvermögen das Rettungsnetz der Gerichte. Eine objektive Regelungslücke lag in den entschiedenen Fällen nicht darin, dass Vorgaben der Richtlinie mit dem Gesetz nicht „umgesetzt“ wurden. Unterlassen hat nicht das Gesetz, sondern der Gesetzgeber. Die Lücke liegt in der Rechtsordnung als Ganzer, nicht im einzelnen Gesetz, auch wenn dieses der Umsetzung der Richtlinie „gewidmet“ war. Zur Schließung einer „Lücke in der Rechtsordnung“ aber ist die Judikative durch nichts legitimiert. Ihre Aufgabe ist die Anwendung vorhandenen, nicht die Schaffung fehlenden Rechts (Art. 97 Abs. 1 GG). Nicht einmal das Bundesverfassungsgericht nimmt den Erlass verfassungsrechtlich gebotener Vorschriften selbst in die Hand, und selbst einfache Verwaltungsakte darf ein Gericht nicht selbst erlassen, sondern muss die Behörde dazu verpfl ichten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bundesgerichtshof hingegen deutet den Umsetzungsversuch des Gesetzgebers als Delegation einer Rechtsetzungskompetenz an die Judikative, die Umsetzung zu vollenden.150 Die Gewaltenbalance des Grundgesetzes ist damit aus den Angeln gehoben, zumal die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung keine exklusive Kompetenz oberster Bundesgerichte ist, sondern fortan allen Rechtsanwendern – auch der Verwaltung – zur Verfügung steht. Die Kompetenzverlagerung ist umso bedenklicher, als der nationale parlamentarische Akt kein bloßer „Formalismus“ ist, sondern auch der nachgelagerten demokratischen Legitimation des Unionsrechts dient, die im Modell des Bundesgerichtshofs ganz entfällt. Die Vermeidung von Vertragsverletzungsverfahren und unionsrechtlichen Haftungsansprüchen sowie das Interesse an einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts rechtfertigen die legislative Tätigkeit des Gerichts nicht. Schon eine bloße richtlinienkonforme Auslegung ist zur Umsetzung einer Richtlinie aus der Perspektive des Unionsrechts regelmäßig ungeeignet,151 eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung aber ist es immer.152 Unionsrechtlich liegt der Preis, der für die neue Macht der Gerichte zu zahlen ist, in einer weiteren Verunklarung der Unterscheidung von Richtlinie und Verordnung und einer Umgehung der Voraussetzungen für eine ausnahmsweise unmittelbare Wirkung von Richtlinien.153 Die neue Rechtsprechung ist deshalb nicht nur nicht unionsrechtlich geboten, sondern nachgerade unionsrechtswidrig.154 Jedenfalls aber ist sie eines: eine erhebliche Schwächung des Rechts. Rn. 59); Beate Gsell, Anmerkung [zu BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27], JZ 2009, 522 (523); kritisch Gregor Thüsing, Blick in das europäische und ausländische Arbeitsrecht, RdA 2010, 187 (189). 150 Vgl. zutreffend Dagmar Kaiser, EuGH zum Austausch mangelhafter eingebauter Verbrauchsgüter, JZ 2011, 978 (980). 151 Vgl. EuGH, Urt. v. 10. 5. 2001 – C-144/99, Kommission/Niederlande, Slg. 2001, I – 3558 Rn. 21; ausführlich Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 207 ff., mit überzeugenden Differenzierungen. 152 Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 232 ff. 153 Gregor Thüsing, Blick in das europäische und ausländische Arbeitsrecht, RdA 2010, 187 (189); Stephan Pötters/Ralph Christensen, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze, JZ 2011, 387 (392). 154 Bemerkenswerterweise beschränkt der EuGH die richtlinienkonforme Auslegung aus dem Uni-
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IV. Die Selbstermächtigung zur „Ausnahme“ vom Recht 1. Die Selbstermächtigung des Interpreten am Beispiel des More Economic Approach Eine weitere Stufe der Schwächung des Rechts ist erreicht, wenn eine geltende Norm im Einzelfall außer Acht gelassen und zur Begründung auf außerhalb des Rechts stehende Ziele verwiesen wird. Hinter dieser Flucht vor dem positiven Recht steht die alte Unterscheidung von strengem Recht und Billigkeit,155 nämlich die Annahme, dass das allgemeine Gesetz in seiner Distanz zur Wirklichkeit nur die gewöhnlichen Fälle gerecht entscheide und deshalb im Besonderen der Korrektur bedürfe. Gerade Ökonomen, aber auch manchen Juristen, fällt es schwer, das harte Schlusswort einer Norm zu akzeptieren, die man als Gesetzgeber nicht so oder überhaupt nicht erlassen hätte, weil man die Wertungen nicht teilt oder, wohl noch öfter, weil man die Norm in (vermeintlich) besserer Kenntnis der Wirklichkeit nicht für ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Zwecks hält, um dessentwillen sie (angeblich) erlassen wurde. Unter der Geltung des Gleichheitsgrundsatzes und des Verhältnismäßigkeitsprinzips tragen die Ausnahmen dabei stets die Neigung in sich, zur Regel zu werden und neue Ausnahmen nach sich zu ziehen.156 Ein Beispiel für diese Entwicklung ist der „More Economic Approach“, den die Europäische Kommission im Kartellrecht verfolgt.157 Bei der Hinwendung zur Ökonomie geht es nicht nur um eine politische Ausfüllung von Spielräumen, die das geltende Recht der Kommission belässt, sondern auch um Ausnahmen von kartellrechtlichen Verboten im Interesse von „Effizienzvorteilen“, namentlich von technologischer Innovation, vor allem aber niedriger Verbraucherpreise.158 Davon betroffen sind sowohl die Verbote wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen und Vereinbarungen (Art. 101 AEUV) als auch das Missbrauchsverbot (Art. 102 AEUV) und die Fusionskontrollverordnung.159 Hinter dem „More Economic Approach“ steht die Überlegung, dass Handlungen nicht verboten sein sollen, die mehr nützen als schaden.160 Die Mehrung der Wohlonsrecht selbst heraus, nämlich mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Rückwirkungsverbot, vgl. EuGH, Urt. v. 4. 7. 2006 – C-212/04, Adeneler, Slg. 2006 I-6057 Rn. 110. Die nationalen Gerichte handeln bei der richtlinienkonformen Auslegung zudem in „Durchführung des Rechts der Union“ und sind deshalb gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh an die europäischen Grundrechte einschließlich des Rechts auf ein unparteiisches Gericht (Art. 47 Abs. 2 Satz 1 GRCh) gebunden. 155 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995 [zuerst 1993], S. 413. 156 Rainer Wahl, Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung 13 (1980), 273 (279). 157 Überblick zum Nachfolgenden bei Josef Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: Armin v. Bogdandy/ Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 919 ff. 158 Volker Emmerich, Kartellrecht, 11. Aufl. 2008, § 1 Rn. 32. 159 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. 160 Dieter Schmidtchen, Freiheit oder Effi zienz als Rechtsprinzip? Zum Freiheitsdilemma im Wettbewerbsrecht, in: Viktor J. Vanberg (Hrsg.), Evolution und freiheitlicher Wettbewerb, 2009, S. 79 (91). Siehe auch die Beschreibung des ökonomischen Blicks auf das Kartellrecht bei Wolfgang Kerber, Should competition law promote efficiency?, in: Josef Drexl/Laurence Idot/Joël Monéger (Hrsg.), Economic Theory and Competition Law, 2009, S. 93 (96): „From this welfare-theoretical perspective, it is plain-
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fahrt avanciert zum obersten Ziel des Handelns und damit auch der Anwendung des Rechts. Als vorherbestimmte abstrakt-generelle Regel taugt das Recht vielleicht noch als „Klugheitsregel“ für den Normalfall. Es ist aber nicht zu befolgen, wenn es sich im Einzelfall als ineffizient erweist.161 Effizienz wird zum Paradigma der Gerechtigkeit. Mario Monti sprach in seiner Zeit als Wettbewerbskommissar nicht zu Unrecht von einem „big bang“162 der Wettbewerbspolitik. Die Arbeitsteilung ist klar: Das Recht gilt im Alltag, die ökonomische Analyse übernimmt bei großen Anlässen mit politischer Bedeutung die Regie.163 Anstelle der Juristen entscheiden nun die Ökonomen.164 Den „More Economic Approach“ juristisch zu kritisieren, ist eine vergleichsweise dankbare Aufgabe. Eine Relativierung des Rechts durch externe Werte widerspricht der im Demokratieprinzip wurzelnden arbeitsteiligen Struktur des Rechtserzeugungsprozesses, die es dem Normadressaten in der Rechtsanwendung kategorisch verbietet, weiser oder klüger sein zu wollen als der Normgeber selbst.165 Der Adressat ist verpfl ichtet, die Norm mit dem Inhalt zu befolgen, den er ihr im Wege der Auslegung zuschreibt. Er darf das Recht nicht nur nicht durch eigene Wertungen korrigieren; er ist auch verpfl ichtet, (vermeintliches) eigenes empirisches Wissen, über das er wegen der Kenntnis des Einzelfalls und infolge Zeitablaufs gegenüber dem Normgeber zusätzlich verfügt, bei der Entscheidung auszublenden.166 Das Effizienzargument mag rechtspolitisch gehört werden, juristisch aber ist es irrelevant: dura lex, sed lex. Die Härte des Gesetzes fi ndet ihre inhaltliche Rechtfertigung auch darin, dass der Rechtsanwender oft nur glaubt, klüger zu sein als der Normsetzer. So haben auch ly evident that efficiency is the ultimate goal, and if agreements between fi rms or mergers lead to a higher degree of efficiency, then they should be allowed. Balance between competition and efficiency effects, as is assumed in Article 81 (3) [Art. 101 Abs. 3 AEUV] or (as an efficiency defence) in merger control, does not make much sense.“ 161 Die Forderung, dem Ziel der Effi zienz im Kartellrecht durch „geeignete Interpretation und Auslegung der Sachverhalte“ und durch „Uminterpretation von Begriffen“ Raum zu geben, erhebt. Dieter Schmidtchen, Freiheit oder Effi zienz als Rechtsprinzip?, in: Viktor J. Vanberg (Hrsg.), Evolution und freiheitlicher Wettbewerb, 2009, S. 79 (91). 162 Zitiert nach Dieter Schmidtchen, Effi zienz als Leitbild der Wettbewerbspolitik, in: Peter Oberender (Hrsg.), Effi zienz und Wettbewerb, 2005, S. 9 (10). 163 So weist Oliver Budzinski, „Wettbewerbsfreiheit“ und „More Economic Approach“, in: Marina Grusevaja u. a. (Hrsg.), Festschrift Norbert Eickhof, 2008, S. 15 (20) darauf hin, dass auch im Rahmen des More Economic Approach „keinesfalls jeder Einzelfall ausführlich und individuell geprüft wird“. 164 Vgl. Josef Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: Armin v. Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 921, 934. – Die Auseinandersetzung um den „More Economic Approach“ ist deshalb nicht zuletzt auch ein Kampf der Disziplinen um Anteile an dem lukrativen Markt für Beratungsdienstleistungen. 165 Eine schöne Formulierung dieses Gedankens fi ndet sich bei Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1964, besorgt von Konrad Zweigert, S. 158: „Der Rechtsnorm widerfährt aber in dem Augenblicke, in dem sie die schaffende Hand des Gesetzgebers verläßt, eine merkwürdige Wandlung: um eines Zweckes willen geschaffen, will sie doch nicht um dieses Zweckes willen, sondern um ihres bloßen Daseins willen angewandt werden, und nicht nur, soweit sie diesem Zwecke wirklich dient, sondern unbedingt.“ 166 Vgl. dazu Viktor J. Vanberg, Wettbewerbsfreiheit und ökonomische Effi zienz: Die ordnungsökonomische Perspektive, in: ders. (Hrsg.), Evolution und freiheitlicher Wettbewerb, 2009, S. 107 (121 ff.).
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Ökonomen darauf hingewiesen, dass die absolute Bindung von Behörden und Wettbewerbsakteuren an das Recht trotz dem damit verbundenen Verlust an Entscheidungsflexibilität insgesamt ökonomische Vorteile zeitigt.167 Es ist ökonomisch sinnvoll, dass das Recht auch die Befolgung einer im Einzelfall ineffizienten oder im Einzelfall zu Ineffizienzen führenden Norm verlangt. 168 Die Alternative zum Recht nämlich ist die Anarchie mit ihren gewaltigen Transaktions- und Unsicherheitskosten.169
2. Die Selbstentmachung des Rechts a) Die Prinzipien „hinter“ der Norm Der „More Economic Approach“ beinhaltet Selbstermächtigungen des Rechtsanwenders zur Ausnahme vom Recht. Die Ausnahme vom Recht kann aber auch ihrerseits verrechtlicht, also mit mehr oder weniger guten Gründen als eine in der Rechtsordnung angelegte Kompetenz ausgegeben werden.170 Das Recht entmachtet sich dann selbst. Die wichtigste Technik hierzu ist eine teleologische Geltungsreduktion des Rechts. Die einzelnen Normen gelten nicht mehr uneingeschränkt, sondern werden an hinter ihnen stehende, im Recht selbst verankerte Geltungsregeln gebunden. Diese „Sekundärnormen“ begreifen die Normen als Mittel zur Förderung eines Zwecks, das heißt sie ordnen die Geltung der Normen (nur) insoweit an, als sie dem Zweck tatsächlich zu dienen geeignet sind. Selbst auf ein und derselben Ebene der formalen Normenhierarchie werden noch solche Ableitungsbeziehungen hergestellt (z. B. werden die einzelnen Freiheitsgrundrechte an den Grundsatz Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG zurückgebunden), aus denen heraus die Normen nicht nur interpretiert, sondern auch relativiert werden. Die Geltung des Rechts wird in die Schablone der Mittel-Zweck-Rationalität eingefügt, deren Anwendung in den Händen des Rechtsanwenders liegt. Werden im einzelnen Anwendungsfall Störungen der Zweck-Mittel-Rationalität erkennbar, hat der Rechtsanwender die Kompetenz, die störende Norm unangewendet zu lassen. Auch wenn es sich dabei keineswegs um ein auf die Grundrechte oder die Verfassung zu beschränkendes Phänomen handelt,171 muss an dieser Stelle doch wieder die 167
Zu der zugrundeliegenden philosophischen Diskussion über den sog. Regelutilitarismus Otfried Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 4. Aufl. 2008, S. 28 ff. 168 Zu den ökonomischen Vorzügen der Rechtssicherheit etwa André Schmidt/Michael Wohlgemuth, Das Wettbewerbskonzept der EU aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften: Wie ökonomisch ist der „more economic approach“?, in: Hermann-Josef Blanke/Arno Scherzberg/Gerhard Wegner (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs, 2010, S. 51 (63 ff.). Aus juristischer Perspektive Josef Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: Armin v. Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 933 ff. 169 Vgl. James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, 1984 [zuerst engl. 1975], S. 158. Prägnante ökonomische Analyse der Anarchie bei Friedrich Breyer/Martin Kolmar, Grundlagen der Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. 2005, S. 86 ff. 170 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995 [zuerst 1993], S. 413, spricht von „sich selbst genehmigenden Rechtsbrüchen“. Dahinter steht das Anliegen einer „Schließung“ des Rechtssystems. 171 Zutreffend erkannte Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20
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Prinzipientheorie der Grundrechte bemüht werden, denn sie hat die Technik der teleologischen Geltungsreduktion des Rechts besonders klar beschrieben. Nach dieser Theorie, so hieß es oben, ist der außenrechtlich relevante Inhalt der Verfassung im Wege der Abwägung zweier verfassungsrechtlicher Prinzipien zu fi nden. Doch ist das nicht alles. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Geltung der Verfassung wird in Prinzipien verankert. Eine in der Verfassung ausgedrückte Norm gilt nur, weil und soweit sie das Ergebnis einer Abwägung von Prinzipien ist. Grundsätzlich wird zwar das Abwägungsergebnis respektiert, zu dem der Verfassungsgeber gelangt ist und das er im Verfassungstext ausgedrückt hat. Die Prinzipientheorie vermeidet es damit, die Mittel-Zweck-Schablone vollständig dem Rechtsanwender zu überantworten und die Positivität des Rechts aufzugeben. Der Anwender ist aber gleichwohl dazu aufgerufen, die Abwägung der Prinzipien, zu denen auch der Wille des Verfassungsgebers und die Bindung an den „Wortlaut“ der Verfassung gehören, im Einzelfall selbst nachzuvollziehen. Erweist sich das vom Verfassungsgeber gefundene und positivierte Abwägungsergebnis im konkreten Fall als falsch, so ist der Inhalt der Verfassung zu korrigieren.172 Die Einzelfallgerechtigkeit verschafft sich Luft gegenüber der Verrechtlichung der Rechtserzeugung. Eine stärker „naturrechtliche“ Rechtskonzeption lehnt sich gegen den Positivismus auf, versteckt sich allerdings ihrerseits hinter einer verfassungsrechtlichen Regel, nämlich dem ungeschriebenen Abwägungsgebot. Die Wechselbezüglichkeit von Verrechtlichung und Schwächung des Rechts wird einmal mehr offenbar.
b) Das Beispiel der Wunsiedel-Entscheidung Verdeutlichen lässt sich die Selbstentmachtung des Rechts an der Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. In dieser ging es um das versammlungsrechtliche Verbot einer Rudolf-Heß-Gedenkkundgebung in Oberfranken. Zu prüfen war im Wesentlichen die Verfassungskonformität des § 130 Abs. 4 StGB, der es verbietet, die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft zu billigen, zu verherrlichen oder zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht ließ diese Vorschrift unbeanstandet, obwohl es sie als Eingriff in die Meinungsfreiheit ansah und ihr die Qualität als „allgemeines Gesetz“ im Sinne der Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 Var. 1 GG absprach und auch die anderen Schranken als nicht einschlägig er(1963), 53 (54), schon seinerzeit den „kennzeichnende[n] Zug der heutigen Methodendiskussion“ im Zivilrecht darin, „daß sie vom archimedischen Punkt der Rechtsprechung aus – hinter das Gesetz zurück und über es hinausfragend – die Struktur der Jurisprudenz [. . .] als praktischer Disziplin offenzulegen sucht“. 172 Dazu Jan Henrik Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, 756 (759). – Zutreffende Kritik an dieser Rechtsanwendungstechnik auch bei Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 27. Aufl. 2011, Rn. 645: Als hätten die an der Entstehung und Inkraftsetzung des Grundgesetz beteiligten Kräfte „ihre zentralen Anliegen nicht ausdrücklich ins Grundgesetz schreiben können und auch geschrieben“; Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Grundrechtsdogmatik im Schatten der Vergangenheit, JZ 2010, 1088 (1095): „Auf diese Weise wird eine verfassungsnormativ bereits entschiedene Frage einem Abwägungsmechanismus unterstellt, der notwendig auf den jeweiligen Einzelfall, die konkrete Situation und die Gewichtung der dort anzutreffenden Interessen bezogen ist. Damit geht die an dieser Stelle von der Verfassung geleistete Orientierungswirkung jedenfalls partiell verloren.“
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achtete. Ein in die Meinungsfreiheit eingreifendes Gesetz müsse ausnahmsweise nicht allgemein sein, wenn es der Verhinderung nachteiliger Wirkungen einer „Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes“ diene.173 Auf den ersten Blick mag es scheinen, als stellten sich die Verfassungsrichter damit offen als „Staatsbürger in Roben“ gegen das Grundgesetz. Doch die Dinge liegen viel schwieriger. Das Gericht behauptet nicht, dass sich das Grundgesetz als nicht ausreichend wehrhaft gegen das Fortleben oder Wiederaufleben nationalsozialistischen Gedankenguts erweist und deshalb im Einzelfall unbeachtet bleiben müsse. Es entdeckt vielmehr eine „Verfassung hinter der Verfassung“174, ein „inneres Gerüst“175, eine „Identität“ der grundgesetzlichen Ordnung, der zufolge das Grundgesetz ein „Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“176 ist. Die Verfassung wird nicht aufgehoben, sie wird wehrhaft gemacht. Von einer auf der Grundlage der „Identität des Grundgesetzes“ erfolgenden Auslegung eines Identitätsprinzips kann dabei nicht die Rede sein. Bei der Auslegung des Begriffs des „allgemeinen Gesetzes“ verliert das Gericht zur Problematik des Umgangs mit dem Nationalsozialismus nicht einmal ein Wort. Das Identitätsprinzip dient ihm vielmehr dazu, die fertig ausgelegte Bestimmung im Einzelfall unangewendet zu lassen.177 Das Identitätsprinzip ist eine in der Verfassung selbst angelegte Geltungsbeschränkung:178 Die Normen des Grundgesetzes gelten nur insoweit, als nicht ihre Nichtgeltung zur Abwehr einer Wiederholung des nationalsozialistischen Unrechts erforderlich ist.179 Eine Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien wie dem der Rechtssicherheit („Wortlaut“), zu der die Bedeutungssicherheit der Normen gehört,180 und dem Willen des Verfassungsgebers fi ndet nicht statt. Insoweit bleibt das Urteil weit hinter der Perfektion der Prinzipientheorie zurück. Schon angesichts der Unmöglichkeit, das Identitätsprinzip methodengerecht zu begründen, wird man sagen müssen, dass das Bundesverfassungsgericht den Schein der rechtlichen Legitimität seiner Entscheidung zu wahren sucht, den Boden der verfassungsrechtlichen Argumentation in Wahrheit aber längst verlassen hat.181 Letzt173
BVerfG, Beschl. v. 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 (327 ff.). Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009. 175 BVerfG, Beschl. v. 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 (328). 176 BVerfG, Beschl. v. 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 (328). 177 Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (419): Eine „sorgfältig herausgearbeitete Auslegung einer anderen Verfassungsbestimmung“ wird durch die „Absage an den Nationalsozialismus“ beiseite geschoben. 178 Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Grundrechtsdogmatik im Schatten der Vergangenheit, JZ 2010, 1088 (1094), sprechen von einer „spezifi sche[n] Denkfigur, wonach in exzeptionellen Konstellationen Abweichungen von ‚normalen‘ verfassungsrechtlichen Anforderungen gestattet sein sollen“. 179 Wobei allerdings nicht klar ist, weshalb die Gutheißung des nationalsozialistischen Unrechts dann überhaupt als Meinungsäußerung dem Grundrechtsschutz unterfällt: Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (418); Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Grundrechtsdogmatik im Schatten der Vergangenheit, JZ 2010, 1088 (1091, 1094). 180 Winfried Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), 1 (3). 181 Oliver Lepsius, Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch Sonderrecht, Jura 2010, 527 (535); Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 27. Aufl. 2011, Rn. 645: „unverständliche Ausnahme“. Nach Benjamin Rusteberg, Die Schranken der Meinungsfreiheit gegen Rechts, StudZR 2010, 159 (163), ignoriert das Bundesverfassungsgericht „das von ihm selbst gefundene Ergebnis seiner 174
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lich will das Gericht wohl nicht einmal rechtsfortbildend wirken, sondern nur eine Kompetenz zur Ausnahme182 von der Verfassung für sich in Anspruch nehmen. Das zeigt sich schon daran, dass die Richter die Verwaltung des Identitätsprinzips bei sich monopolisieren wollen183 und es ausdrücklich ablehnen, dem Grundgesetz ein „allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“ zu entnehmen184 – obwohl sie selbst nur wenige Zeilen zuvor eben dieses Grundprinzip angewendet haben. Das Bundesverfassungsgericht macht sich zum Hüter der Rechtsdogmatik. Es verteidigt diese gegen seine eigene Entscheidung. Gerade damit erklärt es sich selbst stillschweigend zu einer nicht an das Recht gebundenen Instanz.
3. „Mut zur Rechtswidrigkeit“ oder „Notstandslegalismus“? Wie eben herausgearbeitet wurde, gibt es zwei Grundstrategien im Umgang mit „Ausnahmen vom Recht“. Der Rechtsanwender kann die Ausnahme in das Recht selbst hineinholen, also versuchen, sie als Operation des Rechtssystems zu legitimieren. Das ist die Lösung der Prinzipientheorie und des Bundesverfassungsgerichts im Fall Wunsiedel. Josef Isensee hat insoweit von einer deutschen Neigung zum „Notstandslegalismus“ gesprochen.185 Der Rechtsanwender kann sich andererseits offen zum Rechtsbruch im Ausnahmefall bekennen und auf nachsichtige Kontrollinstanzen hoffen. Das ist der More-Economic-Approach. Die Rechtswissenschaft befindet sich in einem Dilemma: Ist es besser, offen rechtswidrig zu handeln und damit das (vermeintlich) ethisch, vielleicht das ökonomisch Richtige zu tun? Stärkt das unsere Sensibilität für die Unvollkommenheit allen Rechts als das beste Bollwerk gegen jede Form von Totalitarismus? Ist einer im Regelfall disziplinierten, handhabbaren Dogmatik mit der Ehrlichkeit der Ausnahme mehr gedient?186 Oder muss das Recht auch im Ausnahmefall gelten, sollte die Ausnahme notfalls aus der dunklen Tiefe eines Verfassungstextes heraus gerechtfertigt werden?187 In der Rechtspraxis dominiert dogmatisch-systematischen Interpretation“. Ähnlich Jan Philipp Schaefer, Wie viel Freiheit für die Gegner der Freiheit?, DÖV 2010, 379 (384 f.). 182 Benjamin Rusteberg, Die Schranken der Meinungsfreiheit gegen Rechts, StudZR 2010, 159 (166): „Ad-hoc-Ausnahme“. 183 Matthias Hong, Das Sonderrechtsverbot als Verbot der Standpunktdiskriminierung – der Wunsiedel Beschluss und aktuelle versammlungsgesetzliche Regelungen und Vorhaben, DVBl. 2010, 1267 (1271): „erkennbar als nicht auf andere Fälle übertragbar gedacht“. Oliver Lepsius, Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch Sonderrecht, Jura 2010, 527 (535), bemerkt dazu: „Quod licet Iovi non licet bovi.“ 184 BVerfG, Beschl. v. 4. 11. 2009 – 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 (330). 185 Josef Isensee, Der Verfassungsstaat als Friedensgarant, in: Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/ Thomas Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates. Symposium aus Anlass des 60. Geburtstages von Paul Kirchhof, 2003, S. 7 (37). 186 Oliver Lepsius, Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch Sonderrecht, Jura 2010, 527 (535): „Besser eine ehrliche einmalige Ausnahme als ein ergebnisorientiertes Verbiegen bewährter Grundsätze“. Ähnlich Benjamin Rusteberg, Die Schranken der Meinungsfreiheit gegen Rechts, StudZR 2010, 159 (167): Durch den „deutlichen Bruch“ könne „die Dogmatik in den anderen Fällen in sich stimmig bleiben“. 187 In einer weniger stark materialisierten Rechtsordnung lautete die Alternative: Positivismus oder Inkorporation moralischer Prinzipien in das Recht. Hierzu H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2002 [zuerst 1961], S. 210: „What surely is most needed in order to make men clear-sighted in confronting
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verständlicherweise die Neigung, die Legitimität des Rechts für sich in Anspruch zu nehmen, sie damit allerdings zugleich für zukünftige Fälle zu schwächen.
D. Die Doppelbewegung Damit sind die Prozesse zur Schwächung des Rechts aus einer eher dogmatischtechnischen Perspektive beschrieben. Wir haben gesehen, wie die Auslegung zu einem fortwährenden Diskurs einer offenen Gesellschaft von Interpreten wird, wie Verfahren der Rechtsbildung hinzukommen und wie das Recht mit Ausnahmen durchzogen wird. Nun ist zu sehen, inwieweit diese Entwicklungen entsprechend der These von der Doppelbewegung gerade aus der Verrechtlichung folgen.
I. Verlagerung der Systembildung auf die Rechtsanwendung Das Schwinden der Legalität vollzieht sich, wie gezeigt wurde, vor allem in der Erweiterung der Auslegung zur Rechtsbildung. Die erste Anmerkung zur These von der Doppelbewegung nun ist, dass die Rechtsbildung ihrerseits Ausdruck des Bemühens des Rechts ist, sein durch Verrechtlichung verlorenes inneres „System“ zurückzugewinnen. Weil die Kohärenz des Rechts auf der Ebene der Rechtsetzung nicht mehr zu gewährleisten ist, wird ihre Pflege auf die Rechtsanwendung verlagert.
1. Das verlorene System „System“ ist ein Begriff, den Juristen gerne benutzen, aber selten definieren. Der Anspruch auf das System kann sich aus so unterschiedlichen Quellen ableiten wie aus dem Selbstverständnis des Rechts (System als Teil des Rechtsbegriffs) und der Rechtswissenschaft (System als Bedingung von Wissenschaft), aus normativen Erwartungen an das Recht (System als Rechtsgebot) und aus der Methodenlehre (systematische Auslegung). Vorliegend wird der Systembegriff deskriptiv verwandt und als Bedingung für die Herstellung gleichheitskonform begründbarer Entscheidungen von Rechtsfällen verstanden. Das Recht ist ein „System“, wenn seine Normen frei von logischen Widersprüchen sind, sie als Ausdruck gemeinsamer oder zumindest einander nicht widersprechender Wertungen verstanden werden können und die Ergebnisse der Auslegung von Rechtssätzen demzufolge zur Begründung der Auslegung anderer Rechtssätze eingesetzt werden können. Hinter diesem Systembegriff steht das Bild vom Recht als einer „Pyramide“, das in juristischen Vorlesungen und Lehrbüchern auch heute noch gerne verwandt wird. the official abuse of power, is that they should preserve the sense that the certification of something as legally valid is not conclusive of the question of obedience, and that, however great the aura of majesty or authority which the official system may have, its demands must in the end be submitted to a moral scrutiny.“
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Die Normen sind in eine formale und materielle Hierarchie eingebettet. Sie laufen nach oben hin in einem Punkt aus, der das Recht sowohl inhaltlich dirigiert als auch entgegenstehendes Recht derogiert. Anders als bei einer echten Pyramide tragen also nicht die unteren Steine die oberen; vielmehr wird die Pyramide von oben her gebaut, mit Ableitungen aus den höherrangigen Normen und mit rechtspolitischen Zutaten. Je tiefer eine Normgebung in dieser Hierarchie erfolgt, desto dichter werden die rechtlichen Bindungen und desto höher wird zugleich das Tempo der politisch induzierten Änderungen. Die Pyramide steht deshalb niemals auf sicherem Grund, sondern wird fortlaufend neu erzeugt. Während die Pyramidenmetapher in formeller Hinsicht, also insbesondere hinsichtlich des Vorrangs des Unionsrechts und der Verfassung, noch recht gut funktioniert, stößt sie in materieller Hinsicht an erkennbare Grenzen. Zwar zieht der formelle Vorrang der höheren Ebenen der Pyramide in einer wirksamen Rechtsordnung auch materielle Einflüsse nach sich. Nicht zutreffend wäre es aber zu glauben, dass sich die Inhalte ausschließlich von oben nach unten vermitteln könnten. Normen fallen nicht durch den Akt eines Normsetzers vom Himmel, sondern müssen in einem oft Jahrzehnte dauernden Prozess juristischer Auslegung – auch im Wechselspiel mit zwischenzeitlicher neuer Normsetzungsaktivität – ihren Inhalt erst finden.188 Oft treten die höherrangigen Normen in diesem Normbildungsprozess nur als Maßstabsnormen für die darunter liegenden Rechtsschichten in Erscheinung. So wird der Inhalt eines Grundrechts vom Bundesverfassungsgericht oft (erst) dann bestimmt, wenn aus Anlass eines Rechtsstreits über die Gültigkeit eines Gesetzes zu befi nden ist. Dass dabei auch die niedrigere Norm Einfluss auf die höhere nimmt, ist wahrscheinlich. So ist es das zur Prüfung gestellte Parlamentsgesetz, das die „Fragen an die Verfassung“ diktiert und aus seinem eigenen Sosein zugleich die möglichen verfassungsrechtlichen Antworten beschränkt. Das Bundesverfassungsgericht neigt nicht zu radikalen Entwürfen, die das einfache Recht vollständig in die Nichtigkeit führen. Es versteht das zu prüfende Recht aus den etablierten Routinen heraus, setzt beim Vorhandenen an, mäßigt die politische Idee, ändert den gesetzlichen Entwurf. Das Gericht versteht die Verfassung damit überwiegend als Teil der Rechtsordnung, als „systemimmanentes“ Widerlager, nicht als außenstehenden Korrekturfaktor. Der Inhalt der Verfassung ist deshalb auf das Ganze gesehen ein „Kompromiss“ auch mit dem einfachen Recht. Das Recht entsteht insofern nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben.189 Aus der Hierarchie wird ein „Gegenstromprinzip“.190 Auf der Makroebene spiegelt sich das Gegenstromprinzip darin, dass die formelle Normenhierarchie die historische Entwicklung des Rechts gleichsam umkehrt, indem sie das Verfassungsrecht über das einfache Recht und das supra- und internationale Recht über das nationale Recht stellt. Es werden nachträglich Maß188 Den prozesshaften Charakter der Verfassungsinterpretation betont Peter Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung, ZSR 97 (1978), 1 (3, 25 f.). 189 Peter Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung, ZSR 97 (1978), 1 (3): Verfassungsauslegung vollzieht sich im Spannungsfeld von verfassungsrechtlichem Grundsatz und „unterverfassungsrechtlicher“ Norm. Siehe auch ebd., S. 26 f., mit Beispielen. Am Beispiel des Verwaltungsrechts Jens Kersten, Was kann das Verfassungsrecht vom Verwaltungsrecht lernen?, DVBl. 2011, 585 ff. 190 Über die rechtsnormativ und -methodisch zulässigen Argumente bei der Auslegung ist damit nichts gesagt. Dargestellt wird ein rein faktischer Vorgang inhaltlicher Einflussnahme.
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stabsnormen für eine Rechtsordnung geschaffen, die in ihrer Substanz schon vorhanden ist und durch den neuen „Überbau“ auch erkennbar nicht gänzlich beseitigt werden soll. Selbst nach dem zweiten Weltkrieg entschied sich Deutschland bekanntlich nicht für eine Totalrevision des Rechts, sondern für einen Erhalt seiner Grundsubstanz, freilich dirigiert und überformt vom „Wertehimmel“ der Verfassung.191 Gestört wird das Bild von der Pyramide schließlich durch Europäisierung und Internationalisierung.192 Je mehr Rechtsstoff auf die nationale Pyramide „herabschneit“193 und dabei weniger auf die Spitze trifft, als vielmehr an den Flanken der Pyramide herabgleitet und sich in den Rissen und Löchern ihres Mauerwerks verfängt, desto mehr Bedeutung erlangen die unteren Ebenen der Pyramide. Die Hierarchien werden geschliffen und mitunter scheint es, als würde die Pyramide geradezu auf den Kopf gestellt; formeller Rang und materielle Bedeutung der Rechtsquellen fallen auseinander.194
2. Verselbständigung der Rechtsanwendung Je mehr Rechtsnormen es gibt und desto weniger es gelingt, das Bild des aus einer Quelle fl ießenden und damit nicht nur formal, sondern auch materiell hierarchisierten Rechts zu verteidigen, desto schwerer ist der Anspruch auf ein von allen Interpreten im Wesentlichen mitgetragenes, über das Grunderfordernis der logischen Widerspruchsfreiheit hinausgehendes195 System aus Rechtsbegriffen einzulösen.196 Rechtspointilismus tritt an die Stelle der Kodifi kation.197 Es kommt zu Redundanzen und zu Reibungen zwischen den verschiedenen normativen Ebenen. Ständig treten neue Faktoren mit normativem Anspruch in das Spiel ein. Alles scheint irgendwie mit allem in Beziehung zu stehen, das Recht wird zu einem Netzwerk, das sich nicht so schnell entflechten lässt.198 Besonders deutlich ist diese Entwicklung im 191 Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2006, § 19 Rn. 1: Wiedergeburt aus dem Geist der Grundrechte. 192 Michael Stolleis, Vormodernes und postmodernes Recht, Merkur 2008, 425 (426): „Die Rechtsordnung ist keine Pyramide mehr.“ 193 Ausdruck bei Michael Stolleis, Vormodernes und postmodernes Recht, Merkur 2008, 425. 194 Hinsichtlich der EMRK Uwe Volkmann, Fremdbestimmung – Selbstbehauptung – Befreiung, JZ 2011, 835 (836). Das BVerfG billigt der EMRK nunmehr – obwohl sie im formellen Rang unter der Verfassung steht (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG; Thomas Giegerich, in: Rainer Grote/Thilo Marauhn [Hrsg.], Konkordanzkommentar EMRK/GG, 2006, Kap. 2 Rn. 15 ff.) – eine „Orientierungs- und Leitfunktion“ für die Auslegung des Grundgesetzes zu (BVerfG, Urt. v. 4. 5. 2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326 [368]). 195 Stefano Bertea, Looking for Coherence within the European Community, ELJ 11 (2005), 154 (156). 196 Für das Unionsrecht Joseph Raz, The Relevance of Coherence, in: ders., Ethics in the Public Domain, 1994, S. 280 (281): „a hodgepodge of norms derived from the confl icting ideologies and the pragmatic necessities which prevailed from time to time over the many years of evolution“. Am Beispiel des Umweltrechts Jan Henrik Klement, Die Kumulation von Grundrechtseingriffen im Umweltrecht, AöR 134 (2009), 35 (57 ff.). 197 Zum europäischen Recht Armin von Bogdandy, Deutsche Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum, JZ 2011, 1 (2). 198 Nach den Worten von Thomas Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegen-
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von Anfang an horizontalen199 und dekonzentrierten Völkerrecht. Die „Fragmentierung“ des Völkerrechts gilt heute geradezu als Zwillingsbegriff der „Konstitutionalisierung“.200 Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verstärkte die ungeordnete Pluralität von Akteuren, Verfahren, Maßstäben und Kontrollmechanismen. Immer mehr Autoren stellen deshalb die Pyramide in die Vitrine für ausgediente Metaphern und ersetzen sie durch geometrisch weniger präzise Ausdrücke wie „Mehrebenensystem“, letztlich Sinnbild der Unmöglichkeit, die Vielfalt des modernen Rechts in einfachen Formeln anschaulich zu machen. Die Verrechtlichung und die mit ihr verbundene Dehierarchisierung des Rechts führen damit zu einer wachsenden Lücke zwischen Systemanspruch und System. Die Rechtsanwendung muss sich vom Rechtsstoff emanzipieren, um noch gleichheitskonform Fälle entscheiden und begründen zu können. Die Gegenreaktion des Rechts auf das „verlorene“ System ist also die Bekräftigung des Systemgedankens. Sie vollzieht sich zum einen in Versuchen, die Rechtsetzung normativ auf das System zu verpfl ichten, sie also in den Idealzustand zurückzuführen. Beispiele dafür sind die vom Bundesverfassungsgericht formulierten Gebote der Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit, von denen schon die Rede war.201 Zum anderen und vor allem aber lebt der Systemgedanke in der Erweiterung der Auslegung zur Rechtsbildung fort. Der Rechtsanwendung wird der Bewegungsspielraum verschafft, den sie braucht, um „systembildend“ wirken zu können.202 Die verfassungskonforme und die richtlinienkonforme Auslegung etwa schaffen Kohärenz im Vertikalen, die systematische Auslegung Kohärenz im Horizontalen.203 Der Systemgedanke und der letztlich hinter ihm stehende Anspruch auf eine gleichheitskonforme Begründbarkeit von Entscheidungen werden über die Bindung an das positive Recht gestellt. Der Vorgang der „Verrechtlichung“ führt damit scheinbar paradoxerweise sowohl zu einer stärkeren Bindung des Normadressaten als auch zu einer Entmachtung des Normsetzers.
stands: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 41 (64), gibt es in dem „weltweiten Netzwerk von Rechtskommunikationen kein Oben und kein Unten, kein Zentrum und keine Peripherie, keinen Ursprung und keinen letzten Grund mehr“. 199 Rosalyn Higgins, Problems and Process: International Law and how we use it, 1994, S. 1: „domestic law operates in a vertical legal order, and international law in a horizontal legal order“. 200 Zum unterschiedlich bewerteten Phänomen der Fragmentierung Champbell McLachlan, The Principle of Systematic Integration an Article 31 (3) (c) of the Vienna Convention, ICLQ 54 (2005), 279 (284 ff.); Carmen Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1 (3 ff.). 201 S. oben B. II. 202 Ein Beispiel ist die vom Bundesverfassungsgericht betriebene „flexible“ Einpassung der EMRK in das deutsche Verfassungsrecht. Uwe Volkmann, Fremdbestimmung – Selbstbehauptung – Befreiung, JZ 2011, 835 (838), bemerkt hierzu, es handele sich „im Grunde“ überhaupt nicht um Dogmatik. Die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts sei aber „pragmatisch und effi zient“, weil sie ihm die Spielräume erhalte, „die es vielleicht künftig noch brauchen wird“. 203 Siehe aber auch die Warnung bei Stefano Bertea, Looking for Coherence within the European Community, ELJ 11 (2005), 154 (159): Das Streben nach Kohärenz erlaube es nicht „to ignoring the law’s complexity or to espousing an unrealistic ideal of a tensionless legal order“.
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3. Beschleunigung des Rechts Die Beschleunigung des Rechts ist Unübersichtlichkeit in der Zeit. Sie tritt als eigenständiger, zum „Systemverlust“ beitragender Wirkungsfaktor neben die Verrechtlichung und Dehierarchisierung des Rechts. „Beschleunigung“ heißt, dass das positive Recht zum einen immer schneller ersetzt wird, es zum anderen aber trotzdem chronisch verspätet ist.204 Die Geschwindigkeit der Rechtsetzung führt dazu, dass die Rechtsanwendung Rechtsfragen entscheiden muss, zu denen der rechtswissenschaftliche Diskurs wegen seines besonderen Zeitbedarfs noch nicht vorgedrungen ist. Immer mehr Entscheidungen sind „Leitentscheidungen“, also Produkte einer im Werden befi ndlichen, naturgemäß besonders „verletzlichen“ Dogmatik. Die Gesetze treten außer Kraft, bevor sie „Vollzugsreife“ erreichen.205 Die Verspätung des Rechts schließlich hat zur Folge, dass die Rechtsanwendung mit Fragen konfrontiert wird, auf die nicht einmal der Gesetzgeber eine Antwort gegeben hat, möglicherweise sogar mit Fragen, auf die jede Antwort des Gesetzgebers zu spät käme und deshalb sinnlos wäre. Das durch das Tempo geschwächte Rechtssystem wird mithin gerade wegen des Tempos in besonderem Maße benötigt, um gesellschaftliche Fragen zu lösen. Der Außenanspruch an das politisch-rechtliche System bedingt damit eine Relativierung der Grenze zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung.206 Rechtsprechung löst sich aus ihrem Vergangenheitsbezug207 und wird zur Zukunftsgestaltung.
II. Die Idealisierung des Rechts Die zweite Kausalitätskette, die zum Schwinden der Legalität führt, nimmt ebenfalls in der Verrechtlichung ihren Ausgangspunkt. Je weiter die rechtlichen Bindungen ausgreifen, desto mehr kognitive und ökonomische Ressourcen nehmen sie in Anspruch, desto mehr Anlass haben die Normadressaten, das Recht insgesamt zu einer bloßen regulativen Idee zu erklären. Rechtmäßiges Verhalten wird als Ideal begriffen, das auf Erden ohnehin niemand erreichen kann und das deshalb wie im „More Economic Approach“ einzelfallbezogen korrigierbar ist. Alltagserfahrungen wie die Abgabe einer (selbsterstellten) Steuererklärung oder der Versuch einer korrekten Entsorgung aller Haushaltsabfälle bestärken die Normadressaten in der Vorstellung, dass auch „die anderen“ das Recht unmöglich genau beim Wort nehmen können. Sie wähnen ihr Handeln von einem stillschweigenden Konsens der Illegalität getragen und reagieren umso erstaunter und geradezu verärgert, wenn der Rechts204
Wolfgang Kahl, Die Innovationsfunktion des Rechts, ZRph 2004, 1 (4). In den Anstrengungen zur Bewältigung der Finanzkrise beschleunigte sich die Politik zwar zum Teil auf ein atemberaubendes Tempo, doch ist zu bedenken, welche ungeheure, andere dringliche Vorhaben hindernde Kraftanstrengung hierzu erforderlich war. 205 Franz Reimer, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 100, weist darauf hin, dass Gesetze mitunter erst Jahre nach ihrem Inkrafttreten Vollzugsreife erreichen. 206 Vgl. Günter Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, 853 (856 f.). 207 Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 97.
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staat nun ausgerechnet sie in die Schranken weist. Je mehr Entscheidungen verrechtlicht werden, desto ernster nimmt freilich auch das Rechtssystem selbst außerrechtliche Bedürfnisse und akzeptiert entweder den Rechtsbruch im Materiellen208 und im Formalen 209 oder es „flexibilisiert“ das Recht selbst. Die Verrechtlichung leitet damit eine besondere Variante des „Summum ius summa iniuria“210 ein.
III. Weitere Ursachen für das Schwinden der Legalität Nicht alle Ursachen für schwaches Recht lassen sich auf die Paradoxie der Doppelbewegung zurückführen. Es sind zumindest drei weitere Faktoren zu nennen.
1. Die Krise der Politik Das Rechtssystem produziert aus beliebigen Inhalten vollstreckbare Entscheidungen. Der juristische Diskurs reagiert auf schwaches Recht, indem er seine Toleranz gegenüber „eigentlich nicht justiziablen“ Normen erhöht und sich, wie es oft heißt, in fortlaufender Konkretisierung von Fall zu Fall selbst einen sicheren Grund zu schaffen sucht. Dieser Mechanismus ermöglicht und begünstigt den politischen Formelkompromiss.211 Der Öffentlichkeit wird Aktivität vorgetäuscht, während die echten Entscheidungen auf den Rechtsanwender verschoben werden. Die Erwartung, dass Verwaltung und Gerichte schon „irgend etwas“ aus dem unfertig gesetzten Recht machen werden, wird zum kleinsten gemeinsamen Nenner im politischen Betrieb. Schwaches Recht hat seine Ursache deshalb auch in einer Krise der Politik und des Politischen.
2. Die offene Gesellschaft der Interpreten Das Recht lebt von Voraussetzungen und wird von Umständen geprägt, auf die es selbst keinen oder nur einen begrenzten, indirekten 212 Einfluss zu nehmen vermag. Das gewandelte Verhältnis von Rechtsanwendung und Rechtsetzung ist auch Aus208
Vgl. Christian Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit“?, JZ 2007, 209 (217): „Verfassungsbruch als letzter Ausweg?“. – Exemplarisch zu den Vorzügen des „Vollzugsdefi zits“ im Umweltrecht Wolfgang Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle – Perspektiven, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S. 325 (355 f.). 209 Sichtbar etwa an der „Exekutivierung“ und „Entparlamentarisierung“ des staatlichen Handelns als Folge der Beschleunigung der Politik, vgl. Friedbert W. Rüb, Regierung, Regierungszentrale und Regierungsstile, in: Stephan Bröchler/Julia von Blumenthal (Hrsg.), Regierungskanzleien im politischen Prozess, 2011, S. 69 (75 ff.). 210 In Frageform Christian Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit“?, JZ 2007, 209 (217). 211 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 9. Aufl. 2003 [zuerst 1928], S. 31 f. 212 Hier ist vor allem an „organisatorische“ Vorgaben zu denken (z. B. Einrichtung und Ausstattung von Universitäten oder Fachhochschulen, Forschungseinrichtungen, Studiengängen, Lehrstühle oder Lehrprofessuren, Einzelrichter oder Kollegialorgane).
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druck einer neuen Soziologie des juristischen Diskurses, die Peter Häberle mit dem prägnanten Wort von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ beschreibt und einfordert.213 Die Rechtswissenschaft hat sich, nicht nur was die Verfassung angeht, sprichwörtlich „demokratisiert“. Sie ist nicht mehr nur Angelegenheit einiger weniger Weiser oder Kompetenter, deren Auslegung der Rechtstexte über Jahrzehnte wie in Stein gemeißelt ist. Natürlich gibt es zumal angesichts der immer stärkeren Ausdifferenzierung juristischer Diskurse auch weiterhin „Biotope“, in denen entweder die Gelehrten jeweils weitgehend für sich alleine leben oder, vielleicht noch öfter, die juristische Praxis von einer auf wenige Referenzgebiete fi xierten Wissenschaft im Stich gelassen wird.214 Nichtsdestotrotz oder vielmehr gerade deshalb interpretieren die Akteure aber auf allen Stufen des Rechtserzeugungsprozesses ihre Rolle aktiver, mündiger als dies einmal der Fall war. Autoritätsargumente, die das System vorhersehbar und kontrollierbar machen, haben an Einfluss verloren.215 Die Rechtswissenschaft ist immer noch konservativ, aber sie ist kritischer geworden und nimmt immer öfter auch eine Beobachterperspektive auf das Recht und auf sich selbst ein. Nicht zuletzt hat die reine Zahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen und an Professuren zugenommen, was die Herausbildung von „Schulen“ und anderen Machtzirkeln erschweren dürfte.
3. Wandel der Gerechtigkeitsvorstellung Schließlich ist eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse im fortwährenden Ringen zwischen Einzelfallgerechtigkeit und generalisierter Gerechtigkeit zu beobachten.216 Die Rückbindung rechtlicher Entscheidungen an das Vorabentschiedene, die sowohl das Demokratieprinzip wie auch das Rechtsstaatsprinzip einfordern, setzt die Bereitschaft voraus, eine Gleichbehandlung von Ungleichem in gewissem Umfang zu akzeptieren. Offenbar ist diese Bereitschaft im Zuge der Individualisierung und Globalisierung der Lebensverhältnisse weniger als früher vorhanden.217 Längerfristige Vorteile der Rechtsbindung, die sich insbesondere über die Rechtssicherheit218 213
Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297. Auch „klassische“ Rechtsgebiete wie das Beamtenrecht und das öffentliche Sachenrecht sind davon betroffen. 215 Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143 (148). 216 Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1964, besorgt von Konrad Zweigert, S. 37: „Die Gerechtigkeit enthält in sich eine unüberwindliche Spannung: Gleichheit ist ihr Wesen, Allgemeinheit ist deshalb ihre Form – und dennoch wohnt ihr das Bestreben inne, dem Einzelfall und dem Einzelmenschen in ihrer Einzigartigkeit gerecht zu werden.“ 217 Zur rechtskulturellen Bedingtheit der „Kompetenzverteilung“ auf Rechtsetzung und Einzelfallentscheidung Winfried Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), 1 (8). 218 Zur Alternative von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2002 [zuerst 1961], S. 130. Siehe auch Otto Bachof, Über öffentliches Recht, in: Festgabe 25 Jahre BVerwG, S. 1 (6), zu Einzelfalljustiz in der Rechtswegentscheidung: „Wer richterliche Praxis kennt, wird dafür Verständnis haben. Aber es fragt sich doch, ob solche Einzelfalljustiz nicht zu teuer erkauft wird, weil sie die Berechenbarkeit künftiger Entscheidungen weiter erschwert und damit vielen etwas nimmt, indem sie dem einzelnen gibt.“ Mangelnde Sensibilität der Ökonomie für die Vorteile der Rechtssicherheit konstatiert Wolfgang Kerber, Should competition law promote efficiency?, in: Josef 214
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aber auch über schnelle, weil standardisierte Entscheidungen vermitteln, werden nicht gesehen oder geringer geschätzt.219 Gerade unter der Bedingung der Ungleichheit kann Einzelfallgerechtigkeit niemals das abstrakt-generelle Gesetz, sondern nur eine Instanz herstellen, die Einzelfälle zu entscheiden hat und die Einzelfälle kennt.220 Die Rechtsanwendung muss also auf Distanz zum Recht gehen, oder besser: sie darf das Recht nicht mehr als etwas „Vorproduziertes“, sondern muss es als etwas im Einzelfall unter Berücksichtigung aller besonderen Umstände Herzustellendes ansehen. 221 Das kontinentaleuropäische Recht nähert sich damit der fallorientierten Reflexion des Common Law an,222 ohne allerdings auch die darauf abgestimmte angelsächsische methodische Kultur zu importieren.
E. Ausblick: Konsequenzen für die Unterscheidung von Recht und Politik Betrachten wir die Prozesse der Verrechtlichung und der Schwächung des Rechts, so ist zu sehen, wie die Extreme aus voller „politischer“ Entscheidungsfreiheit und reiner Rechtsbefolgung im politisch-rechtlichen System geschliffen werden.223 Die Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung bleibt zwar im Grundsatz erhalten, nur werden beide immer enger aneinander gekoppelt. Akte der Rechtsetzung sind zugleich Normvollzug, und umgekehrt besteht Normvollzug aus Rechtsetzung. Die rechtliche Präformation der Produktion von Recht durch das jeweils schon vorhandene, höherrangige Recht nimmt dabei auf den unteren Stufen des Normerzeugungsprozesses ab und auf den höheren Stufen zu. Einerseits verlängert sich die Rechtsbindung in den Kernbereich des Politischen hinein.224 Die Parlamentsgesetzgebung wird strukturell mit der Tätigkeit der Verwaltung und der Rechtsprechung vergleichbar. Andererseits wird die Rechtsanwendung selbst zum mehr kreativen Akt. Das Recht ist aus seiner relativen Ruhelage gestoßen. Es ist heute weniger das bewahrende Element, das Entscheidungen der Vergangenheit in die Zukunft Drexl/Laurence Idot/Joël Monéger (Hrsg.), Economic Theory and Competition Law, 2009, S. 93 (107 f.). Siehe zur ökonomischen Diskussion oben Fn. 168. 219 Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143 (159). 220 Arthur Benz, Normanpassung und Normverletzung im Verwaltungshandeln, in: Arthur Benz/ Wolfgang Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption, 1992, S. 31 (34): „pragmatische Regelanpassung“ durch die Verwaltung. 221 Nach Franz Reimer, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 102, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Ferment der Hinwendung zur Einzelfallgerechtigkeit. Man wird aber auch in die umgekehrte Richtung denken müssen: Im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfüllt sich die Sehnsucht nach Einzelfallgerechtigkeit. 222 Ausführlicher dazu Jan Henrik Klement, Common Law Thinking in German Jurisprudence, in: Matthias Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, 2012, S. 173 (190 ff.). Vgl. schon Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 (55 ff.). 223 In diesem Sinne schon Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (25). 224 Jürgen Habermas, Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, in: ders., Zur Verfassung Europas, 2011, S. 39 (45 f.): Das Politische als „demokratisch verrechtlichte Entscheidungs- und Gestaltungsmacht“.
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hinein fortschreibt. Es gleicht vielmehr einem Baukastensystem, aus dem in schneller Abfolge immer neue Modelle entstehen. Das Recht ist nicht mehr nur Mittel der Politik, es ist der Ort, an dem sich Politik im Wesentlichen vollzieht. Mit der Frage, was die Doppelbewegung aus Verrechtlichung und Entrechtlichung für die Unterscheidung von Recht und Politik bedeutet, gelangt die vorliegende Untersuchung an ihr Ende. Mit der meistens vorwurfsvoll gemeinten, nur selten präzise erklärten 225 Redeweise von einer „Entpolitisierung“226 oder – was wohl das Gleiche heißen soll – „Juridifizierung“227 der Politik bei gleichzeitiger Politisierung des Rechts228 ist es hier nicht getan. Statt eine vollständige Analyse des Wandels der Beziehungen von Politik und Recht zu versuchen, seien abschließend nur einige Thesen formuliert: 1. Die Verrechtlichung führt zu einer „Entpolitisierung der Politik“. Darunter wird verstanden, dass der Inhalt der Entscheidungen, die das politisch-rechtliche System nach außen trifft („Politik“ als Ergebnisbegriff ), in stärkerem Maße durch das Rechtssystem und seine Techniken, durch Auslegung und Rechtsbildung festgesetzt wird.229 Der „freien“ politischen Diskussion wird also „Stoff “ entzogen 230, und durch ein Denken vom Recht her ersetzt.231 Dem hierdurch erreichten Gewinn an inhaltlicher und prozeduraler Rationalität der Entscheidung steht eine geringere Zukunftsoffenheit der Normgebung gegenüber.232 Vor allem aber wird die Entscheidungslegitimation vom politischen Mehrheitsprinzip auf die juristische Begründung verlagert und damit zugleich an Wertungen zurückgebunden, die in der Vergangenheit getroffen und vom Recht „auf bewahrt“ wurden. Die Regeln der „Gegenwarts“demokratie, angefangen bei der Wahl von Abgeordneten durch das Volk bis hin zur Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, verlieren an sachlicher 225 Zutreffend Basil Bornemann, Politisierung des Rechts und Verrechtlichung der Politik durch das Bundesverfassungsgericht?, Zf RSoz 28 (2007), 75 (77 f.). 226 Von einer „Entpolitisierung der Politik“ schon durch die Anrufung des BVerfG in politisch umstrittenen Fragen spricht Ingo v. Münch, Autoritätsschwund in Karlsruhe, NJW 1993, 2286. Von „Politikverdrängung“ durch die Bindung des Gesetzgebers an den (vom Bundesverfassungsgericht kontrollierten) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spricht Oliver Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: Rupert Scholz u. a. (Hrsg.), Realitätsprägung durch verfassungsrecht. Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Lerche, 2008, S. 103 (112); ders., Die maßstabsetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (174). 227 So die Wortwahl bei Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 4. Aufl. 1996 [zuerst 1931], S. 35; Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 1: „European policy-making has been judicialized.“ 228 Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication: Fin de Siecle, 1998, S. 133 ff.; Arthur Benz, Normanpassung und Normverletzung im Verwaltungshandeln, in: Arthur Benz/Wolfgang Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption, 1992, S. 31 (32 f.): Politisierung der Verwaltung. 229 Mit Blick auf den parlamentarischen Gesetzgeber Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht im Prozess der Verrechtlichung politischer Gestaltungsmacht, in: Dieter Grimm u. a. (Hrsg.), Verfassung in Vergangenheit und Zukunft, 2011, S. 89 (93); Wolfgang Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1155 (1178). 230 Formulierung bei Friederike Valerie Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, 2010, S. 188. 231 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: Matthias Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 (87), konstatiert für die Bundesrepublik ein „Denken von der Verfassung her“. 232 Vgl. auch Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 107.
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Bedeutung, weil der demokratische Wille zu einem aus vielen historischen Schichten zusammengesetzten Willen wird. Das Verhältnis von Recht und Demokratie ist damit paradox: Demokratie entäußert sich im Recht, das Recht aber schwächt die Demokratie. 2. Auch das Schwinden der Legalität, der zweite Teil der Doppelbewegung, macht neues Nachdenken über die demokratische Legitimation der effektiv ausgeübten Staatsgewalt erforderlich. Gewiss konnte Rechtsetzung nach allem, was wir über die Kommunikationsform der Sprache und über das menschliche Verstehen wissen, nie mit der Erwartung verbunden sein, die Ergebnisse der Rechtsanwendung mechanisch genau zu steuern.233 Es kann, muss aber die Erwartung geben, mit Recht zielgerichtet Einfluss auf die Produktion von Entscheidungen nehmen zu können, also zumindest die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Produkts zu erhöhen und bestimmte Varianten auszuschließen.234 Die Schwäche des Rechts ist demgegenüber ein Verlust an Steuerungsfähigkeit235 und der Verantwortbarkeit des Rechts. Die inhaltliche und persönliche Unabhängigkeit der Richter ist demokratietheoretisch nur erträglich, solange und soweit sie im Wesentlichen Regeln anwenden, die sie nicht selbst gesetzt haben.236 Das Bemühen um eine scharf gefasste Rechtsprache, um eine permanente Vergewisserung des gegenseitigen Verstehens von Politik und Recht, um präzise gefasste Auslegungsmethoden bleibt deshalb eine rechtswissenschaftliche Aufgabe. Ergänzend ist über Wege zu einer größeren unmittelbaren demokratischen Legitimation des Rechtssystems nachzudenken. Die „offene Gesellschaft der Interpreten“ erscheint aus dieser Perspektive auch als Versuch, den mit der Entpolitisierung einhergehenden Verlust an Transparenz237 der Entscheidungsfi ndung abzumildern.238 3. „Entpolitisierung der Politik“ bedeutet zu einem gewissen Teil (nur) „Entformalisierung“ der Politik. Es wäre naiv zu meinen, dass die Politik ihren Machtverlust nicht durch Strategien zur Umgehung des Rechts auszugleichen sucht. Im äußersten Fall besteht die Gegenreaktion der Regierenden darin, sich der Formen des Rechts nur noch dort zu bedienen, wo es ihnen darum geht, Steuerung vorzutäuschen oder wo die Ergebnisse gleichgültig sind. Wo die Politik tatsächlich Macht entfalten will, sucht sie Wege am Recht vorbei, das Arrangement mit anderer Politik und mit der Wirtschaft. Der Machtzuwachs der Gerichte ist insoweit nur ein Scheinerfolg. 4. Die Legitimation des Rechts ruht auf seiner Verschiedenheit von der Politik. Der Vorwurf einer „Politisierung des Rechts“ stellt deshalb die Gewaltenteilung 233 Zutreffend Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 25; Alfons Bora, Politik und Recht, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen, 2003, S. 189 (191, 210). 234 Selbst die Theorie des Rechts als autopoietisches System verneint eine Relevanz der Umwelt für die Entscheidungen des Rechtssystems nicht, vgl. Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 2. Aufl. 1996, S. 31, 37 f., 121 f. 235 Vgl. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143 (161). Siehe auch Peter Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 601 (609): „Richterrecht hat unvermeidlich Einbußen an Verständlichkeit des Rechts zur Folge“. 236 Christoph Möllers, Mehr oder weniger virtuos, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 10. 2006, S. 37. 237 Darauf hinweisend Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 11. 238 In diese Richtung Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1998 [zuerst 1992], S. 477.
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grundlegend in Frage.239 „Politisierung“ heißt, dass in der Auslegung des Rechts politische Argumente berücksichtigt werden 240 oder dass rechtliche Vorgaben aus politischen Gründen nicht befolgt werden. Politische Argumente sind solche, die nicht in dem weiten Rahmen des methodisch Vertretbaren auf den Rechtstext zurückbezogen sind. Im äußersten Fall werden gesellschaftliche Konfl ikte von Verwaltungen und Gerichten mit der gleichen Offenheit behandelt wie im Parlament. Der Unterschied zwischen Politik und Recht verliert die inhaltliche Dimension und ist allenfalls noch in Kompetenzen und Verfahren zu finden.241 Der für den kontinentaleuropäischen Juristen resignativ klingende Satz „The law is what the judge says it is“ erhielte eine zusätzliche, Recht und Politik abgrenzende Bedeutung: „The law is what the judge says, politics is what the politicians say.“ 5. Die Frage, ob das Recht in diesem Sinne „politisiert“ ist, ist empirischen Feldforschungen zu überlassen. Die juristische Lebenserfahrung, gerade auch die Erfahrung der Verschiedenartigkeit juristischen Denkens im Vergleich mit anderen Disziplinen, spricht dagegen. Es ist darauf hinzuweisen, dass das Schwinden der Legalität nicht zwangsläufig zu einer Politisierung des Rechts führt. Vor allem sozialwissenschaftliche Forscher lassen sich demgegenüber von der Beobachtung, dass die Juristen für alle konträren Positionen Argumente fi nden können,242 zu der These verleiten, die Entscheidungen von Gerichten könnten aus den parteipolitischen Präferenzen der Richter abgeleitet werden. Auch ein juristischer Diskurs, der schwaches Recht zum Gegenstand hat, kann dabei seiner eigenen, nicht politischen Rationalität folgen und der Delegation bestimmter Entscheidungen auf das Recht damit eine gewisse Rechtfertigung erhalten. Das Bekenntnis zur schöpferischen Natur der Interpretation ist keine Kampfansage an die juristische Rationalität,243 sondern ein Aufruf zu einer besser ausgearbeiteten juristischen Begründungslehre, die Vorgänge der Rechtsbildung mit einbezieht, statt alles hinter dem Wort „Auslegung“ zu verstecken. Der Kampf der „Konservativen“ gegen den Rechtsrealismus und den Critical Legal Studies wurde irrtümlich über die Frage nach der „einen richtigen Entscheidung“ geführt, anstatt zu sehen, dass die Wahrheit dazwischen liegen kann. Der Begriff der Rechtsbildung, der hier vorgeschlagen wurde, soll dieses „Dazwischen“ abbilden und ein genaueres Nachdenken über die Bindungen ermöglichen, denen Verwaltung und Gerichte auch jenseits der Auslegung noch unterliegen. Wenn 239
Ähnlich Bernd Rüthers, Wozu auch noch Methodenlehre?, JuS 2011, 865 (868). Dem liegt die Begriffsbildung bei Alfons Bora, Politik und Recht. Krisen der Politik und die Leistungsfähigkeit des Rechts, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen, 2003, S. 189 (297), zugrunde: Politisierung ist die „in den Kommunikationen von Organisationssystemen und in den dabei mitlaufenden Interaktionen zu beobachtende Ersetzung rechtlicher Systemreferenzen durch spezifi sch politische“. 241 Zu den sog. Critical Legal Studies, die die Unterscheidbarkeit von Rechtsetzung und Rechtsanwendung bestreiten, Roberto Mangabeira Unger, The Critical Legal Studies Movement, Harvard Law Review 96 (1983) S. 561 ff.; Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 97 ff. 242 Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), 1 (4). 243 Zutreffend Peter Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 601 (603). 240
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es am Ende der Untersuchung eine Bilanz zu ziehen gilt, so ist der Richter heute weder „Subsumtionsautomat“ noch Politiker. Ein „Anything goes“ beschreibt den Status der Rechtswissenschaft ebensowenig wie die Vorstellung, im Gesetz schlummerten die Antworten auf alle Fragen gleich Statuen im Marmorblock, um ein Bild Gustav Radbruchs zu verwenden.244 Die „Degeneration“ des Rechtsstaats, vor der schon Ernst Forsthoff warnte,245 lässt sich nicht einfach mit einer Rückkehr zu den „anerkannten Auslegungsmethoden“ bekämpfen, die erstens so „anerkannt“ nicht sind und zweitens den richterlichen Auftrag im stetigen Wechselspiel von Innovation und Bewahrung, Rechtsfortbildung und Dogmatisierung nicht abbilden.246 Entscheidend ist, dass die Akteure des Rechtssystems anders denken und sprechen als politische Akteure.247 Gerade darin liegt ihre politische Funktion.248 Dieses Abstandsgebot von Recht und Politik wird verletzt, wo einer unvermittelten Ausrichtung des Rechts an ökonomischen Folgen das Wort geredet oder die Ausnahme vom Recht als legitimes Handlungsmittel entdeckt wird.
244 Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1964, besorgt von Konrad Zweigert, S. 169. 245 Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Ralf Dreier (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976 [zuerst 1959], S. 51 ff. 246 Einseitig deshalb auch die Kritik am richterlichen Selbstbewusstsein bei Christoph Möllers, Mehr oder weniger virtuos, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 10. 2006, S. 37. 247 Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 27: „The central claim is that legal actors – judges, lawyers, and law professors – think and talk differently than do actors outside of the legal world, and that these differences matter to politics.“; Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 23: Das Recht „formt die Worte des Politischen nach seinen eigenen grammatikalischen Regeln“. 248 Gedanke in Anlehnung an Niklas Luhmann, Funktionen der Rechtsprechung im politischen System, in: ders., Politische Planung, 5. Aufl. 2007 [zuerst 1968], S. 49: „Die politische Funktion der Rechtsprechung beruht [. . .] auf ihrer politischen Neutralisierung“. Zustimmend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991 [zuerst 1988], S. 344 (356 Fn. 22).
Verfassungsnotwendige Staatsaufgaben in vergleichender Perspektive von
Priv.-Doz. Dr. Christoph Görisch, Westfälische Wilhelms-Universität Münster I. Strafrechtliche Sanktionierung, Gewaltmonopol, Haushalt, Soziales und Kultur als notwendige Staatsaufgaben nach dem Lissabon-Urteil „König Fußball“ hat im Sommer 2012 nicht nur vielfältige europäische Begegnungen1 in Polen und der Ukraine während der dortigen Europameisterschaft gestiftet, sondern speziell den Fußballfreunden in Mecklenburg-Vorpommern zur gleichen Zeit geradezu existenzielle Sorgen bereitet. Das Überleben des FC Hansa Rostock konnte nur durch eine – politisch nicht unumstrittene – städtische Finanzspritze gesichert werden.2 Im (Weltmeisterschafts-)Sommer 2010 war der damals in die dritte Liga abgerutschte und finanziell angeschlagene Verein schon einmal in einer ähnlichen Lage und musste sogar die Hilfe des Landes in Anspruch nehmen. Er erhielt seinerzeit nur deshalb eine Lizenz für die folgende Saison, weil ihm das Land eine Bürgschaft für einen Millionenkredit in Aussicht stellte. Das veranlasste den Landesrechnungshof zu einer kritischen Stellungnahme. Darin hieß es: „So bedauerlich auch die sportliche Entwicklung des ehemaligen Bundesligisten ist, die Unterstützung des Profi fußballs kann nicht Aufgabe des Staates [. . .] sein. Gerade in Zeiten [. . .] erheblicher Belastungen für die öffentlichen Haushalte sollten dem Steuerzahler nicht zusätzliche Risiken aufgebürdet werden, die mit dem staatlichen Handlungsauftrag nichts zu tun haben.“ Das Land solle die Bürgschaftsentscheidung daher
1 Zur politischen Bedeutung des Fußballs als „Mittel der Völkerverständigung“ schlagwortartig etwa P. Häberle, JöR n. F. 52 (2004), 155 (159). 2 Vgl. die Berichte in FAZ v. 3. 5. 2012, S. 2, 24 und v. 10. 5. 2012, S. 5. In dieser negativen Dimension liegt gleichsam eine Kehrseite der von P. Häberle, JöR n. F. 52 (2004), 155 (159) kritisch beobachteten Vereinnahmung positiver Ausstrahlungen des Fußballs, indem „sich die Politik zum Trittbrettfahrer des sportlichen Erfolges macht und die ‚kulturelle Öffentlichkeit‘ des Sports zu ihren Zwecken instrumentalisieren möchte“.
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Christoph Görisch
überdenken.3 Die vom Landesrechnungshof aufgeworfene Frage nach den Staatsaufgaben ist in neuerer Zeit vor allem im Kontext der europäischen Integration aktuell geworden, allerdings aus etwas anderer Perspektive. Die entscheidende Frage ist dort nämlich nicht, welche Aufgaben der Staat wahrnehmen darf, sondern welche er wahrnehmen muss. In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon nennt das Bundesverfassungsgericht fünf konkrete „Sachbereiche“, in denen „die Übertragung und die Ausübung von Hoheitsrechten auf [bzw. durch] die Europäische Union“ nur unter eng begrenzten Subsidiaritätsvoraussetzungen, v. a. zur Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte, mit anderen Worten: nur im Ausnahmefall für zulässig erklärt wird. Diese fünf Sachbereiche sind 1. „das materielle und formelle Strafrecht“, 2. „die Verfügung über das Gewaltmonopol“, und zwar sowohl „polizeilich nach innen“ als auch „militärisch nach außen“, 3. „die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und [. . .] Ausgaben der öffentlichen Hand“, d. h. das Budgetrecht, 4. „die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen“, also der Bereich Soziales, und zwar über sozialpolitisch motivierte Ausgaben hinausgehend, die schon im Zusammenhang mit dem Budgetrecht besonders genannt und hervorgehoben werden, sowie 5. „kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften“.4 Jeder der fünf Bereiche wird in der Entscheidung noch etwas näher beschrieben.5 An einer Stelle dieser Konkretisierung, nämlich im Bereich Soziales bei der Pfl icht zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz des Einzelnen, spricht das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich von einer „Staatsaufgabe“.6 Um so häufiger ist in den Besprechungen des Urteils davon die Rede, das Bundesverfassungsgericht habe mit der Nennung der fünf im Kern integrationsfesten konkreten Sachbereiche eine neue „Staatsaufgabenlehre“ aufgestellt, die im selben Atemzug meist heftig kritisiert wird.7 Diese Kritik und mögliche Konsequenzen der neuen 3
Pressemitteilung des Landesrechnungshofs Mecklenburg-Vorpommern v. 4. 6. 2010. BVerfGE 123, 267 (359, ähnlich schon 358; vgl. zu dieser mehrschrittigen Vorgehensweise plastisch und kritisch G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 [157 ff., bes. 162]: im „zweiten Anlauf “). 5 BVerfGE 123, 267 (359 ff.). Speziell zum Budgetrecht konkretisierend im Hinblick auf den sog. Euro-Rettungsschirm BVerfG E 129, 124 (170 f., 177 ff.); vgl. dazu auch M. Nettesheim, EuR 2011, 765 (767); zuletzt im Hinblick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den europäischen Fiskalpakt BVerfG, Urteil v. 12. 9. 2012 (Az. 2 BvR 1390/12 u. a.), URL: www.bundesverfassungsgericht.de, Abs.Nr. 210 ff.; zum Kulturvorbehalt eingehend G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 ff. 6 BVerfGE 123, 267 (363). Nur von der Gesamtheit aller „Staatsaufgaben“, deren Wahrnehmung durch die Unverfügbarkeit des Budgetrechts gesichert werden soll, ist hingegen in BVerfG, NJW 2011, 2946 (2948, 2950 [Abs.Nr. 104, 123]) die Rede. 7 Kritisch etwa M. Böse, ZIS 2010, 76 (80 ff.); K. Dingemann, ZEuS 2009, 491 (508 ff.); P. Hector, ebd., 599 (607 f.); W. Frenz, EWS 2009, 345 ff.; D. Halberstam / C. Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1249 ff.); J. P. Terhechte, EuZW 2009, 724 (730 f.); ferner A. v. Bogdandy, NJW 2010, 1 (3); C. Calliess, ZEuS 2009, 559 (570 ff.); M. Selmayr, ebd, 637 (657 ff.); C. D. Classen, JZ 2009, 881 (887 f.); J. E. K. Murkens, Staat 48 (2009), 517 (521 ff.); C. Schönberger, ebd., 535 (554 f.); D. Thym, ebd., 559 (562 ff.); M. Nettesheim, NJW 2009, 2267 (2268); A. v. Ungern-Sternberg, RDP 2010, 171 (179 f.); relativierend G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 (157 ff., bes. 162): „Bekräftigung des Subsidiaritätsprinzips – nicht gegenständlicher Kompetenzvorbehalt“; in diese Richtung auch M. Kottmann / C. Wohlfahrt, ZaöRV 69 (2009), 443 (460 f.); offener gegenüber dem bundesverfassungsgerichtlichen Ansatz etwa P. Häberle, JöR n. F. 58 (2010), 317 (321, 327 f.); F. Schorkopf, EuZW 2009, 718 (721); M. Wiemers, KritV 2011, 226 (234 ff.); ferner K. F. Gärditz / C. Hillgruber, JZ 2009, 872 (879 f.); ausführlicher zu den einzelnen Bereichen auch 4
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Staatsaufgabenlehre, also der Aufl istung bestimmter verfassungsnotwendiger Staatsaufgaben, sollen hier schwerpunktmäßig aus einer vergleichenden Perspektive betrachtet werden, die über die konkrete Fallkonstellation – Vereinbarkeit des Vertrags von Lissabon mit dem Grundgesetz – ein Stück weit hinausgeht. Dazu wird zunächst die in der Literatur geäußerte Kritik verfassungsvergleichend eingeordnet (II.). Sodann soll im Hinblick auf mögliche Weiterwirkungen der Lissabon-Entscheidung ein Vergleich mit der Debatte um verfassungsrechtliche Grenzen einer Privatisierung von Staatsaufgaben unternommen werden (III.). Ein abschließendes Fazit bündelt die auf beiden Vergleichsebenen gewonnenen Erkenntnisse (IV.).
II. Kritik am bundesverfassungsgerichtlichen Aufgabenkatalog in der Literatur und in der Rechtsprechung anderer europäischer Verfassungsgerichte Die Kritik, die in der deutschen Literatur an der Katalogisierung von Staatsaufgaben im Lissabon-Urteil geäußert wird, setzt an zwei Punkten an. Zum einen wird bemängelt, dass generell eine konkrete Aufzählung spezifisch staatlicher Aufgabenbereiche verfassungsrechtlich nicht begründbar und damit unzulässig sei (1.). Zum anderen wird jedenfalls die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Auswahl konkreter Aufgabenbereiche als willkürlich und vom Grundgesetz nicht gedeckt angesehen (2.).
1. Generelle Unzulässigkeit einer konkreten Aufzählung Zum ersten Kritikpunkt: Dass eine konkrete Aufzählung verfassungsnotwendiger Staatsaufgaben, so wie sie das Bundesverfassungsgericht vornimmt, generell unzulässig ist, ergibt sich nach Auffassung der Kritiker daraus, dass das Grundgesetz keinen ausdrücklichen Mindestaufgabenkatalog enthält und das im Lissabon-Urteil herangezogene Demokratieprinzip zu allgemein ist, um daraus einen solchen Katalog gewinnen zu können.8 Um diesen Kritikpunkt beurteilen zu können, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie das Bundesverfassungsgericht die weitgehende Unverfügbarkeit der fünf genannten Sachbereiche durch den Staat überhaupt begründet. Demokratie i. S. v. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, so heißt es in der Entscheidung, „bedeutet nicht nur die Wahrung formaler Organisationsprinzipien“, sondern sie „lebt“ von „politischer Sachentscheidung“. Daraus ergebe sich, dass der Bundestag als Repräsentationsorgan des Volkes auch im Prozess der europäischen Integration „eiM. Ruffert, DVBl. 2009, 1197 (1202 ff.); M. Wiemers, a.a.O., 229 ff.; daneben z. B. E. Denninger, JZ 2010, 969 (973); vgl. zudem bereits die Vertiefungsnachw. o., Fn. 5. Generell – ohne speziellen Bezug zum vorliegend in den Blick genommenen Einzelaspekt – euphorisch zum Lissabon-Urteil aus (auch) journalistisch geprägter Perspektive H. Prantl, SZ v. 10. 7. 2012, S. 3: „Das Urteil war wie ein juristisches Weltwunder“ bzw. (in Wiedergabe einer Äußerung des Bundestagspräsidenten N. Lammert) „das genialste Urteil [. . .], das in Karlsruhe je gefällt worden ist“. 8 Exemplarisch D. Halberstam / C. Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1250); D. Thym, Staat 48 (2009), 559 (562 f.).
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gene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behalten müsse“, wie bereits in der Grundsatzentscheidung zum Vertrag von Maastricht festgestellt wurde.9 Damit ist der Integration eine inhaltliche Grenze gesetzt. Sie ergänzt die formelle Grenze der Wahrung „staatlicher Souveränität“ durch die „Unverfügbarkeit der verfassungsgebenden Gewalt“, die das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil dem Grundsatz demokratischer Staatlichkeit entnimmt. Die formelle Grenze ist allerdings bereits gewahrt, wenn die maßgeblich durch den Bundestag auszuübende „Kompetenz-Kompetenz“ erhalten bleibt, also übertragene Aufgaben vorbehaltlos – und sei es notfalls durch Austritt aus der Union (gemäß Art. 50 EUV) – zurückgeholt werden können. Das reicht aber nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts für eine ausreichende demokratische Rückbindung der Staatsgewalt an das Volk nicht aus. Es bedürfe vielmehr eines ausreichenden Raumes zur „Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ in einem politischen Diskurs,10 in dem spezielle mitgliedstaatliche „Vorverständnisse“ und „Identifikationsmuster“, etwa historischer oder sprachlicher Art, Berücksichtigung finden können.11 Unter diesem Aspekt seien die genannten Sachbereiche „seit jeher“ „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“. Eine normative Anforderung für die Beteiligung an der Europäischen Union oder gar ein „integrationsfester“12 Kern von Staatsaufgaben wird aus diesen gemäß Art. 20 GG demokratieprägenden Sachbereichen aber erst über Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG mit dem Verweis auf die Mehrheitsanforderungen für Verfassungsänderungen und die Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. Die generelle verfassungsrechtliche – also nicht nur europarechtliche (Art. 5 Abs. 3 EUV) – Verpfl ichtung auf den „Grundsatz der Subsidiarität“ gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG i. V. m. dem Gesetzesvorbehalt des S. 2 wird dadurch für die Übertragung von Hoheitsrechten mit verfassungsänderndem Charakter in doppelter Weise verschärft: Zum einen haben solche Übertragungen, die einen Bereich demokratieprägender Sachbereiche betreffen, durch die Ableitung aus Art. 20 GG stets einen verfassungsändernden Charakter und bedürfen damit in jedem Falle – unabhängig vom Streit um das Verhältnis zwischen Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG13 – eines Gesetzesbeschlusses 9 BVerfGE 89, 155 (186, 207); daran anschließend BVerfGE 123, 267 (356 ff. [dort und auf den vorangehenden Seiten auch mit den nachfolgenden Zitaten]). 10 Zum diskurstheoretischen Bezug G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 (152) m. w. N. 11 Nach der Formulierung der Maastricht-Entscheidung BVerfGE 89, 155 (186), unter umstrittener Bezugnahme auf H. Heller (vgl. dazu H.-P. Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 114 ff.; R. C. van Ooyen, Die Staatstheorie des BVerfG und Europa, 3. Aufl., 2010, S. 29 ff.) liegt darin das verbindende Element des Staatsvolkes – also das „einigende Band“ i. S. v. E. W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2007, S. 43 (69), das der Staat damit entgegen dem sog. Böckenförde-Diktum ebd., 43 (71), doch „garantiert“? Vgl. dazu aber auch G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 (164 ff.); R. Grawert, Staat 51 (2012), 189 (198 ff.). 12 BVerfGE 123, 267 (350, 353, 361, 413). 13 Zur undeutlich gelassenen Abgrenzung im Lissabon-Urteil vgl. etwa U. J. Schröder, DÖV 2010, 303 (310 m. Fn. 83); M. Selmayr, ZEuS 2009, 637 (667 m. Fn. 15); aus der Literatur zum Streit um die Abgrenzungsfrage I. Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 23 Rn. 89 f.; zur Diskussion um den zwangsläufig verfassungsändernden Charakter von Hoheitsübertragungen nach Art. 24 Abs. 1 GG C. D. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum GG, 2. Band, 5. Aufl., 2005, Art. 24 Rn. 2; ablehnend unter Bezugnahme auf Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG T. Flint, Die Übertragung von Hoheitsrechten, 1998, S. 137 ff. Dafür, dass nicht jede Übertragung von Hoheitsrechten (bzw.
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mit Zweidrittel-Mehrheit nach 79 Abs. 2 GG. Für wesentliche Ausgestaltungen bereits mit Zweidrittel-Mehrheit übertragener Hoheitsrechte kann dabei zusätzlich ein einfaches Gesetz analog Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG erforderlich sein.14 Zum anderen ist eine Übertragung von Hoheitsrechten im von Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 GG geschützten Kern der demokratieprägenden Sachbereiche gänzlich unzulässig. Die Kritik in der Literatur an der Ableitung eines verfassungsnotwendigen Aufgabenkatalogs durch das Bundesverfassungsgericht entzündet sich schwerpunktmäßig an der konkreten Aufl istung der demokratieprägenden Sachbereiche. Darauf wird im zweiten Unterpunkt näher einzugehen sein. Soweit zunächst Bedenken dahingehend geäußert werden, dass eine katalogisierende Aufl istung von Staatsaufgaben generell problematisch sei, sagt man, das Bundesverfassungsgericht habe die so weitgehende Konkretisierung des Demokratieprinzips rechtlich unzureichend begründet und in der Sache Erkenntnisse der allgemeinen Staatslehre unzulässigerweise auf das Staatsrecht übertragen.15 Rechtsvergleichend gebe es für eine solche Katalogisierung kein Vorbild.16 Eine gewisse Bestätigung dafür und zugleich die Zuspitzung der in der Literatur eher beiläufig geäußerten Kritikpunkte fi ndet sich in einer ausdrücklichen Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil im zweiten Lissabon-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts. Dieses hält es aufgrund seiner Stellung im Verfassungsgefüge für unmöglich, eine katalogartige und abschließende Aufl istung unübertragbarer Hoheitsrechte des Staates im Sinne eines materiellen Verfassungskerns zu treffen, wie es das Bundesverfassungsgericht getan habe. Es sei zunächst Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, die Grenzen von Hoheitsübertragungen im politischen Prozess zu bestimmen. Diese politische Entscheidung könne nicht vom Gericht selbst getroffen werden; es sei auf eine verfassungsrechtliche Einzelfallkontrolle konkreter politischer Entscheidungen beschränkt.17 ihrer Ausübung) verfassungsändernden Charakter hat, spricht auch ein systematisch vergleichender Blick auf die innerstaatliche Beleihung, die außerhalb des sog. Funktionsvorbehalts des Art. 33 Abs. 4 GG anerkanntermaßen einem (bloßen) Gesetzesvorbehalt unterliegt, vgl. dazu exemplarisch M. Burgi, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 10 Rn. 27 f.; zur Privatisierung s. noch u. bei Fn. 44, 47. 14 In diesem Sinne BVerfGE 123, 267 (412 f.). 15 Dahingehend M. Böse, ZIS 2010, 76 (80 f.); P. Hector, ZEuS 2009, 599 (607 f.); W. Frenz, EWS 2009, 345 ff.; D. Halberstam / C. Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1249 ff.); A. v. Bogdandy, NJW 2010, 1 (3); J. E. K. Murkens, Staat 48 (2009), 517 (522 f.); C. Schönberger, ebd., 535 (554 f.); D. Thym, ebd., 559 (562 ff.); M. Nettesheim, NJW 2009, 2267 (2268). 16 C. D. Classen, JZ 2009, 881 (887). Vgl. aber zur Rechtsprechung des PolnVerfG noch u., Fn. 17. 17 TschechVerfG, EuGRZ 2010, 209 (222); daran anknüpfend K. Dingemann, ZEuS 2009, 491 (509 f., 516); in der Sache auch M. Nettesheim, NJW 2009, 2267 (2268); vgl. eingehender zum tschechischen Urteil M. Hofmann, EuGRZ 2010, 153 ff.; A. Weber, JZ 2010, 157 ff.; I. Ley, JZ 2010, 165 ff. Demgegenüber wird vom PolnVerfG, EuGRZ 2012, 172 (188 f.) nach der Erwähnung des vom BVerfG aufgestellten Aufgabenkataloges die vom TschechVerfG daran geübte Kritik nicht erwähnt, sondern bereits zuvor (ebd., 179) festgestellt: „Ungeachtet der Schwierigkeiten zur Aufstellung eines detaillierten Katalogs unveräußerlicher Kompetenzen sollte ein völliges Verbot der Übertragung für Folgendes gelten: Entscheidungen, die die grundlegenden Prinzipien der Verfassung verdeutlichen, und Entscheidungen in Bezug auf die Rechte des Einzelnen, die die Identität des Staates bestimmen, insbesondere einschließlich des Erfordernisses des Schutzes der menschlichen Würde und der verfassungsmäßigen Rechte, das Prinzip der Staatlichkeit, das Prinzip der demokratischen Regierungsform, das Prinzip des Rechtsstaates, das Prinzip sozialer Gerechtigkeit, das Prinzip der Subsidiarität sowie das Erfordernis einer besseren Verwirklichung der verfassungsmäßigen Werte und das Verbot der Übertragung der
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Trotz seiner für eine ausdrückliche Bezugnahme auf ein anderes Verfassungsgericht ungewöhnlich direkten Ablehnung der bundesverfassungsgerichtlichen Sichtweise erkennt letztlich auch das tschechische Verfassungsgericht an, dass die Übertragung bestimmter Hoheitsrechte im Einzelfall unzulässig ist. Die Prüfung der Zulässigkeit einer Übertragung einzelner konkreter Zuständigkeiten entspricht der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung im Subsumtionsteil des Lissabon-Urteils und auch der Rechtsprechung anderer europäischer Verfassungsgerichte, etwa des französischen Verfassungsrats. Als verfassungsrechtlichen Maßstab für die konkrete Prüfung wählt das tschechische wie auch das polnische Verfassungsgericht und der französische Verfassungsrat das Verfassungsprinzip souveräner Staatlichkeit.18 Die Souveränität als solche ist allerdings schon mit der Erhaltung der Kompetenz-Kompetenz, also dem Rückholrecht für übertragene Aufgaben, gewahrt.19 Dieser Ansatz erscheint gegenüber der Anknüpfung des Bundesverfassungsgerichts an das Demokratieprinzip daher keinesfalls dogmatisch überzeugender. Unabhängig vom verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt, auf den gleich noch einmal zurückzukommen sein wird, ist zumindest gegen eine beispielhafte Nennung einzelner typischer Aufgabenbereiche durch das Bundesverfassungsgericht (wie auch – wenngleich zurückhaltender und abstrakter – durch das polnische Verfassungsgericht) methodisch kaum etwas einzuwenden. Dass der im Maßstabsteil aufgestellte Katalog nicht abschließend ist, erkennt man schon daran, dass im Subsumtionsteil ein weiterer Bereich, nämlich das Zivil- und Handelsrecht speziell mit Blick auf die Mitwirkung in der WTO, genannt wird.20 Ob die Aufspaltung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen in einen Maßstabs- und einen Subsumtionsteil generell kritisiert werden kann,21 ist eine Frage, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll. Eine spezielle Kritik an der Lissabon-Entscheidung ergibt sich daraus jedenfalls nicht. Dass die Bestimmung staatlicher Aufgaben eine politische Entscheidung gerade des Gesetzgebers ist, wird vom tschechischen Verfassungsgericht ohne weiteres unterstellt. Dass dies aber nur für wesentliche Aufgaben gilt, ergibt erst die bundesverfassungsgerichtliche Herleitung aus dem Demokratieprinzip. Der Wesentlichkeitsge-
verfassungsändernden Gewalt und die Kompetenz-Kompetenz“; der damit aufgestellte nicht bereichsbezogene Katalog entspricht allerdings im Wesentlichen lediglich der auch in BVerfGE 123, 267 (343) zu fi ndenden allgemeinen Aufl istung des von Art. 79 Abs. 3 GG absolut geschützten Verfassungsbestandes. 18 Näher zu Art. 10a TschechVerf als speziellem Anknüpfungspunkt TschechVerfG, Urteil v. 26. 11. 2008 (Az.: Pl. US 19/09), URL: http://www.concourt.cz/fi le/2339 (auszugsweise auch in EUConstLRev 5 [2009], 345 ff.), Abs.Nr. 111 f.; zur in der vorgenannten Fn. bereits erwähnten Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts R. Arnold, in: Küpper (Hrsg.), Von Kontinuitäten und Brüchen. Festschrift für F. C. Schroeder zum 75. Geburtstag, 2011, S. 309 ff.; A. Weber, EuGRZ 2012, 139 ff.; zur Rechtsprechung des französischen Verfassungsrats ders., JZ 2010, 157 (162 f.). 19 Dazu BVerfGE 123, 267 (349 f.), vgl. schon o., bei Fn. 9; ferner PolnVerfG, EuGRZ 2012, 172 (178 f.). 20 BVerfGE 123, 267 (414 ff.). Der Subsumtionsteil zeigt, dass es sich bei dem Aufgabenkatalog im Maßstabsteil entgegen C. D. Classen, JZ 2009, 881 (888); D. Grimm, Staat 48 (2009), 475 (490), nicht von vornherein bloß um ein obiter dictum handelt. 21 Ausführlich dazu O. Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 (168 ff.).
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danke22 lässt davon ausgehend auch eine weitergehende Abschichtung von besonders wesentlichen Aufgaben, die nur der verfassungsändernde Gesetzgeber, und schließlich solchen, die nicht einmal dieser übertragen kann,23 nicht nur zu, sondern fordert sie geradezu. Dieser demokratischen Abschichtung entspricht die dreistufige Systematik des Art. 23 Abs. 1 GG exakt: Jede Übertragung von Hoheitsrechten unterliegt als wesentliche Maßnahme dem Gesetzesvorbehalt nach S. 2 (1. Stufe). Übertragungen von Hoheitsrechten mit verfassungsänderndem Charakter, wie in den nach Art. 20 GG demokratieprägenden Sachbereichen, unterliegen dem Vorbehalt des mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenen Gesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG (2. Stufe).24 Übertragungen von Hoheitsrechten im Kernbereich der demokratieprägenden Sachbereiche sind nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 GG ausgeschlossen. Dieser Kernbereich ist also unter dem Grundgesetz integrationsfest (3. Stufe). Die Möglichkeit einer zunehmend intensiven verfassungskräftigen Festschreibung bestimmter Staatsaufgaben fi ndet eine zusätzliche Bestätigung in einer verfassungsvergleichenden Perspektive. Ausdrückliche Aufgabenzuweisungen an den Staat sind den europäischen Verfassungsordnungen nämlich keineswegs fremd. Am detailliertesten 25 ist dabei die portugiesische Verfassung mit einem aus acht Positionen bestehenden Katalog grundlegender Staatsaufgaben („tarefas fundamentais do Estado“) in ihrem Art. 9. Einige dieser Positionen – ausdrücklich insbes. die Bewahrung der nationalen Unabhängigkeit, des Grundrechtsschutzes und des besonderen Status der Azoren und Madeiras – fi nden Entsprechungen in der ebenfalls sehr ausführlichen Ewigkeitsklausel des Art. 288 der portugiesischen Verfassung und genießen insoweit einen absoluten Übertragungsschutz. Viele andere europäische Verfassungen – besonders deutlich etwa die schweizerische Bundesverfassung in Art. 2 („Zweck“) – enthalten ebenfalls zumindest einzelne Aufgabenbestimmungen oder entsprechende Präambelformulierungen.26 Fehlt ein mehr oder weniger umfangreicher Aufgabenkatalog im geschriebenen Verfassungsrecht, dann kann und muss er in Anwendung des Wesentlichkeitsgedankens dem Demokratieprinzip entnommen werden,27 wenn man die Prämisse teilt, dass dem Staat maßgebliche Alleinentscheidungsbefugnisse verbleiben müssen. Letztlich dient die Anerkennung der Verfassungsqualität bestimmter Staatsaufgaben dabei ganz im Sinne des tschechischen Verfassungsgerichts vor allem – soweit
22 Differenzierend zur Heranziehung der Wesentlichkeitstheorie im vorliegenden Kontext G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 (153). 23 Plastisch dazu M. Desens, Habilitationsvortrag vom 26. 1. 2010, Manuskript, S. 6: „unantastbarer Wirkbereich der Volkssouveränität“. 24 Vgl. schon o., bei Fn. 13. 25 Insoweit kritisch P. Häberle, AöR 111 (1986), 595 (610): „wohl zu üppig geraten“. 26 Ausführlicher verfassungs(text)vergleichend bereits P. Häberle, AöR 111 (1986), 595 (601 ff.); daran anknüpfend ders., JöR n. F. 58 (2010), 317 (327 f.). 27 In seinem ersten Lissabon-Urteil hatte im Übrigen auch das TschechVerfG, Urteil v. 26. 11. 2008 (Az.: Pl. US 19/09), URL: http://www.concourt.cz/fi le/2339, Abs.Nr. 93 f., die prinzipielle Möglichkeit einer katalogartigen Konkretisierung zumindest der allgemein gefassten Ewigkeitsgarantie des Art. 9 Abs. 2 TschechVerf für die „grundlegenden Erfordernisse des demokratischen Rechtsstaats“ noch ausdrücklich bejaht.
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nicht zusätzlich die Ewigkeitsgarantie eingreift – dem Schutz der Dispositionsbefugnis des parlamentarischen Gesetzgebers. Das ergibt sich aus den Besonderheiten der europäischen Integration: Denn ein einmal auf die Europäische Union übertragenes Hoheitsrecht kann aufgrund des Vorrangs des Europarechts nicht mehr ohne weiteres durch einen Akt des einfachen Gesetzgebers zurückgeholt werden. Dadurch wird zwar nicht die staatliche Souveränität, also die Kompetenz-Kompetenz beeinträchtigt; denn die Möglichkeit einer Rückholung durch Austritt aus der Union bleibt ja bestehen. Aber in Bezug auf das konkrete Hoheitsrecht bindet eine gesetzgeberische Übertragungsentscheidung die nachfolgenden Gesetzgeber, weil sie für die Rückholung nur noch die Alles-oder-Nichts-Entscheidung28 über die Unionsmitgliedschaft offenlässt, also eine Entscheidung, die zudem ebenfalls nur vom verfassungsändernden Gesetzgeber getroffen werden kann. Damit läuft der Hauptkritikpunkt des tschechischen Verfassungsgerichts an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nämlich der Vorwurf einer unzulässigen Beschränkung des parlamentarischen Gesetzesgebers, ins Leere. In längerfristiger Perspektive schützt die Bestimmung verfassungsnotwendiger Staatsaufgaben durch das Bundesverfassungsgericht nämlich gerade den parlamentarischen Gesetzgeber. Allerdings wird diese Schutzfunktion vom Bundesverfassungsgericht selbst nicht explizit herausgearbeitet. Als Zwischenergebnis bleibt zunächst festzuhalten, dass die insbesondere vom tschechischen Verfassungsgerichthof in zugespitzter Form formulierte Kritik an der konkreten Aufzählung verfassungsnotwendiger Staatsaufgaben in der Sache nicht überzeugt.
2. Willkürlichkeit der konkreten Aufzählung Als Beleg für den zweiten Kritikpunkt, die vermeintliche Willkürlichkeit der konkreten Aufzählung im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wird zumeist ins Feld geführt, dass klassische Bereiche ursprünglich spezifisch staatlicher Tätigkeit dort nicht erwähnt werden. Dabei wird vor allem auf die Währungspolitik und den Bereich des Zivilrechts verwiesen. Die selektive Aufzählung der staatlichen Kernaufgaben sei rein ergebnisorientiert und werde von dem Bestreben getragen, die bislang vom Integrationsprozess verschonten Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu erhalten, indem sie als weitgehend „integrationsfest“ ausgewiesen würden.29 Dass auf die Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen und das Gemeinsame Handelsrecht im Subsumtionsteil des Lissabon-Urteils ausdrücklich eingegangen wird, wurde zuvor bereits erwähnt. Daran zeigt sich gerade, dass der Aufgabenkatalog im Maßstabsteil nur beispielhaften Charakter hat. Das Zivilrecht wird also vom Bundesverfassungsgericht durchaus im vorliegenden Zusammenhang berücksichtigt. Auf die Problematik der Übertragung währungspolitischer Aufgaben auf die Europäische Zentralbank ist das Bundesverfassungsgericht bereits im Maastricht-Urteil ausdrücklich und ausführlich eingegangen. Es hat dabei in Bezug auf das Demokratieprinzip festgestellt, dass „die Verselbständigung der Währungspolitik in der Hoheitskompe28 29
Vgl. M. Desens, Habilitationsvortrag vom 26. 1. 2010, Manuskript, S. 8. M. Böse, ZIS 2010, 76 (81); K. Dingemann, ZEuS 2009, 491 (509), jew. m. w. N.
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tenz einer unabhängigen Europäischen Zentralbank, die sich nicht auf andere Politikbereiche übertragen läßt, den verfassungsrechtlichen Anforderungen [genügt]“.30 Wenn sich die diesbezüglichen Überlegungen nicht auf andere Politikbereiche übertragen lassen, liegt auch eine (erneute) Erörterung im Zusammenhang des beispielhaften Aufgabenkatalogs im Maßstabsteil des Lissabon-Urteils von vornherein fern. Das Argument, der Aufgabenkatalog zähle lediglich die noch nicht supranationalisierten Aufgabenbereiche auf, um sie den Mitgliedstaaten zu erhalten, würde, wenn es richtig wäre, bei Lichte besehen nicht gegen, sondern gerade für den Katalog sprechen. Denn spätestens wenn man die dem Staat verbliebenen Aufgabenbereiche an den fünf Fingern einer Hand abzählen könnte, wäre es wohl höchste Zeit einen solchen minimalen Restbestand besonders verfassungsrechtlich zu sichern. Darin würden dem Bundesverfassungsgericht dann wohl auch die meisten anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte, etwa das tschechische und das polnische Verfassungsgericht oder der französische Verfassungsrat, uneingeschränkt beipfl ichten. Da die Aufzählung aber wie dargelegt ohnehin nur beispielhaft ist, verfängt das Argument letztlich in keiner Richtung. Mustert man die einzelnen Aufgabenbereiche des bundesverfassungsgerichtlichen Katalogs einmal verfassungsvergleichend durch, so stellen sie sich durchaus als Auflistung typischerweise verfassungsrechtlich normierter Staatsaufgaben dar.31 Sie finden sich übereinstimmend in den meisten europäischen Verfassungen, was hier nur an einigen wenigen, beispielhaft ausgewählten Bezugnahmen verdeutlicht werden soll. Strafe und Gewaltmonopol stehen für die in vielen europäischen Verfassungspräambeln erwähnte Friedenssicherungsaufgabe. Sie wird auch in Art. 4 Abs. 2 EUV ausdrücklich als „grundlegende Funktion des Staates“ anerkannt. Das besonders in der britischen Verfassungstradition32 frühzeitig in seiner Bedeutung herausgestellte Budgetrecht ist heute als „klassisches Recht des Parlaments“ ebenfalls europäisches Verfassungsgemeingut.33 Nicht anders verhält es sich mittlerweile nicht nur mit der Sozial-, sondern auch mit der Kulturstaatlichkeit,34 die in der neueren Verfassungsentwicklung ebenfalls einen herausragenden Platz einnimmt. Prägnant hat die gleichgeordnete Bedeutung von Kulturstaatlichkeit auf der innerstaatlichen Ebene 30 BVerfGE 89, 155 (207 ff., bes. 209); gleichwohl verallgemeinernd dazu C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 390 f. 31 Ausführlich verfassungsvergleichend zum Nachfolgenden A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 79 ff., 211 ff. Zum insgesamt zurückhaltender und abstrakter gefassten konkreten Aufgabenkatalog in PolnVerfG, EuGRZ 2012, 172 (179) vgl. bereits o., Fn. 17. 32 Zur Rückführbarkeit auf die Magna Charta von 1215 exemplarisch H. Tappe, Das Haushaltsgesetz als Zeitgesetz, 2008, S. 86 f. 33 Rechtsvergleichend schon L. v. Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 1. Teil, 5. Aufl., 1885, S. 206: „Hauptausdruck und Träger der verfassungsmäßigen Freiheit überhaupt“; vgl. auch BVerfGE 45, 1 (31 f.); 70, 324 (370): „besondere Bedeutung im Gesamtzusammenhang der demokratisch-parlamentarischen Verfassung“, „eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle, die die rechtsstaatliche Demokratie entscheidend prägt“; daneben M. Heintzen, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Vorb. Art. 110–115 Rn. 10; W. Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, 1989, S. 85; ders., in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Aufl., 2008, Art. 110 Rn. 1, 5, auch zur Begriffl ichkeit (Etat, Budget) und zum Steuerbewilligungsrecht; zur Steuerstaatlichkeit ders., ebd., Art. 105 Rn. 1. 34 Zur Zuordnung der Daseinsvorsorge (vgl. Art. 14 AEUV) zur Sozialstaatlichkeit BVerfGE 123, 267 (294, 429).
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der deutschen Bundesländer etwa in Art. 3 Abs. 1 S. 1 BayVerf Ausdruck gefunden, wo sie unmittelbar neben der Rechts- und Sozialstaatlichkeit aufgeführt wird. In Art. 6 der polnischen Verfassung werden die „Kulturgüter“ als Teil des „nationale[n] kulturelle[n] Erbe[s]“ ausdrücklich zur „Quelle der Identität des polnischen Volkes“ erklärt.35 Wenn man im Katalog des Bundesverfassungsgerichts eine typische Staatsaufgabe vermisst, dann kann das wohl allein der Umweltschutz sein.36 Dazu verpfl ichtet auch Art. 20a GG ausdrücklich den Staat. Die Verfassung der Niederlande formuliert diese Aufgabe in Art. 21 ähnlich deutlich: „Die Sorge des Staates [. . .] gilt [. . .] dem Schutz [. . .] der Umwelt.“ Einen bisweilen formulierten prinzipiellen Zusammenhang zwischen Kultur- und Umweltstaatlichkeit lässt dabei die gemeinsame Nennung im Staatsaufgabenkatalog des Art. 9 Buchst. e portugiesische Verfassung erkennen (ähnlich auch Art. 3 Abs. 2 BayVerf: „Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung.“). Auf den Aspekt der Umweltstaatlichkeit geht dementsprechend etwa das lettische Verfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon im energiepolitischen Kontext zumindest am Rande ein.37 Die fehlende Vollständigkeit kann man dem bundesverfassungsgerichtlichen Aufgabenkatalog angesichts seiner bloßen Beispielhaftigkeit aber nicht unbedingt vorwerfen. Die getroffene Beispielsauswahl erscheint bei verfassungsvergleichender Betrachtung durchaus nachvollziehbar. Eine solche Vergleichsbetrachtung hätte auch vor dem Hintergrund des Art. 4 Abs. 2 EUV mit der Pfl icht zur Achtung der „jeweiligen nationalen Identität“ der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre „verfassungsmäßigen und politischen Strukturen“ durchaus nahegelegen.38 Denn es sind regelmäßig die gleichen Sachbereiche, in denen sich die identitätsprägenden Strukturen in unterschiedlicher Weise entfalten, etwa im kulturellen Bereich die verfassungsmäßige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Jedenfalls hätte ein ausdrücklich verfassungsvergleichender Ansatz mutmaßlich weniger Kritik ausgelöst als das nach unbestimmter historischer Staatslehre klingende39 „seit jeher“ mit dem das Bundesverfassungsgericht seinen Aufgabenkatalog maßgeblich begründet.40 Auch das weitere Wesentlichkeitsargument des Bundesverfassungsgerichts – die mangeln35
Dieser Aspekt bleibt in PolnVerfG, EuGRZ 2012, 172 (179) indes unerwähnt. Allgemein dazu etwa M. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 25 Rn. 60 f. m. w. N. 37 VerfGLettland, Urteil v. 7. 4. 2009 (Az.: 2008–35–01), URL: http://www.satv.tiesa.gov.lv/upload/judg_2008_35.htm, Rn. 18.3. 38 Zur fehlenden Begründbarkeit eines „ausschließlich einseitigen Kontrollvorbehalt[s]“ für die Verfassungsidentität als Integrationsschranke mit Art. 4 Abs. 2 EUV vgl. auch M. Walter, ZaöRV 72 (2012), 177 (195); ausführlicher zu den Differenzierungspotenzialen der „jeweiligen“ nationalen Identität i. S. dieser Bestimmung R. Arnold, in: Müller-Graff/Schmahl/Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel. Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 17 (19, 21 f., 24 f.). 39 Pointiert M. Nettesheim, NJW 2009, 2867 (2868): „Rückgriff [. . .] auf ein allerdings namenloses Büchlein der allgemeinen Staatslehre“. 40 Speziell zu diesem Kritikpunkt G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 (158); M. Kottmann / C. Wohlfahrt, ZaöRV 69 (2009), 443 (460 f.), jew. m. w. N.; ferner z. B. E. Denninger, JZ 2010, 969 (972); M. Wendel, EUConstLRev 7 (2011), 96 (125 m. Fn. 155) mit dem Hinweis auf das Fehlen dieser Wendung in der offi ziellen englischen Urteilsübersetzung. 36
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de Diskursivität auf europäischer Ebene in den betreffenden Sachbereichen – hätte dadurch eine zusätzliche Abstützung erfahren.41 Insgesamt erweist sich die Kritik am Aufgabenkatalog des Lissabon-Urteils bei näherer Betrachtung damit im Ergebnis als wenig durchschlagend, insbesondere wenn man stärker als das Bundesverfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung auch die verfassungsvergleichende Perspektive berücksichtigt.
III. Mögliche Rückwirkungen auf die Staatsaufgabendiskussion in der Privatisierungsdebatte Die bisherigen Überlegungen lassen sich durch einen weiteren Vergleichsaspekt ergänzen, der bislang nur ganz am Rande in einigen Anmerkungen zum LissabonUrteil auftaucht.42 Es geht dabei um die Frage, ob sich die mit der Feststellung verfassungsnotwendiger Staatsaufgaben verbundene Integrationsschranke konsequenterweise im nationalen Recht zugleich als Privatisierungsschranke auswirkt. Zunächst soll beleuchtet werden, inwieweit notwendige Staatsaufgaben generell als Privatisierungsgrenze in Betracht gezogen werden (1.). Anschließend ist auf die besondere Wirkung von privatisierungsbegrenzenden Verfassungsvorgaben einzugehen (2.).
1. Notwendige Staatsaufgaben als Privatisierungsgrenze Nach der sog. Aufgabentheorie, die in der Diskussion um die Zulässigkeit von Privatisierungen früher häufiger vertreten wurde, kann sich der Staat bestimmten Aufgaben von vornherein nicht entziehen. Die Aufgabentheorie ging von einem festen, materiell bestimmbaren Kreis originärer und damit unübertragbarer Staatsaufgaben aus. In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht in älteren Entscheidungen etwa die „Rechtspflege“ mehrfach als „originäre Staatsaufgabe“ bezeichnet.43 Mittlerweile befi ndet sich diese Theorie allerdings auf dem Rückzug. Es 41 Vgl. F. Schorkopf, EuZW 2009, 718 (721): Kriterium fehlender „Responsivität“ auf europäischer Ebene (wobei dieses Kriterium wohl nur eine Indiz- bzw. Vorrangfunktion haben kann, da auch dann, wenn in allen Bereichen eine hinreichende „Responsivität“ auf europäischer Ebene bestünde, nach der bundesverfassungsgerichtlichen Grundkonzeption ein hinreichender Aufgabenbestand auf mitgliedstaatlicher Ebene bestehenbleiben müsste); prinzipiell zustimmend gegenüber dem Ansatz des BVerfG – vor dem Hintergrund einer insgesamt relativierenden Betrachtungsweise, vgl. o., Fn. 5 – auch G. Britz, EuR 2010, Beiheft 1, 151 (156 ff.). 42 Z. B. bei D. Halberstam/C. Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1249); M. Desens, Habilitationsvortrag vom 26. 1. 2010, Manuskript, S. 11; M. Wiemers, KritV 2011, 226; vgl. zum Zusammenhang auch schon C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 392; J. A. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 153 ff. Möglicherweise wird dieser Zusammenhang auch in der undeutlichen Äußerung etwa von M. Walter, ZaöRV 72 (2012) unter Bezugnahme auf BVerfGE 123, 267 (363 f.); A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (7) mitangesprochen, wonach „die Schranken für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Ebene [. . .] denen entsprechen, denen auch der verfassungsändernde Gesetzgeber innerstaatlich unterliegt“. 43 BVerfGE 17, 371 (376); 73, 280 (292); dazu W. Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 339; J. Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl., 2006, § 73 Rn. 29 m. Fn. 81; vgl. auch BVerfGE 95, 250 (265): „von Verfassungs wegen notwendige Staatsaufgabe“ (ableh-
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werden zwar weiterhin verbreitet einige „zentrale und [. . .] traditionelle Staatsfunktionen“ namentlich ausgemacht. Dazu gehören vor allem die „innere und äußere Gefahrenabwehr, Gesellschaftsgestaltung und Sozialstaatlichkeit“. Auch diese Funktionen seien aber, so wird gesagt, „dem Staat nicht vorgegeben, sondern nur Resultanten der derzeit bestehenden Kräfteverteilung zwischen Staat und Gesellschaft und mithin einem, wenn auch mählichen, Wandel unterworfen“, d. h. sie umschrieben keinen unveränderlichen Kernbestand staatlicher Aufgaben, sondern ihre Staatsnähe folge aus der Tatsache, dass die Staatlichkeit mit bestimmten Aufgaben verbunden sein müsse, um sich als „Wesenheit“ von der Gesellschaft zu unterscheiden. Privatisierungsschranken ergeben sich nach neuerer Auffassung allein aus konkreten Verfassungsvorgaben, etwa dem Funktionsvorbehalt für Beamte in Art. 33 Abs. 4 GG, der Regelung von Gegenständen staatlicher Verwaltungstätigkeit in Art. 87 ff. GG oder den Grundrechten. Aus dem Demokratieprinzip nach Art. 20 GG folgt vor allem ein Gesetzesvorbehalt für wesentliche, also das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft grundlegend verändernde Privatisierungsvorhaben.44 Die Verfassungsbestimmungen, aus denen sich Privatisierungsgrenzen ergeben, werden dabei durchaus im Sinne eines Aufgabenkatalogs aufgelistet.45 So wird das staatliche Gewaltmonopol häufig im Zusammenhang mit Art. 33 Abs. 4 GG genannt.46 In Bezug auf die Regelungen der Art. 86 ff. GG geht es hingegen um konkrete Bereiche staatlicher Infrastrukturverantwortung, etwa im Bereich des Verkehrswesens, die im Lissabon-Urteil keine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund ist der maßgeblich auf Art. 20 GG gestützte Katalog des Lissabon-Urteils also sogar vergleichsweise eng gefasst. Wegen der Herleitung der materiellen Privatisierungsgrenzen aus konkreten Verfassungsnormen außerhalb von Art. 1 und 20 GG wird andererseits ein absoluter Bestandsschutz aus Art. 79 Abs. 3 GG in der Literatur üblicherweise nicht erwogen.47 Insgesamt wäre eine stärkere Bezugnahme auf die im Privatisierungskontext genannten konkreten Verfassungsbestimmungen und eine genauere Bestimmung ihres Verhältnisses zu Art. 20 GG allerdings auch in der Begründung des Lissabon-Urteils durchaus wünschenswert gewesen.48
nend in Bezug auf die überörtliche Stromversorgung); dazu C. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 23, 60. 44 Ausführlich zum Ganzen J. A. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 157 ff. [Zitate: 164 f.], 174 ff., insbes. 191 ff.; menschenwürdebezogener Grundansatz bei W. Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 97 ff.; dahingehend auch schon dezidiert P. Häberle, AöR 111 (1986), 595 (611). 45 Grundlegend H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., 1977, S. 149 ff., 213 ff.; vgl. daneben etwa M. Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 57 f., 194 ff.; C. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 61 ff. 46 Exemplarisch U. Di Fabio, JZ 1999, 585 (590 ff.); relativierend B. Pieroth, in: Gutmann/Pieroth, Die Zukunft des staatlichen Gewaltmonopols, 2011, S. 53 (60 ff.); differenzierend M. Burgi, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 67. Deutschen Juristentages, Band I, 2008, S. D 57. 47 Dazu vor dem Hintergrund der europäischen Integration, aber letztlich ablehnend J. A. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 154 ff. 48 Allgemeiner (ohne Bezugnahme auf die Privatisierungsproblematik) in diesem Sinne bereits nachdrücklich P. Häberle, JöR n. F. 58 (2010), 317 (328).
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2. Schwächere Wirkung der privatisierungsbegrenzenden Verfassungsvorgaben Fragt man sich in einem nächsten Schritt, ob der verstärkte Bestandsschutz für den Aufgabenkatalog des Lissabon-Urteils konsequenterweise nun auch gegenüber Privatisierungen gilt, so muss man die Besonderheit der privatisierungsbegrenzenden Verfassungsvorgaben berücksichtigen. Die Verfassungsvorgaben für Privatisierungen wirken nach neuerer Auffassung generell nicht absolut, d. h. es gibt keine Bereiche, die vollständig vor einer Privatisierung geschützt sind. Aus dem Subsidiaritätsgedanken im Verhältnis von Staat und Gesellschaft wird sogar ein Gebot möglichst weitgehender Ermöglichung privater Initiative in allen Bereichen des staatlichen Lebens gefolgert. Die staatliche Letztverantwortung, die mit einer verfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisung verbunden ist, stellt sich danach in der Regel heute als bloße Gewährleistungsverantwortung, wie in Art. 87e und Art. 87 f GG beispielhaft angesprochen, und nicht mehr – wie früher oft angenommen wurde – als umfassende Erfüllungsverantwortung dar.49 Der Staat ist danach in weitem Umfang zu Aufgabenauslagerungen berechtigt, solange er eine gemeinwohlgemäße Aufgabenerfüllung im Ergebnis sicherstellt. Hat der Gesetzgeber eine Aufgabe zur privaten Erfüllung übertragen, so bleibt ihm zur Wahrnehmung seiner Gewährleistungsverantwortung dabei prinzipiell jederzeit die Möglichkeit eines rückverstaatlichenden Gesetzes, also der konkreten Aufgabenrückholung. Das unterscheidet den privatisierenden von dem supranationalisierenden Gesetzgeber, dem diese Möglichkeit wie dargelegt, so nicht zur Verfügung steht. Unter diesem Aspekt wirken die verfassungsrechtlichen Privatisierungsgrenzen im Moment der Aufgabenübertragung schwächer als die verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen, die die weiterreichenden Integrationswirkungen berücksichtigen müssen. Aus dieser Eigenart der privatisierungsbegrenzenden Verfassungsvorgaben ergibt sich, dass der spezifisch integrationsbezogene Aufgabenkatalog des Lissabon-Urteils nicht zugleich als Privatisierungsschranke wirkt.
IV. Fazit: Neue Staatsaufgabenlehre als integrationsspezifischer Schutz der gesetzgeberischen Dispositionsfreiheit Abschließend bleibt damit festzuhalten: Es ist eine weithin anerkannte Grunderkenntnis, dass der Staat im Rahmen seiner weitgefassten Gemeinwohlverpfl ichtung jede beliebige Aufgabe, also beispielsweise auch die Förderung des Profi fußballs im Lande, sei es zur Stärkung des Landesbewusstseins,50 sei es zur Stärkung des Sportsgeistes, in die Hand nehmen und damit – gleich einem König Midas51 – zu seiner Aufgabe machen kann. Der Staat kann seinen Aufgabenkreis also zwar prinzipiell
49 Ausführlicher W. Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 291 ff.; allgemeiner etwa C. Franzius, VerwArch 99 (2008), 351 ff.; M. Knauff, DÖV 2009, 581 ff. 50 In diesem Sinne P. Häberle, JöR n. F. 52 (2004), 155 (159): Beitrag „zur nationalen Identitätsfi ndung“. 51 C. Link, VVDStRL 48 (1990), 7 (16).
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beliebig erweitern, aber er kann ihn nicht in gleicher Weise beliebig einschränken.52 Das bestätigt die neue Staatsaufgabenlehre des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil. Sie entspricht der Struktur des Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG, und sie trägt dabei den rechtlichen Rahmenbedingungen des europäischen Integrationsprozesses Rechnung, die zu einem verstärkten Schutz der grundsätzlichen gesetzgeberischen Dispositionsfreiheit über die staatlichen Aufgaben führen. Soweit verfassungsnotwendige Staatsaufgaben als Privatisierungsgrenze wirken, gelten hingegen andere Rahmenbedingungen, so dass sich aus dem Lissabon-Urteil insoweit keine Verschärfung der bestehenden Verfassungsanforderungen ergibt.
52 Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (379): „in den Aufgaben begrenzter Staatenverbund“ als Gegenstück zur staatlichen Allzuständigkeit.
Europäisierung als Rechtsbegriff von
Privatdozent Dr. Thorsten Siegel, Speyer* I. Einführung Der Begriff der „Europäisierung“ ist bereits seit Längerem in der Rechtswissenschaft im Allgemeinen1 sowie im Verwaltungsrecht im Besonderen 2 verbreitet. Allerdings wird der Begriff oftmals nur erwähnt, selten mit einer dogmatischen Konturierung verbunden. Die Gründe hierfür liegen insbesondere in der Inkohärenz des Verwaltungsrechtsstoffes sowie in der Pluralität der Rechtsordnungen.3 Vor diesem Hintergrund wird in dem Beitrag zunächst auf die Phasen der Europäisierung (u. II.) sowie vorhandene Definitionen (u. III.) eingegangen. Im Mittelpunkt steht sodann die mit Beispielen unterlegte Darstellung der verschiedenen Funktionsweisen und Arten der Europäisierung (u. IV. und V.). Kumuliert werden die verschiedenen Funktionsweisen und Arten in der gesamtheitlichen Europäisierung (u. VI.). Abschließend wird die Konturierung der Grenzen der Europäisierung durch das Bundesverfassungsgericht behandelt (u. VII.).
* Der Verfasser ist wissenschaftlicher Referent am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer (www.foev-speyer.de/siegel). Der Beitrag enthält einzelne Elemente der 2012 bei Mohr Siebeck erschienenen Monographie „Europäisierung des Öffentlichen Rechts“. 1 Grundlegend Helmut Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, NJW 1990, S. 937 ff.; Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. Entwicklungsgeschichtlicher Überblick bei Peter Häberle Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 53 ff. Aus politologischer Perspektive etwa Roland Sturm/Heinrich Pehle, Das neue deutsche Regierungssystem: die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2012. 2 Hierzu Matthias Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, DÖV 2007, S. 761 ff.; Ulrich Stelkens, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2012. 3 Hierzu Matthias Ruffert, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode?, DV, Beiheft 10, 2010, S. 205 (206 ff.).
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II. Phasen der Europäisierung Entwicklungsgeschichtlich kann bei der Europäisierung des Verwaltungsrechts, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, bislang zwischen drei Hauptphasen unterschieden werden:4 Die erste Phase markierte die allmähliche Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch die europäische Gerichtsbarkeit. Die zweite Phase wurde durch eine Intensivierung gemeinschaftlicher Einwirkungen auf das nationale (Verwaltungs-)Recht geprägt. Die dritte Phase wird schließlich bestimmt durch eine allmähliche Verflechtung der Rechtsordnungen, die insbesondere im Begriff des Europäischen Verwaltungsverbundes5 zum Ausdruck kommt. Dabei ist die zweite Phase von systembewahrender Skepsis, die dritte von systemöffnender Neugier geprägt.6 Zudem ist gegenwärtig eine Phase gewisser Konsolidierung eingetreten.7
III. Definitionen im Schrifttum Bei einer ersten begriffl ichen Annäherung umschreibt die Europäisierung den Einfluss8 beziehungsweise die Einwirkungen9 des Europarechts auf die nationalen Rechtsordnungen der europäischen Staaten. Konkretisiert man diese Begriffe, so kann unter Europäisierung mit Eberhard Schmidt-Aßmann der „Prozeß fortschreitender Beeinflussung, Wandlung und Überformung eines Rechtsgebietes durch die Rechtsmassen europäischen Rechts und das in ihnen wirksame Rechtsdenken“10 verstanden werden. Karl-Peter Sommermann umschreibt als Europäisierung das Phänomen, dass „das nationale Verwaltungsrecht aufgrund der sich ausdehnenden Gemeinschaftsordnung einem Prozeß der Neuinterpretation, Inhaltsänderung und Substituierung selbstbestimmter Rechtsetzung durch gemeinschaftsdeterminierte
4 Wolfgang Kahl, 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – 35 Jahre Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, NVwZ 2011, S. 449. 5 Prägend insbesondere Eberhard Schmidt-Aßmann, Europäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, in: Cremer/Giegerich/Richter/Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, S. 1375 ff.; ergänzte und aktualisierte Fassung abgedruckt unter dem Titel „Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts“, in: derselbe/Schöne-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund – Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, 2005, S. 1 ff. 6 Oliver Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? – Oder: Die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, DV, Beiheft 10, 2010, S. 179 ff., mit einer gleichzeitigen Fokussierung auf zweite und dritte Phase. 7 Hierzu sowie zu den Perspektiven Eberhard Schmidt-Aßmann, Perspektiven der Europäisierung des Verwaltungsrechts, DV, Beiheft 10, 2010, S. 263 ff. 8 Eckart Klein, Der Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten, Der Staat 33 (1994), S. 39. 9 Christoph Engel, Die Einwirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Deutsche Verwaltungsrecht, DV 25 (1992), S. 437 ff.; Dirk Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, DVBl. 2004, S. 1441; Annette Guckelberger, Grundgesetz und Europa, ZEuS 2012, S. 1 (7). 10 Eberhard Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Badura/ Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens – Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 513.
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Regelungen unterworfen ist“11. Aufgrund der Supranationalität besonders ausgeprägt ist die Europäisierung naturgemäß im Bereich der Europäischen Union, welche deshalb im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen wird. Die vertikale Wirkungsweise zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten ist jedoch nicht ausschließlich einseitig, sondern wechselseitig12 und wird zunehmend durch horizontale Verschränkungen unter den europäischen Staaten ergänzt.13
IV. Funktionsweisen der Europäisierung Im Anschluss an diese Defi nitionen kann zunächst differenziert werden nach den verschiedenen Funktionsweisen der Europäisierung. Karl-Peter Sommermann unterscheidet hier grundlegend zwischen direkter und indirekter Europäisierung:14 Erstere umschreibt er als die unionsrechtlich gebotene Neuinterpretation nationalen Rechts aufgrund eines ausdrücklichen Normbefehls, zweitere als Anpassungseffekte ohne ausdrücklichen Normbefehl. Im Anschluss an diese Unterscheidung soll im Folgenden nach der Funktionalität unterschieden werden zwischen einer Europäisierung im engeren Sinne, einer solchen im weiteren Sinne und einer solchen im weitesten Sinne. Die ersten beiden Kategorien lassen sich grundsätzlich der direkten Europäisierung zuordnen, die dritte Kategorie entspricht der indirekten Europäisierung.15
1. Europäisierung im engeren Sinne als Auflösung direkter Normenkollisionen Von besonderer Relevanz ist die Europäisierung im engeren Sinne. Sie umschreibt diejenigen Fälle der Europäisierung, in denen aufgrund eines ausdrücklichen Normbefehls von vornherein beabsichtigt ist, das nationale Recht zu modifizieren durch die Normierung unmittelbar wirkenden oder zumindest umzusetzenden Sekundär11
Karl-Peter Sommermann, Europäisches Verwaltungsrecht oder Europäisierung des Verwaltungsrechts?, DVBl. 1996, S. 889 (891). 12 Die Wechselseitigkeit bereits betonend Schmidt-Aßmann (Fn. 10), S. 513; ebenso Hans-Werner Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 202 ff.; Manfred Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 154 ff. 13 Zu diesem horizontalen Verhältnis Engel (Fn. 9), DV 25 (1992), S. 437 (451); Jens-Peter Schneider, Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds – Einleitende Bemerkungen, DV, Beiheft 8, 2009, S. 9 f. Analog hierzu differenzierend zwischen supra- und transnationalen Tendenzen Karl-Heinz Ladeur, Supra- und transnationale Tendenzen in der Europäisierung des Verwaltungsrechts – eine Skizze, EuR 1995, S. 227 ff. Zur hier besonders bedeutsamen Rechtsvergleichung die von Jens-Peter Schneider herausgegebene Schriftenreihe Verwaltungsrecht in Europa: Band 1: England und Wales; Spanien; Niederlande, 2007; Band 2: Frankreich; Polen; Tschechien, 2009. 14 Karl-Peter Sommermann, Veränderungen des nationalen Verwaltungsrechts unter europäischem Einfluss – Analyse aus deutscher Sicht, in: Schwarze (Hrsg.), Bestand und Perspektiven des Europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 181 (190 und 193). Zustimmend Kahl (Fn. 4), NVwZ 2011, S. 449 (454 f.). 15 Gleichwohl bestehen zwischen den drei Grundkategorien wechselseitige Ergänzungen und Verschränkungen; hierzu Thorsten Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Rechts, 2012, Rn. 75.
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rechts. Eine solche Europäisierung im engeren Sinne ist insbesondere anzutreffen auf den Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts, also dem etwa Stoffrecht, dem Umweltrecht sowie dem Wirtschaftsverwaltungsrecht.16 Denn hier werden im Sinne einer direkten Normenkollision von europäischer Seite gezielt die nationalen Bestimmungen überlagert oder angereichert.17 Im Rahmen der Europäisierung im engeren Sinne kommen zugleich die unterschiedlichen Arten der materiellen, der prozeduralen und der institutionellen Europäisierung in besonderer Weise zum Tragen (s. u. V.).
2. Europäisierung im weiteren Sinne als Auflösung indirekter Normenkollisionen Die Europäisierung im weiteren Sinne umschreibt hingegen diejenigen Konstellationen, in denen die Europäisierung nicht die Folge einer gezielten Überlagerung ist, sondern lediglich die Folge einer indirekten Normenkollision18 zwischen der europäischen und der nationalen Ebene. So verkörpern diejenigen Fälle, in denen die nationalen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensrechts und des Verwaltungsprozessrechts aufgrund des Effektivitätsprinzips in modifizierter Weise ausgelegt oder angewendet werden müssen, grundsätzlich eine solche Europäisierung im weiteren Sinne.19 Dies gilt etwa für die unionsrechtlich gebotene Ausweitung klagefähiger Positionen gegenüber der klassischen Schutznormlehre nach nationalem Rechtsverständnis.20 Eine solche Europäisierung im weiteren Sinne ist aber auch im Bereich der Grundrechte anzutreffen. Hier sind trotz der sukzessiven Angleichung grundrechtlicher Handlungsmaßstäbe auf Unionsebene21, deren Höhepunkt die Integration der EU-Grundrechte-Charta in das primäre Unionsrecht bildet22, in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs immer wieder „Überlagerungen“ grundrechtlicher 16
Eingehend Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 247 ff. Zum Begriff Matthias Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, 2000, S. 1 (22 ff.); Matthias Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 1 AEUV Rn. 22. 18 Zum Begriff Niedobitek (Fn. 17), S. 22 ff.; Ruffert (Fn. 17), Art. 1 AEUV Rn. 22. 19 Zu diesem funktionalen Zusammenhang zwischen indirekter Normenkollision, Effektivitätsprinzip und nationalem Verfahrensrecht Martin Nettesheim, Rang des Unionsrechts, in: Oppermann/ Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 10 Rn. 36. Anders verhielte es sich, wenn man einem ausdrücklichen Normanwendungsbefehl einen um das Effektivitätsprinzip verlängerten gleichstellt; in diesem Sinne Sommermann (Fn. 14), S. 191, der auch die Fälle einer indirekten Normenkollision der direkten Europäisierung zuordnet. 20 Hierzu eingehend Wolfgang Kahl/Lutz Ohlendorf, Die Europäisierung des subjektiven öffentlichen Rechts, JA 2011, S. 41 ff.; Martin Nettesheim, Subjektive Rechte im Unionsrecht, AöR 132 (2007), S. 333 ff. 21 Zu diesem Prozess Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 123 ff. Zur Grundrechtskonkurrenz eingehend Ferdinand Wollenschläger, Die Gewährleistung von Sicherheit im Spannungsfeld der nationalen, unionalen und EMRK-Grundrechtsordnungen: Überlegungen zu Grundrechtsregimekonkurrenzen und ihrer Bewältigung im Europäischen Mehrebenensystem, in: Iliopoulos-Strangas/Diggelmann/ Bauer (Hrsg.), Rechtsstaat, Freiheit und Sicherheit in Europa, 2010, S. 45 ff. 22 Peter M. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta des Grundrechte, NJW 2011, S. 2385; Rudolf Streinz, in: derselbe (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rn. 2. Zur Bindung der EU-Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte Hans D. Jarass, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte, NVwZ 2012, S. 547 ff. 17
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Wertungen anzutreffen.23 Ein Beispiel bildet etwa die Bewertung so genannter Tariftreueklauseln. Danach dürfen öffentliche Aufträge nur an solche Unternehmen vergeben werden, welche die einschlägigen Tariftreueklauseln einhalten, insbesondere die tarifl ichen Löhne zahlen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Tariftreueklauseln im Jahre 2006 als vereinbar mit der Berufsfreiheit des Art. 12 GG erachtet.24 Denn – so die Begründung – die damit getroffene Berufsausübungsregelung verfolge auch das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und diene daher einem Gemeinwohlbelang von sogar hoher Bedeutung.25 Hingegen steht der Europäische Gerichtshof in seiner Rüffert-Entscheidung aus dem Jahre 2008 einer Tariftreuepfl icht skeptisch gegenüber:26 Denn das Verlangen nach einer solchen verstößt nach Ansicht des Gerichtshofs grundsätzlich gegen die Arbeitnehmerentsendungsrichtlinie; eine Ausnahme erachtet der Gerichtshof allenfalls bei für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen als zulässig. Die Entscheidung bezog sich zwar unmittelbar auf die Frage der Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht. Sie wurde jedoch ausdrücklich durch eine Würdigung der Richtlinie „im Lichte des Art. 49 EGV“ und mit der Dienstleistungsfreiheit als Bestandteil primären Unionsrechts bestätigt. Daher sprechen gute Gründe dafür, Tariftreueklauseln allgemein nur bei normativer Verbindlichkeitserklärung als vereinbar mit dem Unionsrecht zu erachten.27 Unabhängig von solchen interpretatorischen Unterschieden im Einzelfall wird im Bereich der Grundrechte jedoch immer häufiger für eine Ablösung des hierarchischen Denkens durch einen Dialog der Gerichte plädiert.28
3. Europäisierung im weitesten Sinne als wechselseitige interpretative Annäherung Von einer Europäisierung im weitesten Sinne kann in den Fällen gesprochen werden, in denen weder eine direkte noch eine indirekte Normenkollision aufzulösen ist, sondern – lediglich – wechselseitige interpretative Annäherungen vorliegen.29 Solche Annäherungen können in Transnationalisierungsphänomenen jenseits eines Normbefehls liegen30, vor allem aber zwischen der europäischen und der nationalen 23
(Weitere) Beispiele bei Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 133 ff. BVerfGE 116, 202 (221 ff.). 25 Hierzu etwa Martin Burgi, Die künftige Bedeutung der Freiheitsgrundrechte für staatliche Verteilungsentscheidungen, WiVerw 2007, S. 173 ff.; Jost Pietzcker, Gerichtsschutz im Unterschwellenbereich und Tariftreueklauseln – zwei klärende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Zf BR 2007, S. 131 ff. 26 EuGH, Urt. v. 3. 4. 2008 – Rs. C-346/08 –, Slg. I-2008, 1989, insbesondere Rn. 36 – Rüffert. 27 Thorsten Siegel, Sozial- und Umweltstandards im öffentlichen Beschaffungswesen, LKRZ 2011, S. 121 (123 f.). Zur allerdings immer stärkerer Öffnung des Vergaberechts für zumindest vermeintlich „vergabefremde Zwecke“ EuGH, Urt. v. 10. 5. 2012 – Rs. C-369/10, EuZW 2012, S. 592 ff. – Kommission/Niederlande; hierzu die Anmerkung von Thorsten Siegel, EuZW 2012, S. 599 f. 28 So insbesondere Ferdinand Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, S. 3681 (3682). 29 Eingehend Hartmut Bauer, Europäisierung des Verfassungsrechts, JBl. 2000, S. 750 ff. m. w. N. insbesondere in Fn. 8. 30 Sommermann (Fn. 14), S. 197 f. Ein Normbefehl liegt hingegen vor bei der Figur des transnationalen Verwaltungsakts; hierzu Christoph Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Strukturen des deutschen Internationalen Verwaltungsrechts, 2005, S. 151 ff.; Matthias Ruffert, 24
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Rechtsebene stattfi nden.31 Denn die Unionsrechtsordnung und nationale Verfassungsrechtsordnung haben die Funktion „wechselseitiger Auffangordnungen“32. Eine solche Entwicklung lässt sich am Vergleich einzelner Strukturelemente des Verfassungsrechts aufzeigen: So hat das auf Unionsebene entwickelte institutionelle Gleichgewicht im Ausgangspunkt eine Austarierung der Funktionen der verschiedenen Unionsorgane zum Ziele33 ; im Gegensatz dazu wird das auf nationaler Ebene entwickelte Prinzip der Gewaltenteilung interpretiert im Sinne einer Gewaltenhemmung, einer Machtmäßigung zum Schutze individueller Freiheit.34 Gleichwohl ist hier eine „wechselseitige interpretative Annäherung“ zu verzeichnen.35
V. Arten der Europäisierung Die zweite Unterscheidung erfolgt nach der Art der Europäisierung. Je nachdem, ob sich die Europäisierung auf das materielle Recht, das Verfahrensrecht oder das Organisationsrecht bezieht, ist hier zwischen der materiellen Europäisierung, der prozeduralen und der institutionellen Europäisierung zu unterscheiden.36
Der transnationale Verwaltungsakt, DV 34 (2001), S. 453 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht – Wechselseitige Einwirkungen, DVBl. 1993, S. 924 (935). 31 Dies entspräche in der Terminologie Sommermanns (Fn. 14) der indirekten Europäisierung. 32 Peter M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: von Bogdandy/Villalón/Huber, Handbuch Ius publicum europaeum, Band II: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, 2008, § 26 Rn. 109. 33 Karl-Peter Sommermann, Herkunft und Funktionen von Verfassungsprinzipien in der Europäischen Union, in: Bauer/Calliess (Hrsg.), Verfassungsprinzipien in Europa, 2008, S. 15 (35 f.). Zur Genese Waldemar Hummer, Das „institutionelle Gleichgewicht“ als Strukturdeterminante der Europäischen Gemeinschaften, in: Miehsler/Mock/Simma/Tammelo (Hrsg.), Ius Humanitatis – Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, 1980, S. 459 ff. Grundlegend waren hier die beiden Meroni-Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, EuGH, Urt. v. 13. 6. 1958, Rs 9/56, Slg. 1958, S. 16 (44) – Meroni I; Rs. 10/56, Slg. 1958, S. 57 (82) – Meroni II. 34 Zu dieser klassischen Interpretation des Grundsatzes der Gewaltenteilung Udo Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II: Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004, § 27 Rdnr. 3; Michael Sachs, in: derselbe (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rdnr. 81; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Band II: Art. 20–82, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rdnr. 67 f.; Karl-Peter Sommermann, in: Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band 2: Artikel 20 bis 82, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Abs. 2 Rdnr. 208 f. 35 Eingehend Thorsten Siegel, Das Gleichgewicht der Gewalten in der Bundesrepublik Deutschland und in der Europäischen Gemeinschaft, DÖV 2010, S. 1 ff. Für eine – zumindest teilweise – funktionale Entsprechung auch Christian Calliess, in: derselbe/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 13 EUV Rn. 17; Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II: Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 106. Matthias Herdegen, Europarecht, 14. Aufl. 2012, § 8 Rdnr. 109, bezeichnet das institutionelle Gleichgewicht sogar als „unionsrechtliches Gegenstück“ zum Prinzip der Gewaltenteilung. 36 Ähnlich bereits Sommermann (Fn. 14), S. 182 ff., mit einer Differenzierung nach einer Europäisierung des materiellen Verwaltungsrechts, des Verwaltungsverfahrensrechts und des Verwaltungsorganisationsrechts. Etwas andere Differenzierung bei Heike Jochum, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozeßrecht, 2004, S. 388 ff., die zwischen einer Beeinflussung vom materiellem Verwaltungsrecht, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozessrecht unterscheidet.
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1. Materielle Europäisierung a) Zum Begriff der materiellen Europäisierung Die älteste Stufe bildet die materielle Europäisierung. Im Ausgangspunkt geht es hier um den schlichten Vorgang, dass die Union (materielle) Rechtsvorschriften schafft, welche die nationalen Rechtsvorschriften gleichsam überlagern. Den Hintergrund bildet der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht.37 Dabei kann zwischen einem quantitativen einem qualitativen Anwendungsvorrang unterschieden werden:38 Der quantitative Anwendungsvorrang umschreibt die Regelungsreichweite des Unionsrechts und erfasst insbesondere die Situation, dass der Anwendungsbereich des Sekundärrechts – sei es, um dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung zu tragen, sei es „freiwillig“ – auf bestimmte Teilbereiche beschränkt ist. So beschränken sich etwa die europäischen Vergaberichtlinien auf Vergaben ab Erreichen der so genannten Schwellenwerte als geschätzter Auftragssummen.39 Der qualitative Anwendungsvorrang bezieht sich hingegen auf die Regelungsdichte.40
b) Materielle Europäisierung des nationalen materiellen Rechts Gegenstand einer materiellen Europäisierung ist im Ausgangspunkt das nationale materielle Recht. Ein Beispiel für eine solche materielle Europäisierung des nationalen materiellen Rechts bilden die bereits erwähnten europäischen Vergaberichtlinien. Hier stand in der nationalen Rechtsordnung zunächst der Gedanke der Schonung öffentlicher Ressourcen im Mittelpunkt. Aufgrund dieser Zielausrichtung wurde dies auch als haushaltsrechtliche Lösung bezeichnet. Der europäische Gesetzgeber hat hingegen den Gedanken des Schutzes der Mitbewerber in den Mittelpunkt gestellt. Der Gedanke der Schonung öffentlicher Ressourcen wird damit gleichsam überlagert durch den Wettbewerbsgedanken.41 Aufgegriffen hat der deutsche Gesetzgeber diese wettbewerbsrechtliche Lösung durch eine Umsetzung der Verga37 Statt vieler nur Martin Nettesheim, Rang des Unionsrechts, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 10 Rn. 32 ff. 38 Zu dieser Unterscheidung Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 32 ff. 39 Diese liegen seit dem 1. Januar 2012 (wieder) bei 5 Mio, A für öffentliche Bauaufträge sowie grundsätzlich bei 200.000 A bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, VO (EU) 1251/2011 v. 30. 11. 2011, ABl. EU Nr. L 391 v. 2. 12. 2011, S. 43 f. Allerdings hat der Gerichtshof für Vergaben außerhalb des Anwendungsbereichs der EU-Vergabe-Richtlinien und damit insbesondere für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte bestimmte Grundsätze aus den Grundfreiheiten abgleitet; Übersicht bei Jan Ziekow, in: derselbe/Völlink (Hrsg.), Vergaberecht, 2011, Einleitung GWB, Rn. 9 ff. 40 Hierzu Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 36. 41 Im Mittelpunkt steht hier die Richtlinie 2004/18/EG vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. Nr. L 134 vom 30. 4. 2004, S. 114 ff., zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1177/2009 v. 30. 11. 2009, ABl. Nr. L 314 v. 1. 12. 2009, S. 64 f. Zur anstehenden Novellierung des EU-Vergaberechts siehe den Richtlinienvorschlag der Kommission vom 20. 12. 2011, KOM (2011), 896 endgültig; hierzu Andreas Neun/Olaf Otting, Die Entwicklung des europäischen Vergaberechts in des Jahren 2011/12, EuZW 2012, S. 566 ff.
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berichtlinien im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und damit einem primär wettbewerbsrechtlich ausgerichteten Gesetz.42 Die gleichzeitige Beschränkung des sekundärrechtlichen europäischen Vergaberechts auf Aufträge ab Erreichen der Schwellenwerte hat aufgrund der unterschiedlichen Zielausrichtungen und der daran anschließenden unterschiedlichen Rechtsgrundlagen letztlich zu einer Zweiteilung des Vergaberechts geführt.43
c) Materielle Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts? Im Ausgangspunkt bezieht sich die materielle Europäisierung nach dem soeben Gesagten auf das nationale materielle Recht. Möglich ist indessen auch eine materielle Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts. Auf den ersten Blick erscheint es allerdings widersprüchlich, von einer materiellen Europäisierung verfahrensbezogener damit formeller Anforderungen auszugehen. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich jedoch auflösen, wenn man sich einen wichtigen Anwendungsfall der materiellen Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts vor Augen führt, nämlich die Auf hebung von Bescheiden, welche gegen das europäische Beihilferecht verstoßen.44 Das Effektivitätsprinzip als die rechtsdogmatisch konsequente Fortentwicklung des Anwendungsvorrangs45 verlangt auch hier, dass der Vollzug des Unionsrechts nicht faktisch unmöglich gemacht oder unzumutbar erschwert werden darf. Dies hat zunächst zur Folge, dass im Rahmen des § 48 VwVfG die „flexiblen“ Bestimmungen, zu denen etwa die Bestimmung des schutzwürdigen Vertrauens oder Auslegung des nach nationalem Recht grundsätzlich bestehenden Ermessens zählen, unionsrechtskonform auszulegen sind. Zum anderen wird entgegenstehendes Recht, insbesondere die grundsätzlich auf ein Jahr begrenzte Rücknahmefrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG, verdrängt.46 Im Ergebnis werden damit die Bewertungsmaßstäbe gegenüber rein nationalen Vorgängen beträchtlich modifiziert.47 Die Ausräumung auch dem Wortlaut nach – vermeintlich – unüberwindbarer Hindernisse verdeutlicht zugleich die Zugehörigkeit des Gebots der unionsrechtskonformen Auslegung zum Anwendungsvorrang.48 42 Zu dieser unterschiedlichen Zweckausrichtung Jan Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2010, § 9 Rn. 1. 43 Grundlegend Jost Pietzcker, Die Zweiteilung des Vergaberechts, 2001. 44 Grundlegend EuGH, Urt. v. 20. 3. 1997 – Rs. C-24/95 –, Slg. 1997, I-1591, Rn. 27 ff. – Alcan II. Eingehend dazu Joachim Suerbaum, Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts am Beispiel der Rückabwicklung gemeinschaftsrechtswidriger staatlicher Beihilfen, VerwArch 91 (2000), S. 169 ff. 45 So auch die dogmatische Einordnung bei Matthias Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 1 AEUV Rn. 22. 46 Überblick bei Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 235 ff. 47 Dirk Ehlers, Europäisches Recht und Verwaltungsrecht, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.): Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010 § 5 Rn. 46. Kritisch zu dieser Entwicklung Wolfgang Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifi kationsidee, DV, Beiheft 10, 2010 S. 39 (73 f.), der insoweit von einer „entkernten Normruine“ spricht. 48 Hans D. Jarass/Sasa Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, S. 1 (2 f.), mit einer treffenden Bezeichnung als „Anwendungsvorrang im weiteren Sinne“.
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2. Prozedurale Europäisierung a) Zum Begriff der prozeduralen Europäisierung Neben der soeben dargelegten materiellen Europäisierung läge es im Anschluss nahe, die formelle Europäisierung als zweite Grundart zu benennen. Allerdings würde dabei die Unterscheidung zwischen einer auf das Verfahren bezogenen Europäisierung und einer einrichtungsbezogenen Europäisierung nicht hinreichend deutlich. Deshalb soll im Folgenden terminologisch unterschieden werden zwischen einer prozeduralen, auf das Verfahren bezogenen Europäisierung und einer institutionellen, auf die Einrichtungen bezogenen Europäisierung.49
b) Prozedurale Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts Gegenstand der prozeduralen Europäisierung ist im Ausgangspunkt das nationale Verfahrensrecht. Auch hier kommt der Anwendungsvorrang in Verbindung mit dem Effektivitätsprinzip zum Zuge. Mit der prozeduralen Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts wird ein Vorgang umschrieben, in dem unionsrechtliche Verfahrensvorgaben die nationalen Verfahrensvorschriften gleichsam überlagern.50 Dies gilt etwa für die Vorgaben der europäischen Dienstleistungsrichtlinie; denn diese verpfl ichtet die Mitgliedstaaten zur Anpassung ihrer Verfahrensvorschriften. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang insbesondere das Verfahren vor dem Einheitlichen Ansprechpartner, welches in §§ 71a ff. VwVfG Eingang gefunden hat.51 Der Einheitliche Ansprechpartner hat die Funktion eines Verfahrensmittlers.52 Das Verfahren vor dem Einheitlichen Ansprechpartner ist in §§ 71a ff. VwVfG geregelt.53 Elemente dieser prozeduralen Europäisierung sind die die Vorschriften zur Konkretisierung des Zügigkeitsgebots in § 71b VwVfG, die besonderen Informationspfl ichten nach § 71c VwVfG, die Pfl ichten zur gegenseitigen Unterstützung nach § 71d VwVfG sowie der Anspruch auf eine elektronische Verfahrensabwicklung nach § 71e VwVfG.54
49 Andere Differenzierung bei H. Jochum (Fn. 36), S. 397 ff., bei den dort so bezeichneten „Dimensionen“ der Europäisierung. 50 Zum neuen Komitologieverfahren nach der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 Andrea Edenharter, Zur Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon, DÖV 2011, S. 645 ff. 51 Grundlegend Jan Ziekow/Alexander Windoffer (Hrsg.), Ein Einheitlicher Ansprechpartner für Dienstleister, 2007. 52 Utz Schliesky, in: Knack/Henneke, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2010, Rn. 4 vor §§ 71a71e. Der Einheitliche Ansprechpartner wird somit nicht im so genannten „Back office“ tätig, sondern lediglich im „Front office“. Zu diesen Begriffen Hermann Pünder, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 15 Rn. 45 i. V. m. § 14 Rn. 29. 53 Dort wurde allerdings die Bezeichnung „einheitliche Stelle“ gewählt. 54 Überblick bei Heribert Schmitz/Lorenz Prell, Verfahren über eine einheitliche Stelle, NVwZ 2009, S. 1 ff.
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c) Prozedurale Europäisierung des nationalen materiellen Rechts? Analog zur bereits behandelten Frage der materiellen Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts stellt sich hier umgekehrt die Frage, ob eine prozedurale Europäisierung des nationalen materiellen Rechts möglich erscheint. Auch ein solches – auf den ersten Blick ebenfalls paradoxes – Phänomen erscheint aber durchaus denkbar. So hat der europäische Gesetzgeber in der bereits erwähnten Dienstleistungsrichtlinie auch die Figur der Genehmigungsfiktion normiert. Wird danach ein hinreichend bestimmter Antrag auf Genehmigungserteilung nicht innerhalb einer Frist von regelmäßig drei Monaten bearbeitet, so gilt die Genehmigung als erteilt. Aufgegriffen hat der deutsche Gesetzgeber diese Bestimmung in § 42a VwVfG.55 Im Ausgangspunkt geht es dabei zwar lediglich um eine prozedurale Europäisierung des nationalen Verfahrensrechts. Denn es wird aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben das nationale Verfahren modifiziert, indem ein verzögerlicher Verfahrensablauf sanktioniert wird. Eine echte prozedurale Europäisierung des nationalen materiellen Rechts wäre allerdings dann anzunehmen, wenn die verzögerliche Bearbeitung nicht eine Genehmigungsfi ktion, sondern eine Rechtmäßigkeitsfi ktion zur Folge hätte. Denn dann hätte eine im Ausgangspunkt verfahrensrechtliche Regelung, welche an den Ablauf der Bearbeitungsfrist anknüpft, eine Änderung der materiellen Rechtslage, wenn auch beschränkt auf den Einzelfall, zur Folge. Im Gegensatz zu einer Rechtmäßigkeitsfi ktion kann bei einer Genehmigungsfi ktion jedoch – immerhin – eine Auf hebung erfolgen.56
3. Institutionelle Europäisierung Die dritte Grundart der Europäisierung bildet die institutionelle Europäisierung. Sie umschreibt zunächst die Ergänzung der nationalen Vollzugsbehörden durch Einrichtung oder funktionale Einbeziehung von Unionsstellen. Trotz des Vorrangs des indirekten Vollzugs des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten ist hier eine zunehmende Ausweitung des Direktvollzugs durch die Unionsorgane zu beobachten.57 Bei diesem Ausweitungsprozess sind drei zentrale Stufen zu unterscheiden: zunächst die Herausbildung von Organisationseinheiten innerhalb der Kommission, sodann die Einrichtung der Kommission nachgeordneter Exekutivagenturen sowie schließlich die Gründung rechtlich und funktionell gegenüber der Kommission selbständiger Unionsagenturen. Trotz dieser drei Grundstufen der Ausdifferenzierung bestehen jedoch viele Unterschiede im Detail. Im Hinblick auf die damit letztlich verbundene 55 Hierzu Annette Guckelberger, Die Rechtsfigur der Genehmigungsfi ktion, DÖV 2010, S. 109 ff.; Michael Uechtritz, Die allgemeine verwaltungsverfahrensrechtliche Genehmigungsfi ktion des § 42a VwVfG, DVBl. 2010, S. 684 ff. 56 Zur allerdings sehr umstrittenen Anschlussfrage, ob das Ermessen bei der Auf hebung modifi ziert wird, einerseits Guckelberger (Fn. 55), DÖV 2010, S. 109 (116), andererseits Uechtritz (Fn. 55), DVBl. 2010, S. 684 (692 f.). Zu weiteren verfahrensrechtlichen Folgeproblemen Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 171 ff. 57 Zu dieser Entwicklung Steffen Augsberg, Europäisches Verwaltungsorganisationsrecht und Vollzugsformen, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 6 Rn. 31 ff.; Martin Kment, Das Eigenverwaltungsrecht der Europäischen Union, JuS 2011, S. 211 ff.
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Herausbildung einer Typenvielfalt kann dieser Ausdifferenzierungsprozess auch als Ausdiversifizierung bezeichnet werden.58 Von einer institutionellen Europäisierung kann aber auch dann gesprochen werden, wenn unionsrechtliche Pfl ichten zur Einrichtung bestimmter nationaler Verwaltungsstellen auferlegt werden. Zu erwähnen ist hier insbesondere der Einheitliche Ansprechpartner, dessen Einrichtung die europäische Dienstleistungsrichtlinie vorgibt (s. o. IV.2.b).
VI. Gesamtheitliche Europäisierung 1. Zum Begriff der gesamtheitlichen Europäisierung Die intenstivste Art der Europäisierung bildet eine gesamtheitliche Europäisierung. Gemeint ist damit eine Kumulierung der zuvor dargestellten Funktionsweisen und Arten der Europäisierung. Geradezu sinnbildhaft verkörpert wird die gesamtheitliche Europäisierung durch den Begriff des Europäischen Verwaltungsverbunds. Maßgeblich geprägt wurde der Begriff insbesondere von Eberhard Schmidt-Aßmann.59 Der Europäische Verwaltungsverbund beschreibt das Gefüge von nationalen und gemeinschaftlichen beziehungsweise unionalen Stellen, die das Unionsrecht und das von ihm harmonisierte mitgliedstaatliche Recht funktionell geeint vollziehen.60 Allerdings darf der Begriff der gesamtheitlichen Europäisierung und damit auch des Europäischen Verwaltungsverbunds nicht dahin gehend (miss-)verstanden werden, dass insoweit bereits eine weitgehend vollständige Harmonisierung eingetreten wäre; gleichwohl kann gegenwärtig von eine Konsolidierung auf diesem Sektor gesprochen werden.61
2. Europäisierung der Gewalten Von der Europäisierung erfasst werden alle drei klassischen Gewalten. Von besonderer Bedeutung ist indessen die Europäisierung im Bereich der Exekutive (s. u. V.3. und 4.).62 Nachdem hier zunächst die einzelnen Bereiche des Besonderen Verwaltungsrechts im Mittelpunkt standen, erstreckt sich die Europäisierung inzwischen
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Thorsten Siegel, Entscheidungsfi ndung im Verwaltungsverbund, 2009, S. 5. Schmidt-Aßmann, in: Festschrift für Helmut Steinberger, 2002 (Fn. 5), S. 1375 ff.; derselbe, in: Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005 (Fn. 5), S. 1 ff. 60 Zum Begriff jüngst Wolfgang Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund: Strukturen – Typen – Phänomene, Der Staat 50 (2011), S. 353 (354 ff.). Zum Europäischen Verwaltungsverbund als Informationsverbund Jens-Peter Schneider, Informationssysteme als Bausteine des Europäischen Verwaltungsverbunds, NVwZ 2012, S. 65 ff. 61 Schmidt-Aßmann (Fn. 7), DV, Beiheft 10, 2010, S. 263. 62 Hierzu Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 5 Rn. 30 ff. Zur Europäisierung als Element der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 13 f. 59
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immer mehr auch auf das Allgemeine Verwaltungsrecht.63 Allerdings beschränkt sich die Europäisierung nicht auf die Exekutive. Vielmehr bilden das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente einen Rechtsetzungsverbund.64 Schließlich fungieren das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Bereich der Grundrechte als (Verfassungs-)Rechtsprechungsverbund.65 Fraglich erscheint allerdings, ob derzeit auch bereits von einem Verwaltungsrechtsprechungsverbund gesprochen werden kann. 66 Probleme wirft hier insbesondere das Trennungsprinzip auf: Danach ist bei gestuften Entscheidungen im Europäischen Verwaltungsverbund mit unionsrechtlichen (Voroder Nach-)Stufen Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Unionsstellen vor dem Europäischen Gerichtshof – im Regelfall dem Gericht erster Instanz – zu gewähren, Rechtsschutz gegen Entscheidungen mitgliedstaatlicher Stellen vor den jeweiligen nationalen Gerichten.67 Deshalb wird teilweise die Existenz eines mit dem Europäischen Verwaltungsverbund korrespondierenden Verwaltungsrechtsprechungsverbundes verneint.68 Sofern die Anforderungen an das Maß der Konsistenz jedoch nicht überspannt werden, kann jedoch inzwischen auch insoweit von einem Rechtsprechungsverbund gesprochen werden69, zumindest von einem „noch weiter zu entwickelnden“.70
3. Arten der Zusammenarbeit im Bereich der Exekutive Innerhalb der gesamtheitlichen Europäisierung auf dem Gebiet der Verwaltung können wiederum verschiedene Ebenen der Zusammenarbeit unterschieden werden. Zur vertikalen Zusammenarbeit zwischen der Unionsebene und der Ebene der Mitgliedstaaten gesellt sich auch hier die horizontale Ebene der Gleichordnung.71 In Abgrenzung zur intrahorizontalen Zusammenarbeit, welche auf Ebene der Gleich63 Hierzu insbesondere Dirk Ehlers, Europäisches Recht und Verwaltungsrecht, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.): Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl age Berlin 2010, § 5; Friedrich Schoch, Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozessrechts, NordÖR 2002, S. 1 ff. Zur besonderen Relevanz des Allgemeinen Verwaltungsrechts für die Fortentwicklung der Europäisierung Kahl (Fn. 47), DV, Beiheft 10, 2010, S. 39 (82 ff.). 64 Hierzu Albrecht Weber, Europäisches Parlament und nationale Parlamente im Europäischen Rechtsetzungsverbund, DÖV 2011, S. 497 ff. 65 Hierzu Andreas Voßkuhle, Der Europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff. 66 Zur Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts Martin Burgi, Verwaltungsprozeß und Europarecht, 1996; Oliver Dörr, Grundstrukturen eines europäischen Verwaltungsprozessrechts, DVBl. 2008, S. 1401 ff.; Dirk Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999; derselbe, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, DVBl. 2004, S. 1441 ff.; Peter M. Huber, Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, BayVBl. 2001, S. 577 ff.; Friedrich Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2000. 67 Zu diesem Trennungsprinzip und dem damit verknüpften Rechtsschutz „pro rata“ Ehlers (Fn. 63), § 5 Rn. 67; Ulrich Stelkens, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2012, Rn. 196 m. w. N. 68 Wolfgang Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 152 ff. 69 So auch Klaus Ferdinand Gärditz, Europäisches Verwaltungsprozessrecht, JuS 2009, S. 385. 70 Kahl (Fn. 60), Der Staat 50 (2011), S. 353 (387). 71 Engel (Fn. 9), DV 25 (1992), S. 437 (440 und 451); Schneider (Fn. 13), DV, Beiheft 8, 2009, S. 9 f.
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ordnung innerhalb eines Rechtsträgers erfolgt, sollte die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Rechtsträgern, und damit auch diejenige zwischen den Mitgliedstaaten, als interhorizontal bezeichnet werden. Bei Letzterer hat Gernot Sydow eine grundlegende Systembildung vorgenommen: Zu unterscheiden sind danach das Einzelvollzugmodell, das Transnationalitätsmodell und das Referenzentscheidungsmodell.72
4. Insbesondere: Das Referenzentscheidungsmodell a) Wesen Von besonderer Relevanz für die Europäisierung ist hier das Referenzentscheidungsmodell. Denn das Einzelvollzugsmodell, bei dem jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union „für sich“73 vollzieht, steht von vornherein in einem Spannungsverhältnis zur Europäisierung. Und das Transnationalitätsmodell, bei dem die in einem Mitgliedstaat gefällte exekutivische Entscheidung in anderen Staaten unmittelbare Wirkung entfaltet, steht in einem Spannungsverhältnis zur Hoheit der anderen Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Referenzentscheidungsmodell als „goldener Mittelweg“.74 Bei ihm entfaltet die Entscheidung eines Mitgliedstaates einerseits keine unmittelbare Rechtswirkung in den anderen Mitgliedstaaten, dient jedoch andererseits als Entscheidungsgrundlage, über deren Übernahme die anderen Mitgliedstaaten in einem Anerkennungsverfahren zu befinden haben.75 Das Referenzentscheidungsmodell weist zugleich ein hohes Maß an Flexibilität auf; je nach Reichweite der jeweiligen Anerkennungspfl ichten kann hier entweder eine graduelle Annäherung an das Einzelvollzugsmodell oder aber das Transnationalitätsmodell erfolgen.76 Aktuelle Referenzgebiete für das Referenzentscheidungsmodell sind das Recht der Berufsanerkennung sowie das Recht der Anerkennung von Fahrerlaubnissen.77
b) Referenzgebiet: Berufsanerkennung aa) Rechtsgrundlagen Zentrale Rechtsgrundlage für die Anerkennung von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Berufsqualifi kationen ist die Richtlinie 2005/36/EG über die Anerken72 Gernot Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 118 ff.; zusammenfassend derselbe Vollzug des europäischen Unionsrechts im Wege der Kooperation nationaler und europäischer Behörden, DÖV 2006, S. 66 ff. 73 Sydow (Fn. 72), DÖV 2006, S. 66 (67). 74 Siegel, Entscheidungsfi ndung, (Fn. 58), S. 331 ff. 75 Eingehend Sydow, Verwaltungskooperation (Fn. 72), S. 181 ff. 76 Eine starke Annäherung an das Transnationalitätsmodell erfolgt etwa bei der Anerkennung von Fahrerlaubnissen, s. u. VI.4.c. 77 Ausführlichere Darstellung des Folgenden bei Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 394 ff. und Rn. 407 ff.
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nung von Berufsqualifi kationen.78 Gemäß Art. 62 dieser Richtlinie ist die vormalige Hochschuldiplomanerkennungsrichtlinie 89/48/EWG79 in dieser aufgegangen. Hinzu gesellen sich Richtlinien, welche die Anerkennung spezieller Berufszweige regeln, so etwa für die Zulassung zum Rechtsanwalt die Richtlinie 98/5/EG.80
bb) Reichweite der Anerkennungspflichten Der gemeinsame Grundgedanke dieser Richtlinien liegt darin, dass die in einem Mitgliedstaat erlangte Zulassung zwar einerseits nicht unmittelbar in einem anderen Mitgliedstaat Geltung beansprucht, jedoch anderseits im anderen Mitgliedstaat keine vollständige (neue) Zulassungsprüfung vorzunehmen ist, sondern die erfolgte Zulassung unter den jeweils normierten Anforderungen anzuerkennen ist.81 Voraussetzung für die Anerkennung nach beiden allgemeinen Richtlinien ist die Vorlage von entsprechenden Befähigungs- oder Ausbildungsnachweisen.82 Allerdings darf der um Anerkennung ersuchte Mitgliedstaat die Anerkennung davon abhängig machen, dass entweder ein höchstens dreijähriger Anpassungslehrgang absolviert wird oder dass eine Eignungsprüfung abgelegt wird.83
c) Referenzgebiet: Fahrerlaubnisanerkennung aa) Rechtsgrundlagen Die zentrale Rechtsgrundlage zur Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus anderen EU/EWR-Staaten war lange Zeit die Richtlinie 91/439/EWG.84 Diese (zweite) Führerscheinrichtlinie ist jedoch mit Wirkung ab dem 19. Januar 2009 durch die 78 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifi kationen, ABl. Nr. L 255 v. 30. 9. 2005, S. 22, zuletzt geändert durch VO v. 3. 3. 2011, ABl. Nr. L 59 v. 4. 3. 2011, S. 4. Hierzu auch der Vorschlag der Europäischen Kommission v. 19. 12. 2011 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG, KOM(2011) 883 endg. 79 Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. 12. 1988 über eine allgemeine Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, ABl. Nr. L 19 v. 24. 1. 1989, geändert durch RL 2001/19/EG v. 14. 5. 2001, ABL. Nr. L 206, S. 1. Zu den Auswirkungen dieser Richtlinie auf den juristischen Vorbereitungsdienst Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 400 ff. 80 Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 02. 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifi kation erworben wurde, ABl. Nr. L 77 v. 14. 3. 1998, S. 36, zuletzt geändert durch die Beitrittakte aus dem Jahre 2003, ABl. Nr. L 236 v. 23. 9. 2003, S. 57. Die Umsetzung dieser Richtlinie erfolgte durch das Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland v. 9. 3. 2000 (BGBl. I, 182), zuletzt geändert durch Gesetz v. 30. 7. 2009 (BGBl. I, S. 2449). 81 So etwa in Art. 10 ff. RL 2005/36/EG (Fn. 78). 82 Art. 13 Abs. 1 Uabs. 2 lit. b i. V. m. Art. 11 RL 2005/36/EG (Fn. 78) und Art. 3 RL 89/48/EWG (Fn. 79). 83 Art. 14 Abs. 1 RL 2005/36/EG (Fn. 78) und Art. 4 Abs. 1 lit. b RL 89/48/EWG (Fn. 79). Zur Unvereinbarkeit des Staatsangehörigkeitsvorbehalts für Notare mit dem Unionsrecht EuGH, Urt. v. 24. 5. 2011 – Rs. C-54/08 –, NJW 2011, S. 2941 – Kommission/Deutschland; hierzu Hans-Georg Dederer, Keine Ausübung „öffentlicher Gewalt“ durch Notare, EuR 2011, S. 865 ff. 84 Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. 07. 1991 über den Führerschein, ABl. Nr. L 237 v.
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(dritte) Führerscheinrichtlinie 2006/126/EG85 nach Maßgabe von deren Art. 18 überlagert worden86 und wird mit Wirkung ab dem 19. Januar 2013 komplett durch diese ersetzt.87 Die für die Reichweite der Anerkennungspfl icht besonders bedeutsame Ausnahmebestimmung nach Art. 11 Abs. 4 der dritten Führerscheinrichtlinie ist seit dem 19. 1. 2009 anwendbar; sie erstreckt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aber auf zuvor erteilte Fahrerlaubnisse, soweit über Sachverhalte gestritten wird, die sich nach diesem Zeitpunkt zugetragen haben.88 Umgesetzt worden sind die Anerkennungsbestimmungen in § 28 der Fahrerlaubnisverordnung.89
bb) Grundsätzliche Anerkennungspflicht Die (grundsätzliche) Pfl icht zur Anerkennung der Fahrerlaubnisse anderer EU-/ EWR-Mitgliedstaaten war zunächst geregelt in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/ EWG und ist es nunmehr in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG.90 Ausnahmen von der Anerkennungspfl icht statuierte zunächst Art. 8 der Richtlinie 91/439/ EWG, welcher seit dem 19. Januar 2009 jedoch grundsätzlich91 von Art. 11 der Richtlinie 2006/126/EG abgelöst worden ist. Voraussetzung für Anerkennung ist jedoch, dass die Ausstellung den (Mindest-)Anforderungen des einschlägigen Sekundärrechts genügt. Hierzu zählt insbesondere, dass der Bewerber seinen ordentlichen Wohnsitz im ausstellenden Mitgliedstaat hat; die schlichte Behauptung einer solchen Wohnsitznahme kann hier mittels unbestreitbarer, vom Ausstellerstaat stammender Tatsachen widerlegt werden.92 Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Anerkennungspfl icht weit ausgelegt und – damit korrespondierend – die Ausnahmen von der Anerkennungspfl icht eng.93 Diese zur zweiten Führerschein-Richtlinie entwickelte Rechtsprechungslinie hat der Gerichtshof trotz der teilweise engeren Formulierungen der Ausnahmen in der dritten Führerscheinricht-
24. 8. 1991, S. 1 ff. zuletzt geändert durch RL 2008/65/EG v. 27. 6. 2008, ABl. Nr. L 168 v. 28. 6. 2008, S. 36 f. 85 Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 12. 2006 über den Führerschein (Neufassung) ABl. Nr. L 403 v. 30. 12. 2006, S. 18 ff. 86 Art. 18 RL 2006/126/EG (Fn. 85). 87 Art. 17 RL 2006/126/EG (Fn. 85). 88 EuGH, Urt. v. 1. 3. 2012 – Rs. C.467/10 –, NJW 2012, S. 1341, Rn. 31 – Akyüz, m. Anm. Peter Dauer auf S. 1345 f. 89 Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr i. d. F.v. 13. 12. 2010 BGBl. I 1980, geändert durch VO v. 7. 1. 2011, BGBl. I 3. 90 Zur Geltung auch des Art. 2 Abs. 1 der RL 2006/126/EG ab dem 19. 1. 2009 siehe Art. 18 Abs. 2. 91 Zum Umfang der Ablösung Art. 18 Abs. 2 der RL 2006/126/EG. 92 Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL 91/439/EWG (Fn. 84). Hierzu EuGH, Urt. v. 19. 5. 2011 – Rs. C184/10 –, NJW 2011, S. 3635, Rn. 23 f. – Grasser. Zur Möglichkeit der Einbeziehung auch indirekt vom Ausstellerstaat stammender Informationen EuGH, Urt. v. 1. 3. 2012 – Rs. C.467/10 –, NJW 2012, S. 1341, Rn. 71 – Akyüz. 93 EuGH, Urt. v. 1. 3. 2012 – Rs. C.467/10 –, NJW 2012, S. 1341, Rn. 45 ff. – Akyüz, m. w. N. zur Rechtsprechung des EuGH.
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linie aufrechterhalten.94 Im praktischen Ergebnis fi ndet damit eine starke Annäherung des Referenzentscheidungsmodells an das Transnationalitätsmodell statt.
cc) Grenzen der Anerkennungspflicht Eine folgerichtige Beschränkung findet diese Anerkennungspfl icht naturgemäß in nachträglich eintretenden Umständen, denn dann wird die Entscheidung des ausstellenden Staates gerade nicht in Frage gestellt: Dies gilt etwa dann, wenn aufgrund eines Verhaltens nach Erteilung der Fahrerlaubnis die erneute Fahrerlaubnis im Zweitmitgliedstaat versagt werden dürfte.95 Bisweilen kann die Abgrenzung zwischen bereits ursprünglich vorhandenen und nachträglich eintretenden Umständen jedoch schwierig sein. So ist etwa ein medizinisch-psychologisches Gutachten, das zwar nachträglich erstellt wurde, sich jedoch ausschließlich auf ursprünglich bestehende Umstände bezieht, nicht als ein „nachträglicher Umstand“ zu werten.96 – Aufgrund der großzügigen Auslegung der Pfl icht zur gegenseitigen Anerkennung durch den Europäischen Gerichtshof hat sich zudem bereits früh eine Umgehungsgefahr herauskristallisiert, die teilweise unter dem Stichwort „Führerscheintourismus“ zusammengefasst wird.97 Diese Gefahr hat auch der Gerichtshof erkannt und deshalb seine Rechtsprechung zu den Ausnahmetatbeständen98 konkretisiert: Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten einer Fahrerlaubnis, die während einer im Zweitmitgliedstaat laufenden Sperrfrist erteilt worden ist, die Anerkennung verweigern.99 Das Gleiche gilt auch dann, wenn von der während der Sperrfrist erworbenen Fahrerlaubnis erst nach Ablauf der Sperrfrist Gebrauch gemacht wird.100
VII. Grenzen der Europäisierung 1. Grenzentrias nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Europäisierungsdebatte wird oftmals von einer Zunahme der Beeinflussung der nationalen Rechtsordnung durch das Unionsrecht geprägt. Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere in seinem Grundsatzurteil aus dem Jahre 2009 zum
94 EuGH, Urt. v. 26. 4. 2012 – Rs. C-419/10 –, NJW 2012, S. 1935, Rn. 65 – Hofmann, m. Anm. Peter Dauer auf S. 1940 f. (dort auch weitere Nachweise zum bisherigen Streitstand). 95 EuGH, Urt. v. 6. 4. 2006 – Rs. C-227/05 –, NJW 2006, S. 2173 , Rn. 38 – Halbritter; Beschl. v. 28. 9. 2006 – Rs. C-340/05 –, NJW 2007, S. 1863, Rn. 35 f. – Kremer; zuletzt im Beschl. v. 2. 12. 2010 – Rs. C-334/09 –, NJW 2011, S. 587, Rn. 61 – Scheffler. 96 EuGH, Beschl. v. 2. 12. 2010 – Rs. C-334/09 –, NJW 2011, S. 587, Rn. 73 f. – Scheffler. 97 So ausdrücklich Peter Dauer, Wenig Bewegung in Sachen „Führerscheintourismus“, NJW 2008, S. 2381. 98 Art. 8 Abs. 4 RL 91/439/EWG (Fn. 84) bzw. Art. 11 Abs. 4 RL 2006/126/EG (Fn. 85). 99 EuGH, Urt. v. 26. 6. 2008 – Rs. C-329 und C-343/06 –, Slg. 2008, I-2403, Rn. 65 – Wiedemann. 100 EuGH, Beschl. v. 3. 7. 2008 – Rs. C-225/07 –, NJW 2009, S. 207, Rn. 41 – Möginger.
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Vertrag von Lissabon aber auch die Grenzen einer Europäisierung aufgezeigt.101 Zu diesen zählen die Integrationsverantwortung des Gesetzgebers und die Ultra-viresLehre als relative Grenzen sowie die Identitätskontrolle beziehungsweise die Wahrung des Kerngehalts des Grundgesetzes als absolute Grenze. Die ersten beiden Grenzen werden damit durch das (wirksam) Übertragene markiert, die dritte Grenze als das Übertragbare.102 – Die Ultra-Vires-Lehre hat das Gericht zudem im Honeywell-Beschluss im Juli 2010 konkretisiert und dabei die Anforderungen, unter denen eine Maßnahme als „ultra vires“ angegriffen kann, (deutlich) erhöht: Danach muss ein kompetenzwidriges Verhalten der Unionsorgane offensichtlich sein, und es muss eine strukturell bedeutsame Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten erfolgen.103
2. Konkretisierung in den Entscheidungen zu den EURO-Rettungsschirmen Die beiden anderen Grenzen, also die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch den Gesetzgeber sowie die Identitätskontrolle, stehen hingegen im Mittelpunkt der aktuellen Entscheidungen zu den EURO-Rettungsschirmen. Den ersten EURO-Rettungsschirm EFSF hat das Bundesverfassungsgericht im September 2011 zwar grundsätzlich gebilligt.104 Im Februar 2012 hat das Gericht jedoch verdeutlicht, dass die Integrationsverantwortung des Gesetzgebers grundsätzlich dann nicht mehr gewahrt wird, wenn – selbst in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit – nicht der Deutsche Bundestag oder zumindest dessen Haushaltsausschuss im Ganzen, sondern ein aus den Mitgliedern des Haushaltsausschusses zu wählendes 9er-Gremium entscheidungsbefugt ist.105 In einer (ersten) Entscheidung zum zweiten EURO-Rettungsschirm ESM im Juni 2012 hat das Gericht sodann betont, dass der Gesetzgeber auch substanziell zu beteiligen ist, damit er seine Integrationsverantwortung hinreichend wahrnehmen kann. Dies erfordert insbesondere eine rechtzeitige Unterrichtung vor der Beschlussfassung.106 – Bei seiner Bewertung des ersten EURO-Rettungsschirms EFSF im September 2011 hat das Gericht zudem eine absolute Grenze betont: Danach darf der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf ande-
101
BVerfGE 123, 267 ff. Hierzu Guckelberger (Fn. 9), ZEuS 2012, S. 1 (23 ff.); Siegel, Europäisierung (Fn. 15), Rn. 96 ff. 102 So die treffende Umschreibung bei Burgi, Verwaltungsprozeß und Europarecht (Fn. 66), S. 24 f. 103 BVerfGE 126, 286 (304 f.) („Honeywell“). Hierzu Franz C. Mayer/Maya Walter, Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, JURA 2011, S. 532 ff.; Alexander Proelß, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Kompetenzmäßigkeit von Maßnahmen der Europäischen Union: Der „ausbrechende Rechtsakt“ in der Praxis des BVerfG, EuR 2011, S. 241 ff. 104 BVerfG, NJW 2011, S. 2946 ff. Hierzu Christian Calliess, Der Kampf um den EURO: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 ff.; Matthias Ruffert, Die Europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht, EuR 2011, S. 842 ff.; Daniel Thym, Entscheidungsanmerkung, JZ 2011, S. 1011 ff. 105 BVerfG, NJW 2012, S. 1419 ff. Hierzu Martin Nettesheim, Verfassungsrecht und Politik in der Staatschuldenkrise, NJW 2012, S. 1409 ff. 106 BVerfG, NVwZ 2012, S. 954 (959 ff.).
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re Akteure übertragen.107 Diese Grenze wurde beim ersten EURO-Rettungsschirm noch nicht überschritten. Trotz der erheblich höheren Haftungsrisiken nach dem zweiten EURO-Rettungsschirm ESM hat das Bundesverfassungsgericht aber auch insoweit keinen Verlust der nationalen Haushaltsautonomie festgestellt, zumindest unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.108 Die gegenwärtigen Finanzkrisen mögen damit zwar die Rechtsordnung vor besondere Herausforderungen stellen109 und zugleich die Grenzen einer Europäisierung aufzeigen; gleichwohl ist der Prozess der Europäisierung letztlich nicht umkehrbar.110
107
BVerfG, NJW 2011, S. 2946 (2951, dort Rn. 124 f.). BVerfG, Urt. v. 12. 9. 2012 – 2 BvR 1390/12 u. a., Rn. 235 i. V. m. Rn. 271. Zum völkerrechtlichen Rahmen des ESM-Vertrags Ferdinand Wollenschläger, Völkerrechtliche Flankierung des EU-Integrationsprogramms als Herausforderung für den Europa-Artikel des Grundgesetzes (Art. 23 GG), NVwZ 2012, S. 713 ff. 109 Zu Finanzkrisen als Herausforderung für die Rechtsetzung im Besonderen Christian Calliess und Frank Schorkopf, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), S. 113 ff. und 183 ff. 110 So bereits die Einschätzung bei Bauer (Fn. 29), JBl. 2000, S. 750. 108
Daseinsvorsorge als Unionsaufgabe Überlegungen zur sozialen Integration in Europa von
Professor Dr. Markus Kotzur, LL.M., Universität Hamburg Einleitung: Legitimität durch soziale Integration Der Integrationserfolg einer jeden politischen Gemeinschaft hängt in hohem Maße von dem ab, was J. H. H. Weiler in seinem viel beachteten Artikel über „The Transformation of Europe“ als „social legitimacy“ bezeichnet hat.1 Wörtlich heißt es dort: „What becomes crucial for the integration process is the social legitimacy of the new integrated polity despite the loss of total control over the integrated policy areas by each polity.“2 Soziale Inklusion schafft – komplementär zu demokratischer Partizipation und ebenso wie diese – nicht nur Akzeptanz, sondern stiftet auch Legitimität. Der Bürger will Zugehörigkeit, er nimmt sich als zugehörig wahr und begreift dieses Band der Zugehörigkeit zugleich als Legitimationsgrundlage, wenn Integration auf Wohlfahrt, soziale Absicherung und eine Stärkung des Gemeinwohls abzielt.3 Einfacher formuliert: Der Bürger will in seinen sozialen Grundbedürfnissen von den Integrationsverantwortlichen ernst genommen werden. Fehlt es daran, kommt es zu einer Legitimitätskrise, der auch durch weitergehende Möglichkeiten demokratischer Partizipation nicht ohne weiteres abgeholfen werden kann.4 So schafft eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments in den Augen des Unionsbürgers nicht automatisch eine verbreiterte Legitimationsgrundlage, solange mit dem Mehr an demokratischer nicht zugleich ein Mehr an sozialer Teilhabe verbunden ist. Für diese wechselseitige Abhängigkeit von demokratischer und sozialer Legitimation geben die „Erfi ndung“ der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialstaat des Grundgesetzes ein prominentes Beispiel. Dieses – bei allen Krisen und Reformnotwendigkeiten – 1 J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff., S. 2471 et passim; dazu F. Mayer, Transformations of Europe, so ein noch unveröffentlichten Essay aus Anlass des 60. Geburtstags von J. J. H. Weiler (Max Planck Institut Heidelberg, 1. Sept. 2011). 2 J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff., S. 2471. 3 P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl?, in: FS H. Steinberger 2002, S. 1153 ff. 4 Siehe wiederum J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff., 2471 ff.; F. Mayer, Transformations of Europe (Fn. 1).
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bis heute erfolgreiche Modell half, die Legitimität einer Verfassung zu sichern, zu der der demokratische Souverän niemals in einem klassischen Verfahren der Verfassunggebung seine Zustimmung erteilen konnte.5 Überdies war der bundesrepublikanische Sozialstaat in seiner immer intensiveren Ausgestaltung nicht nur Garant gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern immer auch Ausdruck eines dem Menschen dienenden Gemeinwesens. Gerade weil es die essentiellen Bedürfnisse des Menschen (grundrechtlich) sichert, ist sein Anspruch hoheitlicher Machtausübung legitim. Die berühmte Formel des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee: „Der Staat ist um des Menschen, nicht der Mensch um des Staates willen da!“6 steht bis heute für solch ein Legitimitätsverständnis. Ob soziale Legitimität für die frühe, primär wirtschaftlich motivierte Integration zur EWG eine zu geringe Rolle gespielt hat, sei dahingestellt. Spätestens seit Maastricht aber kann die politische Union auf das Legitimitätsreservoir sozialer Inklusion nicht mehr verzichten. Die primäre Binnenmarktorientierung des Integrationsprozesses gehört längst der Vergangenheit an.7 Die EU ist zu einer politischen Gemeinschaft erwachsen, die nicht nur von der Verfassungssubstanz ihrer integrierten Mitgliedstaaten lebt, sondern dank der Integrationsdynamik zugleich auch eine eigene Verfassungssubstanz jenseits von Staatlichkeit schafft.8 Die konstitutionelle Substanz gründet ihrerseits in der sozialen Substanz; konstitutionelle Einheit bedarf sozialer Legitimität. Die konkrete Ausgestaltung der „Sozial“- oder „Gewährleistungsunion“ gehörte deshalb sowohl in der Verfassungsdebatte als auch im Ringen um den Reformvertrag von Lissabon zu den besonders leidenschaftlich diskutierten Streitfragen.9 Heute jedenfalls stellt eine Vielzahl von typisch verfassungsrechtlichen Werten und Zielen aus Art. 2 und 3 EUV die Union in den Dienst ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das Wertbekenntnis zu Gerechtigkeit und Solidarität (Art. 2 S. 2 EUV), die Ziele der „sozialen Marktwirtschaft“ (Art. 3 Abs. 3 S. 3 EUV) und des „sozialen Fortschritts“ 5 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 68 weist indes überzeugend nach, warum sie bloße Fokussierung auf den Zustimmungsakt fehlgeht und der „komplexen Legitimationsfigur“ der verfassunggebenden Gewalt nicht gerecht wird. Die Abweichung vom tradierten Standardmodell bleibt dennoch ein die bundesrepublikanische Verfassungsidentität prägendes Faktum und verlangte nach einer gewissen Kompensation. 6 P. Bucher (Bearb.), Der Parlamentarische Rat. 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1981, S. 581; dazu jüngst auch die Einleitung von P. Häberle zur Neuausgabe des Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 1 n. F. (1951), 2. Aufl. 2010. 7 Das europäische Verfassungs- wie Verwaltungsrecht wird damit zu einer Perspektivenweiterung, einer Mischung intergouvernementaler und verstärkt supranationaler Elemente gezwungen, siehe Ph. Terhechte, Europäisches Verwaltungsrecht und europäisches Verfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 7 Rn. 46. 8 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. (dort zugleich zu Begriff und Konzept des „Gemeineuropäischen“, das im Folgenden immer wieder aufgegriffen wird); ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 111 ff. und öfter; die Verfassungssubstanz als „Grundordnung“ qualifi zierend D. Th. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, EuGRZ 1995, S. 287 ff.; ders., Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, EuGRZ 2000, S. 517 ff.; zu alldem auch M. Kotzur, Die Verfassungskultur der Mitgliedstaaten und die Gemeineuropäische Verfassungskultur, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung. Handbuch zur Europäischen Verfassung, 2010, S. 245 ff., 245. 9 Für eine monografi sche Auf bereitung J. Bußmann, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nach Art. 16, 86 Abs. 2 EG und Art. 36 Grundrechtecharta unter Berücksichtigung des Vertrages von Lissabon, 2009.
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(ebenfalls Art. 3 Abs. 3 S. 3 EUV) sprechen für sich und geben damit zugleich ein Integrationsversprechen.10 An dieses Versprechen knüpfen die einzelnen Politikfelder der Union an. Sie bauen auf Art. 2 und 3 EUV auf 11 und wollen jene soziale Legitimität aktivieren, die im Werte- und Zielekatalog angelegt ist. Ob diese Aktivierung gelingen kann, wird sich vor allem am Recht der Daseinsvorsorge erweisen. Es bildet heute einen wesentlichen Teil des europäischen Sozialverfassungs- wie Sozialverwaltungsrechts.12 Welche Verantwortungen und Zuständigkeiten in Sachen Daseinsvorsorge jeweils der Union und den Mitgliedstaaten zukommen, wird zu einer entscheidenden Frage sozialer Legitimität.13 Eine vorsorgeblinde Union würde dem Anliegen der Legitimationsstiftung ebenso wenig gerecht wie eine Erosion mitgliedstaatlicher Gestaltungsmacht bei der Formulierung und Erfüllung von Vorsorgeaufgaben. Im Zugleich von Staats- und Unionsaufgabe liegt demgegenüber ein verbundspezifi sches14 Legitimationspotential. Verbundtypische Spannungen bleiben nicht aus.
I. Die Dimension der Daseinsvorsorge im europäischen Verwaltungsverbund Wer mit der Verbundhypothese („Composite Administrative“)15 arbeitet, darf bei der Frage nach unionalen Elementen der Daseinsvorsorgeverantwortung seinen Blick nicht auf das Unionsrecht verengen. Er muss vielmehr von der Entwicklung der Verwaltungssysteme in Europa her denken.16 Dabei ist zunächst terminologische Vorsicht geboten. Auch wenn, so die Kommission, die Existenz gemeinwohlbezogener Leistungen als fester Bestandteil eines gesamt-, besser gemeineuropäischen Gesell-
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Nachweise bei R. Geiger, in: ders. / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 2 EUV, Rn. 4 f., sowie Art. 3 EUV, Rn. 8; weiterhin Ch. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, S. 1033 ff.; M. Kotzur, Die Ziele der Union: Verfassungsidentität und Gemeinschaftsidee, DÖV 2005, S. 313 ff.; darüber hinaus M. Ruffert, Die Wirtschaftsverfassung im Vertrag über eine Verfassung von Europa, 2005. 11 Ph. Terhechte, Europäisches Verwaltungsrecht und europäisches Verfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 7 Rn. 10. 12 H. M. Heinig, Europäisches Sozialverwaltungsrecht, in: Ph. Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 32, Ph. Terhechte, Europäisches Verwaltungsrecht und europäisches Verfassungsrecht, in: ebd., § 7. 13 Und zum Gegenstand jener wissenschaftlichen Arbeiten, die einem „Gewährleistungsverwaltungsrecht“ auf der europäischen Ebene nachgehen: C. Franzius, Gewährleistung im Recht. Grundlagen eines europäischen Regelungsmodells öffentlicher Dienstleistungen, 2009; M. Krajewski, Grundstrukturen des Rechts öffentlicher Dienstleistungen, 2011. 14 Dazu unten IV. 15 Ph. Terhechte, Einführung: Das Verwaltungsrecht der Europäischen Union als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung – Entwicklungslinien, Prinzipien und Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 1 Rn. 14. 16 Das ist für die Europäische Verfassungslehre wie für die Europäische Verwaltungs(rechts)lehre eine gemeinsame Selbstverständlichkeit. So beginnt P. Häberle seine „Europäische Verfassungslehre“ (7. Aufl. 2011, S. 4) mit der einleitenden These: „Die Europäische Verfassungslehre kann, will sie kein auf das europäische Primärrecht beschränktes selbstreferentielles System bleiben, nur aus einem doppelten Ansatz gelingen: als Rechtsvergleichung in der Zeit, der Rechtsgeschichte (. . .). Im gleichen Atemzug ist die Rechtsvergleichung im Raum zu unternehmen“ (Hervorhebungen im Original).
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schaftsmodells qualifiziert17, meint der Terminus „Daseinsvorsorge“ in den politisch, ökonomisch und kulturell höchst unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Kontexten noch lange nicht dasselbe.18 Terminologische Differenzen sollten aber Entwicklungskongruenzen ebenso wenig verstellen wie den Blick auf das Innovationsreservoir mitgliedstaatlicher Verwaltungsrechtsordnungen.19 Und es sind eben diese Entwicklungszusammenhänge, die im fortschreitenden Prozess der europäischen Integration ihren Niederschlag fi nden, Rezeptions- und Produktionsprozesse anstoßen und nicht zuletzt den EuGH zu produktiver Rechtsfortschreibung – etwa durch das Instrument allgemeiner Rechtsgrundsätze20 – inspirieren. In der verwaltungswissenschaftlichen Literatur wird die Systementwicklung als eine Art Pendelbewegung skizziert: von gemeinsamen geistes- wie institutionengeschichtlichen Grundlagen hin zu einer immer stärkeren nationalen Ausdifferenzierung, von der nationalen Ausdifferenzierung zurück zu wachsenden Gemeinsamkeiten.21 Der Unionalisierung von Verwaltungsaufgaben kommt dabei, um einen Begriff aus der Bundesstaatslehre aufzugreifen, ihrerseits eine stark unitarisierende Wirkung zu.22 Eines der wichtigsten gemeinsamen Merkmale, das heute den Typus des Verwaltungsstaates im europäischen Verwaltungsverbund kennzeichnet, ist die immense Ausweitung exekutivischen Tätigwerdens. Ein Dreischritt beschreibt den dynamischen Zuwachs präzise: von der Verantwortung für Recht und Ordnung des „l’Etat gendarme“ über die wirtschaftslenkende Tätigkeit des Steuerungs- und Regulierungsstaates – „l’Etat propulsif “ – hin zur Daseinsvorsorgeverantwortung des Leistungsstaates: „l’Etat Providence“.23 Der Staat wurde, wie es Jean-Louis Mestre für 17 Etwa Kommission, KOM (96) 443 eng.; weitere Nachweise bei M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 725. 18 Es geht bei jedem Vergleich vielmehr, so A. v. Bogdandy / P. M. Huber, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland, in: A. v. Bogdandy / S. Cassese / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III, Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 42 Rn. 7 auf einer „konkreten Ebene (. . .) um das Freilegen begriffl icher Differenzen hinter identischen Terminologien“; für diese „konkrete Ebene“ J. Hellermann, Daseinsvorsorge im europäischen Vergleich – Zur Eigenart des bundesdeutschen Systems gemeinwohlorientierter Dienstleistungen im Vergleich mit den Strukturen anderer europäischer Staaten unter den Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Schader-Stiftung (Hrsg.), Die Zukunft der Daseinsvorsorge – öffentliche Unternehmen im Wettbewerb, 2001, S. 78 ff. 19 W. Hoffmann-Riem, Verwaltungsrecht in der Entwicklung, in: Ph. Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 3 Rn. 1 ff.; S. Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine europäischen Verwaltungsrechts, 2008. 20 A. v. Arnauld, A. v., Rechtsangleichung durch allgemeine Rechtsgrundsätze? – Europäisches Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht im Vergleich, in: K. Riesenhuber / K. Takayama (Hrsg.), Grundlagen und Methoden der Rechtsangleichung, 2006, S. 247 ff.; P. Ridola, Die kulturgeschichtlichen Grundlagen der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 173 ff.; J. A. Usher, General Principles of EC Law, 1998. 21 S. Cassese, Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa, in: A. v. Bogdandy / S. Cassese / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III, Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 41, Rn. 39. 22 Begriffsprägend K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), Rn. 221. 23 S. Cassese, Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa, in: A. v. Bogdandy / S. Cassese / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III, Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 41, Rn. 39.
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Frankreich pointiert formuliert, zum „Transporteur, Versorger und Versicherer“.24 Das aber zeitigt weitreichende Folgen für die Handlungsformen, derer sich der Staat bedient, und für die Rechtsformen, innerhalb derer er seine Verwaltungstätigkeit vollzieht. Befehl, Verbot und Genehmigung, kurz: der klassische Verwaltungsakt, genügen nicht mehr. Hinzu kommen Organisationsformen wie Regulierungsbehörden, deren Weisungsgebundenheit im Streit steht; hinzu kommen fi nanzielle und materielle Leistungen, Informationsbeschaffung und -verbreitung, empfehlende, planerische und gestaltende Tätigkeiten. Doch auch wo neue Handlungsformen und ein neues Instrumentenmix erprobt werden, bleibt die zentrale Frage nach der Rechtsbindung allen, nicht nur des eingreifenden hoheitlichen Handelns. Für das Modell des europäischen Rechtsstaates und die Europäische Union, die in Art. 2 EUV die Rechtsstaatlichkeit zu einem ihrer identitätsprägenden Werte erklärt, erweist sie sich als Verfassungsfrage. Vor diesem Hintergrund sei, konkret auf die Unionsaufgabe Daseinsvorsorge bezogen, eine dreifache Ausgangsthese formuliert: 1. Je intensiver sich das Unionsrecht der Daseinsvorsorge annimmt, umso stärker sind die – bereits angesprochene – unitarisierende Wirkung dieses Unionsprofi ls (Leistungsunion, Gewährleistungsunion) und seine Ausstrahlungswirkung auf die mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtssysteme.25 2. Wo immer Daseinsvorsorgeaufgaben formuliert werden stellt sich die Frage nach den Handlungsformen zu deren Erfüllung. Da der Vollzug von Unionsrecht ganz überwiegend in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt, werden durch die Unionsrechtssetzung, wenngleich mittelbar, sehr präzise Anforderungsprofi le an die mitgliedstaatlichen Verwaltungsinstrumente gestellt.26 Sie haben eine organisatorische wie funktionelle Seite und bedürfen rechtsstaatlicher Bindung. 3. Die gemeineuropäische Ordnungsidee „sozialer, daseinsvorsorgender Rechtsstaat“ im Verwaltungsalltag Wirklichkeit werden zu lassen, erweist sich von der tatsächlichen wie von der rechtswissenschaftlich-methodischen Seite her als ein komplexer Vorgang. Zu seiner Ausgestaltung bedarf es einer systematisch entwickelten Lehre von der administrativen Rechtskonkretisierung, so Eberhard Schmidt-Aßmann, die für den gesamten europäischen Verwaltungsverbund systembildende Kraft entfaltet.27 Damit ist auch die entscheidende Untersuchungsfrage konkretisiert – die Frage nämlich, ob solche Systembildung eher als „Top-down“-Prozess von der Unionsebene her zu denken ist oder besser als „Bottom-up“-Prozess durch einen Systemwettbewerb mitgliedstaatlicher Verwaltungsrechtsordnungen her gelingen kann. Dass bei beiden Ansätzen Rechtsordnungs- und damit Rechtsprechungskonfl ikte respektive Recht24
J.-L. Mestre, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich, in: A. v. Bogdandy / S. Cassese / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III, Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 43, Rn. 65. 25 In diesem Sinne schon J. Schwarze (Hrsg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1996; Ch. Knill, The Europeanisation of National Administrations, 2001. 26 M. Kotzur, Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts: Organe und Zuständigkeiten, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung, 2010, S. 421 ff. 27 E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 53; ders., Europäisches Verwaltungsrecht als systematische Ordnung, Die Verwaltung 2009, S. 439 ff.
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sprechungskonkurrenzen nicht ausbleiben, sei von vornherein eingeräumt.28 Das gilt umso mehr, als EUV und AEUV auch nach Lissabon kein geschlossenes Programm unionaler Daseinsvorsorge vorhalten, manche Reformideen früh zerrieben wurden und die „Machtfrage“ Daseinsvorsorge noch immer ein Kräftemessen zwischen Union und Mitgliedstaaten provoziert.29
II. Begriff, Konzept und Dimensionen der Daseinsvorsorge 1. Begriffskonturen So selbstverständlich die „Daseinsvorsorge“ zum Begriffsarsenal des modernen Leistungs- oder Gewährleistungsstaates und zunehmend auch des Unionsrechts gehört, so umstritten bleiben ihre politischen Implikationen und präzisen rechtlichen Konturen. Der Terminus wurde von Ernst Forsthoff in die deutsche verwaltungsrechtliche Diskussion eingeführt.30 Seine berühmte Schrift über „Die Verwaltung als Leitungsträger“ aus dem Jahre 1938 war unter dem Grundgesetz kritisch zu hinterfragen.31 Bei aller Modernität mit Blick auf die daseinsgestaltenden Aufgaben des „Staates der Industriegesellschaft“32 – zu denken ist an die Sicherung der Existenzgrundlagen, weiterhin an die Gewährleistung von Mobilität, Kommunikation33 etc. – bildete die Negation individueller Freiheit, in deren Konsequenz die Vorsorgeverantwortung nicht beim Einzelnen, sondern bei den Trägern hoheitlicher Gewalt liegen musste, einen gewichtigen Angriffspunkt. Damit erklären sich auch Polarisierungen, die der Begriff in den jüngsten Privatisierungsdebatten provozierte. Für die Befürworter umfassender Liberalisierung schien der paternalistische „Gewährleistungsstaat“ überkommen und das Ende staatlicher Daseinsvorsorge zugunsten privater Marktakteure angebrochen. Spätestens die globale Finanzkrise 2008/2009 hat solche Vereinseitigungen korrigiert und das rechte Maß zwischen staatlicher Regulierung und sich selbst regulierenden Märkten angemahnt. In der verwaltungswissenschaftlichen Debatte will die Idee der „Gewährleistungsverantwortung“34 für dieses rechte Maß Maßstäbe setzen. Was ungeachtet einer Akzentuierung von „mehr Staat“ oder „mehr private Eigenverantwortlichkeit“ bleibt, ist der schlichte Befund 28 Grundsätzlich S. Oeter und F. Merli, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 361 ff. bzw. 392 ff. 29 S. Storr, Europäische Wirtschaftsverfassung und Daseinsvorsorge, in: U. Fastenrath / C. Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag. Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen, 2009, S. 219 ff., 219. 30 E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938; ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959. 31 P. Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung? Zum wissenschaftlichen Werk von Ernst Forsthoff, JZ 1975, S. 685 ff.; J. Kersten, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk Ernst Forsthoffs, Der Staat 44 (2005), S. 543 ff. 32 E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971. 33 Zur Daseinsvorsorgeaufgabe Internet S. Haack, Kommunales W-Lan als Daseinsvorsorge, VerwArch 99 (2008), S. 197 ff. m. w. N. 34 Statt aller A. Voßkuhle, Beteiligung privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatlicher Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 ff., 304 ff.
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einer Abhängigkeit: Der Menschen ist in der arbeitsteiligen, urbanisierten und internationalisierten Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts auf ein leistungsmächtiges politisches Gemeinwesen angewiesen, das für ihn plant, für ihn Infrastruktur vorhält (z. B. Wasser, Energie, Verkehr) und für ihn ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit gewährleistet.35 K. Hesse hat dieses Angewiesen-Sein für den nationalen Verfassungsstaat schon in den 1960er Jahren präzise auf den Punkt gebracht: „Der Staat ist planender, verteilender, gestaltender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat“.36
2. Die dem Vorsorgekonzept immanente Subsidiarität Wo es um die Gewährleitung von Daseinsvoraussetzungen geht, fi nden Wirklichkeitsbeschreibung und normative Zuschreibung zusammen. Der Begriff „Daseinsvorsorge“ hat damit eine soziologische wie eine normative Seite, ohne zu einem „rechtsdogmatischen Konzept“ oder gar Rechtsinstitut geworden zu sein.37 Er ist denkbar weit gefasst, meint er dem Wortsinne nach doch alle Grundvoraussetzungen, ohne die menschliches Dasein in politischer Gemeinschaft unmöglich wäre. Die Totalität eines solchen Ansatzes würde den Gewährleistungsstaat freilich überfordern und den freiheitlichen Staat gefährden. Deshalb wohnt der Idee der Daseinsvorsorge von vorneherein ein Moment der Subsidiarität inne.38 Erst wo der Einzelne respektive die jeweils kleinere politische Einheit selbstverantworteter Vorsorge nicht mehr gewachsen ist, greift die Gewährleistungsverantwortung der jeweils größeren politischen Einheit ein. Die „existenzerhaltende Fremdsorge“ soll, auch im Dienste der Freiheit, nur denen zustehen, die sich aus eigener Kraft nicht mehr helfen können.39 Aber auch das im Sinne der Subsidiarität limitierte Konzept der Daseinsvorsorge greift noch denkbar weit aus. Es umfasst die leistungsstaatliche Sicherung des Existenzminimums ebenso wie die Infrastrukturverantwortung der öffentlichen Gewalt. In einem noch umfassenderen Modell lassen sich auch Freiheitsvorsorge und Sicherheits- respektive Risikovorsorge als Daseinsvorsorge deuten und dann bereichsspezifisch aufschlüsseln40 : vom effektiven Kampf gegen den Terrorismus bis zur Bildungs35 So H. M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 27.; F. Welti, Die kommunale Daseinsvorsorge und der Vertrag über eine Verfassung für Europa, AöR 130 (2005), S. 529 ff., etwa 533. 36 K. Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, 1962, S. 71 ff., 78. 37 S. Storr, Europäische Wirtschaftsverfassung und Daseinsvorsorge, in: U. Fastenrath / C. Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag. Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen, 2009, S. 219 ff., 220, unter Verweis auf H. P. Bull, Daseinsvorsorge im Wandel der Staatsformen, Der Staat 47 (2008), S. 1 ff., 5. 38 Aus der nicht mehr zu überblickenden Literatur zum Subsidiaritätsprinzip R. v. Borries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, 263 ff.; P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 169 ff.; mit umfänglichen Nachweisen jetzt Ch. Calliess, in: ders. / M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV, Rn. 20 ff. 39 H. M. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 114. 40 W. Brugger und Ch. Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, VVDStRL 63 (2004), S. 101 ff. bzw. 151 ff.
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vorsorge; vom umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip bis hin zur staatlichen Gewährleistungsverantwortung für ein funktionsfähiges Kreditwesen, so eine neue, während der Finanzkrise erhobene Forderung.41 Unter dieser Prämisse wären auch Finanzhilfen für das überschuldete Griechenland Daseinsvorsorgeaufgaben in einem weiteren Sinne. Gerade die seit „9/11“ immer stärker thematisierte Sicherheitsvorsorge weist auf die Grenzen umfassenden Vorsorgedenkens hin. Allgegenwärtige Sicherheitsdiskurse beschwören immer auch ihr Gegenbild, die Unsicherheit. Weil Freiheit von der Möglichkeit der Unsicherheit lebt, fordern solche Diskurse die Freiheit heraus.42 Allumfassende Risikovorsorge ist nicht nur tatsächlich unmöglich, sie wäre auch ein freiheitsvergessenes Instrument. Paralleles gilt für die anderen hier skizzierten Vorsorgedimensionen.
3. Die vom Begriff geweckten „Verfassungserwartungen“ Freiheitsvergessenheit ist indes nicht die einzige Gefahr umfassender Vorsorge als Staats- respektive Unionsaufgabe; auch andere Gefahren liegen auf der Hand. Bei den Bürgerinnen und Bürgern mögen immer weitergehende Verfassungserwartungen43 an den Staat und an das konstitutionelle Europa geweckt werden. In seiner viel zitierten Metapher von einem „beschützenden Europa“ hat der französische Präsident N. Sarkozy einen solchen Erwartungshorizont emotional und Emotionen weckend angesprochen.44 Die an Europa herangetragenen Erwartungen sind indes mitunter zu komplex, mitunter auch perplex. Dieser europäische Befund unterscheidet sich mitnichten von dem verfassungsstaatlichen. Es sind dieselben komplexen und perplexen Erwartungen, die der Bürger auch an seinen Staat heranträgt. Nur ist die Gefahr der Enttäuschung größer. Zum einen, weil nationale Politik für enttäuschte Erwartungen – oft genug erfolgreich – Europa zum Sündenbock macht; zum anderen weil auch der räumliche Aspekt schwer wiegt. Erwartungen sind durch Imaginationen bedingt, die Erwartungen an den „Vorsorgeraum“45 Europa daher oft von vornherein entweder überzogen oder frustriert. Wie der Unionsbürger in seiner Union „frei 41 In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf die grundlegende Abhandlung von F. Ewald, Der Vorsorgestaat, 1993. 42 O. Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen, VVDStRL 63 (2004), S. 264 ff., 277: „Risiko als ungewisse Möglichkeit“; H.-J. Papier, Rechtsstaat im Risiko, DVBl. 2010, S. 801 ff. 43 Zum Topos der „Verfassungserwartungen“ P. Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 21, Rn. 4; H. Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: FS U. Scheuner, 1973, S. 285 ff.; J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR, Bd. V, 1992, § 115, Rn. 7. 44 M. Kotzur, Die soziale Marktwirtschaft nach dem Reformvertrag, in: I. Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung, 2008, S. 197 ff., 197 f.; S. Wernicke, Der Vertrag von Lissabon und das Wettbewerbsprinzip – Status quo ante, Neugewichtung oder Unwucht?, in: ebd., S. 190 ff. 45 Zum Bild von einem Verwaltungsraum („European Administrative Space“): A. v. Bogdandy, Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin, in: ders. / S. Cassese / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. IV, Verwaltungsrecht in Europa: Wissenschaft, § 57 Rn. 1.
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von Furcht“ und „frei von Not“46 leben kann, gehört daher zu den schwierigsten Vermittlungsaufgaben, denen sich der Reformprozess nach Lissabon stellen muss. Ein „allumfassendes Gerechtigkeitsverlangen“47 kann er gewiss nicht erfüllen, wohl aber im Sinne des Subsidiaritätsdenkens realistische Perspektiven aufzeigen. Deshalb sind in einem nächsten Schritt die primärrechtlichen Entwicklungen in Sachen Daseinsvorsorge zu analysieren. Seitenblicke auf das Sekundärrecht und die EuGH-Rechtsprechung bleiben nicht aus.
III. Vom Wachsen und Werden, von den Beschränkungen und Relativierungen unionaler Daseinsvorsorgeaufgaben – Entwicklungen im Primärrecht 1. Die vorsorgende Union vor Lissabon Bis in die 1980er Jahre hatte die damalige EWG die mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge – wie viele andere Momente und Mechanismen sozialer Legitimität – allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen. Das sollte sich erst mit der Vollendung des Binnenmarktes durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) 1986 ändern.48 Indes respektierte, ihrer marktliberalen Grundhaltung und primären Wettbewerbsorientierung zum Trotz, schon die ursprüngliche EWG, was heute Art. 106 Abs. 2 AEUV verbürgt: Ausnahmebestimmungen zugunsten von solchen Marktteilnehmern, die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen“.49 Welche marktrelevanten Aktivitäten unter diese Kategorie fallen, ist weder im Primär- noch im Sekundärrecht legaldefi niert. Einigkeit besteht indes nicht nur darüber, dass eine autonom unionsrechtliche Begriffsbestimmung geboten ist, sondern auch, dass „allgemeine wirtschaftliche Interessen“ eine besondere Gemeinwohlverpfl ichtung implizieren.50 Eine umfassende Rechtsprechung des EuGH hat der Vorschrift, gerade im Kontext der Liberalisierungspolitik der 1990er Jahre, Konturen verliehen.51 Obwohl als Ausnahme konzipiert, interpretierte der EuGH die Vorschrift weit und erkennt die Defi nitionsmacht der Mitgliedstaaten in Sachen Daseinsvorsorge an. Damit blieb die mitgliedstaatliche Organisation der Daseinsvorsorge in weiten Berei-
46 In Anspielung and die Rede zu den „Four Freedoms“ von F. D. Roosevelt, zitiert nach: L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 112 f. 47 W. Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 2008, S. 2. 48 S. Storr, Europäische Wirtschaftsverfassung und Daseinsvorsorge, in: U. Fastenrath / C. Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag. Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen, 2009, S. 219 ff., 219. 49 M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 726; F. Fiedzink, Services of General Economic Interest and the Treaty of Lisboa: Opening Doors to a Whole New Approach or Maintaining the Status Quo, European Law Review 36 (2011), S.226 ff., 227 ff. 50 D.-E. Khan, in: R. Geiger / D. E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 106 AEUV, Rn. 13; Ch. Jung, in: Ch. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 106 AEUV, Rn. 36 m. zahlreichen w. N. 51 M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 726.
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chen unangetastet52 ; für eine primär europäische Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs fehlte die Notwendigkeit und es fehlten angesichts der höchst unterschiedlichen nationalen Traditionen auch die tatsächlichen Voraussetzungen einer gemeineuropäischen Konzeptualisierung.53 Bereichsspezifische Marktöffnungen wie etwa bei der Telekommunikation erfolgten ohnehin außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 106 Abs. 2 AEUV.54 Der Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 verlieh mit dem Grundsatzartikel 16 EGV a. F. und der ihm korrespondierenden Erklärung Nr. 13 der europäischen Daseinsvorsorge, jedenfalls formal, stärkeres Gewicht.55 Praktisch blieb die Norm weithin bedeutungslos, da sie der damaligen EG keine neuen Kompetenzen einräumte und der EuGH in seiner Entscheidungspraxis ohnehin auf Art. 86 Abs. 2 EGV, den schon skizzierten heutigen Art. 106 Abs. 2 AEUV, rekurrierte. Auch eine größere sekundärrechtliche Ausgestaltung von Art. 16 EGV unterblieb. Die bereichsspezifischen Liberalisierungen, etwa zu den Telekommunikationsdienstleistungen, den Postdiensten oder der Energieversorgung, blieben zu speziell, um rasch allgemeine Ordnungsideen für das Recht der europäischen Daseinsvorsorge entwickeln zu können.56 Immerhin steht die telekommunikationsrechtliche Universaldienstleitungsrichtlinie für eine spezifisch europäisch geprägte Organisationsform der Daseinsvorsorge57.
2. Kontinuitäten und Wandel – die vorsorgende Union nach Lissabon Mit dem Vertrag von Lissabon einher gehen, bei aller Kontinuität im Grundsätzlichen, auch manche Innovationen im Hinblick auf den unionsrechtlichen Rahmen der Daseinsvorsorgeaufgaben.58 Art. 106 Abs. 2 AEUV entspricht zwar der Vorgängerregelung aus Art. 86 Abs. 2 EGV. Art. 14 AEUV erweitert aber die vormalige Grundsatzvorschrift des Art. 16 EGV und Art. 36 GRCh ist von europäischem soft law zu verbindlichem Primärrecht erstarkt.59 Hinzu tritt, ebenfalls mit Primärrechtsqualität, ein neues Protokoll Nr. 26 über die Dienste von allgemeinem Interesse. 52 Aus jüngerer Zeit etwa EuG, Urteil v. 6. Oktober 2009, Rs. T-8/06 – FAB; dazu wiederum M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 726. 53 D.-E. Khan, in: R. Geiger / D. E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 106 AEUV, Rn. 14. 54 M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 727. 55 Ebd.; aus der Perspektive des Verfassungsprozesses Th. v. Danwitz, Die Rolle der Unternehmen der Daseinsvorsorge im Verfassungsentwurf, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 251 ff. 56 S. Storr, Europäische Wirtschaftsverfassung und Daseinsvorsorge, in: U. Fastenrath / C. Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag. Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen, 2009, S. 219 ff. 57 RL 2002/22/EG des EP und des Rates vom 7. März 2002, Abl. EG 2002 L 108/51; dazu M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 726. 58 Zum Folgenden M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 729 ff.; S. Storr, Europäische Wirtschaftsverfassung und Daseinsvorsorge, in: U. Fastenrath / C. Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag. Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen, 2009, S. 219 ff., 229 ff. 59 Als gewissermaßen dritter Gründungsvertrag hat die Charta, wie ihr Art. 6 Abs. 1 zeigt, Primär-
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Wichtig ist zunächst die Kontextualisierung dieser Neuerungen im Gesamtzusammenhang des Primärrechts. Schon die Präambel des EUV betont neben den „sozialen Grundrechten“ die „Solidarität zwischen den Völkern“ und den „sozialen Fortschritt“.60 Art. 2 EUV charakterisiert die „Solidarität“ als Wert der Union. Im Zielekatalog aus Art. 3 Abs. 3 EUV fi ndet sich die wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, sowie der soziale Fortschritt ergänzt um den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt. Der explizite Sozialbezug relativiert den freien, vor Verfälschungen geschützten Wettbewerb.61 Er ist aus dem Grundlagenkapitel des AEUV in das Protokoll Nr. 27 „verbannt“. Die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ist Wert und Ziel der Union zugleich.62 Auch die Präambel des AEUV stimmt in diesen Werte- und Zielekanon ein, wenn etwa neuerlich von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt oder einer stetigen Besserung der Lebensbedingungen die Rede ist. In seinem operativen Teil differenziert der AEUV die Zielperspektiven dann bereichsspezifisch aus. Einige Beispiele: Art. 9 AEUV unterstreicht den sozialen Schutz, im Kapitel über die Sozialpolitik (Titel X) nennt Art. 151 AEUV spezifische Vorsorgeaufgaben. Unter Titel XII begegnet die Bildungsvorsorge als Spielart der Daseinsvorsorge. Der Infrastrukturvorsorge gilt Titel XVI: „transeuropäische Netze“, der energiepolitischen Daseinsvorsorge Art. 194 AEUV. Wer diesen Gesamtzusammenhang bedenkt, kann Art. 14 AEUV nicht als bloße Ausnahmevorschrift zu den Binnenmarktregelungen oder Annex zu Art. 106 Abs. 2 AUV deuten. Art. 14 formuliert vielmehr ein Unionsstrukturprinzip, das gemeinwohlorientierten Leistungen der Daseinsvorsorge einen ganz eigenständigen Rechtswert zuschreibt und deshalb als Maxime bei der Durchführung aller Unionspolitiken, als Auslegungskriterium bei der Interpretation des Unionsrechts aller Sachbereiche zu berücksichtigen ist.63 Der neu hinzugefügte S. 2 begründet eine unionale Verbandskompetenz zur gesetzlichen Festlegung einer funktionsgerechten Ausgestaltung der Dienste. Allerdings ist diese Verbandskompetenz limitiert, also geteilte Zuständigkeit nach Art. 2 Abs. 2 AEUV: „Unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“. Letztere können im Einklang mit dem AEUV selbst Dienste zur Verfügung stellen, in Auftrag geben oder fi nanzieren. Das für die Daseinsvorsorge spezifische Moment der Subsidiarität fi ndet hier einmal mehr konkreten Ausdruck. Dessen ungeachtet hat die Union die Möglichkeit zu aktiver Politikgestaltung auf dem Feld der Daseinsvorsorge erlangt und das ohne eine Beschränkung auf bestimmte Sachbereiche. Die „Insbesondere“-Bezugnahme auf Aspekte wirtschaftlicher und fi nanzieller Art wirkt nicht exklusiv.64 rechtsqualität, siehe dazu M. Kotzur, in: R. Geiger / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Einführung zur GR-Charta, Rn. 5. 60 R. Geiger, in: ders. / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Präambel EUV, Rn. 19 f. 61 Vgl. in diesem Zusammenhang den von J. Schwarze bereits im Jahre 2001 hrsgg. Sammelband „Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts“, 2001. 62 M. Kotzur, Die Ziele der Union: Verfassungsidentität und Gemeinschaftsidee, DÖV 2005, S. 313 ff. 63 M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 730 ff. 64 Siehe M. Krajewski, Öffentliche Dienstleistungen im europäischen Verfassungsrecht, DÖV 2005, S. 665 ff., 669 f.; M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 732.
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Das weckt Sorgen auf Seiten der Mitgliedstaaten. Wie stark kann die EU künftig die Aufgabenerfüllung im Bereich der Daseinsvorsorge festschreiben, etwa Privatisierungszwänge festlegen? Der Wortlaut „Grundsätze und Bedingungen“ bestätigt jedoch, dass durch die Union nur Rahmenregelungen möglich sind. Warum für solche eine „Rahmengesetzgebung“ als alleinige rechtliche Handlungsform die Verordnung festgeschrieben ist, wo doch üblicherweise Rahmenregelungen durch Richtlinien erfolgen, mag überraschen.65 Eine Begründung drängt sich auf: Da die rechtlichen wie tatsächlichen Hürden für Verordnungsgebung höher sind als für den Richtlinienerlass, wird, ganz im Sinne der Mitgliedstaaten, der Europäisierungsschub durch Kompetenzerweiterung sogleich wieder relativiert. Es deutet sich eine Art Dialektik an: Bei einem Zuwachs aktiver Handlungsmöglichkeiten der Daseinsvorsorgepolitik durch die Union sichern die Mitgliedstaaten zugleich ihren Gestaltungsvorrang.66 Auch für soziale Belange gilt: Unionskompetenzen „können und müssen von den Organen der Europäischen Union in einer Weise ausgeübt werden, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene sowohl im Umfang als auch in der Substanz noch Aufgaben von hinreichendem Gewicht bestehen, die rechtlich und praktisch Voraussetzung für eine lebendige Demokratie sind.“67 Die so skizzierte Dialektik fi ndet in einem weiteren Punkt Bestätigung. Mit dem Vertrag von Lissabon ist erstmals die kommunale Selbstverwaltung primärrechtlich verankert. Nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV achtet die Union die „lokale Selbstverwaltung“ als Teil der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten.68 Damit erhält, ganz im Sinne konsequenten Subsidiaritätsdenkens, die kommunale Selbstverwaltung ein stärkeres Gewicht gegenüber unionaler Einflussnahme. Und ein Großteil der Daseinsvorsorgeaufgaben wird von den Kommunen im Rahmen ihrer Selbstverwaltungsangelegenheiten erfüllt.69 Auch das Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, das Art. 14 AEUV ergänzt, denkt dialektisch.70 Art. 1 behandelt die einer Europäisierung grundsätzlich zugänglichen wirtschaftlichen Dienstleistungen, Art. 2 stellt klar, dass es im Bereich der nichtwirtschaftlichen gemeinwohlorientierten Dienste bei der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleibt. Hier ist die Union nicht einmal zur Festlegung eines regulativen Rahmens berufen. Das Protokoll insgesamt betont neuerlich die mitgliedstaatliche Ausgestaltungsverantwortung der Mitgliedstaaten und die Subsidiarität. Mitgliedstaatliche Verwaltungstradition sind – Einheit in Vielheit – zu respektieren. Die in der Literatur gebrauchte Metapher von einer „Demarkationslinie“, die das Protokoll ziehe, um öffentliches Wirtschaften weithin 65 Allg. zu Fragen der Formwahl A. v. Bogdandy / J. Bast / F. Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht: Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, ZaöRV 62 (2002), S. 77 ff. 66 M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 733 f. 67 BVerfGE 123, 267 (406). 68 F. Welti, Die kommunale Daseinsvorsorge und der Vertrag über eine Verfassung für Europa, AöR 130 (2005), S. 529 ff. 69 R. Geiger, in: ders. / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, Art. 4 EUV, Rn. 3. 70 M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 735 ff.; F. Schorkopf, Das Protokoll über die Dienste von allgemeinem Interesse und seine Auswirkungen auf das öffentliche Wirtschaftsrecht, WiVerw 2008, S. 253 ff.; N. Fiedzink (Fn. 49), S. 232ff.
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einem europäischen Legitimationszwang zu entziehen, erscheint letztlich zu eng.71 Nicht die eindeutige Abgrenzung, sondern ein Verbundensein ermöglicht „Einheit in Vielfalt“. Art. 36 GRCh rundet das Bild schließlich ab.72 Ihm folgend achtet die Union den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist. Der Achtungsanspruch hat eine eindeutige Zielperspektive: Es geht darum, den territorialen und sozialen Zusammenhalt in der Union zu fördern. Die objektive Formulierung lässt Zweifel daran auf kommen, ob die Vorschrift – ihrer systematischen Stellung zum Trotz – als soziales Grundrecht auf Daseinsvorsorge eingeordnet werden kann.73 Nicht der Einzelne, sondern die Verpfl ichtung der Union ist ihr normativer Ausgangspunkt. Teile der Literatur werten Art. 36 GrCh denn auch eher als Unionszielbestimmung, die komplementär zu Art. 14 AEUV dessen Wirkung verstärkt. Andere sehen in der Norm kein Leistungs-, wohl aber ein Abwehrrecht.74 Geschützt werde der Bürger, der Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse in Anspruch nehmen wolle. Art. 36 GRCh wird so zur unionsgrundrechtlichen „Bestandsschutzgarantie“ für nationale Sozialstandards, deren Schutz er gewissermaßen subjektiviert.75 Auch wer einer so weitgehenden Lesart nicht folgen mag und den objektiv-rechtlichen Charakter der Vorschrift betont, kann ihre kompetenzbeschränkende Wirkung nicht abstreiten. Aus den hier knapp skizzierten Normensembles, die noch um bereichsspezifische Beispiele aus den einzelnen Unionspolitiken zu ergänzen wären, lassen sich die Konturen eines Daseinsvorsorgeverbundes gewinnen, der die Dialektik von unionaler Politikgestaltung und mitgliedstaatlichem Ausgestaltungsprimat zur Systembildung nutzt. Der Kooperationsgedanke spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Umso wichtiger ist, dass der Lissabonner Vertrag in Art. 197 AEUV erstmals eine Regelung über die Verwaltungszusammenarbeit eingeführt hat und so gleichzeitig die zentrale Bedeutung der Ausführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten hervorhebt.76 Der kooperative Verfassungsstaat ist gewissermaßen „unional mitverfasst“. 77 Gerade auf diese Weise wird für ihn, der auch als europäisch integrierter Verfassungsstaat die „global anerkannte Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft“78 verkörpert, jene Steuerungsfähigkeit sichergestellt, die bei vermeintlicher 71 So aber F. Schorkopf, Das Protokoll über die Dienste von allgemeinem Interesse und seine Auswirkungen auf das öffentliche Wirtschaftsrecht, WiVerw 2008, S. 253 ff., 257. 72 Dazu E. Riedel, in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 36 Rn. 8 ff. 73 Ebd., Rn. 8: „Grundsatz“. 74 So M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 739, u. a. unter Bezugnahme auf M. Krajewski, Öffentliche Dienstleistungen im europäischen Verfassungsrecht, DÖV 2005, S. 665 ff., 668. 75 Ebd. 76 Ph. Terhechte, Europäisches Verwaltungsrecht und europäisches Verfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 7 Rn. 29; M. Kotzur, in: R. Geiger / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 197 AEUV, Rn. 1 77 Früh und grundlegend P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff. 78 BVerfGE 123, 267 (346).
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Autarkie angesichts weit ausgreifender Globalisierungsprozesse verloren zu gehen drohte. Im Verbund bleibt er wirkungsmächtig.
IV. Der Daseinsvorsorgeverbund: Unionale Rahmensetzung und mitgliedstaatlicher Ausgestaltungswettbewerb Manchen dogmatischen Unschärfen zum Trotz79, taugt der Verbundbegriff jedenfalls als Beschreibungsmodus für all die wechselseitigen Verflechtungen, Verschränkungen und Überlagerungen, die das pluralistische Verwobensein von unionalem und mitgliedstaatlichem Recht ausmachen.80 Die Wendung vom Verbund mag dabei durchaus deskriptive Konsequenz aus einer terminologischen wie konzeptionellen Verlegenheit sein: Herkömmliche Ansätze, das Verhältnis von Rechtsordnungen ausschließlich hierarchisch zu bestimmen, werden der schrittweisen Genese des europäischen Verfassungs- und Verwaltungsraumes längst nicht mehr gerecht.81 Eine neue Matrix muss notwendig auf die (vermeintliche) Eindeutigkeit des Hierarchiemodells verzichten und sich dem Diffusen der Verflechtungen stellen.82 Das bleibt Stärke und Schwäche des Verbunddenkens zugleich83 – sei es in der stärker intergubernativen Lesart des Staatenverbundes84, sei es in der stärker konstitutionellen Lesart des Verfassungsverbundes.85 Der Verbund bezeichnet die teils schon spezifischen, 79 Pointiert in seiner Kritik etwa M. Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärferelation, in: GS W. Blomeyer, 2004, S. 637 ff. 80 Weiterführend N. Walker, The idea of Constitutional Pluralism, M. L. R. 65 (2002), S. 317 ff.; ders. (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003. 81 So nachdrücklich A. v. Bogdandy / S. Schill, Zur unionsrechtlichen Rolle nationalen Verfassungsrechts und zur Überwindung des absoluten Vorrangs, ZaöRV 70 (2010), S. 701 ff., 703. 82 In der politik- wie rechtswissenschaftlichen Literatur fi nden sich zahlreiche Verflechtungsmetaphern: „Politikverflechtung“ bei F. W. Scharpf / B. Reissert / F. Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; später F. W. Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S. 323 ff.; „Mehrebenenverflechtung bei A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 188; ihr folgend J. Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, 2008, S. 75; von „Sympolitie“ spricht D. Th. Tsatsos, The European Sympolity: New Democratic Discourses, 2008; ihm folgend P. Schiffauer, Zum Verfassungszustand der Europäischen Union nach Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon, EuGRZ 2008, S. 1 ff.; zur „Synarchie“ variierend D. N. Chryssochoou, Europe as a Synarchy: A Study in Organized Co-Sovereignty, JöR 57 (2007), S. 407 ff. 83 A. v. Bogdandy / S. Schill, Zur unionsrechtlichen Rolle nationalen Verfassungsrechts und zur Überwindung des absoluten Vorrangs, ZaöRV 70 (2010), S. 701 ff., 704. 84 BVerfGE 89, 155 (156, 181); E 123, 267 (348): „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“ Prägend wirkt P. Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: A. v. Bogdandy / J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 1009 ff., 1019 ff. 85 Wegweisend I. Pernice, Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 ff., 33: „Der Begriff des Verfassungsverbundes kennzeichnet (. . .) die materielle Einheit von Gemeinschafts- und innerstaatlichem (Verfassungs-)Recht“; ders., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 48 (2000), S. 205 ff.; ders., Europäisches und nationales Verfas-
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teils noch recht unspezifischen Funktionsweisen komplexer Mehrebenenverflechtungen, ohne sich bereits vorab auf die genauen Techniken des dynamischen Zusammenspiels – des immer neuen Sich-Verbindens – festzulegen.86 Gleiches gilt, bei allen konzeptionellen Unterschieden, auch für die Netzwerkidee.87 Verbünde oder Netzwerke sind aber nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Ihre Infrastrukturen fi nden sich im positiven Recht von Union und Mitgliedstaaten schon angelegt.88 Zur deskriptiven Kraft kommt somit eine normative Qualität hinzu; der Verbund ist zur „Ordnungsidee“ erstarkt.89 Verwiesen sei etwa auf Vorschriften nach dem Muster von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, auf Art. 1 Abs. 1, 4 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, 6 Abs. 2 und 3, Art. 12, Art. 48 EUV oder Art. 267 AEUV.90 Für den Verwaltungsverbund ist insbesondere noch einmal an Art. 197 AEUV und seine immanente Zielsetzung einer Kooperations-Infrastruktur einschließlich eines Informationsnetzwerks zu erinnern.91 Solche und vergleichbare Verbindungs-Normen denken komplementär von den Mitgliedstaaten wie von der Union her. Sie weisen in Intensität, Dynamik und Zielorientierung durchaus bereichsspezifische Unterschiede auf. Gemeinsam ist ihnen die reziproke Öffnung der sich verbindenden Normordnungen, gemeinsam ist ihnen die Rezeptionsoffenheit für die jeweils anderen Standards, ebenso die schonende Rücknahme des jeweils eigenen umfassenden Gestaltungs- und Kontrollanspruchs. In den Worten von E. Schmidt-Aßmann: „Im Gedanken des Verbundes sind Eigenständigkeit, Rücksichtnahme und Fähigkeiten zu gemeinsamen Handeln gleichermaßen angelegt.“92 Dass die Verbundlogik gerade für den Bereich der Daseinsvorsorge greift, liegt an dessen spezifischem Aufgabenprofi l. Immer komplexere Daseinsvorsorgeaufgaben überfordern den Staat, verlangen nach überstaatlicher Verantwortung und einer „Hochzonung“ der Kompetenzen. Sie verlangen damit nach einem „Informations-, sungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff.; ders., Theorie und Praxis des Europäischen Verfassungsverbundes, in: Ch. Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, S. 61 ff. 86 So A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff., 3. 87 I. Pernice, La Rete Europea di Costituzionalita – Der Europäische Verfassungsverbund und die Netzwerktheorie, ZaöRV 70 (2010), S. 51 ff.; Ch. Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts. Zur juristischen Beschreibung dezentraler Steuerung, in: J. Oebbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, S. 285 ff.; kritisch J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. CIX. 88 Ausführlich A. v. Bogdandy / S. Schill, Zur unionsrechtlichen Rolle nationalen Verfassungsrechts und zur Überwindung des absoluten Vorrangs, ZaöRV 70 (2010), S. 701 ff., 705. 89 A. Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR 59 (2011), S. 215 ff., 219, unter Verweis auf E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004; ders., Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders. / B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1 ff., 7. 90 Spezifi sch zu Art. 267 AEUV A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff., 5. 91 A. v. Bogdandy, Informationsbeziehungen im europäischen Verwaltungsverbund, in: E. Schmidt-Aßmann / W. Hoffmann-Riem / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 25. 92 E. Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders. / B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1 ff., 7.
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Entscheidungs- und Kontrollverbund“, der auf unionsrechtlich vereinheitlichten Vorgaben des prozeduralen wie des materiellen Rechts beruht und so notwendiger Kooperation eine normative Infrastruktur zur Verfügung stellt.93 Die primäre Ausgestaltungsverantwortung im Bereich der Daseinsvorsorge verbleibt aber bei der kleineren Einheit: beim Mitgliedsstaat und seinen staatlichen Untergliederungen. Es ist deshalb nur ein vermeintlicher Widerspruch, wenn mit Art. 14 AEUV erstmalig eine Kompetenzgrundlage der EU für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse geschaffen und zugleich die eigenständige mitgliedstaatliche Entscheidungsverantwortung zur Daseinsvorsorge gestärkt wird.94 An dieser Stelle sei der Eingangsgedanke noch einmal aufgegriffen und zugespitzt. Wer die Frage nach der Daseinsvorsorge als Unionsaufgabe stellt, darf seinen Blick nicht auf das Unionsrecht verengen, sondern muss von den Verwaltungssystemen in Europa her denken. Diese stehen in einem Systemwettbewerb. Er ist Ordnungsmodus im europäischen Verwaltungsverbund. Ob staatliche Gewährleistungsverantwortung genügt und die Erfüllungsverantwortung an Private delegiert werde darf, steht im Wettbewerb. Welche Institutionen, ob klassische Behörden, moderne Agenturen, zur Aufgabenerfüllung geeignet sind, steht im Wettbewerb. Das Unionsrecht bändigt und kanalisiert diesen Wettbewerb durch seine rechtsstaatlichen und gemeinwohlorientierten Direktiven.95 Im Recht auf eine gute Verwaltung werden sie sogar subjektiviert.96
Schlussbetrachtung Das Dialektische, Kompetitive des europäischen Daseinsvorsorgeverbundes mag der eine oder andere nicht ohne Ironie mit einem Hinweis auf F. Schillers „Wilhelm Tell“ kommentieren97: Wenn Tell konstatiert: „Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst“, entgegnet ihm Stauffacher: „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig“. Und Tells Antwort: „Der Starke ist am mächtigsten allein“. Zum Glück hat der Klassiker Schiller seinem Klassiker „Wilhelm Tell“ keine moderne Staats- und Unionsaufgabenlehre in den Mund gelegt. Denn auf den europäisch integrierten, global gebundenen Verfassungsstaat und sein Aufgabenprofi l trifft eine Philosophie der Stärke längst nicht mehr zu. Seiner Integrationsverantwortung 98 würde sie erst recht nicht gerecht. Auch die Daseinsvorsorge hat den staatlichen Raum längst transzendiert. In 93
Ebd., S. 1, Überschrift A. M. Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 725 ff., 744 f. 95 Dieser Gedanke lagt dem Gesamtkonzept der Grazer Staatsrechtslehrertagung 2009 zugrunde: „Gemeinwohl durch Wettbewerb“, VVDStRL 69 (2010). Insbesondere zum „Wettbewerb von Rechtsordnungen“ A. Peters (ebd., S. 7 ff.) und Th. Giegerich (ebd., S. 57 ff.) 96 Siehe oben Fn. 75. 97 Erster Aufzug, 3. Szene. 98 Zum Topos der Integrationsverantwortung, den das BVerfG in seiner Lissabon Entscheidung geprägt hat, Ch. Calliess, Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Parlamentarische Integrationsverantwortung auf europäischer und nationaler Ebene, ZG 2010, S. 1 ff.; A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Die Verwaltung, Beiheft 10 (2010), S. 229 ff. Die enge Kooperation mit den mitgliedstaatlichen Gerichten in Vorabentscheidungsverfahren betont der Gerichtshof jüngst ins seinem Gutachten 1/09 (Plenum) vom 8. März 2011, dort Rn. 84. 94
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einer Unionsaufgabenlehre darf deshalb das Kapitel „Daseinsvorsorge“ nicht fehlen, mag man nun auf den deutschen Terminus aus der Feder Ernst Forsthoffs zurückgreifen, in pragmatischem Englisch weniger vorsorgend-fürsorglich von „services for the Public“99 sprechen oder auch jenseits des Staates an das französische „Etat Providence“/„service public“100 anknüpfen. Wichtig ist bei aller terminologisch-konzeptionellen Differenz vor allem Eines: die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Der Daseinsvorsorgeverbund macht den Dialog im „Lernverbund“101 unverzichtbar.
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Vgl. auch M. Loughlin, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Großbritannien, in: A. v. Bogdandy / S. Cassese / P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III, Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 44, Rn. 55 ff. 100 M. Bullinger, Französischer service public und deutsche Daseinsvorsorge, in: ders., Regulierung von Wirtschaft und Medien, 2008, S. 103 ff. 101 F. Merli, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 392 ff., 418; allgemein zum Thema Th. v. Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten in Europa, ZRP 2010, S. 143 ff.
Kontrolle unabhängiger Institutionen der Europäischen Union von
Prof. Dr. Charlotte Gaitanides, LL.M., Universität Flensburg A. Agenturen als unabhängige Gemeinschaftsinstitutionen I. Einleitung Weit über zwanzig Agenturen führt die Europäische Union derzeit in ihrem Portfolio.1 Es handelt sich um europäische Einrichtungen, von denen einzelne schon seit über 30 Jahren bestehen und die gerade in letzter Zeit eine wundersame Vermehrung erfahren haben. Die ersten Agenturen wurden bereits in den 70er Jahren gegründet. Zu ihnen zählen etwa eine Arzneimittel- und eine Umweltagentur,2 eine Agentur für chemische Stoffe,3 ein Sortenschutzamt4 sowie ein Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt.5 Zuletzt wurde im Jahr 2007 eine EU-Grundrechteagentur6 mit Sitz in Wien ins Leben gerufen, die aus der „Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ hervorgegangen ist,7 im Jahr 2009 eine Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden mit Sitz in Ljubljana8 und schließlich im Jahr 2010 die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde in Paris.9 Die Vielfalt dieser Institutionen und ihrer Funktionen erscheint kaum mehr überschaubar. Die Bandbreite der Aufgabengebiete, auf denen europäische Agenturen 1 S. im Einzelnen die Aufl istung bei Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 13 EUV Rn. 38. 2 VO (EWG) Nr. 2309/93, ABl. 1993, L 214, S. 1 sowie VO (EG) Nr. 401/2009, ABl. 2009, L 126, S. 13. 3 VO (EG) Nr. 1907/2006, ABl. 2006, L 396, S. 1. 4 VO (EG) Nr. 2100/94, ABl. 1994, L 227, S. 1. 5 VO (EG) Nr. 40/94, ABl. 1993, L 11, S. 1. 6 VO (EG) Nr. 168/2007, ABl. 2007, L 53, S, 1. 7 Ausführlich Schlichting/Pietsch, Die Europäische Grundrechteagentur, EuZW 2005, 587; Härtel, Die Europäische Grundrechteagentur: unnötige Bürokratie oder gesteigerter Grundrechtsschutz?, EuR 2008, 489. 8 VO (EG) Nr. 713/2009, ABl. 2009, L 211, S. 1. 9 VO (EG) Nr. 1095/2010, ABl. 2010, L 331, S. 84.
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tätig sind, reicht von der Netz- und Informationssicherheit10 bis zur Überwachung der Fischbestände bei der Europäischen Fischereiaufsichtsbehörde.11 Daneben gibt es drei weitere Agenturen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik12 und drei im Bereich der polizeilichen- und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.13 Manche Agenturen, wie die Europäische Umweltagentur, sind nur mit Informationssammlung befasst, können gegenüber dem Bürger aber keine verbindlichen Einzelakte erlassen. Andere üben jedoch Entscheidungsbefugnisse aus, die unmittelbare Rechtswirkung für den Unionsbürger haben.14 Unter europäischen Agenturen versteht man von den Organen der Europäischen Union unabhängige Einrichtungen des europäischen öffentlichen Rechts, die eigene Rechtspersönlichkeit haben.15 Von den in Art. 13 Abs. 1 EUV genannten Unionsorganen unterscheiden sich die Agenturen dadurch, dass sie durch einen spezifischen Sekundärrechtsakt geschaffen werden, der die Aufgaben der Agentur im Detail regelt.16 In den europäischen Verträgen sind die Agenturen nicht ausdrücklich vorgesehen.17 Obwohl in der Literatur wiederholt für die Schaffung einer expliziten Rechtsgrundlage im Primärrecht plädiert wurde,18 hat auch der Vertrag von Lissabon keine entsprechende Änderung des Vertragsrechts vorgenommen. Stattdessen wird die Gründung der Agenturen zunehmend auf die jeweilige Sachkompetenz aus den einzelnen Politikbereichen gestützt. Art. 352 AEUV wird als Rechtsgrundlage nur noch dann verwendet, wenn keine Sachkompetenz einschlägig ist.19
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VO (EG) Nr. 460/2004, ABl. 2004, L 77, S. 1. VO (EG) Nr. 768/2005, ABl. 2005, L 128, S. 1. 12 Gemeinsame Aktion des Rates 2004/551/GASP über die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsagentur, ABl. 2001, L 245, S. 17; Gemeinsame Aktion des Rates 2001/554/GASP betreffend die Einrichtung eines Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien, ABl. 2001, L 245, S. 1; Gemeinsame Aktion des Rates 2001/555/GASP betreffend die Einrichtung eines Satellitenzentrums der Europäischen Union, ABl. 2001, L 245, S. 5. 13 Beschluss der Rates 2002/187/JI über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität, ABl. 2002, L 63, S. 1; Beschluss der Rates 2009/371/JI zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts (Europol), ABl. 2009, L 121, S. 37; Beschluss der Rates 2005/681/JI zur Errichtung der Europäischen Polizeiakademie, ABl. 2005, L 256, S. 63. 14 Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 457 (462); Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen, AöR 2000, 551 (555 f.). 15 Vgl. Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 38. 16 Kilb, Europäische Agenturen und ihr Personal – die großen Unbekannten?, EuZW 2006, 268 (269). 17 Wittinger, „Europäische Satelliten: Anmerkungen zum Europäischen Agentur(un)wesen und zur Vereinbarkeit Europäischer Agenturen mit dem Gemeinschaftsrecht, EuR 2008, 609 (625). 18 Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 457 (488); Remmert, Die Gründung von Einrichtungen der mittelbaren Gemeinschaftsverwaltung, EuR 2003, 134 (145); Vos, Reforming the European Commission: What Role to Play for EU Agencies, CMLR 2000, 1113; Wittinger, „Europäische Satelliten: Anmerkungen zum Europäischen Agentur(un)wesen und zur Vereinbarkeit Europäischer Agenturen mit dem Gemeinschaftsrecht, EuR 2008, 609 (626). 19 Vetter, Die Kompetenzen der der EG zur Gründung von unabhängigen europäischen Agenturen, DÖV 2005, 721 (722). 11
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II. Begriff und Typen von Agenturen Die bestehenden Agenturen verfügen über äußerst unterschiedliche Funktionen und Kompetenzen. Insgesamt lassen sich die Agenturen grob in vier Typen klassifizieren.20 Beim ersten Typus handelt es sich um Einrichtungen zur Erleichterung der Funktionsweise des Binnenmarkts, so z. B. die Europäische Arzneimittelagentur,21 die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit,22 die Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit23 und das Europäische Amt für chemische Stoffe.24 Diese Einrichtungen erfüllen regulierende Aufgaben und erbringen Dienstleistungen für gewerbliche Sektoren. In Ausübung ihrer Aufgaben können sie Einkünfte erzielen und so über eigene Mittel verfügen. Die zweite Kategorie bilden sog. Beobachtungsstellen, wie die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen, die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon, die EU-Agentur für Grundrechte sowie das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen. Zentrale Aufgabe der Beobachtungsstellen ist das Sammeln und Verbreiten von Informationen mittels eines Partnernetzes, das sie errichten und verwalten. Bei einem dritten Typ handelt es sich um Einrichtungen, die der Förderung des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene dienen, wie das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung oder die europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Europäische Agentur für die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Die vierte, äußerst heterogene Restgruppe führt in ihrem jeweiligen Fachgebiet Programme und Aufgaben für die Union durch, wie etwa die Europäische Agentur der Berufsbildung,25 das Übersetzungszentrum für die Einrichtungen der Europäischen Union,26 die Europäische Eisenbahnagentur,27 die Europäische Fischereiaufsichtsbehörde,28 sowie die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex).29
III. Legitimationsprobleme Die wachsende Bedeutung der Agenturen für die Verwaltung der Europäischen Union gibt Anlass, über die demokratische Legitimation dieser Institutionen mit Blick auf ihre Aufgaben, Kompetenzen und Finanzen sowie über ihre Kontrolle 20 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Europäische Agenturen, Nr. 9/07 (6. März 2007), S. 1 f.; vgl. auch Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer/Huber/ Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 457 (461 f.). 21 VO (EWG) Nr. 2309/93, ABl. 1993, L 214, S. 1. 22 VO (EG) Nr. 178/2002, ABl. 2002, L 31, S. 1. 23 VO (EG) Nr. 460/2004, ABl. 2004, L 77, S. 1. 24 VO (EG) Nr. 1907/2006, ABl. 2006, L 396, S. 1. 25 VO (EWG) Nr. 1360/1990, ABl. 1990, L 131, S. 1. 26 VO (EG) Nr. 2965/94, ABl. 1994, L 314, S. 1. 27 VO (EG) Nr. 881/2004, ABl. 2004, L 220, S. 3. 28 VO (EG) Nr. 768/2005, ABl. 2005, L 128, S. 1. 29 VO (EG) Nr. 2007/2004, ABl. 2004, L 53, S. 1.
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nachzudenken.30 Auf den ersten Blick mag der Agentur-Boom, von den Bürokratiekosten einmal abgesehen, völlig unproblematisch erscheinen. Das kann allerdings nicht für die Agenturen gelten, die über Einwirkungsrechte auf den Bürger verfügen, zumal sämtliche dieser Agenturen mit Unabhängigkeit ausgestattet sind. „Unabhängigkeit“ bringt zum Ausdruck, dass Agenturen nicht Teil eines der Unionsorgane sind, sondern – jedenfalls in gewissem Umfang – unabhängig von sämtlichen Organen und unabhängig von den Mitgliedstaaten agieren.31 Daneben muss auch eine Unabhängigkeit von den Adressaten der Verwaltungsmaßnahmen gewährleistet sein. Dies gilt sowohl in personeller als auch in finanzieller Hinsicht.
IV. Beispiel: Europäische Arzneimittelagentur Ein Beispiel für eine unabhängige Agentur mit besonders weitgehenden Regelungsbefugnissen ist die Europäische Arzneimittelagentur.32 Ihre Aufgabe besteht im Schutz und in der Förderung der öffentlichen Gesundheit in der Europäischen Union. Sie koordiniert die laufende Beurteilung und Überwachung aller Human- und Tierarzneimittel, die von Ausschüssen wahrgenommen wird, deren Mitglieder sich in der Regel aus hochrangigen Vertretern der nationalen Arzneimittelbehörden rekrutieren. Diese Ausschüsse erstellen im Arzneimittelzulassungsverfahren ein umfassendes wissenschaftliches Gutachten über das in Frage stehende Arzneimittel. Dieses Gutachten präjudiziert die Kommissionsentscheidung. Die Kommission kann also nur ausnahmsweise und auch nur mit eingehender Begründung vom Gutachten der Agentur abweichen. In der Praxis wird das wegen der außerordentlichen Spezifität und Komplexität der Zulassungsentscheidungen allerdings nur äußerst selten der Fall sein.33 Die Arzneimittelagentur ist im Zulassungsverfahren auch befugt, bestimmte Verwaltungsmaßnahmen zu ergreifen, etwa vom betreffenden Mitgliedstaat Informationen über die sachgerechten Herstellungspraktiken des Arzneimittelherstellers zu verlangen und den Mitgliedstaat zur Kontrolle eines Herstellers zu verpfl ichten. Die Kontrolle der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit gegenüber den Pharmaunternehmen wird von einem Verwaltungsrat (Management Board) wahrgenommen. Dieser ist mit Vertretern aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 30 Vgl. Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 457 (474); Winter, Kompetenzverteilung und Legitimation in der Europäischen Mehrebenenverwaltung, EuR 2005, 255 (270). 31 Vgl. Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 218. 32 VO (EWG) Nr. 2309/93 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABl. 1993, L 214, S. 1; ausführlich zu Organisation der Agentur und dem Verfahren der Arzneimittelzulassung Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 246 ff.; allgemein zur Organisationsstruktur der Regulierungsagenturen Groß, Die Kooperation zwischen europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, 54 (65 f.); Meller, Regulierungsagenturen der Europäischen Union: rechtliche und integrationspolitische Gesichtspunkte, Speyer 2002, S. 20 ff. 33 Wittinger, „Europäische Satelliten: Anmerkungen zum Europäischen Agentur(un)wesen und zur Vereinbarkeit Europäischer Agenturen mit dem Gemeinschaftsrecht, EuR 2008, 609 (625) meint, dass ein Abweichen der Kommission von den Expertengutachten „als eher theoretisch zu bewerten ist“.
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besetzt, die durch Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Vertreter der Europäischen Kommission sowie durch Repräsentanten von Ärzte,- Tierärzte- und Patientenverbänden ergänzt werden. Dieses Beispiel zeigt, dass die Zuweisung weit reichender Befugnisse an eine unabhängige Agentur vor allem mit dem für die Entscheidungen erforderlichen Expertenwissen und der Notwendigkeit politisch unbeeinflusster Entscheidungen gerechtfertigt wird.34 Mit Blick auf Demokratie- und Rechtsstaatlichkeit muss die Auslagerung von Verwaltungstätigkeit unter Kontrollaspekten gleichwohl kritisch hinterfragt werden.35 Die Berufung auf das erforderliche Expertentum sowie die Unabhängigkeit der Entscheidungsfi ndung sind nicht per se geeignet, die europäischen Agenturen von demokratischer Kontrolle frei zu zeichnen, da diese Anforderungen durchaus auch von der Europäischen Kommission selbst gewährleistet werden könnten.
V. Meroni-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs: Grenzen der Übertragung von Befugnissen 1. Übertragung genau umgrenzter Ausführungsbefugnisse Der Europäische Gerichtshof hat der Einrichtung von unabhängigen Einrichtungen dieser Art in seiner nunmehr genau 50 Jahre alten Meroni-Entscheidung aus dem Jahr 1958 klare Grenzen gezogen.36 In diesem Urteil hat der Gerichtshof den vertraglich vorgesehenen Organen der Union in das Stammbuch geschrieben, dass jegliche Übertragung von exekutiven Eingriffsbefugnissen ausgeschlossen ist, die „einen weiten Ermessensspielraum voraussetzen“. Das institutionelle Gleichgewicht werde nur dann nicht verletzt, wenn lediglich „genau umgrenzten Ausführungsbefugnisse“ übertragen würden.37 Legt man diese Entscheidung zu Grunde wird deutlich, dass sich die Legitimation der Agenturen auf dem schmalen Grad der Unterscheidung von Eingriffsbefugnissen
34 S. etwa Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 13 EUV Rn. 38; Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 457 (465); Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen, AöR 2000, 551 (565); Wittinger, „Europäische Satelliten: Anmerkungen zum Europäischen Agentur(un)wesen und zur Vereinbarkeit Europäischer Agenturen mit dem Gemeinschaftsrecht, EuR 2008, 609 (621 ff.). 35 Eingehend dazu Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer/Huber/ Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 457 (476 ff.); vgl. auch Wittinger, „Europäische Satelliten: Anmerkungen zum Europäischen Agentur(un)wesen und zur Vereinbarkeit Europäischer Agenturen mit dem Gemeinschaftsrecht, EuR 2008, 609 (621). 36 EuGH, Urt. v. 13. 6. 1958–9/56 (Meroni & Co., Industrie Mertallurgiche, S. P. A./Hohe Behörde), Slg. 1958, S. 11. 37 Calliess, Die Zukunft des Europäischen Agentur(un)wesens – oder: Wer hat Angst vor Meroni?, EuZW 2008, 129; vgl. auch Meller, Regulierungsagenturen der Europäischen Union: rechtliche und integrationspolitische Gesichtspunkte, Speyer 2002, S. 33 ff.; zum interinstitutionellen Gleichgewicht s. in diesem Zusammenhang Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen, AöR 2000, 551 (560 f.) m. w. N.; Winter, Kompetenzverteilung und Legitimation in der Europäischen Mehrebenenverwaltung, EuR 2005, 255 (262 f.).
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mit eigenem Ermessenspielraum und reinen Ausführungsbefugnissen bewegt.38 Im Beispiel der Arzneimittelagentur erscheint es äußerst fraglich, ob ihre Befugnisse, vor allem die ihr möglichen Kontrollmaßnahmen, nicht die Grenze zu echten Eingriffsbefugnissen deutlich überschreiten. Die mit der Zulassungsentscheidung verbundenen Eingriffe werden gewissermaßen nachträglich durch die Kommission „bestätigt“, obwohl die Erteilung der europäischen Genehmigung für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln de facto bei der Europäischen Arzneimittelagentur liegt. Ein weiteres Beispiel für die regulierende Tätigkeit einer Agentur ist das Harmonierungsamt für den Binnenmarkt.39 Es entscheidet über den Erwerb der Gemeinschaftsmarke, ihre Verlängerung sowie den Verfall und die Nichtigkeit einer Marke und trifft insoweit gebundene Entscheidungen gegenüber einzelnen Unionsbürgern. Hinsichtlich der Kompetenzen der genannten Agenturen mit Entscheidungsbefugnissen ist zudem festzustellen, dass deren Ermessen sich nicht auf enge technische Fragen beschränkt, sondern zudem immer auch weitergehende Wertungsfragen beinhaltet.40 Somit ist festzuhalten, dass Agenturen durchaus über Regelungskompetenzen verfügen können, die Eingriffsqualität haben.
2. Verletzung des Gleichgewichts der europäischen Institutionen? Mit Blick auf die vom Europäischen Gerichtshof geforderte Wahrung des interinstitutionellen Gleichgewichts steht das Agenturwesen auch deshalb in der Kritik, weil die Kontrolle durch die Organe der Union, vor allem durch das Europäische Parlament, nur rudimentär vorhanden ist. Das Parlament ist allenfalls in der Lage einen Vertreter für die Verwaltungsräte zu entsenden. Die Mitgliedschaft des Abgeordneten im Verwaltungsrat erschwert aber umgekehrt seine Fähigkeit zu kritischer externer Kontrolle. Eine unmittelbare Kontrolle übt das Europäische Parlament nur über die Entlastung des Verwaltungshaushaltsplanes aus. Auch die Europäische Kommission kontrolliert die Agenturen ebenfalls über sein Mitglied im Verwaltungsrat und die Pfl icht der Agenturen, Rechenschaftsberichte zu erstellen. Der Rat der Europäischen Union verabschiedet in der Regel die Gründungsverordnung der Einrichtung und fi xiert damit Aufgabenbereich, Regelungskompetenzen und Mittelzuweisung, die fachlichen Entscheidungen der Agenturen kontrolliert er aber nicht. Die Gründungsverordnungen treffen auch unterschiedliche Regelungen in Bezug auf den Rechtsschutz gegen Agenturhandlungen.41 Allerdings wurden nicht alle Agenturen 38 Zur Zulässigkeit der Delegation von Entscheidungsbefugnissen s. im einzelnen Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 13 EUV Rn. 47 ff. 39 VO (EG) Nr. 40/94, ABl. 1993, L 11, S. 1.; auf dieses Beispiel verweisen Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 110; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 13 EUV Rn. 57; Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen, AöR 2000, 551 (555 f.); Groß, Die Kooperation zwischen europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, 54 (65 f.). 40 Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 186. 41 Auf die Bedeutung des Rechtsschutzes verweist Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 13 EUV Rn. 57, zum Rechtsschutz gegen die Tätigkeit der Agenturen Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 308 ff.; Groß, Die Kooperation zwischen europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, 54 (65 f.).
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in ihren Gründungsverordnungen explizit der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof unterworfen.42 Angesichts der begrenzten Kontrolle der Agenturen durch die Gemeinschaftsorgane drängt sich die Frage auf, ob und wie sich die Unabhängigkeit einer Gemeinschaftseinrichtung rechtfertigen lässt und welcher Kontrolle anderer Gemeinschaftsinstitutionen es bedarf.
VI. Vergleich mit anderen unabhängigen Gemeinschaftsinstitutionen Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Kontrolle der Agenturen Aufgabe der Unionsorgane ist. Daher ist zunächst zu prüfen, ob sich aus ihrer Einbettung in das institutionelle Gemeinschaftsgefüge auch für die Kontrolle der Agenturen Maßstäbe entnehmen lassen. Als Beispiel könnte die europäische Gerichtsbarkeit herangezogen werden. Auch sie ist mit Autonomie ausgestattet. Angesichts ihrer spezifischen Funktion kann man zu den Agenturen aber keine unmittelbare Parallele ziehen. Mit weitgehender Unabhängigkeit ist auch die Kommission ausgestattet, denn sie genießt gem. Art. 17 Abs. 3 EUV Freiheit vor Weisungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen. Art und Umfang der Kontrolle der Kommission ist aufgrund ihrer ganz spezifischen Funktion und ihrer Einbindung in das europäische System von ‚checks and balances‘ jedoch genau abgesteckt, während die europäischen Agenturen, die Verwaltungsaufgaben für die Kommission wahrnehmen, wie am Beispiel der Europäischen Arzneimittelbehörde gezeigt, teils nur sehr rudimentär in die gewaltenteilige Ordnung der Europäischen Union eingebettet sind.
B. Europäische Zentralbank als unabhängiges Unionsorgan I. Funktion der Kontrolle Die Agenturen lassen sich auch mit der Europäischen Zentralbank (EZB) vergleichen,43 der in den europäischen Verträgen innerhalb des europäischen Systems von ‚checks and balances‘ weitgehende Unabhängigkeit eingeräumt wurde.44 Das europäische Währungsrecht autorisiert die EZB, autonom geldpolitische Entscheidungen zu treffen. Die Zentralbankautonomie soll insoweit sicherstellen, dass die Geldpolitik nicht von wirtschafts- und finanzpolitischen Interessen dominiert wird. Dazu trifft vor allem der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union institutionelle Vorkehrungen, indem er die Zentralbank mit weitreichender Unabhängigkeit ausstattet. Selbstredend entfällt trotz der Autonomie nicht jegliche Kontrolle der Zentralbank. Die Kontrolle einer Zentralbank kann zwei Funktionen erfüllen. Erstens 42 Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 318, bejaht aber auch in diesen Fällen die Anwendbarkeit des Art. 263 und 265 AEUV. 43 Vgl. Editorial Comments, Executive Agencies within the EC: The European Central Bank – a model?, CMLR 1996, 623 (624, 630). 44 Zur Unabhängigkeit der EZB eingehend Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005.
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kann es sich um die Kontrolle der geldpolitischen Maßnahmen handeln, d. h. um Maßnahmen, die der Binnenstabilität, also der inneren Stabilität des Geldwertes dienen (unter II.). Zweitens kann die Kontrolle der EZB der Transparenz und Berechenbarkeit des Verhaltens der Zentralbankakteure und damit auch der Glaubwürdigkeit der Institution dienen (unter III). Es liegt mithin nahe, dass diese Unterscheidung in Maßnahmen- und Verhaltenskontrolle auch von maßgeblicher Relevanz für die Kontrolle der europäischen Agenturen ist.
II. Kontrolle der geldpolitischen Maßnahmen Hinsichtlich der Kontrolle der geldpolitischen Maßnahmen der EZB ist festzustellen, dass das Unionsrecht die Zentralbank vor Eingriffen der nationalen Regierungen und der Unionsorgane schützt. Die Zentralbank unterliegt damit weder einer nationalen noch einer supranationalen parlamentarischen Kontrolle. Die weitgreifende Unabhängigkeit einer so wichtigen Institution ist nicht nur außergewöhnlich, sie ist auch keinesfalls unproblematisch. Der Auftrag, der die Unabhängigkeit rechtfertigt, und der zugleich so eng umrissen ist, dass die Zentralbank sich nicht zu einer demokratisch nicht legitimierten Nebenregierung entwickeln kann, ist in Art. 127 AEUV niedergelegt. Diese Vorschrift legt das Europäische System der Zentralbanken, also die EZB und die nationalen Zentralbanken, einzig und allein auf das Ziel der Preisstabilität fest. Das mit der Preisstabilität verbundene Gemeinwohlinteresse ist die Sicherung des Vertrauens in die Stabilität einer Währung. Geldentwertung, d. h. Inflation, ist nicht nur wirtschaftlich schädlich, sie wirkt auch in hohem Maße unsozial. Die Durchbrechung des Demokratieprinzips kann daher nur mit dem Stabilitätsziel gerechtfertigt werden.45 Eine Vielzahl empirischer Untersuchungen hat gezeigt, dass unabhängige Zentralbanken das Ziel der Preisstabilität erfolgreicher verfolgen als abhängige.46 Daran schließt sich die Frage an, warum unabhängige Zentralbanken in ihrer Geldpolitik erfolgreicher sind als abhängige.47 Die Antwort darauf liegt im Wesentlichen am empirisch belegten Zusammenhang von Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit des Zentralbankhandelns.
45 Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005, S. 221 f. 46 S. Gaitanides, Geld- und Währungsrecht, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 2. Aufl., 2010, § 31 Rn. 1; ausführlich dazu Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005, S. 28 ff. m. w. N. 47 Ausführlich dazu Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005, S. 24 ff.
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III. Glaubwürdigkeit durch Kontrollverzicht Worum es also letzthin geht, ist Glaubwürdigkeit durch Kontrollverzicht seitens der politischen Akteure.48 Ökonomische Theorien zeigen, dass die sog. Transmission von unabhängiger Geldpolitik, insbesondere der Zinspolitik, auf Preisstabilität ein außerordentlich komplexer Vorgang ist. Die Transmission kann nur funktionieren, wenn die Geldpolitik von Glaubwürdigkeit der geldpolitischen Instanz begleitet wird. Nur dann ist die Zentralbank in der Lage, effektiven Einfluss auf das Marktgeschehen auszuüben. Dem herrschenden Erklärungsmodell für eine im Sinne der Preisstabilität erfolgreiche Geldpolitik liegt ein spieltheoretisches Paradigma zugrunde. In der Spieltheorie gibt es ohne Glaubwürdigkeit der Akteure keine sog. kooperativen Spielstrategien zwischen Zentralbank und den Wirtschaftssubjekten und daher auch keine erfolgreiche geldpolitische Steuerung durch die Zentralbank. Daraus folgt, dass mangelnde Glaubwürdigkeit zwar nicht die Geltung einer Norm hindert, wohl aber ihre praktische Wirksamkeit. Betrachtet man also die geld- und währungsrechtlichen Vorgaben des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union mit Blick auf ihren Telos, Preisstabilität zu verwirklichen, dann kann es eben nicht nur auf die Existenz der Norm ankommen, vielmehr ist entscheidend, ob mit ihrer Einhaltung zu rechnen ist. Die Zuspitzung des Währungsverfassungsrechts ausschließlich auf die Preisstabilität begründet sich also aus der ökonomischen Notwendigkeit, dem Handeln der Zentralbank Glaubwürdigkeit zu verleihen.49 Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn die EZB bei Einführung der Europäischen Währungsunion in ihrem Handeln a priori glaubwürdig gewesen wäre, was sie mangels einer stabilitätspolitischen Erfolgsgeschichte gar nicht sein konnte, dann hätte es auch nicht der engen Festlegung auf die Preisstabilität bedurft.50 Anders als bei der EZB ist die bereits vorhandene Glaubwürdigkeit auch der Grund dafür, warum etwa die Federal Reserve Bank mit extrem offenen Vorgaben, also ohne eindeutige Festlegung auf die Preisstabilität, auskommt. Die besondere Rolle der EZB bestätigt sich auch bei der Bekämpfung der derzeitigen Finanzkrisen in den Mitgliedstaaten der Union. Trotz der Extremsituation ist die EZB bislang ihrem Ziel der Preisstabilität weitgehend treu geblieben, auch wenn ihre Eingriffe in die Haushaltspolitik einzelner Mitgliedstaaten durch Kauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt in deren Interesse nicht unmittelbar ihrem originären Ziel der Wahrung von Preisstabilität dienen. Dennoch konnte die EZB in der sog. Eurokrise ihre überragende Bedeutung als handlungsfähige und glaubwürdige Institution erhalten. Dies ist nicht zuletzt durch ihre Unabhängigkeit von den Interessen einzelner Staaten möglich gewesen. Allein ihre Ankündigung, Staatsanleihen von Krisenstaaten zu kaufen, führte unmittelbar zu Reaktionen der Märkte, z. B. in Gestalt von Renditesenkungen neu emittierter Staatsanleihen des betreffenden Staates oder von Kurssteigerungen auf den europäischen Aktienbörsen. An 48 Zum folgenden eingehend Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005, S. 28 ff. 49 Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005, S. 38 f. 50 Gaitanides, in: FS für Zuleeg, 2005, S. 550, 552 f.; dies., Geld- und Währungsrecht, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 2. Aufl., 2010, § 31 Rn. 1.
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diesem Beispiel wird deutlich, dass gerade in Krisensituationen Vertrauen und Glaubwürdigkeit in das von einzelstaatlichen Interessen unabhängige Handeln einer Institution unabdingbar ist. Aus alledem ergeben sich zwei Folgerungen, die sich, auch mit Blick auf die Agenturen, verallgemeinern lassen. Das europäische Verfassungsrecht selbst darf, erstens, die Unabhängigkeit nur soweit vorsehen, wie es für die Verwirklichung ihrer Zwecke – im Falle der EZB also das Stabilitätsspiel – tatsächlich erforderlich ist. Da diese Feststellung aber nicht davor schützen kann, dass die Zentralbank im Einzelfall nicht zielkonforme geldpolitische Entscheidungen trifft, muss das Geld- und Währungsrecht, zweitens, auch für den konkreten Einzelfall eine Kontrolle darüber vorsehen, ob sich das Zentralbankhandeln noch innerhalb der Zielvorgabe bewegt. Für diesen Fall eröffnet der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union folgerichtig die Möglichkeit, vor dem Gerichtshof klären zu lassen, ob sich die EZB mit ihrer Geldpolitik an die engen vertragsrechtlichen Vorgaben hält.51 Eine solche engmaschige Rechtskontrolle ist in der Logik einer nicht absolut verstandenen, funktionell eng begrenzte Autonomie folgerichtig.52
IV. Glaubwürdigkeitsdefizite durch Kontrollverzicht auf der Verhaltensebene Damit ist die Frage, wie die Kontrolle und damit der Schutz vor der Unabhängigkeit beschaffen sein sollte, noch nicht abschließend beantwortet. Offen bleibt, wie es mit der Rechtfertigung aussieht, wenn die Zentralbank zwar im Rahmen ihres geldpolitischen Handlungsspielraums agiert, ihre ganz konkreten Handlungen einer effektiven Geldpolitik aber dennoch schaden, weil sie das Vertrauen der Wirtschaftssubjekte in die Zentralbank schädigen. Hier kommt ein grundsätzliches Dilemma des Währungsverfassungsrechts zum Ausdruck. Das Geld- und Währungsrecht schützt die Zentralbanken des Europäischen System der Zentralbanken nur vor den externen Gefahren für die Preisstabilität – das sind vor allem die Gefahren, die aus politischen Abhängigkeiten resultieren – nicht aber vor Gefahren für die Preisstabilität, die in der Unabhängigkeit selbst begründet liegen, die also endogener Natur sind, sich also (etwa) aus dem allgemeinen Verhalten der Verantwortlichen der EZB-Organe ergeben. Dieses Problem entsteht, weil der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine externen Verhaltenskontrollen und Sanktionen vorsieht. Verfehlungen der Verantwortlichen werden, von „schweren Verfehlungen“, also den absoluten Ausnahmefällen abgesehen, von der personellen Unabhängigkeit gedeckt.53 Die Differenzierung zwischen der Maßnahmen- und der Verhaltensebene macht auch noch ein weiteres Problem deutlich. Die geldpolitischen Maßnahmen können allesamt richtig sein, wenn sie aber von einem Glaubwürdigkeitsdefi zit begleitet wer51 Zum Rechtsschutz im Einzelnen Gaitanides, Geld- und Währungsrecht, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht, 2. Aufl., 2010, § 31 Rn. 70 ff. 52 Gaitanides, Geld- und Währungsrecht, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 2. Aufl., 2010, § 31 Rn. 1 f. 53 Zur personellen Unabhängigkeit der EZB s. im einzelnen Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank – Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion, 2005, S. 78 ff.
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den, reagieren die Wirtschaftssubjekte und die Kapitalmärkte so, als seien die geldpolitischen Maßnahmen selbst zweifelhaft. Um Glaubwürdigkeit auch auf personeller Ebene, also der Verhaltensebene zu erreichen, braucht man daher Regeln, die den Marktteilnehmern bekannt sind und die die Zentralbankakteure schon im Vorwege geldpolitischer Entscheidungen binden. Sowohl die EZB als auch die Deutsche Bundesbank haben mit ihren Verhaltenskodizes entsprechende Regeln geschaffen.54 Die Verhaltenskodizes der EZB verpfl ichten ihre Mitarbeiter und die Mitgliedern des EZB-Rates und des Direktoriums auf bestimmte Verhaltensstandards als Richtschnur in berufsethischen Belangen. Zusammengefasst erklärt sich die Bedeutung solcher Verhaltenskodizes – auch mit Blick auf die europäischen Agenturen – daraus, dass die Institution ihre Unabhängigkeit mit Blick auf Sinn und Zweck ihres Handelns selbst beschränkt. Da diese „Kontrolle“ im Wege der Selbstverpfl ichtung erfolgt, wird ihre Autonomie dadurch nicht beeinträchtigt.
C. Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Agenturen I. Parallelen zur EZB Die EZB kann, wie gesehen, als Vorbild dafür dienen, wie sich die Unabhängigkeit einer europäischen Institution rechtfertigen läßt. Im Folgenden wird untersucht, ob auch im Fall der europäischen Agenturen Sinn und Zweck ihrer Tätigkeit eine unabhängige Aufgabenerfüllung gebietet. Wie bereits festgestellt sind europäische Agenturen ein Sammelbegriff für unabhängige Einrichtungen der Gemeinschaft, die vergleichbar mit der EZB auf Dauer angelegt, mit speziellen, eigenständigen Aufgaben und mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind. Es sind vor allem die Weisungsfreiheit, aber auch die organisatorische Unabhängigkeit sowie die fi nanzielle Unabhängigkeit, die auch die Agenturen kennzeichnen. Charakteristisch für die Ausgestaltung der Autonomie der Agenturen ist, dass ihre fi nanzielle Unabhängigkeit regelmäßig durch stärkere organisatorische Einbindung bzw. Abhängigkeit kompensiert wird. Hier wird deutlich, dass den europäischen Agenturen anders als der EZB keine umfassende Unabhängigkeit in personeller, organisatorischer und fi nanzieller Hinsicht eingeräumt wurde. Darüber hinaus ist die organisatorische Unabhängigkeit einer Agentur regelmäßig umso weiter gefasst, je enger die Aufgabenstellungen sind, die sie wahrzunehmen hat. Das spricht dafür, dass bei den Agenturen entsprechend dem Befund bei der EZB ein Zusammenhang zwischen Aufgabenstellung und Kontrollintensität besteht. Die umfassende Autonomie der EZB ist, wie gezeigt, mit der engen Zielfestlegung auf die Preisstabilität „erkauft“ und ist auch nur mit ihr zu rechtfertigen. Wie bei den Entscheidungen der EZB ist auch im Falle der Zulassungsentscheidungen der Europäischen Arzneimittelagentur offensichtlich, dass erhebliche ökono54 Abschnitt 0 der Dienstvorschriften der EZB mit dem Ethik-Rahmen, ABl. 2010, C 104, S. 3; Verhaltenskodex für Mitglieder des EZB-Rates, ABl. 2002, C 123, S. 9; Ergänzender Kodex der EthikKriterien für die Mitglieder des Direktoriums der EZB, ABl. 2010, C 104, S. 8.
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mische, wie auch politisch-soziale Interessen berührt sind. Die Ratio der Unabhängigkeit von Agenturen entspricht also der Ratio der Zentralbankautonomie. So hat der Rat die Befugnis, Arzneimittel zu beurteilen, einer Agentur und nicht der Kommission übertragen, um die größere Unabhängigkeit des Zulassungsverfahrens zu dokumentieren und den Zulassungsverfahren möglichst frei von politischen Einflussnahmen zu halten. Zugleich sollen hohe Professionalität und Sachkompetenz institutionalisiert bzw. signalisiert werden. Die Unabhängigkeit der Agentur hat auch hier die Funktion, qualitativ hochwertige Entscheidungen ohne Einflussnahmen von außen zu ermöglichen und das Vertrauen des Marktes in die Unabhängigkeit der Entscheidungen zu begründen. Auch hier trägt die Autonomie also letztlich dazu bei, die Glaubwürdigkeit der Einrichtung zu befördern. Glaubwürdigkeit sichert, dass die Wirtschaftsakteure, hier die Pharmaindustrie, freiwillig die strengen Vorgaben der Arzneimittelzulassungsverordnung akzeptieren. Aus spieltheoretischer Sicht könnte anderenfalls mangelnde Glaubwürdigkeit dazu führen, dass die Akteure sich veranlasst sehen, nach Möglichkeiten zu suchen, die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen zu ihrem kurzfristigen Vorteil zu umgehen. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Unabhängigkeit von Agenturen dann gerechtfertigt werden kann, wenn die Glaubwürdigkeit ihres Handelns für die Erfüllung der Zwecke der Agentur wesentliche Erfolgsgrundlage ist.55 Die Glaubwürdigkeit der Agentur fördert das kooperative Verhalten der betroffenen Akteure. In Analogie zur EZB ist die Unabhängigkeit auch nur dann zu rechtfertigen, wenn es bei den durch die Agentur zu verwirklichenden Rechtsgütern um solche von überragender Bedeutung handelt, etwa im Falle der Europäischen Arzneimittelagentur um die menschliche Gesundheit. Andererseits muss es sich um Einrichtungen handeln, die einerseits regulierende Aufgaben haben und diese Regulierung auf spezifischem Expertenwissen basiert. Ähnlich der EZB besteht, wie gezeigt, auch bei den Agenturen ein Zusammenhang zwischen Autonomie und Glaubwürdigkeit.
II. Unterschiede zur EZB Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es allerdings wesentliche Unterschiede zwischen Agenturen und der EZB, insbesondere in Bezug auf Funktion, Funktionsweise und Machtmittel der Agenturen. Hinsichtlich der Einflussnahme auf Rechtsgüter Dritter sind grundsätzlich zwei Kategorien zu unterscheiden. Bei den Beobachtungsstellen sowie den Einrichtungen zur Förderung des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene und den sonstigen Agenturen, die ganz spezifische Programme und Aufgaben für die Europäische Union durchführen, dürfte die Unabhängigkeit kaum Legitimationsprobleme hervorrufen, da mit ihrer Tätigkeit keine unmittelbare Einflussnahme auf das Handeln von Wirtschaftsakteuren verbunden ist. So könnte die Aufgabe der Informationssammlung auch dem Markt, d. h. privaten Institutionen wie Beratungsunternehmen etc., übertragen werden. Die institutionelle Ausgestaltung als Agentur bildet keine Voraussetzung für ihre spezifische Aufgabenstellung oder -erfüllung. 55 Vgl. Härtel, Die Europäische Grundrechteagentur: unnötige Bürokratie oder gesteigerter Grundrechtsschutz?, EuR 2008, 489 (491).
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Die Autonomie ist hier weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Aufgabenwahrnehmung. Unabhängigkeit kann allenfalls ökonomisch (mit dem Ziel Entbürokratisierung) oder politisch (mit dem Ziel der Verteilung von Aufgaben auf einzelne Mitgliedstaaten der Union) gerechtfertigt werden. Davon zu unterscheiden sind Agenturen, die regulierende Aufgaben erfüllen. Die Autonomie erleichtert zweifellos die Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Das Zusammenspiel von Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit begründet die Autorität des Handelns der Agentur. Ähnlich der Zentralbank fördert Fachkompetenz auch hier die Akzeptanz der Entscheidungen der Agenturen. Opportunistische Strategien der Wirtschaftsakteure werden dadurch unwahrscheinlicher. Trotz dieser positiven Effekte ist die Unabhängigkeit für die Aufgabenerfüllung regulierender Agenturen im Unterschied zur Europäischen Zentralbank prinzipiell verzichtbar. Während effektives Zentralbankhandeln darauf angewiesen ist, dass die Wirtschaftsakteure der Nachhaltigkeit der Geldpolitik vertrauen, d. h. die Glaubwürdigkeit der Zentralbankpolitik konstituierendes Element der Wirksamkeit ihrer Entscheidungen ist, verfügen die Agenturen über alternative Instrumente der Einflussnahme auf die Adressaten ihrer Entscheidungen. Ihre regulierenden Aufgaben lassen sich durch Verwaltungsmaßnahmen verwirklichen, mit denen gegebenenfalls flankiert von Sanktionsandrohungen Kontrolle ausgeübt werden kann. Über vergleichbare Steuerungsinstrumente verfügt die Europäische Zentralbank nicht. Sie kann Preise und Löhne nicht regulieren, geschweige denn durch hierarchische Kontrolle erzwingen. Der Steuerungsmechanismus der EZB beruht allein auf den geteilten Erwartungen aller beteiligten Akteure. Daraus folgt, dass die Unabhängigkeit der regulierenden Agenturen keinesfalls eine notwendige Bedingung erfolgreicher Funktionserfüllung ist. Eine zentrale Instanz wie die Kommission kann Wirtschaftsakteure zwingen, Verordnungen einzuhalten und deren Verletzung zu ahnden. Wenn Glaubwürdigkeit der regulierenden Agentur zwar hilfreich, aber nicht zwingend erforderlich ist, dann entfällt das Hauptargument dafür, spezifische Verwaltungsaufgaben einer mit Autonomie ausgestalteten Agentur zu übertragen. Anders als bei der EZB lassen sich aus den für die Aufgabenerfüllung verfügbaren Instrumenten keine Legitimationsargumente für die Unabhängigkeit herleiten. Der autonome Status erleichtert gegebenenfalls das Handeln einer regulierenden Agentur, für die Erfüllung ihrer Aufgaben ist sie jedoch nicht zwingend erforderlich. Wenn bürokratische Kontrolle nicht das einzige Instrument der Durchsetzung von Entscheidungen bzw. Einflussnahme auf Handlungen der Akteure ist, kann Unabhängigkeit jedoch Transaktionskosten senken. Daher mag es aus ökonomischer Sicht durchaus sinnvoll sein, unabhängigen Agenturen spezifische Verwaltungsaufgaben zu übertragen, die ökonomischen Vorteile der Autonomie können die Ausgliederung aus legitimationstheoretischer Sicht aber nicht rechtfertigen. Gleichwohl steht zu vermuten, dass diese Gründe wesentlich zur Verselbständigung von Verwaltungsaufgaben geführt haben. Festzuhalten bleibt, dass die im Wege von Ratsverordnungen etablierten Regulierungsagenturen trotz möglicher ökonomischer Vorteile ein rechtlich nicht unbedenkliches Legitimationsdefizit aufweisen. Im Unterschied zur EZB kann die Glaubwürdigkeit der Politik der jeweiligen Agentur allein nicht für die Rechtfertigung der Unabhängigkeit angeführt werden.
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Im Lichte dieser Argumentation war es überzeugend, die Unabhängigkeit der EZB im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union quasi verfassungsrechtlich zu garantieren, da sie ihre Ziele, insbesondere Preisstabilität, eben nicht durch Verbote oder Zwangsmaßnahmen, sondern allein durch die Glaubwürdigkeit ihrer Politik durchsetzen kann. Daher verwundert es nicht, dass die Unabhängigkeit der Agenturen rechtlich deutlich schwächer abgesichert ist, denn anders als die Autonomie der EZB ist die der Agenturen nicht primärrechtlich, also quasi verfassungsrechtlich, sondern nur sekundärrechtlich – in Gestalt von Ratsverordnungen – fundiert. Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich möglich, weil den Agenturen anders als der EZB keine „wesentlichen Fragen“ im Sinne von politischen Grundsatzentscheidungen (Regierungsfunktionen) übertragen werden. Bei der Kompetenzausstattung der Agenturen handelt sich vielmehr um die Delegation von Entscheidungsbefugnissen über verwaltungstechnische Aufgaben, für die keine primärrechtliche Grundlage notwendig ist. Die Regelung der selbständigen Agenturen im Verordnungswege entspricht der im Vergleich zur EZB geringeren Bedeutung ihrer Unabhängigkeit für eine erfolgreiche Funktionserfüllung. Möglicherweise könnte eine Aufgabenerfüllung durch die Kommission im Einzelfall sogar effizienter sein. Da dies nicht a priori ausgeschlossen werden kann, wäre eine „verfassungsäquivalente“ Regelung der Existenz von Agenturen sogar kontraproduktiv.
III. Verhaltenskontrolle durch Governance-Kodizes Mit der schwächeren rechtlichen Absicherung geht jedoch eine geringere institutionelle Unterstützung der Glaubwürdigkeit der Agentur einher. Um so mehr erscheint auch hinsichtlich der Agenturen, jedenfalls solchen, die regelnd tätig werden, die Forderung nach einem Governance-Kodex angebracht. Wie bei der EZB können solche Kodizes dazu genutzt werden, Transparenz und Berechenbarkeit des Handelns durch entsprechende Selbstverpfl ichtungen der Verantwortlichen herzustellen und damit Glaubwürdigkeitsdefi zite erst gar nicht entstehen zu lassen. Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied zum Geld- und Währungsrecht. Für die EZB ist – wie gezeigt – nur ein Verhaltenskodex erforderlich, da nur das persönliche Verhalten der Verantwortlichen als quasi „offene Flanke“ der europäischen Geldpolitik auszumachen war, während die personelle Unabhängigkeit der Zentralbankakteure ansonsten umfassend verfassungsrechtlich garantiert ist. Bei Agenturen müsste ein glaubwürdigkeitsfördernder Kodex aber nicht nur verhaltensbezogen ausgestaltet sein, sondern auch die Maßnahmenebene betreffen. So gesehen folgt daraus eine noch größere Bedeutung der Verhaltenskodizes für die europäischen Agenturen als für die EZB. Ihnen kommt in zweifacher Hinsicht legitimatorische Funktion zu. Sie können nicht nur einem die Glaubwürdigkeit der Institution schädigenden Verhalten entgegenwirken, sondern auch die personelle Unabhängigkeit der Verantwortlichen absichern und damit die Glaubwürdigkeit ihres Handelns unterstützen. Wenn etwa 73% des Budgets der Arzneimittelagentur durch Gebühren fi nanziert werden, die die Hersteller für die Bearbeitung ihrer Zulassungsanträge
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entrichten müssen,56 dann liegt die Notwendigkeit einer Selbstverpfl ichtung auf der Hand.
D. Fazit Die im Detail vielfältig ausgestalteten Agenturen ziehen immer einen Legitimationsbedarf nach sich. Er mag mit Blick auf die Aufgabenstellung und die Handlungsbefugnisse der jeweiligen Agentur unterschiedlich ausfallen. Die Eingriffsbefugnisse sowie die politische Rolle einiger Agenturen erlauben es aber keinesfalls, sie pauschal als rein technische, untergeordnete Einrichtungen anzusehen und per se von den Kontrollbeziehungen der Gemeinschaftsorgane frei zu zeichnen. Aus dem Vergleich der Agenturen mit der EZB folgt, dass einer unabhängigen Agentur dann und nur dann eine Existenzberechtigung zugeschrieben werden kann, wenn die Glaubwürdigkeit ihres Handelns für die Erfüllung der Zwecke der Agentur unabdingbar ist. Glaubwürdigkeit müsste auch im Falle der Agenturen Voraussetzung für kooperatives, die Regeleinhaltung antizipierendes Verhalten sein. Diese Rechtfertigung der Unabhängigkeit ist aber – wie dargelegt – für keine der Agenturtypen einschlägig. Wenn spezifische Verwaltungsaufgaben diesen Bedenken zum Trotz unabhängigen Institutionen übertragen werden, sind zumindest agenturspezifische externe Kontroll- und Überwachungsstrukturen auszubauen. Einen wertvollen Beitrag im Sinne interner Kontrolle können selbstverpfl ichtende Verhaltenskodizes leisten. Diese sind ein in ihrer Bedeutung bislang noch nicht erkanntes Instrument, um die ohnehin kaum zu rechtfertigenden Lücken in der Kontrolle dieser unabhängigen Einrichtungen der Europäischen Union zu schließen.
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S. http://www.aerzteblatt.de/archiv/58351; zuletzt abgerufen am 31. 07. 2012.
Ius cogens und die Werte der Union Schranken direktdemokratischer Partizipation in der EU und der Schweiz von
Lorenz Langer* und Andreas Th. Müller** Am 1. April 2012 trat die Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative in Kraft. Dadurch wurde die Bürgerinitiative, durch die der Vertrag von Lissabon erstmals ein Element direkter Demokratie ins Unionsrecht einführt, operativ. Demgegenüber verfügt die Schweiz über eine deutlich längere Tradition unmittelbarer Beteiligung des Volkes am politischen Entscheidungsprozess. Vor diesem Hintergrund will der gegenständliche Beitrag das schweizerische und unionale Modell direktdemokratischer Partizipation rechtsvergleichend analysieren und dabei vor allem untersuchen, welche materiellen Schranken der Bürgerbeteiligung in beiden Fällen auferlegt sind. Während das Volksinitiativrecht in der Schweiz im Wesentlichen bloß die Grenze der „zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ kennt, ist die Bürgerinitiative ungleich stärkeren Beschränkungen unterworfen. Vor allem aus der sekundärrechtlichen Ausgestaltung ergibt sich, dass Initiativen dahingehend zu prüfen sind, ob sie offenkundig gegen die „Werte der Union“ verstoßen oder offenkundig „missbräuchlich, unseriös oder schikanös“ sind. Der vorliegende Beitrag sucht dementsprechend die Doppelfrage zu beantworten, ob einerseits die Bürgerinitiative angesichts der ihr auferlegten umfassenden Schranken im Vergleich zu ihrem Schweizer Pendant nicht eher als ein bloßes direktdemokratisches Lippenbekenntnis darstellt, und ob andererseits die „Schrankenarmut“ der Schweizerischen Volksinitiative nicht dazu führt, dass andere wichtige Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz systematisch in die Defensive geraten. Auch wenn (und gerade weil) die beiden Modelle an entgegengesetzten Enden des Spektrums direktdemokratischer Partizipation angesiedelt sind, ergibt sich aus dem wechselseitigen Vergleich Diskurs- wie Lernpotenzial sowohl für die Schweiz als auch für die Union.
Der vorliegende Beitrag berücksichtigt die Entwicklung bis Ende August 2012. Unser herzlicher Dank für Unterstützung und wertvolle Anregungen gilt Teresa Kam, Prof. Andreas Auer, Ass.-Prof. Christoph Bezemek und Prof. Daniel Thürer. * Lic. iur. (St. Gallen), lic. phil. (Zürich), M.Phil. (Cambridge); Rechtsanwalt; Research Fellow am Centre for Research on Direct Democracy der Universität Zürich und Managing Editor der Schweizerischen Zeitschrift für internationales und europäisches Recht. ** Dr. iur. (Innsbruck), lic. phil. (Innsbruck), LL.M. (Yale), Assistenzprofessor am Institut für Europarecht und Völkerrecht der Universität Innsbruck.
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I. Einleitung A. Direktdemokratische Partizipation als (Lippen)Bekenntnis . . . Der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon tritt ausdrücklich mit dem Anspruch an, „die demokratische Legitimität der Union [zu] erhöh[en]“.1 Zu diesem Zweck ergänzt er den EU-Vertrag um einen eigenen Titel über die „demokratischen Grundsätze“.2 Darin wird allen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern3 das Recht eingeräumt, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen, und darüber hinaus versprochen, dass Entscheidungen in der EU „so offen und bürgernah wie möglich getroffen“ würden.4 Art. 11 Abs. 4 EUV sieht auch eine Europäische Bürgerinitiative vor. Dadurch fi ndet erstmals ein Element direktdemokratischer Partizipation Eingang in das Recht der Europäischen Union.5 Welches Gewicht aber kommt dieser Neuerung zu? Bei näherem Besehen zeigt sich die vielbeschworene Beteiligung der Bürger als Vogel mit gestutzten Flügeln: Die Bürgerinitiative kann nämlich nur auf Sekundärrechtsakte und daher nicht auf eine Änderung der Verfassungsgrundlagen der Union zielen. Dazu kommt, dass auch eine erfolgreiche Initiative bloß zu einer Aufforderung an die Kommission führt, „im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen“ (Art. 11 Abs. 4 EUV). Schließlich normiert Art. 4 Abs. 2 der am 1. April 2012 in Kraft getretenen Verordnung zur Europäischen Bürgerinitiative (EBI-VO) 6 eine Reihe von inhaltlichen Beschränkungen, insofern geplante Bürgerinitiativen nicht offenkundig gegen die Werte der Union verstoßen und nicht offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös sein dürfen.7 Der programmatischen Verankerung der (direkt)demokratischen Partizipation im Vertrag von Lissabon zum Trotz scheint man im Lichte der mannigfachen Schranken, denen das neue Instrument der Bürgerinitiative unterworfen ist, nicht so sehr dem entscheidend-gestaltenden als dem umhegt-anregenden Bürger zu begegnen. Es wird denn auch die Ansicht vertreten, dass „[d]ie europäische Bürgerinitiative, wie 1 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2007 C 306/1, Präambel, Abs. 1. 2 Titel II (Art. 9 ff. EUV). 3 Die Verträge verwenden, zumindest in ihrer deutschen Fassung, durchwegs sowohl die männliche als auch die weibliche Form des Begriffs. Sofern im Folgenden aus sprachlichen Gründen teilweise nur die männliche Form angeführt wird, sind jeweils beide Geschlechter gemeint. 4 Art. 10 Abs. 3 EUV. 5 Vgl. Entschließung des EP, 7. 5. 2009, P6_TA(2009)0389, C; Grünbuch zur Europäischen Bürgerinitiative, KOM(2009) 622 endg., 3; Vorschlag für eine Verordnung über die Bürgerinitiative, KOM(2010) 119 endg., 2; Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, 17. 3. 2010, SC/032 – ESE 465/2010, Nr. 1.5 und 5.4; vgl. weiters Editorial Comments: Direct Democracy and the European Union . . . Is That a Threat or a Promise?, 45 C. M. L.Rev. (2008), 929, 930/940; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 23; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 14; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 32; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 9; Annette Guckelberger, Die Europäische Bürgerinitiative, 63 DÖV (2010), 745. 6 Verordnung (EU) Nr. 211/2011 vom 16. 2. 2011 über die Bürgerinitiative, ABl. 2001 L 65/1. 7 Vgl. dazu noch ausführlich infra III.A.3.
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sie derzeit geregelt ist, . . . das dringend nötige Maß an (direkter) Demokratie in der EU noch lange nicht [erfüllt]“8. Im Europäischen Parlament (EP) sprach der Vorsitzende des Ausschusses für konstitutionelle Fragen der Bürgerinitiative immerhin „immensen symbolischen Wert“ zu.9 Die Europäische Kommission dagegen lobte die Bürgerinitiative als „bedeutenden Schritt vorwärts im demokratischen Leben der Union“ sowie als „konkretes Beispiel dafür, wie Europa seinen Bürgern näher gebracht wird“.10 Angesichts solcher doch sehr unterschiedlicher Wahrnehmungen drängt sich die Frage auf, ob es sich bei der Bürgerinitiative mehr um Partizipation als bloß gelittene Teilnahme und damit weitgehend als Lippenbekenntnis handelt11 oder ob sie doch ein ernst zu nehmendes Instrument zur allenthalben beschworenen Steigerung der demokratischen Legitimation der Union darstellt.
B. . . . oder als autoritativer Entscheidungsmechanismus? Anschauungsunterricht für effektive Bürgerbeteiligung, ja für Entscheidungen durch die Bürger selbst hätte die Union eigentlich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bzw. sogar in ihrem geographischen Zentrum nehmen können. In steter Regelmäßigkeit – meist vier- oder fünfmal pro Jahr – stimmen die Bürgerinnen und Bürger in der Eidgenossenschaft über Vorschläge ab, die per Initiative dem Stimmvolk unterbreitet werden, befi nden über Referenda und genehmigen oder verwerfen Staatsverträge. Volksinitiativen in der Schweiz betreffen ein weites Spektrum von Politikfeldern. Während nach dem Reaktorunglück von Fukushima in Deutschland primär die Politik über die künftige Atompolitik stritt und dabei Protestmärsche nur bedingt berücksichtigen musste,12 wurden in der Schweiz umgehend zwei Volksinitiativen lanciert, welche den Betrieb von Kernkraftwerken verbieten.13 Gewichtige Fragen wie 8 Viktoria Robertson, Elemente der direkten Demokratie im Vertrag von Lissabon. Eine Analyse mit rechtsvergleichendem Blick nach Deutschland, Österreich und der Schweiz, 18 Journal für Rechtspolitik (2010), 133, 145. 9 Carlo Casini; vgl. ‚Politische Meilensteine des ersten Halbjahres 2010: Bürgerbegehren‘, . 10 The Lisbon Treaty: enhancing democracy in the EU, Press Release, SPEECH/10/502 (Sept. 30, 2010); Europäische Bürgerinitiative: neue Möglichkeiten zur Mitgestaltung der EU-Politik, Press Release, IP/10/397 (March 31, 2010). 11 Sylvain Laurent, Le droit d’initiative citoyenne. En attendant l’entrée en vigueur de la Constitution européenne, Revue du Marché commun et de l’Union européenne (2006), 221, 225 verwendet den provozierenden Begriff des „leurre démocratique“ (Etikettenschwindel). 12 Vgl. Massenprotest gegen Atomkraft, Stuttgarter Zeitung, 27. 3. 2011, 1. 13 Eidgenössische Volksinitiativen „Kernkraftwerke sind abzuschalten“ (Bundesblatt [BBl] 2011 6161; Ablauf Sammelfrist 19. 1. 2013) und „Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomausstiegsinitiative)“ (BBl 2011 3981; Ablauf Sammelfrist 17. 11. 2012). Schon früher war die Atompolitik Gegenstand von Volksinitiativen: „Zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen“ (1979 abgelehnt: BBl 1979 II 13); „Für eine Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke“ (1984 abgelehnt: BBl 1984 III 901); „Für den Ausstieg aus der Atomenergie“ (1990 abgelehnt: BBl 1991 I 312); „Stopp dem Atomkraftwerkbau (Moratorium)“ (1990 angenommen: BBl 1991 I 309); „Strom ohne Atom – Für eine Energiewende und schrittweise Stilllegung der Atomkraftwerke (Strom ohne Atom)“ (2003 abgelehnt: BBl 2003 5164); „MoratoriumPlus – Für die Verlängerung des
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die Beibehaltung der Armee, der Beitritt zur UNO oder die Ausgestaltung des Sozialstaates waren und sind Gegenstand von Volksinitiativen14 – ebenso wie das Verhältnis der Schweiz zur EU.15 Aber auch über Anliegen geringerer Tragweite wird abgestimmt – wie z. B. das Verbot von Absinth oder von Kampfjetlärm in Tourismusgebieten, den Ausbau des Poststellennetzes, die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autostraßen oder einen arbeitsfreien Nationalfeiertag.16 Dem Volk als Normgeber sind kaum Schranken gesetzt: Da es sich bei Volksinitiativen auf Bundesebene stets um Verfassungsinitiativen handelt,17 weichen sie per definitionem vom bestehenden Verfassungsrecht ab – und kein Teil der Verfassung ist vor Änderungen geschützt. So wurden bei einer Reihe von Initiativen der letzten Jahre Grundrechtseingriffe, die dem einfachen Gesetzgeber gemäß Verfassung verwehrt gewesen wären, bewusst in Kauf genommen: Eine im Jahr 2000 eingereichte Initiative verlangte mit Erfolg die lebenslange Verwahrung „für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter“, obwohl die Schweizer Bundesverfassung ein Recht auf Haftüberprüfung einräumt.18 Die 2010 angenommene „Minarett-Initiative“ wandte sich mit ihrem Verbot von Minaretten gegen das Gleichheitsgebot wie auch das Grundrecht der Religionsfreiheit.19 Die „Ausschaffungsinitiative“, welche auf die Ausweisung delinquierender Ausländer zielte, stand
Atomkraftwerk-Baustopps und die Begrenzung des Atomrisikos“ (2003 abgelehnt: BBl 2003 5164). Für eine Übersicht, siehe die chronologische Aufl istung sämtlicher Initiativen unter . 14 Armee: Volksinitiativen „Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik“ (1989 abgelehnt: BBl 1990 I 249), „Für eine glaubwürdige Sicherheitspolitik und eine Schweiz ohne Armee“ (2001 abgelehnt; BBl 2002 1209); UNO: „Für den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen (UNO)“ (2002 angenommen: BBl 2002 3690). Unzählige Volksinitiativen wurden zur Einführung, Ausgestaltung und Finanzierung der Altersvorsorge, zur Mutterschaftsversicherung und zur Krankenversicherung lanciert. 15 Volksinitiativen „EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk!“ (1997 abgelehnt: BBl 1997 IV 356); „Ja zu Europa!“ (2001 abgelehnt: BBl 2001 2025); „Für ein EU-Beitrittsmoratorium“ (2012 im Sammelstadium gescheitert: BBl 2012 5723). Daneben ist die Europapolitik auch Gegestand zahlreicher Referenden, so etwa zum EWR-Beitritt der Schweiz 1992 (der abgelehnt wurde) und zu den bilateralen Abkommen mit der EU 2000 und 2005, die jeweils gutgeheißen wurden. 16 „Für ein Absinthverbot“ (1908 angenommen: BBl 1908 IV 572); „Gegen Kampfjetlärm in Tourismusgebieten“ (2008 angenommen: BBl 2008 2781); „Postdienste für alle“ (2004 abgelehnt; BBl 2004 6641), „Für eine starke Post“ (BBl 2009 7999; noch nicht abgestimmt); „Für mehr Verkehrssicherheit durch Tempo 30 innerorts mit Ausnahmen (Strassen für alle)“ (2001 abgelehnt: BBl 2001 2025); „Pro Tempo 130/100“ (1989 abgelehnt: BBl 1990 I 250); „Für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag (1. August-Initiative)“ (1993 angenommen: BBl 1993 IV 266). Zahlreiche Initiativen, besonders jene mit etwas eigenwilliger Zielsetzung, scheitern im Sammelstadium (vgl. nur die 1986 lancierte Volksinitiative „Zur Hundekotentfernung auf öffentlichem Grund“, BBl 1988 I 166). 17 Vgl. dazu im Detail infra II.B.1. 18 Art. 31 Abs. 4 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. 4. 1999 [BV], Systematische Sammlung des Bundesrechts [SR] 101. 19 Art. 15 BV; Schweizerischer Bundesrat, Botschaft zur Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“, BBl 2008 7603, 7615–7617 (27. 8. 2008). Vgl. dazu Lorenz Langer, Panacea or Pathetic Fallacy? The Swiss Ban on Minarets, 43 Vanderbilt Journal of Transnational Law (2010), 863, 876–882 und Giovanni Biaggini: Die Schweizerische direkte Demokratie und das Völkerrecht: Gedanken aus Anlass der Volksabstimmung über die Volksinitiative „gegen den Bau von Minaretten“, 62 ZöR (2010), 325, 333.
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im Widerspruch zu in der Verfassung verankerten verfahrensrechtlichen Garantien ebenso wie zum Recht auf Privat- und Familienleben.20 Diese Rechte werden freilich nicht nur auf Verfassungsebene garantiert. Die eben genannten Initiativen waren auch problematisch im Hinblick auf die Bestimmungen internationaler Menschenrechtsabkommen, denen die Schweiz beigetreten ist. Die Verwahrungsinitiative war nur durch äußerst weite Auslegung mit Art. 5 Abs. 4 EMRK zu vereinbaren; 21 die Minarettinitiative stand im Spannungsverhältnis zu Art. 9 und Art. 14 EMRK ebenso wie Art. 18 und 27 des UNO-Paktes II; 22 die Ausschaffungsinitiative schließlich verletzte verfahrensrechtliche Garantien, den Schutz des Familienlebens und des Kindeswohls und auch bilaterale Verpfl ichtungen gegenüber der Europäischen Union.23 Aber ein Verstoß gegen Grund- und Menschenrechte hindert die Gültigkeit einer Initiative ebensowenig wie eine Unvereinbarkeit mit der bestehenden Verfassung. Tatsächlich nennt die Bundesverfassung als einzige substantielle Schranke für Volksinitiativen das ius cogens bzw. im genauen Wortlaut des Verfassungstextes die „zwingenden Normen des Völkerrechts“.24 Ob nicht zuletzt aufgrund dieser niedrigen Schranken im Normsetzungsprozess zur Ausgestaltung der Bürgerinitiative auf Unionsebene kaum je auf die direktdemokratischen Instrumente der Schweiz Bezug genommen wurde? Erwähnt wurde die Schweizer Volksinitiative von der Kommission nur im Zusammenhang mit den formellen Anforderungen an die Bürgerinitiative – und dann auch noch teilweise fehlerhaft.25 Bei der Erörterung der Anliegen, die mit einer Initiative geltend gemacht werden können, oder der Grenzen, welche den Stimmbürgern dabei gezogen sind, 20 Schweizerischer Bundesrat, Botschaft zur Volksinitiative „für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“, BBl 2009 5097, 5107 (24. 6. 2009). Vgl. Art. 5 Abs. 2, 10, 13 BV. Beim Verhältnismäßigkeitsgebot (Art. 5(2)) handelt es sich eher um einen verfassungsmäßigen Grundsatz als um ein Recht. Vgl. dazu auch infra Anm. 23. 21 Schweizerischer Bundesrat, Botschaft zur Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter», BBl 2001 3433, 3455 (4. 4. 2001). 22 Bundesrat, Botschaft Minarett-Initiative (Anm. 19), 7630–7645. 23 Bundesrat, Botschaft Ausschaffungsinitiative (Anm. 20), 5107–5110. Anhang I Art. 5 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit [FZA], ABl. 2002 L 114/6; SR 0.142.112.681, erlaubt gegenseitige Ausweisungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eines Vertragspartners (mit Verweis auf das einschlägige Sekundärrecht der Union). Die Reichweite dieser Schutzklauseln richtet sich nach der europäischen Rechtsprechung und kann von der Schweiz deshalb nicht autonom ausgelegt werden (Art. 16(2) FZA). Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall ist zwingend vorzunehmen. Vgl. allgemein zur schwierigen Umsetzung der Initiative Lorenz Langer, Menetekel oder Musterlösung? Das amerikanische Ausländerrecht und die Umsetzung der schweizerischen Ausschaffungsinitiative, 21 SZIER/RSDIE (2011), 195, 195–199. Die im Sommer 2011 lancierte Initiative „gegen Masseneinwanderung“, welche verlangt, daß die Schweiz die Zuwanderung „eigenständig steuert“, wäre erst recht mit dem FZA unvereinbar. 24 Art. 139 Abs. 3 BV; vgl. dazu infra III.B. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass die Begriffl ichkeiten „zwingende Normen des Völkerrechts“ und „zwingendes Völkerrecht“ bzw. ius cogens kongruent sind, vgl. infra Anm. 280. 25 Im Zusammenhang mit der Mindestzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unterschriften einer Bürgerinitiative stammen müssen, verweist das einschlägige Grünbuch der Kommission auf den „in der Schweiz geltende[n] Schwellenwert für die erforderliche Zahl der Kantone für ein Volksbegehren [von] in etwa einem Drittel“ (Grünbuch (Anm. 5), 6) – ein entsprechender „Schwellenwert“ von acht Kantonen gilt zwar alternativ für Referenden, nicht aber für Initiativen (Art. 141 BV; ein entsprechender Vorschlag im Rahmen der Verfassungsrevision von 1999 wurde nicht aufgegriffen; vgl. infra Anm. 199).
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sucht man Hinweise auf die Schweiz vergebens. Gelegentlich mag im EP die direkte Demokratie nach Schweizer Art als Vorbild genannt werden,26 doch geschieht dies häufig durch Politiker, welche dem Projekt der europäischen Einigung kritisch gegenüberstehen.27 Generell verfestigt sich seitens der EU vielmehr der Eindruck, dass die Zuverlässigkeit der Schweiz als Partnerin unter zuviel Demokratie und dem daraus resultierenden „Rosinenpicken“‘ leide.28 Aus dieser Perspektive berücksichtigen die sachlich fast unbeschränkten demokratischen Mehrheitsentscheide Menschenund insbesondere Minderheitsrechte zu wenig. Darüber hinaus belastet die ständige Berufung der Schweiz auf Initiativen und Referenden in den bilateralen Beziehungen auch das Verhältnis zur Union über Gebühr.29 Die Vorbehalte sind durchaus reziprok: Aus Schweizer Sicht spricht gegen einen EU-Beitritt primär, dass die extensiven Volksrechte mit den Brüsseler Entscheidungsstrukturen nicht vereinbar sind.30
C. Vorteile einer vergleichenden Betrachtungsweise der Schrankenregime Die Unterschiede in der Ausgestaltung der Instrumente direktdemokratischer Partizipation in der Union und der Schweiz sind, soviel ist schon deutlich geworden, markant. Man mag daraus ableiten, dass wegen ihrer Verschiedenheit ein Vergleich von vornherein nicht zielführend ist. Selbst die Verwendung eines Begriffs – jenes der direktdemokratischen Partizipation – in beiden Fällen bedarf der Rechtfertigung. Der vorliegende Beitrag hält jedoch einen Vergleich der Schweiz und der Union betreffend Potenzial und Grenzen direktdemokratischer Partizipation für ebenso möglich wie sinnvoll. Denn in beiden Fällen geht es um Instrumente und Verfahren, die der Bürgerschaft selbst Mitwirkungs- und Teilhaberechte am Normsetzungsprozess einräumen, die nicht durch Repräsentanten institutionalisiert sind.31 Es steht dabei außer Frage, dass die Europäische Bürgerinitiative ungleich umfassenderen Schranken unterworfen ist als das Volksinitiativrecht in der Schweiz. Ein Vergleich der jeweiligen Schrankenregime kann aber gerade die Frage beantworten Korrekt ist dagegen der Verweis auf die Frist von 18 Monaten für die Unterschriftensammlung (Grünbuch (Anm. 5), 10). 26 Justas Vincas Paleckis, EP, Plenardebatte vom 16. 12. 2012 (Aussprache (CRE 16/12/2010–3)); Heidi Hautala, EP, Plenardebatte vom 26. 9. 2002. 27 Daniel Hannan, EP, Plenardebatte vom 16. 12. 2010 (Erklärungen zur Abstimmung); Andreas Mölzer, EP, Plenardebatte vom 16. 12. 2010 (Aussprache (CRE 26/09/2007–2) und Erklärungen zur Abstimmung); Roger Knapman, EP, Plenardebatte vom 26. 9. 2007 (Aussprache (CRE 26/09/2007– 2)). 28 Kathrin Nägeli, Vertrauenswürdigkeit der Schweiz bei der EU leidet unter Abstimmung, Schweizerische Depeschenagentur – Basisdienst Deutsch, 28. 11. 2010. 29 Seitens der Union wird vor allem der automatische Nachvollzug der EU-Normsetzung gefordert, vgl. Simon Gemperli, „Einmal ausgehandelt, schon wieder veraltet“, Neue Zürcher Zeitung [NZZ], 11. 11. 2010, 13. 30 Vgl. z. B. Schweizerischer Bundesrat, Bericht über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik, BBl 2010 7239, 7334–7336 (17. 9. 2010). 31 Vgl. dazu allg. Robertson (Anm. 8), 133 f.; vgl. ähnlich auch Andreas Auer, European Citizens’ Initiative, 1 European Constitutional Law Review (2005), 79 und – mit Bezug auf Deutschland und die Schweiz – Daniel Thürer, Direkte Demokratie für Deutschland? Zu einem Projekt der Einfügung direkt-demokratischer Rechte ins Grundgesetz, 98 Schweizerische Juristen-Zeitung (2002), 593.
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helfen, ob es sich bei der Bürgerinitiative letztlich um demokratisches window dressing handelt oder ob sie ihrem Schweizer Pendant zumindest insofern gleicht, als sie der Bürgerschaft die Chance auf effektiven Einfluss auf die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in der Union einräumt. Umgekehrt stellt sich die Frage für die Schweiz, ob fast unbegrenzte demokratische Partizipation automatisch zu besser legitimierten Entscheiden führt. Manch problematischer Entscheid der Mehrheit in den letzten Jahren verdient im Lichte des viel zaghafter und kautelenreicher vorgehenden Unionsrechts geprüft zu werden. Schranken mögen zwar demokratische Rechte beschneiden, können aber gleichzeitig andere, wohl ebenso wichtige Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Grund- oder Minderheitenrechte sichern helfen. Das zwingende Völkerrecht als einzige Schranke der Volksrechte mag diesen Schutz nur ungenügend gewährleisten. Auch in der Schweiz wird deshalb das „richtige“ Maß der Beschränkung von Volksrechten inzwischen kontrovers diskutiert.32 Ein systematischer Vergleich der Rahmenbedingungen und Schranken direktdemokratischer Partizipation in der Schweiz und der EU steht im Schrifttum bisher weitgehend aus.33 Dabei hätte die Union anlässlich der Einführung der Bürgerinitiative von einem gründlich(er)en Studium des Schweizer Modells durchaus profitieren können.34 Dazu kommt, dass die bisherige Diskussion zur europäischen Bürgerinitiative ganz weitgehend auf Verfahrens- und Zuständigkeitsaspekte konzentriert ist,35 wohingegen die ebenso vielversprechende Frage der materiellen Schranken der Bürgerbeteiligung bloß stiefmütterlich behandelt wird.36 Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Beitrag das schweizerische und unionale Modell direktdemokratischer Partizipation unter dem Blickwinkel der jeweiligen Schrankenregime rechtsvergleichend analysieren.37 Zu diesem Zweck gilt es 32
Vgl. infra IV.B. Vgl. aber zumindest ansatzweise, indes mehr aus politikwissenschaftlicher Perspektive Yannis Papadopoulos, Implementing (and Radicalizing) Art. I-47.4 of the Constitution: Is the Addition of Some (Semi-)Direct Democracy to the Nascent Consociational European Federation Just Swiss Folklore? 12 Journal of European Public Policy (2005), 448: „Is there anything to learn from the Swiss model?“, mit Verweis auf David H. McKay, Designing Europe: Comparative Lessons from the Federal Experience, 2001, 153; vgl. weiters die Hinweise bei Robertson (Anm. 8), 134 f.; Auer (Anm. 31), 80 sowie mit Vorläufercharakter Astrid Epiney/Karine Siegwart (Hg.), Direkte Demokratie und Europäische Union. Démocratie directe et Union Européenne, 1998, darin v. a. Astrid Epiney/Karine Siegwart, Direkte Demokratie und Europäische Union – ein Problemaufriss, 117–139. 34 Vgl. supra Anm. 25. 35 Vgl. insofern etwa Heiko Piesbergen, Die Europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV (2010), 223 ff.; Walter Obwexer/Julia Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative. Grundlagen, Bedingungen und Verfahren, 18 Journal für Rechtspolitik (2010), 108, 114 ff.; Hubert Isak, Die Anwendung der demokratischen Grundsätze unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Bürgerinitiative, in Thomas Eilmansberger et al., Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon, 2011, 173 ff.; Guckelberger (Anm. 5), 748 ff.; Epiney/Siegwart (Anm. 33), 139 ff.; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 35 ff. 36 Das liegt zugegebenermaßen auch daran, dass diese materiellen Schranken erst mit dem Erlass der EBI-VO klarere Konturen bekommen haben, während die anderen Aspekte durch die primärrechtlichen Vorgaben bereits stärker vorgezeichnet waren; vgl. insbesondere infra Anm. 173 und 174. 37 Was das Unionsrecht anlangt, ist die nachfolgende Prüfung auf die europäische Bürgerinitiative i. S. d. Art. 11 Abs. 4 EUV beschränkt. Ausgeklammert bleibt die Frage nach der Wünsch- und Verwirklichbarkeit von unionsweiten Referenden, z. B. in Zusammenhang mit Änderungen der Verfas33
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zunächst, Ausgestaltung und Funktionsweise der Mechanismen direktdemokratischer Partizipation in der EU und der Schweiz in ihren wesentlichen Zügen zu erläutern (II.). Sodann ist zu untersuchen, wie insbesondere die materiellen Schranken direktdemokratischer Instrumente in den beiden Rechtsordnungen ausgestaltet sind. Dabei wirft vor allem die europäische Bürgerinitiative als neuartiges Instrument des Unionsrechts, wie sie im EUV und in der EBI-VO verankert ist, allerlei Fragen auf, die bislang noch kaum nähere Bearbeitung im Schrifttum erfahren haben (III.). Auf der Basis dieser Analyse wird in Teil IV. unternommen, das Schweizer und das unionale Modell direktdemokratischer Partizipation zu beleuchten und zu kontrastieren. Dabei geht es namentlich um die Frage, welche Stärken und Schwächen die jeweiligen Schrankenregime für die direkte Mitwirkung der Bürger bzw. des Volkes38 aufweisen, und was die beiden Modelle direktdemokratischer Partizipation diesbezüglich voneinander lernen können.
II. Instrumente direktdemokratischer Partizipation in der EU und der Schweiz A. Die Europäische Bürgerinitiative 1. Verortung der Bürgerinitiative in der unionalen Verfassungsordnung Im Vergleich zur Schweiz, die vielen (und insbesondere den Schweizern selbst) als der Hort direkter Demokratie gilt, präsentiert sich die Union als direktdemokratisches Greenhorn. Immerhin verankert Art. 2 EUV nunmehr Demokratie ausdrücklich als einen Wert, auf den sich die Union gründet,39 und enthält einen eigenen Titel mit „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ (Art. 9–12 EUV). Darüber hinaus bringt der einzige Erwägungsgrund der Präambel des Vertrags von Lissabon den Wunsch zum Ausdruck, den „Prozess, mit dem . . . die demokratische Legitimität der Union . . . erhöht werden soll[ ], abzuschließen“.40 Gleichzeitig stellt Art. 10 Abs. 1 EUV41 klar, dass sich das Unionsrecht zur grundlegenden Stellung (arg. „beruht“) der repräsentativen Demokratie bekennt.42 Sie sungsgrundlagen der Union; vgl. dazu etwa Jo Leinen/Jan Kreutz, Herausforderung partizipative europäische Demokratie: Zivilgesellschaft und direkte Demokratie im Vertrag von Lissabon, Integration (2008), 251 f.; Joseph H. H. Weiler, The European Union Belongs to its Citizens: Three Immodest Proposals, 22 European Law Review (1997), 152 f.; Isak (Anm. 35), 164, n. 64; Robertson (Anm. 8), 143; Papadopoulos (Anm. 33), 452 ff. m. w. N.; vgl. zur Frage der stärkeren demokratischen Legitimation des Vertragsänderungsverfahrens Werner Schroeder, Demokratie, Transparenz und die Regierungskonferenz. Überlegungen zur Legitimität der Europäischen Union, 81 Kritische Vierteljahresschrift (1998), 423, 435 ff. 38 Zum bemerkenswerten terminologischen Unterschied zwischen den unionalen „Bürgerrechten“ und den Schweizer „Volksrechten“ vgl. noch infra IV.A.5. 39 Zum Demokratieprinzip im Unionsrecht seit dem Vertrag von Maastricht vgl. insbesondere Armin von Bogdandy, Grundprinzipien, in Armin von Bogdandy/Jürgen Bast, Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. (2009) 62 ff.; Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 9 EUV Rn. 17 ff.; Obwexer/Villotti (Anm. 35), 108 ff. 40 Präambel, Abs. 1, Vertrag von Lissabon; vgl. supra Anm. 1. 41 „Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie“. 42 Vgl. dazu allg. Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 10 EUV Rn. 21 ff.; Ruffert, in:
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schließt sowohl die „unmittelbare“ Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im EP ein als auch die mittelbare im Wege der nationalen Regierungen und Parlamente (duale Legitimation).43 Dies steht der Existenz von nicht-repräsentivdemokratischen Elementen im Unionsrecht, die das repräsentative Element ergänzen44 und verstärken45, nicht entgegen.46 Der EUV versieht das Komplement zur explizit als „repräsentativ“ (Art. 10 Abs. 1 EUV) bezeichneten Demokratie indes nicht ausdrücklich mit einem Etikett. Hierfür hat sich, freilich ohne die erhoffte primärrechtliche Deckung,47 die Bezeichnung partizipatorische oder partizipative Demokratie eingebürgert.48 Durch Mechanismen partizipatorischer Demokratie, so kann man oft hören, soll die Dichotomie zwischen repräsentativ-mediatisierender und direkter, auf Volksherrschaft zielender Demokratie überwunden werden.49 Dies soll einerseits helfen, das viel beklagte „Demokratiedefizit“ der Union dadurch zu lindern, dass „Defizite repräsentativdemokratischer Legitimation durch den Rekurs auf alternative Modelle demokratischer Legitimation . . . kompensier[t]“50 werden. Andererseits wird dem Umstand
Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 4; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 10 EUV Rn. 21. 43 Zur dualen Legitimation vgl. etwa Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas 2001, 556 ff.: Stefan Oeter, Föderalismus und Demokratie, in Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Anm. 39), 95; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 10 EUV Rn. 22 ff.; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 10 EUV Rn. 25 ff., jeweils m. w. N.; vgl. auch BVerfGE 123, 267 (283) – Lissabon. 44 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Anm. 5), Nr. 3.2; BVerfGE 123, 267 (369, 379) – Lissabon; Bogdandy, Grundprinzipien (Anm. 39), 67; Guckelberger (Anm. 5), 745; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 9 EUV Rn. 21; ebd., Art. 11 EUV Rn. 1; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 10 EUV Rn. 45; ebd., Art. 11 EUV Rn. 3; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 1; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EUV/AEUV (2012), Art. 11 EUV Rn. 1; Isak (Anm. 35), 158. 45 Vgl. namentlich Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Anm. 5), Nr. 3.2 sowie Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 1. 46 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 10 EUV Rn. 4 sowie Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 10 EUV Rn. 23, wonach sie „jedoch als eng begrenzte, besonders rechtfertigungsbedürftige Ausnahmen erscheinen“. 47 Vgl. noch Art. I-46 Verf V („Grundsatz der repräsentativen Demokratie“) in Gegensatz zu Art. I-47 Verf V („Grundsatz der partizipativen Demokratie“). Die kritische Aufnahme des Titels durch das Schrifttum (vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 9 EUV Rn. 20, n. 50) bezog sich mehr auf die Heterogenität der darunter subsumierten Grundsätze als auf das Konzept der partizipativen Demokratie als solches. 48 Vgl. etwa Erwägungsgrund 14 der EBI-VO; Verordnungsvorschlag (Anm. 5), 2; vgl. aber auch BVerfGE 123, 267 (377 ff.) – Lissabon sowie Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 10 EUV Rn. 42 ff.; ebd., Art. 11 EUV Rn. 1 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 5; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 1, 9; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EUV/AEUV (2012), Art. 11 EUV Rn. 1, 3; Isak (Anm. 35), 157 ff.; Robertson (Anm. 8), 139; Alexander Balthasar/Alexander Prosser, Die Europäische Bürgerinitiative. Gefährdung der Glaubwürdigkeit eines direktdemokratischen Instruments?, 18 Journal für Rechtspolitik (2010), 122, 123; Auer (Anm. 31), 79. 49 Vgl. generell Robertson (Anm. 8), 134; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 3, Anm. 5 m. w. N. 50 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 2; vgl. ebenso ebd., Art. 9 EUV, Rn. 21.
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Rechnung getragen, dass ein europäisches Volk als Träger direktdemokratischer Rechte weder existiert noch zu erwarten ist.51 Vor diesem Hintergrund erweist sich der in Art. 10 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz, dass „[a]lle Bürgerinnen und Bürger . . . das Recht [haben], am demokratischen Leben der Union teilzunehmen“, als Klammerprinzip, das sowohl repräsentative als auch partizipatorische Formen der „Teilnahme“ am demokratischen Leben der Union einschließt.52 Was den letzteren Aspekt betrifft, fi nden sich vor allem in Art. 11 EUV Bestimmungen, die den Bürgern in gewissem Umfang Einfluss auf die Mechanismen unionaler Willensbildung einräumen wollen. Der EUV strebt insofern eine Erhöhung der demokratischen Legitimation namentlich durch Einbindung der repräsentativen Verbände und der Zivilgesellschaft (Abs. 1 und 2; z. B. durch Konsultationen im Vorfeld der Erarbeitung eines Rechtsaktvorschlags) als Ausdruck moderner „Governance“53 und durch Anhörung der besonders betroffenen Bürger (Abs. 3) an. Dazu tritt als genuin direktdemokratisches54 Element das in Art. 11 Abs. 4 verankerte Initiativrecht der Unionsbürger, die sog. Europäische Bürgerinitiative55: „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.“
An dieser Bestimmung, die mit demselben Wortlaut bereits in Art. I-47 Abs. 4 Verf V enthalten war,56 ist im Vergleich zu und in Abhebung von den oberwähnten 51
Zur Debatte zum europäischen „Demos“ vgl. noch infra IV.A.5. Diese Bestimmung, in der sich die Redeweise des Verf V (als Überschrift von „Titel VI“ vor Art. I-45 bis Art. I-52) vom „demokratischen Leben der Union“ noch erhalten hat, ist umfassend zu verstehen, insofern sie sowohl auf die Vertretung der Unionsbürger im EP hinweist (Art. 10 Abs. 2 EUV) als auch die Mitwirkungsmöglichkeiten nach Art. 11 EUV als Manifestation partizipatorischer Demokratie in den Blick nimmt; vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 10 EUV Rn. 12; vgl. insb. auch Erwägungsgrund 1 der EBI-VO, der diese Bestimmung paraphrasiert und in direkten Zusammenhang zur Bürgerinitiative bringt. 53 Vgl. dazu v. a. das sog. „Governance“-Weißbuch der Kommission: „Europäisches Regieren. Ein Weißbuch“, KOM(2001) 428 endg. 54 Vgl. etwa die Stellungnahme (Anm. 5), Nr. 4.4.1; vgl. weiters Editorial Comments (Anm. 5), 930, 940; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 14; Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 23; Isak (Anm. 35), 164; zögerlicher Astrid Epiney, Europäische Verfassung und Legitimation durch die Unionsbürger. Zu den Rechten der Unionsbürger in der Verfassung für Europa, in Stefan Kadelbach, Europäische Verfassung und direkte Demokratie, 2006, 53 sowie Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 33. 55 Art. 24 AEUV und die EBI-VO sprechen von der „Bürgerinitiative“ (engl. citizens’ initiative, franz. initiative européenne). Teilweise ist, wohl in Anlehnung an deutsche Landesrechte und das österreichische und schweizerische Recht, synonym vom „Europäischen Bürgerbegehren“ die Rede; vgl. etwa Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EUV/AEUV (2012), Art. 11 EUV Rn. 1, 3; vgl. auch Epiney (Anm. 54), 46 mit der Rede von der „Unionsinitiative“. 56 Mutatis mutandis; zu verschiedenen Facetten der bedauerlicherweise nirgends geschlossen aufgearbeiteten Geschichte der Bürgerinitiative vgl. etwa Alain Lamassoure, Histoire secrète de la Convention européenne, 2004, 424; Piesbergen (Anm. 35), 243 f.; Andreas Maurer/Stephan Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative. Chancen, Grenzen und Umsetzungsempfehlungen, 2009, 8 f.; Obwexer/Villotti 52
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Formen partizipativer Demokratie zunächst bemerkenswert, dass sie keine besondere Nähe oder Betroffenheit der Unterstützer einer derartigen Initiative zu den fraglichen Themen voraussetzt. Zum anderen kommt lediglich Unionsbürgern das Recht nach Art. 11 Abs. 4 EUV zu,57 während die Grundsätze der Offenheit und Transparenz in den in Art. 11 Abs. 1–3 EUV vorgesehenen Formen allen Bürgern und Betroffenen, d. h. auch Drittstaatsangehörigen gegenüber zu pflegen sind. Dies räumt der Bürgerinitiative einen Sonderstatus innerhalb von Art. 11 EUV ein, indem sie vom Vertrag als unmittelbar an den Unionsbürgerstatus anknüpfendes und zugleich allgemeines, d. h. das Gesamt der Unionsbürger in den Blick nehmendes Instrument direktdemokratischer Beteiligung konzipiert ist. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Bürgerinitiative zweifellos als Novität im Unionsverfassungsrecht und wurde auch allgemein, wenn auch mit variierendem Grad an Euphorie, als solche wahrgenommen.58 Sie wird vielen damit zu einem Instrument der Beförderung des Unionsbürgers als demokratisches Legitimationssubjekt im Unionsrecht.59 Bezeichnend ist indes, dass anlässlich der Adaptierung der Grundrechtecharta (GRC) angesichts ihres normativen „Upgrades“ durch den Vertrag von Lissabon das Initiativrecht nicht in den Katalog der Unionsbürgerrechte nach Titel V GRC aufgenommen wurde.60
2. Ablauf der Bürgerinitiative Art. 11 Abs. 4 EUV erfährt nähere Ausgestaltung durch Art. 24 Abs. 1 AEUV, der eine Gesetzgebungsermächtigung und -verpfl ichtung für das EP und den Rat enthält, insbesondere zur Regelung der „Verfahren und Bedingungen“ für eine Bürgerinitiative „einschließlich der Mindestzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Bürgerinnen und Bürger, die diese Initiative ergreifen, kommen müssen“. Zwischenzeitlich ist, wie vorgesehen, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren eine Verordnung über die Bürgerinitiative erlassen worden.61 Demgemäß wurde die „erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten“, aus denen die mindestens eine Million Unterstützungserklärungen kommen müssen, in Art. 7 (Anm. 35), 110 f.; Isak (Anm. 35), 165; Balthasar/Prosser (Anm. 48), 124, n. 24; Johannes W. Pichler, Die politische und rechtspolitische Dimension des Europäischen Initiativrechts, nach Art 11.4 EUV-Vertrag nach Lissabon, in Johannes W. Pichler, Direkte Demokratie in der Europäischen Union, 2009, 43; Michael Efler, European Citizens’ Initiative. Legal options for implementation below the constitutional level, 2006, 5 ff.; Epiney (Anm. 54), 46, Anm. 1, jeweils m. w. N. 57 Zu Recht ist auf die Spannung hingewiesen worden, dass sich einerseits die Wahlberechtigung bis zur Verabschiedung eines einheitlichen Wahlrechts zum EP nach nationalem Recht richtet und dort auch zum Einschluss von Drittstaatsangehörigen führen kann (vgl. EuGH, Rs. 145/04, Spanien/Großbritannien, Slg. 2006, I-7917, Rn. 66 ff.), letztere nach dem klaren Wortlaut des Art. 11 Abs. 4 EUV aber von der Teilnahme an der Bürgerinitiative ausgeschlossen sind; vgl. dazu Editorial Comments (Anm. 5), 933; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 16; vgl. kritisch dazu Stellungnahme (supra Anm. 5), Nr. 4.4.1. 58 Vgl. die Hinweise supra Anm. 5. 59 Vgl. dazu noch infra bei Anm. 263. 60 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83/389. Vgl. hiezu auch Guckelberger (Anm. 5), 748; Auer (Anm. 31), 80 sowie Obwexer/Villotti (Anm. 35), 110, wo dies als „inkonsistent“ bezeichnet wird. 61 Vgl. zur EBI-VO supra Anm. 6.
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Abs. 1 EBI-VO schlussendlich mit mindestens einem Viertel – also gegenwärtig sieben62 – festgelegt. In jedem von ihnen muss gem. Art. 7 Abs. 2 EBI-VO eine Mindestzahl an Unterzeichnern erreicht werden, die in Anh. I der Verordnung verankert ist und der Anzahl der im jeweiligen Mitgliedstaat gewählten EP-Mitglieder, multipliziert mit 750, entspricht.63 Damit wird der Grundsatz der degressiv proportionalen Vertretung der Unionsbürger, wie er als Grundsatz für die Zusammensetzung des EP primärrechtlich verankert ist (Art. 14 Abs. 2 EUV), auch für die Bürgerinitiative übernommen.64 Auch die Verfahrensvoraussetzungen sind in der EBI-VO festgelegt. Während der Verordnungsentwurf noch drei Verfahrensschritte vorsah – mit einem eigenen Beschluss der Kommission über die Zulässigkeit der Initiative als Mittelschritt, wenn 300.000 Unterstützungsbekundungen aus mindestens drei Mitgliedstaaten erreicht werden65 –, kennt die Endfassung der Verordnung nur zwei Verfahrensabschnitte: a) Registrierungsphase: Bevor die Organisatoren einer Initiative – mindestens sieben Unionsbürger, d. h. natürliche Personen, die Einwohner von mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten sein müssen (Art. 2 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 2 EBI-VO) – mit der Sammlung von Unterstützungsbekundungen für eine geplante Bürgerinitiative beginnen können, müssen sie diese bei der Kommission im entsprechenden Online-Registrierungssystem unter Angabe der in Anh. II geforderten Informationen anmelden (Art. 4 Abs. 1 EBI-VO).66 Die Kommission hat die geplante Initiative binnen zwei Monaten unter einer eindeutigen Identifi kationsnummer zu registrieren oder ihr aus einem der in Art. 4 Abs. 2 lit. a-d EBI-VO taxativ aufgelisteten Gründe die Registrierung zu verweigern (Art. 4 Abs 3 EBI-VO).67 b) Überprüfungsphase: In der Folge können die Organisatoren (in Papierform oder elektronisch) binnen zwölf Monaten nach Registrierung der Initiative Unterstützungsbekundungen sammeln (Art. 5 EBI-VO). Erreicht eine Bürgerinitiative innerhalb dieses Zeitraums die nötige Mindestunterschriftenzahl von einer Million68 (ca. 62
Daran wird sich auch mit dem Beitritt Kroatiens als 28. Mitgliedstaat der Union nichts ändern. Vgl. Erwägungsgrund 6 der EBI-VO. Gem. Art. 7 Abs. 3 EBI-VO ist die Kommission ermächtigt, per delegiertem Rechtsakt den Anh. I in Hinblick auf Änderungen der Zusammensetzung des EP anzupassen, etwa in Zusammenhang mit dem für Juli 2013 erwarteten Beitritt Kroatiens zur Union; vgl. hiezu Art. 19 Abs. 1 der dem Beitrittsvertrag angehängten Beitrittsakte Kroatiens, ABl. 2012 L 112/1. 64 Vgl. Erwägungsgrund 6 der EBI-VO; zum damit in Spannung stehenden Grundsatz der unionsbürgerlichen Gleichheit (Art. 9 EUV) vgl. etwa Guckelberger (Anm. 5), 751; Huber, in: Streinz, EUV/ AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 48. 65 Vgl. Art. 8 des Verordnungsvorschlags (Anm. 5). 66 Siehe dazu die Seite der Kommission zur Europäischen Bürgerinitiative (einschließlich der Möglichkeit zur Registrierung von Bürgerinitiativen): . Bis August 2012 wurden bereits zehn Initiativen registriert: „Fraternité 2020 – Mobility. Progress. Europe.“, „Single Communication Tariff Act“, „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut und keine Handelsware!“, „Uno di noi“, „Let me vote“, „Stop vivisection“, „High Quality European Education for All“, „Pour une gestion responsable des déchets, contre les incinérateurs“, „Suspension of the EU Climate & Energy Package“ und „Central public online collection platform for the European Citizen Initiative“ (in chronologischer Reihenfolge). 67 Vgl. dazu ausführlich infra III.A. 68 Einschließlich der in Art. 7 EBI-VO festgelegten Bedingungen über die Mindestzahl an Unterzeichnern per Mitgliedstaat. Die Überprüfung und Bescheinigung der Unterstützungsbekundungen erfolgt gem. Art. 8 EBI-VO durch den jeweils zuständigen Mitgliedstaat. 63
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0,2% der Gesamtunionsbürgerschaft69 ), können die Organisatoren die Bürgerinitiative samt den nötigen Bescheinigungen der Kommission vorgelegen. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, veröffentlicht diese die Bürgerinitiative unverzüglich im Register und empfängt die Organisatoren auf geeigneter Ebene, damit sie im Detail die mit der Bürgerinitiative angesprochenen Aspekte erläutern können (Art. 10 Abs. 1 lit. a und b EBI-VO). Zusätzlich legt die Kommission innerhalb von drei Monaten in einer Mitteilung – und zwar getrennt voneinander70 – ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zur Bürgerinitiative sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür dar. Diese Mitteilung wird sowohl den Organisatoren als auch EP und Rat übermittelt und veröffentlicht (Art. 10 Abs. l lit. c und Abs. 2 EBI-VO). Darüber hinaus, und dies war im Verordnungsentwurf noch nicht vorgesehen, wird den Organisatoren gem. Art. 11 EBI-VO innerhalb der erwähnten Dreimonatsfrist die Möglichkeit gegeben, die Bürgerinitiative im Rahmen einer öffentlichen Anhörung vorzustellen, die im EP stattfi nden soll und bei der die Beteiligung anderer betroffener Organe und Einrichtungen der Union ins Auge gefasst ist. Die Kommission hat sicher zu stellen, dass sie bei der Anhörung „auf geeigneter Ebene“ vertreten ist.
3. Rechtsschutz im Rahmen der Bürgerinitiative Der Ausgestaltung der Bürgerinitiative als Recht der Unionsbürger entsprechend stellt sich auch die Frage nach dem Rechtsschutz, wenn die Kommission auf eine Initiative nicht oder nicht in der im Unionsrecht vorgesehenen Weise reagiert. Dies wird vor allem in zwei Fallkonstellationen relevant, nämlich a) bei Nichtregistrierung einer geplanten Bürgerinitiative sowie b) bei Untätigkeit der Kommission angesichts einer erfolgreichen Bürgerinitiative. a) Registrierungsphase: Gem. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EBI-VO hat die Kommission bei Ablehnung der Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative die Organisatoren über die Gründe der Ablehnung und alle möglichen gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsbehelfe, die ihnen zur Verfügung stehen, zu unterrichten. Wiewohl die EBI-VO nicht regelt, mittels welches Rechtsakts die Registrierung abzulehnen ist, ist sie nach überwiegender Ansicht ungeachtet der gewählten Rechtsaktform (d. h. unabhängig davon, ob sie gegenüber den Organisatoren in Form einer Mitteilung oder aber in einem Beschluss nach Art. 288 Abs. 4 AEUV ergeht) gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV mit Nichtigkeitsklage vor dem EuGH anfechtbar. Ggf. kommt auch eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission gem. Art. 265 Abs. 3 AEUV in Frage.71 b) Überprüfungsphase: Wird der Kommission eine erfolgreiche Bürgerinitiative vorgelegt, hat sie gem. Art. 10 Abs. 1 lit. c EBI-VO innerhalb von drei Monaten in einer Mitteilung ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zur Bürgerinitiative sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht darauf samt Begründung darzulegen. 69
Siehe hiezu etwa Grünbuch (Anm. 5), 6. Vgl. Erwägungsgrund 20 EBI-VO. 71 Vgl. hierzu bereits Entschließung EP (Anm. 5), Empfehlung Nr. 5)d)e) sowie Obwexer/Villotti (Anm. 35), 114 f.; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 56; Isak (Anm. 35), 182; a. M. offenbar Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 22. 70
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Die Vorschlagsprärogative der Kommission nach Art. 17 Abs. 2 EUV72 wird dadurch freilich nicht aufgehoben, wohl aber der h. M. zufolge in einer den Aufforderungsrechten von EP (Art. 225 AEUV) und Rat (Art. 241 AEUV) vergleichbaren Weise modifiziert.73 Während die Kommission einen Vorschlag daher nur im Extremfall ganz unterlassen kann,74 kommt ihr in Bezug auf den Inhalt dieses Vorschlags erhebliches Ermessen zu.75 Insofern die Organisatoren der Bürgerinitiative einen Rechtsanspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über konkrete Vorschläge haben,76 steht ihnen insoweit wohl die Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV offen. Genauso kommt bei Inaktivität der Kommission unter den Bedingungen des Art. 265 Abs. 3 AEUV eine Untätigkeitsklage in Frage.77
B. Volksinitiativen in der Schweiz 1. Die Schweiz als „Wiege der Demokratie“? Die Schweizer Volksinitiative geht demgegenüber von ganz anderen Voraussetzungen aus. Namentlich kann sie gegenüber ihrem unionalen Pendant auf eine beträchtlichte Geschichte zurückblicken. Der heutige Schweizer Bundesstaat ist dabei keineswegs das Resultat einer zwingenden historischen Entwicklung, sondern geht teilweise auch auf die fremdbestimmte Zusammenfassung der Reste der Alten Eidgenossenschaft in einer Föderation zurück.78 Das daraus resultierende Amalgam ehe72 Nach der zitierten Vorschrift kommt der Kommission für Gesetzgebungsakte das Vorschlagsmonopol zu, während für andere Rechtsakte ein Vorschlagsrecht besteht, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist. 73 Vgl. in diesem Sinne v. a. Erwägungsgrund 1 der EBI-VO sowie Entschließung EP (Anm. 5), B, aber auch Epiney (Anm. 54), 52; Obwexer/Villotti (Anm. 35), 118; Klaus-Dieter Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 4. Aufl. 2010, Rn. 267; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 42; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 11; Piesbergen (Anm. 35), 232 ff.; Isak (Anm. 35), 153/167; Laurent (Anm. 11), 223; Maurer/ Vogel (Anm. 56), 8; Efler (Anm. 56), 8 m. w. N.; vgl. hiezu insb. den sehr ähnlichen Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 AEUV und Art. 225 AEUV. 74 So aber offenbar Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EUV/AEUV (2012), Art. 11 EUV Rn. 3 m. w. N. 75 Vgl. Epiney (Anm. 54), 49 ff.; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 42; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 27; Obwexer/Villotti (Anm. 35), 118; Isak (Anm. 35), 191 f.; Efler (Anm. 56), 8. 76 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 19. 77 Vgl. zu alledem Obwexer/Villotti (Anm. 35), 118 f.; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 56; Epiney (Anm. 54), 50; Guckelberger (Anm. 5), 754; die Frage offen lassend Laurent (Anm. 11), 225; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 28; vgl. für die Gegenansicht Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 11 sowie Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 11 EUV Rn. 19, der dieses Ergebnis für aus dogmatischer Sicht geboten, aber für „verfassungspolitisch unbefriedigend“ hält; vgl. ähnlich Borchardt (Anm. 73), Rn. 267; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 11; differenzierend Piesbergen (Anm. 35), 281 ff. 78 Die Wiederherstellung der Eidgenossenschaft nach den napoleonischen Kriegen erfolgte primär auf Entscheidung der Allierten hin, vgl. Erklärung des Wiener Congresses vom 20. März 1815 über die Angelegenheiten der Schweiz, in Karl Heinrich Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, 2. Aufl. 1833, Bd. 3, 200–205. Bis hin zur Gründung des Bundesstaates von 1848
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maliger Herren- und Untertanengebiete, von Städten und Landschaften, verschiedener Sprachregionen und konfessioneller Gegensätze war zuerst noch weit entfernt vom idealisierten „einig Volk von Brüdern“ Schiller’scher Prägung.79 Der Mythos von der ins Mittelalter zurückreichenden direktdemokratischen Tradition entbehrte in gewissen Aspekten zwar nicht jeglicher Grundlage,80 doch generell wurde und wird die demokratische Tradition der Schweiz oft idealisiert und überzeichnet.81 Unter dem Ancien Régime herrschten innerhalb der einzelnen Kantone aristokratische oder oligarchische Regime vor,82 weite Teile waren Untertanengebiet minderen Rechts. Das Konzept des Volkes als Souverän wurde erst mit der von Frankreich aufoktroyierten, ephemeren helvetischen Verfassung eingeführt.83 Doch der Mythos der altväterlichen Bauerndemokratie bot nach der Staatsgründung 1848 ein einigendes Element, das in der Folge mit Tellensage, Freiheitsdrang und Wehrhaftigkeit zu einer umfassenden und gesamtschweizerischen Staatsideologie erweitert wurde.84 Das „Volk“ wurde zumindest ideologisch zu einer Einheit und zugleich zur Grundlage und höchsten Instanz: zu einem Rousseau’schen corps politique und souverain.85 In mancherlei Hinsicht (beispielsweise der Personenfreizügigkeit) waren die Kantone auch nach der Gründung des Bundesstaates oft deutlicher separiert als heute die Mitgliedsstaaten der Union.86 Auch direktdemokratische Elemente waren 1848 noch nicht stark ausgebildet.87 Immerhin wurde – zu jener Zeit kaum anderswo in Europa vorstellbar – die Vereinigung zum Bundesstaat 1848 in fast allen Kantonen demokratisch legitimiert.88 Die Verfassung von 1874 änderte die (direkt)demokratische Partihielt der Staatenbund mehr schlecht als recht zusammen; für eine Übersicht siehe Andreas Kley, Geschichtliche Einleitung, in Bernhard Ehrenzeller et al., Die schweizerische Bundesverfassung: Kommentar, 2. Aufl. 2008, Rn. 5. 79 Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, in Dramen IV, Werke und Briefe Bd. 5, 1988, Akt II, Szene 2. Die Verfassung von 1848 sprach denn auch noch von der Vereinigung der „Völkerschaften der zwei und zwanzig souveränen Kantone“‘ (Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848 [aBV 1848], Art. 1, abgedruckt in Johann Caspar Bluntschli, Geschichte des schweizerischen Bundesrechtes, Bd. 2, 1852, 429. Für die unterschiedliche Rechtsstellung der alten, neuen und zugewandten Orte, der Verbündeten, Schirmherrschaften und gemeinsamen Orte siehe Jean-François Aubert, Geschichtliche Einleitung, in Heinrich Koller et al., Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, 1986, Rn. 4–5. 80 Vgl. etwa Ulrich Im Hof, Mythos Schweiz: Identität – Nation – Geschichte 1291–1991, 1991, 11–45. 81 Vgl. Langer (Anm. 19), 917–920 m.w.N. 82 Aubert (Anm. 79), Rn. 6. 83 Verfassung der helvetischen Republik vom 12. April 1798, Art. 2, abgedruckt in Bluntschli (Anm. 79), 305. Die helvetische Einheitsrepublik wurde bereits 1803 wieder durch einen Staatenbund ersetzt: Aubert (Anm. 79), Rn. 22. 84 Vgl. Schweizerisches Landesmuseum (Hg.), Die Erfi ndung der Schweiz 1848–1998: Bildentwürfe einer Nation, 1998, passim. 85 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, 1977 (1762), I, 6, S. 184. 86 Vgl. etwa zur bedingten Niederlassungsfreiheit: Art. 41 aBV 1848. 87 Stimmbürger konnten zwar eine Verfassungsänderung initiieren, diese jedoch nicht inhaltlich bestimmen: Art. 113 aBV 1848. Durch das Parlament initiierte Verfassungsänderungen waren einem obligatorischen Referendum unterstellt (Art. 114). 88 Ausführlich bei Aubert (Anm. 79), Rn. 96–100; im Gegensatz dazu zum Referendum in Bezug auf Änderungen des Primärrechts der Union vgl. bereits supra Anm. 37 sowie generell Roland Bieber, Zur Ko-Existenz von Referenden und parlamentarischer Demokratie in Kadelbach (Anm. 54), 57–70.
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zipation nur graduell.89 Die heutigen, weitreichenden und gezielt einsetzbaren Initiativrechte wurden erst 1891 im Rahmen einer Verfassungsrevision eingeführt, die vom Stimmvolk deutlich, aber mit einer vergleichsweise niedrigen Stimmbeteiligung gutgeheißen wurde.90 Somit konnten nun 50’000 Stimmbürger entweder eine Totalrevision oder eine partielle Änderung der Verfassung initiieren.91 Die erste Volksinitiative verlangte 1893 erfolgreich das Verbot des Schlachtens ohne vorgängige Betäubung – also des Schächtens.92 Seither wurde auf Bundesebene über 180 Initiativen abgestimmt, wovon jedoch lediglich 19 angenommen wurden.93 Eine ganze Reihe von Volksinitiativen hatte dabei die Ausgestaltung der Volksrechte selbst zum Gegenstand.94 Auch durch das Parlament wurden Ausmaß und Gegenstand der demokratischen Partizipation wiederholt angepasst. Alles in allem hat sich aber an der Ausgestaltung des Initiativrechts substantiell wenig geändert. In mancher Hinsicht wurden die Volksrechte erweitert oder zu erweitern versucht,95 während sämtliche Versuche der Einschränkung scheiterten96 – mit Ausnahme der Erhöhung der Unterschriftenzahl für Volksinitiativen auf 100’000 im Jahre 1977.97 Gegenwärtig sieht die Verfassung zwei Grundformen der Verfassungsinitiative vor: die Total- und die Teilrevision. Die Teilrevision ist heute in Art. 139 BV geregelt:98 1 100 000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen. 2 Die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung kann die Form der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs haben. 89 Indem nun 50’000 Stimmbürger eine (von der Bundesversammlung auszuarbeitende) Totalrevision verlangen konnten (Art. 120 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 [aBV 1874]). Der Ablauf entsprach Art. 138 BV (vgl. infra Anm. 107). 90 Für die Revision stimmten 60,3%, dagegen 39,7%; die Stimmbeteiligung betrug knapp 50%: BBl 1891 IV 4. 91 Wenn im Folgenden von Stimmbürgern die Rede ist, so sind damit bis 1971 tatsächlich nur die männlichen Bürger gemeint, da erst im Hinblick auf die Ratifi kation der EMRK das Frauenstimmrecht auf Bundesebene eingeführt wurde. 92 „Für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung“ (1893 angenommen: BBl 1893 IV 401). 93 Stand September 2012. Die Zahl der Initiativen hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Im Jahr 2011 wurde mit 23 lancierten Initiativen ein Höchststand verzeichnet. Für eine chronologische Übersicht vgl. supra Anm. 13. 94 So beispielsweise die Initiativen „Für die Unterstellung von unbefristeten oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossenen Staatsverträgen unter das Referendum (Staatsvertragsreferendum)“ (1921 angenommen: BBl 1921 I 424); „Für Beschleunigung der direkten Demokratie (Behandlungsfristen für Volksinitiativen in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs)“ (2000 abgelehnt: BBl 2000 2990); „Mehr Rechte für das Volk dank dem Referendum mit Gegenvorschlag (Konstruktives Referendum)“ (2000 abgelehnt: BBl 2001 183); „Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)“ (2012 abgelehnt: BBl 2012 7685). 95 Insbesondere im Bereich des Referendums: supra Anm. 94. 96 So etwa die Erhöhung der Unterschriftenzahl auf 150’000 oder die Verkürzung der Sammelfrist auf zwölf Monate im Rahmen der Reform der Volksrechte, welche auf die Verfassungsreform von 1999 hätte folgen sollen: Bernhard Ehrenzeller/Roger Nobs, Vorbemerkungen zu Art. 136–142, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 40. Vgl. zur Verfassungsreform in Raten infra Anm. 226. 97 BBl 1977 III 921 (obligatorisches Referendum). 98 Art. 139 BV wurde in den letzten Jahren wiederholt revidiert. Zu den verschiedenen Fassungen (die auch einen Art. 139neu, 139alt, 139a und 139b einschlossen oder einschließen), vgl. BBl 2008 2891.
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3 Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so erklärt die Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise ungültig. 4 Ist die Bundesversammlung mit einer Initiative in der Form der allgemeinen Anregung einverstanden, so arbeitet sie die Teilrevision im Sinn der Initiative aus und unterbreitet sie Volk und Ständen zur Abstimmung. Lehnt sie die Initiative ab, so unterbreitet sie diese dem Volk zur Abstimmung; das Volk entscheidet, ob der Initiative Folge zu geben ist. Stimmt es zu, so arbeitet die Bundesversammlung eine entsprechende Vorlage aus. 5 Eine Initiative in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs wird Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet. Die Bundesversammlung empfiehlt die Initiative zur Annahme oder zur Ablehnung. Sie kann der Initiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen.99
Die Teilrevision als die weitaus bedeutsamere Variante erfolgt folglich entweder aufgrund eines ausformulierten Begehrens oder einer allgemeinen Anregung.100 Bei ersterer wird dem Volk eine neue Verfassungsbestimmung oder eine konkrete Verfassungsänderung vorgelegt.101 Auf eine allgemeinen Anregung hin hingegen formuliert die Bundesversammlung die Abstimmungsvorlage, mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen für das Anliegen der Initianten.102 Eine Vermischung der beiden Initiativformen ist nicht zulässig,103 doch kann die Abgrenzung von ausformulierter Initiative und allgemeiner Anregung problematisch sein.104 In der (nicht sehr umfangreichen) Praxis wurden jedoch auch detailliert ausformulierte „Anregungen“ nicht beanstandet.105 Die Totalrevision durch Volksbegehren war schon in der ersten Bundesverfassung von 1848 vorgesehen.106 Der aktuelle Art. 138 BV regelt sie wie folgt:
99 Vgl. außerdem auch den inhaltlich identischen Art. 194 BV, der aus systematischen Überlegungen eingefügt wurde. 100 Die Einführung der „allgemeinen Volksinitiative“ im Jahr 2003, mit welcher in der Form einer allgemeinen Anregung die Annahme, Änderung oder Auf hebung von Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen verlangt werden konnte, wurde wegen Impraktikabilität 2009 wieder rückgängig gemacht (BBl 2009 8722). 101 So lautete beispielsweise der Text der Minarettinitiative: „Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert: Art. 72 Abs. 3 (neu): Der Bau von Minaretten ist verboten.“ (BBl 2007 3233). 102 Mit einem Entwurf durch die Bundesversammlung ist das Risiko verbunden, dass den Intentionen der Initianten nicht genügend Rechnung getragen wird. Dafür reduziert sich das mit der Teilrevision verbundene Risiko einer Ungültigerklärung aus materiellen Gründen: vgl. infra III.B. – Die (vereinigte) Bundesversammlung setzt sich zusammen aus dem Nationalrat als Volks- und dem Ständerat als Kantonsvertretung, die in der Regel getrennt verhandeln: Art. 148–150 BV. Im Folgenden wird der Begriff „Parlament“ synomym verwendet. 103 Art. 139 Abs. 3 BV (Einheit der Form). 104 Das Kriterium ist, ob der Initiativtext konkret genug ist, um in die Verfassung aufgenommen zu werden, oder dem Parlament ein genügend großer Spielraum bei der Ausarbeitung verbleibt, was einen erheblichen Beurteilungsspielraum eröffnet. Unklar ist weiter, wer für die Qualifi zierung zuständig ist; gem. h.L. entscheidet die Bundesversammlung. Es scheint jedoch angebrachter, dass die Initianten selbst über die Qualifi zierung und die damit verbundenen Vor- und Nachteile entscheiden (so auch Ehrenzeller/Nobs, Art. 139 (alt), in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 15–16). 105 Insgesamt wurden elf Volksinitiativen als allgemeine Anregung eingebracht, von denen auch jene, die ohne Änderung als Verfassungstext hätten übernommen werden können, für gültig erklärt wurden: Ehrenzeller/Nobs (Anm. 104), Rn. 19. 106 Art. 113 aBV 1848, siehe supra Anm. 87.
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1 100 000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Totalrevision der Bundesverfassung vorschlagen. 2 Dieses Begehren ist dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten.
Wird eine solche Initiative auf Totalrevision angenommen, so werden umgehend National- und Ständerat neu gewählt. Diese müssen anschließend unverzüglich mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beginnen, wobei als einzige Schranke für diese Neufassung ebenfalls die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts zu beachten sind.107 Eine genaue Abgrenzung von der Total- zur Teilrevision findet sich in der Bundesverfassung nicht. Bei einer rein formellen Betrachtungsweise liegt eine Totalrevision dann vor, wenn sämtliche Verfassungsbestimmungen zur Diskussion gestellt werden und die bestehende Verfassungsurkunde ersetzt wird. Unter materiellen Gesichtspunkten stellt auch die Abänderung zentraler Verfassungselemente wie Föderalismus, Grundrechtsschutz oder institutionelle Staatsorganisation eine Totalrevision dar.108 Die Lehre vertritt überwiegend die Auffassung, es seien sowohl formelle wie auch materielle Kriterien zu berücksichtigen.109 In der Praxis wurden gerade unter der aktuellen Verfassung von 1999 aber materiell recht weitreichende Änderungen als Teilrevision dem Volk zur Abstimmung unterbreitet.110 Art. 138 BV äußert sich auch nicht dazu, wie bei einer Initiative auf Totalrevision die dem Stimmvolk vorgelegte Frage zu formulieren ist. Ein Teil der Lehre geht davon aus, dass die Stimmbürger allein über die Durchführung einer Totalrevision befi nden können, ohne dass damit die Ausarbeitung der neuen Verfassung durch die Bundesversammlung inhaltlich präjudiziert würde.111 Aber die politischen Anliegen der Initianten sind natürlich bekannt. Sie würden vom neugewählten Parlament zu berücksichtigen sein, auch wenn sie keine rechtliche Bindungswirkung entfalten.112 Von einem frühen Sonderfall abgesehen,113 kam bisher nur eine solche Initiative zustande: 1934 wurde von der Nationalen Tatgemeinschaft, einer Vereinigung mehrerer frontistischer Organisationen, eine Initiative zur Totalrevision lanciert. Die Abstimmungsfrage richtete sich allein auf die Durchführung einer Revision,114 doch war es das erklärte Ziel der Frontisten, die bestehende Ordnung durch einen faschis107 Art. 193 BV; zum Ablauf Yvo Hangartner, Art. 193, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 17. Die Totalrevision kann nicht nur durch Volksbegehren, sondern auch durch den National- oder Ständerat vorgeschlagen oder durch die Bundesversammlung beschlossen werden (Art. 193 BV). 108 Hangartner (Anm. 107), Rn. 18–19. 109 Luzius Wildhaber, Art. 118, in Koller et al. (Anm. 79), Rn. 7; Ulrich Häfelin et al., Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008, Rn. 1767. Umstritten bleibt, wie eine Teilrevision, die materiell Totalrevision ist, von der Bundesversammlung behandelt werden soll. 110 Die Verfassungsrevision 1999 sparte gewichtige Sachbereiche (Volksrechte, Verfassungsgerichtsbarkeit, föderaler Lastenausgleich) aus. Über diese wurde im Folgenden im Verfahren der Teilrevision abgestimmt, wobei mit zunehmendem zeitlichen Abstand die Zugehörigkeit zur Totalrevision nicht mehr ersichtlich war: Hangartner, Vorbemerkungen zu Art. 192–195, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 23. 111 Hangartner, Art. 193, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 11. 112 So auch Ehrenzeller/Nobs, Art. 138 in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 16. 113 Die allererste Volksinitiative verlangte 1880 die Einführung des Banknotenmonopols und eines einheitlichen Obligationenrechts. Da die Initiative auf Teilrevision noch nicht eingeführt war, wurde das Begehren als Initiative auf Totalrevision behandelt, vgl. BBl 1879 III 1061. 114 BBl 1934 III 593.
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tischen Ständestaat unter einem Schweizer Landammann zu ersetzen.115 Das Vorhaben wurde 1935 deutlich verworfen.116 Ein weiterer frontistischer Totalrevisionsversuch scheiterte 1942 schon im Unterschriftenstadium ebenso wie ein 2002 lanciertes Begehren auf Totalrevison aus links-alternativen Kreisen.117 Die einzigen erfolgreichen Totalrevisionen von 1874 und 1999 wurden vom Parlament initiiert, nicht vom Volk.118 Die Totalrevision wird teilweise als Ausfluss des pouvoir constituant des Volkes gewertet.119 Sie soll sicherstellen, dass der revolutionäre Akt der Verfassungsgebung in geordnete Bahnen gelenkt wird.120 Immerhin ist fraglich, ob angesichts der inhaltlichen und prozeduralen Vorgaben für die Totalrevision nicht eher von einem (sogar recht eng begrenzten) pouvoir constitué ausgegangen werden muss: Das Stimmvolk kann sich nur dazu äußern, ob das Parlament aufgelöst werden und sein anschließend gewählter Nachfolger eine neue Verfassung ausarbeiten soll.121 Die diesbezüglichen Präferenzen kann das Volk somit nur indirekt bei der Parlamentswahl kundtun. Auch hat die neu auszuarbeitende Verfassung – genau wie eine Teilrevision – die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts zu beachten.122
2. Das Verfahren bei Volksinitiativen Wie nun spielen sich in der Praxis das Sammeln von Unterschriften für die Volksinitiative, die parlamentarische Prüfung und das anschließende Plebiszit ab? Das Verfahren in der Schweiz ist – angesichts der kleinen Verhältnisse wenig überraschend – um einiges einfacher als in der EU ausgestaltet.123 Am Anfang einer Verfassungsinitiative steht ein Komitee, welches bei der Bundeskanzlei zur Vorprüfung eine Unterschriftenliste einreicht, die Titel und Wortlaut der Initiative und u. a. auch die Mitglieder des Komitees aufführt.124 Die Kanzlei prüft das Begehren allein in for115 Stefan Bauhofer et al., Totalrevision der Bundesverfassung: Dokumente und Diskussionsbeiträge, 1977, 54–55. Bei den Frontisten handelte es sich um die Schweizer Variante des Nationalsozialismus, die politisch aber von marginaler Bedeutung blieb. Für eine Übersicht, siehe Walter Wolf, Frontistenbewegung, in 4 Historisches Lexikon der Schweiz (2005). 116 BBl 1935 II 446 (Nein: 72,3%, Ja: 27,7%). Die von Frontisten lancierte (Teilrevisions-)Initiative auf Verbot der Freimaurerei wurde 1937 vom Volke ebenfalls deutlich abgelehnt (Nein: 68,7%): BBl 1937 III 498. 117 Ehrenzeller/Nobs (Anm. 112), Rn. 6. 118 Vgl. supra Anm. 107; für die Abstimmungsresultate BBl 1874 I 699 und BBl 1999 5986. 119 Vgl. Emmanuel-Joseph Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers-état? 3. Aufl. 1789, 111. 120 Ehrenzeller/Nobs (Anm. 112), Rn. 5; Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 1992, Bd. 1, 603; René A. Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, Rn. 443. 121 Ähnlich Wildhaber (Anm. 109), Rn. 20. Zu unterscheiden wäre wohl die verfassungskonforme Totalrevision als Ausfluss des pouvoir constitué von einer außerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens erfolgenden (etwa weil sie gegen das ius cogens verstößt), „revolutionären“ Totalrevision. 122 Art. 193 Abs. 4 BV; zur ius cogens-Schranke vgl. näher infra III.B. 123 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Volksinitiative auf Teilrevision; soweit das Verfahren bei Totalrevison abweicht, wird darauf hingewiesen. 124 Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte, 1976 [BPR], SR 161.1, Art. 68. Das Komitee umfasst zwischen sieben und 27 Mitgliedern.
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meller Hinsicht.125 Anschließend legt sie den Beginn der 18-monatigen Frist fest, die zur Sammlung der Unterschriften zur Verfügung steht. Seit 1977 beträgt die Zahl der benötigten Unterschriften 100’000; dies entspricht momentan knapp 2% der Stimmberechtigten.126 Die Kisten mit den gesammelten Unterschriftsbögen werden von den Initianten in der Regel publizitätswirksam zur Bundeskanzlei gekarrt, welche anschließend (erneut nur unter formalen Gesichtspunkten) prüft, ob die Initiative zustandegekommen ist.127 Erst jetzt – also nachdem die Unterschriften bereits gesammelt sind – kommen die erwähnten materielle Vorbehalte zur Sprache, dies im Unterschied zum Unionsrecht, wo die materiellen Schranken schon in der Registrierungsphase zum Tragen kommen.128 Innert Jahresfrist nach Zustandekommen der Initiative unterbreitet der Bundesrat der Bundesversammlung129 eine Stellungnahme (die „Botschaft“) sowie den Entwurf eines Bundesbeschlusses für eine Stellungnahme der Bundesversammlung.130 Die Bundesversammlung ist allein zuständig, über die mögliche Ungültigkeit einer Volksinitiative wegen Verletzung der Einheit der Form oder der Materie oder des zwingenden Völkerrechts zu befi nden.131 Wie die äußerst geringe Zahl der annullierten Initiativen zeigt, entscheidet das Parlament im Zweifel für die Gültigkeit einer Initiative.132 Die Bundesversammlung kann zugleich auch einen direkten Gegenentwurf zum Initiativtext beschließen, der dann gemeinsam zur Abstimmung gelangt, unter Einschluss des sog. Stichentscheides.133 Dies war zuletzt bei der Ausschaffungsinitiative der Fall: Der Initiative wurde ein weniger weitgehender Vorschlag der Regierung gegenübergestellt, welcher eine Berücksichtigung der konkreten Umstände im Einzelfall vorsah sowie völkerrechtliche Verpfl ichtungen beachten wollte.134 Die Stimmbürger hatten deshalb drei Entscheidungen zu treffen: Sie konnten erstens die Initiative annehmen oder ablehnen ebenso wie zweitens den Gegenvorschlag. Als Stich125
Art. 69 BPR Während in der Union die entsprechende Quote bei 0,2% liegt: supra Anm. 69. 127 Art. 71–72 BPR. 128 Vgl. dazu supra II.A.2 sowie den Hinweis infra Anm. 174 in fine. 129 Beim siebenköpfigen Bundesrat handelt es sich um die „oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes“, also um die Regierung, die stets als Kollektiv entscheidet (Art. 174, 177 Abs. 1 BV). Zur Bundesversammlung vgl. bereits supra Anm. 102. 130 Art. 97 Abs. 1 lit. a Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13. Dezember 2002 [ParlG], SR 171.10. Schlägt der Bundesrat einen Gegenentwurf vor (dazu infra Anm. 133), verlängert sich die Frist auf 18 Monate: Art. 97 Abs. 2 ParlG. Bei der Initiative auf Totalrevision sind keine Behandlungsfristen vorgesehen; angesichts der Tragweite wäre sie wohl ohne Verzug zu behandeln: Ehrenzeller/ Nobs (Anm. 112), Rn. 20. 131 Art. 139 Abs. 2 BV und Art. 75 BPR. Vgl. zu den Begriffen der Einheit der Materie und der Form infra bei Anm. 201 und zur ius-cogens-Schranken infra III.B und IV.B.2. 132 Bisher wurden erst vier Initiativen für ungültig erklärt, siehe infra, Anm. 206 und 207. Der Grundsatz in dubio pro populo wird auch deutlich bei Uneinigkeit der beiden Räte: Stimmt nur der National- oder der Ständerat für die Gültigkeit und bestätigt diese Haltung, so stimmt das Volk über die Vorlage ab: Art. 98 Abs. 2 ParlG. 133 Art. 76 BPR, Art. 102 ParlG. 134 Der Gegenentwurf verlangte, dass beim Entscheid über die Aus- und Wegweisung sowie den Entzug des Aufenthaltsrechts „die Grundrechte und die Grundprinzipien der Bundesverfassung und des Völkerrechts, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismässigkeit“ beachtet würden (BBl 2010 4244). 126
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frage mussten sie schließlich drittens bestimmen, welche Regelung umgesetzt werden sollte, sofern sowohl Initiative als auch Gegenvorschlag angenommen würden.135 Daneben besteht auch die Möglichkeit eines „indirekten Gegenentwurfes“ – d. h. der Verabschiedung eines Gesetzes oder einer Verordnung durch die Bundesversammlung zur gleichen Sachfrage und möglicherweise unter Berücksichtigung der Anliegen der Initianten.136 Gerade wenn letztere ihre Wünsche damit weitgehend erfüllt sehen, kann die Initiative auch nach der Beratung der Bundesversammlung noch zurückgezogen werden.137 Die Bundesversammlung muss innerhalb von 30 Monaten nach Einreichen der Initiative über die Gültigkeit befi nden sowie eine Abstimmungsempfehlung verabschieden.138 Der Bundesrat bringt die Vorlage in der Regel binnen 10 Monaten nach parlamentarischer Beschlussfassung, spätestens aber 40 Monate nach Einreichen der Initiative zur Abstimmung. Der ganze Prozess – vom Einreichen der Initiative über die Unterschriftensammlung und die parlamentarische Beratung bis zur Abstimmung – dauert somit längstens knapp über drei Jahre. Schließlich ist auch das föderale Element bei Volksinitiativen noch zu beachten. Je nach Art der Initiative muss nur die Mehrheit der Stimmenden (das „Volksmehr“) oder zusätzlich auch die Stimmenden in einer Mehrheit der Stände (d. h. der Kantone – „Ständemehr“) der Vorlage zustimmen. Bei der Initiative auf Totalrevision soll allein „das Volk“ als unitäre Körperschaft entscheiden; bei der Initiative auf Teilrevision hingegen muss auch das Ständemehr erreicht werden.139
3. Rechtskontrolle Im Gegensatz zur Union ist die Rechtskontrolle schwächer ausgestaltet und vor allem völlig anders ausgerichtet. Zwar kann vor dem Bundesgericht gegen die Verfügung der Bundeskanzlei, dass eine Initiative nicht zustandegekommen sei, Beschwerde geführt werden.140 Der parlamentarische Entscheid über die Gültigkeit einer Initiative hingegen ist endgültig und kann nicht gerichtlich angefochten wer135 Eidgenössische Bundeskanzlei, Volksabstimmung vom 28. November 2010: Erläuterungen des Bundesrats, 4–5 (2010). 136 Vgl. dazu Aldo Lombardi/Yvo Hangartner, Art. 139, in Bernhard Ehrenzeller et al., Die schweizerische Bundesverfassung, 2002, Rn. 54. Ein solches Gesetz untersteht dann dem fakultativen Referendum. 137 Die Zurückziehung ist zulässig, bis der Bundesrat den Abstimmungstermin festgelegt hat. Bei einem indirekten Gegenvorschlag ist auch ein Rückzug unter der Bedingung möglich, dass dieser Gegenvorschlag tatsächlich in Kraft tritt: Art. 73 und 73a BPR (so etwa im Zusammenhang mit der „Off-roader-Initiative“ („Für menschenfreundlichere Fahrzeuge“, 2011 zurückgezogen: BBl 2011 8071). 138 Art. 100 ParlG. „Einreichung“ bezieht sich nicht auf das Zustandekommen der Initiative, sondern auf die erste Unterbreitung bei der Bundeskanzlei: Art. 72 Abs. 2 ParlG. 139 Art. 138 Abs. 2 BV (Totalrevision); Art. 139 Abs. 5 BV (ausformulierte Teilrevision). Eine Sonderregelung gilt bei der allgemeinen Anregung: Stimmt das Parlament der Anregung zu, so arbeitet es eine entsprechende Vorlage aus, über die Volk und Stände abstimmen. Lehnt das Parlament die Anregung ab, so wird diese selbst allein dem Volk zur Abstimmung vorgelegt (Art. 139 Abs. 4 BV). 140 Art. 88 Abs. 1 lit. b Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 [BGG], SR 173.110, und Art. 80 Abs. 2 BPR. Den Mitgliedern des Initiativkomitees steht die Beschwerde auch zu gegen
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den.141 Auch ist gegen den Inhalt einer angenommenen Initiative kein Rechtsmittel ans Bundesgericht gegeben.142 Immerhin stehen den Stimmbürgern gewisse Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit den politischen Rechten zu. Art. 34 Abs. 2 BV schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Fehlinformationen im Vorfeld einer Abstimmung können mit Beschwerde gerügt werden, doch sind Akte des Bundesrates und des Parlamentes der gerichtlichen Überprüfung entzogen.143 Beschwerden gegen Volksabstimmungen – beispielswiese wegen Irreführung der Stimmbürger oder Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung – werden von den Kantonsregierungen als erster Instanz beurteilt,144 wobei ein Weiterzug ans Bundesgericht möglich ist. Dieses könnte im äußersten Fall sogar die Annullierung der Abstimmung verfügen, wobei die Voraussetzungen dazu ausgesprochen hoch sind und bisher auch noch nie erfüllt wurden.145
III. Die Ausgestaltung der materiellen Schranken direktdemokratischer Partizipation In organisatorischer und verfahrensmäßiger Sicht weichen die europäische und die Schweizer Initiativrechte also erheblich voneinander ab. Uns interessieren im Folgenden aber mehr die inhaltlichen Schranken direktdemokratischer Partizipation, wo ähnlich starke Unterschiede zwischen den beiden Rechtsordnungen bestehen, die aber bislang viel weniger thematisiert worden sind.146 Das Schweizer Volk kann sich in Volksinitiative und -abstimmung mit allen denkbaren politischen Gegenständen befassen, während im Rahmen der Unionsrechtsordnung eine Beschränkung der Bürgerinitiative auf Materien innerhalb der Verbandskompetenz der Union und der Organkompetenz der Kommission erfolgt. Darüber hinaus ergibt sich im Schweizer Recht eine inhaltliche Bindung zulässiger Volksinitiativen im Wesentlichen nur aus der ius cogens-Grenze. Dagegen normiert Art. 4 Abs. 2 EBI-VO, dass geplante Bürgerinitiativen nicht offenkundig gegen die Werte der Union verstoßen und nicht offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös sein dürfen. Die markant unterschiedliche Ausgestaltung der inhaltlichen Schranken direktdemokratischer Partizipation in beiden Systemen verdient demgemäß, einer näheren Betrachtung unterzogen zu werden.
Verfügungen über die formelle Gültigkeit der Unterschriftenliste sowie über den Titel der Initiative (Art. 80 Abs. 3 BPR). 141 Der Entscheid erfolgt in Form eines einfachen Bundesbeschlusses, der weder dem Referendum untersteht noch vor dem Bundesgericht angefochten werden kann. Vgl. Art. 189 Abs. 4 BV und Andreas Kley, Art. 29a, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 31. 142 BGer, Urteil vom 14. 12. 2009, 1C_527/2009 (Minarett-Initiative). 143 Art. 82 lit. c BGG und Art. 189 Abs. 4 BV. 144 Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR. 145 Vgl. z. B. BGer, Urteil vom 15. 2. 2011, 1C_514/2010, wo das Resultat der Ausschaffungsinitiative erfolglos angefochten wurde. 146 Vgl. supra bei Anm. 36.
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A. Materielle Schranken der Europäischen Bürgerinitiative Inhaltliche Bindungen für die Bürgerinitiative ergeben sich aus dem einschlägigen Primär- und Sekundärrecht, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits folgen sie aus den zuständigkeitsrechtlichen Vorgaben für die Bürgerinitiative, wie sie unmittelbar in Art. 11 Abs. 4 EUV verankert sind. Der etwas sperrigen Formulierung der Bestimmung zufolge können die Initianten die Kommission nämlich nur auffordern, „im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen“. Darüber hinaus legt der eben zitierte Art. 4 Abs. 2 EBI-VO auf sekundärrechtlicher Ebene weitere inhaltliche Ausschlusskriterien fest. Bevor wir jedoch auf diese beiden Schrankentypen näher eingehen, ist zu untersuchen, ob und in welchem Sinn von einer Primärrechtsbindung der Bürgerinitiative gesprochen werden kann (1.). Hier schleichen sich leicht Missverständnisse ein, die den Blick auf die Funktionsweise der genannten materiellen Schranken und den dabei von der Kommission im Registrierungs- und Überprüfungsverfahren anzuwendenden Prüfmaßstab verstellen können. Auf dieser Grundlage sind die zuständigkeitsrechtlichen Grenzen der Bürgerinitiative in den Blick zu nehmen (2.), und zwar sowohl hinsichtlich der Verbandskompetenz der Union (a) als auch der Organkompetenz der Kommission (b). Die möglichen Gegenstände einer Bürgerinitiative erfahren jedoch eine inhaltliche Begrenzung auch und insbesondere durch Art. 4 Abs. 2 EBIVO (3.), und zwar einerseits betreffend die Verträglichkeit einer Bürgerinitiative mit den Werten der Union (a) und andererseits, vereinfacht gesagt, angesichts ihrer Fähigkeit, den unionalen Rechtssetzungsprozess in „ernst zu nehmender“ Weise anzustoßen (b).
1. Zur Primärrechtsbindung der Bürgerinitiative: Prüfung im zweistufigen Verfahren Eine Bürgerinitiative, so ist gleich eingangs festzuhalten, kann nicht zur Änderung von Primärrecht führen. Man könnte zwar argumentieren, dass bei weiter Auslegung auch Vertragsänderungen eine „Umsetzung der Verträge“ darstellen147 oder dass gem. Art. 48 EUV auch der Vorschlag einer Vertragsänderung in den „Rahmen der Befugnisse“ der Kommission fällt, doch wäre ein solcher Vorschlag eben nicht auf den Erlass eines „Rechtsakts der Union“, d. h. eines Sekundärrechtsakts, gerichtet, sondern auf eine Modifizierung des Primärrechts.148 147
Vgl. Obwexer/Villotti (Anm. 35), 111. So die ganz h. M.; vgl. Borchardt (Anm. 73), Rn. 266; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 26; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 39; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5 (2010), Art. 11 EUV Rn. 10; Obwexer/Villotti (Anm. 35), 111; Guckelberger (Anm. 5), 752; Auer (Anm. 31), 82; Laurent (Anm. 11), 223; Piesbergen (Anm. 35), 260; a. M. Editorial Comments (Anm. 5), 934, n. 16; Efler (Anm. 56), 9 f. Auch die Ansicht, dass Rechtsakte, die auf eine Vertragsänderung im vereinfachten Verfahren (Art. 48 Abs. 6 EUV) gerichtet sind, zulässiger Gegenstand einer Bürgerinitiative sein können, ist abzulehnen, da es sich nicht um „normale“ Sekundärrechtsakte handelt, da der Beschluss des Europäischen Rates erst nach Zustimmung aller Mitgliedstaaten im Einklag mit ihren verfassungs148
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Es wäre aber voreilig, daraus auf eine umfassende Primärrechtsbindung der Bürgerinitiative schließen zu wollen. Insofern sind verschiedene Äußerungen im Schrifttum in ihrer Allgemeinheit missverständlich, wenn sie nicht zwischen der (außer Frage stehenden) Primärrechtsbindung des aus einer Bürgerinitiative erwachsenden Rechtsaktvorschlags der Kommission und jener der Bürgerinitiative selbst differenzieren.149 Denn die Kommission ist in Ausübung ihres Vorschlagsrechts nach Art. 17 Abs. 2 EUV zweifellos voll an die primärrechtlichen Vorgaben gebunden, was sich namentlich in Art. 13 Abs. 2 EUV manifestiert. Demgegenüber agieren die Organisatoren einer Bürgerinitiative – und in der Folge auch deren Unterzeichner – gerade nicht als Organ der Union i. S. d. Art. 13 Abs. 1 EUV und unterliegen dementsprechend auch nicht den Bedingungen des Art. 13 Abs. 2 EUV.150 Darüber hinaus legt der Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 EUV selbst die Notwendigkeit einer Doppelperspektive nahe: Die Initianten machen demgemäß nicht selbst Vorschläge für Rechtsakte „im Rahmen [der] Befugnisse [der Kommission]“, sondern fordern (von ihrem Standpunkt aus) die Kommission auf, selbiges zu tun.151 Noch deutlicher ist die Formulierung, dass Inhalt der Bürgerinitiative die Aufforderung an die Kommission ist, Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union zur Umsetzung der Verträge bedarf.152 Diese Perspektive muss die für die Ausübung des Bürgerinitiativrechts als Unionsbürgerrecht entscheidende sein. Davon ist die gewiss (aber erst in weiterer Folge) relevante Bewertung der Frage aus Sicht der Kommission zu unterscheiden. rechtlichen Vorschriften in Kraft treten kann, ebenso wie jene (vgl. etwa Maurer/Vogel (Anm. 56), 22), dass durch Art. 11 Abs. 4 EUV zwar keine vereinfachte Vertragsänderung, aber wohl die Inanspruchnahme der Passarelle-Klauseln des Art 48. Abs. 7 EUV gedeckt ist, da es diesbezüglich am Vorschlagsrecht der Kommission fehlt; vgl. zu ersterem Obwexer/Villotti (Anm. 35), 111, zu zweiterem differenzierend, aber letztlich ablehnend Isak (Anm. 35), 187. 149 Vgl. etwa Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 26 („[Die Bürgerinitiativen] müssen . . . mit den Verträgen konsistent sein, d. h. der vorgeschlagene Rechtsakt muss innerhalb der der Union zugewiesenen Kompetenzen liegen, darf höherrangigem europäischem Recht nicht widersprechen und darf die Grundrechte der Union nicht verletzen.“); Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 40 („. . . sind Initiativen unzulässig, die etwa gegen die Grundrechte der [Grundrechtecharta], die Grundsätze des Art. 2 EUV, die Grundfreiheiten, die Kompetenzen der Organe etc. verstoßen würden“); Guckelberger (Anm. 5), 752 („Im Übrigen folgt aus der Normenhierarchie, dass der Inhalt der [Bürgerinitiative] im Einklang mit den primärrechtlichen Vorgaben, etwa der Grundrechtecharta und den Menschenrechten, stehen muss.“); vgl. ähnlich auch Auer (Anm. 31), 82 ff.; Piesbergen (Anm. 35), 254 f.; Isak (Anm. 35), 173; Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar3 (2012), Art. 11 EUV Rn. 3. 150 Auer (Anm. 31), 83 erkennt diese ansatzweise, wenn er feststellt: „Yet it is difficult to see how a mere invitation to promote a legal act could be a violation of a fundamental right. The responsibility for implementing [citizens’ initiatives] lies therefore with the Commission, the Council and the [European Parliament]“; vgl. aber wiederum id., 84, wonach die Kommission umfassend die Primärrechtskonformität der Initiative zu überprüfen hat. 151 Engl. „inviting the European Commission“, franz. „inviter la Commission européenne“. Auf den gegenüber der deutschen Formulierung „auffordern“ schwächeren Wortlaut in anderen Sprachfassungen (vgl. ebenso Art. 225 AEUV) ist verschiedentlich hingewiesen worden (vgl. etwa Obwexer/ Villotti (Anm. 35), 111; offen lassend Epiney (Anm. 54), 49, n. 45), dies tut hier aber nichts zur Sache. 152 Siehe noch deutlicher die Formulierung in anderen Sprachfassungen (engl. „where citizens consider that a legal act of the Union is required“; franz. „ces citoyens considèrent qu’un act juridique de l’Union est nécessaire“).
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Dies darf freilich nicht so verstanden werden, als wäre dadurch das Recht zur Bürgerinitiative jeder Primärrechtsbindung enthoben. Art. 11 Abs. 4 EUV zielt schließlich darauf ab, dass sich die Bürgerinitiative in den unionalen Gesetzgebungsprozess einfügt, genauer: dass sie einen Gegenstand hat, der für die Kommission als Inhaberin des Vorschlagsrechts für Unionsrechtsakte (Art. 17 Abs. 2 EUV) in Hinblick auf die rechtlichen Bindungen, denen sie dabei unterliegt, verwertbar ist. Deshalb hat die Kommission Sorge zu tragen, dass spätestens bei Erstattung eines Vorschlags volle Primärrechtskonformität hergestellt ist. Umgekehrt steht dem nicht entgegen, dass am Beginn einer Bürgerinitiative ihre Vereinbarkeit mit den primärrechtlichen Vorgaben noch unklar, strittig oder problematisch ist. Dieser primärrechtlichen Ausgangslage hat der Unionsgesetzgeber Rechnung getragen: Die in Art. 4 Abs. 2 EBI-VO verankerten Ausschlusstatbestände, bei deren Vorliegen die Kommission bereits die Registrierung der Initiative abzulehnen hat, verlangen jeweils ein „offenkundiges“ Verletzen der Primärrechtsordnung und normieren als Maßstab nicht einmal alle materiellen Vorgaben des Primärrechts (z. B. die einzelnen Unionsgrundrechte), sondern lediglich offenkundige Unvereinbarkeit mit den „Werten der Union“, was einen großzügigeren Maßstab zu implizieren scheint.153 E contrario ist die Kommission in allen anderen Fällen gehalten, die Initiative ins Unterschriftenstadium passieren zu lassen.154 Läse man Art. 11 Abs. 4 AEUV dagegen i. S. d. vollen Primärrechtsbindung der Bürgerinitiative (nach dem Vorbild des Art. 13 Abs. 2 EUV), könnten Zweifel an der Primärrechtskonformität von Art. 4 Abs. 2 EBI-VO selbst auf kommen. Denn dieser müsste dann ja eigentlich anordnen, dass die Kommission eine geplante Bürgerinitiative hinsichtlich eines Verstoßes gegen jede primärrechtliche Vorschrift zu prüfen hat. Die hier vorgeschlagene Lesart trägt demgegenüber u.E. einerseits dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 4 EUV und der sich darin manifestierenden Doppelperspektive eher Rechnung und lässt sich andererseits besser mit der der Kommission vom Unionsgesetzgeber aufgegebenen reduzierten „Prüfdichte“ vereinbaren. Die Kommission hat sich mithin im Registrierungsverfahren mit einer prima faciebzw. Grobprüfung zu begnügen,155 die lediglich einen Kanalisierungseffekt gegenüber Initiativen hat, die für den Zweck des Instruments, nämlich einen Vorschlag für einen Unionsrechtsakt anzustoßen, offensichtlich ungeeignet sind. Im Lichte der Ziele des Art. 11 Abs. 4 EUV, der ein direktdemokratisches Element als Komplement zum repräsentativ-demokratischen Hauptlegitimationsstrang ins Unionsverfassungsrecht einführt,156 muss sich die Kommission im Rahmen dieser Vorabprüfung vergewärtigen, dass die Nichtregistrierung die Unionsbürgerinitiative im frühestmög153
Dazu näher infra III.A.3 a). Vgl. dazu namentlich Erwägungsgrund 10 der EBI-VO; vgl. mit dieser Schlussfolgerung auch die Begründungen des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (Berichterstatter Gurmai und Lamassoure), A7–0350/2010, 25 („kann das Recht der Organisatoren auf Sammlung von Unterschriften nicht verwehrt werden, wenn eine bestimmte Initiative von Bürgern sämtliche Kriterien erfüllt“) und ähnlich 27. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass „[d]ie Kommission . . . über die Registrierung anhand streng rechtlicher Gründe beschließen [sollte]“ (Hervorh. d. Verf.). 155 Vgl. mit derselben Intention Laurent (Anm. 11), 224 („. . . la Commission [fait] une appréciation prima facie d’une initiative, au regard de son champ de compétence et du respect de la hiérarchie des normes“). 156 Vgl. supra bei Anm. 45. 154
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lichen Zeitpunkt beendet und insofern eine harte, besonders begründungsbedürfte Entscheidung darstellt. Denn dadurch wird das zarte Pflänzchen einer Bürgerinitiative schon im Keim erstickt, bevor es überhaupt Gelegenheit hatte, sich gen Himmel zu strecken.157 Will man Art. 11 Abs. 4 EUV als Unionsbürgerrecht ernst nehmen, ist dieser Weg nur mit großer Zurückhaltung zu beschreiten. Dies gilt umso mehr, als ungeachtet der gem. Anh. II der EBI-VO der Kommission zum Zwecke der Registrierung zu übermittelnden Informationen158 eine abschließende Bewertung der Primärrechtskonformität eines Initiativanliegens in diesem Stadium oft gar nicht verlässlich vorgenommen werden können wird. Hier sollten aufgrund der Demokratieoption des Lissaboner Vertrages im Allgemeinen und von Art. 11 Abs. 4 EUV im Besonderen der favor civis bzw. ein Handeln in dubio pro cive zum Tragen kommen. Ein strengerer Maßstab im Sinne einer Feinprüfung gilt dann bei Vorlage einer erfolgreichen Bürgerinitiative. Gem. Art. 10 Abs. 1 lit. c EBI-VO hat die Kommission im Überprüfungsverfahren entweder ihr weiteres Vorgehen oder den Verzicht darauf samt den Gründen hierfür darzulegen. In ihren rechtlichen Schlussfolgerungen159 muss sie erläutern, wie sich die Bürgerinitiative im Einzelnen zu den rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts verhält und welche unionsrechtlichen Schlüsse die Kommission daraus zieht. Scheitern Initiativanliegen, hinsichtlich deren Primärrechtskonformität die Kommission bei der Registrierung Zweifel hegte, sie aber dennoch pfl ichtgemäß registrierte, an der Einmillionengrenze, sind sie ohnehin erledigt. Überschreiten sie diese Grenze jedoch oder erfahren sie gar die überragende Unterstützung der Unionsbürger im Sinne der Verfolgung einer bestimmten Politik auf Unionsebene, scheint es angezeigt, dass die Kommission eine detaillierte rechtliche Überprüfung hinsichtlich der Realisierbarkeit des Initiativanliegens anstellt. Angesichts primärrechtlicher Bedenken ist ein erfolgreiches unionsbürgerliches Initiativanliegen nicht einfach als rechtlich undurchführbar zu charakterisieren, sondern darüber hinaus soweit als möglich einer primärrechtskonformen Auslegung zuzuführen oder ggf. in Hinblick auf einen primärrechtskonformen Rechtsaktvorschlag hin zu modifizieren und zu adaptieren. Die rechtlichen Schlussfolgerungen sollten dabei insbesondere erörtern, ob und inwieweit eine Bürgerinitiative, die Deckung in nicht tragfähigen Vertragsvorschriften sucht oder auf den Erlass nicht zulässiger Rechtsakttypen zielt, in dubio pro cive in primärrechtskonforme Initiativanliegen umgedeutet
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In ihrem Verordnungsvorschlag (Anm. 5), 6 f. hatte die Kommission selbst – indes hinsichtlich eines etwas anderen Ablaufs des Verfahrens – noch die Auffassung vertreten, dass „das Hauptziel darin besteht, eine europäische Debatte über Themen zu fördern, auch wenn eine Initiative letztendlich nicht in den Rahmen der rechtlichen Befugnisse der Kommission fällt“. 158 Die erforderlichen Informationen, die im Online-Register der Kommission (vgl. supra Anm. 66) bereitzustellen sind, umfassen neben der Bezeichnung der geplanten Bürgerinitiative (max. 100 Zeichen) vor allem die Beschreibung ihres Gegenstandes (max. 200 Zeichen) und ihrer Ziele, in deren Zusammenhang die Kommission zum Tätigwerden aufgefordert wird (max. 500 Zeichen) ebenso wie die Vertragsvorschriften, die von den Organisatoren als für die geplante Bürgerinitiative relevant erachtet werden. Darüber hinaus können weitere Informationen in einem Anhang zur Verfügung gestellt werden; dies kann auch einen Rechtsaktentwurf beinhalten. Vgl. dazu auch das von der Kommission zur Verfügung gestellte Online-Anmeldeformular; abruf bar unter . 159 Vgl. supra bei Anm. 70.
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werden kann (Konversion). Das Ermessen, das der Kommission bezüglich der (Nicht) Erstattung von Rechtsaktvorschlägen zukommt,160 bleibt dadurch freilich unberührt.
2. Primärrechtlich verankerte zuständigkeitsrechtliche Schranken a) Rechtsakt der Union (Verbandskompetenz) Die Kommission hat im Registrierungsverfahren zunächst zu prüfen, ob eine Initiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegt, in dem ein Rechtsakt der Union erlassen werden könnte (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 4 Abs. 2 lit. b EBI-VO). Die Trennbarkeit der Organisatoren- und Kommissionsperspektive kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass Art. 11 Abs. 4 EUV selbst, wie bereits erwähnt, bloß verlangt, dass es „nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger“ eines Rechtsakts der Union bedarf. Die Kommission hat dementsprechend auf Zuständigkeitsebene lediglich zu verifizieren, ob die Organisatoren tatsächlich auf den Erlass, die Modfizierung oder Abschaffung161 eines Rechtsakts der Union abzielen, und im Rahmen einer Grobprüfung nach Art. 4 EBI-VO zu klären, ob diese Ansicht angesichts der unionalen Zuständigkeitsordnung ansatzweise objektivierbar ist oder aber offenkundig Unzuständigkeit der Union vorliegt.162 Ist die Initiative erfolgreich, erfolgt die zuständigkeitsrechtliche Feinprüfung nach Art. 10 EBI-VO, wobei jeder von der Kommission ins Auge gefasste Rechtsaktvorschlag dem Maßstab von Art. 13 Abs. 2 EUV genügen muss. Rechtsakte der Union sind jedenfalls die in Art. 288 AEUV aufgeführten Rechtsakte, aber auch ungekennzeichnete Rechtsakte.163 Nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung liegt keine Beschränkung auf Gesetzgebungsakte i. S. d. Art. 289 Abs. 3 AEUV vor.164 Weil es sich um einen Rechtsakt der Union handeln muss, ist im Lichte des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) zu fordern, dass der Union in ihren Grundlagenverträgen, d. h. im EUV und AEUV (Art. 1 Abs. 3 EUV), oder sonst in ihrem Primärrecht (z. B. in einem Beitrittsvertrag) eine Zuständigkeit zum Erlass eines derartigen Rechtsakts eingeräumt ist, also dieser in ihre Verbandskompetenz fällt. 160
Vgl. supra bei Anm. 75. Im Lichte des Art. 11 Abs. 4 EUV erscheint es unproblematisch, dass eine Bürgerinitiative auch auf die Abschaffung eines Sekundärrechtsakts gerichtet ist; vgl. in diesem Sinne Obwexer/Villotti (Anm. 35), 116; a. M. Isak (Anm. 35), 188. Der Begriff der „Umsetzung“ der Verträge sollte nicht nur im Sinne einer (Neu)Setzung von Rechtsakten verstanden werden. Im Übrigen könnte eine derartige enge Lesart mit der Folge der Unzulässigkeit einer auf formelle Derogation eines Rechtsakts zielenden Initiative kaum verhindern, dass zur Erzielung eines vergleichbaren Effekts der Erlass eines neuen, dem ungeliebten Rechtsakt materiell derogierenden Rechtsakts initiiert wird. 162 Vgl. in diese Richtung auch Epiney (Anm. 54), 48, die lediglich fordert, dass der Union grundsätzlich die Kompetenz zur Regelung der jeweiligen Materie zusteht. Unschädlich sei deshalb, dass manche der in der Initiative angesprochenen Aspekte diesen Anforderungen nicht genügten, da die Kommission den Vorschlag ohnehin präzisieren müsse. 163 Vgl. statt aller Werner Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2. Aufl. 2011, § 6 Rn. 11, 20; vgl. zur Bürgerinitiative Epiney (Anm. 54), 47; Guckelberger (Anm. 5), 752; Piesbergen (Anm. 35), 256. 164 Vgl. dazu noch infra b). 161
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Daraus folgt etwa, dass Bürgerinitiativen, die auf einen Rechtsakt zielen, der (ausschließlich) auf Basis des Euratom-Vertrags zu erlassen ist und dementsprechend nicht in die Verbandskompetenz der Union fällt, nicht durch Art. 11 Abs. 4 EUV gedeckt sind, obschon das Vorschlagsrecht für solche Rechtsakte grundsätzlich auch bei der Kommission liegt. Denn ein reiner Euratom-Rechtsakt wäre eben kein „Rechtsakt der Union“. Aber auch innerhalb der Grenzen der Verbandskompetenz der Union ist der Art der Zuständigkeit, welche die Verträge der Union einräumen, Rechnung zu tragen (vgl. Art. 2–6 AEUV), da sie den Rahmen determiniert, „in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen“. Demzufolge ist die Zulässigkeit einer Bürgerinitiative nur in Zusammenschau mit den jeweiligen konkreten Ermächtigungsnormen in den Verträgen beurteilbar. So hat die Union z. B. grundsätzlich keine Zuständigkeit für Rechtsangleichungsmaßnahmen im Gesundheitsbereich (Art. 6 lit. a und 168 AEUV). Sofern ihr aber gem. Art. 168 Abs. 4 AEUV beschränkte Harmonisierungskompetenzen zukommen,165 ist eine Bürgerinitiative jedenfalls zulässig und kann die Kommission veranlassen, einen Harmonisierungsvorschlag vorzulegen. Jedoch ist darüber hinaus auch im sonstigen Gesundheitsbereich eine Bürgerinitiative selbstverständlich möglich, wenn und soweit verbindliche, aber nicht-harmonisierende Rechtsakte zur Bekämpfung weit verbreiteter schwerer grenzüberschreitender Krankheiten oder zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch (Art. 168 Abs. 5 AEUV) initiiert werden.166 Gedeckt wären schließlich Initiativen im Gesundheitsbereich ganz allgemein, wenn etwa der Erlass von Empfehlungen zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten angestrebt wird, denn diese sind gem. Art. 6 i. V. m. Art. 168 Abs. 6 AEUV für alle in dem Artikel genannten Zwecke zulässig. Wiewohl unverbindlich, ist die Empfehlung gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV nichtsdestotrotz ein Rechtsakt der Union und zeitigt auch gewisse Rechtswirkungen.167 Gerade in einer kompetenzrechtlichen Gemengelage wie im Gesundheitsbereich, die in ihrer Komplexität für das Unionsrecht freilich nicht untypisch ist, zeigt sich die Wichtigkeit der Unterscheidung der zuständigkeitsrechtlichen Grobprüfung in der Registrierungsphase und der Feinprüfung vor der Erstattung von Rechtsaktvorschlägen durch die Kommission. Es wird nämlich in der Praxis u. U. anfänglich nicht leicht fallen zu beurteilen, inwieweit ein zur Registrierung vorgelegtes gesundheitspolitisches Bürgeranliegen durch die Verbandskompetenz der Union im Einzelnen gedeckt ist. Gleichzeitig könnte eine Initiative im Gesundheitsbereich in den allermeisten Fällen zumindest zu einer Empfehlung der Kommission führen, ggf. auch zu einem verbindlichen, wenn auch nicht-harmonisierenden Rechtsakt.168 In derartigen 165 Betreffend Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Organe, Substanzen menschlichen Ursprungs und Blut(derivate) sowie für Arzneimittel und Medizinprodukte und betreffend Maßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pfl anzenschutz zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung. 166 Vgl. Obwexer/Villotti (Anm. 35), 116. 167 Vgl. statt aller Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 288 AEUV Rn. 144 ff. 168 Etwa zur Schaffung von Förderinstrumenten oder zur Einrichtung von Überwachungs- oder Beobachtungsstellen; vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die Verordnung (EG) Nr. 1920/2006 über die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, ABl. 2006 L 376/1.
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Konstellationen dürfte es nur selten zur Verweigerung der Registrierung kommen. In den rechtlichen Schlussfolgerungen im Rahmen des Überprüfungsverfahrens wird die Kommission dann darzulegen haben, inwiefern zuständigkeitsrechtlich problematische Initiativen durch conversio pro cive in primärrechtskompatible Bahnen gelenkt werden können.
b) Handeln der Kommission „im Rahmen ihrer Befugnisse“ (Organkompetenz) Insofern die Bürgerinitiative eine Aufforderung an die Kommission darstellt, „im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge“ in Hinblick auf den Erlass oder die Modifizierung von Unionsrechtsakten zu unterbreiten, ist damit keine besondere Beschränkung verbunden. Denn vermöge Art. 17 Abs. 2 EUV kommt der Kommission im Anwendungsbereich der Verträge eine grundsätzlich umfassende Zuständigkeit zur Erstattung von Rechtsaktvorschlägen zu.169 Demgegenüber muss die Zulässigkeit einer Bürgerinitiative namentlich für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wo die Verträge das Initiativrecht für Unionsrechtsakte den Mitgliedstaaten und dem Hohen Vertreter vorbehalten, verneint werden.170 Weiters stellt sich die Frage, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen der Kommission aufgrund der Verträge ein Entscheidungsrecht zukommt. Art. 11 Abs. 4 EUV spricht ja davon, dass die Bürgerinitiative darauf zielt, die Kommission dazu anzuhalten, „geeignete Vorschläge . . . zu unterbreiten“. Dies zeugt von ihrem Charakter als Instrument der Beteiligung der Bürger im unionalen Gesetzgebungsverfahren, das die Kommission typischerweise mit einem Legislativvorschlag in Gang setzt und damit EP und Rat als Gesetzgeber und damit Entscheidungsträger auf den Plan ruft (Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 EUV). Ist die Rollenverteilung anders und sind der Kommission Entscheidungsbefugnisse eigeräumt, ist zu unterscheiden. Keine grundsätzlichen Bedenken bestehen, Bürgerinitiativen im Bereich der delegierten oder Durchführungsrechtssetzung, also beim Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter, zuzulassen, auch wenn die Kommission in diesen Fällen zur Beschlussfassung über den Rechtsakt berufen ist (Art. 290 f. AEUV). Denn in diesen Fällen schließt das Entscheidungsrecht der Kommission ein Selbstbefassungs- und damit ein Vorschlagsrecht zum Erlass eines Unionsrechtsakts ein.171 Dagegen kommt eine Bürgerinitiative, die die Kommission etwa zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens anhalten will, nicht in Frage, da die Initiative diesfalls nicht auf einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge zielt.172 169 Zur Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und sonstigen Rechtsakten in Zusammenhang mit Art. 17 Abs. 2 EUV vgl. bereits supra Anm. 72. 170 Vgl. insb. Art. 30 EUV; vgl. Obwexer/Villotti (Anm. 35), 116; Editorial Comments (Anm. 5), 935; Piesbergen (Anm. 35), 260. Insoweit Art. 30 Abs. 1 EUV vorsieht, dass Vorschläge dem Rat auch vom Hohen Vertreter „mit Unterstützung der Kommission“ unterbreitet werden können, liegt kein dem Art. 17 Abs. 2 EUV vergleichbares Vorschlagsrecht vor, sondern nach Wortlaut des Vertrages lediglich eine unterstützende Tätigkeit der Kommission. 171 So im Ergebnis auch, obschon mit anderer Begründung, Piesbergen (Anm. 35), 256. 172 Vgl. in diesem Sinne auch Guckelberger (Anm. 5), 752; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 41.
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3. Sekundärrechtlich verankerte inhaltliche Schranken der Bürgerinitiative Gem. Art. 4 Abs. 2 lit. c und d EBI-VO hat die Kommission vor Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative auch zu überprüfen, ob diese „nicht offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös“ ist oder „nicht offenkundig gegen die Werte der Union, wie sie in Artikel 2 EUV festgeschrieben sind“, verstößt. Der Unionsgesetzgeber hat also – und zwar im Gegensatz zu den vorhin erörterten zuständigkeitsrechtlichen Schranken bar einer unmittelbaren primärrechtlichen Grundlage – mehrere inhaltliche Kriterien, gleichsam „Qualitätsstandards“, aufgestellt, an denen die Kommission Bürgerinitiativen schon in der Registrierungsphase zu messen hat. Bezeichnenderweise sind diese materiellen Zulässigkeitsschranken jedoch bislang kaum thematisiert worden.173 Dies mag u. a. dem Umstand geschuldet sein, dass die EBI-VO erst im Februar 2011 verabschiedet wurde und gerade in diesem Punkt gegenüber dem Verordnungsentwurf noch nennenswerte Abänderungen erfahren hat.174 Die Untersuchung dieser materiellen Schranken ist aber in hohem Maße angezeigt, weil zu vermuten steht, dass damit für die Zukunft besonderes Konfl iktpotenzial geschaffen ist.
a) Offenkundiger Verstoß gegen die Werte der Union Wie bei der Zuständigkeitsprüfung erlegt der Unionsgesetzgeber der Kommission auf, die Registrierung nur bei einem „offenkundigen“175 Verstoß gegen die Werte 173 In Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 50 werden die Gründe für eine Nichtregistrierung einer Bürgerinitiative nur erwähnt; vgl. ebenso Obwexer/Villotti (Anm. 35), 114 noch zu Art. 4 Abs. 3 und 4 des Verordnungsentwurfs. Isak (Anm. 35), 181 hält im Blick auf diese Bestimmungen lediglich fest, dass einerseits „[d]ie Konformität mit den Unionswerten . . . an Art 2 EUV und seiner Ausformung in einschlägigen Dokumenten und Initiativen der Union zu messen sein“ wird und dass andererseits bezüglich Missbräuchlichkeit und Ernsthaftigkeit der Initiative „jeweils eine Einzelprüfung zu erfolgen“ haben werde. Vgl. nunmehr auch die punktuellen Ausführungen in Clemens Lintschinger, Die Europäische Bürgerinitiative, 2012, 23. 174 Vgl. dazu sogleich im Text. Überhaupt ist bemerkenswert, dass etwa die zehn Leitfragen des Grünbuchs der Kommission (Anm. 5) nur Verfahrensaspekte betrafen. Konsequenterweise spricht das Grünbuch auch nur von einem Kriterium der Zulässigkeit, nämlich dem zuständigkeitsrechtlichen (ibid., 12/14). Abgesehen von knappen Bezugnahmen in der Entschließung des EP (Anm. 5), T, 3. Spielstrich und Empfehlung Nr. 5)b), wonach darauf abgestellt werden solle, „dass der geforderte Rechtsakt nicht offensichtlich gegen die grundlegenden Rechtsvorschriften der Union verstößt“, und in der Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Anm. 5), Nr. 4.12.4 (mit dem Vorschlag eines Systems gelber und roter Karten, um den Initiatoren relativ früh signalisieren zu können, „dass ihre Initiative eventuell nicht zulässig ist, etwa aufgrund . . . eines klaren Verstoßes gegen Grundrechte“), treten inhaltliche Schranken für die Bürgerinitiative tatsächlich erstmals im Verordnungsentwurf der Kommission, also relativ spät (März 2010) auf den Plan; vgl. dazu auch Outcome Paper of the Public Consultation on the Green Paper on a European Citizens’ Initiative, SEC(2010) 370, 31. 3. 2010, 6 („in order to prevent the launching of initiatives that would be contrary to the values of the Union or the Charter of Fundamental Rights“). Und auch zu diesem Zeitpunkt wurde zwar eingehend der Zeitpunkt der Zulässigkeitsprüfung thematisiert, nicht aber ihr Inhalt; vgl. Verordnungsvorschlag (Anm. 5), 4 sowie Erwägungsgrund 8, der indes in der relevanten Passage nicht in die Endfassung der EBI-VO übernommen wurde. 175 Engl. „manifestly contrary to the values of the Union“; franz. „manifestement contraire aux valeurs de l’Union“. Vgl. dagegen noch den Abänderungsvorschlag des Ausschusses für bürgerliche Frei-
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der Union zu verweigern. Damit ist für die Registrierungsphase in der Frage der Prüfdichte die oben angesprochene Grobprüfung angeordnet. Dazu kommt, dass der Prüfmaßstab, der im vorigen Fall ja noch das Gesamt der zuständigkeitsrechtlichen Normen erfasste, nicht alle materiell-primärrechtlichen Normen (z. B. die einzelnen Unionsgrundrechte) einschließt, sondern bloß einen Teil davon, nämlich die „Werte der Union“. Daraus ergeben sich verschiedene Folgerungen: Was zunächst die Bedeutung der Wortfolge „Werte der Union“ anlangt, stellt Art. 4 Abs. 2 lit. d EBI-VO eine ausdrückliche Verbindung zu Art. 2 EUV her, wo seit dem Vertrag von Lissabon die Werte der Union verankert sind. Dabei stellt sich die Frage, ob damit lediglich eine Bezugnahme auf die in S. 1 des Art. 2 genannten Werte erfolgt, „auf die sich die Union gründet“ (Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören), oder ob der Verweis auch S. 2 mitumfasst. Dort sind bei genauerem Besehen nämlich nicht unmittelbar Werte der Union verankert, sondern es heißt, dass die in S. 1 aufgeführten Werte176 „allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam [sind], die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“. Daraus wird hinsichtlich anderer Vertragsvorschriften, die ebenfalls einen Verweis auf die Werte der Union beinhalten (vgl. Art. 3, 7, 49 EUV), abgeleitet, dass mit den „Werten der Union“ nur die in Art. 2 S. 1 EUV aufgezählten sechs Werte erfasst sind.177 Diese Auffassung ist auch auf Art. 4 Abs. 2 lit. d EBI-VO übertragbar, obschon dort ohne weitere Differenzierung auf Art. 2 EUV als ganzen verwiesen wird. Im Ergebnis dürfte die Frage aufgrund der wechselseitigen Verflochtenheit der Werte ohnehin mehr akademischer Natur sein. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Initiative als offenkundiger Verstoß gegen die in S. 2 genannten Werte eingeordnet wird, ohne dass zugleich auch ein offenkundiger Verstoß gegen Elemente des Wertekanons des S. 1 vorliegt. In inhaltlicher Hinsicht ist die Kommission also aufgerufen, eine geplante Bürgerinitiative bei der Entscheidung über deren Registrierung nur dahingehend zu untersuchen, ob sie nicht offenkundig gegen die Werte der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich Minderheitenrechten verstößt. Dies ist wohl eine weniger strenge Prüfung als eine solche, die schon einen offenkundigen Verstoß gegen ein einzelnes Grundrecht oder eine sonstige spezifische Verbürgung des Primärrechts mit der Sanktion der Nichtregistrierung belegen würde. Analog dazu ist Grundlage für das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV nicht schon jeder Verstoß gegen das Primärrecht, der lamentabile dictu von Zeit zu Zeit in einer Mitgliedschaft in der Union vorkommen wird, sondern bloß eine „schwerwiegende“ (und gem. Abs. 3 zusätzlich heiten, Justiz und Inneres, A7–0350/2010, 141 („richtet sich nicht gegen die Werte der Union“), der so verstanden wird, „dass Vorschläge, die entweder offenkundig oder verdeckt gegen die Werte der Europäischen Union gerichtet sind, für unzulässig erklärt werden sollten“ (ibid., 126; Hervorhebung der Verf.). 176 Arg. „diese Werte“ am Anfang von S. 2, der sich somit auf die Aufzählung in S. 1 rückbezieht. 177 Vgl. etwa Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 2 EUV Rn. 8; Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 7 EUV Rn. 4; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV 4 (2011), Art. 49 EUV Rn. 9; differenzierend Ohler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 49 EUV Rn. 16.
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auch noch „anhaltende“) „Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte“. Ebenso ist Voraussetzung für die Eröffnung des Beitrittsverfahrens nicht Primärrechtskonformität der Rechtsordnung des künftigen Mitgliedstaats in jedem Einzelaspekt, sondern dass der betreffende Staat „die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt“ (Art. 49 Abs. 1 EUV). Daraus wird man auch für die Zwecke der Bürgerinitiative ableiten können, dass der Widerspruch einer geplanten Initiative zu einem einzelnen Unionsgrundrecht die Initiative nicht ipso facto unzulässig macht, es sei denn, der Widerspruch ist als so gravierend anzusehen, dass damit gleichzeitig ein offenkundiger Verstoß gegen die „Achtung der Menschenwürde“ oder die „Wahrung der Menschenrechte“ gegeben ist. Mit der Wahl der Werte der Union als Prüfmaßstab (und nicht der materiellen Verbürgungen des Primärrechts insgesamt) hat der Unionsgesetzgeber – diesbezüglich ganz i. S. d. Art. 11 Abs. 4 EUV, der Bürgerinitiativen keine derartigen materiellen Schranken auferlegt – u.E. dafür optiert, Initiativen großzügig ins Stadium des Sammelns von Unterstützungsbekundungen zu entlassen, um sich im direktdemokratischen Prozess zu bewähren. Nur offenkundig wertewidrige Initiativen sind von vornherein auszuscheiden, denn diese sind schon prima facie ungeeignet, einen Kommissionsvorschlag für einen Rechtsakt der Union anzustoßen, und können sich deshalb nicht auf Art. 11 Abs. 4 EUV berufen. Anderfalls sind sie zu registrieren. Von der generell walten zu lassenden Großzügigkeit ist auch kein nennenswerter Schaden zu befürchten: Bei mangelndem Erfolg der Initiative hat sie sich ohnehin erledigt. Erreicht sie dagegen die nötige Mindestzahl an Unterschriften, steht die Feinprüfung durch die Kommission nach Art. 10 Abs. 1 lit. c EBI-VO an, die nur zu primärrechtskonformen Vorschlägen führen kann. Stellt sich dabei heraus, dass ein Initiativanliegen, das trotz seines grundrechtlich problematischen Charakters die Registrierungsphase passiert hat, etwa mit den Grundrechtsverbürgungen nach Art. 6 EUV nicht versöhnbar ist, so hat die Kommission dies in ihren rechtlichen Schlussfolgerungen auszuführen und daraus bereits aus rechtlichen Gründen den „Verzicht auf ein weiteres Vorgehen“ abzuleiten. Eine ausführliche Begründung ist in diesem Fall aber besonders angezeigt, da das Passieren der Millionengrenze immerhin belegt, dass es sich dabei um das Anliegen zwar einer Minderheit, aber dennoch bemerkenswerten Zahl von Bürgerinnen und Bürgern handelt. Eine weitere Klärung in Bezug auf die von der Kommission bei der Registrierung vorzunehmende Prüfung ergibt sich aus dem Vergleich mit der Parallelvorschrift im Verordnungsentwurf, wo noch vom Ausschlusskriterium einer „eindeutigen Ausrichtung gegen die Werte der Union“ die Rede war.178 Die Änderung kam auf Initiative des EP zustande, aber ohne dass eine genauere Begründung dafür erkennbar wäre.179 Begrüßenswert ist im Vergleich zur Vorfassung jedenfalls die Beseitigung 178
Vgl. Art. 4 Abs. 4 des Verordnungsentwurfs (Anm. 5), 13. Vgl. Abänderungsantrag 32 des Ausschusses für konstitutionelle Fragen zu Art. 4 Abs. 3 des Verordnungsentwurfs, A7–0350/2010, 75, den gleichlautenden Abänderungsantrag 30 des Petitionsausschusses (ibid., 77); vgl. aber den abweichenden Abänderungsantrag 27 des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (ibid., 140) („[die Bürgerinitiative] richtet sich nicht gegen die Werte der Union“). Für keinen der drei Abänderungsanträge wird eine Begründung gegeben, die die Motive für die Anträge erkennen ließe (abgesehen von den ephemeren Hinweisen ibid., 54 und 126). Die Umformulierung der Kriterien steht aber in unmittelbarem Zusammenhang mit der vom EP angestrebten – 179
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der subjektiven Note, welche die Kommission dazu angehalten hätte, im Rahmen der Registrierungsentscheidung zu beurteilen, ob eine Beschneidung der Werte der Union intendiert gewesen wäre. Zu diesem Zweck hätte sie auch beurteilen müssen, wessen Intention dabei entscheidend sein soll: jene der Organisatoren, vielleicht aber auch die vermutete Intention potenzieller Unterzeichner, die indes in diesem Verfahrensstadium noch gar nicht auftreten. Nach der verbindlich gewordenen Fassung der Verordnung hat die Kommission dagegen auf Basis der ihr vorgelegten Informationen180 objektiv zu prüfen, ob eine geplante Bürgerinitiative offenkundig gegen die Werte der Union verstößt.
b) Offenkundig missbräuchlicher, unseriöser oder schikanöser Charakter Wie bereits erwähnt, verlangt Art. 4 Abs. 2 lit. c EBI-VO darüber hinaus, dass geplante Bürgerinitiativen nicht offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös sind.181 Damit modifiziert der endgültige Verordnungstext einmal mehr den Kommissionsvorschlag, der noch die Nichtregistrierung von Initiativen vorsah, wenn diese „mit Grund als unangemessen angesehen werden können, weil sie missbräuchlich sind oder es ihnen an Ernsthaftigkeit fehlt“.182 Wiederum geht die Abänderung auf das EP zurück, und wiederum lassen sich die Gründe dafür nicht eindeutig eruieren.183 Bezüglich des Kriteriums der „Offenkundigkeit“ und der damit einhergehenden Beschränkung auf eine bloße Grobprüfung ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Im Übrigen verdienen die drei normierten Ausschlusskriterien jeweils einige Bemerkungen:
und in der Folge auch erreichten – Verschmelzung von Registrierungs- und Zulässigkeitsphase und damit vom Übergang vom drei- zum zweistufigen Verfahren der Bürgerinitiative (vgl. dazu supra II.A.2). 180 Vgl. supra Anm. 158. 181 Die englische Fassung normiert, dass die Bürgerinitiative „not manifestly abusive, frivolous or vexatious“ zu sein hätte. Im Französischen heißt es, sie dürfe nicht „manifestement abusive, fantaisiste ou vexatoire“ sein. 182 Vgl. Art. 4 Abs. 3 des Verordnungsentwurfs (Anm. 5), 13; engl. „which can be reasonably regarded as improper because they are abusive or devoid of seriousness“; franz. „qui peuvent raisonnablement être considérées comme irrecevables, parce qu’elles sont injurieues ou dénuées de sérieux“. 183 Vgl. Abänderungsantrag 32 des Ausschusses für konstitutionelle Fragen zu Art. 4 Abs. 3 des Verordnungsentwurfs, A7–0350/2010, 75 („nicht offenkundig missbräuchlich, leichtfertig oder schikanös“, wobei für „leichtfertig“ [in der EBI-VO nunmehr „unseriös“] engl. „frivolous“ und franz. „frivole“ steht); vgl. des weiteren den gleichlautenden Abänderungsantrag 30 des Petitionsausschusses (ibid., 77) sowie den abweichenden Abänderungsantrag 27 des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (ibid., 140) („[die Bürgerinitiative] kann nicht mit triftigen Gründen als unangemessen angesehen werden, weil sie missbräuchlich ist oder es ihr an Ernsthaftigkeit fehlt“). Für keinen der drei Abänderungsanträge wird eine Begründung gegeben, die die Motive für die Abänderung in diesem Punkt erkennen ließe. Auf Bedenken hinsichtlich des (vom EuGH freilich durchaus großzügig gehandhabten) Mindestmaßes an erforderlicher Bestimmtheit der Unionsgesetzgebung, die hier und noch mehr bei den anderen beiden Ausschlusskriterien auf kommen mögen, kann nicht weiter eingegangen werden; vgl. hierzu allg. Harald Eberhard, Das Legalitätsprinzip im Spannungsfeld von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Stand und Perspektiven eines „europäischen Legalitätsprinzip“, 63 ZöR (2008), 49, 65 und 86 ff.
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(i) missbräuchlich: Das Missbräuchlichkeitskriterium ist das einzige unter den dreien, das in dieser Form bereits im Verordnungsvorschlag der Kommission enthalten war.184 Allerdings ist es nunmehr durch das Erfordernis der Offenkundigkeit qualifiziert. Die EBI-VO selbst nennt jedoch keine Kriterien, wie die Kommission die (offenkundige) Missbräuchlichkeit einer geplanten Bürgerinitiative zu prüfen hätte.185 Als möglicher Vergleichspunkt in den Verträgen kommt die Figur des Rechtsmissbrauchs oder des abus de droit in Frage, wie sie etwa in dem mit „Verbot des Missbrauchs der Rechte“186 überschriebenen Art. 54 GRC, der Art. 17 EMRK nachgebildet ist187, ihren Niederschlag gefunden hat. Dementsprechend ist keine Bestimmung der GRC „so auszulegen, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist“. Solche Regelungen betreffend den Missbrauch von Grundrechten sind Ausdruck des „wehrhaften“ Rechtsstaates, der „wehrhaften“ Demokratie.188 Dementsprechend könnte man argumentieren, dass denjenigen Initiativen die Registrierung zu verweigern sein wird, die offenkundig auf die Beseitigung oder Aushöhlung der Grund(rechts)ordnung der Verträge gerichtet sind. Soweit man die Parallele zu Art. 54 GRC und Art. 17 EMRK ziehen kann, wird jedoch auch besonders die Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung und Handhabung des Missbrauchskriteriums betont. Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass soweit der Missbrauchsschutz schon durch andere Verbürgungen wahrgenommen werden kann, diese vorrangig zu beanspruchen sind.189 Angewendet auf den Fall des Art. 4 Abs. 2 lit. c EBI-VO könnte man daraus ableiten, dass soweit als möglich mit dem objektiven Kriterium des offenkundigen Verstoßes gegen die Werte der Union gearbeitet werden sollte, bevor auf die Missbrauchsprüfung zurückgegriffen wird. Dazu kommt, dass der EuGH dem Argument der Mitgliedstaaten, gewisse Handlungen der Rechtsunterworfenen stellten eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme der Grundfreiheiten dar und seien daher unzulässig, mit ausgesprochener Zurückhaltung begegnet.190 Im Lichte dessen muss man sich fragen, worin die eigen184 Vgl. dort auch den allgemeinen Hinweis, dass „einige Anforderungen [an die Bürgerinitiative] notwendig sind, damit das Instrument glaubwürdig bleibt und nicht missbraucht wird“; Verordnungsvorschlag (Anm. 5), 3. 185 Vgl. zur Missbrauchsproblematik bei der Bürgerinitiative, indes in anderem Zusammenhang Piesbergen (Anm. 35), 204. 186 Engl.: „prohibition of abuse of rights“; franz.: „interdiction de l’abus de droit“; vgl dazu die analoge Terminologie in Art. 4 Abs. 2 lit. c der EBI-VO. 187 Vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, Art. 54, ABl. 2007 C 303/17; vgl. dazu auch Art. 30 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 5 Abs. 1 des UNO-Menschenrechtspaktes II. 188 Siehe dazu etwa die st.Rsp. des EGMR zu Art. 17 EMRK; vgl. Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl 2012, § 18 Rn. 3 m. w. N. 189 Vgl. Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 54 GRC Rn. 2; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 54 GRC Rn. 3 m. w. N. 190 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459; Rs. C-109/01, Akrich, Slg. 2003, I-9607; Schroeder (Anm. 163), § 14 Rn. 14 f., 108, 138, 163, 183. Zur Rsp. des Gerichtshofs zum Rechtsmissbrauch, insb. dem dabei zu prüfenden objektiven und subjektiven Element, vgl. etwa Rs.
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ständige Bedeutung des Missbrauchskriteriums191 gegenüber jenem der Verletzung der Werte der Union besteht und weshalb man nicht mit diesem das Auslangen finden kann. Dies nährt Zweifel an dem in der EBI-VO normierten Missbrauchskriterium. Es zeugt von einem paternalistischen Zug in der Ausgestaltung der Bürgerinitiative durch den Unionsgesetzgeber, der trotz des ihm dabei zuzugestehenden weiten legislativen Gestaltungsspielraums problematisch erscheint. Darin wird ein Misstrauen direktdemokratischer Partizipation gegenüber manifest, das sich so in der primärrechtlichen Verankerung der Bürgerinitiative in Art. 11 Abs. 4 EUV nicht findet.192 Diesbezüglich hat gerade der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss besondere Sensibilität bewiesen, indem er sehr wohl anerkennt, dass „sich extremistische Gruppierungen der vorhandenen Kanäle der Meinungsbildung bedienen und diese für ihre eigenen Zwecke (miss)brauchen“, aber zugleich betont, dass eine „moderne repräsentative Demokratie . . . darauf angelegt sein [muss], auch unbequeme, ja sogar extremistische Anliegen offen und transpartent diskutieren zu können“.193 Was das Missbrauchskriterium anlangt, empfiehlt sich für die Kommission jedenfalls, diesen Grund für die Nichtregistrierung einer Bürgerinitiative, wenn überhaupt, nur in Extremfällen zu beanspruchen, wo nachvollziehbar begründet werden kann, dass mit dem „Wertetest“ als Korrektiv kein befriedigendes Ergebnis erzielt werden kann. Alternativ ist denkbar, das ein „Missbrauch“ des Instruments der Bürgerinitiative durch mehrfach bzw. mutwillige Einreichung derselben (unzulässigen) Initiative verwirklicht wird. Es käme dann aber diesbezüglich wohl zu einer erheblichen Überlappung mit dem sogleich zu behandelnden Schikanekriterum, wobei in der Handhabung dieses Ausschlussgrundes jedenfalls äußerste Zurückhaltung zu üben sein wird. (ii) unseriös: Während sich für das Missbräuchlichkeitskriterium gewisse Parallelen in anderen Bereichen ausmachen lassen, fällt dies beim Kriterium der „Unseriosität“ ungleich schwerer. Nachdem im Verordnungsentwurf noch von Initiativen die Rede war, denen es „an Ernsthaftigkeit“ fehlt, scheint der Anwendungsbereich des Ausschlusskriteriums in der Endversion der Verordnung enger gefasst zu sein,194 und dies wird
C-110/99, Emsland-Stärke, Slg. 2000, I-11569, Rn. 52 f. sowie zuletzt Rs. C-364/10, Ungarn/Slowakei, Schlussanträge von GA Bot vom 6. 3. 2012, Rn. 63. 191 Vgl. zum davon zu unterscheidenden Problem fi nanziellen Missbrauchs im Rahmen der Bürgerinitiative etwa Grünbuch (Anm. 5), 12 f. sowie Erwägungsgrund 10 und Art. 4 Abs. 1 UAbs. 3 und Art. 9 EBI-VO. 192 Siehe aber Art. 9 EUV, wo von der Gleichheit der Unionsbürger die Rede ist, „denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird“; vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 9 EUV Rn. 22, 26; vgl. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 10 EUV Rn. 7, der bezüglich der Parallelvorschrift des Art. I-45 Verf V von „paternalistischen Untertöne[n]“ spricht, aber davon auszugehen scheint, dass der Norminhalt nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen wurde; vgl. auch Isak (Anm. 35), 150, n. 20. 193 Stellungnahme (Anm. 5), Nr. 4.4.7. 194 Dies mag in der deutschen Fassung nicht so deutlich sein, wo „unseriös“ durchaus als Synonym für „an Ernsthaftigkeit fehlen“ angesehen werden kann. Erkennbar ist die Einengung des Ausschluss-
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durch das Erfordernis der Offenkundigkeit des unseriösen Charakters der Initiative noch verstärkt. Was hier noch mehr ins Auge tritt als zuvor sind die bevormundenden Tendenzen der Bestimmung. Man tut sich wahrlich nicht leicht, im übrigen Unionsrecht einen Hinweis zu fi nden, dass die Initiativen oder Handlungen unionaler Organwalter hinsichtlich ihrer Ernsthaftigkeit zu prüfen wären. Deren Vorschläge sind offensichtlich a priori, sozusagen aufgrund der „Würde“ von Amt und Funktion oder der damit in Verbindung gebrachten Fachkompetenz, als ernsthafte Betätigung anzusehen. Die Bürger aber, so suggeriert Art. 4 Abs. 2 lit. c EBI-VO, müssen eine solche Qualifizierung zuerst durch „seriöses“ Gebaren verdienen. Im Lichte der Zwecks von Art. 11 Abs. 4 EUV, ein echtes direktdemokratisches Element in die Verträge einzuführen, erscheint das Ausschlusskriterium der Unseriösität als rundweg problematische Bestimmung, die von der Kommission primärrechtskonform dahingehend ausgelegt werden sollte, dass ihr ein realistischer Anwendungsbereich verwehrt bleibt. Angesichts der überschaubaren Kosten, die im Anfangsstadium einer Bürgerinitiative anfallen,195 dürfte sogar die Behandlung von regelrechten „Spaßinitiativen“196 durch die zuständigen Kommissionsstellen keine wesentlichen Probleme verursachen. Es wird in aller Regel zu erwarten sein, dass derartige Initiativen im Unterschriftensammelstadium schnell versanden.197 Sollten sie aber, aus welchen Gründen auch immer, die nötige Zahl an Unterstützungsbekundungen erreichen, wäre dies gerade ein Beleg dafür, dass der Anlass für die Kommission, sich mit derartigen Initiativen ihrerseits „ernsthaft“ auseinanderzusetzen, durchaus gegeben wäre. Ist dem Zuständigkeitserfordernis im Sinne einer Grobprüfung Genüge getan, erscheint die Nichtregistrierung einer Bürgerinitiative nicht akzeptabel, solange nicht die Rechte anderer oder wichtige öffentliche Interessen durch das betreffende Initiativanliegen qualifiziert gefährdet sind. Derartige Konstellationen müssten aber mit dem Kriterium des offenkundigen Verstoßes gegen Art. 2 EUV oder allenfalls auch noch mit dem Missbräuchlichkeitskriterium bewältigbar sein. (iii) schikanös: Ganz ähnlich gestaltet sich die Lage beim dritten der Kriterien, das im Verordnungsvorschlag noch nicht enthalten war. Wenn der Unionsgesetzgeber Initiativen ausgeschlossen sehen möchte, die „schikanös“ (englisch: „vexatious“; französisch: „vexatoire“) sind, fragt sich natürlich, in Hinblick auf wen der schikanöse Charakter zu prüfen ist: andere Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die Mitgliedstaaten oder gar die Unionsorgane oder die Kommission selbst? Diese Bestimmung ist augenscheinlich eher vom Bild des latent lästigen, ja querulierenden Rechtsunterworfenen inspiriert als dem des Unionsbürgers, dem die Verkriteriums aber im Englischen (von „devoid of seriousness“ zu „frivolous“) und im Französischen (von „dénué de sérieux“ zu „fantaisiste“); vgl. dazu auch supra Anm. 183. 195 Aus Erwägungsgrund 18 und Art. 8 EBI-VO lässt sich entnehmen, dass die Überprüfung der Unterstützungsbekundungen durch die Mitgliedstaaten, die wohl den ressourcenintensivsten Teil des Verfahrens ausmacht, erst nach der Sammlung der nötigen Zahl an Unterschriften erfolgt. 196 Vgl. aber Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Anm. 5), Nr. 4.13.3, der für eine fi nanzielle Unterstützung von Bürgerinitiativen eintritt, aber aussichtslose oder „nicht ernst gemeinte Kampagnen“ davon ausschließen will. 197 Vgl. hiezu etwa das Schweizer Beispiel supra Anm. 16 und infra Anm. 200.
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träge das Recht zusprechen, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen (Art. 10 Abs. 3 EUV). Hier zeigt sich der paternalistische Zug der Ausgestaltung der Bürgerinitiative durch den Unionsgesetzgeber am deutlichsten, und daran ändert auch die Abschwächung durch das Erfordernis der Offenkundigkeit letztlich wenig. Wenn sich Spuren davon auch schon in Art. 9 EUV finden lassen,198 so kann Art. 11 Abs. 4 EUV dennoch nicht für die Verfolgung derartiger erzieherischer Zwecke durch den Unionsgesetzgeber herangezogen werden. Auch hier gilt, dass nichts dagegen spricht, auch lästig erscheinende Initiativanliegen ihren demokratischen Weg gehen zu lassen. Selbst bei mehrfacher (mutwilliger) Einreichung derselben (unzulässigen) Initiative kann mit einer Verweigerung der Registrierung aus Sachgründen (fehlende Organ- und Verbandskompetenz, Unvereinbarkeit mit den Werten der Union) regelmäßig das „Auslangen“ gefunden werden. Im Übrigen ist die Bürgerinitiative so weit wie möglich der Weisheit der Unionsbürger(innen) zu überantworten.
B. Materielle Schranken direktdemokratischer Partizipation im Schweizer Recht: Die „zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ Die Regelung der Europäischen Bürgerinitiative zeichnet sich, wie wir gesehen haben, vor allem durch Vorsicht aus – oder, um es pointierter zu formulieren, durch ein gewisses Misstrauen gegenüber den Unionsbürgern. Die materiellen Schranken für Volksinitiativen auf Teilrevision der Verfassung (auf welche sich die Ausführungen hier primär beziehen) waren demgegenüber in der Schweiz schon immer weit gefasst.199 Hier müssen die Anliegen der Bürger weder auf Missbräuchlichkeit noch schikanösen Charakter und erst recht nicht auf Ernsthaftigkeit geprüft werden.200 Auch ein Test der Verträglichkeit einer Volksinitiative mit Grundwerten der Schweizer Verfassung fi ndet nicht statt, von dem sogleich zu behandelnden, freilich rudimentären Prüfmaßstab des ius cogens einmal abgesehen. Für die Gültigkeit einer solchen Initiative auf Teilrevision wurden 1891 allein die Einheit der Form und die Einheit der Materie vorausgesetzt. Erstere bezog sich auf die Unterscheidung zwischen einer allgemeiner Anregung und einem ausgearbeiteten Entwurf: da diese Formen zu einem jeweils unterschiedlichen Verfahren füh-
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Vgl. supra Anm. 192. Zur Unterscheidung von Teil- und Totalrevision vgl. supra II.B. Die Verfassung sieht außerdem ein fakultatives Referendum vor (u. a. über Bundesgesetze und gewisse völkerrechtliche Verträge), das von 50’000 Stimmbürgern oder acht Kantonen verlangt werden kann (Art. 141 BV). Bei besonders wichtigen Fragen (u. a. bei Verfassungsänderungen, Beitritt zu supranationalen Organisationen oder Verteidigungsbündnissen, dringlichen Bundesgesetzen ohne Verfassungsgrundlage) fi ndet ein obligatorisches Referendum statt (Art. 140 BV). 200 Vgl. etwa die bereits erwähnte Initiative zur Entfernung von Hundekot (supra Anm. 16), oder auch die Initiativen „Für die Wiedereröffnung der Freudenhäuser“ (BBl 1983 III 1233), „Für eine Schweizer Armee mit Tieren (Brieftaubeninitiative)“ (BBl 1995 III 119), oder die Initiative „Hügelstadt Sonnenberg“, wonach Bundesrat und Parlament die Errichtung „landsparender und phantasievoller Siedlungen in Hügelform“ in die Wege leiten sollten (BBl 1989 I 1329). Alle diese Initiativen scheiterten bereits im Sammelstudium. 199
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ren, ist ihre Vermischung unzulässig.201 Die Einheit der Materie verlangte, dass nicht verschiedene Sachfragen vermengt und so die unverfälschte Willenskundgabe der Bürger verunmöglicht würde.202 Weitere inhaltliche Ungültigkeitsgründe wurden nicht genannt. Noch 1948 betonte der Bundesrat, die Volksinitiative ertrage keine inhaltlichen Einschränkungen. Sie könne „ihren Zweck nur erfüllen, wenn den Initianten in der Bestimmung des Inhalts volle Freiheit gelassen wird, im Vertrauen darauf, dass Volk und Stände bei der Abstimmung zum Rechten sehen werden.“203 In der Lehre wurden mögliche materielle Schranken der Verfassungsrevision jedoch schon zu jenem Zeitpunkt ausführlich diskutiert. Während ein Teil der Lehre die Existenz solcher Schranken gänzlich verneinte und dem Volk als Verfassungsgeber keinerlei sachliche Grenzen ziehen wollte,204 postulierte in der Folge eine Mehrheit materielle Grenzen für Volksinitiativen. Genannt wurden vor allem gewisse Grundwerte – wie der Schutz der Grundrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie –, völkerrechtliche Verpfl ichtungen oder die praktische Undurchführbarkeit eines Volksbegehrens.205 Die Bundesversammlung hat jedoch seit 1891 lediglich vier Volksinitiativen für ungültig erklärt. Zwei Initiativen verletzten die Einheit der Materie.206 Eine Initiative gegen Rüstungsausgaben wurde 1955 primär wegen faktischer Undurchführbarkeit und somit aufgrund einer ungeschriebenen materiellen Schranke für ungültig befunden.207 Bei Initiativen, die gegen völkerrechtliche Vertragspfl ichten verstießen, entschied die Bundesversammlung hingegen grundsätzlich zu Gunsten der Volksrechte.208 1994 beantragte der Bundesrat erstmals Ungültigkeit aufgrund völkerrechtlicher Bedenken, als er die Initiative „Für eine vernünftige Einwanderungspolitik“ nicht zur Abstimmung zulassen wollte, da sie gegen das Non-refoulement-Gebot und somit gegen zwingendes Völkerrecht verstoße.209 Mit Verweis auf Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention betonte der Bundesrat, ein Rechtsstaat könne „sich nicht über völkerrechtliche Normen hinwegsetzen, die international als elementare Bestimmungen zum Schutz fundamentalster Grundrechte und des humanitären Völ201
Vgl. zum Verfahren bei Totalrevision supra Anm. 107. Art. 121 aBV 1874; für die bundesrätliche Botschaft BBl 1890 III 455, 462. Vgl. für die aktuelle Fassung in Art. 139 Abs. 3 BV supra Anm. 99 und für Initiativen, welche die Einheit der Form verletzten, supra Anm. 35. 203 BBl 1948 III 919. Diskutiert wurde damals die Frage, ob das Parlament gegenstandslos gewordene Initiativen ohne Volksabstimmung erledigen dürfe. 204 Für eine Übersicht siehe Wildhaber (Anm. 109), Rn. 29–35. 205 Ibid., Rn. 39–53. 206 Volksinitiativen „Gegen Teuerung und Infl ation“ (BBl 1977 III 919) und insbesondere „Für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik“ (BBl 1995 III 570), bei welcher die Problematik schon im Titel ersichtlich ist: Stimmbürger, welche keine Ausgabenkürzung und trotzdem mehr Friedensbemühungen wollen, konnten ihren Willen nicht klar zum Ausdruck bringen. 207 „Vorübergehende Herabsetzung der militärischen Ausgaben (Rüstungspause)“ (BBl 1955 II 1463: Der von der Initiative gesetzte Zeitrahmen ließ sich taktisch nicht umsetzen; für Details siehe BBl 1955 I 527–533 und II 325–343). Die ebenfalls vorgesehene Teilungültigkeit einer Initiative (Art. 139 Abs. 3 BV) blieb bisher ohne praktische Relevanz. 208 Vgl. Schweizerischer Bundesrat, Botschaft über die Volksinitiativen „für eine vernünftige Asylpolitik“ und „gegen die illegale Einwanderung“ vom 22. 4. 1994, BBl 1994 III 1486, 1496. 209 Bundesrat, Botschaft Asylinitiative (Anm. 208), 1495. Die Initiative engte den Flüchtlingsbegriff ein und erklärte die Asylgewährung zu einem freiwilligen staatlichen Akt. Illegal eingereiste Ausländer sollten umgehend und ohne Prüfung etwaiger Gefährdung ausgeschafft werden (BBl 1991 I 106). 202
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kerrechts verstanden [würden] und die unabhängig von der Ratifi kation oder Kündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge einen für alle Rechtsstaaten verbindlichen Charakter [aufwiesen].“210 Die Bundesversammlung folgte der Empfehlung des Bundesrates und erklärte die Initiative für ungültig.211 In der „nachgeführten“ und aktuell in Kraft stehenden Verfassung von 1999212 wurde neben der Einheit der Materie und der Form nun auch die Einhaltung dieser „zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ explizit als materielle Verfassungsschranke für Volksinitiativen festgeschrieben. Die Regierung nannte als Beispiele für gewohnheitsrechtliches oder kodifiziertes ius cogens den Kern des humanitären Völkerrechts, das Gewaltverbot, das Aggressionsverbot, das Genozid- und Folterverbot sowie die notstandsfesten Rechte der EMRK.213 Verletzungen „einfachen“ Völkerrechts per Volksentscheid bleiben damit weiterhin zulässig. Die Anerkennung von unkündbaren völkerrechtlichen Verträgen als weitere materielle Schranke wurde im Parlament zwar diskutiert, aber letztlich verworfen.214 Seit Inkrafttreten der neuen Verfassung hat die Bundesversammlung noch keine Volksinitiative für ungültig erklärt, wenn auch bei der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative entsprechende Anträge gestellt wurden. Obwohl beide Initiativen offenkundig gegen internationale Verpfl ichtungen verstießen,215 entschied das Parlament (korrekterweise), dass keine zwingenden Normen des Völkerrechts verletzt würden.216 Somit bleibt es – bei insgesamt 293 zustandegekommenen Initiativen – bei vier Vorlagen, welche dem Volk nicht zur Abstimmung unterbreitet wurden.217 Dies spiegelt den überragenden Stellenwert wider, den die Schweizer Verfassung der direktdemokratischen Meinungsäußerung einräumt. Die Überprüfung durch die Bundesversammlung im eng begrenzten Rahmen wird als notwendiges Übel akzeptiert, jegliche richterliche oder sonstige Einmischung aber konsequent abgelehnt. Dabei mangelte es nicht an Vorschlägen, wie die Prüfungsbefugnis des Parlaments ergänzt werden könnte. Diskutiert wurden unter anderem eine parlamentarische Verfassungsdelegation, eine gemischte konsultative Kommission aus Experten und Parlamentariern oder eine reine Expertenkommission.218 Diese Alternativen wurden
210 Bundesrat, Botschaft Asylinitiative (Anm. 208), 1495–1496. Zu Art. 53 WVK siehe infra Anm. 281. 211 BBl 1996 I 1355. 212 Nachdem ein gänzlicher Neuentwurf von 1977 nicht umgesetzt wurde, beschloss das Parlament aus politischen Gründen, sich auf eine „Nachführung“ der Verfassung von 1874 zu beschränken (Bernhard Ehrenzeller, Konzept und Gründe der Verfassungsreform, Aktuelle Juristische Praxis (1999), 647, 648). Formell handelte es sich natürlich trotzdem um eine Totalrevision. 213 Schweizerischer Bundesrat, Botschaft über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 362, 433–434. 214 Ehrenzeller et al., Art. 139 (neu), in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 7. 215 Zum Kriterium der Offenkundigkeit in der EBI-VO vgl. supra III.A.3. 216 Zur Minarettinitiative siehe Amtliches Bulletin der Bundesversammlung [AB] Nationalrat [NR] I, 118–19 (2009) und AB Ständerat [SR] III 545 (2009) (der Nationalrat befand die Initiative mit 128 zu 53 Stimmen für gültig, der Ständerat mit 24 zu 16); zur Ausschaffungsinitiative siehe AB NR 2010 II 711 und AB SR 2010 (Gültigerklärung mit 118 zu 69 Stimmen im Nationalrat; der Ständerat sprach sich mit 28 zu 13 Stimmen sowohl gegen Teil- wie auch gänzliche Ungültigkeit aus). 217 Vgl. die Übersicht unter http://www.admin.ch/ch/d//pore/vi/vis_2_2_5_3.html. 218 Wildhaber, Art. 121/122, in Koller et al. (Anm. 79), Rn. 116, Anm. 121.
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ebenso verworfen wie die Einführung einer richterlichen Kontrolle im Rahmen der Verfassungsnachführung.219 Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist in der Schweiz auf Bundesebene gegenwärtig äußerst schwach ausgestaltet. Nach Art. 190 BV sind Völkerrecht und Bundesgesetze für die rechtsanwendenden Behörden (inkl. Bundesgericht) verbindlich. Somit gibt es eigentlich keine höchstrichterliche judicial review, da grundsätzlich auch verfassungswidrige Bundesgesetze anzuwenden sind.220 Art. 190 BV postuliert auch keinen generellen Vorrang des Völkerrechts gegenüber Bundesgesetzen, obwohl Art. 5 Abs. 4 BV Bund und Kantone zur Beachtung des Völkerrechts verpfl ichtet.221 Konfligieren Gesetz und internationales Recht, wird in der Regel der jüngeren Norm der Vorzug gegeben.222 Auch kann das Bundesgericht unter Berufung auf völkerrechtliche Normen (insb. die EMRK) Bundesgesetzen die Anwendung versagen. Ob aber diese Regelung auf einen Konfl ikt zwischen Verfassungs- und Völkerrecht (und somit zwischen Initiativen und Völkerrecht) übertragen werden kann, ist fraglich; die Verfassung enthält keine entsprechende Kollisionsnorm. Es wird sowohl für den Vorrang späteren Verfassungsrechts wie auch ein generelles Primat des Völkerrechts geworben.223 Bei der Nachführung der Verfassung wurden 1999, um eine Rückweisung durch ein wenig reformfreudiges Stimmvolk zu vermeiden, mehrere Sachbereiche ausgespart, darunter auch eine Justizreform, welche die höchstrichterliche Überprüfung von Bundesgesetzen sowie eine beschränkte Rolle des Bundesgerichts bei der Prüfung von Volksinitiativen vorsah.224 Beide Änderungen wurden mit Hinweis auf die mangelnde demokratische Legitimation der Bundesrichter bekämpft und schließlich aufgegeben.225 Im Zweifelsfall soll in der Schweiz – so zumindest die politische
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Thomas Sägesser, Die Bundesbehörden: Bundesversammlung, Bundesrat, Bundesgericht, 2000, 515–516. Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, dass die Bundesversammlung bei Zweifeln an der Gültigkeit einer Initiative das Bundesgericht mit dieser Frage befassen kann, das dann verbindlich darüber entschieden hätte: Bundesrat, Botschaft über eine neue Bundesverfassung (Anm. 213), 639. Zur „Nachführung“ vgl. supra Anm. 212. 220 Häfelin et al. (Anm. 109), Rn. 2087. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung kantonaler Erlasse hingegen ist uneingeschränkt möglich. Vgl. infra Anm. 306 zur vorgeschlagenen Streichung von Art. 190 BV und zu den bisherigen Versuchen, eine (beschränkte) Verfassungsgerichtsberkeit einzuführen. 221 Zur Rechtsnatur dieses Verfassungsgrundsatzes vgl. Yvo Hangartner, Art. 5, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 2. 222 Gem. dieser sog. Schubert-Praxis (nach BGE 99 Ib 39) bricht jüngeres Bundesgesetz dann bestehendes Völkerrecht, wenn ersteres gewollt von letzterem abweicht. Vgl. ausführlich zu Praxis und Lehre Helen Keller, Rezeption des Völkerrechts, 2003, 355–360. 223 Für eine Übersicht vgl. Regina Kiener, Bedeutungswandel des Rechtsstaates und Folgen für die (direkte) Demokratie am Beispiel völkerrechtswidriger Volksinitiativen, 110 Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht [ZBl] (2009), 237, 250–251 und Keller (Anm. 222), 360–364; letztere votiert für eine differenzierten Beurteilung gestützt auf die fragliche völkerrechtliche Norm. 224 BBl 1997 I 505. Unter dem Verfassungsentwurf 1996 hätte die Bundesversammlung die Kompetenz zur Beurteilung der Gültigkeit von Initiativen behalten, hätte bei Zweifeln aber das Bundesgericht mit der Frage befassen können: BBl 1997 I 483. 225 Parlamentarische Initiative (Kommission 96.091 SR), Beseitigung von Mängeln der Volksrechte, BBl 2001 4803; Bundesbeschluss über die Änderung der Volksrechte, BBl 2002 6485. Zur Einführung der konkreten Normenkontrolle vgl. infra Anm. 306.
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Mehrheitsmeinung – das demokratische Prinzip dem Rechtsstaatsprinzip vorgehen.226
IV. Die Gretchenfrage der direktdemokratischen Partizipation: Diskurs- und Lernpotenziale im Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz Der markante Unterschied zwischen den Schweizer und europäischen Instrumenten direktdemokratischer Partizipation wird, so überhaupt erörtert, vor allem an den ganz unterschiedlich ausgestalteten Verfahrensvoraussetzungen festgemacht.227 Die Analyse der materiellen Schranken für direktdemokratische Initiativrechte in den beiden Systemen verstärkt diesen Befund noch. Auf der einen Seite steht die Schweizer Volksinitiative, die sich (von der Einheit von Form und Materie abgesehen) mit der ius cogens-Grenze als inhaltlichem Maßstab begnügt und dementsprechend fast keine inhaltlichen Schranken kennt.228 Dagegen ist die Europäische Bürgerinitiative angesichts ihrer Bindung an die Werte der Union und der Kontrolle, ob es sich nicht um eine missbräuchliche, unseriöse oder schikanöse Initiative handelt, einem mehrgliedrigen und offensichtlich restriktiveren Schrankenregime unterworfen als ihr Schweizer Pendant. Vor diesem Hintergrund stellt sich für beide Systeme die Gretchenfrage, wie sie es jeweils mit Potenzial und Grenzen der direktdemokratischen Partizipation halten. Etwas überspitzt gesagt geht es dabei im EU-Fall darum, dass das direktdemokratische Element fast bis zur Unkenntlichkeit verwässert zu werden droht, während ihm in der Schweiz eine teilweise übersteigerte und fast schon proto-religöse und von der Realität losgelöste Stellung eingeräumt wird. In Hinblick darauf gilt es die beiden Modelle, die an entgegengesetzten Enden der Skala direktdemokratischer Partizipation angesiedelt sind, ins Gespräch zu bringen. Ein solcher Austausch trägt zur eigenen Standortbestimmung bei und hilft auszuloten, wo die jeweiligen Stärken und Schwächen liegen und wo gegenseitige Lern- und Befruchtungspotenziale bestehen.
A. (Not) Taking Direct Democracy Seriously: Die Bürgerinitiative als Stiefkind der EU-Organe? In Anlehnung an den Titel von Ronald Dworkins Klassiker229 darf und soll man sich hinsichtlich der Europäischen Bürgerinitiative – und zwar insbesondere ihrer sekundärrechtlichen Ausgestaltung – fragen, wie ernst die Ergänzung des Unionsverfassungsrechts um ein Moment direkter Demokratie wirklich gemeint war bzw. ist. 226 Zu den restlichen Aspekten der Justizreform (u. a. Rechtsweggarantie, Vereinheitlichung des Prozessrechts und Schaffung von Bundesverwaltungs- und -strafgericht) vgl. Häfelin et al. (Anm. 109), Rn. 70–71. 227 Siehe dazu insb. die Nachweise in supra Anm. 33. 228 Für den singulären Fall der Ungültigerklärung der Einwanderungsinitiative durch die Bundesversammlung wegen Verletzung des Non-Refoulement-Gebots vgl. supra vor Anm. 211. 229 Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978.
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Dabei rückt die Rolle der EU-Organe in den Blick, allen voran der Kommission, der die Aufgabe der Kanalisierung von Bürgerinitiativen in den unionalen Rechtssetzungsprozess zufällt und die dabei zu beurteilen hat, ob Initiativen gegen die Werte der Union verstoßen oder missbräuchlich, unseriös oder schikanös sind – wobei es aus Schweizer Sicht schwer fallen würde, an die Zuweisung einer solchen Entscheidungskompetenz an die Bundesversammlung auch nur zu denken. Der Blick fällt aber auch auf das EP, dem eine führende Rolle bei der Normierung der genannten Schranken in der EBI-VO zukam,230 wiewohl diese Schranken im Primärrecht nicht unbedingt vorgezeichnet sind. Vor allem in Bezug auf den zweiten Schrankentypus (d. h. den Test, ob eine Initiative als offenkundig missbräuchlich, unseriös oder schikanös zu gelten hat) wurden bereits gewisse paternalistische Tendenzen der EU-Organe identifiziert. Angesichts derselben mag man durchaus zum Ergebnis kommen, dass die Bürgerinitiative eher als Stief kind der Organe oder (freundlicher gesagt) als ein überbehütetes Nesthäkchen erscheint, jedoch nicht als genuiner direktdemokratischer Beitrag zum unionalen Normsetzungsprozess. Ein solcher Zugang verträgt sich nicht leicht mit der Funktion der direkten Demokratie als Komplement und Korrektiv zur repräsentativen Demokratie, und er ist unvereinbar mit der in der Schweiz verbreiteten Vorstellungen vom Volk als eigentlichem Entscheidungsträger. Dieser Spannung wollen wir im Folgenden nachgehen und zu diesem Zweck zunächst in aller Kürze fünf Dimensionen der Europäischen Bürgerinitiative ausleuchten: 1. ihr Charakter als „Proto-Vorschlagsrecht“ im unionalen Gesetzgebungsverfahren, 2. die dosierte Rolle des Primärrechts als Regulativ der Bürgerinitiative, 3. die teils paternalistisch anmutende Verstärkung der Institutionenkontrolle durch die EBI-VO, 4. die Rolle des gerichtlichen Rechtsschutzes in Bezug auf die Ausübung des Initiativrechts der Unionsbürger und schließlich 5. den bezeichnenden Unterschied zwischen den Schweizer „Volksrechten“ und den unionalen „Bürgerrechten“.
1. Die Bürgerinitiative als indirektes oder „Proto-Vorschlagsrecht“ im unionalen Gesetzgebungsverfahren Die schweizerische Form der direkten Demokratie besteht im Kern in einem Selbstbefassungsrecht des Schweizer Volkes. Nicht von ungefähr ist diesbezüglich von einem „Antrag aus dem Volk ans Volk“ die Rede.231 Mittels Volksinitiative wenden sich die Bürger direkt an ihre Mitbürger. Das Gesamtvolk entscheidet per Abstimmung über die Vorlage, die im Falle der Annahme Gesetz, ja Verfassungsgesetz wird. Das Selbstbefassungsrecht schließt demnach sowohl ein formelles Vorschlags- als auch ein Entscheidungsrecht ein. Die Organe der repräsentativen Demokratie sind dabei grundsätzlich auf eine Zuschauerrolle beschränkt. Doch ist die Dichotomie zwischen direkter und repräsentativer Demokratie auch in der Schweiz nicht absolut: Einerseits besteht trotz ihres eingeschränkten Anwendungsbereichs die wichtige Ausnahme einer möglichen Ungültigkeitserklärung einer Volksinitiative durch die Bundesver-
230 231
Vgl. dazu insb. supra Anm. 174. Die Formulierung geht zurück auf Fritz Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1923, 398.
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sammlung.232 Darüber hinaus kann letztere gerade durch das Instrument des direkten oder indirekten Gegenvorschlages einbezogen und das Soliloquium des Volkes derart zu einem Dialog mit seinen Vertretern erweitert werden.233 Ein solches Wechselspiel fehlt bei der europäischen Variante der direkten Bürgerbeteiligung, sondern mutiert zur Einwegkommunikation. Die Bürgerinitiative ist gegenüber der Volksinitative nicht nur „schwächer“ ausgestaltet, sondern ganz anders konzipiert. Das zeigt sich vor allem auf zwei Ebenen: Bei der Bürgerinitiative kommunizieren die Bürger nicht wie in der Schweiz mit sich selbst oder auf Augenhöhe mit ihre Repräsentanten, sondern adressieren sich an die demokratisch bloß schwach legitimierte Kommission als Inhaberin der Regelvorschlagsrechts für Rechtsakte der Union. Damit ist auch schon der zweite wesentliche Unterschied benannt: Während Ziel und Folge der Volksinitiative in der Schweiz die Änderung der Verfassungsordnung ist, zielt die Bürgerinitiative auf die Schaffung, Modifi zierung oder Auf hebung von Sekundärrecht. Kurz gefasst: In der Schweiz steht dem Volk ein zum rein repräsentativdemokratischen Normsetzungsprozess alternatives und autopoietisches Verfassungsgebungsverfahren zu.234 In der EU betätigen sich die Bürger als möglicher Auslöser für Kommissionsvorschläge im regulären unionalen Gesetzgebungs- und sonstigen Rechtsaktsetzungsverfahren. Als Minderheiteninstrument, um die politische Tagesordnung mitzugestalten, und damit als bloße „Agendainitiative“235 ersetzt die Bürgerinitiative gerade nicht das formelle Vorschlagsrecht der Kommission, sondern stößt es lediglich an.236 Auch wenn die h. M. die Bürgerinitiative im Spektrum zwischen unverbindlichem Petitionsrecht nach dem Vorbild des Art. 20 Abs. 2 lit. d und 227 AEUV und formellem Vorschlagsaufforderungsrecht i. S. d. Art. 225 und 241 AEUV dem zweiteren angenähert sieht,237 kann diese Grenze zum gegenwärtigen Stand des Unionsverfassungsrechts jedenfalls nicht überschritten werden.238 Die Bürgerinitiative bleibt damit ein dem Vorschlagsrecht der Kommission vorgelagertes, damit indirektes239 oder „Proto-Vorschlagsrecht“ der Unionsbürger.
232
Vgl. dazu supra bei Anm. 131. Zum Gegenvorschlag vgl. supra bei Anm. 133 und 136. 234 Hinter diesem Anspruch bleiben auch die meisten direktdemokratischen Instrumente zurück, wie sie in den Verfassungen einiger EU-Mitgliedstaaten verankert sind; vgl. etwa die Hinweise in Laurent (Anm. 11), 222; Editorial Comments (Anm. 5), 930, n. 3. 235 Zum Begriff vgl. Stellungnahme (Anm. 5), Nr. 1.5 und 4.4.2; zur Bürgerinitiative als Instrument des „Agenda-Setting“ vgl. auch Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 11 EUV Rn. 42; Guckelberger (Anm. 5), 746; Balthasar/Prosser (Anm. 48), 124; Isak (Anm. 35), 196. 236 Vgl. die Charakterisierung bei Epiney (Anm. 54), 51 als „Gesetzgebungsanstoßrecht“. 237 Zum Meinungsstand vgl. supra Anm. 73; siehe insb. Erwägungsgrund 1 der EBI-VO, aber auch Stellungnahme des Petitionsausschusses zum Verordnungsvorschlag der Kommission, A7–0350/2010, 57, der auf einer klaren Abhebung des Initiativ- vom Petitionsrecht besteht. 238 Vgl. dazu etwa Editorial Comments (Anm. 5), 937. 239 Siehe z. B. Laurent (Anm. 11), 223; Epiney (Anm. 54), 52; Efler (Anm. 56), 8; Auer (Anm. 31), 80. 233
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2. Primärrecht als Regulativ der Bürgerinitiative Das Schweizer Modell direktdemokratischer Partizipation ist, wie ausgeführt, eines der Verfassungsinitiative und -änderung. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben dafür sind marginal: Abgesehen von der Einheit der Form und der Materie ist lediglich die ius cogens-Grenze als Regulativ der Volksverfassungsgebung vorgesehen. Im Übrigen steht die Verfassungsordnung umfassend zur Disposition des Schweizer Stimmvolkes. Im Gegensatz zu dieser bloß rudimentären Bindung ist die Europäische Bürgerinitiative ungleich stärker von den Vorgaben des Unionsverfassungsrechts eingehegt. Sie kann insbesondere nicht zu einer Änderung des Primärrechts führen. Gleichzeitig wurde bereits darzulegen versucht, dass von einer umfassenden Bindung der Bürgerinitiative an das Primärrecht nicht auszugehen ist.240 Der Unionsgesetzgeber hat dem dadurch Rechnung getragen, dass die Kommission in der Registrierungsphase im Rahmen einer Grobprüfung nur Initiativen zurückzuweisen hat, die offenkundig außerhalb des Zuständigkeitsrahmens von Union und Kommission liegen und die offenkundig gegen die Werte des Union i. S. d. Art. 2 EUV verstoßen. Der Initiativprozess wird der Kommission oft die Möglichkeit bieten, eine primärrechtlich problematische Bürgerinitiative nichtsdestotrotz in einen primärrechtskonformen Legislativvorschlag münden zu lassen. Initiativanliegen sind dementsprechend so weit als möglich primärrechtskonform zu interpretieren, ggf. auch zu modifizieren. Die Kommission sollte dabei in dubio pro cive übertriebenen Formalismus bei der Prüfung und Auswertung von Bürgerinitiativen vermeiden und unionsbürgerlichen Initiativen so weit wie möglich die Chance zur demokratischen Bewährung geben. Wenn das EU-Primärrecht den Initianten gegenüber zwar nicht als Bindung operiert, wie das gem. Art. 13 Abs. 2 EUV für die Unionsorgane der Fall ist, fungiert es dennoch als Regulativ. Dementsprechend ist Initiativen die Registrierung zu verweigern, von denen von Anfang an klar ist, dass sie für den Zweck des Instruments, nämlich einen Vorschlag für einen Unionsrechtsakt anzustoßen, aus kompetenzrechtlichen oder inhaltlichen Gründen gänzlich ungeeignet sind. Gerade die in Art. 2 EUV positivierte „Werteplattform“, auf der die Union beruht, normiert materielle Schranken für das unionale Bürgerinitiativrecht, das im Gegensatz zur Schweiz die Initiativanliegen der Bürger im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung zur Geltung bringen will und muss. Darin liegt aber auch eine gerne übersehene Stärke der Bürgerinitiative gegenüber ihrem Schweizer Pendant. Durch das Selbstbefassungsrecht des Volkes und den Verfassungscharakter der per Referendum angenommenen Initiativen steht die normative Grundordnung der Schweiz weitgehend dem direkten Zugriff des Volkes offen. Gerade bei grundrechtlich heiklen Initiativen wird dies nicht nur aus europäischer, sondern immer mehr auch aus Schweizer Sicht als problematisch empfunden.241 Für die Bürgerinitiative gilt demgegenüber, dass Bürgeranliegen viel unbefangener Spielraum gewährt werden kann, da eine Abänderung von EU-Primärrecht ohnehin nicht in Frage kommt und ein mehrstufiges Selektions- und Kontrollverfahren durch 240 241
Vgl. dazu schon supra III.A.1. Vgl. infra IV. B.2.
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die Organe repräsentativer Demokratie – zunächst durch den Kommissionvorschlag und dann durch Parlament und Rat als Mitgesetzgeber – sowie durch die Unionsgerichtsbarkeit242 erfolgt.
3. Problematische paternalistische Tendenzen in der sekundärrechtlichen Ausgestaltung der Bürgerinitiative Damit ist als Kehrseite freilich auch die bereits angesprochene Gefahr des Paternalismus verbunden. Derartige Tendenzen sind uns vor allem in der sekundärrechtlichen Ausgestaltung der Bürgerinitiative begegnet, namentlich in Art. 4 Abs. 2 lit. c EBI-VO. In wohl keiner anderen Vorschrift der Verordnung nämlich werden die hehren Ideale des Art. 11 Abs. 4 EUV, d. h. die Mechanismen repräsentativer Demokratie in der Union um ein Element direktdemokratischer Partizipation zu bereichern, so sehr strapaziert. Die Anordnung des Ausschlusses von „unseriösen“ oder „schikanösen“ Initiativen zeugt von einer Haltung, die den Bürger, die Bürgerin als Last, ja sogar als potenziellen Störenfried betrachtet. Diese Bestimmungen der Verordnung sind im Primärrecht so nicht angelegt – von den leise bevormundenden Untertönen des Art. 9 EUV vielleicht einmal abgesehen243 –, sondern gehen auf die Initiative des Unionsgesetzgebers zurück, was zu bedauern ist und auch in Spannung zur sonstigen Betonung der Neuheit und Gewichtigkeit der Bürgerinitiative durch das EP steht.244 Wiewohl Erwägungsgrund 1 der EBI-VO an prominenter Stelle ein feierliches Bekenntnis zur Beteiligung der Unionsbürger am demokratischen Leben der Union im Wege der Bürgerinitiative enthält, sprechen die genannten Ausschlussgründe eine andere Sprache und nähern die Bürgerinitiative diesbezüglich einem bloßen Petitionsrecht an. Schikanöse, missbräuchliche oder unseriöse Initiativen scheinen einer Vorlage an und Bewertung durch die Mitbürger und schon gar nicht einer weiteren Prüfung durch die Unionorgane würdig zu sein. Auch hier zeigen sich charakteristische Unterschiede: Während sich die Schweizer Volksvertreter bislang gegen eine Einschränkung der Volksrechte sträuben, hat das EP für eine potenziell restriktive Lösung votiert. Dagegen ist festzuhalten, dass das Instrument der Bürgerinitiative nur Sinn macht, wenn die Unionsbürger, soweit die Verträge ihnen direktdemokratische Gestaltungsmöglichkeiten zuweisen, darin auch ernst genommen werden. Das mag einen gewissen Macht- und Kontrollverlust der betroffenen Unionsorgane, vor allem der Kommission, bedingen und bislang ungewohnte Anpassungen erforderlich machen. Aber dies ist der Preis, der zu zahlen ist, wenn die Union mit der Auslobung des Lissaboner Vertrags, die demokratische Legitimität der Union zu erhöhen, in seiner (ohnehin 242
Dazu sogleich infra IV.A.4. Vgl. supra Anm. 192 und 198. 244 Siehe etwa die Entschließung des EP vom 25. 11. 2009, P7_TA(2009)0090, Nr. 33, wo es darauf hinweist, „dass die Bürger durch die Einführung der ‚Bürgerinitiative‘ in den Vertrag von Lissabon die Ausübung der souveränen Macht der Union unmittelbar beeinflussen werden, da sie zum ersten Mal unmittelbar an der Initiierung europäischer Rechtsetzungsvorschläge beteiligt sind“ und „nachdrücklich [fordert], dieses neue Instrument auf eine Art und Weise umzusetzen, die die Menschen wirklich zu seiner Verwendung ermutigt“. 243
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bescheidenen) direktdemokratischen Ausprägung ernst genommen werden will. Davon hängt auch wesentlich ab, wie glaubwürdig der Kritik begegnet werden kann, die auf das persistierende Demokratiedefizit in der EU hinweist und nicht recht an eine echte Stärkung der demokratischen Legitimation der Union durch die Bürgerinitiative glauben will.245 Das „Ernstnehmen“ der Bürger wiederum ist eine Lektion, für die sich die Union in vorzüglicher Weise an der Schweiz orientieren kann – den Umstand, dass direktdemokratische Partizipation oft einen Fremd-, Stör-, aber auch Korrektivfaktor für den eingespielten repräsentativdemokratischen Prozess und untereinander wohlaustarierte politische Eliten darstellt, ausdrücklich eingeschlossen. Die Gretchenfrage, wie ernst es die Union mit der direktdemokratischen Partizipation ihrer Bürgerinnen und Bürger wirklich meint, wird man vor allem im Blick darauf beantworten müssen, wie die Kommission den Gestaltungsspielraum bezüglich der kompetenz- und materiellrechtlichen Schranken, den ihr die EBI-VO gewährt, handhaben wird. Verschiedenste Initiativen befi nden sich bereits in den Startlöchern.246 Angesichts des bedeutend angewachsenen Spektrums an Unionskompetenzen und des Umstands, dass auf Registrierungsebene nur eine Grobprüfung zu erfolgen hat, ist für Bürgerinitiativen ein beachtliches Betätigungsfeld geschaffen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass von den zahlreichen bislang angekündigten Bürgerinitiativen viele als grundsätzlich zulässig bewertet werden müssten. Die Analyse der rechtlichen Vorgaben des Art. 11 Abs. 4 EUV hat gezeigt, dass die Kommission in ihrer mit Inkrafttreten der EBI-VO am 1. April 2012 beginnenden Prüfpraxis den paternalistischen Tendenzen der Verordnung zurückhaltend zu begegnen hat. Vor allem sollte die Kommission in primärrechtskonformer Auslegung der EBI-VO die Nichtregistrierung von Bürgerinitiativen als „unseriös“ oder „schikanös“ ganz aus ihrem Reaktionsrepertoire verbannen und auch auf das Missbrauchskriterium, wenn überhaupt, nur mit äußerster Sparsamkeit zurückgreifen.247 Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, dass bereits die Befürchtung geäußert wurde, dass bei der Bürgerinitiative in ihrer praktischen Handhabung gut organisierte Interessenverbände und Lobbying-Gruppen als Initiatoren gegenüber „einfachen“ Bürgerinitiativen bevorzugt werden könnten.248 Gerade an245 Vgl. diesbezüglich sehr zurückhaltend BVerfGE 123, 267 (379, 405) – Lissabon; vgl. aber schon Weiler (Anm. 5), 152 f., der über die Einführung einer „European Legislative Ballot Initiative“ eine Verringerung des Demokratiedefi zits der Union herbeiführen möchte. 246 Aus Medienberichten konnte man etwa entnehmen, dass Initiativen zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, für Medienpluralismus, gegen die Privatisierung von Wasser, für einen arbeitsfreien Sonntag oder gegen gentechnisch veränderte Mechanismen in Planung bzw. zumindest angedacht sind. Andere im Raum stehende Initiativen wie jene für ein nuklearenergiefreies Europa, für einen einzigen Sitz des EP in Straßburg oder gegen einen EU-Beitritt der Türkei werfen zuständigkeitsrechtliche Probleme auf, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Europäische Bürgerinitiativen im technischen Sinne gibt es ohnehin erst seit 1. April 2012, als in Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der EBI-VO die zur förmlichen Anmeldung der Initiativen bestimmte Webseite aktiviert wurde; vgl. zu den bereits registrierten Initiativen supra Anm. 66. 247 Vgl. supra III.A.3; vgl. namentlich die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Anm. 5), Nr. 4.4.7. 248 Vgl. Maurer/Vogel (Anm. 56), 10 m.w.N; vgl. ansatzweise auch Stellungnahme des Wirtschaftsund Sozialausschusses (Anm. 5), Nr. 5.5, besonders mit Verweis darauf, dass auch Bürger, die nicht über viele Mittel verfügen oder großen etablierten Organisationen angehören, sich der demokratischen Mittel bedienen können müssen.
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gesichts des Umstands, dass sich erstere wohl oft leichter tun werden, den „Seriositätserwartungen“ der Unionsorgane zu genügen, gilt es besonders zu beachten, dass letztere nicht vorschnell dem Verdikt mangelnder Ernsthaftigkeit zum Opfer fallen. Darüber hinaus muss man auch bei grundrechtlich problematischen Initiativen nicht automatisch einen offenkundigen Verstoß gegen die Werte der Union feststellen. Dementsprechend sollte die Kommission auch derartige Initiativen registrieren, anstatt vorschnell anzunehmen, dass der direktdemokratische Diskussions- und Deliberationsprozess mit ihnen überfordert sein wird.
4. Direktdemokratische Partizipation und gerichtlicher Rechtsschutz Der EuGH hat von der Europäischen Gemeinschaft bekanntermaßen als einer „Rechtsgemeinschaft“ gesprochen.249 Die umfassende Zuständigkeit des Gerichtshofes der Union, die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art. 19 EUV), ist ein zentrales Element dieser Rechtsgemeinschaft. Davon kann auch die Bürgerinitiative nicht unberührt bleiben. Aus der Bedeutung des gerichtlichen Rechtsschutzes im Unionsrecht ergeben sich einerseits Rechtsschutzansprüche der Unionsbürger, wenn ihr Initiativrecht vorenthalten oder beschnitten wird. Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Rechtsschutzinstrumente250 wird es demgemäß eine wichtige Aufgabe des Gerichtshofes sein, die Ausschlusstatbestände des Art. 4 Abs. 2 EBI-VO im Lichte der primärrechtlichen Vorgaben auszulegen und auf dieser Grundlage die Prüfpraxis der Kommission und die Verweigerung der Registrierung von Initiativen zu kontrollieren. Die Beständigkeit, mit der der Gerichtshof die im Vertrag verankerten Teilhaberechte des EP gegen die etablierten Akteure im europäischen Rechtssetzungsprozess verteidigt hat,251 sowie die generelle Tendenz der Judikatur zur Stärkung des Unionsbürgerstatus und -rechts252 lassen für die kommenden Jahre auch Signale zum Schutz und zur Konsolidierung der Bürgerinitiative aus Luxemburg erhoffen. Neben dem Rechtsschutz im gibt es aber – und hier liegt ein fundamentaler Unterschied im Vergleich zur Schweiz253 – auch Rechtsschutz gegen das Initiativverfahren. Sollten Kommission sowie EP und Rat als Filter versagen und sollte eine primärrechtlich problematische Initiative tatsächlich in einen unionsrechtlichen Gesetzgebungsakt erwachsen, ist der Gerichtshof nach allgemeinen Regeln umfassend für 249 EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/EP, Slg. 1986, 1339 Rn. 23; EuG, Rs. T-17/00 R, Rothley u. a./EP, Slg. 2000, II-2085 Rn. 54. 250 Vgl. supra II.A.3. 251 Vgl. etwa EuGH, Rs. 138/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 3333; vgl. auch Schroeder (Anm. 163), § 7 Rn. 31. 252 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091; Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Urteil vom 8. 3. 2011, noch nicht in der Slg. veröffentlicht; vgl. weiters die Nachweise in Ferdinand Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt: Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007; Walter Obwexer, Grundfreiheit Freizügigkeit: Das Recht der Unionsbürger, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, als fünfte Grundfreiheit, 2009; Stefan Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Anm. 39), 611 ff. 253 Vgl. supra II.B.3 sowie III.B in fine.
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die Prüfung der Primärrechtskonformität von Sekundärrechtsakten zuständig. Die wichtigste Ausnahme vom unionalen Rechtsschutz, der GASP-Vorbehalt des Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, schadet hier gerade nicht, weil die GASP mangels Vorschlagsbefugnis der Kommission vom Anwendungsbereich der Bürgerinitiative ohnehin ausgeschlossen ist.254 Im Zusammenspiel von politischer Kontrolle durch die Unionsorgane und Rechtskontrolle durch den EuGH dürfte die Gefahr, dass eine Bürgerinitiative zu primärrechtswidrigen Ergebnissen führt, überschaubar sein – jedenfalls nicht größer als für Sekundärrechtsakte, die im „traditionellen“ Rechtssetzungsverfahren entstehen. Wie oben schon angesprochen, sollte gerade die Existenz derartiger politischer und vor allem rechtlicher Kanalisierungs- und Regulierungsmechanismen die Bereitschaft erhöhen, der Europäischen Bürgerinitiative eher mehr als weniger Spielraum zuzugestehen.255 Es steht außer Frage, dass die direktdemokratische Legitimierung eines Vorschlags kein Garant dafür ist, dass er die involvierten rechtlichen Interessen adäquat zum Ausgleich bringt. Von der plebiszitären Demokratie gehen oftmals sogar spezifische Gefahren für Grund- und Minderheitenrechte aus. Das Schweizer Modell der direkten Demokratie hat hier – angesichts der Durchschlagskraft der Volksinitiative und mangelnder institutioneller Gegengewichte und eines weitgehend fehlenden Rechtsschutzes gegen Mehrheitsentscheide – gewiss seine größten Schwächen, weshalb hier auch der Schwerpunkt der Schweizer Diskussion liegt.256
5. Bürgerrechte vs. Volksrechte Die weitgehenden Unterschiede zwischen dem Schweizer und dem unionalen Modell direktdemokratischer Partizipation sind schon vielfach angesprochen worden. Ihren sinnfälligsten Ausdruck fi nden sie wohl in einer terminologischen Option, die sich konsequent durch die Normtexte selbst zieht und gerade deshalb besondere Beachtung verdient. Die schweizerische Verfassung spricht im Zusammenhang mit der politischen Entscheidfindung ausschließlich von „Volk“, „Volksabstimmungen“, „Volksinitiativen“ und „Volksmehr“.257 Im Unionsverfassungsrecht hat sich dagegen, beginnend mit dem Vertrag von Maastricht, spätestens seit dem Vertrag von Lissabon der „Bürgerjargon“ durchgesetzt. Am bemerkenswertesten ist dabei die Verschiebung von Art. 189 Abs. 1 EGV zu Art. 14 Abs. 2 EUV. War zuvor noch davon die Rede, dass das EP aus „Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ besteht, heißt es in der Post-Lissabon-Ära, dass sich das Parlament aus „Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammensetzt. Die paradigmatische Doppelverschiebung von der mitgliedstaatlichen zur Unionsebene einerseits und – für uns interessant – vom Volks- zum Bürgerbegriff 254 255 256
Vgl. supra III.A.2. Vgl. supra IV.A.2, in fine. Vgl. zur beschränkten Kompetenz des Bundesgerichts supra bei Anm. 142 und 224 sowie infra
IV.B. 257 Präambel, Art. 1, 4. Titel („Volk und Stände“), Art. 138–142, 148, 149, 193, 194, 195 BV. Der Bürgerbegriff hingegen wird verwendet im Zusammenhang mit dem kommunalen und kantonalen Bürgerrecht; vgl. Art. 38 und 39 BV.
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andererseits ist schon mehrfach hervorgehoben worden.258 Konsequenterweise fi ndet sich das Wahlrecht zum EP erneut in Art. 22 AEUV im Kapitel über die Unionsbürgerschaft, und der Titel V der GRC über „Bürgerrechte“ setzt das Wahlrecht zum Parlament ganz an den Anfang. In genau diesen Zusammenhang gehört auch das neue (obschon im Titel V der GRC nicht erwähnte) Instrument der Bürgerinitiative gem. Art. 11 Abs. 4 EUV, mit dem die Unionsbürger erstmals die Möglichkeit erhalten, auf den unionalen Gesetzgebungsprozess im Sinne eines „Agenda-Setting“259 effektiv Einfluss auszuüben. Zur unterschiedlichen Rede von Bürger- und Volksrechten wäre gewiss vieles zu sagen, ohne dass hier auf die damit verbundenen Fragen näher eingegangen werden könnte. Jedenfalls kann man den neuen Fokus auf den Unionsbürger als Reaktion auf die überkommene Debatte über die Existenz, Möglichkeit und Wünschbarkeit eines europäischen demos zur verbesserten demokratischen Legitimation des Projekts der europäischen Integration verstehen.260 Vielfach hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass solche demokratische Legitimation eher von einer „Europäischen Bürgerunion“, einer civitas Europaea zu erwarten sei 261, die sich nicht so sehr auf die Idee einer Schicksalsgemeinschaft und einer kollektiven Identität als einer Nation mit geteiltem ethnischem, sprachlichem oder kulturellem Hintergrund stützt als auf eine Gemeinschaft, die auf einen gemeinsamen politischen Willen gegründet ist.262 In diesen Zusammenhang gehört auch die verstärkte Rede vom Unionsbürger als demokratischem „Legitimationssubjekt“ der Union.263
B. Direktdemokratische Partizipation in der Schweiz: Vom Sonderfall zum Problemfall? Gerade im Kontrast zum übervorsichtigen Herantasten an direktdemokratische Partizipation auf EU-Ebene erscheinen die Mitwirkungsrechte in der Schweiz als 258 Vgl. Bericht über die Unionsbürgerschaft 2010. Weniger Hindernisse für die Ausübung von Unionsbürgerrechten, KOM(2010) 603 endg., 2 f.; BVerfGE, 123, 267 (285 f.) – Lissabon; Annette Schrauwen, European Union Citizenship in the Treaty of Lisbon: Any Change at all?, 15 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2008), 57; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV4 (2011), Art. 14 EUV Rn. 39 ff.; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 14 EUV Rn. 39; Kadelbach (Anm. 252), 629 f.; Robertson (Anm. 8), 142; Wollenschläger (Anm. 252), 323. 259 Vgl. dazu bereits supra Anm. 235; zur fehlenden Erwähnung in der GRC vgl. supra Anm. 60. 260 Vgl. hiezu insbesondere Joseph H. H. Weiler, Does Europe Need a Constitution? Demos, Telos and the German Maastricht Decision, 1 European Law Journal (1995), 225; idem, The Constitution of Europe: „Do the New Clothes Have an Emperor?“, 1999, 344; Peters (Anm. 43), 651 ff.; Oeter, Föderalismus und Demokratie, 94 f., Tor-Inge Harbo, Legitimising a European constitution: A Limited, Pluralistic and Efficient Democratic Model for the European Union, 2007, 182 ff., jeweils m. w. N. 261 Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, 439; Heinrich Schneider, Die Europäische Union als Staatenverbund oder als multinationale „civitas europea“, in Albrecht Randelzhofer et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 679 und 708 ff. 262 Harbo (Anm. 260), 185 ff.; Peters (Anm. 43), 659 f.; Ingolf Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, 36 C. M. L.Rev. (1999), 720 ff. 263 Zum Unionsbürger als Legitimationssubjekt vgl. etwa Peters (Anm. 43), 651, 659; Schroeder (Anm. 261), 476 ff.; Epiney (Anm. 54), 37 f. und 54; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV Rn. 4; Huber, in: Streinz, EUV/AEUV2 (2012), Art. 10
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davon grundsätzlich verschieden. Aus Schweizer Sicht handelt sich bei der Bürgerinitiative auch nicht in Ansätzen um einen „Antrag aus dem Volk an das Volk“ – sondern bestenfalls um eine Anregung aus dem Volk an die Kommission, und schlimmstenfalls um ein erfolgloses Antichambrieren von Bittstellern. Aus dieser Perspektive sind die erheblichen Unterschiede bezüglich Legitimationsgrundlage und Ausgestaltung politischen Handelns der Bürger in der Union und der Schweiz, welche durch die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative eher verdeutlicht als verwischt werden, auch einer der Hauptgründe, weshalb für letztere ein EU-Beitritt weiterhin unrealistisch bleibt.
1. Eine Landsgemeinde im Herzen Europas? Die Besonderheit des helvetischen Modells innerhalb von Europa ist tief im schweizerischen Bewusstsein verwurzelt, wenn auch mit sich wandelnder Begründung. 1849 schrieb Johann Caspar Bluntschli noch, die „eigenthümliche Bedeutung“ der Schweiz sei ihre republikanische Staatsform inmitten eines Europas der Monarchien: Würden die umliegenden Länder ebenfalls Republiken, dann bestünde „kein zureichender Grund für [die] Sonderexistenz“ der Schweiz mehr.264 Heute ist die Monarchie in einem republikanischen Europa nur noch als nostalgische Reminiszenz vorhanden – und dennoch hat sich die Schweiz nicht, wie von Bluntschli vorhergesagt, in ihre Bestandteile aufgelöst, sondern besteht weiterhin darauf, „die moralischen und geistigen Fragen, welche die Zeit an Europa richtet, . . . selbständig zu behandeln und für sich zu erledigen.“265 In der Schweizer Selbstwahrnehmung sind die ausgeprägten Volksrechte heute an die Stelle der republikanischen Staatsform getreten, um einen Sonderweg in einem zunehmend geeinten Europa zu rechtfertigen:266 Die vorbildhafte Bewahrung dieser Rechte ist nun die „eigene große Mission“ der Schweiz, deretwegen sie „von einem mitwirkenden, thätigen Antheil an der europäischen Politik“ ausgeschlossen bleiben muss.267 Es ist das Ideal einer einzigen großen Landsgemeinde, das zumindest im politischen Diskurs als wichtigstes Element des schweizerischen Staatswesens und Selbstverständnisses bestehen bleibt. Wie bereits ausgeführt, fi ndet dieses Ideal in der historischen Entwicklung nur in Ansätzen eine tragfähige Stütze.268 Damit steht der Schweizer Gründungsmythos natürlich nicht alleine;269 die besondere Form des helvetischen Mythos aber mit EUV Rn. 8, jeweils m. w. N. In diesem Zusammenhang wird auch die schon erwähnte (supra Anm. 258) Verschiebung in der Charakterisierung der Mitglieder des EP hervorgehoben. Das BVerfG wollte freilich weder darin noch in der neu eingeführten Europäischen Bürgerinitiative eine Verankerung des Unionsbürgers als Legitimationssubjekt der Union erkennen; vgl. BVerfGE 123, 267 (404 f.) – Lissabon. 264 Johann Caspar Bluntschli, Geschichte des schweizerischen Bundesrechtes, Bd. 1, 1849, 544. 265 Bluntschli (Anm. 264), 545. 266 Aus europäischer Perspektive mögen vielleicht die wirschaftlichen Vorteile für die Schweiz insbesondere im Finanzsektor und Steuerwettbewerb als ebenso wichtige Motivationsgründe erscheinen. 267 Vgl. Bluntschli (Anm. 264), 546. 268 Siehe supra II.B.1. 269 Auch die narrative der nordamerikanischen Kolonisten, die sich alleine aus Freiheitsliebe gegen den englischen König erhoben hätten, übersieht wichtige ökonomische Aspekte.
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einem nachgerade ungebundenen Volkssouverän (und nicht einem Verfassungsdokument) als Kern führt in einer Zeit intensivster internationaler Verknüpfung auch rechtlicher Art zu besonderen Problemen. Die Verfechter uneingeschränkter Volksrechte möchten verhindern, dass „internationales und abstraktes Recht, das Völkerrecht, das niemand so richtig versteht, dem eigentlich niemand so richtig verpfl ichtet und für das niemand so richtig verantwortlich ist,“ über das Recht des Volkes gestellt wird.270 Ob wirklich nur „die sich auf diesem Gebiet bewegenden Staatsrechtler und Diplomaten,“ aber nicht das Volk das Völkerrecht versteht,271 bleibe dahingestellt: Es ändert nichts an seiner rechtlichen Bindungswirkung. Pacta sunt servanda – gerade als Kleinstaat ist die Schweiz darauf angewiesen, dass dieser Grundsatz respektiert wird, und sie reagiert auf tatsächliche oder mutmaßliche Völkerrechtsverletzungen durch andere entsprechend sensibel.272 Nun ist die Erfüllung völkerrechtlicher Verpfl ichtungen nicht prinzipiell unvereinbar mit weitgehenden demokratischen Mitwirkungsrechten. Aber während der letzten zwei Jahrzehnte zielten mehrere Initiativen geradezu auf eine Verletzung solcher Verpfl ichtungen ab oder nahmen sie zumindest sehenden Auges in Kauf. Die von daraus resultierenden Vertragsverletzungen betroffenen Staaten werden nicht primär die demokratische Legitimation eines solchen Entscheides bewundern; vielmehr werden sie die Zuverlässigkeit der Schweiz als Vertragspartnerin in Frage stellen. Gerade aus der Verletzung internationaler menschenrechtlicher Verpfl ichtungen resultieren erhebliche Reputationsschäden auf internationaler Ebene, auch wenn bisher eine Verurteilung beispielsweise durch den EGMR noch aussteht.273 Wohl ebenso bedenklich ist die Gefahr der sukzessiven Aushöhlung der durch die Bundesverfassung selbst garantierten Grundrechte. Mag auch der Grundrechtskatalog keinen Sonderstatus innerhalb der Verfassung genießen – genau wie auf europäischer Ebene verkörpern die dort verankerten Werte wie Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit ebenso wie die Wahrung der Menschenrechte und der Minderheitenschutz Grundpfeiler der modernen Schweiz. Wie die Union hat auch die Schweiz grundlegende Werte, die sich wohl nicht im Grundsatz des Mehrheitsentscheides erschöpfen können.274 Und schließlich muss auch anerkannt werden, dass das Bild einer „Landsgemeinde“, 270 Votum Kuprecht (SVP), AB SR 2010 I 317–318 (i.Z.m. der Diskussion über die Gültigkeit der Ausschaffungsinitiative, vgl. supra Anm. 20). 271 AB SR 2010 I 318. 272 Vgl. etwa die Reaktionen im „Fluglärmstreit“ mit Deutschland, dessen Haltung als Verletzung von staatsvertraglichen und völkerrechtlichen Verpfl ichtungen wahrgenommen wird (vgl. Noch keine Lösung für Anflüge auf Zürich, NZZ, 27. 9. 2000, 14; Votum Schweiger (FDP) (AB NR 2001 I 376) und insbes. das noch laufende Verfahren, gegenwärtig in Berufung gegen das Urteil des Gerichtes (Rs. T-319/05, Schweiz/Kommission, Urteil vom 9. 9. 2010, Slg. 2010, II – 4265) beim Gerichtshof hängig (Rs. C-547/10 P, Schweiz/Kommission). Auch in der libyschen Geiselaffäre wurden die eklatanten Verstöße gegen internationales Recht auf libyscher Seite scharf kritisiert; vgl. z. B. Simon Gemperli, Libyen verletzt konsularische Grundrechte, NZZ, 9. 10. 2009, 11. 273 Zwei Beschwerden, die nach der Annahme der Minarettinitiative beim EGMR anhängig gemacht worden sind, wurden mangels Betroffenheit (und fehlender Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges) ohne materielle Prüfung abgewiesen: Ouardiri v. Switzerland, Appl. no. 65840/09 ECtHR (2nd Div.) 28. 6. 2011); Ligue des musulmans de Suisse v. Switzerland, Appl. no. 66274/09 ECtHR (2nd Div.) 28. 6. 2011). Drei Beschwerden sind noch hängig. Zur internationalen Reaktion auf die Minarettinitiative siehe Langer (Anm. 19), 875, 892–893. 274 Vgl. dazu Präambel, Abs. 3 und 5, Art. 2 EUV.
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die tatsächlich die Geschicke des Landes bestimmt, nicht nur unrealistisch ist: Vielmehr macht dem „Volk“ etwas vor, wer suggeriert, sporadische, mit „Nein“ oder „Ja“ zu beantwortende Plebiszite entsprächen tatsächlich ausgeübter Souveränität.275 Auf der Ebene der „Symptombekämpfung“ wurde im Anschluss an die Minarettinitiative zuerst angeregt, das Verbot von Minaretten postwendend per Volksabstimmung wieder aufzuheben.276 Bald wurde das Augenmerk aber auf mutmaßliche systemische Probleme gerichtet. Nicht erst seit dem Verbot der Gebetstürme wird die gegenwärtige Schrankenregelung in Frage gestellt und werden Änderungen materieller, institutioneller und prozeduraler Art diskutiert.
2. Ius cogens als extrinsische Schranke? Die vom Bundesrat ursprünglich als „übersichtlich und transparent“ angepriesene Schranke des zwingenden Völkerrechts277 erweist sich zunehmend als unübersichtlich und umstritten. Was diesen zentralen Aspekt betrifft, argumentieren wichtige Stimmen der Staatsrechtswissenschaft seit längerem, dass es sich bei den „zwingenden Normen des Völkerrechts“ nicht notwendigerweise um einen primär völkerrechtlichen, sondern um einen staatsrechtlichen Begriff handle, der folglich auch nicht an den eng gefassten Katalog des internationalen Rechts gebunden sei.278 Es wird für eine weite Auslegung des ius cogens geworben, dem auch nicht kündbare internationale Verträge von erheblicher Bedeutung gleichgestellt werden sollen.279 Formell ist dieser Sicht natürlich zuzustimmen, da sich der Terminus ja in der Schweizer Verfassung, und nicht in einem internationalen Abkommen fi ndet. Aber sowohl der Wortlaut mit seinem Bezug aufs Völkerrecht wie auch die Materialien legen nahe, dass primär ein Verweis auf den diesbezüglichen internationalen acquis beabsichtigt war – ansonsten doch zumindest die Elemente eines innerstaatlichen ius cogens diskutiert worden wären.280 Zwingendes Völkerrecht wird ja gerade bestimmt 275
Dazu ausführlicher Langer (Anm. 19), 916. Jörg Paul Müller, Gegenvorschlag zur Minarett-Initiative „nachholen“, NZZ, 4. 12. 2009, 23; Jörg Paul Müller/Daniel Thürer, Toleranzartikel, in Andreas Gross et al. (Hrsg.), Minarett-Initiative: Von der Provokation zum Irrtum, 2010. Das Vorhaben wurde bald aufgegeben: Club Helvétique will keine Volksinitiative, NZZ am Sonntag, 20.12. 2009, 14. 277 Bundesrat, Botschaft über eine neue Bundesverfassung (Anm. 213), 362. 278 Vgl. z. B. Daniel Thürer, Verfassungsrecht und Völkerrecht, in Daniel Thürer et al. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz / Droit constitutionnel suisse, 2001, Rn. 37; Giovanni Biaggini, Das Verhältnis der Schweiz zur internationalen Gemeinschaft: Neuerungen im Rahmen der Verfassungsreform, AJP/PJA (1999), 722, 728; Rhinow/Schefer (Anm. 120), Rn. 469. Johannes Reich, Direkte Demokratie und völkerrechtliche Verpflichtungen im Konflikt, 68 ZaöRV (2008), 979, 1009–1010 argumentiert, dass in einem zweistufigen Prozess sowohl internationaler Normkatalog wie auch nationalrechtliches Telos zu berücksichtigen sind. Für den beschränkten Katalog auf internationaler Ebene vgl. Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), Second Phase, Judgement, I. C. J. Reports 1970, 3, 32; dort allerdings bzgl. erga-omnes-Normen. Vgl. zuletzt zur Anerkennung des ius-cogens-Charakters des Folterverbots Questions Relating to the Obligation to Prosecute or Extradite (Belgium v. Senegal), Urteil vom 20. 7. 2012, Rn. 99. 279 Vgl. Lombardi/Hangartner (Anm. 136), Rn. 29. Der Einschluss nicht kündbarer Verträge, von einer nationalrätlichen Subkommission vorgeschlagen, war jedoch bewusst nicht übernommen worden: ibid. Rn. 9–11. 280 Wortlaut und Materialien legen einen Bezug auf internationales, nicht nationales Recht nahe 276
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durch die Halung der „gesamten internationalen Gemeinschaft“281. Da der Begriff des ius cogens nicht über bestimmte Tatbestände, sondern durch die Einstellung der Staatengemeinschaft defi niert wird, ist er zwar wandlungs- und erweiterungsfähig – aber nur durch kollektive, nicht individuelle Entwicklung. Eine entsprechende verfassungsrechtliche Erweiterung des Begriffs wäre grundsätzlich allein durch die Praxis der Bundesversammlung möglich. Gerade die Schranke des zwingenden Völkerrechts selbst war bereits ohne jegliche Verfassungsgrundlage postuliert und 1994 auch angewendet worden.282 Insofern bestünde ein Präzedenzfall für eine Ausweitung der materiellen Grenzen ohne Anpassung des Verfassungstextes. Sollte der Begriff weiter gefasst werden und beispielsweise die durch die EMRK garantierten Rechte umfassen, wäre aber eine Verfassungsänderung wohl unumgänglich – allein schon deshalb, weil eine Mehrheit des Parlaments darauf bestehen würde, aber auch aus Gründen der demokratischen Legitimation. Die Schrankenregelung in Art. 139 BV müsste folglich angepasst werden – beispielsweise dergestalt, dass die Bundesversammlung eine Initiative ganz oder teilweise für ungültig erklärt, wenn sie zwingende Bestimmungen des Völkerrechts sowie die durch die EMRK geschützten Menschenrechte verletzt.283 Auch hier bliebe jedoch der Schutzbereich nicht primär durchs nationale Recht definiert, da der Umfang der Konventionsrechte durch die Rechtsprechung des EGMR beeinflusst und determiniert wird. Eine expansive Auslegung von Konventionsrechten durch den Gerichtshof würde automatisch zu einer weiteren Beschränkung der Volksrechte führen. Hier eröffnet sich ein unerwarteter Rollentausch zwischen der in ihrem Selbstverständnis gänzlich unabhängigen Schweiz und der Union. In der Schweiz werden die Volksrechte durch eine Schranke begrenzt, die, wenn auch von nationalen Instanzen im Einzelfall angewendet, letzten Endes extrinsischer Natur ist. Die „Werte der Union“ hingegen sind, obschon selbst nicht ex nihilo gewonnen, ein intrinsischer Begriff des (primären) Unionsrechts, der autonom entwickelt und angewendet wird.284 Un(Bundesrat, Botschaft über eine neue Bundesverfassung (Anm. 213), 361–362). Die Schranke des zwingenden Völkerrechtes wurde diskussionslos von beiden Räten akzeptiert: Lombardi/Hangartner (Anm. 136), Rn. 12. Aus der Formulierung „zwingende Normen des Völkerrechts“ anstelle von „zwingendem Völkerrecht“ oder „ius cogens“ kann kaum ein substantieller Unterschied abgeleitet werden, wie dies teilweise in Schrifttum und Politik postuliert wird (vgl. z. B. Andreas Gross, AB NR 2011 V 2168; Helen Keller et al., Volksinitiativen und Völkerrecht: Die Zeit ist reif für eine Verfassungsänderung, 109 ZBl (2008), 121, 135–136). 281 Vienna Convention on the Law of Treaties, 1969, 1155 U. N. T. S. 332, Art. 53: „. . . a peremptory norm of general international law is a norm accepted and recognized by the international community of States as a whole as a norm from which no derogation is permitted . . .“. Diese Defi nition gilt zwar nur „for the purposes of the present Convention“, ist aber allgemein akzeptiert, und der Bundesrat stützte sich darauf sowohl 1994 wie auch im Rahmen der Verfassungsrevision. 282 Supra Anm. 211. 283 Vgl. für einen weiteren Vorschlag Keller (Anm. 280), 121, 149 : „Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder Bestimmungen des Völkerrechts, die für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind, so erklärt die Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise ungültig.“ Der Begriff „vital“ scheint hier problematisch, zumindest, wenn er wörtlich genommen wird: Welche Völkerrechtsbestimmungen sind schon (über)lebensnotwendig? Vgl. zur Problematik solcher Begriffl ichkeit Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, I. C. J. Reports 1996, 226, 254, 266. 284 Dieser Unterschied zwischen intern und extern determinierten Schranken lässt sich auch in anderem Zusammenhang illustrieren. Im bekannten Fall Kadi hatte das Gericht zunächst abgelehnt, Ka-
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abhängig vom Ausmaß der Einschränkungen, die im Falle der Union deutlich stärker ausfallen, könnte die Schweiz hier durchaus von der Regelung der Bürgerinitative lernen: Eine genuin autonome Regelung stützte sich nicht auf das völkerrechtliche ius-cogens-Kriterium oder auf die EMRK, sondern verwiese stattdessen beispielsweise auf einen verfassungsrechtlichen Grundrechtekatalog mit erhöhtem Status. Wie problematisch die „fremdbestimmte“ Schrankenregelung der Schweiz ist, illustriert das Beispiel der Todesstrafe. 2010 sorgte die Einreichung einer Initiative für Aufruhr, welche die Wiedereinführung der Todesstrafe bei mit Sexualdelikten verbundenen Morden forderte.285 Obwohl das Initiativkomitee das Vorhaben bald abbrach, wurde in der dadurch ausgelösten Diskussion manifest, wie problematisch und deutungsbedürftig das externe Kriterium des zwingenden Völkerrechts bleibt.286 Die in einer intensiven Diskussion eruierten „Werte der Schweiz“, demokratisch legitimiert in einer Volksabstimmung, böten eine eigenständige und selbstbewusste Alternative zum problematischen ius cogens-Begriff. Fraglich bleibt aber, ob eine solche substantielle Neuerung ohne begleitende institutionelle Änderungen sinnvoll wäre. Bereits unter der geltenden Regelung zeigt sich, dass für eine rechtliche Beurteilung – sofern eine solche tatsächlich gewünscht ist – das Parlament als politischer Körper ungeeignet ist.287 Alternativ ist eine Prüfung durch ein Expertengremium denkbar (wie dies schon im Rahmen früherer Diskussionen vorgeschlagen wurde288 ) oder aber durch das Bundesgericht.289 Gerade in die-
pitel-VII-Resolutionen des UN-Sicherheitsrates an den Unionsgrundrechten zu messen, sondern ließ lediglich eine Überprüfung derselben an Hand des (völkerrechtlichen) ius cogens zu – dessen Verletzung es in casu verneinte (vgl. EuG, Rs. T-315/01, Kadi/Rat und Kommission, Slg. 2005, II-3649, v. a. Rn. 225 ff.). Der im Rechtsmittelwege angerufene Gerichtshof verlangte dagegen, dass alle Unionsrechtsakte (einschließlich der Umsetzungsakte von völkerrechtlich verbindlichen Resolutionen des Sicherheitsrates) in Übereinstimmung mit den Unionsgrundrechten als Teil des Unionsverfassungsrechts stehen müssen (EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi und Al Barakaat/Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351, v. a. Rn. 281 ff. und Rn. 326 f.), und gab insofern dem internen Maßstab Vorrang vor dem externen. Das Schweizer Bundesgericht hingegen hat in einem analogen Fall das Primat völkerrechtlicher Normen geschützt und dabei alleine das ius cogens als Schranke akzeptiert (Nada gegen Seco, BGE 133 II 450). Vgl. dazu Oliver Diggelmann, Targeted sanctions und Menschenrechte: Refl exionen zu einem ungeklärten Verhältnis, 19 SZIER/RSDIE (2009), 301, 306–307, 318. 285 „Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch“, BBl 2010 5471 (Vorprüfung). 286 Art. 9 BV verbietet die Todesstrafe in Friedens- wie auch in Kriegszeiten. Die Schweiz hat sowohl das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe vom 28. 4. 1983, E. T. S. 114, wie auch das (unkündbare) 2. Zusatzprotokoll zum UNO-Pakt II vom 15. 12. 1989, 1642 U. N. T. S. 414, ratifi ziert. In der politischen ebenso wie in der wissenschaftlichen Diskussion bestand Uneinigkeit, ob eine solche Initiative gültig wäre (aber ggf. nicht umgesetzt werden könnte) oder ob sie aufgrund einer regionalen, d. h. europäischen ius cogens-Norm für ungültig erklärt werden müsste (vgl. AB NR 2010 III 1545–7; AB SR 2012 I XXX (29.2.); Helen Keller, Volksrechte und Menschenrechte in Sachen Todesstrafe, NZZ, 26. 8. 2010, 21; Chiara Piras / Stephan Breitenmoser, Das Verbot der Todesstrafe als regionales ius cogens, AJP/PJA (2011), 331). 287 Dies wird unterstrichen durch die Ungültigkeitsdiskussionen im Zusammenhang mit der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative: AB 2009 I 118, AB 2009 III 545; AB 2010 II 680–681. 288 Supra Anm. 218. 289 So insb. Andreas Auer, Statt Abbau der Volksrechte – Ausbau des Rechtsstaates, NZZ, 10. 9. 2008, 15 und Daniel Moeckli, Of Minarets and Foreign Criminals: Swiss Direct Democracy and Human Rights, 11 Human Rights Law Review (2011), 793.
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sem Bereich könnte die Schweiz auf die mittlerweile langjährige Erfahrung mit der starken Betonung des Rechtsschutzelementes in der Union zurückgreifen.290 Diese Fragen werden inzwischen nicht nur im Schrifttum, sondern auch in der Schweizer Politik intensiv diskutiert. Eine Parlamentarische Initiative verlangte bereits 2007 (erfolglos), dass Volksinitiativen für ungültig zu erklären wären, wenn sie gegen völkerrechtliche Grundrechts- und Verfahrensgarantien verstießen.291 Im gleichen Jahr wurde der Bundesrat beauftragt, das Verhältnis von Völker- und Landesrecht insbesondere im Zusammenhang mit Volksinitiativen zu untersuchen und zu überdenken.292 Der Bundesrat sah in einem ersten Bericht keine Notwendigkeit für „grundlegende Änderungen der heutigen Regelung“, auch wenn er anerkannte, dass „es gewisse Probleme mit Volksinitiativen gibt, die dem Völkerrecht widersprechen.“293 In einem vom Parlament geforderten Zusatzbericht unterbreitete die Regierung dann doch spezifische materielle, prozedurale und institutionelle Reformvorschläge. So könnte die rein formelle Vorprüfung von Initiativen 294 um eine behördliche Prüfung der Völkerrechtskonformität und damit um ein materielles Element ergänzt werden. Das Ergebnis dieser Prüfung wäre dann auf den Unterschriftsbögen zu vermerken.295 Da damit aber völkerrechtswidrige Initiativen nach wie vor nicht ausgeschlossen wären, schlug der Bundesrat auch vor, die Ergänzung der materiellen Schranken um den Schutz „grundrechtliche[r] Kerngehalte“ zu prüfen.296 Gestützt auf den Bericht des Bundesrates hat die Bundesversammlung nun – eher unerwartet – sowohl eine nichtbindende Gültigkeitsprüfung vor Beginn der Unterschriftensammlung wie auch eine Erweiterung des Katalogs der materiellen Gründe für die Ungültigerklärung einer Volksinitiative (beispielsweise um die Beachtung des Kerngehalts der Grundrechte der Bundesverfassung oder des Kerngehalts der EMRK) gutgeheißen und den Bundesrat in zwei Motionen zur Ausarbeitung entsprechender Vorlagen aufgefordert.297 290
Vgl. supra IV.A.4. Vgl. Gültigkeit von Volksinitiativen (Parlamentarische Initiative – Daniel Vischer GP), Nationalrat, Curia Vista 07.477 (5. 10. 2007) (abgelehnt). 292 Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht (Postulat Kommission für Rechtsfragen), Ständerat, 07.3764 (16.102007); Volksinitiativen und Völkerrecht (Postulat Staatspolitische Kommissison), Nationalrat, Curia Vista 08.3765 (20. 11. 2008). Für weitere Reformforderungen im Parlament vgl. Gültigkeit von Volksinitiativen: Juristischer Entscheid vor Beginn der Unterschriftensammlung, Nationalrat, Curia Vista 09.521 (Parlamentarische Initiative – Isabelle Moret FDP) (11. 12. 2009); Mehr Transparenz zur Stärkung der Volksrechte, Nationalrat, Curia Vista 09.3118 (Postulat – Bea Heim SP) (17. 3. 2009); Volksinitiativen und Völkerrecht, Nationalrat, Curia Vista 10.494 (Parlamentarische Initiative – Viola Amherd CVP) (1. 10. 2010). 293 Schweizerischer Bundesrat, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2010 2263, 2265 (5. 3. 2010). 294 Supra Anm. 125. 295 Bundesrat, Zusatzbericht des Bundesrats zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2011 3613, 3632–3639 (30. 3. 2011). Diese Änderung könnte auf Gesetzesstufe erfolgen. 296 Als Zusatzoption wird auch der Einschluss des Diskriminierungsverbotes diskutiert; auf jeden Fall wäre aber eine Verfassungsänderung notwendig: Bundesrat, Zusatzbericht (Anm. 295), 3640–3653. Als weitere Variante (von welcher die Regierung jedoch abrät) wird eine allgemeine Kollisionsregel analog der Schubertpraxis (supra Anm. 222) erwähnt (Bundesrat, Zusatzbericht (Anm. 295), 3653– 3660). 297 Massnahme zur besseren Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten, Ständerat, 291
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Desungeachtet bleibt eine Reihe von wichtigen Fragen offen. So legt der Wortlaut der Motionen nahe, die Vorprüfung betreffe die Gültigkeit der Initiative und somit eine potentielle Verletzung zwingenden Völkerrechts (was die anschließende Beratung in der Bundesversammlung präjudizieren würde). In der parlamentarischen Diskussion wurde hingegen allgemeiner von einer Überprüfung der Völkerrechtskompatibilität gesprochen 298 – ein Verfahrensschritt mit beschränkter Tragweite, da er sich auf die Vereinbarkeit mit sämtlichen internationalen Verpfl ichtungen bezieht.299 Auch die Erweiterung der Schranken um den „Kerngehalt der EMRK“ brächte nicht unmittelbar Besserung, da ein solcher Gehalt wohl zuerst definiert werden müsste.300 Auch würde die Frage perpetuiert, ob nationale oder Konventionsorgane den entsprechenden Schutzgehalt festlegen und gegebenenfalls weiterentwickeln. Beim vom Bundesrat verwendeten Begriff des grundrechtlichen „Kerngehaltes“ wiederum handelt es sich zwar primär um einen verfassungsrechtlichen Begriff,301 der aber ebenfalls auslegungsbedürftig und keineswegs gefestigt ist.302 Gerade im Bereich der Freiheitsrechte würde das Konfl iktpotential beispielsweise mit der EMRK nur graduell reduziert.303 Aber im Gegensatz zur ius cogens-Schranke oder zum EMRK-Kerngehalt wäre ein solches Kriterium genuin autonom und insofern den Unionswerten verwandt, die ebenfalls ein Minimum an unverbrüchlichen Rechten sicherstellen sollen.304 Jedoch würde die institutionelle Problematik durch diese Lösung zusätzlich verschärft. Bereits unter der geltenden ius-cogens-Schranke überwogen im Parlament teilweise politische, nicht juristische Überlegungen – und zwar sowohl auf Seiten der Vertreter unbeschränkter Volksrechte wie auch der VerCuria Vista 11.3751 – Motion (Staatspolitische Kommission Ständerat) (28. 6. 2011); Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten, Nationalrat, Curia Vista 11.3468 – Motion (Staatspolitische Kommission Nationalrat) (19. 5. 2011). 298 Die Motionen (supra Anm. 297) fordern eine „nichtbindende materielle Vorprüfung von Volksinitiativen bezüglich ihrer Gültigkeit vor Beginn der Unterschriftensammlung“; zur parlamentarischen Beratung siehe AB NR 2011 V 2165 und AB SR 2011 IV 848. 299 Die Erwartung, dass die Initianten im Falle einer Völkerrechtsverletzung den Initiativtext entsprechend anpassen, „um Konkordanz mit dem Völkerrecht herzustellen“ (Bundesrat, Zusatzbericht (Anm. 295), 3632), ist unrealistisch. Konfl ikte mit dem internationalen Recht werden (beispielsweise bei der Minarettinitiative) bewusst in Kauf genommen oder sogar gesucht. Selbst Befürworter einer Vorprüfung anerkennen, dass die Warnung vor einer Völkerrechtsverletzung auf Unterschriftsbögen geradezu als „Propagandabeitrag“‘ wirken könnte (AB NR 2011 V 2168). 300 Der Begriff ist im Zusammenhang mit der EMRK nicht geläufig. Wird er auf die notstandfesten Konventionsrechte (Art. 15 EMRK) bezogen, so folgt daraus höchstens eine minime Erweiterung des Grundrechtsschutzes über den ius-cogens-Standard hinaus. 301 Vgl. zum Bericht des Bundesrates supra Anm. 296. Art. 36 Abs. 4 BV erklärt (ähnlich wie Art. 19 Abs. 2 GG und Art. 52 Abs. 1 GRC den „Wesensgehalt“ der Grundrechte qualifi ziert schützen) den Kerngehalt der Grundrechte für unantastbar. 302 Rainer J. Schweizer, Art. 36, in Ehrenzeller et al. (Anm. 78), Rn. 28–29; Christof Riedo/Marcel Alexander Niggli, Unantastbar? Bemerkungen zum sogenannten Kerngehalt von Grundrechten oder Much Ado About Nothing, 2011 AJP/PJA (2011), 762. In einigen Teilbereichen brächte der Kerngehaltsschutz aber bereits Klarheit. So steht außer Frage, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe mit dem Kerngehalt des Rechts auf Leben (Art. 9 BV) unvereinbar ist: Bundesrat, Botschaft über eine neue Bundesverfassung (Anm. 213), 147. 303 So fällt etwa das Verbot von Minaretten nicht in den Kernbereich des Rechts auf Religionsfreiheit. Auch über die „Kerngehaltsqualität“ des Diskriminierungsverbotes besteht keine Einigkeit: Bundesrat, Zusatzbericht (Anm. 295), 3644. 304 Vgl. dazu supra III.A.3.a).
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teidiger der Grundrechte.305 Dass die Bundesversammlung die komplexere Aufgabe der Kernbereichbestimmung besser löst, ist unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist freilich, dass die entsprechende Entscheidkompetenz dem Bundesgericht zugestanden würde.306
3. Eine „Majoritarian Difficulty“? Durch die Häufung völkerrechtswidriger Initiativen ist also nicht nur die wissenschaftliche Diskussion belebt worden.307 Die Annahme der Minarett-Initiative wie auch der Ausschaffungsinitiative innert Jahresfrist hat auch auf politischer Ebene katalytische Wirkung entfaltet: Die Möglichkeit einer Vorprüfung oder der Ergänzung der materiellen Schranken wäre ansonsten kaum vom Parlament gutgeheißen worden. Natürlich ist fraglich – sogar zweifelhaft –, ob diese Änderungen schließlich auch realisiert werden. Der politische Widerstand bleibt beachtlich. Es wird bereits vor einer Einschränkung, ja einer „Amputation“ der Volksrechte gewarnt.308 Aus dieser Sicht werden auch (insbesondere international verankerte) Grundrechte, die vor dem Staat schützen (und damit, würde man meinen, der Freiheit dienen), in der Schweiz potentiell als freiheitsfeindlich angesehen, da dort das „Volk“ mit dem Staat deckungsgleich sein soll.309 Es bestünde daher kein Bedarf für als aufoktroyiert wahrgenommene Schutznormen: Die Bürger und Bürgerinnen in der Schweiz und ihre demokratischen Rechte wären selbst die besten Garanten für den Schutz vor staatlichen Eingriffen. Diese Auffassung wurde schon 1954 von Zaccaria Giacometti zur Formel von der „Demokratie als Hüterin der Menschenrechte“ verdichtet.310 Gerade aber die Behauptung Giacomettis, dass das (schweizerische) Volk als Verfassungsgeber „in der Rechtswirklichkeit“, also auf empirischer Ebene die Menschenrechte besser schütze,311 wird durch einige der kürzlich angenommenen Volksinitiativen in Frage gestellt. Menschenrechte sind auch und nachgerade Minderheits- und Minderheitenrechte. Die Gleichsetzung von Demokratie und Menschenrechtsschutz versagt dort, wo eine Mehrheit die Beschneidung der Rechte von Minderheiten gutheißt, für sich 305
Vgl. die Hinweise supra Anm. 216. Zwar hat das Parlament in der Wintersession 2011/12 erstmals für die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit votiert, indem Art. 190 BV (supra Anm. 222) ersatzlos gestrichen werden soll (AB NR 2011 V 1927). Diese Normenkontrolle ist jedoch auf konkrete Anwendungsakte beschränkt und erfasst die Gültigkeit von Initiativen in keiner Weise. 307 Vgl. insb. Biaggini (Anm. 19); Keller (Anm. 280); Moeckli (Anm. 289); Reich (Anm. 278). 308 AB NR 2011 V 2167. Vgl. auch: Internationales Recht raubt die Handlungssouveränität der Schweiz, Curia Vista 09.4278 (Interpellation, SVP) (11. 12. 2009), und Defi nition des zwingenden Völkerrechts, Nationalrat, Curia Vista 09.466 (Parlamentarische Initiative, SVP) (12. 6. 2009) (wonach das zwingende Völkerrecht in der Verfassung defi niert werden und alleine das Verbot des Angriffskrieges, das Verbot der Folter, das Verbot des Völkermordes und das Verbot der Sklaverei umfassen soll). 309 Aus dieser Perspektive bedroht die EMRK folgerichtig die „staatlichen Freiheitsrechte“ der Schweizer: Schweizerische Volkspartei, SVP – Die Partei für die Schweiz. Parteiprogramm 2011–2015, 2011, 16. 310 Zaccaria Giacometti, Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte, 1954, 6–8. 311 Giacometti (Anm. 310), 8, 17–19. Vgl. dazu auch Reich (Anm. 278), 1001, Anm. 75. 306
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selbst diese Rechte aber weiterhin in Anspruch nehmen kann. Das Fehlen jeglicher (gerichtlicher und damit demokratisch schwächer legitimierter) Kontrollmechanismen mag zwar dazu führen, dass die counter-majoritarian diffi culty312 in der Schweiz kaum je aufscheint, sich dafür aber zunehmend die Frage nach einer „majoritarian diffi culty“ stellt.313 Mit dem Festhalten an der gegenwärtigen Regelung wird das Problem der demokratisch fragwürdigen, substantiell aber vielleicht wünschenswerten Normkontrolle jedoch nur verlagert, nicht gelöst. Werden nämlich demokratische Entscheide letztlich aufgrund internationaler Abkommen und von internationalen Organen wie beispielsweise dem EGMR überprüft, nimmt die demokratische Legitimation nicht zu, sondern ab. Hier sehen wir als Alternative wiederum die Regelung der Union, in der autonome Werte durch autochthone richterliche Instituionen durchgesetzt werden. Eine solche richterliche Überprüfung ist indessen natürlich nicht die Lösung, welche den Befürwortern unbeschränkter Volksrechte vorschwebt. Ohne jegliche Kontrolle – national oder international – soll das Volk entscheiden können. Die Frage, ob die Schweiz sich nicht ums Völkerrecht schert oder scheren soll, ist deshalb falsch gestellt. Die wichtigere Frage für das Schweizer Gemeinwesen ist, ob es die Werte, wie sie insbesondere in menschenrechtlichen Instrumenten kodifiziert sind, als Richtschnur auch für das Handeln des Volkes akzeptieren will. Mit anderen Worten: Das Minarettverbot ist nicht primär problematisch, weil es gegen verschiedene Vorschriften der EMRK oder des UNO-Pakts II verstößt, sondern weil es die Gerechtigkeitsüberlegungen, die in diesen Instrumenten konkretisiert sind, ignoriert. Ein inhaltlich uneingeschränkter Entscheidungsprozess auf Mehrheitsbasis ist auch nicht deshalb problematisch, weil er in letzter Konsequenz die Kündigung internationaler Verträge wie beispielsweise der EMRK nach sich ziehen könnte,314 sondern weil damit die bisherigen Prämissen des Zusammenlebens in der Schweiz fundamental in Frage gestellt würden. Hier zeigt sich der Vorteil einer Regelung, in welcher wie bei der Union grundsätzlich entschieden wurde, dass gewisse Werte grundlegend sein sollen. Die Frage an die Schweiz müsste lauten, ob in ihr jedermann seine Religion ausüben kann, solange er damit dem Gemeinwesen nicht schadet – nicht, ob Minarette gebaut werden dürfen oder nicht. Eine solche Argumentation gründet freilich auf der Annahme, dass ohne rechtliche Schranken das „Volk“ vermehrt grund- und menschrechtswidrige Initiativen gutheißen wird. Es ist fraglich, ob eine solche Annahme durch einige problematische 312 Vgl. klassisch Alexander M. Bickel, The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962, 16–23. Dabei geht es um die im US-amerikanischen Verfassungsrecht breit diskutierte Frage, mit welcher Legitimität eine richterliche Elite Entscheidungen der demokratischen Mehrheit hintansetzt. Vgl. Barry Friedman, The Birth of an Academic Obsession: The History of the Countermajoritarian Diffi culty, 112 Yale Law Journal (2002), 153. 313 Kontrovers wurde in diesem Zusammenhang einzig der Entscheid des Bundesgerichts diskutiert, wonach auch demokratische Einbürgerungsentscheide gewisse minimale Verfahrensrechte der Antragsteller zu wahren haben: A. und Mitb. gegen Einwohnergemeinde Emmen und Regierungsrat des Kantons Luzern, BGE 129 I 217, 9. 7. 2003, Schweizerische Volkspartei der Stadt Zürich (SVP) et al. gegen Gemeinderat von Zürich et al., BGE 129 I 232, 9. 7. 2003. Vgl. dazu Daniel Thürer/Michael Frei, Einbürgerung im Spannungsfeld zwischen direkter Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – Zu zwei „historischen“ Entscheiden des Schweizerischen Bundesgerichts, 123 ZSR (2004), 205. 314 Vgl. Langer (Anm. 23), 229.
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Initiativen bereits genügend gestützt wird und die Schweiz deshalb eine restriktivere Regelung mehr nach Vorbild der Union suchen sollte. Berücksichtigt man nämlich einen weiteren zeitlichen Horizont, so gewinnt das empirische Argument Giacomettis durchaus an Gewicht. In der longue durée haben sich die direktdemokratischen Instrumente in der Schweiz bewährt. Gerade vom Missbrauch demokratischer Instrumente zur Errichtung eines diktatorischen Regimes – andernorts ein Hauptgrund für die Skepsis gegenüber direkter Demokratie – blieb die Schweiz auch in bewegten Zeiten verschont: wie gezeigt, scheiterte die Frontistenbewegung gerade an den Urnen.315 Der Schweizer Souverän hat sich als relativ stabil und konstant erwiesen – im Guten wie im Schlechten.316 Überraschungen sind selten, auch wenn sie sich in letzter Zeit zu häufen scheinen.317 Auch sind die Relationen zu wahren: Nur wenige Volksinitiativen werden tatsächlich angenommen.318 Politisch ist die Möglichkeit der Initative mindestens so wichtig wie eine tatsächliche Initiative, da Bundesversammlung und Bundesrat stets eine mögliche Willensäußerung mitberücksichtigen müssen. Populistische Vorstöße haben generell einen schweren Stand.319 Das Argument, dass die gegenwärtige Lösung nicht voreilig geändert werden sollte, sondern nur etwas mehr Verantwortung in der Handhabung des Instruments der Volksinitiative vonnöten wäre, hat deshalb durchaus Gewicht.320 Das auf den ersten Blick simplistische System ist in Wahrheit wohl ausbalanciert. Die differenzierte Berücksichtigung von Volks- und Ständemehr beispielsweise erlaubt, sowohl Gesamt-, wie auch Teilstaatsinteressen angemessen zu gewichten. Aus historischer Sicht ist das Zusammenwachsen der früheren, disparaten Bestandteile der Alten Eidgenossenschaft zu einem viersprachigen Bundesstaat ein bemerkenswerter Vorgang, der so zwar für die Union nicht reproduzierbar ist, ihr aber doch als Inspiration dienen kann. Denn wenn in der Union kulturelle oder sprachliche Unterschiede als Hindernis für die Entwicklung eines „Stimmvolkes“ gesehen werden,321 so muss daran erinnert werden, dass die Schweiz als Willensnation par excellence gelten kann.322 Doch darf man trotz dieser positiven Aspekte nicht übersehen, dass gewisse Probleme gerade im Zusammenhang mit den Rechten von Minderheiten dem Initiativrecht inhärent sind und auch von Beginn an evident waren.323 Minarett- und Ausschaffungsinitiative haben diese Probleme akzentuiert. Die Frage, ob die Einführung zusätzlicher Schranken mit echtem Vertrauen in den Souverän vereinbar ist, ist wie315
Supra Anm. 116. Aus kritischer Warte könnte man auch von einer gewissen Trägheit sprechen. Wichtige Schritte wie die Einführung des Frauenstimmrechts, die Mutterschaftsversicherung und der UNO-Beitritt benötigten mehrere Anläufe oft über viele Jahre hinweg. 317 Eine gewisse Signalwirkung ging in dieser Hinsicht von der (durch die EU keineswegs geschätzten) „Alpeninitiative“ aus, welche den Transitverkehr durch die Schweiz beschränkte (vgl. Art. 84 BV). 318 Supra bei Anm. 93. 319 Vgl. die am 11. 3. 2012 in allen Kantonen deutlich abgelehnte „Ferieninitative“, welche die Mindestzahl von Ferienwochen von vier auf sechs erhöht hätte (BBl 2008 181). 320 Deshalb wird im Schriftum teilweise die Ansicht vertreten, es sei keine Normänderung nötig, jedoch ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein: Kiener (Anm. 223), 255; Reich (Anm. 278), 1023. 321 Vgl. supra Anm. 262. 322 Vgl. etwa Bluntschli (Anm. 264), 544. 323 So spielten antisemitische Parolen in der ersten Volksinitiative (gegen das Schächten, supra Anm. 92) eine prominente Rolle (Langer (Anm. 19), 940, Anm. 473 m. w. N.). 316
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derum irreführend formuliert. Wichtiger ist, sich zu überlegen, ob gewisse Rechte nicht nur notstands-, sondern auch demokratiefest sein sollen. Diese Frage kann nur von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern selbst beantwortet werden. Tun sie dies und heißen somit zusätzliche materielle Einschränkungen der Volksrechte gut, so handelt sich keineswegs um ein Diktat des Völkerrechts, sondern um bewusste Selbstbeschränkung. Dieses Spannungsverhältnis der Freiheit zur Selbstbeschränkung ist bereits in der Präambel der Bundesverfassung vorgezeichnet, die betont, „dass zwar frei nur sein kann, wer seine Freiheit auch gebraucht, dass aber die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“
V. Fazit Bei der Schweizer Volksinitiative und der Europäischen Bürgerinitiative handelt es sich, wie die vorangehende Untersuchung gezeigt hat, nach fast jedem Vergleichskriterium nicht bloß um sehr unterschiedliche Geschwister, sondern eher um entfernte Verwandte. Dies fängt bei der historischen Einordnung an, denn die schweizerischen Mechanismen direktdemokratischer Partizipation können (auch bei einer entmythologisierten Betrachtungsweise) auf eine jedenfalls mehr als hundertjährige Geschichte zurückblicken, während jene in der Union gerade erst aus der Taufe gehoben wurden. Die Schweizer Volksinitiative ist auf Verfassungsänderung ausgerichtet und inkludiert auch ein Selbstbefassungsrecht des Stimmvolkes, während ihr europäisches Pendant auf Sekundärrecht zielt, und auch dort nur auf den Anstoß des regulären unionalen Rechtssetzungsverfahrens. In der Schweiz fungiert die demokratisch unmittelbar legitimierte Bundesversammlung als Prüfungsinstanz mit beschränkter Kompetenz. Die Verfassung gibt ihr nur wenige Möglichkeiten an die Hand, eine Volksinitiative für unzulässig zu erklären (namentlich die ius cogens-Schranke sowie Einheit der Form und der Materie), und selbst diese werden nur äußert sparsam wahrgenommen. Bei der Bürgerinitiative fungiert als „Türhüter“ dagegen die demokratisch bloß schwach legitimierte Kommission, der bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Initiative eine ganze Reihe von rechtlichen Ausschlusskriterien an die Hand gegeben ist (offenkundiges Fehlen der Verband- und Organkompetenz, offenkundiger Verstoß gegen die Werte der Union, offenkundig missbräuchlicher, unseriöser oder schikanöser Charakter der Initiative) – von ihrem politischen Ermessen, ob der Vorschlag eines Rechtsakts opportun ist, ganz abgesehen. Schließlich ist die gerichtliche Kontrolle bei der Schweizer Volksinitiative nur ganz rudimentär ausgestaltet, während für den EuGH in Bezug auf die Bürgerinitiative relevante Rechtsschutzzuständigkeiten bestehen. Diese große Heterogenität schließt jedoch, wie wir gesehen haben, wechselseitiges Lernen keineswegs aus: Für die Union gilt zwar, dass mit der Schaffung der Bürgerinitiative erstmals ein Element direktdemokratischer Partizipation ins Unionsverfassungsrecht eingeführt wurde. Im Lichte des Vergleichs mit der Schweizer Volksinitiative ist aber auch deutlich geworden, dass jegliche Euphorie in Sachen direktdemokratisches Potenzial der Union fehl am Platz ist. Stellungnahmen wie jene des EP,
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wonach „die Bürger durch die Einführung der ‚Bürgerinitiative‘ in den Vertrag von Lissabon die Ausübung der souveränen Macht der Union unmittelbar beeinflussen werden, da sie zum ersten Mal unmittelbar an der Initiierung europäischer Rechtsetzungsvorschläge beteiligt sind“324, sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. Wichtiger wäre, dass tatsächlich im Sinne der „nachdrücklichen“ Forderung des EP gehandelt wird, „dieses neue Instrument auf eine Art und Weise umzusetzen, die die Menschen wirklich zu seiner Verwendung ermutigt“.325 Das EP hat sich indes diesen Ratschlag selbst nur beschränkt zu Herzen genommen. Gerade die paternalistischen Tendenzen in der Ausführungsgesetzgebung, wie sie im Ausschluss von offenkundig missbräuchlichen, unseriösen oder schikanösen Initiativen von der Registrierung manifest werden, wären nämlich vermeidbar gewesen. Auf die eingangs gestellte Frage,326 ob die Bürgerinitiative ihrem Schweizer Pendant zumindest insofern gleicht, als sie der Bürgerschaft die Chance auf effektiven Einfluss auf die Meinungsbildung- und Entscheidungsprozesse in der Union einräumt und dementsprechend die Bezeichnung als Instrument direktdemokratischer Partizipation verdient, wird man wohl nur eine vorsichtig positive Antwort geben können – und dies auch nur dann, wenn die Bürgerinitiative zumindest in dem bescheidenen Umfang ernst genommen wird, in dem sie jetzt ins Unionsverfassungsrecht Eingang gefunden hat. Wie unterstrichen wurde, schließt dieses Ernstnehmen ausdrücklich die Anerkennung ein, dass direktdemokratische Partizipation oft einen Fremd-, Stör-, aber auch Korrektivfaktor für den eingespielten repräsentativdemokratischen Prozess in untereinander wohlaustarierten politischen Eliten darstellt.327 Gerade diesbezüglich könnte die Union vom Schweizer Umgang mit und Respekt vor Initiativen direkt aus der Bürgerschaft eine wichtige Lektion lernen. Ist man zu diesem Respekt nicht bereit, wird es bei einem Akt des direktdemokratischen window dressing bleiben, d. h. bei einer von vielen symbolischen Gesten zur Beschwörung der verbesserten demokratischen Legitimation der Union. Aktionen wie die vorgeschlagene Ausrufung des Jahres 2013 als das „Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger“ sind kein Ersatz für deren substantielle Partizipation.328 Will man es hingegen i. S. d. Art. 11 Abs. 4 EUV tatsächlich mit der direkten Demokratie im Unionsrecht versuchen, muss dies vor allem in der mit Inkrafttreten der EBI-VO am 1. April 2012 beginnenden Praxis der Unionsorgane sichtbar werden. 1) Dies gilt zunächst für die Prüfpraxis der Kommission, an die sich die Bürgerinitiativen richten, namentlich im Registrierungsverfahren. Hier hat sich die Kommission mit einer Grobprüfung zu begnügen, ob eine Initiative in die Zuständigkeitsgrenzen von Union und Kommission fällt und ob sie gegen die Werte der Union verstößt. Vor allem aber sollte die Kommission die paternalistischen Ausschlusskriterien aus ihrem Prüfrepertoire verbannen. Jedenfalls sollte sie detailliert darlegen, wenn und inwieweit Initiativanliegen nicht mit den Vorgaben des EU-Rechts in Einklang zu bringen sind. 2) In weiterer Folge ist auch das EP als einziges direkt 324
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. 11. 2009, P7_TA(2009)0090, Nr. 33. Vgl. ebd., Nr. 33. 326 Vgl. supra I.C. 327 Vgl. supra IV.A.3. 328 Vorschlag für einen Beschluss des EP und des Rates über das Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger (2013), KOM(2011) 489 endg. 325
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demokratisch legitimiertes Organ der Union aufgerufen, Bürgerinitiativen konstruktiv zu begleiten (vgl. dazu die Mitwirkungsmöglichkeiten des EP gem. Art. 10 f. EBI-VO)329 und die Kommission ggf. (auch durch Verwendung des Aufforderungsrechts des EP gem. Art. 225 AEUV) anzuhalten, Bürgeranliegen ernsthaft zu prüfen und dem Unionsgesetzgeber entsprechende Legislativvorschläge zu unterbreiten. 3) Schließlich darf man sich vom EuGH erhoffen, dass er in den für die kommenden Jahre zu erwartenden Entscheidungen zur Bürgerinitiative – sowohl zur Frage, inwieweit gegenüber registrierungsverweigernden Beschlüssen bzw. Inaktivität der Kommission unionsgerichtlicher Rechtsschutz besteht, als auch zum Umfang der Reaktionspfl ichten, der sich für die Kommission angesichts einer erfolgreichen Bürgerinitiative ergibt 330 – den nötigen Raum zur Entfaltung des neuen direktdemokratischen Elements im Unionsverfassungsrecht sicherstellen wird. In der Schweiz wiederum besteht kein Mangel an direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger – im Gegenteil: Mit Hilfe der Verfassungsinitiative können sie in jedem Politikbereich Grundsatz- ebenso wie Detailentscheide treffen. Der Vorbehalt der Einheit der Materie und der Form schränkt ein Initiativkomitee faktisch kaum ein, solange dieses sein Begehren sorgfältig formuliert. Die Schranke des ius cogens, die uns hier als Gegenfolie zu den Werten der Union besonders interessiert hat, stellt in der Regel ebenfalls keine besonders hohe Hürde dar. Die Bundesversammlung hat die „zwingenden Normen des Völkerrechts“ – auch wenn es sich dabei um einen verfassungsrechtlichen Begriff handeln mag – bisher konseqent in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlich akzeptierten ius-cogens-Begriff und damit eng ausgelegt. Besonders in den letzten Jahren hat eine Reihe von mit Grund- und Menschenrechten inkompatiblen Initiativen die Frage aufgeworfen, ob die niedrige Schranke des zwingenden Völkerrechts nicht der Ergänzung bedarf. Dafür lassen sich praktische Gründe anführen: Die wiederholte Verletzung auch nicht zwingender internationaler Normen kann das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft (und auch der Union) in die Schweiz beeinträchtigen und zu Gegenmaßnahmen führen. Dabei stellt sich die grundlegende Frage, ob nicht auch Mehrheitsentscheide gewissen grundrechtlichen Einschränkungen unterworfen sein sollten, gerade mit Blick auf die Rechte von Minderheiten. Dies impliziert nicht ein Misstrauen gegen demokratische Entscheidprozesse an sich: Auch die Schranken von Volksinitiativen selbst müssen selbstverständlich demokratisch legitimiert werden, wie dies für die gegenwärtig geltende ius-cogens-Regelung ex post mit Annahme der aktuellen Verfassung in einer Volksabstimmung geschah.331 Eine solche Selbstbeschränkung ist nicht undemokratisch und bedeutet auch keinen Schritt hin zu paternalistischen Tendenzen. Sie könnte vielmehr als Zeichen des außerordentlichen demokratischen Verantwortungsbewusstseins des kollektiven Volkssouveräns verstanden werden. Diesbezüglich könnte das Beispiel der Europäischen Bürgerinitiative durchaus auch für die Schweiz als demokratische „Musterschülerin“ fruchtbar gemacht werden. Mit den „Werten der Union“ hat die EU autonom festgelegt, welche Grenzen 329 330 331
Supra II.A.2. Vgl. supra II.A.3. Supra Anm. 209.
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auch ein millionenfach gutgeheißenes Bürgerbegehren grundsätzlich zu achten hat. Im Gegensatz dazu bleibt das zwingende Völkerrecht eine extrinsische Schranke, auch in einem nationalen Verfassungstext.332 Zirkuläre Diskussionen um eine regionale oder „nationale“ Ausprägung des ius cogens ändern diese Tatsache nicht, sondern verdeutlichen sie. Auch ein Verweis auf die EMRK oder deren (erst noch zu definierende) Kerngehalte bleiben einer solchen Fremdbestimmung verhaftet,333 ja verstärken diese noch, da im Falle der EMRK eine supranationale gerichtliche Instanz die Norminhalte autoritativ festlegt. Der bundesrätliche Vorschlag, auf die verfassungsrechtlich garantierten grundrechtlichen Kerngehalte zurückzugreifen,334 böte demgegenüber eine autonome Lösung (ähnlich den „Werten der Union“), die bei einer entsprechenden Verfassungsänderung erst noch (und dies im Gegensatz zur Union) auch unmittelbar demokratisch legitimiert wäre. Aber auch eine solche intrinsische Schranke bedarf letztendlich noch der Auslegung. Eine im schweizerischen Verfassungsrecht verankerte Regelung führte unvermeidbar zu einer höheren Dynamik und Variabilität als die inhaltlich zwar nicht unveränderbare, aber doch recht stabile Kategorie des zwingenden Völkerrechts. Wenn schon bei der Anwendung des bestehenden ius cogens-Vorbehaltes durch die Bundesversammlung eine übermäßige Politisierung und auch eine gelegentliche Überforderung zu beobachten war,335 so wäre dies bei einer komplexeren Schrankenlösung erst recht der Fall: Der Kerngehalt der Grundrechte beispielsweise ist kein bereits klar defi niertes Ungültigkeitskriterium für Volksinitiativen. Eine Änderung der materiellen Schranken müsste deshalb mit institutionellen Reformen einhergehen. Und hier sehen wir den zweiten wichtigen Punkt, wo sich ein Seitenblick auf die Bürgerinitative lohnen könnte. Nach dem Vorbild der relativ prominenten Stellung der Unionsgerichtsbarkeit könnte auch in der Schweiz eine gerichtliche Beurteilung im Einzelfall durch das Bundesgericht, ggf. im Verbund mit der Bundesversammlung,336 die angemessene Lösung für die komplexe verfassungsrechtliche Frage nach der Gültigkeit von Volksinitiativen darstellen. Die demokratische Legitimation mag damit verdünnt werden, unterbrochen ist sie nicht. Es handelt sich beim von der Bundesversammlung gewählten Bundesgericht nicht um „fremde Richter“,337 die Kompetenz des Gerichtes wird weiterhin und letzten Endes vom Souverän bestimmt. Das letzte Wort bleibt damit beim Volk. Das schweizerische und das europäische System direkter Demokratie können vom Blick auf den jeweils anderen also trotz und gerade wegen ihrer Verschiedenheit profitieren. Der Austausch hilft auch, die bestehenden Stereotypen – die „Demokratievergessenheit“ der Union und die „Demokratieversessenheit“ der Schweiz – besser einzuordnen und zu relativieren. Was man sich von einem solchen Unterfangen indes 332
Surpra IV.B.2. Dazu ebenfalls supra IV.B.2. 334 Supra Anm. 296. 335 Supra Anm. 216. 336 Vgl. dazu den gescheiterten Vorschlag eines „Vorlageverfahrens“, supra Anm. 219. 337 Die Ablehnung fremder Richter ist eine Konstante schweizerischen Selbstverständnisses, die bis zum Bundesbrief von 1291 zwischen den drei Waldstätten zurückreicht (vgl. den lat. Text in Hans Nabholz/Paul Kläuli, Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1940, 1–3). Die Wahl des Bundesgerichts ist im Grundsatz geregelt in Art. 168 Abs. 1 BV. 333
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nicht erwarten darf, sind Einsichten in das rechte Maß an direkter Bürgerbeteiligung in politischen Entscheidungsprozessen. Angesichts der Heterogenität der Voraussetzungen sind wechselseitige Befruchtung und Inspiration zwar wünschenswert, nicht aber eine unreflektierte Übernahme von legal transplants338 von der einen Rechtsordnung in die andere. Doch wenn die Mittel auch unterschiedlich sein mögen – in der Zielsetzung, wie das Zusammenleben innerhalb des jeweiligen Gemeinwesens idealerweise zu gestalten sei, besteht kein grundlegender oder gar unüberbrückbarer Unterschied. Bezeichnenderweise haben sich nämlich die Schweizer auferlegt, „in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben“,339 ebenso wie sich die Europäische Union dem Leitspruch „In Vielfalt geeint“ verschrieben hat.340 Volksinitiative und Bürgerinitiative können dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
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Vgl. Alan Watson, Legal Transplants: An Approach to Comparative Law, 1974. Präambel, Abs. 4 BV. 340 Vgl. Art. I-8 Abs. 3 des (indes gescheiterten) Verf V; vgl. nunmehr die Erklärung Nr. 52 von 16 Mitgliedstaaten zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon zu den Symbolen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83/355. 339
Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon Die (neue) Bedeutung des Ausschusswesens für delegierte und Durchführungs-Rechtsetzung von
Prof. Dr. Sabine Schlacke, Universität Bremen A. Einführung Der Vertrag von Lissabon bedeutet eine Zäsur für die sog. Komitologie (von frz. comité = Ausschuss). Das auf mitgliedstaatliche Experten gestützte Ausschusswesen hat bislang die Kommission bei der Ausübung der ihr übertragenen Gesetzgebungsbefugnisse fachlich unterstützt und zugleich kontrolliert. Im Komitologieverfahren erließ die Kommission im Zusammenwirken mit Expertenausschüssen in erster Linie Exekutiv- bzw. Durchführungsmaßnahmen, die der Anpassung der Basisrechtsakte an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, der Vereinheitlichung des Vollzugs des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten und der Klärung von Detailfragen dienten. Inhaltlich handelte es sich nicht selten um für die Rechtsanwendung und die Rechtskontrolle zentrale Materien. Die Einbeziehung von ministerialen Sachverständigen aus den Mitgliedstaaten glich insoweit den Mangel an Fachwissen und Verwaltungsunterbau der Kommission aus. Wurde die Komitologie, insbesondere vom Europäischen Parlament, lange Zeit als intransparente und undemokratische Expertokratie betrachtet und juristisch hinterfragt, schien diese Kritik seit der Reform 2006 des das Ausschusswesen strukturierenden Komitologiebeschlusses zu verebben. Die Neuordnung der Tertiärrechtsetzung nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)1 hat zugleich zu einer grundlegenden Reform und 1 Vgl. U. Stelkens, Rechtsetzungen der europäischen und nationalen Verwaltungen, VVDStRL 71 (2012), 369 ff. (384 ff.); M. Möstl, Rechtsetzungen der europäischen und nationalen Verwaltungen, DVBl. 2011, S. 1076 ff.; T. Kröll, Artikel 290 und 291 AEUV – Neue vertragliche Grundlagen der Rechtsetzung durch die Kommission, in: A. Debus et al. (Hrsg.), Verwaltungsrechtsraum Europa, 2011, S. 195 ff.; H. Schulze-Fielitz, Strukturprobleme europäischer Sekundärrechtsetzung, in: P.-C. Müller-Graff / S. Schmahl / V. Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel, 2011, S. 165 (172 f.); K. F. Gärditz, Die Verwaltungsdimension des Lissabon-Vertrags, DÖV 2010, S. 453 ff.; C. Blumann, Comitologie et administration indirecte, in: J. Dutheil de la Rochère, L’exécution
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Neuordnung der Komitologie geführt.2 Bezüglich der rechtsetzenden Verwaltung unterscheidet das Primärrecht nunmehr zwei Handlungsformen: die delegierte Rechtsetzung (Art. 290 AEUV) und die Durchführungsrechtsetzung (Art. 291 AEUV). Gegenüber der Sekundärrechtsetzung durch Rat und Parlament kommt der Tertiärrechtsetzung durch die Kommission zumindest quantitativ die wohl größte Bedeutung zu.3 Das Ausschusswesen erhält mit der Komitologieverordnung, die am 1. März 2011 in Kraft trat, eine neue Grundlage. Für den Erlass delegierter Rechtsakte durch die Kommission fi ndet die Komitologieverordnung keine Anwendung; lediglich im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung gemäß Art. 291 AEUV kommt sie zum Tragen und regelt die Modalitäten des Ausschusswesens. Hinsichtlich der insoweit neuartigen delegierten Rechtsetzung gemäß Art. 290 AEUV kann die Kommission ihre Legislativentscheidungen ohne Einbeziehung von Ausschüssen treffen. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die Entwicklung der Komitologie und unternimmt eine phänomenologische Einordnung unter Berücksichtigung der Neuordnung durch den Vertrag von Lissabon und die Komitologieverordnung. Die (verbleibende) Bedeutung der Komitologie nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wird im Hinblick auf einen europäischen Verwaltungsverbund analysiert und bewertet. Es wird argumentiert, dass der Vertrag von Lissabon und die neue Komitologieverordnung eine ausreichende demokratisch-legitimierte Grundlage für das Ausschusswesen bilden. Insgesamt verliert das bisher bekannte und entwickelte Ausschusswesen an Bedeutung für die Exekutivrechtsetzung. Die von der Komitologieverordnung vergesehene teilweise Beibehaltung des bisherigen Ausschusswesens für alte Basisrechtsakte sowie die Ultra-Vires-Kontrollbefugnis vom Europäischen Parlament und Rat im Rahmen des Ausschusswesens werfen allerdings Zweifel hinsichtlich ihrer primärverfassungsrechtlichen Vereinbarkeit auf.
du droit de l’Union entre mécanismes communautaires et droits nationaux, 2009, S. 139 ff.; D. Ritleng, L’identification de la fonction exécutive dans l’Union, in: J. Dutheil de la Rochère, L’exécution du droit de l’Union entre mécanismes communautaires et droits nationaux, 2009, S. 27 ff.; B. Driessen, Delegated legislation after the Treaty of Lisbon: An analysis of Article 290 TFEU, E. L.Rev. 2010 (35), S. 837 ff.; R. Schütze, From Rome to Lisbon: „Executive Federalism“ in the (new) European Union, CMLR 2010 (47), S. 1385 ff.; L. Guilloud, L’inscription des actes législativs de l’Union européenne dans les traités: une victoire à la pyrrhus?, Revue de l’Union euopéenne, 2011 (548), S. 285 (286 ff.); P. Ponzano, ‚Executive‘ and ‚delegated‘ acts: the situation after the Lisbon Treaty, in: S. Griller / J. Ziller (eds.) the Lisbon Treaty, 2008, S. 135 ff. 2 Vgl. hierzu C. Möllers / J. v. Achenbach, Die Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der abgeleiteten Rechtsetzung der Europäischen Kommission nach dem Lissabonner Vertrag, EuR 2011, S. 39 ff.; A. Edenharter, Die Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon: Verschiebung der Einflussmöglichkeiten zugunsten der EU-Kommission?, DÖV 2011, S. 645 (647 ff.); C. Fabricius, Abgeleitete Rechtsetzung nach dem Vertrag von Lissabon – Überlegungen zu Delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten, ZEuS 2011, S. 567 (596 ff.); S. Solle, „Komitologie“ nach dem Vertrag von Lissabon, Stoff R 2011, S. 256 ff.; O. Kropp, Das novellierte Komitologieverfahren in der EG-Abfallrichtlinie, ZUR 2011, S. 514 ff.; H. Hofmann, Legislation, Delegation and Implementation under the Treaty of Lisbon: Typology Meets Reality, ELJ 2009, S. 482 ff. 3 V. Mehde, Rechtsetzungen der europäischen und nationalen Verwaltungen, VVDStRL 71 (2012), S. 418 (419).
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B. Begriff, Entstehung und Funktion der Komitologie Nach dem Primärrecht vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon war der Rat berechtigt und verpfl ichtet, Durchführungsbefugnisse, m. a. W. abgeleitete Rechtsetzungsbefugnisse,4 auf die Kommission zu delegieren (sog. Regeldelegation).5 Das mittels delegierter Rechtsetzung erlassene Recht wurde – entsprechend seiner Stellung in der Normenhierarchie – auch als Tertiärrecht bezeichnet.6 Hierdurch sollten Rat und Europäisches Parlament von Exekutivaufgaben entlastet werden, so dass sie ihre Tätigkeit auf Legislativaufgaben konzentrieren konnten.7 Die Kommission bediente sich bei der Ausübung dieser Durchführungsbefugnisse zahlreicher Ausschüsse, die durch mitgliedstaatliche, zumeist aus der Ministerialbürokratie entsandte, Fachleute besetzt waren (sog. Komitologie). Bei der Komitologie,8 das dem französischen comité (= Ausschuss) entlehnt ist,9 handelt es sich um eine aus der Not geborene Erfindung der 1960er Jahre, als der Rat der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht mehr in der Lage war, die Regelungen des Agrarsektors angemessen umzusetzen und diese Umsetzung auf die Kommission delegierte.10 Es wurden Verwaltungsausschüsse, auch Ständige Ausschüsse genannt, gebildet, in denen die Mitgliedstaaten Fachpersonal aus den jeweiligen Regierungen entsandten.11 Ihre rechtliche Aufgabe bestand in der Abgabe von 4 Hierunter werden Rechtsetzungsbefugnisse verstanden, die nicht auf Ermächtigungen im Primärrecht, sondern solchen des Sekundärrechts beruhen, so auch J. Gundel, Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an das im Vertrag vorgesehene System für die Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen, JA 2008, S. 910. 5 Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV, 211, 4. Spiegelstrich EGV. 6 J. Gundel, JA 2008, S. 290; M. Kotzur, in: R. Geiger / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 2010, Art. 290 Rn. 1; T. Groß, Exekutive Vollzugsprogrammierung durch tertiäres Gemeinschaftsrecht?, DÖV 2004, S. 20 ff.; C. Möllers, Tertiäre exekutive Rechtsetzung im Europarecht, in: E. Schmidt-Aßmann / B. Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 293 ff.; R. Streinz, Europarecht, 9. Aufl., 2011, S. 404 Rn. 4. 7 J. C. Wichard, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl., 2007, Art. 211 EGV Rn. 5. 8 Vgl. C. F. Bergström, Comitology: Delegation of Powers in the European Union and the Committee System, 2005; K. St. C. Bradley, Delegated Legislation and Parliamentary Supervision in the European Community, in: A. Epiney et al. (Hrsg.), Die Herausforderung von Grenzen. Festschrift für Roland Bieber, 2007, S. 286 ff.; D. Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG – zwei Arten tertiärer Kommissionsakte und ihre dogmatischen Fragestellungen, EuR 2006; L. Gerken / M. Holtz / G. Schick, Reform der Komitologie im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, Wirtschaftsdienst 2003, S. 662 ff.; J. Falke, Komitologie – Entwicklung, Rechtsgrundlagen und erste empirische Annäherung, in: C. Joerges / J. Falke (Hrsg.), Das Ausschusswesen der Europäischen Union. Praxis der Risikoregulierung im Binnenmarkt und ihre rechtliche Verfassung, 2000, S. 44 ff.; C. Demmke / E. Eberharter / G. Schaefer / A. Türk, The History of Comitology, in: R. Pedler / G. Schaefer (Hrsg.), Shaping European Law and Policy: The Role of Committees and Comitology in the Political Process, 1996, S. 61 ff. 9 B. Schloh, in: M. A. Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 28. Aufl., 2011 Rn. 299 f.; M. M. Fuhrmann, Neues zum Komitologieverfahren, DÖV 2007, S. 464. 10 N. Beer, Die Zukunft der Komitologie: Weniger Komitees – mehr Kommission?, EuZW 2010, S. 201; M. M. Fuhrmann, DÖV 2007, S. 464. 11 Ex-Art. 155 vierter Gedankenstrich E(W)GV, ex-Art. 211 vierter Gedankenstrich EGV – jetzt Art. 291 AEUV. Diese Delegation ist in der Einheitlichen Europäischen Akte durch die Beifügung eines dritten Gedankenstrichs zu ex-Art. 145 EWGV [Art. 202 EGV] präzisiert und als Normalfall ausgestaltet worden.
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Stellungnahmen zu Entwürfen von Durchführungsrechtsakten der Kommission, mit denen z. B. technische Konkretisierungen bewältigt wurden. Ständige Ausschüsse gaben sich eine auf einer Standardgeschäftsordnung basierende Geschäftsordnung, die die Aufgaben, interne Organisation und Entscheidungsfindung regelte.12 Gingen die auferlegten Durchführungsmaßnahmen über das im Ausschuss vorhandene Expertenwissen hinaus, so sahen zahlreiche Sekundärrechtsakte ferner die Einbeziehung und Anhörung wissenschaftlicher Ausschüsse vor, die sich wiederum aus unabhängigen Wissenschaftlern aus den Mitgliedstaaten zusammensetzten, die allerdings nicht der jeweiligen nationalen Regierung angehörten.13 Neben der Unterstützung der Kommission kam den Ausschüssen auch eine Kontrollfunktion zu.14 Insoweit entwickelte sich ein komplexes und oftmals schwer durchschaubares Ausschusswesen auf europäischer Ebene, gekennzeichnet durch die Einbeziehung von Experten. Die Komitologie zog in sämtliche Politikbereiche der Europäischen Union ein.15 Das Ausschusswesen entwickelte sich seit den 1960er Jahren rasant: Jährlich erließ die Kommission ca. 2500 bis 300016 und insgesamt ca. 80.000 Exekutivmaßnahmen im Unterschied zu ca. 10.000 Basisrechtsakten.17 Aus den Berichten der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse lässt sich ableiten, dass der Umfang der Rechtsetzungstätigkeit der Kommission in den vergangenen Jahren stetig zunahm. Waren es 2005 z. B. noch 2654 verabschiedete Durchführungsmaßnahmen,18 so stieg die Anzahl 2009 auf über 3000 Stellungnahmen und Durchführungsmaßnahmen an.19 Die Zahl der Ausschüsse reduzierte sich allerdings zwischen 2008 von 269 auf 265 im Jahr 2009.20 Insbesondere dem seit 2005 unter dem Stichwort „better legislation“ forcierten Abbau von Basisrechtsakten steht eine Zunahme des Erlasses von Durchführungsrechtsakten gegenüber.21 Nicht nur der zunehmende Umfang der Durchführungsrechtsetzung der Kommission gab Anlass zur Kritik. Auch Gegenstand und Inhalt der Durchführungsrechtsetzung vermochten in der Vergangenheit mehrfach 12 F. Petersen / K. Heß, Das Komitologieverfahren im Gemeinschaftsrecht – Funktion und Grenzen am Beispiel der Novellierung der EG-Abfallrahmenrichtlinie, ZUR 2007, S. 567 (567). 13 Vgl. ausführlich K. Knipschild, Wissenschaftliche Ausschüsse der EG im Bereich der Verbrauchergesundheit und Lebensmittelsicherheit, ZLR 2000, S. 693 ff.; S. Schlacke, Risikoentscheidungen im europäischen Lebensmittelrecht, 1998, S. 302 ff. Diese Ausschüsse werden von der Komitologie im engeren Sinne nicht erfasst und sind nachfolgend nicht Gegenstand der Untersuchung. 14 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (567); L. Gerken / M. Holtz / G. Schick, Wirtschaftsdienst 2003, S. 662 (665 f.). 15 J. Gundel, JA 2008, S. 910; L. Gerken / M. Holtz / G. Schick, Wirtschaftsdienst 2003, S. 662 (664); J. Falke (Fn. 8), S. 44 f. 16 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (568). 17 D. Scharf, Das Komitologieverfahren nach dem Vertrag von Lissabon – Neuerungen und Auswirkungen auf die Gemeinsame Handelspolitik, in: C. Tietje / G. Kraft / M. Lehmann (Hrsg.), Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, 2010, S. 5. 18 Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahre 2005 v. 9. 8. 2006, KOM(2006) 446 endg. 19 Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahre 2008, KOM(2009) 335 endg., S. 8 ff.; Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahre 2009, KOM(2010) 354 endg., S. 8. 20 Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahre 2009, KOM(2010) 354 endg., S. 4. 21 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (568); vgl. auch H. Schulze-Fielitz (Fn. 1), S. 165 (181 f.).
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die Frage nach der demokratischen Legitimation des Ausschusswesens aufzuwerfen.22 N. Beer 23 stellt insoweit fest: „Der ‚Lehre der Ausschüsse‘ hängt der Ruf nach, eine Geheimwissenschaft versierter Eurokraten zu sein.“ Insbesondere das Europäische Parlament sah sich durch die Komitologie seiner Mitbestimmung beraubt. Grund der Kritik war u. a. die Erkenntnis, dass nicht lediglich rein technische Verwaltungsmaßnahmen innerhalb des Komitologieverfahrens getroffen wurden.24 Oftmals handelte es sich bei Durchführungsmaßnahmen um Exekutivmaßnahmen abstrakt-genereller Natur, die den Basisrechtsakt erstmalig ausfüllten, ergänzten oder aktualisierten.25 Daneben trafen Ausschüsse normkonkretisierende Durchführungsregelungen, die etwa das Anforderungsniveau des Umweltschutzes oder ein bestimmtes Sicherheitsniveau festlegten, folglich unbestimmte Rechtsbegriffe des Basisrechtsakts konkretisierten und damit die Vollzugsfähigkeit des Basisrechtsakts gewährleisteten.26 Auch konkret-individuelle Entscheidungen wurden in das Komitologieverfahren verwiesen, wie etwa Produktzulassungsentscheidungen im Chemikalien-, Arzneimittelund Lebensmittelrecht.27 Ferner klärten Ausschüsse Vollzugsfragen, die in den Mitgliedstaaten auftraten. Im Rahmen der Komitologie traf die Kommission im Zusammenwirken mit den jeweiligen Expertenausschüssen mithin für die Rechtsanwendung und Rechtskontrolle bedeutende Entscheidungen.28 Die Wahrnehmung von Exekutivaufgaben durch den Rat spielte eine untergeordnete Rolle.29 Den Ständigen Ausschüssen kam neben der Kommission eine quasi-gesetzgeberische Funktion im Rahmen der Komitologieverfahren zu.30 Die von Jürgen Salzwedel für das deutsche Umwelt- und Technikrecht getroffene Feststellung, dass das Wesentliche sich nicht dem parlamentarischen Gesetz entnehmen lasse, sondern nur den formell durch die Regierung, materiell von Expertengremien verabschiedeten untergesetzlichen Rechtsgrundlagen,31 traf ohne Weiteres auch für das EU-Ausschusswesen zu.
22 K. St. C. Bradley, The European Parliament and comitology, ELJ 1997, S. 230 ff.; F. Bignami, The democratic deficit in European Community rulemaking, Harvard International Law Journal 40 (1999), S. 451 ff.; R. Dehousse, Comitology: Who watches the watchmen?, Journal of European Public Policy 10 (2003), S. 798 ff. 23 EuZW 2010, S. 201. 24 Dies traf insbesondere für das Umwelt- und Technikrecht zu, vgl. dazu Cip Studie, G. Roller, Stärkung des Europäischen Parlaments durch geänderten Komitologiebeschluss, EurUP 2007, S. 230 ff.; beispielhaft für das Abfallrecht vgl. O. Kropp, ZUR 2011, S. 514 ff.; F. Petersen / D. Heß, ZUR 2007, S. 567 (568 ff.); für das Chemikalienrecht vgl. D. Martel, REACH – Komitologie und Rechtsschutz, ZEuS 2008, S. 601 (622 ff.), also auch für den Lebensmittelbereich, vgl. dazu K. Knipschild, ZLR 2000, S. 693 ff. 25 D. Riedel (Fn. 8), S. 512 (517 ff.). 26 G. Roller, EurUP 2007, S. 231. 27 D. Riedel (Fn. 8), S. 512 (530 ff.) m. w. N.; zur Typologie vgl. G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 126 ff. 28 M. Hauschild, Das neue Komitologieverfahren, ZG 1999, S. 248 ff. 29 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (568). 30 G. Roller, Komitologie und Demokratieprinzip, KritV 86 (2003), S. 249 (259). 31 H. Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S. 537 (542) mit Verweis auf Jürgen Salzwedel.
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C. Rechtsgrundlagen und Verfahren des Ausschusswesens Um Intransparenz und demokratischem Defizit sowie einem Ungleichgewicht des institutionellen Gleichgewichts entgegenzuwirken, kam es zu interinstitutionellen Vereinbarungen zwischen der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament.32 Verbindlich regelte erstmalig der sog. Komitologie- oder Modalitätenbeschluss des Rates vom 13. Juli 198733 die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Ausübung der Durchführungsbefugnisse. Von der im sog. Komitologiebeschluss festgelegten Verfahrensweise durfte nicht abgewichen werden.34 Ein Verstoß gegen seine Verfahrensregeln konnte als Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden.35 Die Einflussnahme des Ausschusses, des Rates und des Europäischen Parlaments auf die Entscheidung über die an die Kommission delegierte Exekutivmaßnahme hing von der verfahrensmäßigen Ausgestaltung des jeweiligen Komitologieverfahrens ab. Die Novellierung des Komitologiebeschlusses 1999 und seine Änderung 2006 verbesserten die Mitwirkung des Europäischen Parlaments erheblich: Das Parlament verfügte über ein begründungspfl ichtiges Vetorecht im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle. Seitdem verebbte die Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation der Komitologie.
I. Der Komitologiebeschluss von 1987 Der Komitologiebeschluss des Rates von 1987 regelte erstmalig verbindlich die Modalitäten der Exekutivrechtsetzung: Er sah drei Verfahren, das Beratungs-, Verwaltungs- und Regelungsverfahren vor, in denen grundsätzlich die Stellungnahme des jeweils eingesetzten Ständigen Ausschusses eingeholt werden musste. Dieser setzte sich unter dem Vorsitz eines Kommissionsangehörigen aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen. In bestimmten Verfahrenstypen hatte der Rat die Möglichkeit, den Vorschlag der Kommission zu stoppen. Durch die Einbeziehung der in den Mitgliedstaaten vorhandenen Experten im Rahmen der Ständigen Ausschüsse wurden die Entscheidungen sachlich fundiert. Ferner erlaubte das Ausschussverfahren auch rasche und qualitativ hochwertige Entscheidungen. Gleichzeitig fand eine Rückbindung zu den nationalen Regierungen statt. Der Ständige Ausschuss fungierte insoweit als eine Art „kleiner Rat“ und trug aufgrund seiner Kontrollfunktion zur demokratischen Legitimation der Durchführungsrechtsakte bei.36 32 Vgl. Plumb-Delors-Übereinkunft v. 14. 3. 1988 zwischen dem Präsidenten des Europäischen Parlaments und dem Präsidenten der Europäischen Kommission und die Klepsch-Millan-Übereinkunft v. 13. 7. 1993 sowie den Modus Vivendi v. 20. 12. 1994 zwischen EP, Rat und Kommission betreffend die Maßnahmen zur Durchführung der nach Art. 189b EGV erlassenen Rechtsakte, ABl.EG 1996, Nr. C 102, S. 1 ff. Vgl. insgesamt L. Gerken / M. Holtz / G. Schick, Wirtschaftsdienst 2003, S. 662 (663 ff.). 33 ABl.EG L 197 v. 18. 7. 1987, S. 33. 34 Vgl. Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV; J. C. Wichard, in: C. Calliess / M. Ruffert, 3. Aufl., 2007 Art. 211 EGV Rn. 12. 35 K. Lenaerts / A. Verhoeven, CMLRev 2000, S. 645 (664), 674; K. St. Bradley, CMLR 1992, S. 693 (705). 36 In diesem Sinne auch M. M. Fuhrmann, DÖV 2007, S. 464 (467); G. Roller, EurUP 2007, S. 230.
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Dadurch, dass das Europäische Parlament durch den Maastrichter Vertrag an Einfluss im Gesetzgebungsverfahren gewann und zentrale Rechtsetzungsbefugnisse im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens erhielt, entwickelte sich ein institutionellstrukturelles und gewissermaßen auch demokratietheoretisch relevantes Problem: Das Europäische Parlament übte keinerlei Einfluss im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung nach den Modalitäten des Komitologiebeschlusses 1987 aus.37 Nach seiner Ansicht war der Komitologiebeschluss nur für Rechtsakte des Rates, nicht jedoch für Rechtsakte des Parlaments und des Rates im Mitentscheidungsverfahren anwendbar. Das Europäische Parlament forderte eine Beteiligung an der Durchführungsrechtsetzung; ferner monierte es die fehlende Transparenz des Ausschusswesens und demokratische Legitimation der Durchführungsrechtsetzung. Obwohl ein auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Komitologiebeschlusses gerichtetes Verfahren aufgrund fehlender Klagebefugnis des Europäischen Parlaments vom Europäischen Gerichtshof abgewiesen wurde,38 erreichte das Europäische Parlament auf der politischen Ebene durch Sperrung der Haushaltsmittel für Ausschüsse 199439 eine Ablösung des Komitologiebeschlusses 1987 durch den Beschluss 1999/468/EG vom 28. Juni 1999.40 Seitdem konnte das Europäische Parlament eine beschränkte Kontrolle der Durchführungsrechtsetzung im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle ausüben. Der Begriff der „Durchführung“ im Sinne des Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV wurde in der Komitologiepraxis weit interpretiert: Er umfasste sowohl Änderungen von Basis-Rechtsakten, anwendungsorientierte Rechtsetzung als auch eigenständige, individuelle Rechtsakte.41 Regelmäßig konnten Ständige Ausschüsse gestützt auf ihre Einsetzungsbeschlüsse über ihre Funktion bei der Durchführungsrechtsetzung auch jede andere in ihren Aufgabenbereich fallende Frage prüfen, die vom Kommissionsvorsitzenden oder auf Antrag eines Mitgliedstaates vorgelegt wurden. Wie umfangreich diese „Fragen“ sein konnten, wurde im Lebensmittelbereich untersucht: Sie reichten von Stellungnahmen zu Rechtsaktentwürfen der Kommission, Meinungsaustauschen zu Mitteilungen und Notifikationen, nicht ordnungsgemäßen Notifizierungen einzelner Mitgliedstaaten bis hin zu Defi nitions- und Interpretationsfragen bezüglich der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Rechtsakten.42
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K. St. C. Bradley (Fn. 8), S. 287. EuGH, Rs. C-302/87, Slg. 1988, S. 5615. 39 M. M. Fuhrmann, DÖV 2007, S. 464 (465). 40 Beschluss 1999/468 v. 28. 6. 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl.EG L 184 v. 17. 7. 1999, S. 23. 41 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (567). 42 Am Beispiel des Ständigen Lebensmittelausschusses vgl. A. Bücker / S. Schlacke, Die Entstehung einer „politischen Verwaltung“ durch EG-Ausschüsse – Rechtstatsachen und Rechtsentwicklungen, in: Joerges/Falke, Das Ausschußwesen der Europäischen Union, 2000, S. 161 (175); S. Schlacke (Fn. 13), S. 231. 38
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II. Der Komitologiebeschluss 1999/468/EG Der Komitologiebeschluss 1999/468/EG43 typisierte weiterhin die vorher schon vorhandenen drei Ausschussverfahren: „Beratendes Verfahren“, „Verwaltungsverfahren“ und „Regelungsverfahren“. Darüber hinaus wurde die Rolle des Europäischen Parlaments dadurch gestärkt, dass die Europäische Kommission gemäß Art. 7 Abs. 3 Komitologiebeschluss 1999 verpfl ichtet wurde, das Europäische Parlament regelmäßig über die Arbeiten der Ausschüsse zu informieren.44 Die Kommission war ferner verpfl ichtet, einen Jahresbericht über die Arbeit der Ausschüsse zu veröffentlichen (Art. 7 Abs. 4 Komitologiebeschluss). Diese Bestimmungen trugen zu einer größeren Transparenz des Ausschusswesens bei.45 Die Wahl des richtigen Ausschussverfahrens durch den EU-Gesetzgeber sollte durch den neuen Komitologiebeschluss vereinfacht werden, indem die jeweiligen Verfahren für näher bestimmte Durchführungsbefugnisse vorgesehen wurden.46 Modifiziert wurde auch die Information der Öffentlichkeit, indem die für die Kommission geltenden Grundsätze und Bedingungen für den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten auf die Ausschüsse ausgedehnt wurden. Grundsätzlich bestand ein Jedermann-Anspruch auf Zugang zu Dokumenten der Ausschüsse.47
III. Die Änderung des Komitologiebeschlusses 2006 2006 setzte das Europäische Parlament eine Änderung des Komitologiebeschlusses 1999/468/EG48 durch. Rechtsakte, die im Verfahren der Mitentscheidung erlassen wurden, mussten für die Durchführungsrechtsetzung das sog. „Regelungsverfahren mit Kontrolle“49 vorsehen. Dem Europäischen Parlament wurde erstmalig ein Beteiligungsrecht an diesem Verfahren in Form eines Vetorechts eingeräumt.50 Zusätzlich erhielt das Europäische Parlament ein allgemeines Rügerecht außerhalb der Komitologieverfahren, mit dem es das Überschreiten des Rahmens eines Basisrechtsakts 43
Ebenda. Art. 7 Abs. 3 Komitologiebeschluss 1999: „Das Europäische Parlament wird von der Kommission regelmäßig über die Arbeiten der Ausschüsse unterrichtet und dies nach Modalitäten, die die Transparenz des Übermittlungssystems und eine Identifi zierung der übermittelten Informationen sowie der einzelnen Verfahrensstadien gewährleisten. Zu diesem Zweck erhält es die Tagesordnungen der Sitzungen, die den Ausschüssen vorgelegten Entwürfe für Maßnahmen zur Durchführung der gemäß Artikel 251 des Vertrags erlassenen Rechtsakte sowie die Abstimmungsergebnisse, die Kurzniederschriften über die Sitzungen und die Listen der Behörden und Stellen, denen die Personen angehören, die die Mitgliedstaaten in deren Auftrag vertreten. Außerdem wird das Europäische Parlament regelmäßig unterrichtet, wenn die Kommission dem Rat Maßnahmen oder Vorschläge für zu ergreifende Maßnahmen übermittelt.“ 45 Ebenda, fehlende Transparenz bemängelten C. Demmke / G. Haibach, DÖV 1997, S. 710 (718); G. Roller, KritV 86 (2003), S. 249 (262); H. Tichy, Der neue Komitologiebeschluss, Zf RV 2000, S. 134 (140). 46 M. M. Fuhrmann, DÖV 2007, S. 464 (466). 47 Art. 7 Abs. 2 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 48 Beschluss des Rates 2006/512/EG v. 17. 7. 2006, ABl.EG L 200 v. 22. 7. 2006, S. 11. 49 Art. 5a Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 50 Vgl. M. M. Fuhrmann, DÖV 2007, S. 464 (466). 44
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durch die Ausübung der Durchführungsbefugnisse rügen konnte, wenn der Basisrechtsakt im Mitentscheidungsverfahren erlassen worden war (Ultra-Vires-Konrolle).51 Eine derartige Rüge initiierte eine erneute Überprüfung durch die Kommission; die hieraus resultierenden Konsequenzen standen im pfl ichtgemäßen Ermessen der Kommission. Mit der Reform 2006 schien das Komitologieverfahren die in den Jahrzehnten zuvor geäußerten Zweifel an der Vereinbarkeit des Ausschusswesens mit dem institutionellen Gleichgewicht sowie dem Wesentlichkeitsgrundsatz und damit verbunden dem unionalen Demokratieprinzip beseitigt zu haben. Nunmehr standen dem EUGesetzgeber vier Ausschussverfahrensarten zur Auswahl, die nach festgelegten Kriterien auszuwählen waren.
1. Beratendes Verfahren Das Beratende Ausschussverfahren – ursprünglich als Grundmodell konzipiert – konnte eingesetzt werden, wenn es als zweckmäßigstes Verfahren angesehen wurde oder die anderen Verfahren nicht einschlägig waren.52 Beim Beratenden Verfahren hatte der zu beteiligende Ausschuss, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten, lediglich das Recht, mit einfacher Mehrheit Stellung zum Kommissionsentwurf zu nehmen. Die Kommission hatte diese Stellungnahme so weit wie möglich zu berücksichtigen.53 Dem Beratungsverfahren kam damit die Funktion eines Auffangverfahrens zu.54
2. Verwaltungsverfahren Das Verwaltungsverfahren sollte zum Erlass von „Verwaltungsmaßnahmen“ herangezogen werden, wie etwa jene zur Umsetzung der gemeinsamen Agrar- oder Fischereipolitik oder von anderen Programmen von erheblicher Tragweite für den Haushalt.55 Beim Verwaltungsverfahren hatte der Ausschuss mit qualifi zierter Mehrheit Stellung zu nehmen. Lehnte der Ausschuss die Maßnahme der Kommission ab, so fiel die Entscheidungsbefugnis zurück auf den Rat, der innerhalb von maximal drei Monaten mit qualifizierter Mehrheit die von der Kommission vorgeschlagene Maßnahme ersetzen konnte. Ansonsten war die Kommission berechtigt, die Maßnahme zu erlassen.
51 52 53 54 55
Art. 8 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. Art. 2 Abs. 1 lit. c Komitologiebeschluss 1999/468/EG. Art. 3 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (570). Art. 2 Abs. 1 lit. a Komitologiebeschluss 1999/468/EG.
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3. Regelungsverfahren Das Regelungsverfahren fand Anwendung auf den Erlass von Maßnahmen, die entweder von allgemeiner Tragweite waren, sowie jene, die der Anpassung oder Aktualisierung „nicht wesentlicher Bestimmungen“ eines Basisrechtsakts56 dienten.57 In diesem Verfahren konnte die Kommission die Maßnahme nur mit ausdrücklicher Billigung durch einen Regelungsausschuss erlassen, der auch hier mit qualifizierter Mehrheit und Stimmenwägung handelte.58 Gab der Ausschuss innerhalb der vom vorsitzenden Kommissionsvertreter gesetzten Frist keine oder eine ablehnende Stellungnahme ab, so konnte die Kommission die geplanten Durchführungsmaßnahmen dem Rat lediglich als Vorschlag unterbreiten.59 In diesem Fall musste die Kommission zudem das Europäische Parlament unterrichten, das den Rat informierte, wenn es der Auffassung war, dass die vorgeschlagenen Durchführungsmaßnahmen vom Basisrechtsakt nicht gedeckt waren.60 Der Rat konnte die vorgeschlagene Maßnahme mit qualifizierter Mehrheit innerhalb einer in dem Basisrechtsakt festzulegenden Frist von höchstens drei Monaten entweder ablehnen oder erlassen.61 War die Frist ohne eine Entscheidung des Rates verstrichen, so erließ die Kommission die ursprünglich vorgeschlagenen Maßnahmen. Gab der Rat innerhalb der Frist eine ablehnende Stellungnahme ab, so musste die Kommission ein neues Verfahren in Gang setzen: Sie konnte dem Rat entweder den gleichen Vorschlag erneut oder aber einen geänderten Vorschlag vorlegen. Sie konnte auch vorschlagen, außerhalb des Ausschussverfahrens einen eigenständigen Rechtsakt, etwa eine Verordnung oder einen Beschluss, zu erlassen.62 Anders als beim Beratungs- und Verwaltungsverfahren konnte es im Regelungsverfahren also zu einer gesetzgeberischen Blockade kommen, sofern der Ausschuss nicht zustimmte, und der Rat die von der Kommission vorgeschlagene Maßnahme fristgerecht mit qualifizierter Mehrheit ablehnte.63
4. Regelungsverfahren mit Kontrolle Im Unterschied zum Regelungsverfahren erhielt das Europäische Parlament im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle ein echtes Vetorecht: Dem Europäischen Parlament wurde nicht nur eine Ultra-Vires-Kontrollbefugnis eröffnet, sondern es konnte eine Maßnahme auch wegen Unvereinbarkeit mit Ziel und/oder Inhalt des Basisrechtsakts oder wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ablehnen. Allerdings musste es – im Unter56
Als Basisrechtsakt wird der zugrundeliegende Rechtsakt, der zur Durchführungsrechtsetzung ermächtigt, bezeichnet. 57 Art. 2 Abs. 1 lit. b. Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 58 Art. 5 Abs. 2 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 59 Art. 5 Abs. 3, 4 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 60 Art. 5 Abs. 5 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 61 Art. 5 Abs. 6 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 62 Art. 5 Abs. 6 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 63 J. C. Wichard, in: C. Calliess / M. Ruffert, 3. Aufl., 2007, Art. 211 EGV Rn. 17.
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schied zum Rat – sein Veto begründen. Ferner konnte das Veto angefochten werden.64 Dem Vetorecht des Europäischen Parlaments kam damit eine fast vollumfängliche Prüffunktion zu.65 Im Unterschied zum Regelungsverfahren fand das Regelungsverfahren mit Kontrolle66 Anwendung auf Basisrechtsakte, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen worden waren. Die zu erlassende Durchführungsmaßnahme musste „von allgemeiner Tragweite“ sein und eine Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen des Basisrechtsakts bewirken.67 Eine Maßnahme von allgemeiner Tragweite liegt vor, wenn nicht lediglich ein Einzelfall betroffen, sondern eine abstrakt-generelle Regelung getroffen wird.68 Wesentliche Bestimmungen sind solche, durch welche die grundsätzlichen Ausrichtungen einer Gemeinschaftspolitik umgesetzt werden sollen.69 Änderungen konnten förmliche Änderungen des Basisrechtsakts betreffen, etwa durch Streichung, Ergänzung, Modifizierung oder Ersetzung, aber auch den Erlass eines selbstständigen, nicht wesentlichen separaten Rechtsakts bedingen.70 Die Kommission wurde im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle durch einen Regelungskontrollausschuss (= Ständiger Ausschuss) begleitet.71 Dieser gab zum Kommissionsentwurf eine Stellungnahme ab, die mit qualifizierter Mehrheit zu verabschieden war. Das weitere Verfahren hing nunmehr davon ab, ob die von der Kommission beabsichtigten Maßnahmen im Einklang mit der Ausschussstellungnahme standen. aa) Standen die von der Kommission beabsichtigten Maßnahmen mit der Stellungnahme des Ausschusses im Einklang, so unterbreitete die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat unverzüglich den Entwurf von Maßnahmen zur Kontrolle. Der Erlass dieses Entwurfs durch die Kommission konnte vom Europäischen Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder oder vom Rat mit qualifizierter Mehrheit abgelehnt werden, wobei die Ablehnung des Europäischen Parlaments damit begründet sein musste, dass der von der Kommission vorgelegte Entwurf von Maßnahmen über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausging oder dass dieser Entwurf mit dem Ziel oder dem Inhalt des Basisrechtsakts unvereinbar war oder gegen die Grundsätze der Subsidiarität oder Verhältnismäßigkeit verstieß. Sprach sich das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb von drei Monaten nach seiner Befassung gegen den Entwurf von Maßnahmen aus, so wurden diese nicht von der Kommission erlassen. In diesem Fall konnte die Kommission dem Ausschuss einen geänderten Entwurf von Maßnahmen unterbreiten oder einen Vorschlag für einen Rechtsakt auf der Grundlage des Vertrags vorlegen. Hatte sich nach Ablauf dieser Frist weder das Europäische Parlament noch 64
Art. 5a Abs. 3 lit. b. und Abs. 4 lit. e. Komitologiebeschluss 1999/468/EG. F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (570); R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl., 2008, Rn. 530a. 66 Art. 5a Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 67 Art. 2 Abs. 2 Komitologiebeschluss 2006. 68 Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates v. 15. 9. 2006, Dok. 12813/06, Rn. 8 und v. 1. 12. 2006, Dok. 15917/06, Rn. 6, ferner EuGH, verb. Rs. 16/62 und 17/62, Slg. 1962, S. 963. 69 EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, S. 1161 Rn. 6 – Köster; EuGH, Rs. C-240/90, Slg. 1992, I-5383 Rn. 37. 70 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (570). 71 Art. 5a Abs. 1 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 65
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der Rat gegen den Entwurf von Maßnahmen ausgesprochen, so wurden sie von der Kommission erlassen.72 bb) Standen die von der Kommission beabsichtigten Maßnahmen nicht mit der Stellungnahme des Ausschusses im Einklang oder lag keine Stellungnahme vor, so unterbreitete die Kommission dem Rat unverzüglich einen Vorschlag für die zu ergreifenden Maßnahmen und übermittelte diesen Vorschlag gleichzeitig dem Europäischen Parlament. Der Rat befand innerhalb von zwei Monaten nach seiner Befassung mit qualifizierter Mehrheit über diesen Vorschlag. Sprach sich der Rat innerhalb dieser Frist mit qualifizierter Mehrheit gegen die vorgeschlagene Maßnahme aus, so wurden diese nicht erlassen. In diesem Fall konnte die Kommission dem Rat einen geänderten Vorschlag unterbreiten oder einen Vorschlag für einen Rechtsakt auf der Grundlage des Vertrags vorlegen. Beabsichtigte der Rat den Erlass der vorgeschlagenen Maßnahmen, so unterbreitete er diese unverzüglich dem Europäischen Parlament. Befand der Rat nicht innerhalb der genannten Frist von zwei Monaten, so unterbreitete die Kommission dem Europäischen Parlament unverzüglich die Maßnahmen. Der Erlass dieser Maßnahmen konnte vom Europäischen Parlament innerhalb einer Frist von vier Monaten ab Übermittlung des Vorschlags gemäß Buchstabe a) mit der Mehrheit seiner Mitglieder abgelehnt werden, wobei diese Ablehnung darin begründet sein musste, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgingen oder dass diese Maßnahmen mit dem Ziel oder dem Inhalt des Basisrechtsakts unvereinbar seien oder gegen die Grundsätze der Subsidiarität oder Verhältnismäßigkeit verstießen. Sprach sich das Europäische Parlament innerhalb dieser Frist gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen aus, so wurden diese Maßnahmen nicht erlassen. In diesem Fall konnte die Kommission dem Ausschuss einen geänderten Entwurf von Maßnahmen unterbreiten oder einen Vorschlag für einen Rechtsakt auf der Grundlage des Vertrags vorlegen. Hatte sich das Europäische Parlament nach Ablauf der genannten Frist nicht gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen ausgesprochen, so wurden sie je nach Fall vom Rat oder von der Kommission erlassen.73 cc) Ausnahmen von diesen beiden Verfahrensvarianten bestanden bei Nichteinhaltung von Fristen für begründete Ausnahmefälle74 sowie in Dringlichkeitsfällen.75
D. Komitologie nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Der Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, hat die primärrechtliche Struktur und zugleich die Rechtsgrundlagen der Tertiärrechtsetzung maßgeblich geändert.76 Art. 202, 3. Spiegelstrich und Art. 211, 4. Spiegelstrich EGV wurden nicht übernommen. Der AEUV ordnet die Exekutivbefugnisse der EU neu, ohne die grundsätzliche Vollzugskompetenz der Mitgliedstaaten für das EU-Recht 72 73 74 75 76
Art. 5a Abs. 3 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. Art. 5a Abs. 4 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. Art. 5a Abs. 5 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. Art. 5a Abs. 6 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. D. Scharf (Fn. 17), S. 5.
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zu beeinträchtigen. Die Angewiesenheit des Europäischen Rechts für Exekutivrechtsetzung bleibt bestehen, ebenso ein Raum – wenngleich er kleiner geraten ist – für die Komitologie.77
I. Neuordnung der Tertiärrechtsetzung durch Art. 290, 291 AEUV Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unterscheidet zwischen Gesetzgebungsakten mit Gesetzescharakter78 und jenen ohne Gesetzescharakter79. Zu letzterer Kategorie zählt die Tertiärrechtsetzung. Sie unterscheidet „delegierte Rechtsetzung“ gemäß Art. 290 Abs. 1 AEUV und „Durchführungsrechtsetzung“ gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV.80 Beide Arten der Tertiärrechtsetzung lösen die bisherigen Art. 202, 3. Spiegelstrich und Art. 211, 4. Spiegelstrich EG ab. Diese umfasste sowohl legislative und exekutivische Rechtsetzungsbefugnisse.81 Die abgeleitete Tertiärrechtsetzung erfährt durch den Vertrag von Lissabon eine klare „hierarchisierende Systematisierung und Vereinfachung“,82 indem Legislativ- und Verwaltungsaufgaben – jedenfalls auf den ersten Blick – stärker unterschieden werden.83 Dem Ausschusswesen wird primärrechtlich nur noch eine Funktion im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung (Art. 291 AEUV) zugewiesen. Die Modalitäten des Ausschusswesens regelt die den Komitologiebeschluss auf hebende Komitologieverordnung,84 die am 1. März 2011 in Kraft trat. Allerdings bleibt auch im Rahmen delegierter Rechtsetzung noch Raum für die Einbeziehung mitgliedstaatlicher Experten.85
1. Tertiärrechtsakte als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter Der Vertrag von Lissabon hat die bereits im Verfassungsvertragsentwurf entwickelte Unterscheidung zwischen Rechtsakten mit Gesetzescharakter und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter übernommen.86 Im Unterschied zu Rechtsakten mit Gesetzescharakter i. S. v. Art. 289 AEUV handelt es sich bei delegierten Rechtsakten 77 C. Blumann, Comitologie et administration indirecte, in: J. Dutheil de la Rochère, L’exécution du droit de l’Union entre mécanismes communautaires et droits nationaux, 2009, 139 154 f.; M. Möstl, DVBl. 2011, 1076 (1077). 78 Gemäß Art. 289 Abs. 3 AEUV sind das Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden. 79 Gemäß Art. 290 Abs. 1 AEUV sind das Rechtsakte, die die Kommission auf der Grundlage von Gesetzgebungsakten i. S. v. Art. 289 Abs. 3 AEUV erlässt und die eine allgemeine Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes entfalten. 80 Vgl. hierzu H. Hofmann, ELJ 15 (2009), S. 482 ff. 81 K. F. Gärditz, DÖV 2010, S. 453 (454). 82 M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 290 Rn. 1; so auch M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1077). 83 K. F. Gärditz, DÖV 2010, S. 453 (554). 84 ABl. EU Nr. L 55 v. 28. 2. 2011, S. 13. 85 Vgl. M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 290 Rn. 2. 86 Art. I-33 bis I-35 Verfassungsentwurf.
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gemäß Art. 290 Abs. 1 AEUV87 und Durchführungsrechtsakten gemäß Art. 291 AEUV um Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Sie haben – wie die Rechtsakte mit Gesetzescharakter – allgemeine Geltung und ergänzen oder ändern bestimmte nicht wesentliche Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes (Art. 290 Abs. 1 S. 1 AEUV). Bezüglich der Befugnisübertragung im grundlegenden Gesetzgebungsakt ist es unerheblich, ob diese im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (bisheriges Mitentscheidungsverfahren) oder im besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden (Art. 289 AEUV). Rechtsakte mit Gesetzescharakter und ohne Gesetzescharakter unterscheiden sich allein dadurch, dass Letztere nicht im Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1 oder 2 AEUV erlassen wurden (vgl. Art. 289 Abs. 3 AEUV). Auch die Handlungsform ist nicht entscheidend für die Einordnung eines Rechtsakts als Tertiärechtsakt: Rechtsakte ohne Gesetzescharakter können in den Formen des Art. 288 AEUV (Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse) ergehen.88 Grundsätzlich werden sie von der Kommission erlassen; in begründeten Sonderfällen ist auch der Rat kompetent (Art. 291 Abs. 2 AEUV). Neben Art. 290, 291 AEUV ermächtigen etwa Art. 105 Abs. 3, 106 Abs. 3 und Art. 108 AEUV die Kommission direkt zum Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Eine Tertiärrechtsetzungsbefugnis jenseits dieser ausdrücklich genannten und der durch Art. 290 und 291 AEUV eröffneten besteht nicht. Die Ermächtigungen zu administrativer, bindender Rechtsetzung sind primärrechtlich abschließend geregelt.89 Die Kennzeichnungspfl icht für delegierte Rechtsakte (Art. 290 Abs. 3 AEUV) und Durchführungsrechtsakte (Art. 291 Abs. 4 AEUV) dient der Rechtsklarheit.90 87
Artikel 290 AEUV lautet: (1) In Gesetzgebungsakten kann der Kommission die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen. In den betreffenden Gesetzgebungsakten werden Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt. Die wesentlichen Aspekte eines Bereichs sind dem Gesetzgebungsakt vorbehalten und eine Befugnisübertragung ist für sie deshalb ausgeschlossen. (2) Die Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, werden in Gesetzgebungsakten ausdrücklich festgelegt, wobei folgende Möglichkeiten bestehen: a) Das Europäische Parlament oder der Rat kann beschließen, die Übertragung zu widerrufen. b) Der delegierte Rechtsakt kann nur in Kraft treten, wenn das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb der im Gesetzgebungsakt festgelegten Frist keine Einwände erhebt. Für die Zwecke der Buchstaben a und b beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder und der Rat mit qualifi zierter Mehrheit. (3) In den Titel der delegierten Rechtsakte wird das Wort „delegiert“ eingefügt. 88 M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 290 Rn. 3. 89 U. Stelkens, VVDStRL 71 (2012), S. 369 (397 f.); W. Weiß, Das Leitlinien(un)wesen der Kommission verletzt den Vertrag von Lissabon, EWS 2010, S. 257 (259 f.); R. Henke, Die Leitlinien der Kommission, – Instrument zur Gewährleistung eines einheitlichen Verwaltungsvollzugs im europäischen Zollrecht?, in: G. Manssen / M. Jachmann / C. Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht – Festschrift für Udo Steiner, 2009, S. 274 (290 ff.); a. A. M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1083), der eine Übertragung von Durchführungsrechtssetzungsbefugnissen etwa auf Agenturen im Rahmen von Art. 291 Abs. 2 AEUV für zulässig hält, eine Subdelegation von Rechtsetzungsbefugnissen im Rahmen von Art. 290 AEUV zu recht aber ausschließt. 90 M. Kotzur, in: R. Geiger / D.-E. Khan / M. Kotzur, EUV/AEUV, 2010, Art. 290 AEUV Rn. 8, Art. 291 AEUV Rn. 5.
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2. Delegierte Rechtsakte Nach Art. 290 Abs. 1 S. 1 AEUV wird der Kommission die Befugnis übertragen, „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen“. Begriffl ich entsprechen die delegierten Rechtsakte gemäß Art. 290 Abs. 1 S. 1 AEUV den bisherigen Durchführungsrechtsakten, die im Regelungsverfahren mit Kontrolle gemäß Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 5a Komitologiebeschluss erlassen wurden („[. . .] Maßnahmen von allgemeiner Tragweite [. . .], die eine Änderung von nicht wesentlichen Bestimmungen dieses Rechtsakts bewirken, einschließlich durch Streichung einiger dieser Bestimmungen oder Hinzufügung neuer nicht wesentlicher Bestimmungen [. . .]“).91 Der Begriff „Maßnahme von allgemeiner Tragweite“ war und ist unbestimmt: Dem EU-Gesetzgeber wird ein primärrechtlicher Auslegungsspielraum eröffnet. Eine Maßnahme von allgemeiner Tragweite liegt sicherlich vor, wenn Durchführungsbefugnisse zugleich Entscheidungen zu Lasten von Unionsbürgern beinhalten. Aufgrund der Grundrechtsrelevanz sind derartige Entscheidungen allerdings als wesentliche Entscheidungen einzuordnen und sind daher dem Basisrechtsakt vorbehalten. Delegierte Rechtsakte werden von der Kommission erlassen: Ihr wird als eine ihrer wesentlichen Aufgaben die Exekutivrechtsetzung übertragen (Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV).92
a) Bedingungen und Grenzen der Rechtsetzungsdelegation Ermächtigungsgrundlage für delegierte Rechtsakte können nur Gesetzgebungsakte sein, die entweder im ordentlichen oder besonderen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, 2 und 4 AEUV) erlassen worden sind (Art. 290 Abs. 1 S. 1 AEUV). Der EU-Gesetzgeber – mithin auch das Europäische Parlament – entscheidet über das „Ob“ und „Wie“ der Delegation von Befugnissen. Eine Subdelegation durch die Kommission in einem delegierten Rechtsakt scheidet insoweit aus.93
91 So auch D. Scharf (Fn. 17), S. 19; KOM(2009) 673 endg., S. 3. Durchführungsrechtsakte, die im Rahmen des Regelungsverfahrens erlassen wurden (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. b. Komitologiebeschluss: Maßnahmen von allgemeiner Tragweite, mit denen wesentliche Bestimmungen von Basisrechtsakten angewandt werden sollen (. . .), entsprechen delegierten Rechtsakten i. S. v. Art. 290 Abs. 1 S. 1 AEUV nicht, da ihr Gegenstand die Anwendung wesentlicher Bestimmungen des Basisrechtsakts ist; so aber C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (41). 92 Die Kommission (KOM(2009) 673 endg., S. 4 erläutert dieses wie folgt: „Möchte der Gesetzgeber der Kommission die Befugnis zur Änderung des Anhangs einer Verordnung übertragen, sollte beispielsweise präzisiert werden, dass die Kommission im Wege eines delegierten Rechtsaktes den besagten Anhang ganz oder teilweise ändern kann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind – z. B. wissenschaftliche oder technische Fortschritte erzielt werden, ein bestimmtes Ereignis eintritt oder eine gewisse Zeit abgelaufen ist. Desgleichen könnten der Kommission bestimmte Vorgaben für die Änderung des Anhangs gemacht werden; sind im Anhang beispielsweise Mengenwerte festgesetzt, könnte der Gesetzgeber der Kommission auferlegen, bestimmte Schwellenwerte nicht zu überschreiten.“ 93 A. Edenharter, DÖV 2011, 645 (647).
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Art. 290 Abs. 1 AEUV enthält zwei materielle Begrenzungen für die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission: Erstens ist die Delegation auf nicht wesentliche Aspekte eines Bereichs beschränkt. Diese Regelung lehnt sich an die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union an, wonach im Basisrechtsakt „die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“ festzulegen sind.94 Nach Auffassung des EuGH dürfen nur nicht wesentliche Regelungen delegiert werden, während Grundsatzentscheidungen durch die nach dem Vertrag zuständigen Organe zu treffen seien.95 Der EuGH legt den Begriff der wesentlichen Vorschriften allerdings eng aus: Wesentlich sind nach der Rechtsprechung des EuGH nur Bestimmungen, durch die die grundsätzliche Ausrichtung einer gemeinschaftlichen Politik umgesetzt wird.96 Dem EU-Gesetzgeber wird regelmäßig ein weites Ermessen bzgl. der Delegation von Durchführungsmaßnahmen auf die Kommission zugebilligt.97 Das Primärrecht greift inhaltlich ferner auf Art. 1 S. 2 Komitologiebeschluss 2006 zurück, wonach im Basisrechtsakt „die Hauptbestandteile der so übertragenen Befugnisse“ festgelegt werden müssen. Eine allgemeine Ermächtigung im Basisrechtsakt – wie sie noch der EuGH in Bezug auf die Vorgängerregelung des Komitologiebeschlusses 87/377/EWG als zulässig ansah98 – reicht insoweit nicht mehr aus, um dem Erfordernis der Wesentlichkeit i. S. v. Art. 290 Abs. 1 und 2 AEUV zu entsprechen. Es kommt mithin auf die wesentlichen Grundzüge einer Materie an, die im Basisrechtsakt normiert werden müssen. Da die Kommission nur zur Änderung oder Ergänzung des Basisrechtsakts ermächtigt wird, ist ihr eine Änderung der Zielsetzung – die i.Ü. auch zu den wesentlichen Bestandteilen des Basisrechtsakts zählen dürfte – verwehrt.99 Mit dem deutschen Wesentlichkeitsgrundsatz, der auf die Intensität des Grundrechtseingriffs abstellt, hat der unionale Wesentlichkeitsgrundsatz wenig gemein, da sich die Wesentlichkeit einer Regelungsmaterie – jedenfalls nicht ausschließlich – anhand des Grundrechtseingriffs bemisst.100 Zweitens sind in den ermächtigenden Gesetzgebungsakten Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festzulegen (Art. 290 Abs. 1 S. 2 AEUV). Diese Vorgaben ähneln Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG,101 indes kann 94 Grundlegend zur Rechtmäßigkeit der Ausschussverfahren EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, 1161, Rn. 6 ff. (Köster); vgl. Rs. 230/78, Slg. 1979, 2748, Rn. 7 (Eridiana); Rs. 46/86, Slg. 1992, 5073, Rn. 14 (Romkes); verb. Rs. C-63/90 und C-67/90, Slg. 1992, I-5142, Rn. 14 (Portugal und Spanien/ Rat); EuGH, Rs. C-156/93 v. 13. 7. 1995, Slg. 1995, I-2019 (ökologischer Landbau, mit Anmerkung S. Schlacke, DVBl. 1995, S. 1288 ff.); EuGH, Rs. C-303/94 v. 18. 6. 1996, Slg. 1996, I-2943 (Pfl anzenschutzmittel); EuGH, verb. Rs. C-14/06 u. C-295/06 v. 14.2008, EuZW 2008, 281 (Parlament und Dänemark/Kommission); Rs. C-417/93, Slg. 1995, I-1185, Rn. 30 (EP/Rat); Rs. C-104/97, Slg. 1999, I-6983, Rn. 76 (Atlanta/Kommission u. Rat). Ausführlich S. Schlacke (Fn. 13), S. 270 ff. 95 Ebenda, Rn. 6; dazu J. Gundel, JA 2008, S. 911, insb. Fn. 8 u. 9. 96 EuGH, Rs. C-240/90, Slg. 1992, I-5383, Rn. 7 f. (Deutschland/Kommission). 97 Vgl. S. Schlacke (Fn. 13) m. w. N. in Fn. 1081 ff. 98 So EuGH, Rs. C-240/90, 1992, Slg. 1992, I-5383, Rn. 11 f. (Deutschland/Kommission); Rs. C 374/96, Slg. 1998, I-8385, Rn. 36 (Vorderbrüggen/Hauptzollamt Bielefeld). 99 D. Scharf (Fn. 17), S. 14. 100 In diesem Sinne auch M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 290 AEUV Rn. 9 f.; K. F. Gärditz, DÖV 2010, S. 453 (456). Siehe hierzu ausführlich unten S. 322 ff. 101 M. Möstl, DVBl. 2011, 1076 (1077).
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insoweit nicht auf die entsprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rekurriert werden.102 Vielmehr ist der europäische Wesentlichkeitsbegriff durch die entwickelte Rechtsprechung des EuGH zu den Grenzen der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission konkretisiert und ausgeformt worden.103 Der EU-Gesetzgeber hat sekundärrechtlich festzulegen, welche Ziele durch den Erlass delegierter Rechtsakte zu erreichen sind, was die Kommission im Einzelnen regeln soll, welche sachlichen Felder und für welche Dauer der delegierte Rechtsakt Geltung beansprucht.104 Nach Auffassung der Kommission105 wird damit nicht die Aufnahme einer sog. Auslauf klausel („Sunset-Clause“) festgeschrieben, die – wenn sie in einen Gesetzgebungsakt eingefügt wird – die Befugnisübertragung an die Kommission automatisch befristet und sie praktisch dazu verpfl ichtet, nach Ablauf der vom Gesetzgeber festgesetzten Frist einen neuen Legislativvorschlag zu unterbreiten. Ebenfalls im Unterschied zu Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG kann nicht nur der Basisrechtsakt ergänzt, sondern er kann durch einen delegierten Rechtsakt auch geändert werden, solange es sich hierbei um eine unwesentliche Änderung handelt.106
b) Begründung und Beendigung der Befugnis zu delegierter Rechtsetzung Begründet wird die Befugnis zu delegierter Rechtsetzung durch den Basisrechtsakt. Bezüglich des Verfahrens der Befugnisübertragung werden primärrechtlich keine Festlegungen getroffen.107 Beendet werden kann die Befugnisübertragung gemäß den Anforderungen des Art. 290 Abs. 2 AEUV. Im Unterschied zu Abs. 1 ist hiermit die Kontrolle durch den EU-Gesetzgeber nach Übertragung des Mandats geregelt.108 Gemäß Art. 290 Abs. 2 AEUV bestehen ein Widerrufsrecht (lit. a)109 und ein Einspruchsrecht (lit. b) für das Europäische Parlament und den Rat.110 Einspruchs- und Widerrufsrecht können ohne Rücksicht auf das jeweils andere Organ ausgeübt werden.111
102
Siehe unten S. 323. EuGH, Rs. 291/86, Slg. 1988, 3679, Rn. 13 (Central Import); ähnlich Art. I-36 Verf EU, wonach „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung“ festzulegen sind. 104 Ausführlich dazu K.-D. Sohn / J. Koch, Kommentierung der Mitteilung der Kommission [KOM(2009) 673] über die Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, CEP-Kommentar, März 2010, S. 14 f. 105 KOM(2009) 673 endg., S. 4 f. 106 KOM(2009) 673 endg., S. 4; M. Möstl, DVBl. 2011, 1076 (1080). 107 N. Beer, EuZW 2010, 201. 108 KOM(2009) 673 endg., S. 5. 109 Art. 290 Abs. 2 lit. a. AEUV lautet: „Das Europäische Parlament oder der Rat kann beschließen, die Übertragung zu widerrufen“. 110 Art. 290 Abs. 2 lit. b AEUV lautet: „Der delegierte Rechtsakt kann nur in Kraft treten, wenn das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb der im Gesetzgebungsakt festgelegten Frist keine Einwände erhebt. Für beide Fälle (a) und (b) bedarf es eines Beschlusses des EP mit der Mehrheit seiner Mitglieder sowie des Rates mit qualifi zierter Mehrheit.“ 111 D. Scharf (Fn. 17), S. 15. 103
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Der Widerruf kann im Basisrechtsakt vorbehalten sein. Bei Widerruf werden der Kommission die übertragenen Befugnisse generell und vollständig entzogen. Der Widerruf muss nicht begründet werden.112 Der Gesetzgeber kann ferner das Inkrafttreten eines delegierten Rechtsakts davon abhängig machen, ob das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb einer festgelegten Frist keinen Einwand erhoben haben. Beim Einspruchsrecht handelt es sich um einen spezifischen Einwand gegen einen ganz bestimmten delegierten Rechtsakt. Widerruf oder Einspruch eröffnen dem Unionsgesetzgeber, auf Kompetenzüberschreitungen der Kommission bei der Ausübung ihrer delegierten Rechtsetzungsbefugnis zu reagieren, auch nachdem sie eine Exekutivbefugnis übertragen haben. Die Wesentlichkeit einer delegierten Rechtsmaterie kann hierdurch anders oder neu bewertet werden. Das Primärrecht enthält allerdings keine ausreichenden prozeduralen Vorgaben für die Ausübung der Kontrollrechte: Faktisch bedarf es eines Verfahrens der Informationsübermittlung über Gegenstand und Stand des Verfahrens an den Rat und das Europäische Parlament, damit diese von ihrem Widerrufs- und Einspruchsrecht ggf. Gebrauch machen können. Diese Lücke ist zu schließen, welches durch interinstitutionelle Vereinbarungen geschehen kann.113 Eines Komitologiebeschlusses bedarf es hierfür nicht. Die Hinzuziehung von Experten, ggf. aus den Mitgliedstaaten, die über die erforderliche Expertise verfügen, wird im Rahmen der delegierten Rechtsetzung letztlich in das Ermessen der Kommission gestellt. Es ist zu erwarten, dass die Kommission zu ihrer Unterstützung bereits etablierte wissenschaftliche und ständige Ausschüsse hinzuziehen wird. Die primärrechtlichen Vorgaben sehen eine Kontrollfunktion der Ausschüsse – wie sie den Ständigen Ausschüssen gemäß dem Komitologiebeschluss auch im Bereich der jetzt erfassten delegierten Rechtsetzung zukam – nicht vor.114
c) Die Funktion der Komitologie im Rahmen delegierter Rechtsetzung Im Rahmen der delegierten Rechtsetzung dürfte mithin der Komitologie i. S. d. alten Komitologiebeschlusses zukünftig kaum noch eine Bedeutung zukommen. Eine Ausnahme hiervon bildet der Finanzsektor, in dem nach wie vor die Kommission verpfl ichtet ist, Expertenausschüsse im Rahmen des sog. Lamfalussy-Verfahrens115 einzubeziehen.116 Primärrechtlich finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen delegierter Rechtsetzung auf das Ausschusswesen zu rekurrieren ist. Die Kontrolle für die delegierte Rechtsetzung liegt in der Hand des Rates und des Parlaments, wird jedoch 112
Ebenda. Vgl. B. Driessen, E. L.Rev. 2010 (35), S. 837 (847). 114 Siehe nachfolgend c). 115 Vgl. hierzu K. U. Schmolke, die Einbeziehung des Komitologieverfahrens in den Lamfalussy-Prozess – Zur Forderung des Europäischen Parlaments nach mehr Entscheidungsteilhabe, EuR 2006, S. 432 ff. 116 Erklärung Nr. 39 zu Art. 290 AEUV, ABl. EG Nr. C 83, S. 350. 113
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nicht Ausschüssen übertragen (Art. 290 Abs. 2 AEUV). Im Unterschied zu Art. 291 Abs. 3 AEUV ermächtigt Art. 290 AEUV nicht zum Erlass von Modalitäten für die delegierte Rechtsetzung, so dass auch hieraus geschlossen werden kann, dass eine Einbeziehung der Komitologie nicht vorgesehen ist.117 Zwar erfasst die delegierte Rechtsetzung in der Sache vielfach Materien, die bislang dem Komitologieverfahren überantwortet waren. Denn bei delegierten Rechtsetzungsbefugnissen handelt es sich überwiegend um die bisherigen Durchführungsbefugnisse, die im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle erlassen wurden. Hieraus lässt sich allerdings nicht schlussfolgern, dass dieses ebenfalls im Rahmen delegierter Rechtsetzung gefordert ist.118 Auch das Schrifttum tendiert dazu, ein Bedürfnis für einen Rückgriff auf das bisherige Ausschusswesen abzulehnen.119 Selbst für die Gestaltung der Fristen nach Art. 290 Abs. 2 lit. b. AEUV wird vorgeschlagen, eine Festlegung durch interinstitutionelle Vereinbarungen und interne Richtlinien zu treffen.120 Die Kommission betrachtet Art. 290 AEUV als neuen institutionellen Kontext, in dem nicht (zwingend) auf die bisherigen Komitologieverfahren zurückzugreifen sei.121 Im Rahmen der delegierten Rechtsetzung könnte mangels Kompetenzgrundlage nicht am bewährten Komitologieverfahren und der Einbeziehung von mitgliedstaatlich besetzten Ausschüssen festgehalten werden.122 Die Kommission ist der Auffassung, dass „zur Umsetzung dieser Bestimmung [d. h. Art. 290 AEUV] kein verbindlicher Rechtsakt des abgeleiteten Rechts erforderlich [sei], sie genügt sich selbst und enthält alles, was der Gesetzgeber benötigt, um von Fall für Fall den Geltungsbereich, den Inhalt und die Modalitäten einer Befugnisübertragung festzulegen“.123 Die Kommission beabsichtigt mithin nicht, den Komitologiebeschluss zu übernehmen.124 Vielmehr will sie in Fällen, in denen neues Expertenwissen erforderlich ist, „systematisch Sachverständige der nationalen Behörden aller Mitgliedstaaten (. . .) konsultieren, die letztlich für die Durchführung delegierter Rechtsakte verantwortlich sein werden. Eine solche Konsultation wird frühzeitig stattfi nden, damit die Sachverständigen einen nützlichen und wirksamen Beitrag leisten können. Hierzu wird die Kommission Expertengruppen bilden oder bereits bestehende Expertengruppen heranziehen können“.125 Die Entscheidung darüber, ob und wie mitgliedstaatliche Experten einbezogen werden, trifft allein die Kommission. Delegierte Rechtsakte werden nach der Vorstellung der Kommission ohne Rückgriff auf die elaborierten Komitologieverfahren und bewährten Arbeitsweisen von Ausschüssen getroffen. Die delegierten Rechtsetzungsbefugnisse zur Änderung und Ergänzung des jeweiligen Basisrechtsakts wird die Kommission zukünftig nicht ohne externe Expertise sachgerecht ausüben können. Das hat auch die Kommission erkannt und will – wie das obige Zitat belegt, externen Sachverstand nach eigener Entscheidung 117 118 119 120 121 122 123 124 125
A. Edenharter, DÖV 2011, 645 (647). A. Edenharter, DÖV 2011, 645 (647); C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (41). A. Edenharter, DÖV 2011, 645 (647); C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (41). C. Möllers / J. v. Achenbach EuR 2011, S. 39 (56 ff.). KOM(2009) 673 endg., S. 2. So die Auffassung der Kommission, vgl. KOM(2009) 673 endg., S. 1. KOM(2009) 673 endg., S. 1. KOM(2009) 673 endg. KOM(2009) 673 endg., S. 6.
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hinzuziehen. Eine Kontrolle, wer in welchen Verfahren herangezogen wird, ist verfahrensrechtlich nicht gewährleistet. Insoweit ist eine Kontrolle der delegierten Rechtsetzung allein auf den EU-Gesetzgeber verwiesen. Ob er dieser Verantwortung faktisch gerecht werden kann, angesichts der Fülle und inhaltlichen Bedeutung von delegierten Rechtsetzungsbefugnissen, bleibt abzuwarten, zu beobachten und unter demokratietheoretischen und legitimatorischen Gesichtspunkten (s. u. E) zu bewerten.
3. Durchführungsrechtsetzung Im Unterschied zur delegierten Rechtsetzung sind für die Durchführung des Unionsrechts gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig.126 Diese Regelung entspricht dem das Unionsrecht prägenden Grundsatz des mittelbaren Vollzugs des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Behörden und trägt damit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Charakter einer föderalen Union Rechnung.127 Das jeweils innerstaatliche Recht bestimmt, in welchem Verfahren mitgliedstaatliche Durchführungsrechtsakte erlassen werden und welche Rechtsnatur ihnen zugewiesen wird.128 Eine strukturelle, allerdings nicht inhaltliche Ähnlichkeit mit Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2 GG ist unverkennbar.129 Ausnahmsweise kann die Kommission und in Sonderfällen der Rat zur Festlegung einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte ermächtigt werden („Durchführungsrechtsakte“, Art. 291 Abs. 2 AEUV).130 Der Erlass von Durchführungsrechtsakten durch die Kommission bedarf einer besonderen Begründung, die auf die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu rekurrieren hat. Die Bedingungen für den Erlass von Durchführungsrechtsakten werden durch einen Rechtsakt mit Gesetzescharakter im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vom Rat und Europäischen Parlament festgelegt (Art. 291 Abs. 3 AEUV). Die Modalitäten regelt nunmehr die Komitologieverordnung (EU) Nr. 182/2011131. Erkennbar sind
126 Artikel 291 AEUV lautet: (1) Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht. (2) Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen und in den in den Artikeln 24 und 26 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehenen Fällen, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen. (3) Für die Zwecke des Absatzes 2 legen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen im Voraus allgemeine Regeln und Grundsätze fest, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren. (4) In den Titel der Durchführungsrechtsakte wird der Wortteil „Durchführungs-“ eingefügt. 127 M. Möstl, DVBl. 2011, 1076 (1077); A. Edenharter, DVBl. 2011, 645 (648). 128 M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 291 AEUV Rn. 8 f. 129 C. Möllers, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2002, S. 483 (504 f.). 130 Näher zum Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Kommission und Rat vgl. M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011; Art. 291 AEUV Rn. 8 f. 131 V. 16. 2. 2011, ABl. EU Nr. L 55, S. 13 ff.
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Rechtsakte i. S. v. Art. 291 AEUV durch den Zusatz „Durchführungs-“ (Art. 291 Abs. 4 AEUV).
a) Begriff des Durchführungsrechtsakts Der Begriff des Durchführungsrechtsakts gemäß Art. 291 AEUV ist von jenem des delegierten Rechtsakts i. S. v. Art. 290 AEUV zu differenzieren: Nach Auffassung der Kommission ist ein Rechtsakt i. S. v. Art. 290 AEUV definitionsgemäß vom Geltungsbereich des Art. 291 AEUV ausgeschlossen und umgekehrt.132 Diese Auffassung wird durch Wortlaut und Systematik gestützt, da zwei Begriffl ichkeiten – delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte – in zwei primärrechtlichen Bestimmungen normiert sind. Auch Sinn und Zweck der Rechtsakte sind verschieden: Ein delegierter Rechtsakt von allgemeiner Tragweite zielt auf Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Vorschriften. An einer Definition für Durchführungsrechtsakte fehlt es zwar. Sein Zweck ergibt sich funktional aus der Notwendigkeit der Schaffung einheitlicher Bedingungen für die Durchführung des Unionsrechts. Delegierter Rechtsakt und Durchführungsrechtsakt besitzen mithin eine unterschiedliche Tragweite: Gemäß Art. 290 AEUV wird die Kommission ermächtigt, die Arbeit des Gesetzgebers zu ergänzen oder zu ändern aus Gründen der Effizienz. Sie erhält damit eigenständige Rechtsetzungsbefugnisse; sie kann mithin den Basisrechtsakt (verfügender Teil oder Anhang) förmlich ändern. Im Unterschied dazu sind die Befugnisse gemäß Art. 291 AEUV rein vereinheitlichender Art, d. h. exekutivisch ausgerichtet. Zur Unterstützung der grundsätzlichen Durchführung der Rechtsakte durch die Mitgliedstaaten wird die Kommission ermächtigt, einheitliche Bedingungen mittels Durchführungsrechtsakte festzulegen. Nach Auffassung der Kommission ist ihr Eingreifen nicht fakultativ, sondern obligatorisch, d. h., wenn die Voraussetzungen des Art. 291 AEUV erfüllt sind, muss sie tätig werden.133 Erlässt die Kommission Durchführungsrechtsakte, so hat sie diese entsprechend zu bezeichnen (Art. 291 Abs. 4 AEUV). Dieser Bezeichnung kommt keine konstitutive Wirkung zu. Die Durchführungsrechtsakte können sämtliche Handlungsformen des Art. 289 AEUV aufweisen, also als Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse ergehen.134
b) Die Komitologieverordnung 2011 Im Unterschied zur delegierten Rechtsetzung enthält Art. 291 AEUV keine Anforderungen an den Erlass von Durchführungsrechtsakten. Vielmehr sollen gemäß Art. 291 Abs. 3 AEUV Regeln und Grundsätze für die Kontrolle der Durchführungsrechtsetzung in einem Sekundärrechtsakt – konkret in Verordnungen – festgelegt werden. Zuständig für die Kontrolle sind die Mitgliedstaaten. Dies gilt als Ein132 133 134
KOM(2009) 673 endg., S. 2. KOM(2009) 673 endg., S. 3. M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 291 AEUV Rn. 11.
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fallstor für die auf der Grundlage von Art. 202, 3. Spiegelstrich, 211, 4. Spiegelstrich EGV entwickelten Komitologieverfahren und der Einbeziehung von mit Vertretern der Mitgliedstaaten besetzten Expertenausschüssen.135 Übergangsweise entfaltete der Komitologiebeschluss 2006 Geltung. Ab dem 1. März 2011136 löste die Verordnung (EU) Nr. 182/2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (im Folgenden: Komitologieverordnung)137, den Komitologiebeschluss ab. Die Komitologieverordnung gestaltet Art. 291 AEUV sekundärrechtlich aus. Das bisherige Komitologiesystem wird aufgehoben und maßgeblich geändert.138 Die Verordnung (EU) Nr. 182/2011 beinhaltet die allgemeinen Regeln und Grundsätze, die gemäß Art. 291 Abs. 3, 294 AEUV beim Erlass von Durchführungsrechtsakten anzuwenden sind. Art. 3 Komitologieverordnung behält weitgehend die bekannte Ausschussstruktur bei: Erneut werden zur Unterstützung der Kommission Ausschüsse vorgesehen, die aus Vertretern der Mitgliedstaaten gebildet werden. Den Vorsitz hat die Kommission. Die Komitologieverordnung sieht zwei Verfahrensarten vor: Das Beratungsverfahren (Art. 4) und das Prüfverfahren (Art. 5). Sie ersetzen die Beratungs-, Verwaltungs- und Regelungsverfahren i. S. d. bisherigen Komitologiebeschlusses. Obwohl sich aus Art. 291 Abs. 3 AEUV nicht ableiten lässt, dass die Kontrolleröffnung und reichweite der Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung i. S. d. bisherigen Komitologiebeschlusses zu konzipieren ist, entsprechen bzw. ähneln Beratungs- und Prüfverfahren dem bisherigen Beratungs- und Regelungsverfahren.
aa) Anwendung von Prüf- und Beratungsverfahren Das Prüfverfahren ist von der Kommission anzuwenden bei Durchführungsrechtsakten von allgemeiner Tragweite, sonstigen Durchführungsrechtsakten in Bezug auf Programme mit wesentlichen Auswirkungen, die gemeinsame Agrarpolitik und die gemeinsame Fischereipolitik, die Umwelt, Sicherheit oder den Schutz der Gesundheit oder die Sicherheit von Menschen, Tieren und Pflanzen, die gemeinsame Handelspolitik, die Besteuerung (Art. 2 Abs. 2 Komitologieverordnung). In allen übrigen Fällen ist das Beratungsverfahren heranzuziehen (Art. 2 Abs. 3 Komitologieverordnung). Nur in Ausnahmefällen und mit hinreichender Begründung kann es auch für Durchführungsmaßnahmen i. S. d. Abs. 2 Anwendung fi nden. Die Auswahlkriterien stärken die Kohärenz der beiden Komitologieverfahren und die Vereinheitlichung der Anwendung des Unionsrechts. Sie stehen in einem sachgerechten Verhältnis zur Art und den Auswirkungen der zu erlassenden Durchführungsrechtsakte.
135 136 137 138
M. Ruffert, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., 2011, Art. 291 AEUV Rn. 12. Art. 16 der VO (EU) Nr. 182/2011. ABl. EU Nr. L 55 v. 28. 2. 2011, S. 13. A. Edenharter, DVBl. 2011, S. 645 (648).
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bb) Das Beratungsverfahren Die Komitologieverordnung übernimmt das Beratungsverfahren des Komitologiebeschlusses 1999/468/EG: Der Ausschuss hat zum Entwurf der Kommission mit einfacher Mehrheit eine Stellungnahme abzugeben, die soweit wie möglich von der Kommission berücksichtigt werden soll.139 Art. 13 Abs. 1 lit. a) Komitologieverordnung enthält eine Übergangsregelung für die bisherigen Beratungsverfahren: Wird im Basisrechtsakt auf das Beratungsverfahren gemäß Art. 3 Komitologiebeschluss 1999/468/EG verwiesen, so findet das neue Beratungsverfahren gemäß Art. 4 Komitologieverordnung ab 1. März 2011 Anwendung. Laufende Verfahren, in denen der Ausschuss bereits eine Stellungnahme abgegeben hat, werden nach dem Komitologiebeschluss 1999/468/EG zu Ende geführt.
cc) Das Prüfverfahren Das Prüfverfahren ersetzt das Verwaltungs- und Regelungsverfahren i. S. d. Komitologiebeschlusses 1999/468/EG. Es ist an das Regelungsverfahren angelehnt, enthält demgegenüber aber auch einige Neuerungen. Im Prüfverfahren obliegt der Kommission das Vorschlagsrecht für Durchführungsmaßnahmen. Der Ausschuss hat mit qualifizierter Mehrheit eine Stellungnahme abzugeben.140 Stimmt diese mit dem Kommissionsentwurf überein, so kann die Kommission die Maßnahme erlassen.141 Bei ablehnender Stellungnahme des Ausschusses darf die Kommission die Maßnahme nicht erlassen.142 Im Unterschied zum Regelungsverfahren erfolgt bei ablehnender Stellungnahme des Ausschusses kein Rekurs zum Rat, sondern dem Ausschuss kommt nunmehr ein Vetorecht zu. Die Kommission kann allerdings innerhalb von zwei Monaten erneut dem Ausschuss einen geänderten Vorschlag unterbreiten oder einen Monat nach Abgabe der ablehnenden Stellungnahme dem Berufungsausschuss den abgelehnten Vorschlag zur weiteren Befassung vorlegen. Wenn der Ausschuss keine Stellungnahme abgibt, kann die Kommission grundsätzlich die Maßnahme erlassen.143 Ausnahmen hiervor enthält Art. 5 Abs. 4 UAbs. 2 Komitologieverordnung, also ein Erlass der Durchführungsmaßnahme ist der Kommission bei fehlender Stellungnahme des Ausschusses nicht möglich, „a) wenn dieser Rechtsakt die Besteuerung, Finanzdienstleistungen, den Schutz der Gesundheit oder der Sicherheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder endgültig multilaterale Schutzmaßnahmen betrifft, b) wenn im Basisrechtsakt vorgesehen ist, dass der im Entwurf vorgesehene Durchführungsrechtsakt ohne Stellungnahme nicht erlassen werden darf, oder c) wenn die Mitgliedstaaten des Ausschusses ihn mit einfacher Mehrheit ablehnen.“
139 140 141 142 143
Art. 4 Abs. 1 und 2 VO (EU) Nr. 182/2011. Art. 5 Abs. 1 VO (EU) Nr. 182/2011. Art. 5 Abs. 2 VO (EU) Nr. 182/2011. Art. 5 Abs. 3 S. 1 VO (EU) Nr. 182/2011. Art. 5 Abs. 4 S. 1 VO (EU) Nr. 182/2011.
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Falls eine dieser Ausnahmen vorliegt, kann der Kommissionsvorsitzende dem Ausschuss einen geänderten Vorschlag innerhalb von zwei Monaten vorlegen oder innerhalb eines Monats den Berufungsausschuss damit befassen. Sinn und Zweck dieser Regelung ist, dass die Kommission keine Durchführungsrechtsakte im Prüfverfahren ohne Zustimmung des Ausschusses oder des Berufungsausschusses erlassen kann. Art. 7 Komitologieverordnung sieht zur unverzüglichen Abwendung von erheblichen Störungen im Agrarmarktbereich hiervon wiederum eine Ausnahme vor. Für endgültige Antidumping- oder Ausgleichsmaßnahmen enthält Art. 5 Abs. 5 Komitologieverordnung eine weitere Ausnahme. Der wesentliche Unterschied des jetzigen Prüfverfahrens zum Regelungsverfahren besteht darin, dass eine Befassung des Rates bei ablehnender Stellungnahme des Ausschusses nicht mehr vorgesehen ist. Vielmehr kommt dem Ausschuss selbst die Verwerfungskompetenz hinsichtlich des Kommissionsvorschlags zu. Die Kontrollbefugnisse des Ausschusses und damit der mitgliedstaatlichen Experten wurden durch die Komitologieverordnung gestärkt.
dd) Berufungsausschuss Der Berufungsausschuss, der sich aus hochrangigen nationalen Experten zusammensetzt,144 ist zuständig, wenn er durch die Kommission angerufen wird in den Fällen, in denen die Kommission keine Zustimmung des Ausschusses für einen Durchführungsrechtsakt erhalten hat (Art. 5 Abs. 3 und 4 UAbs. 3 sowie Abs. 5 UAbs. 2, Art. 7 UAbs. 2 Komitologieverordnung). Bei befürwortender Stellungnahme hat die Kommission die Durchführungsmaßnahme zu erlassen, bei fehlender Stellungnahme des Berufungsausschusses ist es in das Ermessen der Kommission gestellt, ob sie einen Rechtsakt erlässt. Eine Ausnahme besteht allein für multilaterale Schutzmaßnahmen (Art. 6 Abs. 4 Komitologieverordnung). Der Berufungsausschuss hat sich am 29. März 2011 eine Geschäftsordnung gegeben.145
ee) Überleitung von Altrechtsakten auf neue, abgeleitete Rechtsetzung Die Komitologieverordnung (EU) Nr. 182/2011 trat am 1. März 2011 in Kraft.146 Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union enthält keine Überleitungsregelungen, die die Fortgeltung der bisherigen Durchführungsrechtsetzung etwa für eine bestimmte Übergangsperiode festlegen. Das Europäische Parlament und die Kommission haben sich darauf geeinigt, dass Gesetzgebungsvorhaben, die vor Inkrafttreten des Lissabonvertrags vorgeschlagen worden sind und sich noch im Gesetzgebungsverfahren befi nden, auf das neue System der abgeleiteten Rechtsetzung umzustellen sind, m.a.W. Art. 290, 291 AEUV 144
A. Edenharter, DVBl. 2011, S. 645 (649). Geschäftsordnung des Berufungsausschusses (Verordnung (EU) Nr. 182/2011), ABl.EU Nr. C v. 24. 6. 2011, S. 13. 146 Art. 16 VO (EU) Nr. 182/2011. 145
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Anwendung fi nden.147 Für vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ergangene Basisrechtsakte findet – bis zum Inkrafttreten einer sekundärrechtlichen Verordnung, die die Modalitäten der Komitologie neu regelt – weiterhin der Komitologiebeschluss 1999/468/EG Anwendung. Die am 1. März 2011 enthaltenen Verweise in Basisrechtsakten auf Komitologieverfahren des Komitologiebeschlusses 1999/468/EG werden auf das neue System der Beratungs- und Prüfverfahren überführt.148 Bezüglich der Wahl der Verfahren ist zu differenzieren zwischen Alt-Basisrechtsakten und Basisrechtsakten, die nach dem 1. März 2011 erlassen wurden. Gemäß Art. 12 UAbs. 2 und Art. 13 Komitologieverordnung werden die in den geltenden Basisrechtsakten festgelegten, nach dem Komitologiebeschluss 1999/468/EG normierten Verfahren, auf die Komitologieverordnung übergeleitet. Diesbezüglich besteht kein Wahlrecht – weder der Kommission noch des EU-Gesetzgebers. Für nach dem 1. März 2011 erlassene Basisrechtsakte richtet sich die Auswahl von Beratungsund Prüfverfahren nach den in Art. 2 Komitologieverordnung normierten Kriterien.
II. Abgrenzung von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten Mit dem Vertrag von Lissabon haben die Vertragsstaaten eine Dreiteilung von Rechtsakten eingeführt: Mit absteigender Mitwirkung des EU-Gesetzgebers kennt der AEUV Gesetzgebungsakte (Art. 289 AEUV), delegierte Rechtsakte (Art. 290 AEUV) und Durchführungsrechtsakte (Art. 291 AEUV). Die beiden Arten der Tertiärrechtsetzung, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte, unterliegen – wie aufgezeigt – unterschiedlichen Voraussetzungen und Verfahren. Sie weisen keinerlei Überschneidungsbereiche auf; vielmehr schließen sich diese Rechtsetzungsformen wechselseitig aus.149 Die ursprünglich durch die Komitologie geprägte Durchführungsrechtsetzung der Kommission unterschied nicht zwischen diesen beiden Formen der Tertiärnormsetzung. Die Entscheidung, ob es sich um eine wesentliche Maßnahme handelte und welches Verfahren Anwendung zu finden hatte, war zuvor nach den Kriterien des Komitologiebeschlusses, mithin eines Sekundärrechtsaktes, zu treffen. Von der bisherigen dem Komitologieverfahren unterliegenden Tertiärrechtsetzung wurden sowohl Rechtsakte erfasst, die den Kriterien der delegierten Rechtsetzung entsprachen, als auch solche, die nunmehr als Durchführungsrechtsakte einzuordnen sind. Das Primärrecht untertitelt die ursprünglich mittels Komitologieverfahren ergangene Durchführungsrechtsetzung in delegierte und Durchführungsrechtsetzung. Warum nunmehr zwei Formen der Tertiärrechtsetzung etabliert wurden, lässt sich 147 Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468/EG des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG, ABl.EU 2008, Nr. C 143, S. 1. 148 Art. 12 UAbs. 2, 13 Komitologieverordnung. 149 KOM(2009) 673 endg., S. 3; M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1081).
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der Entstehungsgeschichte des Lissabonvertrags nicht entnehmen.150 Das Primärrecht entscheidet auch, ob das Ausschusswesen nach der neuen Komitologieverordnung Anwendung fi ndet: Explizit findet es keine Anwendung bei Erlass delegierter Rechtsetzungsakte.151 Allerdings schweigt das Primärrecht zu der Frage des Anwendungsbereichs der beiden Formen der Tertiärrechtsetzung. Insofern gilt es, eine „konsolidierte Doktrin“152 der Abgrenzung zu entwickeln.153 Von Bedeutung ist die Differenzierung zwischen delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten deshalb, weil das Primärrecht unterschiedliche Anforderungen an den Erlass von derartigen Rechtsakten stellt. Zukünftig wird es u. a. darauf ankommen, die einer Flut gleichenden Rechtsetzungsaktivitäten der Kommission154 anhand der primärrechtlichen Anforderungen und der insoweit zu entwickelnden Doktrin zu überprüfen und zu bewerten. Delegierte und Durchführungsrechtsakte unterscheiden sich zunächst funktional: Aufgabe der delegierten Rechtsetzung ist die Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Vorschriften des Basisrechtsakts; Durchführungsrechtsakte dienen der Festlegung einheitlicher Bedingungen für die Durchführung des Basisrechtsakts.155 Abgrenzungsschwierigkeiten treten u. a. dann auf, wenn ein Rechtsakt der Kommission den Basisrechtsakt auf der Grundlage von Art. 291 AEUV ändert oder ergänzt, um dadurch den einheitlichen Vollzug in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Dieses Beispiel offenbart, dass delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte kaum konzeptionelle Unterschiede aufweisen.156 Delegierte Rechtsakte zählen zur horizontalen Gewaltenteilung der EU.157 Hierfür enthält Art. 290 AEUV sowohl materielle und prozedurale Anforderungen, die der gegenseitigen Kontrolle durch die Organe der EU dienen. Ein delegierter Rechtsakt ist allgemeiner, d. h. abstrakt-genereller Natur und folglich vollzugsfähig.158 Er könnte mithin durch einen Durchführungsrechtsakt konkretisiert werden. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Mitgliedstaaten oder die Kommission für den Vollzug zuständig sind.159 Die Durchführungsrechtsetzung bezweckt die Vereinheitlichung des Vollzugs des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten. Sie betrifft mithin das vertikale Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten: Verlagert werden exekutive Befugnisse von den Mitgliedstaaten auf die EU, während im Rahmen von Art. 290 AEUV der EU-Gesetzgeber legislative Befugnisse auf die Kommission überträgt.160 Art. 291 Abs. 1 AEUV verankert ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der mitgliedstaatlichen Durchführungsrechtsetzung und der Kommissions-Durchführungsrecht150
Vgl. insoweit H. Hofmann, ELJ 15 (2009), S. 482 (494 ff.). B. Driessen, Delegated, E. L.Rev. 2010 (35), S. 837 (842). 152 M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1081). 153 Vgl. auch A. Edenharter, DVBl. 2011, S. 465 (469 f.). 154 Vgl. für das Abfallrecht O. Kropp, ZUR 2011, S. 514 ff.; für das Stoffrecht vgl. S. Solle, Stoff R 2011, S. 256 (259 f.). 155 So auch U. Stelkens, VVDStRL 71 (2012), S. 369 (400). 156 So aber KOM(2009) 673 endg., S. 3 f.; ebenfalls U. Stelkens, VVDStRL 71 (2012), S. 369 (385 f.). 157 M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1081). 158 C. Fabricius, ZEuS 2011, S. 567 (602). 159 U. Stelkens, VVDStRL 71 (2012), S. 369 (400). 160 Sehr zutreffend M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1081). 151
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setzung. Die Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission wird kontrolliert durch die Mitgliedstaaten und – im Unterschied zur delegierten Rechtsetzung – nicht durch die Organe der Europäischen Union. Die Durchführungsrechtsetzung ermächtigt zum Vollzug von Gesetzgebungsakten; insoweit kommen ausschließlich abstrakt-generelle Vollzugsvereinheitlichungen in Betracht.161 Die Komitologie gelangt nur sekundär zur Anwendung und nur dann, wenn ein Bedürfnis nach einheitlicher Regelung besteht. Im Schrifttum wird allerdings – und das auf der Basis der bisherigen Erfahrungen – zu recht prognostiziert, dass sich dieses primärrechtlich vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis faktisch umkehren wird.162 Übt die Kommission ihre Durchführungsrechtsetzungsbefugnis aus, werden Durchführungsrechtsakte gemäß der Komitologieverordnung 2011 im Rahmen von Komitologieverfahren erlassen. Die Komitologieverordnung 2011 entwickelt insoweit das bisherige Ausschusswesen und die mitgliedstaatlich dominierten Kontrollverfahren der Exekutivrechtsetzung durch die Kommission weiter: Die Verfahren werden vereinfacht und auf zwei Arten (Beratungs- und Prüfverfahren) reduziert. Die Bedeutung des Ausschusses wird durch sein Vetorecht gestärkt. Transparenzanforderungen werden durch eine frühzeitige und umfassende Publikation von Entwürfen, Tagesordnungen etc. gewährleistet. Eine Kontrolle der Durchführungsrechtsetzung durch das Europäische Parlament und den Rat ist nicht primär-, sondern sekundärrechtlich vorgesehen: Europäisches Parlament und Rat besitzen – wie bereits im Rahmen des Komitologiebeschlusses 1999/468/EU – eine Ultra-Vires Kontrollbefugnis. Ein Rekurs der Entscheidungsbefugnisse an Rat und Parlament im Rahmen von Beratungs- und Prüfverfahren sieht die Komitologieverordnung nicht vor. Die Auswahlkriterien für das jeweilige Verfahren entsprechen der Tragweite der Rechtsbereiche.
E. Bedeutung des Ausschusswesens für einen europäischen Verwaltungsverbund Bis heute ist das Ausschusswesen ein wesentlicher Baustein im Europäischen Verwaltungsverbund. Das Phänomen des Europäischen Verwaltungsverbunds ist durch Vielschichtig- und Vielfältigkeit gekennzeichnet.163. Neben den Komitologieverfahren und den mit ihrer Hilfe ergangenen Tertiärrechtsakten zählen zum Europäischen Verwaltungsverbund gestufte, zwischen Mitgliedstaaten und Union arbeitsteilig durchzuführende Verwaltungsverfahren, „administrative Koordination durch verselbständigte Agenturen, in denen die mitgliedstaatlichen Verwaltungen vertreten
161 So auch U. Stelkens, VVDStRL 71 (2012), S. 369 (400 f.); a. A. C. Fabricius, ZEuS 2011, S. 567 (602); P. Ponzano (Fn. 1), S. 135 (139 ff.); T. Kröll (Fn. 1), S. 195 (206). 162 C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (44). 163 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: W. Hoffmann-Riem / ders. / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 5 Rn. 16, 54, 61; vgl. die Beiträge in E. Schmidt-Aßmann / B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005; T. Siegel, Entscheidungsfi ndung im Verwaltungsverbund, 2009.
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sind, das feingliedrige Verwaltungskooperationsrecht (namentlich die vertikalen und horizontalen Informationsverbünde) oder die verschiedenen Behördennetzwerke“.164 Bis zur Neuordnung durch den Vertrag von Lissabon kam dem Ausschusswesen in diesem Zusammenhang eine dreifache Funktion zu. Erstens sollte es das übliche Rechtsetzungsverfahren von vollzugsorientierten Regelungen entlasten und somit die Effizienz der Rechtsetzung durch den Rat und das Europäische Parlament erhalten oder gar steigern (sog. „Entlastungsfunktion“). Zweitens unterstützten die Ausschüsse die Europäische Kommission bei der Wahrnehmung ihrer Durchführungsbefugnisse („Unterstützungsfunktion“). Den etwa 30.000 Experten, die in Ausschüssen tätig waren, standen etwa 5300 Kommissionsbeschäftigte gegenüber.165 Die Ausschüsse berieten die Kommission durch ihre fachliche und auch mitgliedstaatliche Expertise. Drittens kontrollierten die Ausschüsse die Kommission, da sie bei ablehnender Stellungnahme zu den Kommissionsentwürfen eine Entscheidung des Rats (und des Europäischen Parlaments) herbeiführen konnten (sog. „Kontrollfunktion“).166 In diesem Netzwerk mitgliedstaatlicher Experten behielt die Kommission – quasi als Spinne im Netz – die Fäden in der Hand.167 Zu einem Rekurs an Rat und Parlament kam es kaum. Die Kommission fungierte als prinzipaler Agent im Hinblick auf die Durchführung des Unionsrechts, der allerdings der Kontrolle des Ausschusses und des Europäischen Parlaments und des Rates unterlag.168 Aufgrund der in den Ausschüssen vorhandenen Expertise und dem rationalen Umgang mit Sachargumenten weisen Joerges/Neyer dem Ausschusswesen eine deliberative Funktion zu: Die in den Ständigen Ausschüssen versammelten Experten dienten dazu, die Entscheidungen der Kommission in einem deliberativen Sinne zu rechtfertigen.169 Die sich hieraus entwickelnde politische Verwaltung verwalte nicht nur, sondern nehme in einem erheblichen Maß legislative Aufgaben wahr. Politikwissenschaftlich wird dieses neuartige Regieren als Regieren in Netzwerk- und Mehrebenenstrukturen charakterisiert. Rechtswissenschaftlich handelt es sich bei dem Netzwerk Kommission und Ständige Ausschüsse nicht um klassische Verwaltung. Es fehlt insoweit bereits an der mitgliedstaatliche Modelle kennzeichnenden Gewaltenteilung und hierarchischen Struktur.170 Der Vertrag von Lissabon ordnet mit Art. 290 und 291 AEUV das institutionelle Verhältnis von Europäischem Parlament, Rat und Kommission neu. Auf primärrechtlicher Ebene werden nunmehr Anforderungen an die Ermächtigungen zur Übertragung von Rechtsetzungs- und Exekutivbefugnissen, Kontrollbefugnissen 164
K. F. Gärditz, DÖV 2010, S. 453 (462) m. w. N. J. Falke (Fn. 8), S. 83. 166 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (568); L. Gerken / M. Holtz / G. Schick, Wirtschaftsdienst 2003, S. 662 (665 f.). 167 A. Edenharter, DÖV 2011, 645 (646), spricht von „Verfahrensherrschaft“. 168 L. Gerken / M. Holtz / G. Schick, Wirtschaftsdienst 2003, S. 662 (666). 169 C. Joerges / J. Neyer, From Intergovernmental Bargaining to Deliberative problem-solving: European comitology in the foodstuffs sector, Journal of European Public Policy, 1997, S. 609 (621); Dies., Von Intergouvernementalem Verhandeln zu deliberativer Politik: Gründe und Chancen für eine Konstitutionalisierung der europäischen Komitologie, in: B. Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS Sonderheft 1998, S. 207 ff. 170 F. Petersen / K. Heß, ZUR 2007, S. 567 (568). 165
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des EU-Gesetzgebers und der Mitgliedstaaten sowie Gestaltungsspielräume der Kommission festgelegt. Dem Ausschusswesen wird primärrechtlich in Verbindung mit der Komitologieverordnung 2011 ein fester Platz im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung zugewiesen. Zwar ist nach Art. 291 Abs. 1 AEUV die Durchführungsrechtsetzung entsprechend der Kompetenzverteilung im europäischen Verwaltungsverbund primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten. Um einem einheitlichen, unionsweiten Vollzug ausreichend Rechnung tragen zu können, werden aber zahlreiche Entscheidungen zukünftig ebenfalls in Komitologieverfahren zu treffen sein.171 Die Komitologieverordnung hat die Kontrollfunktion des Ausschusswesens gestärkt. Die Komitologie dient weiterhin der Entlastung, allerdings nicht des EU-Gesetzgebers, sondern der auf den Vollzug konzentrierten Mitgliedstaaten, und der fachlichen Unterstützung der Rechtsetzung durch die Kommission. Die Komitologie bildet damit nach wie vor ein zentrales Bindeglied zwischen nationaler und europäischer Verwaltung und verschränkt effektiv supranationale und nationale Exekutiven. Für die delegierte Rechtsetzung weist der Vertrag von Lissabon dem Ausschusswesen keine Funktion zu. Allerdings wird die delegierte Rechtsetzung durch die Kommission kaum ohne unterstützende Expertise von außen fach- und sachgerecht wahrgenommen werden können. Ob im Rahmen etwa der Agenturen ausreichendes Fachwissen vorhanden ist, wird die Zukunft erweisen. Die Kommission scheint sich nicht durch Vorgaben etwa des Rates oder des Europäischen Parlaments begrenzen lassen zu wollen. Die Kommission könnte mit einem Ad hoc-Expertensystem ihre Aufgaben wahrnehmen oder auf bestehende Expertenausschüsse zurückgreifen. Derart in das Ermessen der Kommission gestellte Einberufungen von Ausschüssen unterliegen keinerlei Kontrolle durch die Mitgliedstaaten. Lediglich dem Europäischen Parlament und Rat sind Kontrollbefugnisse im Rahmen der delegierten Rechtsetzung vorbehalten. M. a. W. allein der EU-Gesetzgeber kann die delegierte Rechtsetzung mittels Widerrufs und Einwands überwachen.
I. Demokratische Legitimation des Ausschusswesens Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung durch die Europäische Union basiert auf zwei in Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV normierten Säulen (sog. dualistisches System): Zum einen wird das Handeln der Europäischen Union durch das auf unmittelbaren Wahlen beruhende Europäische Parlament legitimiert, zum anderen tragen der Europäische Rat und der Rat zu Legitimation des Unionshandelns bei. Das Europäische Parlament gilt insoweit als Repräsentant der Unionsbürgerinnen und -bürger, Europäischer Rat und Rat werden legitimiert durch die durch die nationalen Parlamente legitimierten Staats- und Regierungschefs.172 Durch die Festlegung des Mitentscheidungsverfahrens als ordentliches Gesetzgebungsverfahren (Art. 289, 294 AEUV) werden Rat und Europäisches Parlament zu gleichrangigen Gesetzgebern. 171 D. Wolfram, „Underground Law?“ Abgeleitete Rechtsetzung durch Komitologieverfahren in der EU: Bedeutung, Stand und Aussichten nach dem Vertrag von Lissabon, cep-Studie, 2009, S. 17. 172 K. F. Gärditz, DÖV 2010, S. 453 (455) m. w. N.
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Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission bedeutet vor diesem Hintergrund eine Verlängerung der legitimationsstiftenden, dualen Ketten zum Europäischen Parlament und den mitgliedstaatlichen Parlamenten.173 Die Ter tiärrechtsetzung durch die Kommission wird durch die nationalen Regierungen nur mittelbar demokratisch legitimiert. Im Ausschusswesen erfährt diese mittelbare demokratische Legitimation durch die Vertreter in den Ständigen Ausschüssen, die von den mitgliedstaatlichen Regierungen entsandt wurden, eine Verstärkung. Bis zur Änderung des Komitologiebeschlusses 1999/468/EG bewertete insbesondere die Politikwissenschaft die Komitologie als nicht hinreichend demokratisch legitimiert.174 Nach der Neuordnung der Tertiärrechtsetzung durch den Vertrag von Lissabon und des Ausschusswesens durch die Komitologieverordnung 2011 ist die demokratische Legitimation des Ausschusswesens erneut virulent. Der EuGH hat sich erstmals im Jahre 1970 mit der Zulässigkeit der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen befasst. Er entschied in der Rechtssache Köster, dass die Delegation von Durchführungsmaßnahmen auf die Kommission grundsätzlich zulässig, der Umfang zulässiger Delegation aber beschränkt sei.175 Der Rat könne der Kommission die Befugnis zur Durchführung der von ihm erlassenen Vorschriften übertragen und auch die Modalitäten für die Ausübung der Befugnisse festlegen. Später wurde dieses in Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV primärrechtlich verankert. Eine eigenständige Schaffung von weiteren Rechtsetzungsbefugnissen durch Sekundärrecht sei jedoch nicht zulässig. Insgesamt eröffnete der EuGH in ständiger Rechtsprechung176 dem Rat und später auch dem Rat und dem Europäischen Parlament einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Übertragung von Durchführungsmaßnahmen auf die Kommission: Im Basisrechtsakt seien „die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie nach diesem Verfahren [gemeint ist: das primärrechtlich 173
E. W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (§ 24), in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl., 2004, Rn. 11– 25. 174 S. Williams, Sovereignty and Accountability in the European Community, in. R. O. Keohane / S. Hoffmann (Hrsg.), The New European Community. Decisionmaking and Institutional Change, 1991, S. 155 (161); R. Dehousse / C. Joerges / G. Majone / F. Snyder, Europe after 1992. New Regulatory Strategies, EUI Working paper Law No 92/31, 1992, S. 30; G. F. Schaefer, Committees in the EC Policy Process: A First Step Towards Developing a Conceptual Framework, in: R. H. Pedler / G. F. Schaefer (Hrsg.) Shaping European Law and Policy. The Role of Committees in the Political Process, 1996, S. 22; B. Kohler-Koch / M. Jachtenfuchs, Regieren in der europäischen Union – Fragestellungen für eine interdisziplinäre Europaforschung, PVS 1996, S. 537 (542); C. Demmke, Comitology in the Environmental Sextor, in M. Andenas / A. Türk (Hrsg.), Delegated Legislation and the Role of Committees in EC Law, 2000, S. 279 ff. A. A. A. E. Töller, Theoretische Bedeutung und praktische Funktionsweise von Durchführungsausschüssen der Europäischen Union am Beispiel der Umweltpolitik, 2002, S. 206. 175 EuGH, Rs. 25/70 v. 17. 12. 1970, S. 1161 – Köster. 176 EuGH, Rs. 25/70 v. 17. 12. 1970, S. 1161 Rn. 6 – Köster; EuGH, verb. Rs. 279, 280, 285 u. 286/84, Slg. 1987, S. 1069 Rn. 14 – Rau; EuGH, Rs. 46/86, Slg. 1987, S. 2671 Rn. 16 – Romkes; EuGH, Rs. 291/86, Slg. 1988, S. 3679 Rn. 13 – Central-Import Münster; EuGH, Rs. 167/88, Slg. 1989, S. 153 Rn. 13 – Association générale; EuGH, Rs. C-240/90, Slg. 1992, S. I-5383 Rn. 37, 41 f. – Deutschland Kommission; EuGH, Rs. C-374/96, Slg. 1998, S. I-8385 Rn. 36 – Vorderbrüggen; EuGH, Rs. C-356/97, Slg. 2000, S. I-5461 Rn. 36 f. – Molkengenossenschaft – Wiedergeltingen; EuGH, Rs. C-48/98, Slg. 1999, S. I-7877 Rn. 36 – Söhl und Söhlke; EuGH, Rs. 159/96, Slg. 1998, S. I-7379 Rn. 40 f. – Portugiesische Republik/Kommission; EuGH, Rs. C-66/04, Slg. 2005, S. I-10553 – Großbritannien, Nordirland/Parlament und Rat.
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vorgesehene Rechtsetzungsverfahren] festzulegen“.177 Der EU-Gesetzgeber kann in dem Basisrechtsakt der Kommission eine „weitgehende Beurteilungs- und Handlungsbefugnis“ eröffnen.178 Es reicht, wenn der Basisgesetzgeber die grundsätzliche Ausrichtung der umzusetzenden Gemeinschaftspolitik durch eine allgemein gefasste Bestimmung festlegt.179 Auch für den Komitologiebeschluss, für den vor dem Vertrag von Lissabon keine primärrechtliche Ermächtigung existierte, reichte nach Auffassung des EuGH eine Ermächtigung in den Basisrechtsakten aus.180 Diese Defi nition des Wesentlichkeitskriteriums, das im Rahmen von Art. 290 Abs. 1 AEUV nunmehr der Maßstab für den Umfang der Delegationsbefugnis des EU-Gesetzgebers ist, stellt auf die Bedeutung einer Vorschrift für den jeweiligen Politikbereich ab. Es unterscheidet sich folglich von jenem, an die Eingriffsintensität von Grundrechten gekoppelten Wesentlichkeitsvorbehalt in der Rechsprechung des Bundesverfassungsgerichts.181 In Bezug auf die für Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen i. S. v. Art. 290 Abs. 1 AEUV entscheidende Bestimmung der Wesentlichkeit der Vorschriften kommt es also nach der EuGH-Rechtsprechung darauf an, wie bedeutsam die Regelung für den jeweiligen Politikbereich ist.182 Die Beurteilung obliegt dem EU-Gesetzgeber, dem der EuGH einen weitreichenden, nicht näher kontrollierten Beurteilungsspielraum eröffnet.183 Ein möglicher Grundrechtseingriff durch Tertiärrechtsetzung stellt jedenfalls bislang keine Grenze für die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen dar.184 Aber auch der Kommission, als Gesetzgeber des Tertiärrechts, lässt der EuGH einen weitreichenden Gestaltungsspielraum, der stärker nach den Hauptzielen der Marktorganisation, m.a.W. der primärrechtlichen Rechtsgrundlage, als nach der Ermächtigung im Basisrechtsakt zu beurteilen ist.185 Die primärrechtliche Neuordnung der Tertiärrechtsetzung sieht eine Gleichbehandlung von Rat und Parlament als EU-Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Delegation von exekutiven Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission vor. Indem Umfang, Inhalt und Modalitäten der Tertiärrechtsetzung in Basisrechtsakten festzulegen sind, legitimieren Rat und Europäisches Parlament die Rechsetzung der Kommission. Die Verlängerung des Legitimationsstranges, auf dem die Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission beruht, wird ausgeglichen durch Kontrollbefugnisse der Ausschüsse. Das Ausschusswesen selbst wird durch Art. 291 Abs. 3 AEUV und die hierauf erlassene Komitologieverordnung legitimiert. Die Kette demokratischer Legitimation wird insoweit nicht unterbrochen. Nach der Komitologieverordnung wird den Exekutivausschüssen und dem Berufungsausschuss ein Vetorecht übertragen. Dem Europäischen Parlament und Rat ob177
EuGH, Rs. 25/70 v. 17. 12. 1970, S. 1161 Rn. 6 – Köster. EuGH, Rs. 23/75, Slg. 1975, 1279 Rn. 10, 14 – Rey Soda. 179 EuGH, Rs. C-240/90, Slg. 1992, S. I-5383 Rn. 41 f. – Deutschland Kommission. 180 EuGH, Rs. 25/70 v. 17. 12. 1970, S. 1161 Rn. 6 – Köster. 181 G. Roller, KritV 86 (2003), S. 249 (260). 182 Vgl. auch C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (49). 183 H. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S. 184 ff. 184 Einen anderen, dem deutschen Wesentlichkeitsgrundsatz ähnelnden, Ansatz verfolgt GA Kokott, Schlussanträge in der Rs. C-66/04, Slg. 2005, S. I-10553 Rn. 54 ff. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. 185 EuGH, Rs. 23/75, Slg. 1975, 1279 Rn. 10, 14 – Rey Soda. 178
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liegt eine Ultra-Vires Kontrolle. Die Ausschüsse selbst tragen – aufgrund ihrer Kontrollbefugnisse – zur demokratischen Legitimation der Durchführungsrechtsetzung bei. Die Ausschüsse könnten freilich das institutionelle Gleichgewicht der Europäischen Union stören. Ein Gewaltenteilungsprinzip, wie es in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verankert ist, kennt das Unionsrecht nicht. Der Grundsatz selbst ist nicht ausdrücklich in den Verträgen verankert, ergibt sich jedoch aus den sehr frühen Meroni-Entscheidungen des Gerichtshofs.186 Nach dem Grundsatz des Gleichgewichts der Gewalten darf ein Organ nur die Befugnisse delegieren, die ihm nach dem Vertrag zugewiesen sind. Es darf nicht in die Befugnisse eines anderen Organs eingreifen.187 Das institutionelle Dreieck zwischen Kommission, Rat und Europäischem Parlament wird durch Art. 290, 291 AEUV berücksichtigt. Rat und EU-Parlament werden – ihrer primärrechtlichen Funktion entsprechend – als EU-Gesetzgeber behandelt, die der Kommission in Basisrechtsakten den Umfang, Inhalt und die Modalitäten für die Tertiärrechtsetzung vorgibt. Das vormals bestehende Ungleichgewicht zwischen den Legislativbefugnissen von Rat und Parlament wurde durch den Vertrag von Lissabon beseitigt. Gemessen an den politik- und sozialwissenschaftlichen Kategorien der Input- und Output-Legitimation erfüllt das Tertiärrecht beide Anforderungsprofi le. Input-Legitimation bezieht sich auf die Verfahren der Teilnahme der Betroffenen an der Entscheidungsfi ndung, Output-Legitimation auf die Qualität der Problemlösung durch den Inhalt der Entscheidung.188 Unter dem prozeduralen Gesichtspunkt der Input-Legitimation kann die Tertiärrechtssetzung durch die eben geschilderte duale Rückbindung an das Volk in den Mitgliedstaaten – gewährleistet durch den Rat – und an das Europäische Parlament, folglich letztlich durch zwei Wahlakte des Unionsvolkes legitimiert werden. Gewährleistet wird insofern eine ununterbrochene Legitimationskette bis zum Wahlvolk.189 Im Hinblick auf die Output-Legitimation stellt sich die Frage, ob delegierte Rechtsetzung und Durchführungsrechtsetzung eine effektive Tertiärrechtsetzung gewährleisten. Hier ist zu differenzieren: Im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung wird es – mit den geschilderten Abweichungen – das bekannte und funktionierende Ausschusswesen geben. Dies ist nunmehr durch die Komitologieverordnung geregelt. Es spricht insoweit vieles dafür, dass sich die zukünftige Durchführungsrechtsetzung durch ein schnelles, flexibles und transparentes Handeln, das zugleich durch Einspeisung von Expertise in den Ausschüssen durch eine hohe Fachkompetenz gekennzeichnet ist, ausweisen wird. Die Komitologieverfahren werden durch die Einbeziehung der Ausschüsse in Form der Unterstützung und Kontrolle der Kommission zu einem effektiven Vollzug in den Mitgliedstaaten beitragen. Insoweit
186 EuGH, Rs. 9/56, Slg. 1958, S. 11 (44); EuGH, Rs. 10/56, Slg. 1958, 51 ff. – Meroni; J. C. Wichard, in: C. Calliess / M. Ruffert, 3. Aufl., 2007, Art. 202 EGV Rn. 6; kritisch zum Begriff des institutionellen Gleichgewichts R. Bieber / A. Epiney / M. Haag, Die Europäische Union, 8. Aufl., 2009, § 4 Rn. 16. 187 Vgl. ausführlich S. Schlacke (Fn. 13), S. 267 ff., 288 ff. 188 Vgl. F. W. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970. 189 E. W. Böckenförde (Fn. 17), § 22, II § 24.
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ist zu erwarten, dass die Durchführungsrechtsetzung eine hohe Output-Legitimation aufweist. Unsicherer fällt insoweit die Prognose für die delegierte Rechtsetzung aus. Eine sekundärrechtlich festgelegte Einbeziehung von Expertenausschüssen bei Erlass delegierter Rechtsetzung ist primärrechtlich nicht gefordert. Die Kommission kann nach freiem Ermessen über die Hinzuziehung von Experten entscheiden. Output-Legitimation kann im Ausschusswesen durch rationale Diskussion, die durch die Expertise der mitgliedstaatlichen Vertreter ermöglicht und befördert wird, entstehen und sachgerechte Ergebnisse befördern.190 Unterstellt, diese Analyse trifft auf das Ausschusswesen zu, so besteht jedenfalls bislang kein Ansatz, diese legitimatorische Kraft des Ausschusswesens für die delegierte Rechtsetzung zu nutzen. Die Kommission beabsichtigt zwar, weiterhin Sachverständige der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zur Beratung heranzuziehen und damit bestehende oder neu zu bildende Expertengruppen zur Unterstützung beratend in die Rechtsetzung einzubeziehen.191 Ob damit allerdings dieselbe Sachnähe, Expertise und koordinative Willensbildung gewährleistet wird, wie im bereits vorhandenen Ausschusswesen, bleibt zu bezweifeln. Eine Output-Legitimation, die sachgerechte Entscheidungen durch Expertise begründet, ist im Rahmen der delegierten Rechtsetzung rechtlich jedenfalls nicht angelegt.192 Auch im Hinblick auf die Transparenz bestehen keine Vorgaben; sie bedürfen hinsichtlich der Information des Rates und des Europäischen Parlaments zumindest interinstitutioneller Vereinbarungen.
II. Vereinbarkeit der Komitologieverordnung 2011 mit Art. 291, 290 AEUV Der Vertrag über die Europäische Union kannte in Art. 202, 3. Spiegelstrich lediglich die Durchführungsrechtsetzung. Die hiervon erfassten Gegenstände sind nunmehr in zwei Kategorien einzuordnen, der delegierten Rechtsetzung und der Durchführungsrechtsetzung. Die Komitologieverordnung 2011 geht davon aus, dass es sich bei der im bisherigen Sekundärrecht erfolgten Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen ausschließlich um Durchführungsrechtsetzung i. S. v. Art. 291 AEUV handelte. Dies kann der Überleitung des alten Komitologiebeschlusses 1999/468/EG auf die Komitologieverordnung entnommen werden: Sämtliche auf die Kommission durch Basisrechtsakte übertragene Durchführungsbefugnisse werden in das neue Komitologiesystem der Komitologieverordnung überführt oder es wird das Regelungsverfahren mit Kontrolle – trotz Auf hebung des Komitologiebeschlusses 1999/468/EG – beibehalten.193 Einer Änderung der alten Basisrechtsakte bedarf es insofern nicht. Eine
190 Zum deliberativen Ansatz im Ausschusswesen vgl. C. Joerges / J. Neyer, ELJ 3 (1997), S. 273 ff.; C. Joerges, in: C. Joerges / J. Falke (Fn. 8 ), S. 349; kritisch insoweit A. E. Töller (Fn. 173), S. 198 ff.; G. Roller, KritV, S. 263 ff. 191 Mitteilung der Kommission, KOM(2009) 673 endg., S. 7. 192 So auch C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (54). 193 Art. 12 Komitologieverordnung.
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übergangsweise Befristung der Überleitungsregelungen in Art. 12 UAbs. 2 und Art. 13 Komitologieverordnung ist nicht vorgesehen.194 Mit Blick auf das Primärrecht erscheint eine derartige Überleitung problematisch. Gegenstände, die dem Regelungsverfahren mit Kontrolle unterfielen, entsprechen weitgehend den delegierten Rechtsakten i. S. v. Art. 290 Abs. 1 AEUV.195 Denn das Regelungsverfahren mit Kontrolle fand nach Art. 2 Abs. 2 Komitologiebeschluss immer dann Anwendung, wenn der Basisrechtsakt im Mitentscheidungsverfahren ergangen, die zu treffende Maßnahme von allgemeiner Tragweite war und auf die Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen zielte.196 Die Vereinbarkeit von Art. 12 UAbs. 2 Komitologieverordnung mit Art. 290 AEUV ist zweifelhaft. Art. 12 UAbs. 2 Komitologieverordnung ordnet die weitere Geltung des Regelungsverfahrens mit Kontrolle197 an, wenn bestehende Basisrechtsakte auf dieses Verfahren verweisen. Art. 290 Abs. 1 AEUV sieht lediglich eine Kontrolle der Kommission durch Rat und Europäisches Parlament im Sinne des Widerrufs und Einspruchs vor. Für ein sekundärrechtlich festgelegtes Verfahren, das die Rechtsetzung der Kommission kontrolliert, enthält Art. 290 AEUV keine Ermächtigungsgrundlage und damit auch keinen „Raum“.198 Da die Durchführungsbefugnisse, die im Regelungsverfahren mit Kontrolle zu erlassen waren, defi nitorisch nunmehr den delegierten Rechtsakten entsprechen, hätte eine Überleitung dieser Basisrechtsakte auf Art. 290 AEUV stattfinden müssen. Die Beibehaltung des Regelungsverfahrens mit Kontrolle wird nicht von der Ermächtigung in Art. 291 Abs. 3 AEUV erfasst, da es sich bei den Durchführungsbefugnissen nicht um Vereinheitlichungen von Vollzugsanforderungen handelt. Mit Art. 12 UAbs. 2 Komitologieverordnung hat der EU-Gesetzgeber die ihm primärrechtlich eingeräumte Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 291 Abs. 3 AEUV überschritten. Art. 12 UAbs. 2 Komitologieverordnung verstößt gegen Art. 290 AEUV. Auch die Ultra-Vires-Kontrollbefugnis des Europäischen Parlaments und des Rats, die Art. 11 Komitologieverordnung, vorsieht, birgt Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit dem Primärrecht. Art. 291 Abs. 2 AEUV sieht keine weitere Überprüfung der Durchführungsrechtsetzung durch das Europäische Parlament und den Rat vor.199 Die Nichterwähnung des Europäischen Parlaments und des Rats – also das Schweigen des Primärrechts muss freilich nicht ausschließen, dass dem EU-Gesetzgeber gewisse Kontrollbefugnisse übertragen werden.200 Allerdings sahen weder der Kommissionsvorschlag201 noch der Berichtsentwurf des Rechtsausschusses des Parla194
Der Rechtsausschuss hatte in seinem Bericht eine lediglich übergangsweise geltende Delegationsklausel vorgeschlagen, um innerhalb einer Frist bis Ende 2012 eine Änderung der Altrechtsakte herbeizuführen; vgl. Europäisches Parlament, Rechtsausschuss, Entwurf eines Berichts über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, KOM(2010) 0083 – C7–0073/2010–2010/0051 (COD). 195 Mitteilung der Kommission v. 9. 12. 2009 zur Umsetzung von Art. 290 AEUV, KOM(2009) 673 endg., S. 3 Nr. 2.1.; C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (59 f.). 196 Art. 2 Abs. 2 Komitologiebeschluss 1999/468/EG. 197 Art. 5a des Beschlusses 1999/468/EG. 198 C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (41). 199 C. Möllers / J. v. Achenbach, EuR 2011, S. 39 (42 f.). 200 H. Hofmann, ELJ 15 (2009), S. 482 (500). 201 KOM 2010(83)endg.
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ments eine Kontrollbefugnis des Europäischen Parlaments vor, der lediglich Informationsrechte des Parlaments verankerte. Auch diesbezüglich bestehen mithin Zweifel, ob der EU-Gesetzgeber seine ihm durch Art. 291 AEUV eingeräumten Befugnisse durch Erlass der Komitologieverordnung überschritten hat.
F. Fazit und Ausblick Die Neuordnung der Delegation legislativer Rechtsetzungsbefugnisse durch den Vertrag von Lissabon hat zu zwei zu unterscheidenden Handlungsformen geführt, die delegierte Rechtsetzung gemäß Art. 290 AEUV und die Durchführungsrechtsetzung gemäß 291 AEUV. Erstmals ist es dem Primärrecht damit gelungen, eine klare Unterscheidung zwischen legislativen und exekutiven Rechtsakten zu verankern.202 Die Abgrenzung zwischen delegierten Rechtsetzungsakten und Durchführungsrechtsetzungsakten ist nicht eindeutig normiert. Überzeugend ist eine Differenzierung zwischen horizontaler Gesetzgebung (=delegierte Rechtsakte) und vertikaler Gesetzgebung (=Durchführungsrechtsakte). In der Praxis wird die unscharfe primärrechtliche Normierung zu weiteren Auseinandersetzungen führen. 203 Die Ära der Komitologie204 neigt sich nicht ihrem Ende zu, allerdings kommt dem Ausschusswesen eine reduzierte Bedeutung zu. Lediglich im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung i. S. v. Art. 291 Abs. 2 AEUV kommt das Ausschusswesen zum Tragen. Die Komitologieverordnung 2011 knüpft an das bestehende sich durch mitgliedstaatliche Expertise auszeichnende Ausschusswesen an. Das als effektiv, schnell und transparent gekennzeichnete Ausschusswesen lässt den Schluss zu, dass die Durchführungsrechtsetzung auch zukünftig eine hohe Output-Legitimation aufweisen wird. Ob auch der delegierten Rechtsetzung eine derartige Output-Legitimation attestiert werden kann, erscheint indes noch ungewiss und weitgehend dem Gestaltungsspielraum der Kommission überlassen. Im Sinne einer „Good Governance“, einer besseren europäischen Rechtsetzung,205 erscheint es geboten, dass die Kommission auch im Rahmen delegierter Rechtsetzung auf das etablierte Ausschusswesen zurückgreift.206 Jedenfalls hinsichtlich der Input-Legitimation zeigt sich schon jetzt regulativer Nachbesserungsbedarf. Die Komitologieverordnung ihrerseits nährt Zweifel an ihrer unionsverfassungsrechtlichen Konformität. Die Beibehaltung des Regelungsverfahrens mit Kontrolle für Alt-Basisrechtsakte, die inhaltlich nunmehr den delegierten Rechtsetzungsbefugnissen entsprechen, verletzt Art. 291 Abs. 3 AEUV. Ferner werden die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments und des Rates im Rahmen des Komitologieverfahrens primärrechtlich nicht gestützt. Insoweit bedarf es zur Herstellung der unionsprimärrechtlichen Konformität einer Änderung der Komitologieverordnung. 202
M. Möstl, DVBl. 2011, S. 1076 (1079). Vgl. bereits das Beispiel zur Industrieemissionen-Richtlinie 2010/75/EU bei T. Kröll (Fn. 1), S. 195 (201 f.). 204 Vgl. C. Fabricius, ZEuS 2011, S. 567 (603). 205 Vgl. hierzu H. Schulze-Fielitz (Fn. 1), S. 165 (181 f.). 206 So auch C. Fabricius, ZEuS 2011, S. 567 (603). 203
Wissenschaftliches Fehlverhalten und akademische Konsequenzen Zugleich ein Beitrag zur rechtlichen Ausgestaltung der Promotionsentscheidung von
Gerrit Hellmuth Stumpf *, Universität Bonn A. Einführung: Wissenschaft und Promotion Das Streben nach Erkenntnis bewegt die Menschheit seit Beginn ihrer Geschichte. Schon Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben,1 weil sie von den verbotenen Früchten der Weisheit gekostet hatten, die der Baum der Erkenntnis im Garten Eden so verlockend darbot. Der Mensch ist seither auf dem besten Wege, ein aufgeklärtes Abbild seines Schöpfers zu werden. Heute wie damals wird dabei die Erkenntnis aber immer wieder durch das schnelle und mühelose Ernten von Früchten erlangt, die der (einzelne) Wissenschaftler nicht selbst gesät hat.2 Das Plagiieren von Erkenntnissen Anderer ist dabei nur eine Facette des wissenschaftlichen Fehlverhaltens, der just in diesen Tagen eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit zu Teil wurde.3 *
Der Verfasser ist am Lehrstuhl für Öffentliches Recht von Herrn Prof. Dr. Christian Hillgruber an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn tätig. Zu tiefem Dank verpfl ichtet ist er Herrn Dr. Christoph Goos für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die vielen wertvollen Hinweise, sowie Herrn Patrick Kirchner für die unzähligen Diskussionen und die daraus hervorgegangenen Erkenntnisse; beides hat die Ausarbeitung nicht nur immens bereichert, sondern auch „lebendiger“ werden lassen. Das Manuskripft wurde im Januar 2012 fertig gestellt; danach erschienene Beiträge konnten daher nicht mehr berücksichtigt werden. 1 Vgl. Buch Genesis, Kapitel 3, 23 f. 2 Zu spektakulären Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens: BVerwGE 102, 304 (304 ff.); VGH Hessen, ESVGH 45, 192; Lippert, WissR 33 (2000), 210 (210 ff.); Höhne, Rechtsprobleme bei der Kontrolle der Lauterkeit in der Forschung (2001), S. 23 ff.; Muckel, GS Krüger (2001), 275 (275 ff.); Di Trocchio, Der große Schwindel – Betrug und Fälschung in der Wissenschaft (1994), S. 13 ff.; Fölsing, Der Mogelfaktor: die Wissenschaftler und die Wahrheit (1984); Finetti/Himmelrath, Der Sündenfall: Betrug und Fälschung in der deutschen Wissenschaft (1999); Koenig, Science 277 (1997), 894 (894); Rieble, Das Wissenschaftsplagiat – Vom Versagen eines Systems (2010). 3 Vgl. Rieble, FAZ vom 04. 08. 2011, Nr. 179, S. 8; Frasch, FAZ vom 17. 06. 2011, Nr. 139, S. 4; Ingendaay, FAZ vom 16. 06. 2011, Nr. 138, S. 36; Hoffmann, FAZ vom 29. 05. 2011, Nr. 21, S. 6; Zoske, FAZ vom 17. 05. 2011, Nr. 114, S. 40; Heinig/Möllers, FAZ vom 24. 03. 2011, Nr. 70, S. 8; Carstens, FAZ vom 28. 02. 2011, Nr. 49, S. 1; Preuß, Süddeutsche Zeitung vom 02. 12. 2011, S. 6; Schultz, Süddeutsche Zei-
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Wissenschaftsbetrug wird hierzulande seit längerem nicht mehr nur als Kuriosum angesehen,4 sondern als schwere Verfehlung verstanden,5 an deren Ende als (akademische) Konsequenz für Adam und Eva ebenso wie für Karl-Theodor6 und Silvana7 durch die Entziehung des Doktorgrades die Vertreibung aus dem (Wissenschafts-) Paradies steht. Bevor aber akademische Konsequenzen auf wissenschaftliches Fehlverhalten und die damit einhergehenden Möglichkeiten zur präventiven Absicherung guter wissenschaftlicher Praxis diskutiert werden (Kapitel C), soll der vorangehende Teil der Abhandlung (Kapitel B.I.) darstellen, was überhaupt unter wissenschaftlichem Fehlverhalten zu verstehen ist und welche Ursachen ein solches Verhalten maßgeblich beeinflussen können (Kapitel B.II.); denn nur so kann verhindert werden, dass zwar die Symptome, nicht aber die Krankheit selbst erkannt und kuriert wird.8 Zu Beginn des Beitrags steht jedoch die juristische Aufarbeitung der Bedeutung des Promotionswesens in der Wissenschaft und insbesondere die (wissenschafts-)rechtliche Einordnung der Promotionsentscheidung (Kapitel A.II.). Beides beeinflusst bei nachgewiesenem wissenschaftlichem Fehlverhalten mittelbar die zu veranlassenden akademischen Konsequenzen, sowie die hier vorgeschlagene präventive Absicherung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis.
I. Auf der Suche nach dem Telos der Wissenschaft Begibt man sich auf die Suche nach dem Telos der Wissenschaft, wird man unweigerlich einen Wandel feststellen: Während die frühe Wissenschaft vornehmlich darauf ausgerichtet war, die als unveränderlich bezeichneten Wahrheiten deskriptiv zu fi xieren,9 stellt sie sich in der Moderne als kontinuierlich infiniter Prozess dar,10 der tung vom 26. 10. 2011, S. 13; ders., Süddeutsche Zeitung vom 28. 11. 2011, S. 38; Horstkotte, Süddeutsche Zeitung vom 16. 08. 2011, S. 26. Dass wissenschaftliches Fehlverhalten keine „Erfi ndung“ der Neuzeit ist belegen die Sammlungen historischer Verdachtsfälle in: Broad/Wade, Betrayers of the Truth. Fraud and Deceit in the Halls of Science (1982); Ottemann, Wissenschaftsbetrug und Strafrecht. Zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten in der Wissenschaft (2006), S. 10–20. 4 So noch Stegemann-Boehl, WissR 29 (2004), 139 (141). 5 Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1245), der insoweit von einer Schärfung der „Sensibilität für wissenschaftliche Lauterkeit“ spricht. 6 Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg wurde am 23. 02. 2011 der Doktorgrad von der Universität Bayreuth entzogen; am 01. 03. 2011 trat er von seinem Amt als Bundesminister der Verteidigung zurück. 7 Silvana Koch-Mehrin wurde am 15. 06. 2011 der Doktorgrad von der Universität Heidelberg entzogen; sie war am 11. 05. 2011 bereits als Vizepräsidentin des EU-Parlamentes zurückgetreten. Ihr Widerspruch gegen die Aberkennung des Doktorgrades blieb erfolglos. Hiergegen hat die Betroffene am 14. 12. 2011 beim VG Karlsruhe Klage erhoben (Az. 7 K 3335/11). 8 Vgl. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227). 9 Vgl. Breidbach, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung (2005), S. 51; Steffens, Zur Geschichte der heutigen Physik (=Polemische Blätter zur Beförderung der speculativen Physik, H. 1) (1829), S. 62 mit Blick auf das ptolemäische System, das er als Ausdruck für ein „embryonisches Gebundenseyn an die festbegründete, ruhende Erde“ versteht; Roellecke, FS Schiedermair (2001), 491 (496); Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 112. 10 So BVerfGE 35, 79 (113), 90, 1 (12); Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche
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„nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der [neutralen und objektiven]11 Wahrheit anzusehen ist“12. Dabei ist jedoch auch heute noch weitgehend ungeklärt, was genau unter dem idealisierten13 Begriff der Wahrheit zu verstehen ist.14 Es ist der Wissenschaft gerade immanent, dass die Grenze zur Unwahrheit bei jedem neuen Erkenntnisfortschritt verschwimmt und nicht letztverbindlich festgestellt werden kann.15 Der Wahrheit dient nicht nur die Generierung neuen Wissens als Ausfluss eines autonomen geistigen Prozesses planmäßiger, methodischer und eigenverantwortlicher Suche nach Erkenntnis,16 sondern auch die Widerlegung von Thesen,17 die Entlarvung der Unwahrheit. Die moderne Wahrheitssuche wird dabei insbesondere vom kognitiven Imperativ des Skeptizismus geleitet,18 der darauf gründet, dass prinzipiell jede Erkenntnis nur vorläufiger Natur ist.19 Auch was als Wahrheit akzeptiert ist, muss damit kontinuierlich einer Überprüfung unterzogen werden; „trial and error“20 sind ständige Wegbegleiter wissenschaftlicher Bemühungen. „Gesucht wird das Wahre, gefunden das für wahr erachtete.“21 Die wissenschaftliche Wahrheit von heute ist folglich der Irrtum von morgen;22 der Wissenschaftler arbeitet, um überholt zu werden.23 Dass die Wissenschaft damit auch künftig zutreffend charakterisiert wird, darf bezweifelt werden. Jüngst hat die Literatur das „Wahrheitskriterium“ als „inhaltsleere Hülse“24 identifiziert.25 Einer neuerlichen Revision des Wissenschaftsbegriffs scheint damit nichts mehr im Wege zu stehen. Es bleibt damit allein die Erkenntnis, dass schon die Begriffsbestimmung der Wissenschaft infiniter Natur ist. In diesem Systembildung (2009), S. 300; Störig, Kleine Welt der Wissenschaft, 3. Aufl. (1965, Nachdruck 2007), S. 20: „Wissenschaft als Prozess ist immer unvollendet.“ 11 So Blankenagel, AöR 125 (2000), 70 (107); kritisch: Häberle, AöR 110 (1985), 329 (332). 12 BVerfGE 35, 79 (79 ff.); 47, 327 (367); Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 470. 13 Hierzu kritisch: Fehling, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG (Stand: 151. EL April 2011), Art. 5 Abs. 3, Rn. 64; Baluch, Der verfassungsrechtliche Schutz der Habilitation durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG (2007), S. 47 f.; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 113 ff.; Blankenagel, AöR 105 (1980), 35 (47 mit Fn. 67). 14 Vgl. Puntel, Philosophische Rundschau 31 (1984), 95 (107). 15 Vgl. Roellecke, FS Schiedermair (2001), 491 (496). 16 So Scholz, in Maunz/Dürig (Hrsg.), GG (Stand: 64. EL Januar 2012), Art. 5 Abs. 3, Rn. 101. 17 Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. (1976), S. 49 ff., 76 ff., 80 ff., 96 ff., 155 ff. 18 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 40. 19 Vgl. Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. (2004), Art. 5 Abs. 3, Rn. 24; Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule (1994), S. 80. 20 Lorenz, DVBl. 2005, 1241 (1244). 21 Bengeser, Doktorpromotion in Deutschland (1963), S. 85. 22 Ähnlich: von Humboldt, in: Anrich (Hrsg.), Die Idee der deutschen Universität: die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus (1956). 23 Vgl. Störig, Kleine Welt der Wissenschaft, 3. Aufl. (1965, Nachdruck 2007), S. 20. 24 Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung (2009), S. 304. 25 Vgl. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 113 ff.; Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung (2009), S. 300 ff.
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Lichte lässt sich die Wissenschaft momentan als das geplante, altruistische und leidenschaftslose Ergründen der Sache selbst und nicht nur ihrer Schatten beschreiben.
II. Bedeutung der Promotion in der Wissenschaft 1. Ablauf des Promotionsverfahrens Zulassungsvoraussetzungen und Elemente des Promotionsverfahrens ergeben sich aus den Landeshochschulgesetzen und den Promotionsordnungen der Fakultäten. Hier lassen sich regelmäßig drei Teilbereiche ausmachen: Zum einen hat der Doktorand 26 eine Dissertation anzufertigen, die heute den Schwerpunkt des Promotionsverfahrens darstellt.27 Insbesondere dieser Verfahrensabschnitt dient nach den Landeshochschulgesetzen dem „Nachweis der Befähigung zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit“28.29 Damit gehen die an den Doktoranden gestellten Anforderungen deutlich über das in den Landeshochschulgesetzen normierte allgemeine Studienziel hinaus,30 das sich oftmals darauf beschränkt, dass der Studierende fachliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden so erlangt, dass sie zur Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und zu verantwortlichem Handeln befähigen.31 Daneben tritt als weitere Prüfungsleistung eine mündliche Prüfung,32 die entweder als Disputation,
26 Zum Begriffsverständnis und zur Unterscheidung von Doktorand und Promovend siehe Fertig, DVBl. 1969, 881 (882): „Von einem Doktoranden spricht man dann, wenn der Bewerber von einem Mitglied der Fakultät angenommen worden ist. [. . .] Von einem Promovenden wird man demgegenüber erst dann sprechen können, wenn die Pr. begonnen hat, also nach Zulassung durch die Fakultät.“ 27 Vgl. Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (770); Schnieders, in: Jung/Kaegbein (Hrsg.), Dissertationen in Wissenschaft und Bibliotheken (1979), S. 93 (97); ders., Druckzwang für Dissertationen und Dissertationentausch (1972), S. 57. 28 § 67 I 1 HG NRW vom 31. 10. 2006; ähnliche Formulierungen enthalten: § 38 II HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 64 I 1 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 15 I BerlHG vom 13. 02. 2003; § 29 II BbgHG vom 18. 12. 2008; § 65 I BremHG vom 09. 05. 2007; § 70 I HmbHG vom 18. 07. 2001; § 24 I HessHG vom 14. 12. 2009; § 43 I HG M-V vom 25. 01. 2011; § 9 I 2 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 18 III HG LSA vom 27. 07. 2010; § 54 I HG SH vom 28. 02. 2007; § 54 II ThürHG vom 01. 01. 2007; § 64 I SaarlUG vom 26. 06. 2004. 29 Vgl. Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55); Vahle, DVP 2010, 99 (99); Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (873); Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 420, 430; Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 152; Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 11: „Der Wissenschaftsrat hat mehrfach die selbständige wissenschaftliche Forschungsleistung als unverzichtbaren Kern der Promotion beschrieben.“ 30 Vgl. Schroeder, NWVBl. 2010, 176 (176). 31 So § 58 I HG NRW; vgl. auch: § 30 I HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 55 I BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 22 I BerlHG vom 13. 02. 2003; § 16 I BbgHG vom 18. 12. 2008; § 52 I, II BremHG vom 09. 05. 2007; § 49 I HmbHG vom 18. 07. 2001; § 13 HessHG vom 14. 12. 2009; § 28 I HG M-V vom 25. 01. 2011; § 16 RhlpHG vom 01. 09. 2010; § 15 I SächsHG vom 10. 12. 2008; § 6 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 46 I HG SH vom 28. 02. 2007; § 40 I ThürHG vom 01. 01. 2007; § 48 SaarlUG vom 26. 06. 2004. Allein das NdsHG enthält aktuell keine Angaben zum Studienziel. 32 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 431; Schroeder, NWVBl. 2010, 176 (177); zur historischen Entwicklung siehe: Allweiss, in: Jung/Kaegbein (Hrsg.), Dissertationen in Wissenschaft und Bibliotheken (1979), S. 13 (17 ff.).
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Kolloquium oder Rigorosum 33 abgehalten wird.34 Der dritte Teil des Promotionsverfahrens besteht in der Veröffentlichung der Dissertation bzw. der Ablieferung der Dissertationspfl ichtexemplare.35
2. (Wissenschafts-)Rechtliche Einordnung Die Promotion wird in Rechtsprechung und Literatur oft unkritisch als begünstigender Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG mit Dauerwirkung bezeichnet.36 Diese Generalisierung verstellt jedoch den Blick auf die Besonderheiten des Promotionsverfahrens. Um diese aus rechtlicher Perspektive zutreffend erfassen zu können, ist es zwingend erforderlich, sich die im voranstehenden Abschnitt vorgestellten drei Teilbereiche der Promotionsleistung in Erinnerung zu rufen (Dissertationsschrift – mündliche Prüfung – Veröffentlichung). Diese können ihrerseits in zwei Verfahrensabschnitte untergliedert werden: Der erste Verfahrensteil befasst sich mit dem Prüfungsverfahren, bestehend aus Dissertationsschrift und mündlicher Prüfung. Seinen förmlichen Abschluss findet er durch den Erlass eines als Verwaltungsakt ergangenen Befähigungsnachweises (erster Verwaltungsakt). Der zweite Verfahrensteil verlangt „nach bestandener Prüfung“37 die Veröffentlichung der Dissertationsschrift – regelmäßig durch das Abliefern einer bestimmten Anzahl an Pfl ichtex-
33 Hierzu kritisch: Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 26, der sich unmissverständlich gegen das Rigorosum als Prüfungsform ausspricht, da dieses seiner Ansicht nach zu wenig auf die wissenschaftliche Qualifi kation des Doktoranden abzielt. 34 Zu den einzelnen Prüfungsvarianten siehe: Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (771). 35 Vgl. Kobusch, WissR 34 (2001), 259 (259); Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 432. 36 Vgl. VG München, Urteil vom 27. 10. 2008 – M 3 K.07.4893, Rn. 33 – juris; Schroeder, NWVBl. 2010, 176 (177); Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 470; Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 183; Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (874); Starosta, DÖV 1987, 1050 (1051); Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 200. 37 So § 19 I JPromO Bonn vom 12. 03. 2012. Eine Auswertung aller übrigen 41 rechtswissenschaftlichen Promotionsordnungen belegt (Stand: Januar 2011) ähnliche Regelungen: §§ 26 I, 27 I Allgemeine PromO Augsburg; §§ 17 I, 18 I JPromO Bayreuth; § 21 I 1 JPromO FU Berlin; § 17, 18 JPromO HU Berlin; §§ 15 I, 16 I JPromO Bielefeld; § 18 I JPromO Bochum; § 20 III JPromO Bremen; § 18 I JPromO Dresden; § 11 I JPromO Düsseldorf; § 16 II JPromO Erlangen-Nürnberg; § 17 I JPromO Europa-Universität Vidrina; § 16 I JPromO Frankfurt am Main; § 22 JPromO Freiburg; § 16 I JPromO Gießen; §§ 29 I, 32 I JPromO Göttingen; § 19 I JPromO Greifswald; § 18 I Fernuni Hagen; § 14 JPromO Halle-Wittenberg; § 13 I JPromO Hamburg; § 21 I JPromO Bucerius Law School; § 13 I JPromO Hannover; § 16 I JPromO Heidelberg; § 15 I JPromO Jena; § 25 I JPromO Kiel; §§ 14 I, 15 I JPromO Köln; § 17 I JPromO Konstanz (Allgemeiner Teil); § 20 I 1 JPromO Leipzig; § 21 I JPromO Mainz; § 13 I, III JPromO Mannheim; § 17 I JPromO Marburg; § 22 I JPromO München; § 15 I JPromO Münster; §§ 30 I, 33 I JPromO Osnabrück; § 18 I JPromO Passau; § 19 I JPromO Potsdam; § 15 I JPromO Regensburg; § 15 Nr. 1 JPromO Rostock; § 16 I JPromO Saarbrücken; § 34 I JPromO Trier; § 19 I JPromO Tübingen; § 17 I JPromO Würzburg.
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emplaren –38 ohne die eine Förderung der Wissenschaft nicht möglich ist.39 Ist dies geschehen, erfolgt der Abschluss dieses Verfahrensabschnitts durch die als Verwaltungsakt vorgenommene Graduierung (zweiter Verwaltungsakt). Folgt man dieser nachstehend noch näher dargelegten Auffassung, besteht die Promotion nicht nur aus einem, sondern aus zwei Verwaltungsakten.
a) Zur Existenz der Wissenschaftsgemeinde Bevor im Folgenden näher auf die rechtliche Einordnung der Promotionsentscheidung eingegangen wird, soll zunächst eine damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende Frage geklärt werden: Existiert hierzulande eine Wissenschaftsgemeinde, deren Mitglieder sich von gemeinen Akademikern durch das Führen eines Doktorgrades auszeichnen? In den Anfängen der modernen Wissenschaft bestand unzweifelhaft ein in sich geschlossener und über einheitliche Verhaltensregeln verfügender Akademikerstand. Als Beweis dafür mag unter anderem die akademische Standesgerichtsbarkeit dienen,40 der „Studenten, Professoren und die Träger akademischer Grade (also alle „Akademiker“) unterstanden.“41 Auch wenn sich diese Gemeinschaft der Akademiker im späteren 19. und 20. Jahrhundert noch weitgehend homogen aus den Angehörigen des Adels und des Bildungsbürgertums zusammensetzte und insoweit über eine ständische Selbsteinschätzung verfügte, was als „akademisches Verhalten“42 noch tolerabel war, leitete die nachfolgend egalitär-pluralistische Gesellschaft den Untergang des Akademikerstandes ein. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch eine verstärkte Studienaufnahme von Studenten bildungsferner Bürgerschichten und die Entwicklung der Industriegesellschaft, welche die soziale Rolle des Akademikers auf eine Berufsrolle zurückdrängte, wie sie auch jedem anderen Arbeitstätigen zukam.43 Eine besondere soziale Rolle kam dem Akademiker in der Gesellschaft fortan ebenso wenig zu, wie die Erwartung, dass er sein gesamtes Handeln an bestimmten Wertmaßstäben ausrichten werde. Es wäre nun vorschnell aus dieser Entwicklung schließen zu wollen, dass damit auch die im Schrifttum oft beschworene Wissenschaftsgemeinde der promovierten Akademiker nicht (mehr) existieren würde.44 Möglicherweise muss nur die Perspek38
Vgl. § 40 III 3 SächsHG vom 10. 12. 2008, der als einzige landesgesetzliche Regelung die Publikationspfl icht der Dissertation ausdrücklich feststellt: „Die Dissertation ist zu veröffentlichen.“ 39 Ähnlich Walter, DVBl. 1972, 309 (309): „Druckzwang und Ablieferungspfl icht sind keine Prüfungsleistungen“. 40 Vgl. Vollmar, Die Entziehung der Doktorwürde (1950), S. 65 ff.; Roellecke, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 3 (24) weist auf die Auf hebung der akademischen Gerichtsbarkeit in Preußen durch königliche Verordnung vom 23. 07. 1798 hin. 41 Vgl. Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 133. 42 So betont Roellecke, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 3 (15), dass der Student „ehrlich“ sein müsse. 43 Vgl. Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 133. 44 Die Existenz einer Wissenschaftsgemeinde behaupten (inzident): NdsOVG, Beschluss vom 10. 07.
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tive verändert werden. Richtig ist sicherlich, dass dem Träger eines Doktorgrades heute im sozialen Leben keine „Würde eigener Art“ mehr beigemessen wird. Wissenschaftler untereinander – und auch der Gesetzgeber – sehen im Doktorgrad jedoch einen Qualitätsausweis: Sein Träger hat den Nachweis erbracht, selbständig wissenschaftlich Arbeiten zu können. Dementsprechend schenkt man den von ihm veröffentlichten Abhandlungen mehr Aufmerksamkeit45 und unterstellt, dass sie entsprechend der Standards guter wissenschaftlicher Praxis46 ausgearbeitet wurden. Als fortwährender Kommunikationsprozess – Gernot Böhme spricht insoweit von einem „Argumentationszusammenhang“47 als konstitutivem Charakteristikum der Wissenschaftsgemeinde – 48 ist dieses Vertrauen in die Einhaltung der Wissenschaftsstandards die Basis49 jeder wissenschaftlichen Tätigkeit.50 Missachtet ein Wissenschaftler diese Standards, bauen andere ihre Forschung auf einer fehlerhaften Erkenntnis auf,51 so dass der Wissenschaftsbetrieb aufgehalten wird.52 Wenn also zu Beginn von der Notwendigkeit eines Perspektivwechsels gesprochen wurde, soll damit der Blick weg von der gesellschaftlichen hin zur wissenschaftsrechtlichen Bedeutung des Doktorgrades gelenkt werden, die auch in der heutigen Gesellschaft noch ihren Platz hat. Dass diese wissenschaftsrechtliche Bedeutung des Doktorgrades immer noch für die Existenz einer Wissenschaftsgemeinde aller promovierten Akademiker – genauer 2008 – 2 MN 449/07, Abs.-Nr. 51 – juris; VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.Nr. 28, 49, 60 – juris; VGH BW, Urteil vom 08. 07. 1980 – IX 1393/79, Abs.-Nr. 21 – juris; Detmer, in: Hartmer/ders. (Hrsg.), Hochschulrecht. Ein Handbuch für die Praxis, 2. Aufl. (2011), Rn. 171; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 65 ff.; Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (133); Bericht der Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft der Universität Bayreuth (2011), S. 5, abruf bar unter: http://www.uni-bayreuth.de/presse/Aktuelle-Infos/2011/Bericht_der_Kommission_m__Anlagen_10_5_2011_.pdf,(zuletzt abgerufen am 19. 12. 2011); Apel, Verfahren und Institutionen zum Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (2009), S. 383; Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 80; Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 50; Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244); Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55); Sandenberg, Die Bürgergesellschaft – ein blinder Fleck der Betriebswirtschaftslehre? (2007), S. 2, 14; M. Schröder, Gentechnikrecht in der Praxis – eine empirische Studie zu den Grenzen der Normierbarkeit (2001), S. 63; Hoffmann-Riem, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, Die Verwaltung, Beiheft 2 (1999), 83 (83, 101); Dubischar, RdA 1990, 83; Röhl, Rechtssoziologie. Ein Lehrbuch (1987), § 10 Nr. 1; Gerber, VerwArch 48 (1957), 180 (184); Kluth, FS Schiedermair (2001), 569 (569); Epping, in: Leuze/Epping (Hrsg.), HG NRW (Stand: 10. EL März 2011), § 67 Rn. 51; Hillgruber, BRJ 2011 (Sonderausgabe), S. II; ausführlich: von Alemann, Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute – Personalstruktur, Forschungsprojekte und Spezialisierung der Sozialforschung (1981), S. 26 ff. 45 So auch Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55). 46 Siehe hierzu bspw. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Denkschrift (1998) – Zusammengefasst in: NJW 1998, 1764 (1764 f.); Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e. V. (Hrsg.), Empfehlungen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis in den Instituten der Leibniz-Gemeinschaft (1998). 47 Böhme, in: Stehr/König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie (1975), S. 231 (236, 248). 48 Vgl. Böhme, in: Stehr/König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie (1975), S. 231 (231), der die Argumentation als das „organisierende Prinzip“ der scientific community bezeichnet. 49 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 27 spricht vom „Fundament der Wissenschaft“. 50 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 27 spricht vom „Fundament der Wissenschaft“. 51 Vgl. Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (133). 52 Siehe hierzu näher Kapitel C.III.1.b)bb)(2).
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wohl vieler fachspezifischer Wissenschaftsgemeinden –53 streitet, belegen die besonderen Vergünstigungen, die dem promovierten Forscher als Mitglied dieser Gemeinschaft innerhalb der Wissenschaft zu Teil werden. So geht die wissenschaftliche Öffentlichkeit angesichts der von der Hochschule verliehenen Graduierung davon aus, dass es sich bei dem Titelinhaber nicht nur um einen berufsqualifizierten, sondern um einen wissenschaftsfähigen Hochschulabsolventen handelt.54 „Demgemäß ist auch nur der Inhaber eines Doktorgrades berechtigt, Anträge für Förderprogramme der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu stellen.“55 Unpromovierte Akademiker können hingegen Forschungsstipendien oder (eigene) Stellenzuschüsse nicht beantragen. Dies verdeutlicht, dass innerhalb der Wissenschaftler eine klare Trennlinie zwischen den promovierten und den nicht promovierten Akademikern verläuft, die eine wesentliche Voraussetzung für Existenz und Fortbestand der Wissenschaftsgemeinde schafft: die Möglichkeit zur Differenzierung zwischen den in der Wissenschaft tätigen Forschern.56 Es verwundert daher nicht, dass Werner Thieme in seinem Standardwerk zum deutschen Hochschulrecht den „Hochschul-Ständen“ ein eigenes Kapitel widmet.57 Als heute wohl zentrale Wissenschaftseinrichtung erkennt auch die Hochschule eine Entwicklung ihrer Mitglieder durch Prüfungen, Graduierungen und Berufungen an. Die dadurch entstehenden Ränge sind durch wissenschaftliche Leistungen legitimiert und möglicherweise geeignet, die bestehenden Ungleichbehandlungen bei der Mitwirkung der einzelnen Gruppen in der Hochschulverwaltung zu rechtfertigen.58 Letztlich zeichnet die Hochschule damit nur nach, was auch außerhalb ihrer Souveränitätsgrenzen in der Wissenschaft gilt: Der unpromovierte, aber graduierte Akademiker steht als wissenschaftlicher Mitarbeiter über dem Studierenden, aber unter dem bereits promovierten Wissenschaftler. Dieser steht seinerseits im Rang unter dem habilitierten Fakultätsmitglied, das sowohl innerhalb der Hochschule als auch in der Wissenschaftsgemeinde die hierarchische Spitze bildet. Dabei können sich alle vorstehend Genannten wissenschaftlich betätigen; allein die Umstände, unter denen sie dies tun werden maßgeblich von ihrer Zugehörigkeit zum jeweiligen „Hochschul-Stand“ beeinflusst.59 So wird der Meinung des Studierenden sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Hochschule das geringste Gewicht beigemessen, während der Ansicht des Ordinarius das größte Vertrauen entgegengebracht wird.
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Von „verschiedenen Formen von Wissenschaftlergemeinschaften“ spricht auch Böhme, in: Stehr/ König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie (1975), S. 231 (247). 54 Vgl. zum wesensnotwendigen Wissenschaftsbezug auch Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 437; Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 14. 55 VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 29 – juris. 56 Die Differenzierung zwischen einzelnen Forschergruppen fi ndet sich auch in BVerfGE 35, 79 (123 ff.). 57 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), 17. Kapitel IV 1. 58 Umstritten Weber, FS Felgentraeger 1969, 227 (239); Mallmann/Strauch, Die Verfassungsgarantie der freien Wissenschaft als Schranke der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers – Rechtsgutachten für die WRK (1970), S. 8; Groß, WissR 35 (2002), 313 (315). 59 Das „zwischen den einzelnen Gruppen der Hochschulangehörigen gewichtige rechtserhebliche Unterschiede bestehen“ erkennt selbst das abweichende Votum der Richter Simon und Rupp-v. Brünneck in BVerfGE 35, 79 (148) ausdrücklich an.
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Innerhalb der Akademikergemeinschaft besteht somit eine Wissenschaftsgemeinde (fort), deren Mitglieder die allgemein konsentierten Wissenschaftsstandards ohne jede weitere Vereinbarung oder Anerkenntniserklärung einhalten und sich im Falle eines Verstoßes – mit den Kommissionen zur Auf klärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens – (auch) vor verbandseigenen Institutionen verantworten müssen. Die Promotion führt somit zwar nicht zur Aufnahme in ein standesähnliches Doktorkollegium, weist den Betroffenen aber dennoch – öffentlich sichtbar – als Mitglied der akademischen Wissenschaftsgemeinde (postmodern als „scientific community“ bezeichnet) aus,60 die ihrerseits mit ihren habilitierten Mitgliedern besondere Vertreter und somit eine im Rang an der Spitze stehende Untergruppierung hervorgebracht hat.61
b) Erster Verwaltungsakt: Akademischer Befähigungsnachweis Bei dem am Ende des ersten Verfahrensabschnitts erlangten Befähigungsnachweis handelt es sich um einen Verwaltungsakt, wenn dieser eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines Einzelfalls mit Außenwirkung nach § 35 Satz 1 LVwVfG darstellt.62
aa) Maßnahme einer Behörde im öffentlichen Recht Der erste Verfahrensabschnitt wird regelmäßig beim zuständigen Fachbereich geführt und durch die Prüfungskommission bestimmt. Sie entscheidet nach der mündlichen Prüfung, ob der Bewerber die Prüfung bestanden hat und setzt aufgrund der Beurteilung von Dissertationsschrift und mündlicher Prüfung die Gesamtnote fest.63 60 Vgl. BFH, JZ 1968, 628 (628 f.): „[. . .] die Promotion, die zur Führung des Doktortitels berechtigt, weist den Inhaber als Akademiker aus und lässt das im gesellschaftlichen Leben nach außen hin erkennen.“; VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 28 – juris; Böhme, in: Stehr/König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie (1975), S. 231 (247), der von einer formellen Gemeinschaft spricht, deren Zugehörigkeit „durch „aktenkundige“ Attribute defi niert ist [. . .]“. 61 Vgl. BVerfGE 35, 79 (128), wo die „besondere Stellung der Hochschullehrergruppe“ betont und der Gesetzgeber verpfl ichtet wird, diese zu „berücksichtigen und die zum Schutz der freien wissenschaftlichen Betätigung der Hochschullehrer erforderlichen Sicherungsvorkehrungen [zu] treffen“. 62 Zu den Merkmalen eines VA siehe Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. (2011), § 9 Rn. 6 ff.; Kahl, Jura 2001, 505 (505 ff.). 63 Vgl. § 18 I JPromO Bonn vom 12. 03. 2012. Eine Auswertung aller übrigen 41 rechtswissenschaftlichen Promotionsordnungen belegt (Stand: Januar 2011) ähnliche Regelungen in: § 22 I Allgemeine PromO Augsburg; § 15 III JPromO Bayreuth; § 20II JPromO FU Berlin; § 16IV, V JPromO HU Berlin; § 13 I, III JPromO Bielefeld; § 16 I, III JPromO Bochum; § 17 I, II JPromO Bremen; § 17 JPromO Dresden; § 10 I JPromO Düsseldorf; § 15 I 1 JPromO Erlangen-Nürnberg; § 14 IV 2 JPromO Europa-Universität Vidrina; § 14 I Fernuni Hagen; § 15 I JPromO Frankfurt am Main; § 20 I JPromO Freiburg; § 15 I JPromO Gießen; § 26 Satz 1 JPromO Göttingen; § 17 I JPromO Greifswald; § 12 I JPromO Halle-Wittenberg; § 12 I JPromO Hamburg; § 19 I JPromO Bucerius Law School; § 12 II JPromO Hannover; § 15 I JPromO Heidelberg; § 14 I JPromO Jena; § 23 II JPromO Kiel; § 13 I JPromO Köln (Dekan oder von ihm beauftragtes Mitglied der Prüfungskommission); § 7 I JPromO Konstanz; § 16 II 1 JPromO Leipzig; § 18 I JPromO Mainz; § 12 V JPromO Mannheim; § 16 I JPromO Marburg; § 20 VI JPromO München; § 13 III JPromO Münster; § 27 II JPromO Osnabrück; § 17 V JPromO Passau; § 18
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Dass die einseitige Festsetzung eine hoheitliche Maßnahme darstellt,64 wird kaum zu bestreiten sein. Fraglich ist allerdings, ob es sich bei der Prüfungskommission um eine Behörde im verwaltungsrechtlichen Sinne handelt. Folgt man der von Hans J. Wolff begründeten Organisationsrechtslehre,65 können nur solche Stellen als Behörde gelten, die organisationsrechtlich gebildet, vom Wechsel der Amtsinhaber unabhängig und nach der einschlägigen Zuständigkeitsregelung berufen sind, unter eigenem Namen nach außen eigenständig Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen.66 Zumindest hinsichtlich des letztgenannten Merkmals könnte dem Prüfungsausschuss die Behördenqualifi kation fehlen. Er beschließt zwar (im Innenverhältnis) selbständig und weisungsfrei über die Bewertung der Einzelleistungen und das Gesamtergebnis der Prüfung, hört jedoch im Anschluss an die Verkündung des Ergebnisses in seiner konkreten Zusammensetzung auf zu bestehen, so dass er von den Promovenden nicht als eigenständig wahrgenommen und seine Entscheidung allein der die Graduierung vornehmenden Fakultät zugerechnet wird. Aus Sicht der Fakultät ist die Prüfungskommission hingegen eine eigenständige Institution, der die satzungsmäßig gewährten Kompetenzen zustehen. Damit erweist sich das Merkmal der Autonomie als relativ: Während die Fakultät den Prüfungsausschuss als eigenständige Einrichtung anerkennt, versteht man ihn aus der organisatorisch-externen Perspektive nur als Behördenteil.67 Der Einordnung des Prüfungsausschusses als Behörde im Sinne des § 1 Abs. 2 LVwVfG steht diese Erkenntnis nicht entgegen. Anders als die Organisationsrechtlehre, die vor der Kodifi kation einer Legaldefi nition des Behördenbegriffes in § 1 Abs. 2 LVwVfG entwickelt wurde, sieht der Gesetzgeber jede Stelle als Behörde an, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Er gibt damit ein wesentliches Element des organisationsrechtlichen Behördenbegriffs auf. Unter dem von ihm neu entwickelten funktionalen Behördenbegriff kommt es nicht mehr darauf an, ob eine Stelle die ihr zugewiesenen Aufgaben dauerhaft autonom erledigt, sondern allein darauf, dass sie Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Die Verortung der Stelle innerhalb der Verwaltungsorganisation ist damit kein taugliches AbgrenIV JPromO Potsdam; § 14 VI JPromO Regensburg; § 13 Nr. 1 JPromO Rostock; § 31 JPromO Trier; § 16 I JPromO Tübingen; § 14 III, IV JPromO Würzburg. 64 Siehe hierzu allgemein: BVerwG, NJW 1983, 776 (776); Hill, DVBl. 1989, 321 (323, 327); Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. (2011), Rn. 439; Haurand, DVP 2007, 221 (222); Koch/Rubel/Heselhaus, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (2003), § 3 Rn. 19; Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. (2008), Rn. 338; Wallerath, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. (2009), Rn. 3; Renck, NVwZ 1991, 1038 (1041); Ruffert, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 21 Rn. 17; Wolff, in: Wolff/Decker, Studienkommentar VwVfG, 2. Aufl. (2007), § 35 Rn. 28 f.; kritisch Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. (2009), Anh. § 42 Rn. 14 m. Fn. 14. 65 Siehe hierzu Wolff, Organschaft und juristische Person, Band II: Theorie der Vertretung (1933/34, Nachdruck 1968); vgl. auch Wolff, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. (1976), §§ 71–78. 66 So BVerwGE 9, 172 (178); OVG NRW, NVwZ 1986, 761 (761); Burgi, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 8 Rn. 29 m. Fn. 66; Laubinger, VerwArch 76 (1985), 449 (461); Wallerath, in: von Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. (2008), Kap. 12 Rn. 22; Zacharias, Nordrhein-Westfälisches Kommunalrecht (2001), S. 117; grundlegend zum Verhältnis von Organ- und Behördenbegriff: Fügemann, Zuständigkeit als organisationsrechtliche Kategorie (2004), S. 35 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. (2011), § 21 Rn. 31 ff., 33. 67 So auch Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (421).
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zungskriterium mehr; nach der Legaldefi nition ist allein die Einordnung der vollzogenen Tätigkeit als Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben für die Qualifizierung als Behörde entscheidend. Jedes andere Begriffsverständnis würde die Legaldefinition des § 1 Abs. 2 LVwVfG künstlich verengen,68 zumal nach § 45 I Nr. 5 LVwVfG auch Mitwirkungshandlungen als behördliches Handeln anzusehen sind.69 Daneben ist in § 35 LVwVfG das Tatbestandsmerkmal der „Außenwirkung“ einer hoheitlichen Maßnahme separat angelegt, so dass es auch insoweit einer begrenzenden Auslegung des Behördenbegriffs – wie sie die überkommene Organisationsrechtslehre vorschlägt –70 nicht bedarf.71 Der Prüfungsausschuss ist damit nur organisationsrechtlich ein Behördenteil. Verwaltungsverfahrensrechtlich kann es so etwas wegen der in § 1 Abs. 2 LVwVfG angelegten Legaldefi nition nicht geben: Entweder ist der Prüfungsausschuss eine Behörde, oder er ist es nicht. Eine weitere Kategorisierung in Form eines Behördenteils stellt das Verwaltungsverfahrensgesetz nicht zur Verfügung. Das verwaltungsorganisationsrechtliche Behördenverständnis ist folglich strikt vom verfahrensverwaltungsrechtlichen Verständnis zu trennen. Um die Behördeneigenschaft des Prüfungsausschusses in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht zu bejahen, müsste im Abnehmen einer akademischen Doktorprüfung die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe liegen. Da die Promotion den Hochschulen durch den Landesgesetzgeber ausdrücklich zugewiesen wurde72 und das Prüfungsverfahren eine Voraussetzung für die vorzunehmende Graduierung darstellt, nimmt der Prüfungsausschuss unzweifelhaft eine öffentliche Aufgabe wahr. Nach dem für die Einordnung des Befähigungsnachweises als Verwaltungsakt allein maßgeblichen funktionalen Verständnis des § 1 Abs. 2 LVwVfG ist die Prüfungskommission folglich eine taugliche Behörde im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG. An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass der Prüfungsausschuss im Verwaltungsprozess nicht selbst als Behörde auftreten kann. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Prüfungsausschuss in seiner jeweiligen Zusammenset68 So auch für den gleichlautenden § 1 IV VwVfG: Ronellenfitsch, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 1 Rn. 68.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 1 Rn. 243; Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. (2008), Rn. 330; Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren (1990), S. 622; Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (423). 69 Vgl. Bäumler, DVBl 1978, 291 (294) für mitwirkende Parlamentsausschüsse. 70 Vgl. OVG NRW, NVwZ 1986, 761; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. (2011), § 21 Rn. 32, 33; Burgi, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 8 Rn. 29 m. Fn. 66; Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. (2011), Rn. 327; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. (1995), S. 75; Obermayer, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl. (1999), § 1 Rn. 82. 71 Vgl. Stumpf, Jura 2012, 543 (544 f.); Meyer/Borgs, VwVfG, 2. Aufl. (1982), § 1 Rn. 30; Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren (1990), S. 622; Ruffert, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 21 Rn. 19; Quaas, in: Schnapp (Hrsg.), Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens (2004), Kap. C. Rn. 189; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 35 Rn. 50. 72 Vgl. § 38 I 1 HG BW vom 01. 01. 2005; Artt. 2 II 2, 81 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 2 V BerlHG vom 13. 02. 2003; § 29 I BbgHG vom 18. 12. 2008; § 65 I 2 BremHG vom 09. 05. 2007; § 59 I HmbHG vom 18. 07. 2001; § 4 I 4 HessHG vom 14. 12. 2009; § 2 II 1 HG M-V vom 25. 01. 2011; § 9 I 1 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 7 I 2 RhlpHG vom 01. 09. 2010; § 40 I 1 SächsHG vom 10. 12. 2008; § 17 VI Nr. 1 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 54 V HG SH vom 28. 02. 2007; § 54 I ThürHG vom 01. 01. 2007; § 61 IV SaarlUG vom 26. 06. 2004.
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zung kein dauerhaftes Organ ist, so dass er im Zeitpunkt einer möglichen Entscheidungsanfechtung regelmäßig nicht mehr bestehen wird. Sinn und Zweck eines Gerichtsverfahrens ist es aber, in angemessener Zeit eine endgültige Entscheidung herbeizuführen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn das Verfahren von Prozessbeteiligten geführt wird, denen die Rechtsmacht obliegt, diesem Ziel durch ihre Prozesshandlungen nachzukommen.73 Die Satzungen der Fakultäten weisen dem Prüfungsausschuss jedoch nur die Befugnis zu, das Ergebnis des Prüfungsverfahrens festzustellen. Weitere Kompetenzen sind ihm nicht gegeben, so dass er in einem Verwaltungsprozess weder einen Vergleich schließen noch ein Anerkenntnis abgeben könnte. Ohnehin stellt sich die Frage, wer für ihn überhaupt eine Prozesshandlung vornehmen sollte, wenn mit dem Abschluss des Prüfungsverfahrens die Existenz des Prüfungsausschusses in seiner konkreten Zusammensetzung endet.74 Aus prozessrechtlicher Sicht hat die Rechtsprechung daher die Frage nach der Behördeneigenschaft im prozessualen Sinne zu Recht verneint.75 Dies ändert aber nichts an der Einordnung des Prüfungsausschusses als Behörde im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG; es belegt nur, dass der Prüfungsausschuss je nach Bezugspunkt in seiner rechtlichen Eigenschaft changiert: Verwaltungsorganisationsrechtlich ist er lediglich Behördenteil, während er verwaltungsverfahrensrechtlich als Behörde gilt, obwohl im prozessrechtlich die Fähigkeit zur Vornahme von Prozesshandlungen fehlt.76 Die Prüfungskommission eignet sich damit wie kaum ein anderer Verwaltungsträger dazu, den Behördenbegriff durch die Auswahl verschiedener Bezugspunkte im Organisations-, Verwaltungs- und Prozessrecht unterschiedlich zu konturieren.77 Neben der allgemein konsentierten Möglichkeit, den Behördenbegriff organisationsrechtlich oder funktional zu verstehen, ist der Prüfungsausschuss daher ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass er auch prozessrechtlich bestimmt werden kann; eine Erkenntnis, die im sozialrechtlichen Schrifttum bereits seit längerem anerkannt wird.78 Für die Frage nach der Verwaltungsaktsqualität des im Promotionsverfahren erlangten Befähigungsnachweises kommt es jedoch allein darauf an, ob der Prüfungsausschuss verwaltungsrechtlich als Behörde eingeordnet werden kann, was bereits nachgewiesen wurde; denn diesbezüglich gilt allein der funktionale Behördenbegriff. Die Prüfungskommission ist folglich eine taugliche Behörde im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG.
73
Vgl. Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (424). So auch Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (424). 75 Vgl. BVerwGE 70, 4 (7); OVG NRW, DÖV 1989, 594; ähnlich: OVG NRW, NJW 1967, 949; OVG NRW, Urteil vom 14. 12. 1962 – V A 834/62 = OVGE 18, 194. 76 So auch Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (424). 77 Vgl. Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (424), der insofern von einem „trialistischen Behördenbegriff “ spricht. 78 Vgl. Becker, FS Wiegand (2003), 271 (278); Schnapp, ZSR 1984, 140 (154); ders., in: Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band I (1994), § 49 Rn. 157 ff.; ders., NWVBl. 2010, 419 (423); Düring, in: Schnapp/Wiege (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. (2006), § 9 Rn. 12. 74
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bb) Regelungswirkung im Einzelfall Regelungswirkung kann jede behördliche Anordnung entfalten, die auf die Begründung, Auf hebung, Änderung oder Feststellung der Rechte ihres Adressaten abzielt.79 Sie schließt ein behördliches Verwaltungsverfahren ab und bestimmt mit staatlicher Autorität und der Bestandskraft fähigen Wirkung80 unmittelbar die subjektiv-öffentlichen Rechte der Beteiligten.81 Die Regelung muss abschließend sein; bloße Vorbereitungshandlungen weisen keine Regelungsqualität auf und sind daher keine Verwaltungsakte im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG. Dem traditionellen Verständnis des Promotionsverfahrens folgend, könnte die Feststellung des Prüfungsausschusses, welcher die aus Dissertationsschrift und mündlicher Prüfung hervorgehende Gesamtnote eigenverantwortlich festlegt, lediglich als behördlicher Mitwirkungsakt angesehen werden, der einen Teil des Gesamtverfahrens und somit ein bloßes Verwaltungsinternum darstellt.82 Ein solcher Mitwirkungsakt weist schon deshalb keine Verwaltungsaktsqualität auf, weil er das Verwaltungsverfahren nicht abschließt und ohne unmittelbare Außenwirkung bleibt; 83 erst die vom Dekan als Behörde der Fakultät vorgenommene Graduierung wäre dann die an den Promovenden ergehende, abschließende Verwaltungsentscheidung mit Regelungscharakter. Es ist allerdings anerkannt, dass es in sachlich gestuften Verwaltungsverfahren auch selbständige Zwischenverfahren geben kann, die ihrerseits durch einen Verwaltungsakt abgeschlossen werden.84 Ein in seiner Kasuistik kaum mehr überschaubarer Themenbereich dieser gestuften Verwaltungsverfahren stellt die Qualifizierung von Benotungen im Rahmen länger andauernder Ausbildungsverhältnisse dar, zu denen auch das hier interessierende Promotionsverfahren zählt. Im Grundsatz gilt dabei Folgendes: Der Mitteilungen der Prüfungsbehörde an den Prüfl ing über die Bewertung einer einzelnen Prüfungsleistung kommt regelmäßig keine selbständige rechtliche Bedeutung zu. Sie dient lediglich als Grundlage der behördlichen Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfung. Ausnahmsweise kann der Bewertung einzelner Prüfungsleistungen jedoch aufgrund einer besonderen Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens eine selbständige rechtliche Bedeutung zukommen, „der die Behörde mit einem entsprechenden Rechtsfolgenausspruch, also mit dem Erlass eines Verwaltungsakts Rechnung zu tragen hat; solches kommt insbesondere dann in Betracht, wenn mit der Bewertung der einzelnen Prüfungsleistung zugleich über das Ergebnis der Prüfung insgesamt entschieden wird [. . .].“85 79
Vgl. BVerwGE 60, 144 (145); BVerwGE 77, 268 (271) = NVwZ 1989, 1055 (1055). Vgl. BVerwGE 78, 3 (4) = NVwZ 1988, 51 (52). 81 Vgl. BVerwGE 80, 355 (364). 82 Vgl. Wolff/Brink, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 35 Rn. 114; allgemein zu verwaltungsinternem Handeln: Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl. (2011), § 14 Rn. 8; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. (2011), § 9 Rn. 28; Ruffert, in: Erichsen/ Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 21 Rn. 44. 83 Vgl. BVerwGE 26, 31 (39). 84 Vgl. Wolff/Brink, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 35 Rn. 116; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 35 Rn. 167, 169 ff. 85 BVerwG, Beschluss vom 25. 03. 2003 – 6 B 8/03, Abs.-Nr. 3 – juris. 80
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Nach hiesigem Verständnis handelt es sich beim Promotionsverfahren um ein gestuftes Verwaltungsverfahren. Durch die mit mindestens „rite“ bewertete Dissertationsschrift und das Bestehen der mündlichen Prüfung erbringt der Doktorand den hochschulrechtlich geforderten Nachweis zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten befähigt zu sein.86 Dieser Nachweis schließt das rein akademische Verfahren durch die vom Prüfungsausschuss festgesetzte Gesamtnote endgültig ab. Sofern die Note in der die Graduierung bestätigenden Promotionsurkunde aufgenommen wird, handelt es sich um eine rein deklaratorische Verlautbarung. Der Dekan kann die Gesamtnote weder verändern noch die Promotion verweigern, sofern – neben den sonstigen Voraussetzungen – der Befähigungsnachweis redlich mit mindestens „rite“ erbracht wurde. Ohne den Befähigungsnachweis und die dort mit Regelungswirkung festgestellte Bewertung kann es jedoch nicht zur Graduierung kommen. Ist aber das Bestehen von Teil- und Zwischenprüfungen Voraussetzung für die Zulassung zur Abschlussprüfung (im Promotionsverfahren ist dies mit der Graduierung gleichzusetzen), so stellen auch deren Benotungen Verwaltungsakte dar.87 Damit kommt der vom Prüfungsausschuss autark gebildeten Gesamtnote eine Regelungswirkung im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG zu. Es handelt sich auch um eine Regelungswirkung im Einzelfall. Durch dieses Tatbestandsmerkmal soll der Verwaltungsakt zu den grundsätzlich generell-abstrakten Rechtsnormen wie Satzungen, Rechtsverordnungen oder Gesetzen abgegrenzt werden.88 Folglich erfüllen konkret-individuelle Regelungen das Einzelfallerfordernis. Die Bildung der Gesamtnote innerhalb eines konkreten Promotionsverfahrens erfüllt diese Anforderungen, was unter anderem auch anhand der Individualbekanntgabe nach § 41 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG deutlich wird.
cc) Unmittelbare Außenwirkung Die im Befähigungsnachweis niedergelegte Regelungswirkung muss nach dem objektiv zu ermittelnden Sinngehalt auf Außenwirkung gerichtet sein, um als Verwaltungsakt zu gelten.89 Dies ist gegeben, wenn die Regelung den Rechtskreis eines Rechtsträgers im Staat-Bürger-Verhältnis erweitert oder verringert. „Die Maßnahme muss also Rechte oder Pfl ichten für Bürger oder juristische Personen außerhalb 86
Vgl. § 67 I 1 HG NRW vom 31. 10. 2006; ähnliche Formulierungen enthalten: § 38 II HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 64 I 1 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 15 I BerlHG vom 13. 02. 2003; § 29 II BbgHG vom 18. 12. 2008; § 65 I BremHG vom 09. 05. 2007; § 70 I HmbHG vom 18. 07. 2001; § 24 I HessHG vom 14. 12. 2009; § 43 I HG M-V vom 25. 01. 2011; § 9 I 2 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 18 III HG LSA vom 27. 07. 2010; § 54 I HG SH vom 28. 02. 2007; § 54 II ThürHG vom 01. 01. 2007; § 64 I SaarlUG vom 26. 06. 2004. 87 So allgemein auch BVerwG, DVBl. 2003, 871 (872); SächsOVG, SächsVBl 2002, 90; BFHE 195, 19 = NVwZ-RR 2002, 799 (800); Pokorny, Bedeutung der Verwaltungsverfahrensgesetze für die wissenschaftlichen Hochschulen (2002), S. 210 ff.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 35 Rn. 204. 88 Vgl. Wolff/Brink, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 35 Rn. 159; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 35 Rn. 208. 89 Vgl. BVerwGE 41, 258; 60, 145; 81, 260; Ehlers, NVwZ 1990, 105 (106); Beschorner, NVwZ 1986, 361 (361 ff.).
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der die hoheitliche Regelung treffenden Behörde begründen, auf heben, verbindlich feststellen oder abändern.“90 Damit hängt die Frage nach der unmittelbaren Außenwirkung des Befähigungsnachweises davon ab, ob und inwieweit die Bewertung der Teilprüfung für die weitere berufl iche Lauf bahn des Doktoranden relevant wird91 oder dessen Rechtsstellung über den universitären Bereich hinausgehend ohne weiteres Zutun ändert.92 Letzteres ist bereits dann der Fall, wenn die Note tatsächliche Auswirkungen auf das zukünftige Berufsleben des Promovenden hat, weil auch solche Auswirkungen nach dem modernen Eingriffsbegriff den Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit tangieren können.93 Die im Befähigungsnachweis verankerte Abschlussnote für den akademischen Teil des Promotionsverfahrens und die Feststellung, das prüfungsrechtlich der Graduierung nichts entgegensteht, haben somit Außenwirkung im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG, wenn sie die Chancen des Promovenden im Berufsleben verbessern oder verschlechtern können. In diesem Fall wird der Schutzbereich der Berufsfreiheit tangiert, weil die im Befähigungsnachweis niedergelegte Feststellung über den – mit einer bestimmten Gesamtnote erzielten – erfolgreichen Verfahrensabschlusses „ebenso wie ein Abschluss- und Prüfungszeugnis sowohl für den Zugang zu einem Beruf als auch für das weitere berufl iche Fortkommen erheblich sein kann.“94 Für die im Befähigungsnachweis enthaltene Feststellung, dass der Doktorand das akademische Prüfungsverfahren bestanden hat, ist dies gegeben. Denn ohne die Feststellung kann die Fakultät, vertreten durch die Dekansbehörde die Graduierung nicht vornehmen; sie baut somit auf dem Befähigungsnachweis – ergänzt um die Verpfl ichtung die im Promotionsverfahren erlangten Erkenntnisse zu veröffentlichen – auf. Schon unter diesen Blickwinkel entfaltet der Befähigungsnachweis als Teil des Promotionsverfahrens eine unmittelbare Rechtswirkung. Doch auch der im Befähigungsnachweis festgesetzten Gesamtnote kommt – über die bloße Feststellung des Bestehens hinaus – noch eine weitere Außenwirkung zu. So ist es nicht ausgeschlossen, dass dem Betroffenen bestimmte Berufschancen dadurch vereitelt werden, dass das Promotionsverfahren nicht mit der erforderlichen Mindestnote abgeschlossen wurde. Als Beispiel mögen hier die in manchen Landeshochschulgesetzten verankerten Einstellungsvoraussetzungen für Hochschullehrer dienen, die sich vereinzelt auch in den Habilitationsordnungen der Hochschulen wiederfi nden.95 Danach setzt eine Karriere als Hochschullehrer den Nachweis einer besonderen Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit voraus, die „in der Regel durch die Qualität einer Promotion nachgewiesen wird.“96 Aus dem Sinnzusammenhang 90 Wolff/Brink, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 35 Rn. 179. 91 Vgl. BVerwG, BayVBl. 1983, 477 (477) = DÖV 1983, 818 (818). 92 Vgl. BayVGH, Urteil vom 03. 12. 2002 – 7 B 01.2594, Abs.-Nr. 16 – juris. 93 So auch BayVGH, Urteil vom 03. 12. 2002 – 7 B 01.2594, Abs.-Nr. 16 – juris. 94 BayVGH, Urteil vom 03. 12. 2002 – 7 B 01.2594, Abs.-Nr. 16 – juris; vgl. auch OVG NRW, DVBl. 2001, 823 (823, 824 m. w. N.). 95 Hierzu: Epping, in: Leuze/Epping, HG NRW (Stand: 2. EL Dezember 2003), § 98 Rn. 15 mit Fn. 15.1. 96 § 36 I 1 Nr. 3 HG NRW vom 31. 10. 2006; fast wortgleich: § 47 I Nr. 3 HG BW vom 01. 01. 2005; § 39 I Nr. 3 BbgHG vom 18. 12. 2008; § 15 I Nr. 3, III HmbHG vom 18. 07. 2001; § 58 I Nr. 3 HG M-V
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ergibt sich somit, dass die Promotionsleistung „als überdurchschnittlich bewertet worden sein müssen“97, was nach Ansicht der Literatur als erfüllt gilt, wenn die Promotion mit der Gesamtnote „magna cum laude“ bewertet worden ist.98 Wäre vor diesem Hintergrund nur die Anfechtung des abschließenden Bescheids in Gestalt der Graduierung möglich, so müsste unter Umständen im Rahmen der Überprüfung dieses Verwaltungsakts eine schon längere Zeit zuvor erbrachte Teilleistung mitüberprüft werden. Dabei ist es nach den für das Promotionsverfahren einschlägigen Promotionsordnungen durchaus nicht unüblich, dass zwischen dem Abschluss des Prüfungsverfahrens durch Ablegen der mündlichen Prüfung und der Graduierung durch Aushändigung der Doktorurkunde zwischen einem99 und zwei100 Jahre – in Ausnahmefällen sogar mehr – vergehen können.101 Abgesehen davon, dass es kaum praktikabel wäre, nach einer so langen Zeitspane die der Gesamtnote zugrundeliegenden Umstände noch einmal aufzurollen, ist auch die zeitliche Staffelung des Promotionsverfahrens dazu geeignet, die rechtliche Selbstständigkeit und die unmittelbare Außenwirkung der bereits erbrachten Teilleistung zu verdeutlichen. Auch die Tatsache, dass einige Promotionsordnungen ihren Promovenden bereits vor der Publikation ihrer Dissertationsschrift die vorläufige Führung des Doktorgrades gestatten,102 bevom 25. 01. 2011; § 25 I Nr. 3 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 49I Nr. 3 RhlpHG vom 01. 09. 2010; § 58 I Nr. 3 SächsHG vom 10. 12. 2008; § 35 II Nr. 3 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 61 I Nr. 3 HG SH vom 28. 02. 2007; § 77 I Nr. 3 ThürHG vom 01. 01. 2007; § 34 I Nr. 3 SaarlUG vom 26. 06. 2004 ( Juniorprofessor); § 33 I Nr. 3 SaarlUG vom 26. 06. 2004 (ordentlicher Professor); ähnlich: § 62 II HessHG vom 14. 12. 2009; auf die Habilitationsordnungen verweisen: Art. 65 VII BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 36 VI BerlHG vom 13. 02. 2003; § 66 I 2 BremHG vom 09. 05. 2007. 97 Epping, in: Leuze/Epping, HG NRW (Stand: 2. EL Dezember 2003), § 98 Rn. 15. 98 Vgl. Krüger, in: Hailbronner/Geis (Hrsg.), HRG (Stand: 34. EL Juli 2011), § 44 Rn. 13; Reich, BayHSchG, 4. Aufl. (1999), Art. 91 Rn. 16; ders., HRG, 7. Aufl. 2000, § 44 Rn. 5 m. w. N.; differenzierend: Epping, in: Leuze/Epping, HG NRW (Stand: 2. EL Dezember 2003), § 98 Rn. 15; Thieme, FS Felgentraeger (1969), 205 (219). 99 Eine Auswertung aller 41 rechtswissenschaftlichen Promotionsordnungen ergab (Stand: Januar 2011) eine das Verfahren abschließende und die Graduierung einleitende Publikationspfl icht der Dissertationsschrift von einem Jahr seit der mündlichen Prüfung gem.: § 17 I JPromO Bayreuth; § 22 I JPromO FU Berlin; § 17 I JPromO HU Berlin; § 15 I JPromO Bielefeld; § 18 I JPromO Bochum; § 18 I JPromO Dresden; § 11 III JPromO Düsseldorf; § 17 II 1 JPromO Erlangen-Nürnberg; § 18 I JPromO Fernuni Hagen; § 16 III JPromO Frankfurt am Main; § 17 II JPromO Europa-Universität Vidrina; § 16 V JPromO Gießen; § 32 I JPromO Göttingen; § 14 II JPromO Halle-Wittenberg; § 22 I JPromO Bucerius Law School; § 13 V JPromO Hannover; § 16 III JPromO Heidelberg; § 15 II JPromO Jena; § 25 II JPromO Kiel; § 14 II JPromo Köln; § 22 I JPromO Mainz; § 13 III JPromO Mannheim (ab Ergebnismitteilung); § 18 IV 1 JPromO Marburg; § 22 I JPromO München; § 15 I JPromO Münster; § 33 I JPromO Osnabrück; § 18 I 1 JPromO Passau; § 19 II JPromO Potsdam; § 15 I JPromO Regensburg; § 16 V JPromO Saarbrücken. 100 Eine Auswertung aller 41 rechtswissenschaftlichen Promotionsordnungen ergab (Stand: Januar 2011) eine das Verfahren abschließende und die Graduierung einleitende Publikationspfl icht der Dissertationsschrift von zwei Jahren seit der mündlichen Prüfung gem.: § 26 I Allgemeine PromO Augsburg; § 18 I JPromO Bremen; § 22 III JPromO Freiburg; § 19 I JPromO Greifswald; § 13 I JPromO Hamburg (ab Vollzug); § 19 V JPromO Tübingen; § 17 I JPromO Würzburg. 101 Gänzlich ohne Frist für die Veröffentlichung: JPromO Trier. Die JPromO Rostock nennt selbst auch keine Frist, verweist jedoch in § 15 Nr. 1 auf die Pfl ichtexemplarordnung der Universität Rostock, die in § 2 I eine vierwöchige Frist für die Abgabe der Pfl ichtexemplare normiert. 102 Vgl. § 21 III JPromO Bonn vom 12. 03. 2012. Eine Auswertung aller übrigen 41 rechtswissenschaftlichen Promotionsordnungen belegt (Stand: Januar 2011) ähnliche Regelungen in: §§ 27 IV 2 Allgemeine PromO Augsburg (Genehmigung erteilt der Fachbereichsrat); § 18 IV JPromO Bayreuth;
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stärkt die hier vertretene These nach der unmittelbaren Außenwirkung, die dem Befähigungsnachweis zukommen muss.
dd) Ergebnis: Befähigungsnachweis als Verwaltungsakt Der im Promotionsverfahren zu erbringende Befähigungsnachweis ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG. Als erster Verfahrensabschnitt wird er regelmäßig beim zuständigen Fachbereich geführt und durch die Prüfungskommission bestimmt. Sie entscheidet nach der mündlichen Prüfung, ob der Bewerber die Prüfung bestanden hat und setzt aufgrund der Beurteilung von Dissertationsschrift und mündlicher Prüfung die Gesamtnote fest.103 Mit der Bekanntgabe des Ergebnisses wird prüfungsrechtlich festgestellt, dass der Doktorand den Nachweis zur Befähigung selbständigen wissenschaftlichen Arbeitens – mit dem im Prüfungszeugnis zum Ausdruck kommenden Erfolg – erbracht hat. Durch diesen, das eigentliche Prüfungsverfahren beendenden, (ersten) Verwaltungsakt erlangt der Adressat den von der Prüfungskommission ausgefertigten Befähigungsnachweis verbunden mit dem Anspruch auf Vollzug der Graduierung durch den Dekan,104 die als gebundene Entscheidung von weiteren Voraussetzungen wie der Veröffentlichung der Dissertationsschrift abhängig gemacht und die in der Promotionsordnung regelmäßig durch Übergabe der dort festgelegten Anzahl an Dissertations-Pfl ichtexemplaren abgesichert werden kann.105
c) Zweiter Verwaltungsakt: Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde aa) Maßnahme einer Behörde im öffentlichen Recht Die von der Fakultät vorgenommene Graduierung stellt die einseitige Festsetzung einer hoheitlichen Maßnahme dar. Als solche kann ihr Verwaltungsaktsqualität zukommen, wenn sie von einer Behörde im Sinne des § 1 Abs. 2 LVwVfG ausgegangen ist. Im Promotionsverfahren erfolgt die Graduierung des Promovenden durch Aushändigung oder Zustellung der Doktorurkunde auf Veranlassung des Dekans. Das § 25 JPromO FU Berlin; § 18 III 2 JPromO HU Berlin; § 16 II JPromO Bielefeld; § 20 III 2 JPromO Dresden; § 12 II JPromO Düsseldorf; § 13 III 1 JPromO Erlangen-Nürnberg; § 18 II 2 JPromO Europa-Universität Vidrina; § 17 II, III JPromO Gießen; § 33 II JPromO Göttingen; § 22 II 1 JPromO Greifswald; § 19 II 2 Fernuni Hagen; § 15 I JPromO Halle-Wittenberg; § 24 JPromO Bucerius Law School; § 16 III JPromO Hannover; § 16 III JPromO Jena; § 27 II JPromO Kiel; § 15 II 1 JPromO Köln; § 20 II 1 JPromO Leipzig; § 14 III JPromO Mannheim; § 19 II JPromO Marburg; § 23 II 2 JPromO München; § 15 VI JPromO Münster; § 34 II JPromO Osnabrück; § 21 III 2 JPromO Passau; § 21 II JPromO Potsdam; § 16 III JPromO Regensburg (Genehmigung erteilt der Fachbereichsrat); § 16 Nr. 2 JPromO Rostock; § 43 JPromO Trier; § 20 II JPromO Tübingen; § 18 III JPromO Würzburg. 103 Vgl. § 18 I JPromO Bonn vom 12. 03. 2012; vgl. auch die Nachweise in Fn. 37. 104 Ist die Graduierung einmal erfolgt, erlischt der dem Befähigungsnachweis beigelegte Anspruch. 105 So auch Baldus, Jura 1988, 573 (574); Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 3. Aufl. (2007), Rn. 669 f.
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Amt des Dekans ist eine vom Wechsel der die Funktion ausübenden Person unabhängige Organisationseinheit des dahinterstehenden Rechtsträgers Fakultät. Als Stelle, die gemäß ihrer Zuständigkeit nach außen in Erscheinung tritt, nimmt sie die Graduierung vor und handelt insoweit innerhalb ihres Aufgabenbereichs mit der erforderlichen Hoheitsmacht. Der Dekan ist somit aus der hier allein interessierenden verwaltungsrechtlichen Perspektiv heraus eine Behörde im Sinne des § 1 Abs. 2 LVwVfG.106
bb) Regelungswirkung im Einzelfall Begreift man den von der Prüfungskommission ausgestellten Befähigungsnachweis als Abschluss des akademischen Prüfungsverfahrens und ersten Verwaltungsakt, stellt sich die Frage nach der in der Graduierung angelegten (zusätzlichen) Regelungswirkung. Ließe sich eine solche nicht finden, käme der Graduierung lediglich ein den ersten Verwaltungsakt wiederholender Charakter zu, der jedoch keine eigenständige Regelungswirkung entfaltet. Konkret geht es folglich um die Feststellung, ob in der Graduierung mehr zu sehen ist als die – durch die Gesamtnote mit einem bestimmten Qualitätsnachweis versehene – Bestätigung zur Befähigung selbständigen wissenschaftlichen Arbeitens. Der Auf bau des Promotionsverfahrens legt das Nahe. So wird der erste Verfahrensteil ausschließlich durch die Prüfungskommission bestimmt, während der zweite und abschließende Verfahrensteil durch die Behörde Dekan determiniert wird. Auch die Tatsache, dass zwischen dem Abschluss des Prüfungsverfahrens und der Graduierung nur die Verpfl ichtung liegt, die Dissertationsschrift – beispielsweise durch Abgabe einer entsprechenden Anzahl an Pfl ichtexemplaren – zu veröffentlichen, deutet auf die nachfolgend noch näher zu konkretisierende Zweiteilung des Verfahrens und die damit verbundene zusätzliche Regelungswirkung der durch den Dekan erlassenen Maßnahme hin. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in der Promotionsordnung der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen; dort heißt es: „Vor Aushändigung der Urkunde darf der Doktorgrad nicht geführt werden. Insbesondere berechtigen die Annahme der Arbeit und das Bestehen der mündlichen Prüfung noch nicht dazu, den Doktorgrad zu führen.“107 Die Veröffentlichungspfl icht108 stellt damit ein selbständiges Element im Promotionsverfahren dar, dem durch die hier vertretene Zweiteilung auch verfahrensrechtlich die ihr gebotene Beachtung beikommen würde. In diesem Lichte könnten als weitere Regelungswirkungen das Titelführungsrecht und – als „eine öffentliche Würde eigener Art“109 – die Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde angesehen werden. Durch die erst im Zeitpunkt der Veröffentli106 Im Gegensatz zum Prüfungsausschuss ist er im Übrigen auch organisations- und prozessrechtlich als Behörde zu qualifi zieren. 107 § 33 IV JPromO Göttingen. 108 Vgl. Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 8: „Die wissenschaftliche Arbeit muss publiziert werden, d. h. die Forschungsergebnisse werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.“; ähnlich: Beschluss der Kultusministerkonferenz „Grundsätze für die Veröffentlichung von Dissertationen“ vom 29. 04. 1977 i. d. F. vom 30. 10. 1997. 109 Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), S. 322
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chung der Dissertationsschrift entstehende Berechtigung, den Doktorgrad – spätere akademische Redlichkeit vorausgesetzt –110 dauerhaft führen und sich öffentlich als Mitglied der Wissenschaftsgemeinde ausweisen zu dürfen, kann sich der Betroffene innerhalb dieser Gemeinschaft leichter Gehör verschaffen und eher damit rechnen, dass seine Arbeiten von Mitgliedern seines Fachgebietes rezipiert werden.111 Insoweit begründet der Vollzug der Graduierung als zusätzliche Regelungswirkung auch öffentlich-rechtliche Pfl ichten des (nun) Promovierten.112 Ihn treffen zwar keine korporativen Obliegenheiten innerhalb der verleihenden Fakultät oder gegenüber der Allgemeinheit und er ist rechtlich auch nicht verpfl ichtet, den Doktorgrad seinem bürgerlichen Namen voranzustellen;113 der Wissenschaftsgemeinde aber, der er nun angehört, schuldet er im Falle seiner weiteren Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs die Einhaltung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis, die einen Kommunikationsprozess gewährleisten sollen, der auf Vertrauen und Redlichkeit gründet.114 Die Promotion ist eben eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit115 und keine Eintrittskarte für eine Karriere in einer internationalen Anwaltssozietät.116 Zutreffend bezeichnet Schöner daher schon 1969 „den Promovierten als Vertreter[n] der Wissenschaft“117. In diesem Sinne forderten jüngst gewichtige Stimmen118, die Zulassungsvoraussetzungen zur Promotion noch weiter zu verschärfen und sie auf ihre historische Funktion einer Qualifi kation für wissenschaftliche Forschung und Lehre zu beschränken.119 Extrinsische Faktoren wie die Aussicht auf eine höhere Bezahlung oder aber der angestrebte Reputationsgewinn120 würden dann durch das abgelöst, was die Wissenschaft am Leben hält: wissenschaftliche Neugier und Forschergeist. Der Regelungswirkung des zweiten Verwaltungsakts im Rahmen der Promotionsentscheidung käme dadurch eine noch gewichtigere Bedeutung zu. Unabhängig davon belegen aber die hier dargestellten Argumente, dass es nicht fern liegt, in der Graduierung mehr als die Wiederholung der Regelungswirkung des ersten Verwaltungsaktes zu sehen, sondern ihr stattdessen die mit der Verfahrensausgestaltung immanente Bedeutung beizumessen, die darauf angelegt ist, den Stellenwert des Doktorgrades jenseits des akademischen Prüfungsverfahrens zu betonen. Schließlich unterscheidet sich das Promotionsverfahren von anderen Hochschulprüfungen insbesondere dadurch, dass die in der Dissertationsschrift gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht werden müssen. Genau dieser Umstand macht die Promotion zu einem einzigartig ambivalenten Verfahren, das gleichermaßen von Hoch-
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Siehe hierzu Kapitel C.III.1.b). So auch Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55). 112 Abweichend: Baldus, Jura 1988, 573 (575). 113 So auch Baldus, Jura 1988, 573 (575). 114 So wohl auch VG Freiburg, Urteil vom 22. 09. 2010 – 1 K 2248/09. 115 Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1241 (1242); Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 10. 116 Vgl. Krüper, ZJS 2011, 198 (203); so wohl auch Heinig/Möllers, FAZ vom 24. 03. 2011, Nr. 70, S. 8. 117 Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 25. 118 Vgl. Heinig/Möllers, FAZ vom 24. 03. 2011, Nr. 70, S. 8. 119 Vgl. Schnieders, Druckzwang für Dissertationen und Dissertationentausch (1972), S. 58. 120 Vgl. Geck, Promotionsordnungen und Grundgesetz (1969), S. 24. 111
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schule und Wissenschaft beeinflusst wird und insoweit auf einer Schnittstelle dieser beiden Institutionen liegt. Im Ergebnis lässt sich somit neben den zwei begünstigenden Regelungswirkungen (Titelführungsrecht und Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde) auch eine neutrale Regelungswirkung (Pfl icht zur Einhaltung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis) ausmachen.
cc) Unmittelbare Außenwirkung Die Regelungswirkung der Graduierung ist nach dem objektiv zu ermittelnden Sinngehalt auch auf Außenwirkung gerichtet. Unmittelbar durch die Bekanntgabe der Graduierung erlangt der Betroffene das Titelführungsrecht und den Status eines Mitglieds der Wissenschaftsgemeinde, das mit Blick auf seine zukünftigen Forschungsaktivitäten auf die Einhaltung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis verpfl ichtet ist. Insoweit begründet die Maßnahme des Dekans unmittelbar Rechte und Pfl ichten außerhalb der die hoheitliche Regelung treffenden Behörde.121
dd) Organisationsrechtliche Absicherung der Promotionsentscheidung Die hier niedergelegte (wissenschafts-)rechtliche Einordnung der Promotionsentscheidung deckt sich auch mit der ambivalenten Stellung der habilitierten Fakultätsmitglieder, die am Ende der Promotion die Begutachtung der eingereichten Dissertationsschrift übernehmen. So wie das Promotionsverfahren aus einem rein akademischen Teil (dem Befähigungsnachweis) und einem darüber hinausgehenden wissenschaftsbezogenen Teil (der Wissenschaftsförderung durch Publikation und der Verpfl ichtung auf die Standards guter wissenschaftlicher Praxis) besteht,122 wird auch die Stellung der habilitierten Hochschullehrer in diesem Verfahren durch eine Doppelrolle gekennzeichnet: Auf der einen Seite steht mindestens einer von ihnen in einem Beamtenverhältnis zum Staat, das sie zur Mitwirkung an akademischen Prüfungen verpfl ichtet;123 auf der anderen Seite werden sie durch ihre Habilitation zu berufenen Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinde, die eine Aufnahme von Doktoranden durch ein positives Promotionsvotum ermöglichen können. Soweit früher bezweifelt wurde, dass sich eine zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Wissenschaftsgemeinde berufene Instanz fi nden lasse, sich die Zugehörigkeit einzelner Wissenschaftler somit allein aus der Teilnahme an einem wissenschaftlichen Diskurs und 121 Hierzu allgemein: Wolff/Brink, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 35 Rn. 179. 122 So auch Guhl, Prüfungen im Rechtsstaat (1978), S. 235. 123 Vgl. § 35 II 1 HG NRW vom 31. 10. 2006; § 46 I Nrn. 7, 8 HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 21 XI BayHSchG vom 23. 05. 2006 (implizite Regelung); § 99 II BerlHG vom 13. 02. 2003 (befristete Befreiungsmöglichkeit in § 99 III BerlHG); § 40 I BbgHG vom 18. 12. 2008; § 16 BremHG vom 09. 05. 2007; § 12 IV 1 Nrn. 1, 4 HmbHG vom 18. 07. 2001; § 61 I Nr. 7 HessHG vom 14. 12. 2009; § 57 III Nr. 3, 5 HG M-V vom 25. 01. 2011; § 24 I 1, 2 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 48 I RhlpHG vom 01. 09. 2010; § 67 III Nr. 2, 3 SächsHG vom 10. 12. 2008; § 34 II 1 Nr. 2 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 60 I HG SH vom 28. 02. 2007; § 76 II Nr. 4 ThürHG vom 01. 01. 2007; § 31 I SaarlUG vom 26. 06. 2004.
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einer demgegenüber minimalen Anerkenntnis dieser Teilnahme durch Dritte ergebe,124 verkennt dies die den habilitierten Wissenschaftlern sowohl gesetzlich als auch wissenschaftlich zuerkannte Bedeutung. Die Stellung der habilitierten Hochschullehrer an der Schnittstelle zwischen Staat und Wissenschaft stützt damit auch organisationsrechtlich die These, dass die Promotionsentscheidung aus zwei Verwaltungsakten besteht.
ee) Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde als Grundrechtseingriff? Möglicherweise steht dem hiesigen Verständnis des Promotionsverfahrens der Umstand entgegen, dass die mit der Graduierung zum Ausdruck gebrachte Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde die negative Vereinigungsfreiheit des Betroffenen verletzt. Möglicherweise will dieser der Gemeinschaft gar nicht angehören, aber dennoch seinen Doktorgrad führen. Im Ergebnis greift eine solche Argumentation nicht durch. Die mit der Graduierung verbundene Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde verletzt nicht die negative Vereinigungsfreiheit des Promovierten, der durch den Antrag auf Eröffnung des förmlichen Promotionsverfahrens selbst um die – durch Bekanntgabe der Graduierung positiv beschiedene – Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde nachgesucht hat. Sofern er dieser Gemeinschaft – beispielsweise wegen gewandelter Überzeugung – nicht mehr beitreten will, kann er dies dadurch erreichen, dass er die Publikation seiner Dissertationsschrift verhindert, indem er beispielsweise die zur Verfügung zu stellenden Pfl ichtexemplare nicht fristgerecht abliefert. In diesem Fall kann seine Ausarbeitung der Wissenschaftsgemeinde nicht zugänglich gemacht und die Graduierung durch den Dekan nicht vollzogen werden. Der mittels des ersten Verwaltungsaktes verliehene – grundsätzlich unzerstörbare – Befähigungsnachweis bleibt davon unberührt.125 Allein die mit der Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde verbundenen Rechte blieben ihm verwehrt. Wissenschaftsrechtlich ist der Doktorgrad somit eng mit dem wissenschaftlichen Diskurs verbunden.126 Daran vermögen auch überkommene gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was mit der Verleihung des Doktorgrades (sonst noch alles) zum Ausdruck gebracht wird,127 nichts zu ändern. Schon der Landesgesetzgeber macht im § 67 Abs. 1 Satz 1 HG NRW deutlich, dass die Promotion – als höchster von der Universität zu verleihender Grad – anders als alle anderen (berufsqualifizierenden) Abschlüsse ein akademischer Grad sui generis ist, der eine über das allgemeine Studienziel deutlich hinausgehende, selbständige wissenschaftliche Leistung erfordert. „Die Promotion hat also ausschließlich wissen124
So von Alemann, Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute – Personalstruktur, Forschungsprojekte und Spezialisierung der Sozialforschung (1981), S. 31. 125 Zustimmend Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (775). 126 So wohl auch Kobusch, WissR 34 (2001), 259 (264), der die Ablieferung der Pfl ichtexemplare als Prüfungsleistung klassifi ziert, die darauf ausgerichtet ist, die Verfügbarkeit der Dissertationserkenntnisse für Forschung und Lehre zu gewährleisten. 127 Siehe hierzu: Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 21; Hirsch, DUZ 1963, 10 (10 ff.).
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schaftlichen Bezug“128 und ihre Eigenart liegt – um es in den Worten Hans Gerbers zu sagen, der sich intensiv mit dem Wissenschaftsrecht befasst hat – „in der von äußeren Zwecken freien Bestätigung, dass sich der Promovend in anerkennenswerter Weise an der Lösung der Grundaufgabe der Wissenschaft: der Erforschung der Wahrheit, beteiligt hat und dass er damit als eingereiht in den Kreis der wissenschaftlichen Gemeinde erscheint.“129 Würde man sich über diesen „wesentlichsten Zweck der Promotion“130 hinwegsetzen, würde die Wissenschaftsförderung zwangsläufig gefährdet.131 Vor diesem Hintergrund ist es nicht möglich, den Doktorgrad zu führen, ohne zugleich als Mitglied der Wissenschaftsgemeinde zu gelten. Auch wenn dadurch die allgemeine Handlungsfreiheit des Einzelnen tangiert wird, liegt darin im Ergebnis eine verfassungsrechtlich gerechtfertigte Beschränkung. Der Betroffene kann die Vorteile des Doktorgrades nicht ohne damit verbundenen Pfl ichten erlangen. Wer den Grad führen will, muss somit die Mitgliedschaft in der Wissenschaftsgemeinde akzeptieren.
d) Titelführungsrecht Spätestens mit der Aushändigung der Doktorurkunde entsteht das Recht zur Führung des Doktorgrades132 als akademischer Titel.133 Wie bei allen akademischen Graden handelt es sich um einen bloßen Namenszusatz, der auch dann nicht zu einem nach § 12 BGB geschützten Namensbestandteil avanciert, wenn sein Träger ihn gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 PAuswG in die amtlichen Dokumente eintragen lässt. Der Promovierte kann daher weder einen rechtlichen Anspruch auf Anrede mit dem Doktorgrad geltend machen,134 noch kann er den Namenszusatz an seine direkten Abkommen weitergeben. Das Titelführungsrecht wird über § 132a Abs. 1 Nr. 1 StGB geschützt und stellt das unbefugte Führen akademischer Grade unter Strafe. Auch wenn der Doktorgrad nach zutreffendem Verständnis nur die Befähigung zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten und dementsprechend die Zugehörigkeit seines Trägers zur Wissenschaftsgemeinde nachweist, lässt der häufig verwendete Begriff der „Doktorwürde“ bereits vermuten, dass das gesellschaftliche Verständnis oftmals weit über diese – eher nüchterne Feststellung – hinausgeht.135 Es verwundert daher kaum, dass die Promotion in früheren Tagen in einigen Bereichen 128
BVerfGE 88, 129 (140). Vgl. Gerber, VerwArch 48 (1957), 180 (184); vgl. auch Kluth, FS Schiedermair (2001), 569 (569); Geck, Promotionsordnungen und Grundgesetz (1969), S. 45; Bengeser, Doktorpromotion in Deutschland (1963), S. 83. 130 Geck, Promotionsordnungen und Grundgesetz (1969), S. 25. 131 So auch Geck, Promotionsordnungen und Grundgesetz (1969), S. 25. 132 Kritisch zum umgangssprachlichen Begriff „Doktortitel“ siehe Vahle, DVP 2010, 99 (99). 133 Vgl. Schröder, NWVBl. 2010, 176 (177); Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 439; Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 183. 134 So auch Vahle, DVP 2010, 99 (100). 135 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 436, 441; Starosta, DÖV 1987, 1050 (1051); Kluth, FS Schiedermair 2001, 569 (571); Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 16; mit Blick auf die Vergangenheit: Menzel, JZ 1960, 457 (461); Linke, WissR 32 (1999), 146 (155); Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1243). 129
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zu einer Gleichstellung des Gemeinen mit dem Adel führte und daher als „Adel des Geistes“ bezeichnet wurde.136 Auch die Wissenschaftsgemeinde bringt dem Inhaber eines Doktorgrades ein Vertrauensvorschuss hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten entgegen. Insofern eröffnet die Promotion die Möglichkeit, den Grundstein für eine persönliche aber vor allem auch wissenschaftliche Fortentwicklung zu legen.137
B. Fehlverhalten im Lichte seiner Ursachen I. Fehlverhalten in der Wissenschaft 1. Wissenschaftliches Fehlverhalten a) Objektiver Tatbestand Mittlerweile haben sämtliche bedeutenden deutschen Forschungseinrichtungen den Versuch unternommen, den Begriff des wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu defi nieren.138 Hiernach verlangt der objektive Tatbestand ein Verhalten mit wissenschaftlichem Anspruch, das gegen materielle Rechtsvorschriften, (un)geschriebene Standards guter wissenschaftlicher Praxis oder gegen ethische Grundsätze139 verstößt, deren Einhaltung die Wissenschaftsgemeinschaft insgesamt oder forschungsbereichbezogen für sich selbst als unabdingbar und damit richtig und verbindlich anerkennt. Obgleich die verschiedenen Defi nitionen weitgehend identisch sind, verwundert es, dass entgegen dem universalen Ethos140 der Wissenschaft keine hundertprozentige Übereinstimmung auszumachen ist.141 Hieraus könnte man den Rückschluss ziehen, dass sich selbst die Wissenschaft nicht darüber einig ist, in welchen Rahmenbedingungen redliche, wissenschaftsadäquate Forschung ablaufen und wann ein Verhalten wissenschaftsrechtlich als fehlerhaft eingestuft werden muss. Bei näherer Auseinandersetzung mit den Institutionen im Wissenschaftssystem wird jedoch deutlich, dass 136 Vgl. Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (755); Kluth, FS Schiedermair 2001, 569 (572); Bengeser, in: ders., Promotionsordnungen (1964), S. 14 ff.; Vollmar, Die Entziehung der Doktorwürde (1950), S. 48 ff. 137 So auch Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (756). 138 Vgl. Hochschulrektorenkonferenz (Hrsg.), Empfehlungen des 185. Plenums vom 6. Juli 1998 zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten in den Hochschulen (1998), Drucks. Nr. 1 85/9; Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e. V (Hrsg.), Empfehlungen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis in den Instituten der Leibniz-Gemeinschaft (1998); Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verfahrensordnung bei Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten (1997) und (2000), Anlage 1 (Katalog von Verhaltensweisen, die als wissenschaftliches Fehlverhalten anzusehen sind); Deutsche Forschungsgesellschaft (Hrsg.), Verfahrensordnung zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten (2001). 139 Zur Ethik als Schranke der Wissenschaftsfreiheit siehe Turner, ZRP 1986, 172 (173 f.); Fechner, JZ 1992, 777 (781 f.); zur Abgrenzung der Begriffe Recht, Moral und Ethik: Vöneky, Recht, Moral und Ethik (2010), S. 24 ff. 140 Vgl. Schulze-Fielitz, WissR 37 (2004), 100 (110). 141 So auch Hartmann/Fuchs, WissR 36 (2003), 204 (217).
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es zwar ein fachbereichsübergreifendes Verständnis von wissenschaftlichem Fehlverhalten,142 daneben aber eben auch (zusätzlich) forschungsdisziplinbezogene Besonderheiten gibt,143 die von jedem Ressort separat festgelegt werden müssen;144 denn im Bereich der Medizin- oder Industrieforschung sind die Wissenschaftler vor andere Herausforderungen gestellt als im Bereich der Rechtswissenschaften, wo beispielsweise Dokumentationspfl ichten im Forschungsprozess eine geringere Bedeutung zukommt. Die Kritik, dass es bislang nicht gelungen sei, eine einheitliche Definition von wissenschaftlichem Fehlverhalten zu fi nden und stattdessen jedem abstrakten Defi nitionsversuch einen Katalog konkreter Einzelbeispiele anzufügen,145 ist daher nur bedingt berechtigt.146 Forschungsdisziplinbezogene Besonderheiten stehen einer weiteren Konkretisierung hin zu einem universellen Begriffsverständnis jenseits der generalklauselartigen Defi nition momentan entgegen. Vor diesem Hintergrund erfassen die konkreten Einzelbeispiele147 kein anderes wissenschaftliches Fehlverhalten als die Generalklausel, sondern sind eher als bereichsbezogene Regelbeispiele zu verstehen, denen insbesondere bei der Beantwortung der Frage, ob das Fehlverhalten so gravierend war,148 dass es wissenschaftsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen muss, eine indizielle Bedeutung zukommt. Ist ein solches Regelbeispiel erfüllt, tritt die so genannte Regelwirkung (Indizwirkung) ein, die eine Begründung für die Annahme eines besonders schweren Falls obsolet werden lässt,149 sofern diese unter Abwägung aller Zumessungstatsachen auf Grund einer Gesamtbewertung aller wesentlichen tat- und täterbezogenen Umstände nicht widerlegt werden kann. Gleichzeitig soll durch die Aufl istung von Einzelfällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens in den Regelwerken der Begriff für den Normadressaten bestimmbarer, verständlicher und – da die Aufl istung nur beispielhaften Charakter hat – für die mit der Auf klärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens betrauten Institutionen in gewissen Grenzen auch entwicklungsoffen gehalten werden.
b) Subjektiver Tatbestand Mangelnder Konsens herrscht auch hinsichtlich der genauen Anforderungen, die in subjektiver Hinsicht an wissenschaftliches Fehlverhalten zu stellen sind. Das Spek-
142 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 5. 143 Vgl. Störig, Kleine Welt der Wissenschaft, 3. Aufl. (1965, Nachdruck 2007), S. 21. 144 Vgl. Hartmann/Fuchs, WissR 36 (2003), 204 (217); wohl auch Streiter, WissR 37 (2004), 309 (312). 145 So Laubinger, FS Krause (2006), 379 (382, 383) mit Blick auf die Empfehlungen der HRK. 146 So auch Muckel, GS Krüger (2001), 275 (285). 147 Siehe hierzu Apel, Verfahren und Institutionen zum Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (2009), S. 385 f.; Höhne, Rechtsprobleme bei der Kontrolle der Lauterkeit in der Forschung (2001), S. 23. 148 Vgl. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1226). 149 Vgl. Wittig, in: von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck-OK StGB (Stand: 15. 06. 2012), § 243 Rn. 2.
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trum der vertretenen Ansichten reicht hier von Fahrlässigkeit150 über Vorsatz151 bis hin zum kompletten Verzicht152 auf subjektive Elemente. Auch wenn die zuletzt genannte Ansicht juristisch den Vorteil hätte, dass eine Stigmatisierung des Betroffenen durch die Feststellung, sich vorsätzlich oder zumindest fahrlässig falsch verhalten zu haben, unterbleiben würde, erweist sie sich im wissenschaftsrechtlichen Kontext dennoch als nicht tragfähig; denn Irrtümer und falsche Erkenntnisse – die ein Indikator für wissenschaftliches Fehlverhalten sein können – sind Phänomene, die der Wissenschaft immanent sind und sie auf ihrem Weg zur Erkenntnis nicht nur säumen, sondern auch vorantreiben können.153 Würde nun allein die im objektiven Tatbestand festzustellende Fehlerhaftigkeit wissenschaftliches Fehlverhalten indizieren, würde diese Tatsache verkannt. Der subjektive Tatbestand übernimmt daher bei der Feststellung wissenschaftlichen Fehlverhaltens eine ganz entscheidende Aufgabe. Er muss besonders sorgfältig umrissen werden, um so die Abgrenzung zwischen Fälschung (dishonesty) und unvermeidbarem Irrtum (honest error) ebenso wie zwischen Plagiat und Parallelentdeckung vornehmen zu können.154 Dabei darf nicht verkannt werden, dass gerade die Wissenschaft eines weiteren Handlungsspielraums bedarf, um kühne und besonders innovative Herangehensweisen zu ermöglichen. Daraus wird vereinzelt abgeleitet, dass jenseits des vorsätzlichen Handelns nur grobe Fahrlässigkeit den subjektiven Tatbestand verwirklichen dürfe. Dem kann nicht zugestimmt werden. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, die von einem umsichtigen und gewissenhaften Teilnehmer des entsprechenden Verkehrskreises beachtet werden muss, in ungewöhnliche hohem Maße verletzt und dabei dasjenige unbeachtet gelassen hat, was im gegebenen Fall hätte einleuchten müssen, wobei auch subjektive, in der Person des Handelnden begründende Umstände zu berücksichtigen sind.155 Die Defi nition verdeutlicht bereits, dass die Haftungsreduktion auf grobe Fahrlässigkeit dem einzelnen Wissenschaftler einen sehr weiten Handlungsspielraum einräumt. Unter diesen Voraussetzungen könnte erst derjenige mit dem Vorwurf wissenschaftlichen Fehlverhaltens konfrontiert werden, der die Standards guter wissenschaftlicher Praxis „in ungewöhnlich hohem Maße verletzt“ und dabei das außer Acht lässt, was hätte „einleuchten“ müssen. Wenn es für den Betroffenen aber nahezu evident war, dass seine Forschungen nicht wissenschaftsadäquat betrieben wurden, sollte ihm das im Nachhinein nicht zum Vorteil gereichen. Andernfalls stünde zu befürchten, dass sich eine Kultur des risikolosen Forschens etabliert, in der sich Betroffene darauf zurückziehen, die dem Wissenschaftler immanente Sorgfalt „nur“ grob fahrlässig außer acht gelassen zu haben. 150
Vgl. Bund, FS Caemmerer (1978), 313 (327); Hartmann/Fuchs, WissR 36 (2003), 204 (219 f.) mit Beschränkung auf „grobe Fahrlässigkeit“. 151 Vgl. Apel, Verfahren und Institutionen zum Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (2009), S. 387. 152 So Laubinger, FS Krause (2006), 379 (383). 153 Vgl. BVerfGE 35, 79 (113); 90, 1 (12 f.); Wagner, NVwZ 1998, 1235 (1236); Apel, Verfahren und Institutionen zum Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (2009), S. 387. 154 Vgl. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1226). 155 Vgl. BGHZ 10, 14 (16 ff.); 89, 153 (161 f.); Deutsch, ZRP 2003, 159 (163).
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Dies verkürzt den in der Wissenschaft obligatorischen Forschungsspielraum auch nicht ungebührlich. Will der Forscher mit neuen Methoden einen Erkenntnisgewinn generieren, genügt es ihn von der Verantwortung für sein innovatives Vorgehen bis zur Grenze der Fahrlässigkeit freizustellen; darüber hinaus ist dies jedoch nicht erforderlich. Aus diesem Grund erscheint es auch nicht angebracht, die im Pressewesen entwickelte Differenzierungslösung, nach der die Verbreitung falscher Nachrichten nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit zu Konsequenzen führt,156 auf den Bereich der Wissenschaft zu übertragen.157 Zum einen gibt es im Bereich der Wissenschaft keine objektiv feststellbare Wahrheit, so dass wissenschaftliche Publikationen anders als bestimmte Veröffentlichungen im Pressewesen regelmäßig eine bloße Meinungsäußerung darstellen.158 Zum anderen bedarf die Wissenschaft keiner Haftungserleichterung, da sie – wiederum anders als aktuelle Pressmeldungen über das Tagesgeschehen – kaum zeitlichen Restriktionen unterliegt. Regelmäßig ist das Gegenteil der Fall: der Wissenschaft ist mehr gedient, wenn die Erkenntnisse später mitgeteilt, aber dafür hinreichend validiert wurden. Nach zutreffender Ansicht kann daher demjenigen, dessen Streben auf Erkenntnisgewinnung ausgerichtet ist, bereits dann ein Vorwurf gemacht werden, wenn er fahrlässig gehandelt hat.159
c) Beweislastverteilung Der Vorwurf des wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist nicht nur ehrenrührig, sondern auch in höchstem Maße geeignet, die Reputation des Betroffenen zu beschädigen.160 Unweigerlich stellt sich daher die Frage, wer und mit welchem Grad an Gewissheit den Nachweis für eine solche Behauptung anzutreten hat. Insbesondere die Beweisführung hinsichtlich des subjektiven Tatbestands bereitet in der Praxis – von besonders krassen Fällen abgesehen – immer wieder Schwierigkeiten.161 Diesbezüglich ist zwar, anders als Karl-Theodor zu Guttenberg glaubte, kein naturwissenschaftlicher Vollbeweis – den hinsichtlich des Vorliegens einer Täuschungsabsicht nur der Täter selber erbringen könnte – erforderlich,162 doch müssen die entscheidungserheblichen Fakten zumindest mit einem so hohen Wahrscheinlichkeitsgrad festgestellt werden, dass bei vernünftiger Überlegung jede andere als die vermutete Möglichkeit ausscheidet.163 Mit Blick auf die von Karl-Theodor zu Guttenberg vorgelegte Dissertati156 Vgl. BVerfGE 12, 113 (130); 114, 339 (355); BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2000 – 1 BvR 456/95 = NJW-RR 2000, 1209 (1211); BGHZ 132, 13 (24). 157 So aber Stegemann-Boehl, Fehlverhalten von Forschern (1994), S. 40. 158 Kritisch mit Blick auf diese früher h. M. Hager, in: Staudinger, BGB, 13. Aufl. (1999), § 823 Rn. C 82; offen gelassen in: BGHZ 65, 325 (330). 159 So wohl auch Bund, FS Caemmerer (1978), 313 (327); Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 33. 160 Vgl. LG Hamburg, Urteil vom 21. 01. 2011 – 324 O 358/10; Deutsch, ZRP 2003, 159 (163); Schulze-Fielitz, WissR 37 (2004), 100 (103). 161 So auch Stegemann-Boehl, WissR 29 (1996), 139 (146). 162 Vgl. BT-Protokoll vom 23. 02. 2011, 17. Wahlperiode, 92. Sitzung, S. 10367. 163 Vgl. Linke, WissR 32 (1999), 146 (168).
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on, die auf 371 von 393 Seiten (also 94,4 Prozent)164 Plagiatsfragmente aufweist, ist dies – wie der Abschlussbericht der Universität Bayreuth feststellt – völlig unzweifelhaft.165 In den weniger eindeutigen Fällen aber muss die Behörde den Beweis für das Vorliegen von objektivem und subjektivem Tatbestand mühsam ermitteln.166 Im Kern geht es um die Trennung von „ehrlichem Irrtum“ zu „schlampiger Arbeitsweise“ oder gar „vorsätzlicher Irreführung“.167 Erleichterung bringt nur der Beweis des ersten Anscheins:168 Spricht dieser „für das Vorliegen einer Regelverletzung oder des Täuschungsvorsatzes, so ist es Sache des Betroffenen, die Schlussfolgerung, auf der dieser Anschein beruht, zu entkräften.“169 Erst wenn ihm das gelingt, muss die Prüfungsbehörde den – von Karl-Theodor zu Guttenberg irrig in Spiel gebrachten – Vollbeweis antreten. Untersucht man die hierzu ergangene Rechtsprechung, stellt man fest, dass die Kreativität, die die Betroffenen nach ihrer Entdeckung regelmäßig aufwenden,170 um den ersten Anschein zu entkräften, besser in die Ausarbeitung ihrer wissenschaftlichen Abhandlung investiert worden wäre; hier wäre für ihren schier grenzenlosen Einfallsreichtum171 der passendere Ort gewesen. So bescheinigt Jürgen Kaube im Feuilleton der FAZ-Sonntagszeitung Karl Theodor zu Guttenberg in diesem Zusammenhang gar die Erfi ndung einer neuen Rechtsfigur, 164 Vgl. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Dissertation von Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, abruf bar unter: http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/GuttenPlag_Wiki (zuletzt abgerufen am 26. 06. 2011). 165 Vgl. Bericht der Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft der Universität Bayreuth (2011), S. 26, abruf bar unter: http://www.uni-bayreuth.de/presse/Aktuelle-Infos/2011/Bericht_der_Kom mission_m__Anlagen_10_5_2011_.pdf (zuletzt abgerufen am 19. 12. 2011); zu Guttenberg hält hingegen daran fest, nicht vorsätzlich getäuscht zu haben: „Ich bin nicht bereit, mir von einer Kommission, die noch nicht einmal mehrheitlich mit Juristen besetzt gewesen ist, eine rechtlich relevante vorsätzliche Täuschung vorwerfen zu lassen.“ (zitiert nach Vogel, Welt Kompakt vom 29. 11. 2011, Ausgabe 232). 166 Vgl. Krüper, SJZ 2011, 198 (204); Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (132); Linke, WissR 32 (1999), 146 (169). 167 Vgl. Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (127). 168 Vgl. Linke, WissR 32 (1999), 146 (168). 169 VG Karlsruhe, Urteil vom 23. 03. 2010 – 7 K 1873/09, Rn. 14 – juris. 170 So machte Karl-Theodor zu Guttenberg, Stellungnahme vom 22. 03. 2011, seine Mehrfachbelastung durch Beruf und Familie für die „unerkannten Plagiate“ verantwortlich, während Silvana KochMehrin, in ihrer Presseerklärung vom 18. 06. 2011 gar den Eindruck erwecken will, dass der Universität Heidelberg die Plagiate bekannt gewesen und die Bewertung ihrer Arbeit daher auch nur mit „cum laude“ ausgefallen wäre – abenteuerlich! 171 Vgl. VGH BW, Urteil vom 19. 04. 2000 – 9 S 2435/99, Rn. 24 – juris, wo der Betroffene die umfangreichen Plagiate wie folgt erklärte: „Er habe seine Dissertation zunächst im Entwurf auf Tonband diktiert und Quellenangaben weitgehend nur auf Karteikarten festgehalten. Die endgültige Fassung seiner Arbeit habe er dann – zum Teil wesentlich später – in einen Computer eingegeben, und zwar vielfach weiterhin noch ohne Quellenangaben. Bei mehreren Umzügen seien Teile der Computerfestplatte und die Sicherungsdiskette verloren gegangen, desgleichen die Karteikarten.“ Ähnlich die Erklärungen von Karl-Theodor zu Guttenberg, Die Zeit, Nr. 48, 24. 11. 2011: „[. . .] Später habe ich gewisse Textstellen auch mal aus dem Internet herausgezogen, auch diese abgespeichert, wieder auf unterschiedlichen Datenträgern. Eigentlich war das eine Patchworkarbeit, die sich am Ende auf mindestens 80 Datenträger verteilt hat. [. . .] Ich habe für jedes Kapitel eine Diskette angefertigt, ich habe unterschiedliche Ordner angelegt, ich habe über die Jahre hinweg auf vier unterschiedlichen Computern gearbeitet, die an unterschiedlichen Orten waren. Übersetzungen habe ich manchmal auf langen Flügen vorgenommen.“.
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die er nicht ganz ernst gemeint als „Bewusstlosigkeitsnachweis durch Unwahrscheinlichkeit der Tat“172 bezeichnet. Er nimmt damit Bezug auf Karl Theodor zu Guttenbergs jüngste Erklärungsversuche für sein wissenschaftliches Fehlverhalten; wörtlich lässt dieser in einem Interview über die Wochenzeitung „Die Zeit“ verlauten: „Wenn ich geschickt hätte täuschen wollen, hätte ich es vermieden, Textstellen so plump und so töricht in diese Arbeit zu übernehmen, dass sie sich für jeden betroffenen Autor sofort erschließen, der dann zum Beispiel einen Vergleich mit seinem Werk vornimmt, das im Literaturverzeichnis sogar benannt ist. Wer die ersten Zeilen seiner Einleitung komplett aus einem Zeitungsartikel abschreibt, dann aber gleichzeitig so doof ist, die Autorin dieses Textes im Literaturverzeichnis zu benennen, der handelt nicht absichtlich, sondern aus Überforderung und weil er den Überblick verloren hat!“173 Im Kern lautet sein Argument damit: „Wer eine Tat idiotisch begeht, kann, sofern es sich nicht um einen Idioten handelt, sie gar nicht begangen haben.“174 Wollte man dieser These folgen, müsste die Definition des Vorsatzbegriffs neu gefasst werden;175 denn wer auch anders täuschen kann, täuscht nicht, wenn er es nur plump und töricht genug macht. Vor diesem Hintergrund verwundert es daher nicht, dass die Gerichte die (teils abenteuerlichen) Einlassung oftmals als reine Schutzbehauptungen abtun.176
2. Beispiele wissenschaftlichen Fehlverhaltens a) Ehrenautorenschaften aa) Fachspezifi sche Konventionen Bei einer Publikationsbeteiligung jenseits der nachstehend skizzierten rechtlichen Rahmenbedingungen, die einen Bestandteil der Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis darstellen, spricht man von einer „Ehrenautorenschaft“.177 Schon der Name stellt eine unzulässige Verharmlosung des damit verbundenen wissenschaftlichen Fehlverhaltens dar;178 denn wissenschaftsrechtlich bilden Text und Autor eine Einheit. Nur in dieser Kombination können die niedergelegten Thesen zutreffend eingeordnet und von der Wissenschaftsgemeinde weiterentwickelt werden. Die Teilnahme an der Suche nach Erkenntnis mit fremden Ideen täuscht jedoch das Publikum über die wahre Identität des Urhebers und beschädigt dadurch das Wahrhaftigkeitsvertrauen der Wissenschaftsgemeinde in den auf Intersubjektivität beruhenden Diskurs.179 Vereinzelt wird ein solches Verhalten daher auch weit weniger honorig als „Hochstapelei“180 bezeichnet. 172
Jürgen Kaube, FAZ vom 25. 11. 2011, Nr. 275, S. 33. Karl Theodor zu Guttenberg, Die Zeit, Nr. 48, 24. 11. 2011. 174 Jürgen Kaube, FAZ vom 25. 11. 2011, Nr. 275, S. 33. 175 Ähnlich Jürgen Kaube, FAZ vom 25. 11. 2011, Nr. 275, S. 33. 176 Vgl. VG Münster, Urteil vom 20. 02. 2009 – 10 K 1212/07 – juris. 177 Vgl. Schulze-Fielitz, WissR 37 (2004), 100 (105); dazu auch: Großmann/Trute, Physik Journal 2 (2003), S. 3. 178 Vgl. Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 80. 179 So auch Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 80. 180 Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 3. Aufl. (2005), S. 132 Rn. 273. 173
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Trotzdem haben sich mittlerweile fachspezifische Konventionen herausgebildet, die es den „Respektspersonen“ immer wieder ermöglichen, ohne substantielle Beiträge an den Veröffentlichungen Anderer zu partizipieren.181 Wie perfide das System in manchen – insbesondere den empirisch forschenden Disziplinen – geworden ist, verdeutlicht nicht nur die Tatsache, dass es dort neunseitige Beiträge182 auf nicht weniger als 18 Koautoren gebracht haben (sollen), sondern auch der Umstand, dass die Max-Planck-Gesellschaft einen „Dechiffriercode“ bereit stellt, mit dem die jeweilige Beteiligung des einzelnen Autors in einer Autorenkette zielsicher bestimmt werden kann.183 Hiernach steht der Hauptautor an erster und der Arbeitsgruppenleiter an letzter Stelle. Bei gleichberechtigten Autoren soll – mit Blick auf den Citation-Index auch noch ungerecht –184 eine alphabetische Nennung erfolgen. Stehen zu dem gleichen Themenkomplex hingegen mehrere Veröffentlichungen an, wechseln Dyaden oder Triaden ihre Stellung innerhalb der Autorenzeile ab – so darf jeder einmal als Erstautor fungieren. Schließlich werden komplexere Zurechenbarkeiten in einer Fußnote, den so genannten Acknowledgements, genannt.185 Bei einem solch diffizilen System verwundert es nicht, dass kaum etwas zwischen den an einem Forschungsprojekt Beteiligten zu einer nachhaltigeren Animosität und Bitterkeit führen kann wie eine als unfair empfundene Autorenreihenfolge.186 Bedauerlicherweise scheint diese Art des oftmals fortgesetzten wissenschaftlichen Fehlverhaltens zwischenzeitlich auch die Buchwissenschaften erreicht zu haben. So werden auch hier die ersten Wissenschaftler verdächtigt, ihre Lehrstühle als „veritable Schreibwerkstätten“187 zu missbrauchen, „in denen eine Horde von Mitarbeitern am Fließband Aufsätze, Kommentierungen und ganze Bücher für den Lehrstuhlinhaber produziert.“188 Beinahe trügerisch wirkt die Tatsache, dass es in den Buchwissenschaften noch keinen „Dechiffriercode“ gibt, so dass man schnell an Einzelfälle glauben mag. Dabei könnte es um diese Disziplinen noch weit schlimmer stehen, wie der Fall verdeutlicht, über den die Wochenzeitschrift Die Zeit in ihrer Onlineausgabe vom 02. 12. 2011 unlängst berichtete.189 Plakativ wird dort der Vorwurf erhoben, dass der Lehrstuhlinhaber des Instituts für Berg-, Umwelt- und Europarecht der RWTH-Aachen nicht nur den Mitautor bei den von ihm gar nicht ausgearbeiteten Abhandlungen mime, sondern gleich als Alleinautor in Erscheinung trete. Wäre dies die Regel in den Buchwissenschaften, wäre ein komplexes System zur Entschlüsse-
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Vgl. Stegemann-Boehl, WissR 29 (1996), 139 (150). Vgl. bspw. Racz/Schürmann/Karpushova/Reuter/Cichon/Montag/Fürst/Schütz/Franke/Strohmaier/ Wienker/Terenius/Ösby/Gunnar/Maier/Bilkei-Gorzó/Nöthen/Zimmer, The opioid peptides enkephalin and ß-endorphin in alcohol addiction, Biological Psychiatry 64 (2008), S. 989–997. 183 Siehe hierzu: Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 54. 184 Kritisch auch: Stegemann-Boehl, WissR 29 (1996), 139 (151 mit Fn. 56). 185 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 54. 186 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 50. 187 Heinig/Möllers, FAZ vom 24. 03. 2011, Nr. 70, S. 8. 188 Heinig/Möllers, FAZ vom 24. 03. 2011, Nr. 70, S. 8. 189 Vgl. auch die Berichterstattung von Borrenkott, Aachener Nachrichten vom 02. 12. 2011, S. 6. 182
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lung der Autorenzeile obsolet; die eigentlichen Verfasser würden in der Autorenzeile erst gar nicht auftauchen. Die Schaffenskraft des in Rede stehenden Hochschullehrers an der RWTH Aachen ist in der Tat beachtlich, „fast übermenschlich und beneidenswert, wenn nicht verdächtig“190 wie die Wochenzeitung Die Zeit feststellt. Schließlich hat der Hochschullehrer binnen sieben Jahren das Handbuch Europarecht – das mit 9.000 Druckseiten wohl umfangreichste Werk eines Einzelautors in diesem Bereich – geschrieben und gleichzeitig noch die Zeit gefunden, in gut zwanzig Jahren 350 weitere Fachartikel zu publizieren.191 Nachdem an der Universität Bonn eine fast vierzigseitige Übereinstimmung einer vom Aachener Lehrstuhlinhaber betreuten Dissertationsschrift mit dem vorgenannten Handbuch Europarecht aufgedeckt wurde, bestätigte eine darauf hin eingerichtete Kommission zur Auf klärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der RWTH Aachen den von vielen Kollegen gehegten Verdacht: der Lehrstuhlinhaber übernahm die von seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern erstellten wissenschaftlichen Texte, ohne deren Autorenschaft anzugeben.192 Dass die RWTH Aachen diese Erkenntnis erst auf Nachfrage der Medien veröffentlichte, ist nach Aussagen der Hochschule auf die – diffamierende – Erklärung des Lehrstuhlinhabers zurückzuführen, dass „in den Rechtswissenschaften dieses Verfahren bei Hand- und Lehrbüchern übliche Praxis sei.“193 Warum er dann die Ablehnung der Dissertation empfahl, die in weiten Teilen mit seinem Handbuch übereinstimmte, statt sich – entsprechend der behaupteten Praxis – schützend vor seine Doktorandin zu stellen, ist bislang noch ungeklärt. Es deutet jedoch den Widerspruch an, der einer solch abenteuerlichen Erklärung – die eine Übernahme fremder Textpassagen ohne Angabe der wahren Autorenschaft als fachspezifische Konvention ausgeben will – innewohnt. Dass die RWTH Aachen, die selbst nicht über eine rechtswissenschaftliche Fakultät verfügt, dieser Behauptung nicht entgegengetreten ist, belegt hingegen, wie wenig über die diesbezüglich bestehenden rechtlichen Rahmenbedingung gerade auch auf Seiten der Wissenschaft bekannt ist. Ein kurzer Blick in diese Richtung kann daher nicht schaden.
bb) Rechtliche Rahmenbedingungen Die Beantwortung der Frage, wer bei einer wissenschaftlichen Publikation als Mitautor aufgeführt werden muss, hat der Gesetzgeber keineswegs offen gelassen oder aber ins Belieben der Beteiligten gestellt. § 70 Abs. 3 Satz 2 HG NRW knüpft die Mitautorenschaft ausdrücklich an einen eigenen wissenschaftlichen oder wesentlichen sonstigen Beitrag.194 Als Mitautor kommt folglich jeder in Betracht, „der zur 190
Horstkotte, ZeitOnline vom 02. 12. 2011. Vgl. Horstkotte, ZeitOnline vom 02. 12. 2011. 192 Vgl. Kanzler der RWTH Aachen, Stellungnahme zur Email vom 29. 11. 2011. 193 Kanzler der RWTH Aachen, Stellungnahme zur Email vom 29. 11. 2011. 194 Eine Auswertung aller übrigen 15 Landeshochschulgesetze belegt (Stand: Januar 2011) ähnliche Regelungen in: § 40 II HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 6 II 1 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 41 III BerlHG vom 13. 02. 2003; § 4 V 4 BbgHG vom 18. 12. 2008; § 76 HmbHG vom 18. 07. 2001; § 48 II 2 191
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Fragestellung, zum Forschungsplan oder zur Durchführung und Auswertung der Forschungsergebnisse sowie zum Entwurf oder zur kritischen inhaltlichen Überarbeitung des Manuskriptes beigetragen hat“195. All dies lässt sich problemlos unter das Tatbestandsmerkmal des „eigenen wissenschaftlichen Beitrags“ subsumieren. Anders verhält es sich hingegen bei der kritischen Durchsicht des Manuskripts und den darauf beruhenden Hinweisen. Sie lassen nicht automatisch einen Anspruch auf Mitautorenschaft entstehen;196 denn jedenfalls in den Universitäten gehört dies grundsätzlich zu den Dienstaufgaben der Hochschullehrer.197 Was hingegen unter einem „wesentlichen sonstigen Beitrag“ zu verstehen ist, scheint mancherorts nicht ganz klar zu sein. Oftmals wird dieser Terminus als Einladung verstanden, sich über die bloße Bereitstellung von Infrastruktur, Finanzmitteln oder gar – noch abenteuerlicher – aufgrund einer leitenden Funktion innerhalb der Forschungseinrichtung die Mitautorenschaft an Publikationen zu sichern,198 zu denen jenseits des vorstehend Genannten kein eigener substantieller Beitrag geleistet wurde. Unbestreitbar zählt die Bereitstellung von Infrastruktur oder Finanzmitteln zu „wesentlichen sonstigen Beiträgen“, ohne die die Wissenschaft dauerhaft kaum fortbestehen könnte. Daraus aber den Rückschluss ziehen zu wollen, dass der Gesetzgeber auch dem Wissenschaftsmäzen die Möglichkeit einer Mitautorenschaft verschaffen wollte, wäre verfehlt. In § 70 Abs. 3 Satz 3 HG NRW heißt es ausdrücklich, dass die Mitautorenschaft unter Kennzeichnung des jeweiligen Beitrags zu erfolgen hat.199 In diesem Lichte wird klar, dass diese Dinge hiervon wohl kaum umfasst sein können. Beispielhaft lassen sich hierunter Datensätze verstehen, die der Wissenschaftler seinen Kollegen zur Ausarbeitung eines neuen Beitrags überlässt. Auch wenn dieser dann an der konkreten Auswertung und Publikation nicht mitgewirkt hat, bildet sein Datensatz die Grundlage für die neuerliche Forschung, so dass sein Beitrag – anders als Finanzmittel oder Infrastrukturen – einen originären Wissenschaftsbezug aufweisen. HG M-V vom 25. 01. 2011; § 47 S. 4 SächsHG vom 10. 12. 2008; § 24 IV HG LSA vom 27. 07. 2010; § 57 III 2 ThürHG vom 01. 01. 2007; § 66 II 2 SaarlUG vom 26. 06. 2004. 195 Löwer, WissR 33 (2000), 219 (233). 196 Vgl. Leuze, GRUR 2006, 552 (555) zum Urheberrecht; Ottemann, Wissenschaftsbetrug und Strafrecht. Zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten in der Wissenschaft (2006), S. 58 ff., 63 ff. 197 Vgl. § 35 I 2 i. V. m. § 3 I 1 HG NRW: „Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“. Eine Auswertung aller übrigen 15 Landeshochschulgesetze belegt (Stand: Januar 2011) ähnliche Regelungen in: § 46 I i. V. m. § 2 I 7 HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 18 I i. V. m. Art. 2 II 1 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 99 I i. V. m. § 4 III 3 BerlHG vom 13. 02. 2003; § 40 I i. V. m. § 3 III 1 BbgHG vom 18. 12. 2008; § 16 I i. V. m. § 4 III BremHG vom 09. 05. 2007; § 12 I i. V. m. § 3 II I HmbHG vom 18. 07. 2001; § 61 I Nr. 2 HessHG vom 14. 12. 2009; § 57 I, III Nr. 3 i. V. m. § 3 II HG M-V vom 25. 01. 2011; § 24 I 1 i. V. m. § 3 I Nr. 3 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 48 I 1 i. V. m. § 2 I 4 RhlpHG vom 01. 09. 2010; § 67 I, III Nr. 5 i. V. m. § 5 II Nr. 2 SächsHG vom 10. 12. 2008; § 34 II Nr. 3 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 60 I 1 i. V. m. § 3 VI 2 HG SH vom 28. 02. 2007; § 76 I, II Nrn. 7, 8 i. V. m. § 5 III 2 ThürHG vom 01. 01. 2007; § 31 I i. V. m. §§ 5 I, 6 I SaarlUG vom 26. 06. 2004. 198 Auch Löwer, WissR 33 (2000), 219 (233) verweigert in diesen Fällen die Autorenschaft. 199 Eine Auswertung aller übrigen 15 Landeshochschulgesetze belegt (Stand: Januar 2011) ähnliche Regelungen in: § 40 II HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 6 II 1 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 41 III BerlHG vom 13. 02. 2003; § 4 V 4 BbgHG vom 18. 12. 2008; § 76 HmbHG vom 18. 07. 2001; § 48 II 2 HG M-V vom 25. 01. 2011; § 47 S. 4 SächsHG vom 10. 12. 2008; § 24 IV HG LSA vom 27. 07. 2010; § 57 III 2 ThürHG vom 01. 01. 2007; § 66 II 2 SaarlUG vom 26. 06. 2004.
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Die Frage der Autorenschaft beurteilt sich jedoch nicht nur nach dem jeweiligen Landeshochschulrecht, sondern weist darüber hinaus auch urheberrechtliche Fragestellungen auf. Soweit mehrere Personen an der Entstehung wissenschaftlicher Abhandlungen mitwirken, ist die Frage der Urheberschaft nach dem Schöpferprinzip des § 7 UrhG zu beurteilen.200 Als Miturheber kann danach nur bezeichnet werden, wer zu dem gemeinsamen Werk einen schöpferischen Beitrag leistet.201 Dieser muss nicht nur in der wissenschaftlichen Abhandlung seinen Niederschlag gefunden haben, sondern nach h. M. auch selbst Werkeigenschaft besitzen.202 Letzteres verlangt eine Abgrenzung zu Beiträgen, die aus einer Gehilfentätigkeit hervorgegangen sind. Solchen Beiträgen, die über das Geben von Anregungen oder Hinweisen bzw. das unselbständige Umarbeiten nach klaren Vorgaben des Auftraggebers und ohne eigenen Spielraum nicht hinausgehen, fehlt die Werkeigenschaft.203 Wer sich entgegen dieser Vorgaben als Mitautor einer Urheberschaft berühmt, handelt urheberrechtlich nicht nur „wissenschaftlich unseriös, sondern grob rechtswidrig“204. Die vorstehend gemachte Einschränkung auf die urheberrechtliche Perspektive deutet bereits auf das zu den hochschulgesetzlichen Regelungen bestehende Spannungsverhältnis hin. Anders als in § 70 Abs. 3 Satz 2 HG NRW angelegt, kann hier bei wissenschaftlichen Werken regelmäßig nur derjenige zum Mitautor avancieren, der sich an der textlichen Darstellung der Forschungsergebnisse beteiligt,205 während demjenigen, der andere wissenschaftliche Beiträge wie die Konzeption des Forschungsauf baus oder die Sammlung und Bereitstellung von Daten beisteuert, urheberrechtlich kein Anspruch zusteht, als Mitautor der Abhandlung aufgeführt zu werden.206 Das Landeshochschulgesetz geht hingegen über das Urheberrecht hinaus und schützt – jenseits des (formalen) Kriteriums der Texterstellung als Werk im Sinne einer persönlich geistigen Schöpfung – auch die der Publikation zu Grunde liegenden sonstigen wissenschaftlichen Beiträge, die so ihrem Entdecker zugeordnet werden sollen. Dieses Spannungsverhältnis wird noch durch prüfungsrechtliche Besonderheiten angereichert, wenn ihm eine Veröffentlichung zu Grunde liegt, die zugleich auch als Teil einer kumulativen Dissertation oder Habilitation eingereicht werden soll. Un200
Vgl. Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl. (1980), S. 186. Vgl. BGH, GRUR 1994, 39 (40); GRUR 1995, 47 (48 m. w. N.). 202 Vgl. BGH, GRUR 1963, 40 (41); GRUR 1994, 39 (40); GRUR 2003, 231 (233); Loewenheim, in: Schricker (Hrsg.), Urheberrechtskommentar, 3. Aufl. (2006), § 8 Rn. 4; Schulze, in: Dreier/Schulze (Hrsg.), Urheberrechtsgesetz Kommentar, 2. Aufl. (2006), § 8 Rn. 6; Dreyer, in: Dreyer/Kotthoff/Meckel (Hrsg.), Heidelberger Kommentar zum Urheberecht (2004), § 8 Rn. 15; Werner, BB 1982, 280 (280); Thielecke/v. Bechtolsheim, GRUR 2003, 754 (756); a. A.: Ahlberg, in: Möhring/Nicolini (Hrsg.), Urheberrechtsgesetz, 2. Aufl. (2000), § 8 Rn. 8 f. 203 Siehe hierzu: LG München I, ZUM 1999, 332 (337 f.); OLG Hamm, BeckRS 2006, 06870 S. 12; vgl. auch Thum, in: Wandtke/Bullinger (Hrsg.), Urheberrecht, 3. Aufl. (2009), § 8 Rn. 20, § 7 Rn. 14 f. 204 Leuze, GRUR 2006, 552 (555). 205 Vgl. Streiter, WissR 37 (2004), 309 (316); Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 83. 206 Vgl. Loewenheim, in: Schricker (Hrsg.), Urheberrechtskommentar, 3. Aufl. (2006), § 8 Rn. 4; Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 4. Aufl. (2007), Rn. 282; a. A.: Plett, Urheberschaft, Miturheberschaft und wissenschaftliches Gemeinschaftswerk (1984), S. 180 ff., 184, 210 (Mitwirkung hinsichtlich des Inhalts ausreichend). 201
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terstellt man, dass es in manchen Disziplinen bereits ein offenes Geheimnis ist,207 dass der Doktorand bzw. der Habilitand mit Blick auf die noch abzunehmende Dissertation oder die angestrebte Hochschullauf bahn mehr nolens als volens akzeptiert, dass er seinen akademischen Lehrer automatisch zum Miturheber bei den von ihm verfassten Abhandlungen machen muss,208 stellt sich die Frage, ob Abhandlungen, die jedenfalls auf dem Papier mindestens zwei Autoren aufweisen, überhaupt tauglich sind, um einen akademischen Doktorgrad zu erlangen, der ausweislich landesgesetzlicher Regelungen als Nachweis für die Befähigung zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten dient.209 Es dürfte jedenfalls unbestreitbar sein, dass bei einer als Monografie erstellten Dissertationsschrift bereits die Annahme als solche – zu Recht und mit dem Hinweis, dass es sich nicht um eine selbständig ausgearbeitete Schrift handelt – verweigert werden könnte, wenn diese gemeinsam mit weiteren Autoren verfasst worden wäre. Warum bei der kumulativen Dissertation anderen Anforderungen gelten sollen, bleibt unklar. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass hier gegen geltendes Prüfungsrecht verstoßen wird. Aber auch wenn man unterstellt, dass die Autorenschaft des akademischen Lehrers nicht nur auf einer erzwungenen Gefälligkeit, sondern vielmehr auf einer echten Gemeinschaftsarbeit zwischen ihm und seinem Doktoranden bzw. Habilitanden beruht, sollte die daraus resultierende Publikation nicht zur Erlangung eines akademischen Grades führen, der ad personam verliehen wird.210 Eine mit dem akademischen Lehrer oder aber – auch das entspricht dem aktuellen Zeitgeist – mit Kol legen ausgearbeitete Publikation kann somit nur dann noch als Prüfungsleistung anerkannt werden, wenn der „benannte Beitrag als individuelle Leistung deutlich abgrenzbar und bewertbar ist. Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen; bloße Erklärungen der Beteiligten genügen nicht.“211 Es ist folglich durchaus möglich – und soweit ersichtlich sogar die Regel – dass der Doktorand zur Erlangung des Doktorgrades im kumulativen Promotionsverfahren nicht einmal mehr eine einzige, selbständig ausgearbeitete und nur unter seinem Namen veröffentlichte Publikation nachweisen muss. Das mag diejenigen, deren Publikationsverzeichnis dadurch wie von Zauberhand länger wird, nicht stören, desavouiert aber den hohen wissenschaftlichen Anspruch der Promotion. Vor diesem Hintergrund bleibt es zunächst eine bloß rhetorische 207 So führt die freie Enzyklopädie Wikipedia, Kumulative Dissertation (zuletzt abgerufen am: 28. 06. 2011), als einen Nachteil dieser Verfahrensart auf, dass „unzulässigerweise viele Professoren ihre Mitarbeiter zwingen, den Namen des Professors mit auf die Veröffentlichung zu nehmen (in sehr eklatanten Fällen sogar nach vorne)“. 208 So Altenpohl, Der urheberrechtliche Schutz von Forschungsresultaten, (1987), S. 267; Leuze, Urheberrechte der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. (2003), S. 138. 209 Vgl. § 67 I HG NRW vom 31. 10. 2006; ähnliche Formulierungen enthalten (Stand: Januar 2011): § 38 II HG BW vom 01. 01. 2005; Art. 64 I 1 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 15 I BerlHG vom 13. 02. 2003; § 29 II BbgHG vom 18. 12. 2008; § 65 I BremHG vom 09. 05. 2007; § 70 I HmbHG vom 18. 07. 2001; § 24 I HessHG vom 14. 12. 2009; § 43 I HG M-V vom 25. 01. 2011; § 9 I 2 NdsHG vom 26. 02. 2007; § 18 III HG LSA vom 27. 07. 2010; § 54 I HG SH vom 28. 02. 2007; § 54 II ThürHG vom 01. 01. 2007; § 64 I SaarlUG vom 26. 06. 2004. 210 Die Gefahr, durch eine zu engmaschige Betreuung der Doktoranden der Dissertation den Charakter einer selbständigen Forschungsarbeit zu nehmen, sieht auch der Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 18. 211 Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (770).
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Frage, wie ein Beitrag, für den wissenschaftsrechtlich auch der Doktorvater, oder die Doktormutter die Verantwortung übernommen hat, prüfungsrechtlich anders als mit „summa cum laude“ bewertet werden soll.
cc) Hochschul-, Urheber- und Prüfungsrecht – (un)lösbare Zielkonflikte? Nachdem das Hochschulrecht jenseits der urheberrechtlich geschützten Darstellungsform auch „wesentliche sonstige Beiträge“ absichert, lässt sich das zwischen beiden Rechtsgebieten bestehende Spannungsverhältnis im Lichte der Standards guter wissenschaftlicher Praxis am ehesten dadurch lösen, dass bei jedem Gemeinschaftsbeitrag die jeweilige Leistung des einzelnen Autors – beispielsweise in einer Fußnote – dezidiert dargelegt wird. Dies hätte auch den Vorteil, dass die Beteiligten wie in § 70 Abs. 3 Satz 3 HG NRW gefordert, die wissenschaftsrechtliche Mitverantwortung in einem ihrem individuellen Beitrag entsprechenden Umfange übernehmen und nach außen kommunizieren könnten. Die Bereitstellung fi nanzieller Mittel oder herkömmlicher Infrastruktur stellt keinen wissenschaftlichen Beitrag im engeren Sinne dar; sie berechtigt daher allenfalls zur namentlichen Erwähnung in einer Fußnote oder den Acknowledgements. Ähnliches gilt für Personen, die dem Autor wertvolle Anregungen und Hinweise haben zukommen lassen. Jedenfalls im Bereich der Promotion gehört Letzteres, bezogen auf das die Promotion betreuenden Fakultätsmitglied, als Hilfe des Lehrers bei der freien Forschung des Schülers zu den Rechtspfl ichten 212, die im Rahmen einer Promotionsbetreuung bestehen.213 Insofern darf der Doktorand – sofern er Hilfe in Anspruch nehmen möchte – nicht einfach sich selbst überlassen werden. 214 Seine Anleitung, Beratung und die ihm anzubietende Hilfestellung muss vielmehr voraussetzungslos und ohne die Forderung erfolgen, als Mitautor bei etwaigen Publikationen aufgeführt zu werden. Würden der akademische Lehrer oder Dritte dennoch auf dieser Grundlage in die Autorenzeile übernommen, würde dies den Tatbestand des wissenschaftlichen Fehlverhaltens erfüllen. Urheberrechtlich fehlt es wegen der mangelnden Werkeigenschaft solcher Beiträge an einem entsprechenden Anspruch; Hochschulrechtlich ist die Aufnahme nicht geboten und im Ergebnis sogar dazu geeignet, die Wissenschaft über den wahren Autor zu täuschen,215 so dass die Abhandlung – im Lichte des bisherigen Wirkens der angeblichen Verfasser – möglicherweise falsch interpretiert wird. Der vornehmlich bei kumulativen Promotionsverfahren entstehende prüfungsrechtliche Konfl ikt wird dadurch jedoch noch nicht gelöst. Um den normativen Vorgaben gerecht zu werden, die den (dokumentierten) Nachweis zur Befähigung selbständigen wissenschaftlichen Arbeitens verlangen, sollte der Doktorand dazu angehalten werden, den von ihm in Angriff genommenen Beitrag so weit selbständig auszuarbeiten, bis er – angelangt an den Grenzen seiner geistigen Erkenntniskräfte 212 213 214 215
Vgl. KG Berlin, Urteil vom 29. 04. 1958 – 9 U 678/57. Vgl. Geck, Promotionsordnungen und Grundgesetz (1969), S. 35; Fertig, DVBl. 1960, 881 (885). So Fertig, DVBl. 1960, 881 (883). So auch Vögler, AJP/PJA 2000, 839 (844 f.).
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– keine Verbesserung mehr vornehmen kann. In diesem Zustand müsste seine Abhandlung dem Erst- und Zweitgutachter zur Bewertung vorgelegt werden, bevor diese ihre Anregungen geben und dadurch die Publikationstauglichkeit herstellen. Durch dieses gestufte Vorgehen könnten viele Spannungsfelder aufgelöst werden: Zum einen würde so hinreichend sichergestellt, dass die Bewertung sich allein an einem Arbeitsstand orientiert, der noch als selbständige wissenschaftliche Leistung des Doktoranden bezeichnet werden kann. Die Gefahr, dass die Gutachter im Zeitpunkt der Publikation kumulativer Dissertationsschriften – aufgrund ihrer häufig bestehenden Mitautorenschaft – realiter gar nicht anders können, als die jeweilige Abhandlung mit hohen Notenstufen zu bewerten, wenn sie nicht zugleich ihre eigene Fachexpertise in Frage stellen wollen, wäre dadurch weitgehend gebannt.216 Darüber hinaus würde auch das Problem der „Ehrenautorenschaft“ entschärft, da der Doktorand – nach dem Erhalt der Bewertung – in einer deutlich komfortableren Situation ist, um einer Forderung seines akademischen Lehrers nach Mitautorenschaft, die gegen die Standards guter wissenschaftlicher Praxis verstößt, entgegentreten zu können.217 Auf der anderen Seite könnten durch die vorgezogene Bewertung die zur Publikationsreife führenden Beiträge Dritter zielsicher bestimmt werden, so dass gerade auch dem Promotionsbetreuer die Möglichkeit eröffnet würde, sich ohne den Vorwurf die Mitautorenschaft allein durch seine Betreuungsstellung erlangt zu haben, mit einem die Koautorenschaft rechtfertigenden, substantiellen und vor allem klar abgrenzbaren Beitrag einzubringen. Aus diesen Gründen sollten Fakultäten das hier beschriebene, gestufte Annahmeverfahren für kumulative Promotionen durch eine satzungsrechtliche Regelung materiell-rechtlich absichern.
b) Nachträgliche Falsifikation Die nicht endend wollende Suche218 nach Erkenntnis ist für die Wissenschaft zugleich Segen und Fluch. Grund zur Sorge, dass der Wissenschaft im Allgemeinen oder ihren einzelnen Disziplinen im Speziellen in absehbarer Zeit die Themen aus216 Der Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 27 f. schlägt zur Lösung des Interessenkonfl ikts vor, dass etwaige Mitautoren einer Abhandlung nicht gleichzeitig auch als Gutachter im Promotionsverfahren auftreten; zwischen diesen beiden Rollen sollte klar getrennt werden. 217 Vgl. BGH, Urteil vom 21. 11. 1980 – I ZR 106/78 = JZ 1981, 281–292, in der ein Biologiestudent dem Hochschullehrer, nach Bekanntgabe der Bewertung seiner schriftlichen Examenshausarbeit, die Mitautorenschaft verweigerte und von einer Veröffentlichung seiner wissenschaftlichen Entdeckung – einer bisher unbekannten Calamitenspecies – absah. Eine gerichtliche Aufarbeitung wurde erforderlich, weil der Hochschullehrer dasselbe Thema von einem zweiten Studenten noch einmal bearbeiten und im Anschluss mit diesem gemeinsam veröffentlichen ließ. Auch wenn der BGH der „wissenschaftlichen Erkenntnis“ des Klägers den urheberrechtlichen Schutz wohl zu Recht versagte, hätte seine Klage unter dem Aspekt der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gem. § 826 BGB durchaus Erfolg haben können. 218 Vgl. BVerfGE 35, 79 (113); von Kutschera, Erkenntnistheorie (1972), S. 402; Bühl, Einführung in die Wissenschaftssoziologie (1974), S. 64; Ströker, Einführung in die Wissenschaftstheorie (1973), S. 78, 90; Popper, Logik der Forschung, 9. Aufl. (1989), S. 15; Patzelt, Sozialwissenschaftliche Forschungslogik (1986), S. 108; Stegmüller, Neue Wege der Wissenschaftsphilosophie (1980), S. 160; Linke, WissR 32 (1999), 146 (1150).
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gehen würden, besteht nicht. Insofern garantiert sie den Wissenschaftlern eine lebenslange Beschäftigungsmöglichkeit. Weit weniger segensreich mag es dem ein oder anderen vorkommen, dass in der Wissenschaft die Grenzen zwischen Validität und Falsifi kation nicht ein für alle Mal feststehen;219 vielmehr ist jede Erkenntnis nur vorläufiger Natur.220 Es ist gerade der Prozess des „trial and error“, der das Fundament eines jedweden Erkenntnisgewinns darstellt.221 Ohne kontinuierliche Skepsis auch gegenüber vermeintlich feststehenden Dogmen und dem damit verbundenen Risiko, sich durch alternative Herangehensweisen der Gefahr eines Irrtums auszusetzen, kann die Wissenschaft nicht voranschreiten.222 Gehören aber Versuch223 und Irrtum, Verifi kation aber vor allem auch die Falsifikation zu den Grundfesten der Wissenschaft,224 kann die lege artis erworbene, aber im fortschreitenden wissenschaftlichen Prozess als falsch erkannte „Wahrheit“ nicht ihre Desavouierung bedeuten. Die einmal redlich erworbenen Meriten verbleiben dem Wissenschaftler auch dann, wenn sich seine Annahmen als fehlerhaft erweisen.225 Auch er hat einen unschätzbaren Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt geleistet, da nun – durch die Falsifi kation – etwas mehr Licht ins Dunkle gebracht werden konnte und somit (bis zum Gegenbeweis) klar ist, wie die Dinge nicht sind. Im Ergebnis erfüllen daher Schlussfolgerungen, die methodisch einwandfrei und mit dem Anspruch entstanden sind, einen ernsthaften Versuch zur Ermittlung der Wahrheit zu unternehmen, auch bei ihrer nachträglichen Falsifi kation, nicht den Tatbestand des wissenschaftlichen Fehlverhaltens auf dessen Grundlage akademische Konsequenzen folgen müssten.226
c) Methodische Fehler Methodisches Vorgehen meint den systematischen und planmäßigen Erkenntnisgewinn und sichert damit den wissenschaftlichen Wert der Untersuchung. Dies bedeutet für die meisten Wissenschaftsdisziplinen, dass der Forschungsstand aufgearbeitet, die eigenen Grundannahmen mitgeteilt und daraus die Schlussfolgerungen gezogen werden müssen.227 Hierdurch sollen frühzeitig Widersprüche aufgedeckt und fehlerhafte Annahmen, die das Forschungsergebnis zu Nichte machen, vermieden werden. Zwar schützt die Wissenschaftsfreiheit jenseits davon auch unorthodoxe und intuitive Forschungsansätze,228 doch bedarf die hierauf basierende Erkenntnis – im Einklang mit den Standards guter wissenschaftlicher Praxis – schon einer hinrei219
Vgl. Roellecke, FS Schiedermair (2001), 491 (497). So auch Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule (1994), S. 80. 221 Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244); Muckel, GS Krüger (2001), 275 (278); Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1226). 222 Vgl. Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (131). 223 Vgl. BVerfGE 47, 327 (367); 90, 1 (12). 224 Vgl. Apel, Verfahren und Institutionen zum Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (2009), S. 387. 225 So auch Linke, WissR 32 (1999), 146 (150). 226 Vgl. BVerfGE 90, 1 (12); Linke, WissR 32 (1999), 146 (151). 227 Vgl. Pilniok, JuS 2009, 394 (394 ff.). 228 Vgl. BVerfGE 90, 1 (12); 35, 79 (113); 47, 327 (367); Muckel, GS Krüger (2001), 275 (287). 220
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chenden Begründung hinsichtlich des gewählten Forschungsansatzes. Damit wird dem Einzelnen, durch die Wahl innovativer Forschungsansätze jenseits der disziplineigenen Methodik, weit mehr abverlangt, als jenen Forschern, die Erkenntnis mittels der allgemein angewandten Methoden suchen. Er darf seine Erkenntnisse nicht isoliert von seiner Vorgehensweise veröffentlichen; denn in vielen Disziplinen lassen sich die Ergebnisse nur im Lichte ihrer Herleitung richtig verstehen und überprüfen. Ist aber bereits die Herleitung fehlerhaft, kann der Wissenschaft allein durch diese Feststellung ein längerer Diskurs über die Ergebnisse – und damit ein Umweg auf dem Pfad zur Erkenntnis – erspart werden. Unter die Kategorie der methodischen Fehlerhaftigkeit können aber auch solche Forschungen fallen, die zwar unter Beachtung der wissenschaftsspezifischen Methodik erfolgt sind, bei denen jedoch die Herangehensweise nicht (ausreichend) dokumentiert ist. Gerade dann, wenn mit konventionellen Methoden bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen wurden, kommt der Dokumentation des Forschungsprozesses eine besondere Bedeutung zu. Umso erstaunlicher ist es daher, dass sich Forschungsunterlagen in solchen Fällen oftmals als Chimäre erweisen und nicht mehr auffi ndbar sind, wenn sich das Experiment unter keinen Umständen von unabhängigen Dritten nachvollziehen lässt. Es sind aber keinesfalls die den Dokumentationspfl ichten besondere Beachtung zollenden Disziplinen der Medizin- oder Naturwissenschaft, die ein Monopol auf methodische Fehler hätten. Auch im Bereich der Geisteswissenschaften kommt es immer wieder zu solchen Fehlern. So werden gerne Fußnoten anderer Autoren übernommen, ohne dass diese zuvor verifiziert wurden (Reference Grabbing). Dies soll suggerieren, dass der Verfasser eine eigenständige Quellenarbeit durchgeführt und auf dieser Grundlage seine Schlussfolgerungen gezogen hat.229 Werden Quellen aber unreflektiert übernommen, fehlt es – unabhängig davon, ob die Quelle die Aussage belegt – an der eigenen geistigen Durchdringung, die das Zitieren der Quellen gerade versinnbildlicht. Möglicherweise wäre der Verfasser zu einer ganz anderen Schlussfolgerung gelangt, wenn er die Primärquelle im konkreten Textzusammenhang tatsächlich studiert hätte. Allzu deutlich wird das Problem, wenn es dadurch zu einem „Zitat-Weiterfresserschaden“230 kommt; ähnlich des beliebten Kinderspiels „Stille Post“ können durch das unreflektierte „Kettenabschreiben“231 schnell der Sinn verstellt und etwaige Fehler übernommen werden. Aber auch das partielle Unterdrücken von Forschungsergebnissen, welche die eigene These erschüttern könnten, stellt einen gravierenden methodischen Fehler dar.232 Wer etwas als Wahrheit erkennt, muss dies auch dann kommunizieren, wenn es seinen eigenen Überzeugungen widerspricht oder die eigene These falsifiziert; insoweit ist das Ethos der Wissenschaft universell.233 Handelt der Einzelne anders,
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Vgl. VG Münster, Urteil vom 20. 02. 2009 – 10 K 1212/07, Rn. 27 – juris. Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 30 f. 231 Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 30; dazu LG Hamburg, Urteil vom 21. 01. 2011 – 324 O 358/10. 232 So auch Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 22. 233 Vgl. Hartmann/Fuchs, WissR 36 (2003), 204 (217). 230
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hält er – durch die Unterdrückung gewonnener Erkenntnisse – den Wissenschaftsbetrieb unnötig auf.
d) Wissenschaftsplagiate Ursprünglich stammt der Begriff „Plagiat“ vom lateinischen „plagium“ – dem Menschenraub – ab.234 Nachdem dieses Phänomen durch die schwere Strafandrohung in der römischen Kaiserzeit und dem darauf folgenden christlich geprägten Mittelalter verschwand, wurde das Wort frei für den „Seelendiebstahl“ fremder Gedanken.235 Die unreferierte Übernahme fremder Gedanken ist damit kein Phänomen der Neuzeit. Jenseits des Urheberrechts, im Lichte der primären Aufgabe der Wissenschaft stellt sich jedoch die Frage nach dem Grund für die Einordnung des Plagiierens als wissenschaftliches Fehlverhalten; denn der Wissenschaftsbetrieb, der auf die Suche nach Erkenntnis ausgerichtet ist, wird hierdurch auf den ersten Blick nicht beeinträchtigt. Zwar fördert das bloße wiederholen fremder Thesen die Suche nach Erkenntnis nicht, es hält sie aber auch nicht auf. Handelt es sich wissenschaftsrechtlich also um „neutrales“ Verhalten, bedarf seine akademische Ahndung einer überzeugenden Begründung. Jenseits der Tatsache, dass das Plagiieren gegen die Standards guter wissenschaftlicher Praxis verstößt,236 stellt es auch die Glaubwürdigkeit wissenschaftlichen Arbeitens in höchstem Maße in Frage.237 Durch die Abkoppelung der plagiierten Erkenntnis vom ursprünglichen Autor und Werkzusammenhang ist es nicht mehr möglich, ihre genuine Herleitung – in Gestalt des Ausgangstextes – aufsuchen, befragen und prüfen zu können.238 Diese Nachprüfung markiert aber einen Wesenszug der Wissenschaft, der nicht zur Disposition des Einzelnen steht. Das Wissenschaftsplagiat verlangt daher zu Recht auch nach akademischen Konsequenzen. Nachdem Ursprung und Strafgrund des Plagiats feststehen, gilt es im Folgenden den Begriff zu schärfen. Richtigerweise wird man zwei Arten des Plagiats unterscheiden müssen: Das Wortlautplagiat verwendet Textteile „in allen Einzelheiten einschließlich der Interpunktion“239, ohne die fremde Autorenschaft in geeigneter Weise offen zu legen.240 Dabei reicht es zur ordnungsgemäßen Offenlegung nicht aus, wenn die zitierte Quelle als „Baueropfer-Referenz“241 in nicht näher zuzuordnenden Fußnoten oder aber nur im Literaturverzeichnis aufgeführt wurde.242 Sofern 234
Instruktiv: Kastner, NJW 1983, 1151 (1151 f.). Vgl. Kastner, NJW 1983, 1151 (1151). 236 Vgl. VG Darmstadt, Urteil vom 14. 04. 2011 – 3 K 899/10; Bay. VGH, Urteil vom 04. 04. 2006 – 7 BV 05.388 = BayVBl. 2007, 281 (281 ff.). 237 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 32. 238 So auch Krüper, ZJS 2011, 198 (199). 239 HessVGH, Beschluss vom 20. 06. 1989 – 6 UE 2779/88, Rn. 10 – juris. 240 So auch Pilniok, JuS 2009, 394 (395). 241 Lahusen, KJ 39 (2006), 398 (405). 242 Vgl. VGH BW, Urteil vom 19. 04. 2000 – 9 S 2435/99, Rn. 24 – juris; VG Frankfurt am Main, Urteil vom 23. 05. 2007 – 12 E 2262/05, Rn. 14 – juris; Schroeder, NVWBl. 2010, 176 (179); insofern zeigt sich Karl-Theodor zu Guttenberg in seinem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 24. 11. 235
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der Wortlaut wortwörtlich aus einer fremden Quelle übernommen wurde, ist dies nicht nur durch Anführungszeichen im Fließtext, sondern auch durch einen an das Schlusszeichen angefügten Fußnotenverweis deutlich zu machen. Demgegenüber liegt ein Inhaltsplagiat vor, wenn der Autor Gedanken Anderer durch Umstellung der Syntax, der Verwendung von Synonymen oder aber durch gezielte Auslassungen im Vergleich zum Originaltext leicht verfremdet oder paraphrasiert wiedergibt, ohne die Originalquelle zu referieren.243 Anders als beim Wortlautplagiat wird hier lediglich die Kernthese, eingekleidet und wiedergegeben in eigenen Worten, übernommen. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass eine Abgrenzung zwischen Inhaltsplagiat und Parallelentdeckung nicht immer randscharf möglich ist.244 So ist es nicht ungewöhnlich, dass zwei Bearbeiter desselben Themas den gleichen Gedanken haben.245 Kurios wird es allerdings, wenn die zeitlich vorgelagert publizierte Entdeckung des Einen kurze Zeit später in ähnlichen Worten von einem anderen Wissenschaftler veröffentlicht wird. Natürlich kann es solche Zufälle geben; gerade auch unter Berücksichtigung des Zeitrahmens, der zwischen Einreichung eines Manuskripts beim Verlag und seiner Publikation liegt. Erfolgt die Veröffentlichung beider Abhandlungen aber nicht unmittelbar nacheinander, könnte dem Verfasser der zweiten Publikation zumindest ein Sorgfaltsverstoß dahingehend angelastet werden, dass er kurz vor der Veröffentlichung seines Beitrags – als ihm die Druckfahnen übersandt wurden – keine erneute, vollständige Literaturauswertung vorgenommen hat,246 bei der er den Beitrag mit der korrespondierenden Entdeckung hätte fi nden und dann entsprechend referieren müssen. Auch wenn in einer solchen Situation „ein Rest an enttäuschtem Schöpferehrgeiz“247 zurückbleibt, darf das plötzliche Auftauchen desselben Gedankens in der Literatur nicht einfach unterschlagen werden. Vielmehr bietet es sich an, durch eine Neufassung einzelner Textpassagen die kritische Auseinandersetzung mit der gerade publizierten Entdeckung zu suchen und auf diese Weise der Erste zu sein, der das Thema kritisch und mit möglicherweise divergenter Schwerpunktsetzung behandelt.248 Wie schwierig die Abgrenzung zwischen Inhaltsplagiat und Parallelentdeckung in der Realität sein kann, verdeutlicht auch der von Wolfgang Zimmerling 1995 – in einem Standardwerk des Wissenschaftsrechts – veröffentlichte Text,249 der stark einer bereits 1988 von Manfred Baldus veröffentlichten Passage ähnelt,250 der dieser nachfolgend synoptisch gegenübergestellt wird: 2011 unbelehrbar: „Es ist schon ein Unterschied, ob man eine Stelle aus einem fremden Werk komplett übernimmt und den Autor dann nirgends auftauchen lässt oder ob man den Autor tatsächlich ins Literaturverzeichnis aufnimmt und ihn, wenn auch fehlerhaft, in den Fußnoten benennt. In diesem Fall haben Sie keine Täuschungsabsicht, sonst würden Sie den Autor doch gar nicht aufführen.“ 243 So auch LG Hamburg, Urteil vom 21. 01. 2011 – 324 O 358/10. 244 So auch Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1226). 245 Ähnlich Krüper, ZJS 2011, 198 (205). 246 A. A. Krüper, ZJS 2011, 198 (205), mit Blick auf die „unübersehbare Flut an Literatur“. 247 Krüper, ZJS 2011, 198 (205). 248 So auch Krüper, ZJS 2011, 198 (205). 249 Vgl. Zimmerling, Akademische Grade und Titel, 2. Aufl. (1995), Rn. 147; die Erstaufl age stammt aus dem Jahre 1990 und ist damit auch jünger als der Text von Baldus. 250 Vgl. Baldus, Jura 1988, 573 (574).
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„Früher wurde die Frage, ob ein Verzicht auf akademische Grade im allgemeinen und auf den Doktorgrad im besonderen möglich sei, im Schrifttum nur beiläufig erörtert. Schöner sowie Karpen meinen, dass der Graduierte den Grad oder das Recht zu seiner Führung aufgeben könne, weil die Graduierung nicht mit einer öffentlich-rechtlichen Pfl icht verbunden sei. Jellinek, Forsthoff, sowie Quaritsch halten zwar einen Verzicht auf den Ehrendoktor wegen dessen enger Verknüpfung mit dem Persönlichkeitsrecht für möglich, bestreiten aber die Verzichtbarkeit sonstiger akademischer Grade unter Hinweis auf den hierin enthaltenen Befähigungsund Leistungsnachweis.“251
„Der Verzicht auf akademische Grade im allgemeinen und insbesondere auf den Doktorgrad wird im Schrifttum nur beiläufig behandelt. Schöner sowie Karpen meinen, der Graduierte könne den Grad oder das Recht zu seiner Führung aufgeben, weil die Graduierung nicht mit einer öffentlich-rechtlichen Pfl icht verbunden sei. Jellinek, Forsthoff, sowie Quaritsch halten zwar einen Verzicht auf das Ehrendoktorat wegen dessen enger Verknüpfung mit dem Persönlichkeitsrecht für möglich, bestreiten aber die Verzichtbarkeit rite verliehener Grade unter Hinweis auf den hierin enthaltenen Befähigungs- und Leistungsnachweis.“252
Würde man die – auch in erster Auflage – erst später erschienene Passage von Wolfgang Zimmerling nicht als Parallelentdeckung, sondern als Inhaltsplagiat einordnen, hielte er auch ein Beispiel für eine „Bauernopfer-Referenz“253 bereit, indem er den zuvor plagiierten Manfred Baldus am Ende der Randnummer namentlich erwähnt und dann in seiner Fußnote 148 ganz allgemein auf dessen Beitrag – allerdings ohne korrekte Fundstelle der fast wortgleichen Textpassage – verweist. Um dem Plagiatsvorwurf zu entgehen ist daher nicht nur eine umfangreiche Literaturrecherche, sondern auch „größte Genauigkeit beim Zitieren“254 zu verlangen: „Handwerk und Kunst des Zitierens [. . .] sind hohen Anforderungen der Wahrheit ausgesetzt“255. Als Peter Häberle dies notierte, konnte er noch nicht ahnen, dass KarlTheodor zu Guttenberg, sein wohl prominentester Doktorand, sich diese Tugend nicht zu Eigen machen würde. Seither ist die Sensibilität in der Wissenschaftsgemeinschaft deutlich gestiegen. So fühlte sich jüngst Julian Krüper genötigt, in seiner Fußnote 28 darauf hinzuweisen, dass er die damit belegte Erkenntnis einem Kollegen verdanke.256 Ein normaler Vorgang? Mit Nichten, denn einen Literaturnachweis sucht man vergebens. Offenbar bezieht er sich auf ein Gespräch unter Kollegen, in dem dieser Gedankengang entwickelt wurde. Es gehört aber gerade zur Intersubjektivität der Wissenschaft,257 dass Ansichten ausgetauscht werden. Was aber im Diskurs entwickelt wird, bedarf grundsätzlich keines Nachweises. Er ist auch überflüssig, weil er die klassische Funktion der Referenzierung – die der Autor im gleichen Beitrag selbst darlegt – nicht erfüllen kann; nur eine Fundstelle in der Literatur ermöglicht es dem Leser, „zu den Quellen zu ziehen, um den Urheber eines Gedankens selbst in Gestalt 251
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Zimmerling, Akademische Grade und Titel, 2. Aufl. (1995), Rn. 147. Baldus, Jura 1988, 573 (574). 253 Lahusen, Kritische Justiz 39 (2006), 398 (405). 254 Häberle, FS Schmitt Glaeser (2003), 395 (396). 255 Häberle, FS Schmitt Glaeser (2003), 395 (396). 256 Vgl. Krüper, ZJS 2011, 198 (201). 257 Siehe hierzu Kapitel B.II.4; vgl. auch Krüper, ZJS 2011, 198 (203); Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 68. 252
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seines Textes aufzusuchen, befragen und prüfen zu können.“258 Dies mag man möglicherweise anders beurteilen und als Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit verstehen, wenn es sich um eine ganz brilliante Entdeckung handelt. Jenseits dieser Kategorie zeigt es jedoch, wie nervös die Wissenschaftsgemeinde mittlerweile möglicherweise ist – scheinbar gilt das Motto: lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zitieren.
II. Ursachenforschung 1. Ökonomisierung der Wissenschaft Die moderne Wissenschaft zeichnet sich durch eine zunehmende Ökonomisierung aus.259 Wissen wird in diesem Kontext immer häufiger zu einer Handelsware degradiert, deren rechtzeitige Platzierung am Markt Vorrang vor einer zeitaufwendigen holistischen Untersuchung und Validierung genießt.260 Im Zentrum vieler Forschungsbemühungen stehen damit immer häufiger kurzfristige, ökonomische, technische oder politische Verwertbarkeitsinteressen.261 In ökonomischen Kategorien gesprochen, kann dadurch schnell eine „cheapest practice“ an die Stelle der „best practice“ treten.262 Dieser Wandel beeinflusst die Wissenschaft auf zwei Arten: Zum einen droht unter der Effizienzdoktrin das personelle Leitbild der Wissenschaft – das allein auf Wissenschaftshonoratioren, die einzig dem Erkenntnisprozess verpfl ichtet und frei von monetären Interessen sind –263 aus den Angeln zu geraten. Die Ökonomisierung würde dann die Orientierung der Wissenschaft verändern. Zum anderen drohen die Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde immer mehr zu Berufsträgern zu „verkommen“.264 Die fortschreitende betriebliche Organisation der Forschung lässt regelrechte Karrierepfade und mit diesen auch gefährliche Abhängigkeiten entstehen.265 Solche Abhängigkeiten, denen sich insbesondere Nachwuchswissenschaftler ausgesetzt sehen, können wissenschaftliches Fehlverhalten fördern.266 Das in einem solche Umfeld zwischen Schüler und Lehrer unweigerlich bestehende Macht- und Erfahrungsgefälle kann einem unbefangenen wissenschaftlichen Diskurs entgegenstehen und zur 258
Krüper, ZJS 2011, 198 (199). Vgl. Erhardt, WissR 32 (1999), 1 (1 ff.); Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227); kritisch Hartmann/Fuchs, WissR 36 (2003), 204 (213); Weingart, Die Stunde der Wahrheit (2001), S. 230; ähnlich Geis, Die Verwaltung 33 (2000), 563 (563). 260 Vgl. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227). 261 So Schulze-Fielitz, WissR 37 (2004), 100 (122). 262 Vgl. Seidler, WissR 32 (1999), 261 (266). 263 Vgl. Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (127). 264 So auch Katzenberger, GRUR 1984, 319 (319); Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 29: „Verberufl ichung“ der Wissenschaft. 265 Dies betonen auch: Ottemann, Wissenschaftsbetrug und Strafrecht. Zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten in der Wissenschaft (2006), S. 44; Finetti/Himmelrath, Der Sündenfall. Betrug und Fälschung in der deutschen Wissenschaft (1999), S. 166, die darauf hinweisen, dass Nachwuchswissenschaftler, die sich lange Zeit „zwischen Lehrstuhl und Sozialhilfe“ bewegen, bestärkt werden, Daten zu manipulieren. 266 Vgl. Katzenberger, GRUR 1984, 319 (319); Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227). 259
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Etablierung eines Herrschaftssystems führen,267 das die Grundfeste der Wissenschaft – Skeptizismus und Autonomie – ins Wanken bringt. Die eigentliche Gefahr für die Wissenschaftsautonomie bestünde dann nicht im oft befürchteten staatlichen Eingriff von außen, sondern vielmehr in der im Inneren bestehenden wirtschaftlichen und persönlichen Abhängigkeit. Die Ökonomisierung der Wissenschaft dürfte somit nicht nur eine der Ursachen für wissenschaftliches Fehlverhalten sein,268 sondern dessen Offenlegung – wegen den damit für die persönliche Karriere verbundenen Konsequenzen –269 deutlich erschweren.
2. Forschungsförderung und Wissenschaftsorganisation Wissenschaft ist ein kostspieliges Unterfangen und ihre Finanzierung eine wesentliche Komponente ihrer Verwirklichung.270 Insoweit ist das den Forschungseinrichtungen – durch politische Sparzwänge – aufoktroyierte Kostenbewusstsein eine positive Errungenschaft der modernen Wissenschaft, die in der Vergangenheit nur allzu oft getreu dem Motto „das Geld kommt aus der Steckdose“271 handelte. Die ökonomische Ressourcenallokation führt in der Wissenschaft aber auch zunehmend zur Einwerbung (semi-)privater Drittmittel,272 die an bestimmte Projektstudien gebunden sind.273 Dies wiederum kann die Entstehung wissenschaftlichen Fehlverhaltens auf zwei Arten begünstigen: Erstens lastet auf den Wissenschaftlern, die in ein drittmittelfi nanziertes Forschungsprojekt eingebunden sind, ein enormer Druck verwertbare Ergebnisse zu generieren.274 Wissenschaft ist aber nicht bis ins letzte Detail planbar,275 so dass am Ende des Erkenntnisprozesses möglicherweise ein Ergebnis steht, das den auftraggeberbezogenen Nützlichkeitskriterien nicht entspricht.276 Auf der anderen Seite ist es aber gerade der kurzfristige Projekterfolg, der oftmals über die Fortexistenz von 267
Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001),
S. 29. 268
So auch Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (129). Vgl. Muckel, GS Krüger (2001), 275 (278). 270 Vgl. Blankennagel, AöR 2000, 70 (80); Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 29. 271 Seidler, WissR 32 (1999), 261 (261). 272 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 464, der bereits von „parafi skalischen Hauhalten“ spricht, deren Mittel in den Hochschulen ohne parlamentarische Bewilligung und Kontrolle zum Einsatz gebracht werden. Laut dem Tagesspiegel vom 20. 10. 2011, Ausgabe 21131, S. 30 hat allein die Deutsche Forschungsgesellschaft im Jahr 2010 Forschungsmittel in Höhe von 2,3 Milliarden Euro verteilt. 273 Vgl. Frasch, FAZ vom 29. 10. 2011, Nr. 252, S. 4: „Im Jahr 2009 warben die Professoren an deutschen Universitäten (einschließlich medizinischer Einrichtungen) im Durchschnitt Drittmittel in Höhe von 240400 Euro ein. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden waren dies 8,9 Prozent mehr als im Vorjahr.“ 274 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 30; ähnlich Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 489, der von einer drittmittelfi nanzierten Bindung des Forschers an den privaten Geldgeber und der damit verbundenen Gefahr des Verlustes der Unabhängigkeit spricht. 275 So auch Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 469. 276 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 477. 269
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Arbeitsgruppen entscheidet.277 Das Schönen von Ergebnissen ist dann allein dem Selbsterhaltungstrieb geschuldet, dem sich auch der altruistischste Forscher letztlich nicht dauerhaft entziehen kann. Eine wissenschaftsadäquate Ausbildung junger Nachwuchswissenschaftler bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie das Vorleben der Standards guter wissenschaftlicher Praxis. Zweitens verlangt die Vergabe von Drittmitteln nach einer Begutachtung der eingereichten Forschungsanträge durch andere Wissenschaftler. Der korrekt durchgeführte Review278 kann zwar eine leistungsstarke Wissenschaft gewährleisten, bringt aber seinerseits neue Probleme mit sich, die wissenschaftlichem Fehlverhalten Vorschub leisten können.279 So verlangt die Gutachtertätigkeit dem Imperativ der selbstlosen Fairness zwingenden Gehorsam ab.280 Eine wissenschaftliche oder wirtschaftliche Ausbeutung der zu begutachtenden Erkenntnisse oder deren Weitergabe an Dritte ist als Wissenschaftsspionage strengstens verboten; 281 mag die Versuchung von den verbotenen Früchten (Anderer) zu kosten auch noch so groß sein. Viel problematischer ist aber, dass sich das Reviewverfahren als innovationsfeindlich erweisen kann. Allzu oft kam in der Wissenschaft schon manch geniale Erkenntnis zunächst eher als „hässliches Entlein“ denn als „schöner Schwan“ daher. Bedauerlich nur, wenn der Gutachter – ohne dass der Begutachtete die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Revisionsinstanz geltend machen könnte – die Genialität des Forschungsansatzes verkennt.282 Das Spannungsfeld zwischen der Forschung und ihrer Finanzierung kann daher nur entschärft werden, solange der Staat eine voraussetzungslose, ergebnisoffene283 und damit freiheitssichernde Finanzierung aufrecht erhält und so eine Balance herstellt zwischen Auftragsforschung und voraussetzungsloser Wahrheitssuche.284 Doch selbst, wenn dies gewährleistet wäre, können die Einwerbung von Drittmitteln und das damit verbundene Reviewsystem den Boden für wissenschaftliches Fehlverhalten bereiten.
277 278
Vgl. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227). Kritisch zur Funktionsfähigkeit des DFG-Reviewverfahrens: Blankennagel, AöR 2000, 70
(107). 279
So auch Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 100; Apel, Verfahren und Institutionen zum Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens (2009), S. 386. 280 Vgl. Stegemann-Boehl, WissR 29 (1996), 139 (152); Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 29; kritisch zur Gutachtertätigkeit: Blankennagel, AöR 2000, 70 (107 f.). 281 Vgl. Ottemann, Wissenschaftsbetrug und Strafrecht. Zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten in der Wissenschaft (2006), S. 147 mit Blick auf § 106 UrhG; Streiter, WissR 37 (2004), 309 (313); Stegemann-Boehl, WissR 29 (1996), 139 (152). 282 Siehe hierzu: Campanario, Social Studies of Science 24 (1994), 419; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 305. 283 Vgl. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung (1993), S. 46, der insbesondere die wissenschaftliche Selbstverwaltung (Autonomie) gefährdet sieht. 284 Vgl. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 473.
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3. Kategorisierungsmodelle und Output als Forschungsindikator Die Forschungsstärke eines Wissenschaftlers wird heute oftmals über ein Kategorisierungsmodell oder aber die bloße Länge seiner Publikationsliste gemessen. Innerhalb des ersten Ansatzes gibt es dafür zwei Instrumente:285 Der „Science Citation Index“ erfasst, wie oft der Autor in wissenschaftlichen Publikationen zitiert wird.286 Dagegen soll der „Journal Impact Factor“ Aufschluss darüber geben, wie gehaltvoll die Forschung des Wissenschaftlers ist, indem überprüft wird, wie oft andere Zeitschriften Artikel aus der Fachzeitschrift, in der der Wissenschaftler publiziert hat, in Relation zur Gesamtzahl der dort veröffentlichten Artikel zitieren; Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor gelten als besonders renommiert und werden daher als „A+Journal“ bezeichnet. Offenkundig ist das System dem Versuch geschuldet, Wissenschaft messbar und Forscher vergleichbar zu machen. Genau dies aber kann so nicht zielsicher gelingen.287 Die Reputation eines Wissenschaftlers darf gerade nicht allein von bibliometrischen Daten abhängig gemacht werden. Ihre Aussagefähigkeit ist begrenzt und kann keinesfalls die dem Wissenschaftler ureigenste Aufgabe ersetzen, die Publikationen seiner Mitstreiter einer selbständigen substantiellen Begutachtung zu unterziehen.288 Wer die Selbstbestimmung der Wissenschaft erhalten will, darf sich in Fragen der Qualität eines Beitrags nicht – auch nicht von anderen Wissenschaftlern, die das Ranking eines Journals in den hierzu stattfindenden Umfragen mit beeinflussen – fremdbestimmen lassen. Der wissenschaftliche Wert einer Abhandlung muss unabhängig von der Kategorisierung des Mediums, in dem sie publiziert wurde, selbständig festgestellt werden. Dies gilt umso mehr, als der Verdacht besteht, dass auch bei den Fachzeitschriften mit hohem Impact Factor die Grenze zwischen Peer Review und Buddy System „bekanntlich ausgesprochen verwaschen“289 ist; denn in dem Fall sagt die Publikation in einem „A+Journal“ nichts darüber aus, ob der Aufsatz auch tatsächlich von außerordentlicher Güte ist. Kategorisierungen dieser Art können darüber hinaus dazu führen, dass der gesunde Skeptizismus des Wissenschaftlers abhanden kommt; frei nach dem Motto: wenn es in einer hoch gerankten Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, muss es stimmen. Ein so unkritischer Rückschluss erinnert an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen, bei dem erst ein (unwissendes) Kind das aussprach, was niemand zuvor wagte: der Kaiser war nackt. 285 Vgl. Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227); Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 29. 286 Siehe hierzu: Seglen, in: Weingart/Sehringer/Winterhager (Hrsg.), Indikatoren der Wissenschaft und Technik. Theorie, Methoden, Anwendungen (1991), S. 72–90. 287 So auch Seidler, in: Hailbronner/Geis (Hrsg.), HRG (Stand: 34. EL Juli 2011), § 6 Rn. 27, der darauf hinweist, dass der Citation Index zwar eine gewisse Relevanz widerspiegelt, aber auch zu dem Trugschluss führen kann, dass die Summe der Veröffentlichungen und der daraus resultierenden Zitate bereits Qualität sei. Ähnlich: Schiel, in: Flämig et al. (Hrsg.), Die Rolle der Forschung in wissenschaftlichen Hochschulen, Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung, Beiheft 7 (1979), S. 102 ff. 288 So auch Löwer, WissR 33 (2000), 219 (235). 289 Blankennagel, AöR 2000, 70 (78).
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Gleichfalls zum Scheitern verurteilt ist eine Leistungsmessung einzelner Wissenschaftler allein auf der Grundlage ihres quantitativen Forschungsoutputs,290 mithin also der Länge ihrer Publikationsliste. In einem System, das dieses Kriterium zum entscheidenden Anknüpfungspunkt im Wettstreit um die Vergabe von Drittmitteln oder der Besetzung von Lehrstühlen macht, droht Quantität vor Qualität zu gehen.291 Als Folge einer solchen Politik könnte die Publikation von nicht hinreichend validierten Erkenntnissen oder von Abhandlungen, die nicht vollständig durchdacht sind, drohen. Die Förderung der fachlich besten Wissenschaftler kann so hingegen nicht unbedingt gewährleistet werden. Im Ergebnis zeigt sich, dass Kategorisierungsmodelle und quantitative Untersuchungen keine probaten Mittel zur Feststellung der Forschungsstärke eines Wissenschaftlers sind. Analysetools, welche in ihrer Abstraktion die unterschiedliche Komplexität der Themenstellungen und Beiträge vernachlässigen, setzen die falschen Schwerpunkte und verzerren so die Wahrnehmung einzelner Wissenschaftler. Die Bewertung ihrer Forschung sollte Einzelfallbezogen erfolgen. Hierzu wäre es aber zwingend erforderlich, wieder mehr zu lesen und weniger zu zählen.292
4. Interdisziplinäre Forschung Die Universität – als Ort wissenschaftlicher Erkenntnis – verstand sich früher als lose Assoziation brillanter Wissenschaftler, die im Austausch für die zur Verfügung gestellte Infrastruktur ihre wissenschaftliche Expertise und den damit verbundenen Reputationsgewinn zur Verfügung stellten.293 Hochschulen waren somit individualzentrierte Wissenschaftsbetriebe,294 welche die Forschung als zuvörderst höchstpersönliche Pfl icht des Einzelnen ansahen. Mit Beginn der Moderne hat die Wissenschaft jedoch die „stillen Kammern einsamer Gelehrsamkeit“295 verlassen; schon Gottfried Wilhelm Leibniz konstatierte zu Beginn des 18. Jahrhunderts, dass ihm die besten Einsichten im Gespräch mit anderen kämen und ihm als isoliert denkendem Individuum nichts einfiele.296 Das hierin zum Ausdruck gebrachte Bedürfnis nach Intersubjektivität besteht auch noch heute.297 Private Entdeckungen gibt es nicht, sie werden auch von der hiesigen Rechtsordnung nicht geschützt.298 Es sind das natürliche Recht und die der Wissenschafts290
So auch Ottemann, Wissenschaftsbetrug und Strafrecht. Zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten in der Wissenschaft (2006), S. 45. 291 Vgl. Groß, WissR 35 (2002), 313 (327); Seidler, in Hailbronner/Geis (Hrsg.), HRG (Stand: 34. EL Juli 2011), § 6 Rn. 26 ff. 292 So auch Seidler, WissR 32 (1999), 261 (265); Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (135). 293 Vgl. F. Kirchhof, JZ 1998, 275 (281). 294 Vgl. Groß, WissR 35 (2002), 313 (316). 295 Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 42. 296 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 42. 297 Vgl. Störig, Kleine Welt der Wissenschaft, 3. Aufl. (1965, Nachdruck 2007), S. 19; Krüper, ZJS 2011, 198 (203); Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1994), S. 68. 298 Vgl. BGH, Urteil vom 21. 11. 1980 – I ZR 106/78, Abs.-Nr. 19 – juris: „[. . .] weder die vom
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gemeinde zuvörderst obliegende Pfl icht, die im Diskurs stehenden Erkenntnisse als valide zu bestätigen oder als unwahr zu falsifizieren. Der kommunikative und voraussetzungslose Austausch der Wissenschaftler spielt damit eine entscheidende Rolle. Dieser Austausch hat in jüngster Zeit auch zunehmend die Aufnahme interdisziplinärer Forschungsvorhaben begünstigt,299 die sich der Bewältigung komplexer Wissenschaftsprojekte widmen.300 Hier kommt es immer häufiger zu einer arbeitsteiligen Forschung: Das Projekt wird in verschiedene Teile untergliedert, die der einzelne Wissenschaftler in alleiniger Verantwortung bearbeiten muss. Eine nähere Abstimmung fi ndet dabei regelmäßig nur hinsichtlich der Methodenwahl oder der grundsätzlichen Vorgehensweise statt. Am Ende werden die einzelnen Bausteine dann – bestenfalls gemeinsam – zusammengeführt. Bei einer solchen Kooperation ist es sicherlich nicht erforderlich, dass jeder Beteiligte die Ergebnisse seiner Forschungspartner vollständig nachvollzieht; schließlich verlangt man auch sonst nicht, dass jede Begründungskette, auf die eine spätere Forschung auf baut, bis an deren Ursprung zurückverfolgt wird.301 Die Einbindung fachfremder Forschungsdisziplinen birgt jedoch die Gefahr, dass an die Stelle von wissenschaftlichem Skeptizismus blindes Vertrauen in die Richtigkeit der vom Forschungspartner übernommenen Daten tritt.302 Ohne Grundkenntnisse über die Disziplin der anderen involvierten Wissenschaftler bleibt dem Einzelnen auch nicht viel übrig, will er den durch die Arbeitsteilung erzielten Effi zienzvorteil nicht durch kritisches hinterfragen jedes einzelnen Forschungsteils wieder zu Nichte machen. Die Wahrscheinlichkeit der unkritischen Ergebnisübernahme ist noch größer, wenn das Verhältnis der Gruppenmitglieder nicht nur durch Kooperation und Sachkompetenz, sondern auch durch weisungsbezogene Abhängigkeit geprägt ist.303 In einer solchen Situation dürfte die Gefahr, im Nachhinein mit dem Vorwurf des wissenschaftlichen Fehlverhaltens konfrontiert zu werden, deutlich höher als bei Projekten sein, die nicht interdisziplinär durchgeführt werden. Es ist daher ratsam, in solchen Beiträgen unmissverständlich klarzustellen, welcher Autor für welchen Teil der Abhandlung die wissenschaftliche Verantwortung trägt. Ohne eine solche ZuKläger hergestellten Präparate, noch die präparative Auffi ndung der strukturbietend erhaltenen, zugleich berindeten, beblätterten und verzweigten Calamitensprossachsen in Torfdolomiten aus dem Namur C des Ruhrgebiets [sind] urheberrechtlich geschützt [. . .]. Dies ist deshalb nicht der Fall, weil diese Arbeiten nicht das Schriftwerk sind; auch die Aufnahme der Ergebnisse der Arbeiten in ein Schriftwerk kann nur für die Art und Form der Darstellung, dagegen nicht für das wissenschaftliche Ergebnis als solches Urheberrechtsschutz begründen.“ 299 Vgl. Hoffmann-Riem, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, Die Verwaltung, Beiheft 2 (1999), 83 (101). 300 Vgl. Plett, Urheberschaft – Miturheberschaft und wissenschaftliches Gemeinschaftswerk (1984), S. 3 ff.; Kreiblich, Die Wissenschaftsgesellschaft (1986), S. 361; Weibel, in: Schuster (Hrsg.): Die Rolle der Forschung in wissenschaftlichen Hochschulen (1979), S. 27 (31); Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule (1994), S. 87. 301 So auch Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule (1994), S. 87. 302 So auch Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft (2001), S. 38; Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1225 (1227). 303 Vgl. Bühl, Einführung in die Wissenschaftssoziologie (1974), S. 25; Meusel, WissR 17 (1984), 15 (23).
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ordnung muss aus dem arbeitsteiligen Vorgehen der Rückschluss gezogen werden, dass jeder Wissenschaftler – gleich einem Gesamtschuldner – die volle Verantwortung für die auch unter seinem Namen publizierten Erkenntnisse übernimmt. Kann der Einzelne aber – schon mangels Fachexpertise304 – die Verantwortung für einen Teil der publizierten Erkenntnisse tatsächlich nicht übernehmen, sollte er sich diese auch nicht zu Eigen machen. Andernfalls riskiert er, den durch die Arbeitsteilung erzielten Effizienzvorteil, durch die Möglichkeit sich für wissenschaftliches Fehlverhalten eines anderen Beteiligten mitverantworten zu müssen, so zu teuer erkauft zu haben.
C. Akademische Konsequenzen und Absicherung guter wissenschaftlicher Praxis I. Bedürfnis nach Prävention Die präventive Absicherung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis ist bislang nicht hinreichend diskutiert worden. Statt eine formalisierte nachträgliche Aufklärung des wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu betreiben, erscheint es rechtspolitisch wünschenswerter, bereits das Entstehen von wissenschaftlichem Fehlverhalten zu verhindern. Im Kern geht es damit um eine Verhaltenssteuerung;305 wer am wissenschaftlichen Diskurs teilnimmt, muss dies auch nach den Regeln der Wissenschaft tun. Nur so kann verhindert werden, dass der Wissenschaftsbetrieb auf der Suche nach Erkenntnis nicht behindert wird. Nachdem in Anbetracht der Fülle von Verfahren wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens306 kaum davon gesprochen werden kann, dass straf-, urheber- oder disziplinarrechtliche Sanktionen in der Vergangenheit in der Lage waren, eine Anerkennung und dauerhafte Einhaltung der Wissenschaftsstandards zu gewährleisten, könnten präventiv wirkende akademische Konsequenzen, das bisher eher repressiv ausgerichtete Sanktionssystem durch ihre abschreckende Wirkung ergänzen. Zwar ist wissenschaftliches Fehlverhalten auch in der Vergangenheit nie folgenlos geblieben; doch erwies sich die ausgesprochene Sanktion in vielen Fällen als wirkungslos, so dass der Katalog möglicher Disziplinierungsmittel um die anfängliche Versagung bzw. die nachträgliche Entziehung des – auch redlich erworbenen – Doktorgrades erweitert werden sollte. Nur so kann verhindert werden, dass wissenschaftliches Fehlverhalten kein risikoloses Geschäft bleibt; Sanktionen wirken nämlich nur dann abschreckend, wenn die Täter mehr verlieren als sie durch ihre unredliche Handlung erlangt haben. Die Kürzung der Publikationsliste um beispielsweise plagiierte Beiträge, die damit verbundene Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens und der – mit der Zeit verblassende – Reputationsschaden alleine reichen somit als akademische Konsequenzen 304
Zur fortschreitenden Spezialisierung kritisch: Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (134). Siehe hierzu für den Bereich des Kartellrechts: Zimmer/Höft, ZGR 2009, 662 (663, 713); zur ökonomischen Steuerungsfunktion von Schadensersatzansprüchen siehe: Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2. Aufl. (1995). 306 Siehe hierzu die Jahresberichte des DFG-Ombudsmanns für wissenschaftliches Fehlverhalten. 305
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nicht aus. Sie nehmen dem Betroffenen nur, was ihm ohnehin nicht zustand. Droht dem Betroffenen hingegen bei gravierenden wissenschaftlichen Verfehlungen ein darüber hinausgehender Verlust – beispielsweise in Form des eigentlich redlich erlangten Doktorgrades –, könnte dies nicht nur eine adäquate wissenschaftliche Reaktion darstellen,307 sondern auch eine größtmögliche Signal- und Präventionswirkung entfalten. In diesem Fall steht zu erwarten, dass Betroffene sich genau überlegen, ob sie für eine unredlich erworbene Publikation die in jahrelanger, redlicher Arbeit erzielte Promotion aufs Spiel setzen wollen. Sofern daher noch nicht geschehen, sollten die Promotionsordnungen entsprechende Entzugsregelungen wegen der nachfolgend diskutierten akademischer Unwürdigkeit aufnehmen und gleichzeitig deklaratorisch klarstellen, dass auf den verliehenen Doktorgrad nicht wirksam verzichtet werden kann. Letzteres unterstützt die Präventionswirkung der akademischen Konsequenzen, indem verhindert wird, dass sich der Betreffende dem unangenehmen Aberkennungsverfahren durch eine schlichte Verzichtserklärung entziehen kann.
II. Wissenschaftsethische Bedeutung des Doktorgrades Es wurde bereits festgestellt, dass die Promotion mehr als der bloße Befähigungsnachweis zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten ist.308 Vielmehr weist der Doktorgrad seinen Träger als vollwertiges Mitglied der Wissenschaftsgemeinde aus,309 der sich mit seinen Publikationen innerhalb der Gemeinschaft leichter Gehör verschaffen und folglich eher damit rechnen kann, dass sich andere Wissenschaftler tiefgehend mit seinen Abhandlungen auseinandersetzen.310 Dies heißt nicht, dass der Erkenntnisprozess allein durch promovierte Wissenschaftler vorangetrieben werden kann. Allerdings kann die Promotion als Wendepunkt in der akademischen Ausbildung verstanden werden: während bislang im System gearbeitet wurde, bedingt die Promotion eine Arbeit am System. Die hierauf basierende Umstellung der bisherigen Arbeitsweise muss von den meisten zukünftigen Wissenschaftlern erst einmal erlernt werden; klassischerweise bietet sich hierfür die Promotionszeit an. Dies verdeutlicht, dass in der Promotion mehr steckt, als ein fachbezogener Nachweis. Sie stellt auch fest, dass der Promovend über die erforderliche Arbeitstechnik verfügt, um selbständig und unter Beachtung wissenschaftsethischer Grundsätze „am System“ zu arbeiten. Dies erklärt letztlich auch, warum die Wissenschaftsgemeinde den Abhandlungen promovierter Wissenschaftler ein höheres Gewicht beimisst. Als ausgewiesenen Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinde wird ihnen unter anderem die Erwartung entgegengebracht, dass sie über eine aka307 A. A. Linke, WissR 32 (1999), 146 (148 f.), der davon ausgeht, dass der einmal verliehene akademische Grad gegen Tatsachen- und Rechtsänderung gefeit ist. Für den Befähigungsnachweis (ersten VA) ist das auch zutreffend, sofern dieser redlich erlangt wurde. Der Doktorgrad (zweiter VA) kann jedoch entzogen werden, wenn sich sein Träger als akademisch unwürdig erweist; denn die fortwährende wissenschaftliche Lauterkeit ist unabänderliche Verleihungsvoraussetzung des Doktorgrades. 308 Siehe hierzu Kapitel A.II. 309 So auch Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55). 310 Vgl. Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55).
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demische Würdigkeit verfügen, die durch wissenschaftliche Wahrhaftigkeit, Integrität und das Einhalten der Standards guter wissenschaftlicher Praxis geprägt ist. Denn all dies sind (oftmals) nicht kodifizierte Voraussetzungen dafür, dass die Dissertationsschrift angenommen und der Befähigungsnachweis ausgestellt wird. Daher kann die Einhaltung der während des Promotionsverfahrens erlernten Standards guter wissenschaftlicher Praxis auch unter den zukünftigen Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinde als Bestandteil eines ungeschrieben „Generationenvertrag“311 verstanden werden. Wenn nämlich die Aufgabe der Wissenschaftler darin besteht, im Rahmen ihrer limitierten Schaffensperiode den fortwährenden Erkenntnisprozess voranzutreiben, verlangt die Befassung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen Anderer, dass diese nach den Standards guter wissenschaftlicher Praxis gewonnen wurden; denn nur dann können sie die Wissenschaft auf dem Pfad zur Erkenntnis voranbringen. Die Überprüfung von Thesen, die auf einem wissenschaftlichen Fehlverhalten beruhen, bringt keinen Mehrwert und ist aus Sicht der Wissenschaft reine Zeitvergeudung; denn dadurch werden weder richtige Thesen bestätigt, noch unwahre falsifiziert.312 Ebenso wie der Promovend darauf vertrauen kann, dass die von ihm in seiner Dissertation untersuchten Beiträge von Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinde den Standards guter wissenschaftlicher Praxis entsprechen, müssen sich auch jene Wissenschaftler darauf verlassen, dass die von ihm – in der Dissertation oder späteren Abhandlungen – publizierten Erkenntnisse redlich erlangt wurden. Genau dies unterscheidet den Doktorgrad von anderem akademischen Graden,313 die sich weder durch ihre Anredefähigkeit 314 noch durch ein Plus an akademischer Würde auszeichnen. Promovierte Akademiker, die sich entgegen der ihnen unterstellten Lauterkeit am wissenschaftlichen Diskurs beteiligen, desavouieren folglich die wissenschaftsethische Funktion des Doktorgrads.315 Sie irritieren den Wissenschaftsbetrieb, der auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut ist, nachhaltig.
III. Verlust des Doktorgrades 1. Entziehung durch die verleihende Institution a) Anfängliche Unredlichkeit Die Entziehung des Doktorgrades wegen anfänglicher Unredlichkeit bedeutet zugleich die Feststellung, dass am Ende des Promotionsverfahrens die Voraussetzung 311
So weist der Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 4 darauf hin, dass die Doktoranden „durch ihre Forschung, ihre Kreativität und ihr Engagement“ die Wissenschaft wesentlich mitgestalten und somit „ein unverzichtbarer Garant für die Zukunft des deutschen Wissenschaftssystems“ sind. 312 So auch Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55). 313 Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244). 314 Vgl. Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 3. Aufl. (2007), Rn. 698; Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 420. 315 Ähnlich Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55).
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für die Erlangung des Befähigungsnachweises und somit auch die zur Graduierung erforderlichen Bedingungen nicht vorgelegen haben. Regelmäßig ist dieses Urteil mit dem Nachweis eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens verbunden, das bei der Erstellung der Dissertationsschrift begangen wurde. Dabei kommt es für die Einordnung als wissenschaftliches Fehlverhalten nicht darauf an, dass der Betroffene bei der Ausarbeitung seiner Dissertation gegen die regelmäßig abzugebende (eidesstattliche) Erklärung verstoßen hat. Auch wenn der Betroffene während seines Promotionsverfahrens noch kein vollwertiges Mitglied der Wissenschaftsgemeinde ist, muss er sich dennoch als zukünftiges Mitglied dieser Gemeinschaft an die ungeschriebenen Regeln des „Generationenvertrags“316 halten. Daneben enthält die Abgabe der Dissertationspfl ichtexemplare als Voraussetzung für die Graduierung und die unmittelbar nachfolgende Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde die implizite Versicherung, dass die dadurch der Wissenschaft zur Diskussion gestellten Thesen nach den von der Wissenschaftsgemeinschaft konsentierten317 und im Übrigen auch von der Rechtsprechung als ungeschriebene Regeln anerkannten318 Standards guter wissenschaftlicher Praxis angefertigt wurden. Hat der Promovend diese wissenschaftsethischen Grundregeln missachtet, täuscht er die in das Promotionsverfahren involvierten Gutachter über den Umfang seiner eigenen Leistung und erzeugt insoweit vorsätzlich einen kausalen Irrtum; denn grundsätzlich dürfen die Gutachter – ohne jedoch ihre Prüfungspfl ichten zu verletzten – davon ausgehen, dass die eingereichte Arbeit den in der Wissenschaft konsentierten Standards genügt. In solchen Fällen darf die gradverleihende Fakultät – sofern wie in Nordrhein-Westfalen keine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage besteht – wegen anfänglicher Unredlichkeit nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW sowohl den Befähigungsnachweis als auch den Doktorgrad entziehen.
b) Akademische Unwürdigkeit aa) „Historisches Würdeverständnis“ Die Entziehung des Doktorgrades kann auch wegen nachträglicher Unwürdigkeit des promovierten Akademikers erfolgen. Versteht man den Würdebegriff mit der h. M. historisch, kann nur derjenige Träger eines Doktorgrades sein, der einen untadeligen Lebenswandel führt und sich im Übrigen auch keines strafrechtlich relevanten Verhaltens schuldig macht. Vertreter eines solchen Begriffsverständnisses sehen die Promotion nicht nur als Nachweis einer wissenschaftlichen „capacitas“, sondern anknüpfend an die mittelalterliche Sichtweise, auch als Bescheinigung für eine persönliche „dignitas“ des Graduierten an. Tatsächlich war damals mit der Aufnahme des Doktoranden in die honorige Gemeinschaft der Promovierten in einigen Bereichen die Gleichstellung mit dem Adel verbunden,319 so dass auch sie insoweit 316 317 318 319
Siehe hierzu Kapitel C.II. Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244). Vgl. Schröder, NWVBl. 2010, 176 (179 mit Fn. 35). Vgl. Kluth, FS Schiedermair (2001), 569 (570); Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des
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gegenüber dem gemeinen Volk bestimmte Vorzüge genossen. Im Gegenzug für diese herausgehobene Stellung im öffentlichen Leben,320 verlangte man den Herren Doctores noch weit bis in das 20. Jahrhundert – auch jenseits ihrer Profession – einen besonders honorigen Lebenswandel ab. Es verwundert daher nicht, dass weite Teile der Bevölkerung den Trägern eines Doktorgrades ein besonderes Vertrauen entgegenbrachten und ihnen in allen Angelegenheiten ein besonders lauteres Handeln unterstellten.321 In diesen Zeiten rückte somit die menschliche „qualitas“ gleichberechtigt neben die fachliche Expertise ins Zentrum des mit der Verleihung eines Doktorgrades verbundenen Würdeverständnisses. Traurige Berühmtheit erlangte dieses Würdeverständnis insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus; hier ermöglichte der von den Nationalsozialisten instrumentalisierte § 4 Abs. 1 Nr. 3 GFaG denjenigen den Doktorgrad zu entziehen, die ihrer Aufaasung nach „eines deutschen akademischen Grades unwürdig“322 waren. Bereits 1936 entzog die Philosophische Fakultät der Universität Bonn auf dieser Grundlage dem Schriftsteller Thomas Mann den zuvor verliehenen Ehrendoktorgrad.323 Thomas Mann hatte sich nicht etwa ein wissenschaftliches Fehlverhalten zuschulden kommen lassen, sondern entsprach nicht mehr den Wert- und Würdevorstellungen des damaligen Regimes.324 Allein diese Tatsache macht die Entziehungsmöglichkeit wegen Unwürdigkeit – die auch heute noch einige Landeshochschulgesetze325 und Promotionsordnungen326 vorsehen – zwar suspekt, aber keinesfalls automatisch verfassungswidrig.327 Ob allerdings der Begriff der Würdigkeit auch heute noch mit den historischen Attributen belegt werden kann, erscheint zweifelhaft;328 denn die „Promotion hat [. . .] ausschließlich wissenschaftlichen Bezug.“329 Die gradWissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (755); Roellecke, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 3 (16); vgl. auch Kapitel A.II.2.d). 320 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 4. Aufl. (2004), S. 325. 321 Vgl. OVG RLP, NVwZ-RR 1992, 79 (80); OVG Berlin, NVwZ 1991, 188 (188 f.); BayVGH, DVBl. 1967, 89 (89); OVG NRW, MDR 1965, 515 (516); Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 436, 441; Starosta, DÖV 1987, 1050 (1051); Kluth, FS Schiedermair 2001, 569 (571); Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 16; Menzel, JZ 1960, 457 (461); Linke, WissR 32 (1999), 146 (155); Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1243). 322 Lemberg, „. . . eines deutschen akademischen Grades unwürdig“: Die Entziehung des Doktortitels an der Philipps-Universität Marburg 1933–1945 (2002). 323 Vgl. Starosta, DÖV 1987, 1050 (1050); Wichardt, Verleihung und Entziehung des Doktorgrades (1976), S. 211, die irrigerweise 1934 als Entzugsdatum angibt; Menzel, JZ 1960, 457 (459); Linke, WissR 32 (1999), 146 (153). 324 Thomas Mann hatte nicht nur 1905 eine Frau jüdischen Glaubens geheiratet, sondern am 19. November 1936 auch die tschechische Staatsbürgerschaft angenommen, was nach Ansicht der Nationalsozialisten ausreichte, um ihn auszubürgern und gleichzeitig auch die zuvor verliehene Ehrendoktorwürde durch die Universität wieder aberkennen zu lassen. 325 Nur die Landesgesetzgeber der nachfolgenden Regelungen haben ihre Hochschulen ausdrücklich zur Entziehung akademischer Grade berufen (Stand: Januar 2001): § 35 VII HG BW vom 01. 01. 2005; § 69 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 34 VII Nrn. 1–3, VIII BerlHG vom 13. 02. 2003; § 27 HessHG vom 14. 12. 2009; § 39 IV SächsHG vom 10. 12. 2008; § 20 S. 1 Nrn. 1–3 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 53 II ThürHG vom 01. 01. 2007; § 64 III i. V. m. § 59 III SaarlUG vom 26. 06. 2004. 326 Vgl. Linke, WissR 32 (1999), 146 (154). 327 So auch Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (768); Starosta, DÖV 1987, 1050 (1050). 328 Klar verneined: VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 23 – juris. 329 BVerfGE 88, 129 (140).
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verleihenden Hochschulen sind weder institutionell noch fachlich dazu berufen, ein moralisch zu missbilligendes Verhalten mit akademischen Sanktionen zu belegen;330 hat der Träger des Doktorgrades somit jenseits seiner wissenschaftlichen Tätigkeit die Grenzen des Rechts übertreten und dadurch seine persönliche Unwürdigkeit bewiesen, ist es allein Aufgabe der Rechtsprechung, Sanktionen auszusprechen.
bb) „Akademisches Würdeverständnis“ Bis vor kurzem waren sich überwiegende Teile des Schrifttums und die gesamte Rechtsprechung darin einig, dass der Verlust des Doktorgrades allein wegen anfänglicher Unredlichkeit des Promovierten erfolgen könne. Sofern der Betreffende durch seine Dissertation und die mündliche Prüfung den Befähigungsnachweis zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten redlich erlangt habe, könne dieser nicht wegen eines in der Folgezeit nachgewiesenen wissenschaftlichen Fehlverhaltens durch den Entzug des Doktorgrades auf Dauer entwertet werden.331 Diese bislang konsentierte Lehre verkennt jedoch die Untergliederung des Promotionsverfahrens in zwei Verfahrensabschnitte.332 Ein redlich erlangter Befähigungsnachweis wird nämlich durch Erlass des ersten Verwaltungsakts bestätigt und gilt insoweit als unzerstörbar. Der eigentliche Doktorgrad wird hingegen erst durch den zweiten Verwaltungsakt verliehen, so dass der spätere Entzug wegen nachträglicher Unwürdigkeit (akademischer Unwürdigkeit) den Befähigungsnachweis unberührt lässt. Am 14. 09. 2011 bestätigte der VGH BW die Entscheidung einer baden-württembergischen Hochschule, einem promovierten Wissenschaftler den Doktorgrad aufgrund seines nach der Promotion begangenen, massiven wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu entziehen.333 Auch wenn der VGH BW in seiner Entscheidung zum Problemkreis der wissenschaftsrechtliche Einordnung der Promotion als zwei Verwaltungsakte nicht ausdrücklich Stellung bezieht,334 ist hierin eine vorsichtige Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zu erkennen. Zum ersten Mal wurde einem Wissenschaftler, der seinen Befähigungsnachweis und den darauf basierenden Doktorgrad redlich erlangt, aber bei späteren Arbeiten massiv Daten gefälscht hatte, der Doktorgrad wegen akademischer Unwürdigkeit entzogen. Die Entscheidung basierte allerdings mit § 35 Abs. 7 Satz 2 LHG BW auf einer Ermächtigungsgrundlage, nach welcher der von einer baden-württembergischen Hochschule verliehene Hochschulgrad entzogen werden kann, wenn sich der Inha330
Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244). So ausdrücklich VG Freiburg, Urteil vom 22. 09. 2010 – 1 K 2248/09 = BeckRS 2010, 55931, Punkt II.1.a); Hartmer, in: ders./Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht. Ein Handbuch für die Praxis, 2. Aufl. (2011), Rn. 35. 332 Vgl. Kapitel A.II.2. 333 Vgl. VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10 – juris; anders noch die Vorinstanz: VG Freiburg, Urteil vom 22. 09. 2010 – 1 K 2248/09. 334 Zwar lehnt der VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10 – juris, Abs.-Nr. 28 die Aufnahme in „ein standesähnliches Doktorkollegium“ ab, betont aber zugleich, dass der Inhaber eines Doktorgrades durch selbigen „doch – öffentlich sichtbar – als Mitglied der akademischen Wissenschaftsgemeinde („scientific community“) ausgewiesen“ werde; auch im Folgenden spricht er von einer „wissenschaftlichen Öffentlichkeit“ (Abs.-Nr. 29). 331
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ber durch sein späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen hat. In diesem Zusammenhang stellen sich somit zwei Fragen, die nachstehend erörtert werden: Zum einen muss geklärt werden, ob die Entziehung wegen akademischer Unwürdigkeit nur dann erfolgen kann, wenn – wie in Baden-Württemberg – eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage bereit steht. Zum anderen muss das akademische Verständnis des Würdebegriffs näher ausgeleuchtet werden.
(1) Ermächtigungsgrundlage für den Entzug des Doktorgrads Nachdem durch die Graduierung nicht nur die Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde, sondern auch das damit verbundene Titelführungsrecht entsteht, stellt die Entziehung des Doktorgrades einen unmittelbar finalen Eingriff in subjektiv-öffentliche Rechte des Betroffenen dar, der einer gesetzlichen Grundlage bedarf.335 Sofern eine solche in den Landeshochschulgesetzen nicht ausdrücklich verankert ist,336 könnten die fakultätseigenen Promotionsordnungen, die mit Blick auf das historisch überkommene Würdeverständnis der Promotion teilweise die Entziehung wegen „Unwürdigkeit“ vorsehen, als Rechtsgrundlage für eine solche Maßnahme dienen. Dies hätte auch den Vorteil, dass darauf ausgerichteten Entzugstatbestände – nachdem das historische Würdeverständnis heute nicht mehr zur Entziehung des Doktorgrades berechtigt –337 nicht etwa zu Leerformeln verkommen, sondern durch eine Neuauslegung des Begriffs der „Unwürdigkeit“ im akademischen Sinn zu neuem Leben erweckt würden. Wegen des mit der Entziehung akademischer Grade verbundenen Grundrechteingriffs reicht jedoch eine lediglich von den Universitäten in ihren Promotionsordnungen selbst geschaffene Rechtsgrundlage – die ihrerseits bezüglich der Entziehung wegen Unwürdigkeit auf einer nicht hinreichend konkreten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruht – nicht aus.338 Schließlich ist es ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dass die Verkürzung von Grundrechtspositionen den Gesetzgeber dazu verpfl ichtet, die wesentlichen Regelungen eines solchen Verfahrens rechtssatzförmig selbst zu treffen. An diesem Grundsatz dürfte auch die den Hochschulen – gerade auch im Bereich der Promotion – zustehende Garantie der akademischen Selbstverwaltung nichts ändern.339 Entgegen der früher vertretenen Auffassung340 können heute Grundrechtseingriffe durch die Hochschule dem Parlamentsvorbehalt nicht 335
So auch Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1242). Nur die Landesgesetzgeber der nachfolgenden Regelungen haben ihre Hochschulen ausdrücklich zur Entziehung akademischer Grade berufen (Stand: Januar 2011): § 35 VII HG BW vom 01. 01. 2005; § 69 BayHSchG vom 23. 05. 2006; § 34 VII Nrn. 1–3, VIII BerlHG vom 13. 02. 2003; § 27 HessHG vom 14. 12. 2009; § 39 IV SächsHG vom 10. 12. 2008; § 20 S. 1 Nrn. 1–3 HG LSA vom 27. 07. 2010; § 53 II ThürHG vom 01. 01. 2007; § 64 III i. V. m. § 59 III SaarlUG vom 26. 06. 2004. 337 Auch der Gesetzgeber hat 1965 den Strafrichtern die Möglichkeit genommen, mit dem bürgerlichen Ehrenrecht auch das Recht zur Führung akademischer Titel abzuerkennen. 338 Vgl. BVerfGE 33, 125 (155 ff.); 71, 162 (172 m.w.N.); 76, 171 (185 f.). 339 Zweifelnd: Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (758). 340 Vgl. Schoener, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 94 ff. 336
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schlichtweg durch den Verweis auf die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 GG normierte akademische Autonomie entzogen werden.341 Gerade auch weil der Entzug des Doktorgrades regelmäßig gegenüber einem Adressaten erfolgt, der nach seiner mündlichen Prüfung bzw. seiner Graduierung nicht mehr zu dem der Hochschule angehörigen und unterworfenen Personenkreis zählt, bedarf es einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Denn im Unterscheid zur Rechtsverordnung vermittelt die Satzungsgewalt der Hochschulen keine Regelungsbefugnis für die Allgemeinheit aller der Staatsgewalt Unterworfenen.342 Möglicherweise kann der Doktorgrad aber nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen wegen akademischer Unwürdigkeit entzogen werden. Voraussetzung dafür wäre, dass die akademische Würde zu den Verleihungsvoraussetzungen gehört, die nach Sinn und Zweck des Verwaltungsaktes nicht nur im Zeitpunkt seines Erlasses, sondern während seiner gesamten Bestandszeit vorliegen müssen. Diesbezüglich wurde bereits nachgewiesen, dass die Einhaltung der während des Promotionsverfahrens erlernten Standards guter wissenschaftlicher Praxis auch unter den zukünftigen Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinde als Bestandteil eines ungeschrieben „Generationenvertrag“ verstanden werden kann,343 der mit Blick auf die kommende Generation von Wissenschaftlern auch dazu verpfl ichtet, bei der Ausarbeitung zukünftiger wissenschaftlicher Abhandlungen die erlernten Wissenschaftsstandards zu beachten. In Nordrhein-Westfalen stützt darüber hinaus auch der in § 67 Abs. 1 Satz 1 HG NRW auf § 58 Abs. 1 HG NRW angelegte Verweis diese These. Hiernach gehört es zu den allgemeinen – und somit erst Recht zu den der Promotion zu Grunde gelegten besonderen – Studienzielen, dass der (Promotions-)Student am Ende seines Studiums unter anderem „zu verantwortlichem Handeln befähigt“ ist. Zutreffend weist die Literatur darauf hin, dass damit nur die „fachwissenschaftliche Komponente“344 gemeint, nicht aber ein „persönlichkeitsbildender Auftrag“345 verbunden sei. Legt man dem Würdebegriff jedoch ein rein akademisches Verständnis zu Grunde, könnte die Universität genau jene „fachwissenschaftliche Komponente“346 aufgreifen, um den Doktorgrad (mithin also nur den zweiten Verwaltungsakt des Promotionsverfahrens, da der erste im Falle seiner redlichen Erlangung als Befähigungsnachweis unzerstörbar ist),347 zu entziehen, wenn dem Betroffenen ein massives wissenschaftliches Fehlverhalten nachgewiesen wird. Doch selbst wenn man sich dem nicht anschließen will, gibt § 67 Abs. 3 Satz 2 HG NRW den nordrhein-westfälischen Hochschulen jedenfalls das Recht, „das Nähere“ einer Promotion durch Satzung zu regeln; sofern diese als Zulassungs- oder Bestandsvoraussetzung für die Promotion 341 So auch Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung (2009), S. 394; Linke, WissR 32 (1999), 146 (147); Fries, Die Rechtsstellung der Studenten innerhalb der wissenschaftlichen Hochschule (1974), S. 121; Kahl, Jus 2007, 201 (203); a. A. Starck, AöR 92 (1967), 449 (476, 478). 342 So auch Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung (2009), S. 394. 343 Vgl. Kapitel C.II. 344 Linke, WissR 32 (1999), 146 (153). 345 Linke, WissR 32 (1999), 146 (153). 346 Linke, WissR 32 (1999), 146 (153). 347 Siehe hierzu Kapitel A.II.
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die akademische Würdigkeit verlangt, ist dagegen nichts einzuwenden; im Gegenteil: nach richtiger Ansicht handelte es sich dabei nur um eine deklaratorische Feststellung wissenschaftsrechtlich konsentierter Grundregeln. Ermächtigungsgrundlage wären aber auch dann nur die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Auf hebungsvorschriften, sofern keine spezialgesetzlichen Regelungen existieren; Wissenschaft und Hochschule können somit nur den Ansatzpunkt, nicht aber die Auf hebungsmittel selbst regeln. Damit muss im Folgenden allein das akademische Verständnis des Würdebegriffs noch näher bestimmt werden.348
(2) Doktorwürde im Lichte der Wissenschaft Bereits in 2005 hat Dieter Lorenz den Versuch unternommen, den Begriff der Doktorwürde von persönlichen Elementen zu befreien und ihn allein wissenschaftsbezogen zu defi nieren.349 Auch er versteht die Verleihung des Doktorgrades als Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde und verbindet mit dem Titelführungsrecht zugleich die Pfl icht des potentiellen Wissenschaftlers, die Standards guter wissenschaftlicher Praxis auch bei seiner künftigen Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs einzuhalten. Bezugspunkt der „Unwürdigkeit“ ist deshalb allein der mit der Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde verbundene Vertrauensvorschuss, auch zukünftig den „Generationenvertrag“ einzuhalten und die im Promotionsverfahren erlernten Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu beachten; denn die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis verlangt als kommunikativer Prozess350 zwingend die Einhaltung dieser konsentierten Standards.351 Sie sind die Basis der wissenschaftlichen Tätigkeit 352 und sollen verhindern, dass andere Wissenschaftler auf einer fehlerhaften Erkenntnis mit ihrer Forschung auf bauen353 und dadurch der Wissenschaftsbetrieb aufgehalten wird. Wissenschaftler, die sich eines nach Umfang und Intensität derart gravierenden Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, dass ihnen eine weitere Teilnahme an dem auf wissenschaftsethischen Grundlagen wie Ehrlichkeit und Vertrauen basierenden Diskurs nicht mehr gewährt werden kann, müssen daher aus der Wissenschaftsgemeinde ausgeschlossen werden. Sie haben jedweden Anspruch auf einen Vertrauensvorschuss, den ihnen die Doktorwürde dort verschafft hat, verloren. Gerade im arbeitsteiligen Prozess wissenschaftlichen Fortschritts kommt dieser Wirkung des Doktorgrades auf andere Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde eine erhebliche Bedeutung zu; denn die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse knüpft regelmäßig an den bestehenden Erkenntnisstand an, so dass die Wissenschaftler für einen erfolgreichen Forschungsprozess aufeinander angewiesen sind („Generationen348
So auch Starosta, DÖV 1987, 1050 (1051 f.), der eine verfassungskonforme Auslegung fordert. Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1242 ff.). 350 Vgl. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 110, der die Auseinandersetzung mit Gegenmeinungen als notwendigen Bestandteil der Wissenschaft versteht. 351 Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244). 352 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 27 spricht vom „Fundament der Wissenschaft“. 353 Vgl. Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (133). 349
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vertrag“).354 Unbedeutende Verstöße können hingegen ebenso wenig zum Entzug des Doktorgrades führen wie die nachträgliche Falsifikationen von Thesen oder der so genannte „ehrliche Irrtum“. Vielmehr sind diese Kategorien als vom Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit erfasst anzusehen.355 Unter der akademischen Unwürdigkeit ist daher die Diskrepanz zwischen dem mit dem Doktorgrad verbundenen Anspruch und dem tatsächlich unwissenschaftlichen Verhalten seines Trägers nach seiner Promotion zu verstehen.356 Eine dem historischen Würdeverständnis innewohnende Persönlichkeitsbewertung ist damit nicht verbunden.357 Und auch der Befähigungsnachweis und die redlich erlangten Meriten verblieben dem von einem Entzugsverfahren Betroffenen. Mit Blick auf seine redlich erstellte Dissertationsschrift bestehen auch keine Zweifel daran, dass er die Wissenschaft durch selbständige Abhandlungen vorantreiben könnte; bei dem Entzug des Doktorgrades wegen nachträglicher akademischer Unwürdigkeit geht es allein um die Feststellung, dass er dies nicht getan hat. Einem derartigen Begriffsverständnis der „Unwürdigkeit“ kann auch nicht entgegengehalten werden, dass dieser Entzugsgrund bei der überwiegenden Anzahl der Inhaber eines Doktorgrades schon deswegen nie zur Anwendung kommen könnte, weil sie nach ihrer Promotion nicht weiterhin im Wissenschaftsbereich tätig sind.358 Zwar ist es richtig, dass dieser – möglicherweise auch ganz überwiegende Teil – der Promovierten vom Anwendungsbereich der Norm verschont bliebe, doch liegt darin keinesfalls ein Verstoß gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG angelegten Gleichheitsgrundsatz. Das VG Freiburg, das diese Auffassung vertritt, hat seiner Entscheidung in diesem Punkt offenkundig einen falschen Bezugspunkt zu Grunde gelegt. Als tertium comparationis fungieren nicht etwa alle Träger eines Doktorgrades,359 sondern nur die, die auch nach ihrer Promotion durch die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Abhandlungen die Wissenschaft vorantreiben wollen. Diejenigen, die ihren Doktorgrad auf redliche Weise erworben haben und nach der Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde keine weiteren wissenschaftlichen Abahndlungen verfassen, können den Wissenschaftsbetrieb auf der Suche nach Erkenntnis auch nicht – durch unredlich erworbene Forschungsergebnisse – behindern. Wenn Sie aber die Wissenschaft nicht stören, müssen Sie vom Anwendungsbereich der Norm auch nicht erfasst und somit präventiv „diszipliniert“ werden. Wollte man dem VG Freiburg folgen, könnte man auch sämtliche Ordnungswidrigkeitstatbestände der StVO als Gleichheitswidrig einordnen: denn in der Logik des Gerichts können diese auf Führerscheininhaber, die nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen, keine Anwendung fi nden. 354 Ähnlich auch VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 30 – juris; Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 27. 355 So auch BVerfGE 90, 1 (12); BVerwGE 102, 304 (311); vgl. auch Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1245). 356 Vgl. Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1245). 357 So auch Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1245). 358 So aber VG Freiburg, Urteil vom 22. 09. 2010 – 1 K 2248/09 = BeckRS 2010, 55931, Punkt II.1.b) letzter Abs. 359 Vgl. VG Freiburg, Urteil vom 22. 09. 2010 – 1 K 2248/09 = BeckRS 2010, 55931, Punkt II.1.b) letzter Abs.
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c) Rechtsfolge: Ermessensreduzierung auf Null? Sofern das Landesrecht – wie in Nordrhein-Westfalen – keine spezialgesetzlichen Regelungen zur Entziehung des Doktorgrades bereitstellt, kommen hierfür als Rechtsgrundlage nur die Auf hebungstatbestände im allgemeinen Verwaltungsrecht in Betracht.360 Danach steht nach dem Wortlaut der §§ 48, 49 LVwVfG die Entscheidung über die Auf hebung eines Verwaltungsaktes im Ermessen der Behörde („kann“). Es wird daher einhellig angenommen, dass die den Doktorgrad wegen anfänglicher Unredlichkeit oder nachträglicher akademischer Unwürdigkeit entziehende Universität eine Ermessensentscheidung in den Grenzen des § 40 LVwVfG treffen und insofern die widerstreitenden individuellen und öffentlichen Interessen bei ihrer Entscheidungsfi ndung abwägen muss.361 Jedenfalls für Fälle gravierenden wissenschaftlichen Fehlverhaltens, das schon auf Tatbestandsebene festzustellen ist, scheint diese Rechtsfolge nicht angemessen zu sein. In diesen Fällen verlangt schon die „Selbstreinigungskraft der Wissenschaft“362 ein unverzügliches Handeln der zuständigen Hochschule. Ihr darf daher bezüglich des Entschließungsermessens – ob sie ein Verfahren gegen den betreffenden Wissenschaftler einleitet – ebenso wenig ein Handlungsspielraum verbleiben, wie hinsichtlich des Auswahlermessens; massives wissenschaftliches Fehlverhalten kann nur dann adäquat sanktioniert und präventiv verhindert werden, wenn am Ende stets der Entzug des Doktorgrades steht. Im Hinblick auf die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 GG abgesicherte Bedeutung der Wissenschaft als Institution und die gravierenden Auswirkungen, die durch massives wissenschaftliches Fehlverhalten entstehen können, erscheint es angebracht, über eine Ermessensreduzierung auf Null363 nachzudenken; dies folgt zunächst daraus, dass hierdurch das „Fundament der Wissenschaft“364 erschüttert wird, das auf einem durch wechselseitiges Vertrauen geprägten Kommunikationsprozess errichtet wurde. Als „Grundpfeiler“ wissenschaftlichen Arbeitens sind Manipulationen „bereits ihrer Art nach geeignet, das Vertrauen, das die Öffentlichkeit in die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse setzt, zu erschüttern.“365 Könnte derjenige, dem systematische und nachhaltige Verfehlungen nachgewiesen wurden, auch weiterhin als Mitglied in der Wissenschaftsgemeinde verbleiben, könnte dies zu einem erheblichen Ansehens- und Vertrauensverlust in die Wissenschaft als Institution führen. Darüber hinaus können dem Wissenschaftsbetrieb im Allgemeinen und dem einzelnen Wissenschaftler im Speziellen gravierende Nachteile dadurch entstehen, dass die ihnen zur Diskussion gestellten Erkenntnisse nicht redlich erworben wurden. Da 360
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel C.III.1.b)bb)(1). Vgl. für die anfängliche Unredlichkeit: Schroeder, NWVBl. 2010, 176 (180); Linke, WissR 32 (1999), 146 (157); für die akademische Unwürdigkeit: Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1245). 362 So auch Geis, Die Verwaltung 33 (2000), 563 (570); kritisch hingegen: Ottemann, Wissenschaftsbetrug und Strafrecht. Zu Möglichkeiten der Sanktionierung von Fehlverhalten in der Wissenschaft (2006), S. 58 ff., 63 ff. 363 Siehe hierzu grundsätzlich: Beaucamp, JA 2006, 74 (76); Schoch, Jura 2004, 462 (468); Lemke, JA 2000, 150 (151). 364 Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 27. 365 VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 58 – juris. 361
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die Gewinnung neuer Erkenntnisse regelmäßig auf bestehenden Forschungsergebnissen auf baut, sind die Wissenschaftler für einen erfolgreichen Forschungsprozess aufeinander angewiesen.366 Bauen sie ihre Forschungen auf Erkenntnisse auf, die nicht wissenschaftlich gewonnen wurden und aus denen daher auch kein valider Erkenntnisfortschritt generiert werden kann, würde das nur unnötige Ressourcen binden und den Wissenschaftsbetrieb auf halten.367 Gerade in Forschungsbereichen wie der Humanmedizin, in denen durch massives wissenschaftliches Fehlverhalten schwere Gefahren für Leib und Leben von Menschen drohen, erscheint es schon aus Präventionsgesichtspunkten angezeigt, dem Betroffenen durch den Entzug des Doktorgrades die Möglichkeit zu nehmen, zukünftig das ihm von der Wissenschaftsgemeinde aufgrund seiner Promotion entgegengebrachte Vertrauen in Anspruch nehmen zu können. Gleichzeit könnte das hiervon ausgehende Signal verhaltenssteuernd wirken und andere Wissenschaftler vom massiven wissenschaftlichen Fehlverhalten abhalten. Daneben sprechen noch weitere verfassungsrechtlich abgesicherte Interessen für eine Ermessensreduzierung auf Null: Die Wahrung der Chancengleichheit der anderen Doktoranden verlangt, dass in Fällen anfänglicher Unredlichkeit der Anschein der Übereinstimmung von akademischer Leistung und akademischem Grad beseitigt wird. Auch der verfassungsrechtlich abgesicherte Schutz von Ruf und Ansehen der Universität gebieten – schon zum Schutz der mit ihr verbundenen Mitglieder – eine Verkürzung des behördlichen Ermessensspielraums hin zu einer entsprechenden Eingriffsverpfl ichtung. Das gilt aus Präventionsgesichtspunkten im Übrigen auch in den Fällen akademischer Unwürdigkeit. Schließlich muss dem Betroffenen klar sein, dass seine Graduierung von seiner fortwährenden akademischen Redlichkeit abhängt. Dass es in Fällen von gravierendem wissenschaftlichem Fehlverhalten zu einer Ermessensreduzierung auf Null kommen muss, zeigt auch die Tatsache, dass den vorstehend aufgeführten bedeutsamen Rechtsgütern allein die Interessen des (zu Unrecht) Promovierten gegenüberstehen. Der Entzug des Doktorgrades greift zwar in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Sphäre der Berufsfreiheit ein, kann jedoch hinsichtlich seiner Intensität nicht mit einem völligen Berufsverbot – wie es beispielsweise mit dem Entzug einer Approbation einhergeht – gleichgestellt werden; denn anders als ein Mediziner ohne Zulassung kann der Betroffene auch weiterhin seiner Berufstätigkeit als Wissenschaftler nachgehen. Allein das mit dem Doktorgrad verbundene Vertrauen in seine wissenschaftsethisch korrekte und an den Standards guter wissenschaftlicher Praxis ausgerichtete Forschungstätigkeit kann er zukünftig nicht mehr in Anspruch nehmen. Der Schutz eines überragend wichtigen und verfassungsrechtlich verankerten Gemeinschaftsgutes, das darin besteht, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft nicht zu beschädigen und die Vertrauensbasis der Wissenschaftler untereinander zu erhalten, ohne die erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit nicht möglich ist,368 rechtfertigt jedoch einen solchen Eingriff bei massivem wissenschaftlichem Fehlverhalten stets. 366
Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.), DFG-Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, (1998), S. 27. 367 So auch VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 30 – juris. 368 VGH BW, Urteil vom 14. 09. 2011 – 9 S 2667/10, Abs.-Nr. 59 – juris.
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Nichts anderes gilt für die mit der Entziehung des Doktorgrads verbundenen sozialen Konsequenzen, die vom Betroffenen als vorhersehbare Nebenfolgen seines unredlichen Verhaltens in Kauf genommen worden sind. Selbst wenn Teile der Öffentlichkeit den Doktorgrad als „ehrenvolle Kennzeichnung der Persönlichkeit seines Trägers“369 und damit nicht nur als wissenschaftliche Qualifikation sehen – und insoweit die Folgen eines Entzugs auch einen außerwissenschaftlichen Bezug haben – kann dies nicht dazu führen, dass diese Folgen bei der Entscheidung über die Aberkennung des Doktorgrades berücksichtigt werden müssen; denn akademische Grade sind – anders als Titel nach § 1 TitelG – Auszeichnungen, die von der verleihenden Institution allein nach Abschluss eines ordnungsgemäßen Studiums oder durch eine andere wissenschaftliche Leistung verliehen werden.370 Wenn aber bei der Verleihung der akademischen Würde die Persönlichkeit keine Rolle gespielt hat, kann dies bei ihrer späteren Aberkennung nicht anders sein. Schließlich beruht die gesellschaftliche Ehrung nicht auf dem Doktorgrad selbst, sondern allein auf den irrigen Wertvorstellungen371 der Öffentlichkeit.372 Diese sind jedoch rechtlich nicht maßgeblich.373 In Fällen der anfänglichen Unredlichkeit wäre es zudem kaum vermittelbar, aus welchem Grund sich der soziale Aufstieg als Ausfluss seines unredlich erlangten Doktorgrades jetzt zu seinen Gunsten auswirken soll. Vor diesem Hintergrund wäre es unerträglich, wenn die Hochschule – aus welchen Gründen auch immer – sich im Rahmen der Ermessensentscheidung rechtmäßig weigern könnte, den Delinquenten und seine fehlerhaften Publikationen aus der Wissenschaftsgemeinde auszuschließen. Insoweit sind seitens der Behörde sowohl das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen reduziert; der Einfluss des hochwertigen Schutzgutes „Wissenschaft“ verlangt damit bei massivem wissenschaftlichem Fehlverhalten eine Ermessensreduzierung auf Null und folglich stets den Entzug des Doktorgrades.374
2. Rückgabe und Verzicht durch den Titelträger Da der Titelträger seinen Doktorgrad durch eine Verzichtserklärung am Ende ebenso verliert wie in einem hochschulseitig initiierten Entzugsverfahren, scheint die Frage nach der Möglichkeit, auf den Doktorgrad verzichten zu können, müßig 369
Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 436; Vollmar, Die Entziehung der Doktorwürde (1950), S. 24, 37; Hirsch, DUZ 1963, 10 (15 f.); ähnlich OVG Berlin, NVwZ 1991, 188. 370 Siehe hierzu Vahle, DVP 2010, 99 (99). Ähnlich: Hartmer, in: ders./Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht. Ein Handbuch für die Praxis, 2. Aufl. (2011), Rn. 33: „Der akademische Doktorgrad ist vornehmlich aus der Sicht der Universität zu verstehen und zu defi nieren“. 371 So schon Menzel, JZ 1960, 457 (457 ff.). 372 Zustimmend: Tiedemann, ZRP 2010, 53 (54). 373 So auch Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (769); Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 27. 374 So auch § 28 I JurPromO Freiburg: „Der Doktorgrad kann unter den gesetzlichen Voraussetzungen entzogen werden. Er ist zu entziehen, wenn der Doktorgrad durch vorsätzliche Täuschung über die Umstände erlangt worden ist, die nach § 13 Abs. 2 lit. b) und c) anzugeben sind. Die Entscheidung hierüber trifft der Promotionsausschuss.“ Ähnlich: § 24 I JurPromO Mainz.
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und ihre Beantwortung allenfalls dogmatischer Natur mit geringer praktischer Bedeutung zu sein.375 Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass das Thema in der Literatur entsprechend kurz und ohne größeren Begründungsaufwand – oftmals allein mit Verweis auf die h. M. – abgehandelt wird. Ob aber der Rekurs auf die h. M. als Argument ausreicht, um eine im rechtswissenschaftlichen Bereich umstrittene Frage entscheiden zu können, darf bezweifelt werden.376 Wirklich stichhaltige Belege für oder gegen die Verzichtsmöglichkeit, wie eine Regelung in den Promotionsordnungen oder den Landeshochschulgesetzten, existieren regelmäßig nicht.377 Die Frage muss daher anhand allgemeiner verwaltungsrechtlicher Grundsätze beantwortet werden,378 die nachfolgend dahingehend untersucht werden sollen, ob sie im Lichte des hiesigen Verständnisses der Promotionsentscheidung eine Verzichtsmöglichkeit eröffnen.
a) Konkretisierung der verzichtbaren Rechtsposition Im Verwaltungsrecht gibt es – ebenso wie im Privatrecht – keine ausdrückliche Rechtsgrundlage für den Verzicht.379 Gleichwohl ist er heute als eigenständiges, verwaltungsrechtliches Rechtsinstitut anerkannt.380 Auch die Rechtsprechung hält den Verzicht auf Rechtspositionen grundsätzlich für möglich,381 ohne jedoch nähere formelle oder materielle Anforderungen festgelegt zu haben. Wird über die Verzichtbarkeit von den aus einer Promotionsentscheidung erlangten Rechtspositionen gesprochen, ist zwingend zwischen dem prüfungsrechtlichen Befähigungsnachweis (erster Verwaltungsakt) und der Aufnahme des Promovenden in die Wissenschaftsgemeinde, die mit der Graduierung zum Ausdruck gebracht wird (zweiter Verwaltungsakt), zu differenzieren.382 Der durch die Anfertigung einer Dissertationsschrift und die anschließende mündliche Prüfung redlich erlangte Nachweis über die Befähigung zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten (erster Verwaltungsakt) stellt keine verzichtbare Rechtsposition dar.383 Sein Wesen ist durch eine rechtlich erhebliche Tatsachenentscheidung geprägt, die mit dem Promovenden – ähnlich der Weihe nach kanonischem Recht – unauflöslich verbunden ist und ihm einen „character indelebilis“ verleiht.384 375 Wie hier verneinend: Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. (2004), Rn. 447, der seine Ansicht in Fn. 86 fälschlicherweise mit einem Verweis auf Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (776 f.) begründet; Maurer vertritt hier jedoch die Gegenauffassung. 376 Allgemein zur Untauglichkeit der h. M. als Argument siehe: Pilniok, JuS 2009, 394 (394 ff.). 377 Vgl. Thieme, DÖV 1988, 250 (250). 378 So auch Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (873); Kobusch, WissR 34 (2001), 259 (268). 379 Vgl. Baldus, Jura 1988, 573 (576). 380 Vgl. Thieme, DÖV 1988, 250 (251); Baumann, GewArch 2004, 448 (448 ff.); Hartmann, DÖV 1990, 8 (8 ff.); Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 53 Rn. 30. 381 Vgl. BVerwGE 14, 93 (93 ff.); 20, 304 (304 ff.); 38, 160 (160 ff.); VGH BW, BWVBl. 1963, 41 (41 ff.). 382 Siehe hierzu Kapitel A.II. 383 So auch Baldus, Jura 1988, 573 (575); Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektiv öffentliche Rechte (1966), S. 16; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1948), S. 215 f. 384 Vgl. Thieme, DÖV 1988, 250 (252).
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Sieht man das anders, könnte der Verzichtende auch (schlecht) bestandene Prüfungen unendlich oft wiederholen.385 Wird nämlich durch den Verzicht der Befähigungsnachweis beseitigt, bleiben die ihm zugrundeliegenden Tatsachen zwar bestehen, aber formal-rechtlich betrachtet gehören diese zum Ergebnis des Prüfungsverfahrens, das durch den Verzicht eliminiert wurde; bei einem neuen Prüfungsantrag wäre die Behörde gehalten, durch eine erneute Prüfung die Kenntnisse des Bewerbers abermals festzustellen. Schließlich erledigt sich im Moment des Verzichts auch die mit dem Verwaltungsakt verbundene Tatbestandswirkung, die zuvor – als (bestandskräftige) behördliche Entscheidung – einem Antrag auf erneute Feststellung der der Entscheidung zu Grunde liegenden Tatsachen durch eine Wiederholung der Prüfung entgegenstand. Dies aber konterkariert den Sinn von Prüfungsentscheidungen, die als Momentaufnahme, die Qualifi kation des Prüfl ings – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen –386 dauerhaft feststellen sollen.387 Hiergegen haben Mathias Nebendahl und Thomas Rönnau eingewandt, dass eine beliebige Wiederholbarkeit der Prüfung im Verzichtsfalle deshalb nicht zu befürchten sei, weil nicht auf den Befähigungsnachweis, „sondern die gegebenenfalls aus der bestandenen Prüfung erwachsende Berechtigung, einen bestimmten akademischen Grad zu führen“388 verzichtet würde. Damit erkennen Sie eigentlich an, was sie an anderer Stelle noch bestreiten: die althergebrachte Geltung der Befähigungsnachweise als unzerstörbar;389 denn anderenfalls wäre es kaum verständlich, dass sie einen Verzicht konstruieren, der zwar das Recht zur Titelführung selbst, nicht aber die das Recht aktualisierende Grundlage – den am Ende des Prüfungsverfahren stehenden Befähigungsnachweis – erfasst. Sie verkennen damit jedoch zwei Dinge: Zum einen wird auf das Recht den Titel zu führen nicht wirksam und endgültig verzichtet, solange die behördliche Entscheidung, die dies gestattet, fortbesteht.390 Zum anderen ist das Recht der Titelführung kein von dem zugrundeliegenden Verwaltungsakt eigenständiges Recht, auf das separiert in einer Weise verzichtet werden könnte, die nur dieses Recht – ohne den Befähigungsnachweis anzugreifen – endgültig zum Erlöschen bringt. Schließlich hängt das Titelführungsrecht mit der die Graduierung feststellenden Entscheidung untrennbar zusammen. Der Begünstigte könnte folglich – auf dem Befähigungsnachweis als fortbestehender Anspruchsgrundlage – sein Titelführungsrecht jederzeit wieder einfordern und damit aufleben lassen. Im Ergebnis entspräche dies dem bloßen Nicht-Gebrauchmachen des dem Betroffenen zustehenden Titelführungsrechts. Versteht man die Promotion hingegen wie hier als zweigliedriges Verwaltungsverfahren, bedarf es der von Mathias Nebendahl und Thomas Rönnau vorgeschlagenen Konstruktion nicht, um unter Wahrung des althergebrachten Grundsatzes der Un385
Abweichend: Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (878); Baldus, Jura 1988, 573 (576). Vgl. §§ 24, 58, 59 JAG NRW (Wiederholungsmöglichkeit bei Nichtbestehen), § 26 JAG NRW (Verbesserung nach Freiversuch); § 56a JAG NRW (Notenverbesserung im zweiten Examen). 387 Vgl. Peters, Lehrbuch der Verwaltung (1949), S. 150 mit Fn. 2, 198; Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektiv öffentliche Rechte (1966), S. 16. 388 Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (878). 389 Vgl. Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (877): „Diese These wird zum Teil nicht belegt [. . .]“. 390 Siehe hierzu Kapitel C.III.3.c). 386
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zerstörbarkeit eines Befähigungsnachweises, die Möglichkeit anzuerkennen, auf den Doktorgrad rechtswirksam zu verzichten. Bezugspunkt für den Verzicht wäre dann allein die im zweiten Verwaltungsakt geregelte Graduierung. Der durch Dissertation und mündliche Prüfung erlangte Befähigungsnachweis würde indessen – im Einklang mit den althergebrachten Grundsätzen – als unzerstörbar fortgelten. Wurde er redlich erlangt, könnte er selbst durch behördliche oder gerichtliche Entscheidungen nicht rechtsfehlerfrei entzogen werden. Daraus darf nicht gefolgert werden, dass damit auch der hier propagierte Entzug im Fall akademischer Unwürdigkeit unmöglich ist. Eine solche Entscheidung betrifft ebenfalls allein die im zweiten Verwaltungsakt festgeschriebene Graduierung und lässt den im ersten Verwaltungsakt bestätigten, redlich erlangten Befähigungsnachweis als unberührt fortbestehen. Im Ergebnis verhindert also nicht nur die Rechtsnatur des Befähigungsnachweises, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit an der verbindlichen Qualifikationsfeststellung den diesbezüglichen Verzicht.391 Der Befähigungsnachweis schafft folglich nur einen Teil der Voraussetzungen, die zur späteren Verleihung des Doktorgrades führen. Fraglich ist damit allein, ob unter welchen Voraussetzungen (dazu sogleich) die durch den zweiten Verwaltungsakt vollzogene Graduierung mit dem Recht zur Titelführung verzichtbar ist.
b) Formelle Verzichtsvoraussetzungen Nach der h. M. unterliegt die Verzichtserklärung keinen Formerfordernissen.392 Der Verzichtende kann sowohl ausdrücklich als auch durch konkludente Handlung – beispielsweise durch Rückgabe der Graduierungsurkunde im Original an den Dekan –393 auf seinen Doktorgrad verzichten.394 Nicht zuletzt aus Gründen der Rechtssicherheit muss die Erklärung jedoch auf den eindeutigen und ernsthaften Willen des Betroffenen schließen lassen, auf seinen Doktorgrad endgültig zu verzichten. Die Erklärung ist an die nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen für die Auf hebung sachlich und örtlich zuständige Behörde zu richten;395 regelmäßig wird dies die gradverleihende Fakultät bzw. die dahinter stehende wissenschaftliche Hochschule als Rechtsträger sein.
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Vgl. Fülster, Grundriß des Verwaltungsrechts, Band I (1929), S. 198. Vgl. BVerwGE 20, 304 (306); Krause, VerwArch 61 (1970), 297 (316); Malorny, JA 1974, 475; Brüggemann, Der Verzicht von Zivilpersonen im Verwaltungsrecht (1965), S. 16; Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 101 f.; Koch, Ein Beitrag zur Lehre vom Verzicht auf Grundrechte (1983), S. 55 f. 393 Vgl. Baldus, Jura 1988, 573 (576). 394 So allgemein zum Verzicht: Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 289. 395 Vgl. Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 100 f.; Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektiv öffentliche Rechte (1966), S. 65 f. 392
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c) Materielle Verzichtsvoraussetzungen Der Verzicht auf Rechtspositionen verringert die Freiheit des Einzelnen und erweitert eo ipso den staatlichen Handlungsspielraum.396 Der Hoheitsträger kann nun staatliche Maßnahmen treffen, denen ohne die Verzichtserklärung ein freiheitsbeschränkender Charakter zukäme, die im Lichte der „Wesentlichkeitstheorie“397 möglicherweise einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürften.398 Der Wirksamkeit einer Verzichtserklärung, welche die Rechtswissenschaft als einseitige Aufgabe eines Rechts durch Willenserklärung des Berechtigten begreift,399 könnte somit zum Schutz des Rechtsinhabers der Grundsatz vom Vorbehalt des Parlamentsgesetzes entgegenstehen. Seit der gesetzlichen Normierung des öffentlich-rechtlichen Vertrages im Verwaltungsverfahrensgesetz gilt es jedoch als konsentiert, dass für rechtsgeschäftliche Erklärungen in bestimmten Grenzen eine demokratisch-legitimierte Ermächtigungsgrundlage nicht erforderlich ist, wenn der aktuelle Wille des Betroffenen die konkrete staatliche Maßnahme trägt.400 Der Grundsatz vom Vorbehalt des Parlamentsgesetzes steht folglich einer wirksamen Verzichtserklärung grundsätzlich nicht entgegen.401 Der Verzicht auf öffentlich-rechtliche Rechtspositionen könnte aber wegen des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes unzulässig sein, nachdem kein Handeln gegen geltende Gesetze verstoßen darf. Ist der Verzicht also in bestimmten Bereichen ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen,402 verhindert dies in jedem Fall die Wirksamkeit der Verzichtserklärung. Fraglich ist jedoch, was in Rechtsgebieten gilt, in denen der Verzicht auf Rechtspositionen weder ausdrücklich untersagt, noch explizit zugelassen wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass es durchaus Bestimmungen gibt, welche die Möglichkeit auf gewährte Rechtspositionen zu verzichten, ausdrücklich regeln,403 verwundert die Kreation eines allgemeinen Rechtssatzes, nachdem „der Verzicht grundsätzlich im gesamten Verwaltungsrecht in Betracht kommt“404 ; denn es erscheint durchaus zweifelhaft, ob aus den diversen, jedoch in keinem näheren Zusammenhang stehenden und keiner inneren Systematik folgenden Verzichtsregelungen
396 Vgl. BVerwGE 42, 329 (335); Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 55; Göldner, JZ 1976, 352 (354 f.); Bleckmann, VerwArch 63 (1972), 404 (432 ff.); abweichend Bosse, Der subordinationsrechtliche Verwaltungsvertrag als Handlungsform öffentlicher Verwaltung (1974), S. 51 f.; Schenke, JuS 1977, 281 (285 f.). 397 Siehe hierzu grundsätzlich: Wehr, JuS 1997, 419 (422). 398 Zum Gesetzesvorbehalt für wesentliche, grundrechtsrelevante Entscheidungen siehe bspw. BVerfGE 34, 165 (192 ff.); 98, 218 (250 ff.); Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt (2000). 399 Vgl. W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1931), S. 214; Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 218. 400 Vgl. Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (537). 401 Vgl. Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 56 f., 59. 402 Vgl. Erichsen, Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Band I (1976), § 10 III. 7. b) Rn. 72; vgl. beispielsweise § 2 III BBesG (kein Verzicht auf Besoldung); § 6 I BDSG (kein Verzicht auf Beschränkung bestimmter Rechte); § 3 III BeamtVG (kein Verzicht auf Versorgung). 403 Vgl. § 2 III BBesG (kein Verzicht auf Besoldung); § 6 I BDSG (kein Verzicht auf Beschränkung bestimmte Rechte); § 3 III BeamtVG (kein Verzicht auf Versorgung); § 46 I SGB I (Zulässigkeit des Verzichts auf Sozialleistungen). 404 Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 53 Rn. 30.
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tatsächlich ein solcher Rückschluss gezogen werden kann.405 Schließlich ließe sich – mit den gleichen Argumenten – ebenso gut vertreten, dass die gesetzlichen Regelungen abschließend und Analogieschlüsse daher unzulässig sind.406 Es bleibt folglich unklar, ob es sich bei Rechtsgebieten, die den Verzicht nicht ausdrücklich regeln, um abschließend zwingendes oder aber der Parteivereinbarung offenstehend dispositives Recht handelt. Vor diesem Hintergrund hat das BVerwG in seiner „Folgekosten-Entscheidung“407 versucht, die diesbezüglich bestehende Unsicherheit zu beseitigen. Besteht für den in Rede stehenden Bereich keine ausdrückliche Regelung hinsichtlich der Wirksamkeit eines Verzichts, stellt ein einverständliches Abbedingen von gesetzlich zuerkannten Rechtspositionen immer dann einen Gesetzesverstoß dar, wenn die in Rede stehende Rechtsgrundlage, welche die „Verzichtsposition“ gewährt, (auch) öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt und deswegen der individuellen Disposition zumindest teilweise entzogen ist. Eine pauschalisierte Beurteilung, wann ein Verstoß gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes vorliegt, ist somit unmöglich; zur Feststellung der Verzichtsmöglichkeit muss die das Recht gewährende Rechtsgrundlage daraufhin untersucht werden, ob sie (auch) den öffentlichen Interessen dient. Würde in einem solchen Fall das einverständliche Abweichen diese Interessen beeinträchtigen oder gefährden, setzt der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes dem Verzicht eine logische Grenze; denn das Einvernehmen des Verzichtenden kann „vielleicht den Eingriff ihm gegenüber, nicht aber den Verstoß gegen die ordnungspolitische Funktion des Gesetzes decken.“408 Ein Verzicht auf Rechtspositionen, die auf einer Rechtsgrundlage beruhen, die ihrerseits entgegenstehenden öffentlichen Interessen dient, ist folglich unwirksam. Damit sind bereits die ersten beiden Prüfungspunkte benannt worden, die im Prüfungsschema im Rahmen der „Anwendbarkeit des Verzichts“ zu untersuchen sind: die Einhaltung der Grundsätze vom Vorbehalt des Parlamentsgesetzes und vom Vorrang des Gesetzes. Im zweiten Prüfungspunkt ist das „Innehaben einer begünstigenden Rechtsposition“ festzustellen. Rechtsgüter Dritter sind der Verzichtserklärung damit ebenso entzogen wie die der Allgemeinheit. Eine weitere Eingrenzung erfährt die Möglichkeit zum Verzicht dadurch, dass nur auf ein Recht oder eine Rechtstellung verzichtet werden kann, die sich als fi nale Begünstigung des Verfügenden und nicht nur als bloßer Rechtsreflex darstellt.409 Unverzichtbar sind somit Rechte, zu deren Ausübung der Berechtigte verpfl ichtet ist.410 Ausgehend von dem Rechtsgedanken, dass dem Wollenden grundsätzlich kein Unrecht geschieht (volenti non fit iniuria) wird im Rahmen des dritten Prüfungs405 So aber wohl Brüggemann, Der Verzicht von Zivilpersonen im Verwaltungsrecht (1965), S. 29 ff.; Apelt, Der verwaltungsrechtliche Vertrag. Ein Beitrag zur Lehre von der rechtswirksamen Handlung im öffentlichen Recht (1920), S. 92 f.; kritisch auch: Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 41 f. 406 Vgl. Bussfeld, DÖV 1976, 765 (766); Koch, Ein Beitrag zur Lehre vom Verzicht auf Grundrechte (1983), S. 55 f. 407 BVerwGE 42, 328 (328 ff.). 408 Vgl. Meyer, in: Meyer/Borgs, VwVfG, 2. Aufl. (1982), § 54 Rn. 73. 409 Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 287. 410 Vgl. W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1931), S. 215; Thieme, DÖV 1988, 250 (252).
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punktes die „Dispositionsbefugnis des Verfügenden“ über das in Rede stehende Rechtsgut untersucht. Der Verzichtende muss entweder alleiniger Träger des rechtlich geschützten Interesses oder als dessen Vertreter zur Verzichtserklärung berechtigt sein.411 Im vierten Prüfungspunkt muss schließlich als Negativvoraussetzung festgestellt werden, dass der Rechtsverzicht nicht wegen gewichtiger öffentlicher oder privater Interessen ausgeschlossen ist.412
d) Anwendung der Verzichtsvoraussetzungen auf den Doktorgrad Bevor wir uns im Folgenden den Problemen widmen, die sich bei dem Verzicht auf die Graduierung im Rahmen einer Promotionsentscheidung ergeben können, sind zwei Fälle auszuklammern, die zwar begriffl ich als „Verzicht“ bezeichnet werden, juristisch aber hier keine Rolle spielen, weil durch sie – soweit ersichtlich unbestritten – keine echte Erledigung im Rechtssinne erreicht wird. Es bedarf heute keiner Begründung mehr, dass die auf Antrag entstandenen Rechte auf behördliches Tätigwerden bis zu dem Zeitpunkt, in dem die behördliche Entscheidung ergeht, verzichtbar sind.413 Wem aufgrund gesetzlicher Regelungen die Freiheit zusteht, einen behördlichen Antrag zu stellen, dem kommt zweifelsohne auch das Recht zu, diesen Antrag solange zurückzuziehen wie die Behörde über ihn noch nicht entscheiden hat.414 Das insoweit bestehende „Recht auf behördliche Tätigkeit“ erlischt mit der Erklärung, auf eine entsprechende Entscheidung zu verzichten. Streng genommen liegt hierin jedoch weniger ein „Verzicht“ als vielmehr die Rücknahme des gestellten Antrags. Auch der „Verzicht“ auf die Ausübung eines bestehenden Rechtes bringt keine Erledigung, obwohl der Begriff dies nahe legt. Zu dieser Kategorie gehört der zweite, nachfolgend nicht näher thematisierte Fall, dass der Inhaber des Doktorgrades das mit der Graduierung verbundene Recht, den verliehenen Doktorgrad, auch tatsächlich (beispielsweise auf Brief bögen oder Visitenkarten) zu führen, verzichtet.415 Juristisch stellt das lediglich ein Nicht-Gebrauchmachen vom akademischen Grad dar, der ein deutliches Minus zum rechtsgültig erklärten Verzicht ist; denn der „Verzichtende“ kann sich jederzeit nach Belieben wieder dazu entschließen, von dem ihm zustehenden Titelführungsrecht Gebrauch zu machen.416 Eine endgültige Beseitigung der Graduierung und des daran anknüpfenden Titelführungsrechtes kann damit ebenfalls nicht erreicht werden.
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Abweichend Quaritsch, GS Martens (1987), 407 (408), der es genügen lässt, wenn dem Verzichtenden das Recht „überwiegend in seinem individuellen Interesse eingeräumt ist“. 412 Vgl. Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 53 Rn. 37; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 287. 413 Vgl. Thieme, DÖV 1988, 250 (252); W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1931), S. 215. 414 Vgl. Gerstner-Heck, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck-OK VwVfG (Stand: 01. 07. 2012), § 9 Rn. 19; Schmitz, in Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 9 Rn. 199, § 22 Rn. 67. 415 So auch Kobusch, WissR 34 (2001), 259 (268); Baldus, Jura 1988, 573 (575). 416 So auch Thieme, DÖV 1988, 250 (252, 253).
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aa) Anwendbarkeit Der Grundsatz vom Vorbehalt des Parlamentsgesetzes steht der Erklärung des Graduierten, auf seinen Doktorgrad endgültig zu verzichten, nicht entgegen. Durch den mit der Erklärung einhergehenden Verlust des Doktorgrades verlässt der Betroffene die Wissenschaftsgemeinde. Eine Erweiterung staatlicher Eingriffsbefugnisse in die Rechtstellung des Verzichtenden oder die Aufgabe unveräußerlicher Rechte, die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes eine Regelung durch den Parlamentsgesetzgeber erforderlich machen würde, ist damit nicht verbunden. Möglicherweise steht jedoch der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes einem Verzicht auf den Doktorgrad entgegen. Bislang ist dieser zwar weder gesetzlich, noch im Wege der Promotionsordnungen satzungsrechtlich ausgeschlossen; doch ausdrücklich zugelassen ist er auch nicht. Zur Feststellung der Verzichtsmöglichkeit muss daher die das Recht gewährende Rechtsgrundlage – nach hiesigem Verständnis der zweite Verwaltungsakt eines Promotionsverfahrens – darauf hin untersucht werden, ob er (auch) den öffentlichen Interessen dient. Durch die Graduierung und das damit verbundene Titelführungsrecht wird der Träger des Doktorgrades als Mitglied der Wissenschaftsgemeinde ausgewiesen. Als solches wird ihm unterstellt, dass seine wissenschaftlichen Publikationen unter Beachtung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis entstanden sind. Die Graduierung erfüllt damit auch öffentliche Interessen: sie will den auf wissenschaftsethischen Grundlagen wie Ehrlichkeit und Vertrauen basierenden Erkenntnisprozess absichern und fördern. Indem die Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde nicht jede neue Erkenntnis bis zu ihrem Ursprung hin überprüfen, sondern vielmehr – im Vertrauen auf ihre redliche Gewinnung – ihre eigenen Thesen direkt darauf auf bauen können, wird dem Wissenschaftsbetrieb ein effizienterer Einsatz seiner begrenzten Ressourcen ermöglicht und dadurch die Möglichkeit geschaffen, den Erkenntnisfortschritt schneller voranzutreiben. Da dies wiederum im Interesse des Staates liegt, dient der die Graduierung vermittelnde, zweite Verwaltungsakt auch öffentlichen Interessen. Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes könnte jedoch mit der kühnen Behauptung überkommen werden, dass er der Verzichtserklärung jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn der Verzichtende im Vorgriff auf ein hochschulseitig initiiertes Entzugsverfahren wegen wissenschaftlichem Fehlverhaltens seinen Doktorgrad zurückgeben will; denn in diesen Fällen besteht bereits ein Anfangsverdacht, dass der Doktorgrad zu Unrecht geführt wird, so dass die freiwillige Aufgabe des Grades den Erhalt des Vertrauens in die Redlichkeit des Erkenntnisprozesses sogar unterstützen würde. Schließlich könnte der Verzichtende zukünftig keinen Vertrauensvorschuss mehr in Anspruch nehmen, wodurch andere Wissenschaftler davor bewahrt werden, auf einer möglicherweise fehlerhaften Erkenntnis mit ihrer Forschung aufzubauen417 und dadurch den Wissenschaftsbetrieb aufzuhalten. Folgt man dieser Argumentation, hindert der Vorrang des Gesetzes somit im konkreten Fall nicht die Anwendbarkeit des Verzichts. Andernfalls würde der Verzicht schon daran scheitern, dass die Graduierung auch öffentlichen Interessen dient, indem sie die Grundlage dafür bildet, dass der Erkenntnisfortschritt – aufgrund der Vertrauensbasis, die der Doktor417
Vgl. Grunwald, GS Krüger (2001), 127 (133).
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grad innerhalb der Wissenschaftsgemeinde erzeugt – schneller vorangetrieben werden kann, was unter anderem auch im Interesse des Staates liegt.
bb) Innehaben einer begünstigenden Rechtsposition Der Verzicht setzt das Innehaben einer begünstigenden Rechtsposition voraus, die sich sowohl als subjektiv-öffentliches Recht als auch als sonstiger, den Einzelnen begünstigenden Rechtsvorteil darstellen kann.418 Auf den aus einem Rechtsreflex stammenden Vorteil kann hingegen ebenso wenig verzichtet werden wie auf eine bestehende Pfl icht oder Last.419 Die Promotion allein auf das mit der Graduierung verbundene Titelführungsrecht zu reduzieren, auf das der Inhaber als ihm gewährte Vergünstigung jederzeit verzichten könne,420 greift zu kurz. Die eigentliche Bedeutung der Promotion liegt in der mit ihr verbundenen Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde. Eine reine Begünstigung ist dies jedoch nicht. Zwar profitiert der Graduierte fortan von dem besonderen Vertrauen, dass andere Wissenschaftler seinen Ausarbeitungen entgegenbringen und dem Umstand, dass er sich mit seinen Abhandlungen in der Wissenschaftsgemeinde leichter Gehör verschaffen und eher damit rechnen kann, dass seine Arbeiten rezipiert werden;421 auf der anderen Seite trifft ihn jedoch die Verpfl ichtung, bei der Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit jegliches Fehlverhalten zu unterlassen und die Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu achten. Insofern könnte die Graduierung primär als Pfl icht zur Einhaltung der wissenschaftlichen Redlichkeit verstanden werden. Die mit dem Doktorgrad einhergehenden Vorteile wären in diesem Lichte hingegen ein bloßer Rechtsreflex dieser Verpfl ichtung. Ein Verzicht würde dann (auch) in Ermangelung des Innehabens einer begünstigenden Rechtsposition ausscheiden. Die Graduierung verpfl ichtet jedoch nicht dazu, sich auch nach der Promotion am wissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Mit Veröffentlichung seiner Dissertationsschrift hat der Promovend die an ihn gestellten Mindestanforderungen gegenüber der Wissenschaft erfüllt.422 Gibt er seinen akademischen Grad auf, wäre er – die Wirksamkeit des Verzichts vorausgesetzt – nicht länger Mitglied der Wissenschaftsgemeinde. Ohne aber in deren Kreis eingereiht zu sein, binden ihn die dort als konsentiert geltenden Pfl ichten nicht mehr. Durch den Verzicht auf den Doktorgrad entledigt er sich folglich nur einer Pfl icht, die er allein aufgrund der mit seiner Graduierung verbundenen Vorteile zu erfüllen hat. Insofern ist es genau umgekehrt: die Pfl icht zur wissenschaftlichen Redlichkeit stellt einen Rechtsreflex der mit der Graduierung verbundenen Vorteile dar. Das bedeutet nicht, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen von unpromovierten Autoren nicht auch den Standards guter wissenschaftlicher Praxis entsprechen müs418
Vgl. Brüggemann, Der Verzicht von Zivilpersonen im Verwaltungsrecht (1965), S. 8. Vgl. Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 15; Malrony, JA 1974, 475 (475); Schmalz, Allgemeines Verwaltungsrecht, Teil 1, 3. Aufl. (1983), S. 254. 420 Vgl. Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (877). 421 So auch Tiedemann, ZRP 2010, 53 (55). 422 So auch Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 204. 419
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sen; ihre Einhaltung bedarf aber einer ausdrücklichen Vereinbarung. Genau dies ist der Unterschied, der zur Konsequenz hat, dass derartigen Abhandlungen nicht das gleiche Vertrauen und die gleiche Form der Rezeption zu Teil wird, wie sie Arbeiten von promovierten Wissenschaftlern erfahren. Im Ergebnis gibt der Verzichtende mit seiner Graduierung folglich nicht mehr auf, als eine ihn begünstigende Rechtsposition. Die Verzichtsvoraussetzung ist damit erfüllt.
cc) Dispositionsbefugnis des Verfügenden (1) Fachspezifi sch verliehener Doktorgrad Die Dispositionsbefugnis über die Graduierung kann nicht daraus abgeleitet werden, dass sich der Verzichtende durch Nicht-Gebrauchmachen seines Titelrechts den damit in der Wissenschaft verbundenen Vorteilen rechtmäßig und unbestritten entziehen kann. Juristisch wäre dies ein unzulässiger a minore ad maius-Schluss.423 Anders als bei solchen Rechten, die ihrer Natur nach frei übertragbar sind oder dem Verzichtenden qua legem eingeräumt wurden, kann die Dispositionsbefugnis aber auch nicht einfach begründungslos vorausgesetzt werden. Die Graduierung am Ende des Promotionsverfahrens stellt – nach Ablauf der Widerspruchsfrist – einen bestandskräftigen Verwaltungsakt dar, der als einseitige hoheitliche Maßnahme nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen der Verfügungsgewalt Privater entzogen ist. Unweigerlich stellt sich so die Frage, ob der Einzelne durch einseitigen Verzicht überhaupt befugt ist, in die hoheitliche Verwaltungstätigkeit einzugreifen. Es ist ein alter Grundsatz, dass Abreden zwischen Privaten das öffentliche Recht grundsätzlich nicht modifizieren können; insoweit schirmt sich das öffentliche Recht ab.424 Als Verwaltungsakt zählt die Graduierung am Ende des Promotionsverfahrens jedoch zum Bereich des öffentlichen Rechts. Wenn dieser Bereich aber selbst von Vereinbarungen Privater unberührt bleibt, bedarf die These von der Erledigung des Doktorgrades durch einseitige Verzichtserklärung des Inhabers einer stichhaltigen Begründung. Häufig bleiben die Unterstützer dieser These eine solche jedoch schuldig; stattdessen scheinen sie ihren Blick oftmals auf die aus dem Verwaltungsakt abgeleiteten Rechte zu verengen. Dabei gerät jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Verwaltungsaktes aus dem Blickfeld: seine hoheitliche Natur. Trifft der Staat eine einseitige, konkret individuelle Einzelfallregelung, kann sich der Betroffene auch dann nicht über die Gestaltung der Behörde hinwegsetzen, wenn sie eine Begünstigung enthält.425 Der Verwaltungsakt ist insoweit mit dem in ihm – aufgrund einer Ermächtigungsgrundlage – konkretisierten Recht untrennbar verbunden. Es darf daher nicht zwischen der Graduierung als Verwaltungsakt und den daraus ausfl ießenden Vorteilen differenziert werden; beides ist eins. Es wirkt künstlich, wenn man dies anders sehen und zwischen dem Verwaltungsakt als Rechtsquelle und dem dar-
423 424 425
So auch Thieme, DÖV 1988, 250 (253). Vgl. Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektiv öffentliche Rechte (1966), S. 38. Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 288.
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aus ausfl ießenden Recht zu trennen versucht.426 Wer über das aus dem Verwaltungsakt abgeleitete Recht verfügt, verfügt auch über den Verwaltungsakt selbst. Die Dispositionsbefugnis über eine durch Verwaltungsakt gewährte Rechtsposition kann auch nicht damit begründet werden, dass der Verzicht auf gesetzlich zugewiesene Begünstigungen grundsätzlich als zulässig angesehen wird. Denn es macht einen Unterschied, ob ein Rechtsvorteil per Gesetz oder durch Verwaltungsakt gewährt wird. Diese Differenzierung stellt keine Zufälligkeit dar,427 sondern eine der behördlichen Einzelfallregelung zukommende Privilegierung in Form der Tatbestandswirkung. Per Gesetz zugewiesene Rechte, die hingegen schon in ihrem Entstehungsgrund der Disposition ihres Inhabers unterstellt sind, bedürfen weder der behördlichen Aktualisierung noch ihrer Konkretisierung; hier kann der Berechtigte von Fall zu Fall bei gleicher Sachlage immer wieder neu über die Inanspruchnahme oder den Verzicht entscheiden. Das spätestens mit Eintritt der Bestandskraft bei einem Verwaltungsakt bestehende Problem stellt sich dort folglich nicht; verfügt der Rechtsinhaber, so steht dem kein anderslautender staatlicher Befehl entgegen. Ohnehin lässt sich gegen die Wirksamkeit einer Verzichtserklärung auf den Doktorgrad ein weiteres Argument in Stellung bringen: die Lehre vom actus contrarius. Nachdem die Graduierung am Ende des Promotionsverfahrens als öffentlich-rechtliche Verwaltungsentscheidung allein der Behörde vorbehalten ist, muss auch die Auf hebung der Graduierung als actus contrarius allein der Behörde vorbehalten sein. Diese Sichtweise ist keineswegs nur formalistisch,428 sondern folgt dem materiellrechtlichen Grundsatz, dass derjenige, der den Verfügungsgegenstand aus eigener Rechtsmacht nicht selbst begründen, ihn auch nicht selbständig vernichten kann. Eine Verzichtserklärung ist mit der Lehre von Ernst Forsthoff dann nicht mehr als ein verfahrenseinleitender Antrag an die zuständige Behörde, den begünstigenden Verwaltungsakt nach verwaltungsrechtlichen Grundsätzen aufzuheben.429 Die rechtsfehlerhafte Bezeichnung als Verzicht ist unschädlich.430 Die Behörde ist analog §§ 133, 157, 242 BGB gehalten, die Erklärung entsprechend des Antragsbegehrens auszulegen; es handelt sich um eine unschädliche Falschbezeichnung (falsa demonstratio non nocet).431 Nach richtiger Ansicht, fehlt es dem Inhaber eines Doktorgrades folglich an der Dispositionsbefugnis; er kann nur das Auf hebungsverfahren anstoßen, die Graduierung aber nicht durch Verzichtserklärung rechtswirksam beseitigen.432
426 427 428 429 430 431 432
So aber Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektiv öffentliche Rechte (1966), S. 39. Abweichend: Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektiv öffentliche Rechte (1966), S. 39. Insoweit kritisch: Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (875). Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 288. Vgl. Kopp/Schenke VwGO, 15. Aufl. 2007, § 70 Rn. 5. Vgl. Stumpf, JA 2010, 616 (618). Siehe hierzu nach Kapitel C.III.2.e).
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(2) Ehrenhalber verliehener Doktorgrad Nichts anderes gilt für die von der Fakultät zu verleihende Doktorwürde ehrenhalber.433 Dieser Ehrenauszeichnung kommt die hier interessierende wissenschaftliche Bedeutung nicht zu. Anders als der fachspezifisch erworbene Doktorgrad, muss der Anlass für die Ehrung nicht in besonderen Leistungen des Geehrten im Bereich der Wissenschaft liegen.434 Auch um dies deutlich zu machen, verlangen einige Landeshochschulgesetze durch Zusätze wie „h.c.“ für „honoris causa“ oder dem an den früheren Technischen Hochschulen gebräuchlichen Zusatz „e.h.“ für „ehrenhalber“ die disziplinübergreifend einheitliche Kennzeichnung dieses Grades.435 Derartige Ehrengrade sind somit in besonderer Weise mit ihrem Träger verbunden, was dazu führt, dass dem Persönlichkeitsrecht bei ihrer Verleihung ebenso wie bei ihrer Erledigung eine besondere Beachtung zukommen muss.436 Dieser Umstand führt selbst bei denjenigen, die den rite erworbenen Doktorgrad für unverzichtbar halten dazu, dass sie hier eine Ausnahme machen und den Verzicht auf den Ehrendoktorgrad ausdrücklich zulassen wollen.437 Dies wirkt inkonsequent, da auch der starke Bezug zur Persönlichkeit des Graduierten nicht dazu führt, dass die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes durch einseitige Verzichtserklärung überkommen werden kann. Schließlich wird niemand dazu gezwungen, die Ehrung einer Fakultät anzunehmen. Wurde sie aber akzeptiert, kann man sich ihrer auch dann nicht wieder entledigen, wenn es seitens des Würdenträgers zu einem Sinneswandel gekommen ist. Diese mit jeder einseitigen, hoheitlichen Ehrung als Nebenfolge verbundene Beschränkung gilt es zu bedenken, bevor man sie annimmt. Wegen seiner besonderen Natur und dem Umstand, dass dem honoris causa verliehenen Doktorgrad kein Befähigungsnachweis zu Grunde liegt, wirkt sich die enge Anbindung an die Persönlichkeit seines Trägers jedoch dadurch aus, dass er im Wege eines ungeschriebenen Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung die Rücknahme der Ehrung verlangen kann. Die gradverleihende Fakultät hat dann ein ver433
Abweichend: Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 288 f.; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1931), S. 215; Quaritsch, GS Martens (1987), 407 (410), die persönliche Ehrungen für verzichtbar halten. 434 Vgl. Karpen, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 795 (809); anders in Mecklenburg-Vorpommern, wo § 43 III 3 HG M-V vom 25. 01. 2011 die Verleihung des Doktorgrades ehrenhalber nur aufgrund besonderer wissenschaftlicher Leistungen gestattet. 435 Vgl. Karpen, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 795 (809); eine Auswertung aller 16 Landeshochschulgesetze belegt die Kennzeichnung als Ehrengrade in: § 38 II 3 HG BW vom 01. 01. 2005; §§ 2 V 2, 35 VII BerlHG vom 13. 02. 2003 (doctor honoris causa); § 29 I 3 BbgHG vom 18. 12. 2008; § 24 V 2 HessHG vom 14. 12. 2009; § 43 III 3 HG M-V vom 25. 01. 2011 (nur aufgrund besonderer wissenschaftlicher Leistungen); § 40 VI 1 SächsHG vom 10. 12. 2008 (doctor honoris causa); § 18 IV I HG LSA vom 27. 07. 2010 (doctor honoris causa); § 76 VI 6 HG SH vom 28. 02. 2007 (Doktor ehrenhalber); § 54 II 2 ThürHG vom 01. 01. 2007 (Doktor ehrenhalber); § 64 III 3 SaarlUG vom 26. 06. 2004 (Doktor ehrenhalber). Eine Führung nur gemäß der Verleihungsurkunde bei den ehrenhalber verliehenen Graden verlangt Art. 67 I 2 BayHSchG vom 23. 05. 2006. 436 So auch Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 288. 437 Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, 10. Aufl. (1973), S. 288 f.; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. (1931), S. 215; Quaritsch, GS Martens (1987), 407 (410), die persönliche Ehrungen für verzichtbar halten.
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waltungsrechtliches Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten, wobei im Lichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dem Verlangen des Würdenträgers nachzugeben und der die Ehrung statuierende Verwaltungsakt unverzüglich aufzuheben ist. Insoweit kommt es wegen der engen Anbindung der Ehrendoktorwürde an die Person des Trägers zu einer Ermessensreduzierung auf Null. Dies schützt die Interessen des Geehrten ausreichend und gewährleistet gleichzeitig, dass die verwaltungsrechtliche Dogmatik nicht auf der Strecke bleibt.
dd) Kein entgegenstehendes öffentliches Interesse Führt der Verzicht auf Rechtspositionen dazu, dass öffentliche Interessen tangiert werden, steht dies seiner Rechtswirksamkeit entgegen. Unisono wird von den Befürwortern einer Verzichtsmöglichkeit auf den Doktorgrad behauptet, dass die Promotion für den Graduierten ausschließlich begünstigend wirke und im Verzichtsfalle entgegenstehende öffentliche Interessen nicht erkennbar seien.438 Dies ignoriert erneut – in mehrfacher Hinsicht – die besondere Bedeutung des Doktorgrades in der Wissenschaft. Anders als die von außen an den Doktorgrad herangetragene gesellschaftliche Einschätzung weist er seinen Träger – nach dem allein relevanten Verständnis der Wissenschaft – 439 ausschließlich als Mitglied der Wissenschaftsgemeinde aus, das sich an dem prinzipiell unabgeschlossenen Vorgang der Erkenntnisgewinnung durch selbständiges wissenschaftliches Arbeiten beteiligen kann. Verletzt er die universellen Regeln redlicher Erkenntnisgewinnung, handelt es sich dabei nicht mehr um eine rein private Angelegenheit.440 Wegen des innerhalb der Wissenschaftsgemeinde bestehenden „Generationenvertrags“441 kommt es zu einer Erschütterung des auf Vertrauen und Redlichkeit basierenden Wissenschaftsbetriebs, sobald ein Mitglied der Wissenschaftsgemeinde des wissenschaftlichen Fehlverhaltens beschuldigt wird. Auch wenn es in dieser Situation menschlich verständlich ist, dass der Betroffene den darauf folgenden „Selbstreinigungsprozess der Wissenschaft“ dadurch beschleunigen möchte, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und fortan auf seinen Doktorgrad verzichten will, kann dies nicht dazu führen, dass der Wissenschaft eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Fehlverhalten versagt bleibt. Genau das wäre aber die Folge, wenn wir es in einer solchen Situation dulden würden, dass die Aufarbeitung des Sachverhalts durch die zuständigen Kommissionen des Wissenschaftsbetriebs dadurch desavouiert wird, dass der Angeschuldigte in Form seiner Verzichtserklärung selbst die Konsequenzen ausurteilen und somit jedwede weitere Feststellung obsolet werden lassen würde. Nachdem wir es aber auch sonst nicht gestatten, dass der Täter seine Bestrafung völlig eigenständig festlegt, kann hier nichts anderes gelten. Die Auf klärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens 438 So Illian, Der Verzicht Privater im Verwaltungsrecht (1993), S. 205, 207; Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (877). 439 So auch Lorenz, DVBl. 2005, 1242 (1244). 440 Vgl. VGH BW, Urteil vom 19. 04. 2000 – 9 S 2435/99, Rn. 30 – juris: „Der Promotionsausschuss durfte die öffentlichen Interessen an der Entziehung des Doktorgrades stark bewerten.“ 441 Siehe hierzu Kapitel C.II.
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und der damit verbundene Selbstreinigungsprozess sind für die Wissenschaft von elementarer Bedeutung. Darauf weist auch der Bericht an die Hochschulleitung der Universität Bayreuth aus Anlass der Untersuchung des Verdachts wissenschaftlichen Fehlverhaltens von Karl-Theodor zu Guttenberg hin: „Die Folgen vermeintlichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens sind aus Sicht der Universität, deren Reputation durch einen solchen Vorfall betroffen ist, nicht notwendig allein dadurch behoben, dass etwa ein Doktortitel zurückgenommen wird [. . .]“442. Würde das eingeleitete Entziehungsverfahren aber mit der Folge gegenstandslos, dass es eingestellt werden müsste,443 könnte die mit jeder Auf klärung wissenschaftlichen Fehlverhaltens verbundene Migration der Standards guter wissenschaftlicher Praxis nicht vorangetrieben werden. Kollidiert also das Verzichtsrecht des Einzelnen mit legitimen öffentlichen Interessen – wie dem Grundsatz der Selbstreinigung der Wissenschaft – muss zwischen beiden Gütern im Wege des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abgewogen werden. Eine Begrenzung des Verzichtsrechts ist nur rechtmäßig, wenn sie zur Wahrung des entgegenstehenden öffentlichen Interesses geeignet und erforderlich ist und dem Einzelnen als angemessen zugemutet werden kann.444 An der grundsätzlichen Eignung des hochschulseitigen Entziehungsverfahrens zur Zielerreichung bestehen ebenso wenig Zweifel wie an der Tatsache, dass es zur Begrenzung des Verzichtrechts in den Fällen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens kein anderes, relativ milderes Mittel gibt, um den Selbstreinigungsprozess in gleichem Maße zur Geltung zu verhelfen. Das Bedürfnis nach einer Selbstreinigung der Wissenschaft steht damit dem Interesse des Betroffenen, der durch den Verzicht auf den Doktorgrad einer offiziellen Feststellung seines wissenschaftlichen Fehlverhaltens zuvor kommen möchte, diametral entgegen. Nur wenn die gradverleihende Fakultät den Doktorgrad mittels eines den rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Auf hebungsverfahren entzieht, kann in hinreichender Form auch der Ausschluss des betroffenen Wissenschaftlers aus der Wissenschaftsgemeinde dokumentiert und zur Kenntnis genommen werden. Der Verlust des Doktorgrades berührt im Übrigen auch die Interessen der Fakultät, deren Reputation dadurch leicht in Misskredit gebracht werden kann.445 Um ihren Schaden so gering wie möglich zu halten, muss sie nach außen hin dokumentieren (können), dass sie vollumfänglich handlungsfähig und vor allem handlungswillig ist. Dies wird ihr aber nur gelingen, wenn sie die Chance erhält, den Auf klärungsprozess schonungslos voranzutreiben und eine festgestellte anfängliche Unredlichkeit oder akademische Unwürdigkeit mit dem Entzug des Doktorgrades zu ahnden. Die Möglichkeit, sich durch begründungslosen Verzicht aus der Wissenschaftsgemeinde sang und klanglos zurückzuziehen, ist dazu keine gleichwertige Al442 Vgl. Bericht der Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft der Universität Bayreuth (2011), S. 4, abruf bar unter: http://www.uni-bayreuth.de/presse/Aktuelle-Infos/2011/Bericht_der_Kommission_ m__Anlagen_10_5_2011_.pdf (zuletzt abgerufen am 19. 12. 2011). 443 So Baldus, Jura 1988, 573 (577). 444 So auch Robbers, JuS 1985, 925 (930). 445 Vgl. Bericht der Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft der Universität Bayreuth (2011), S. 4, abruf bar unter: http://www.uni-bayreuth.de/presse/Aktuelle-Infos/2011/Bericht_der_Kommission_ m__Anlagen_10_5_2011_.pdf (zuletzt abgerufen am 19. 12. 2011).
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ternative. Die verlorene Vertrauensbasis innerhalb des Wissenschaftsbetriebs kann nur zurück gewonnen werden, wenn das Fehlverhalten restlos aufgeklärt und sanktioniert wird. Zumindest aber Letzteres wäre unmöglich, wenn sich der „Wissenschaftler“ seines Doktorgrades rechtzeitig durch Verzicht entledigen und so nachteiligen Feststellungen entziehen könnte.446 Vor diesem Hintergrund besteht kein Zweifel daran, dass die – größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit – stattfi ndende Untersuchung des wissenschaftlichen Fehlverhaltens dem Betroffenen auch zumutbar ist; schließlich war er es, der diesen Prozess durch sein Fehlverhalten überhaupt erst notwendig gemacht hat. Davon abgesehen widerspricht die Möglichkeit, auf den Doktorgrad durch einseitige Erklärung verzichten zu können, dem öffentlichen Interesse noch aus einem ganz anderen Grund. Es wurde bereits dargelegt, dass der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung zwingend die Redlichkeit der am Erkenntnisprozess Beteiligten voraussetzt. Insoweit könnte der behördliche Entzug – anders als der begründungslos private Verzicht – eine Präventionswirkung entfalten, die sich auf die Forscher verhaltenssteuernd auswirken würde. Auch wenn am Ende sowohl beim Verzicht als auch beim behördlichen Entzug der Doktorgrad verloren ist, macht es einen psychologischen Unterschied, ob der Betroffene die Wissenschaftsgemeinde durch seinen Verzicht freiwillig verlässt oder aber von dieser durch die Auf hebung seines Doktorgrades ausgeschlossen wird. So könnte die verbindlich festgestellte nachträgliche Unwürdigkeit die bereits promovierten Wissenschaftler disziplinieren, während die Feststellung einer anfänglichen Unredlichkeit eine Präventionswirkung bei den noch im Promotionsverfahren befindlichen Akademikern erzeugen würde. Principiis obsta wäre dann das Gebot der Stunde. Die Präventionswirkung kann jedoch nur dann maximale Wirkkraft entfalten, wenn den (zukünftigen) Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinde von Anfang an klar gemacht wird, dass ein selbstinitiierter Verzicht auf den Doktorgrad wegen gegenläufiger öffentlicher Interessen von vorneherein ausgeschlossen und massives wissenschaftliches Fehlverhalten somit stets zum Gegenstand eines – mit allen damit zusammenhängenden nachteiligen Folgen – behördlichen Untersuchungsverfahrens gemacht werden wird. Somit steht auch die präventive Effektuierung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis als öffentliches Interesse der Möglichkeit entgegen, sich durch Verzicht dem behördlich angeordneten Gradverlust zu entziehen.
e) Verzichtserklärung als Entziehungsantrag Im Ergebnis zeigt sich somit, dass selbst bei unterstellter Dispositionsbefugnis mit dem Interesse an der Selbstreinigung der Wissenschaft, der damit verbundenen Migration ihrer Regeln sowie der präventiven Effektuierung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis jedenfalls drei öffentliche Interessen ausgemacht werden können, die der Wirksamkeit des Verzichts entgegenstehen.447 Die Verzichtserklärung auf den 446 Abweichend Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl. (1996), 753 (777). 447 Abweichend Maurer, in: Flämig et al. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band I, 2. Aufl.
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Doktorgrad ist damit nicht mehr als ein das behördliche Auf hebungsverfahren einleitender Antrag. Ein Erlöschen eo ipso tritt durch die Verzichtserklärung nicht ein.
IV. Möglichkeiten des redlichen Neuerwerbs? 1. Entziehung durch die verleihende Institution Wurde der Doktorgrad durch die verleihende Institution entzogen, kommt es für die Beantwortung der Frage, ob damit auch zukünftig die Möglichkeit eines redlichen Neuerwerbs der Graduierung für den Betroffenen ausgeschlossen ist, darauf an, ob die Auf hebung wegen anfänglicher Unredlichkeit oder nachträglicher Unwürdigkeit erfolgt ist.
a) Anfängliche Unredlichkeit Hat sich der Doktorand bereits bei der Ausarbeitung seiner Dissertationsschrift unredlich verhalten, werden beide im Promotionsverfahren erlassenen Verwaltungsakte mit ex-tunc-Wirkung widerrufen. Da schon der Befähigungsnachweis unlauter erworben wurde, haben die Voraussetzungen für die im zweiten Verwaltungsakt ausgesprochene Graduierung niemals vorgelegen. Das Verfahren gilt als endgültig nicht bestanden. Die erneute Vorlage der gleichen Dissertationsschrift in einem neuerlichen Promotionsverfahren scheidet in diesen Fällen aus. Möglicherweise kann der Betroffene aber seine ursprüngliche Dissertationsschrift überarbeiten bzw. das Promotionsverfahren mit einer neuen Dissertationsschrift anstoßen. Das wäre ausgeschlossen, wenn der Entziehungsentscheidung der Fakultät regelmäßig auch eine rechtliche Sperrwirkung zukäme, nach der dem Betroffenen auch der rechtmäßige Erwerb der Promotion an der betroffenen Fakultät versagt würde. Hieran dürfte fakultätsseitig jedoch kein Interesse bestehen.448 Ihr geht es primär darum, ihren damaligen Fehler zu revidieren und gleichzeitig zu verhindern, dass sich der Betroffene weiterhin mit einem akademischen Grad schmückt, den er bei ihr unrechtmäßig erworben hat. Die Fakultät sagt sich damit nicht dauerhaft von der Person des Betroffenen los, sondern allein von der der Graduierung zu Grunde liegenden Leistung, mit der sie durch die zwingend vorgesehene Publikation der Dissertationsschrift – und sei es nur in Form der öffentlich zugänglichen Dissertationspfl ichtexemplare – eng verbunden ist. Daneben genügt die Feststellung und Sanktionierung des konkreten Fehlverhaltens, um der Selbstreinigungskraft der Wissenschaft Genüge zu tun. Es ist nicht erforderlich, den „Wissenschaftler“ (präventiv) auf ewig von der Wissenschaftsgemeinde fern zu halten; allein auf der Grundlage seiner bisherigen Leistung durfte ihm die Fakultät keinen Zugang zur Wissenschaftsgemeinde eröffnen. Folglich hindert die Einzelfal(1996), 753 (777); Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland (1969), S. 218. 448 Noch klarer: Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (878).
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lentscheidung den Betroffenen nicht, in ein neues Verfahren zur Erlangung des Doktorgrades einzutreten.
b) Akademische Unwürdigkeit Durch den Entzug des Doktorgrades wegen akademischer Unwürdigkeit werden die Fälle erfasst, in denen der Betroffene nach seiner Graduierung eines massiven wissenschaftlichen Fehlverhaltens überführt werden konnte. Anders als bei der anfänglichen Unredlichkeit kommt es somit nur deshalb zu akademischen Konsequenzen, weil er als Mitglied der Wissenschaftsgemeinde besonders gravierend gegen die Standards guter wissenschaftlicher Praxis verstoßen hat. Im Promotionsverfahren hat der Betroffene sich hingegen wissenschaftsadäquat verhalten und somit seinen Befähigungsnachweis redlich erlangt. Da ihm dieser erste Verwaltungsakt folglich zu Recht bestätigt, dass er zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten befähigt ist, bezieht sich das von der Fakultät eingeleitete Entziehungsverfahren allein auf die Auf hebung der Graduierung und den damit einhergehenden Ausschluss aus der Wissenschaftsgemeinde. Obwohl in diesen Fällen der redlich erlangte Befähigungsnachweis fortbesteht, kann der Betroffene hieraus bei der gradverleihenden Institution keinen Anspruch auf erneute Graduierung geltend machen; denn dieser Anspruch ist im Zeitpunkt des (erstmaligen) Vollzugs der Graduierung erloschen,449 so dass aus diesem (ersten) Verwaltungsakt gegenüber der Fakultät keine Verpfl ichtung zur erneuten Graduierung abgeleitet werden kann. Im Übrigen besteht aber auch hier keine Notwendigkeit, in der Auf hebungsentscheidung konkludent ein Verbot der neuerlichen Promotion an der jeweiligen Fakultät zu sehen. Schließlich hat der Kandidat durch seine Promotion in der Vergangenheit bewiesen, dass er die Wissenschaft auf redliche Art und Weise vorantreiben kann. Ihm durch ein generelles Promotionsverbot zu unterstellen, dass selbst der jetzt angeordnete Verlust des Doktorgrades bei ihm keinen Sinneswandel herbeiführen werde, der zukünftig – über die Promotion hinaus – ein wissenschaftsadäquates Verhalten garantiert, bedarf überzeugender Argumente. Schließlich nimmt eine solche Hypothese dem Betroffenen die Möglichkeit, erneut in die Wissenschaftsgemeinde einzutreten. Allein die vage Vermutung ist hier aber ebenso wenig ausreichend wie das Aufstellen eines Generalverdachts („Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“), um in diesem Lichte den Ausschluss von einem zweiten Promotionsverfahren im selben Fachgebiet zu rechtfertigen. Anders als bei der Entziehung wegen anfänglicher Unredlichkeit besteht hier zudem die Möglichkeit, die neue Dissertationsschrift auf der ursprünglichen aufzubauen. Zu einem Absinken der Promotionsanforderungen darf dies jedoch nicht führen. Auch im neuerlichen Promotionsverfahren muss der Betroffene eine selbständige wissenschaftliche Leistung erbringen, die einen Erkenntnisfortschritt enthält und damit zur Wissenschaftsförderung geeignet ist. Ohne maßgebliche Veränderungen kann dieselbe Arbeit daher nicht als Dissertationsschrift angenommen werden. Da die dort niedergelegten Thesen bereits veröffentlicht sind, fehlt es an dem jeder Dis449
So auch Baldus, Jura 1988, 573 (576).
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sertationsschrift immanenten Neuheitscharakter. Sofern der Betroffene jedoch seine ursprünglichen Thesen derart weiterentwickelt, dass die neu eingereichte Arbeit auch einen neuerlichen Erkenntnisfortschritt aufweist, kann ihm auf dieser Grundlage ein neuer Befähigungsnachweis und darauf auf bauend eine erneute Graduierung zu Teil werden.
2. Verzicht durch den Graduierten Wer – entgegen der hier vertretenen Auffassung – den Verzicht auf den Doktorgrad für möglich hält, muss sich gerade auch in den Fällen, in denen der zur Graduierung führende Befähigungsnachweis redlich erlangt wurde, mit der Frage befassen, ob der Verzichtende sich mit seiner Dissertationsschrift noch einmal – gegebenenfalls an einer anderen Fakultät – um die Erlangung des Doktorgrades bemühen kann. Im Zentrum einer möglichen Antwort steht somit die Reichweite der Verzichtserklärung. Diesbezüglich vertreten Matthias Nebendahl und Thomas Rönnau die Ansicht, dass mit dem Verzicht auf den akademischen Grad keine weitergehenden Rechtsfolgen verbunden seien.450 So enthalte die Verzichtserklärung insbesondere kein konkludentes Versprechen, dass dieselbe Arbeit nicht noch einmal bei einer anderen Fakultät zur Erlangung des Doktorgrades eingereicht werde. Aus diesem Grund stelle das später erneute Einreichen der (überarbeiteten) Dissertationsschrift auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum propium) dar. Dies wäre ohnehin nur möglich, sofern „die Fakultät aufgrund der Verzichtserklärung im konkreten Einzelfall darauf vertraut, daß der Verzichtende eine Wiedervorlage derselben Arbeit in der Zukunft ausschließt.“451 Eine solche Vertrauensgrundlage wird jedoch bereits deswegen nicht begründet, weil der Fakultät diesbezüglich überhaupt kein Vertrauensschutz zukommt. Der Doktorgrad wird zwar „ad personam“ verliehen, bezieht sich aber allein auf die im Promotionsverfahren abgelegten Prüfungen. Ein Interesse daran, die Verzichtserklärung als dauerhaftes Hindernis für eine erneute Graduierung durch eine andere Fakultät zu begreifen, besteht auf Seiten der mit dem Verzicht konfrontierten Institution nicht. Im Falle des Verzichts auf einen wegen anfänglicher Unredlichkeit aufgegebenen Doktorgrad ist der von der gradverleihenden Fakultät begangene Fehler durch den endgültigen Verzicht beseitigt; im Falle der akademischen Unwürdigkeit besteht schon kein Grund einen Wissenschaftler, der durch die redliche Erlangung seines Doktorgrades nachgewiesen hat, dass er grundsätzlich in der Lage ist, den wissenschaftlichen Standards entsprechend zu forschen, dauerhaft aus der Wissenschaftsgemeinde auszuschließen.
450 451
Vgl. Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (879). Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (879).
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3. Hindernisse rechtlicher oder tatsächlicher Art Es wurde bereits festgestellt, dass weder dem Entziehungsverfahren noch der Verzichtserklärung eine Sperrwirkung zukommt, die dem redlichen (Neu-)Erwerb eines Doktorgrades und der damit verbundenen Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde dauerhaft entgegensteht. Davon abgesehen könnten den Betroffenen aber die nachfolgend diskutierten rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisse von der neuerlichen Durchführung eines Promotionsverfahrens abhalten.
a) Negative Zulassungsvoraussetzungen der Promotionsordnungen So enthalten die als Satzung ergangenen Promotionsordnungen rechtswissenschaftlicher Fakultäten oftmals so genannte „negative Zulassungsvoraussetzungen“. Hiernach sollen Promotionsbewerber, die entweder in einem anderen Promotionsverfahren endgültig gescheitert oder aber bereits ein Promotionsverfahren in der gleichen Fachrichtung erfolgreich bestanden haben, nicht zum Promotionsverfahren zugelassen werden. Während Letzteres damit begründet werden könnte, dass die Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde eines Fachbereichs nur einmal erfolgen kann, wird die Erforderlichkeit der ersten Regelung – neben dem Hinweis auf die einen solchen Grundrechteingriff allein nicht rechtfertigende Funktionsfähigkeit des Prüfungswesens – insbesondere mit der Aufrechterhaltung des hohen Wissenschaftsstandards gerechtfertigt.452 Dieser soll gefährdet sein, wenn jedem Promotionsbewerber eine unbeschränkte Anzahl an Prüfungsmöglichkeiten offen steht und das Bestehen des Promotionsverfahrens somit letztlich vom Zufall abhinge. Auch im Lichte der Grundrechte bestehen gegen eine Regelung, die Bewerber, deren mangelnde Eignung für den mit der Promotion eng verknüpften Wissenschaftsbetrieb bereits vor Ablegung der Prüfung einwandfrei feststeht, grundsätzlich keine Bedenken. Voraussetzung ist jedoch, dass die an eine solche Feststellung anknüpfenden Prüfungen fach- und niveaubezogen erfolgt sind. Unzulässig wäre es daher, einen Promotionsbewerber nur deswegen nicht zu einem juristischen Promotionsverfahren zuzulassen, weil er in einer zur Rechtswissenschaft fachfremden Prüfung versagt hat;453 denn das ist ebenso wenig geeignet, eine Aussage über seine Fähigkeit zu treffen, das rechtswissenschaftliche Promotionsverfahren erfolgreich abzuschließen, wie eine Prüfung, der vom Niveau her der Wissenschaftsbezug fehlt. In den vorliegenden Fällen besteht der erforderliche Fach- und Niveaubezug. Entweder verlangt der Betroffene das erneute Ablegen der zuvor – wegen anfänglicher Unredlichkeit – nicht bestandenen Prüfungsleistung oder er will einen an sich redlich erlangten Befähigungsnachweis wiederholen, aus dem sich – wegen der insoweit im Zeitpunkt der Graduierung eingetretenen Teilerledigung – kein erneuter Graduierungsanspruch gegenüber der Fakultät, sondern nur noch die bloße Feststellung ableiten lässt, dass er zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten befähigt ist. Die
452 453
Vgl. Guhl, Prüfungen im Rechtsstaat (1978), S. 93 f. Vgl. Guhl, Prüfungen im Rechtsstaat (1978), S. 94.
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Prüfungen sind folglich identisch und gehen somit weit über die zuvor aufgestellten Nachweisanforderungen hinsichtlich des Fach- und Niveaubezugs hinaus. Wäre das einmalige Versagen in einer insoweit gleichartigen Prüfung bereits ausreichend, um daraus einen sicheren Rückschluss auf die mangelnde Eignung des Bewerbers ziehen zu können, wäre im Falle anfänglicher Unredlichkeit die erneute Aufnahme eines Promotionsverfahrens ausgeschlossen. Wurde das Promotionsverfahren aber bisher nur einmal durchgeführt und nicht bestanden, lässt das auch dann noch keinen sicheren Rückschluss auf die mangelnde Qualifikation für den Wissenschaftsbetrieb zu, wenn die Ursache für das Scheitern in einem massiven Verstoß gegen die Standards guter wissenschaftlicher Praxis liegt. Auf dieser Tatsachengrundlage bereits jedwede Wiederholungsmöglichkeit auszuschließen, greift in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise gleichermaßen in das Grundrecht der Wissenschafts- als auch das der Berufsfreiheit ein. Erst wenn die Promotion ein zweites Mal misslingt, kann die erneute (dritte) Zulassung zum Promotionsverfahren mit Blick auf die dokumentierte Insuffizienz verwehrt werden.454 Ähnlich sieht es auch das Bundesverwaltungsgericht, das in einer Vielzahl von Entscheidungen Regelungen als zulässig angesehen hat, die nur eine Wiederholungsmöglichkeit vorsehen.455 Schließlich gibt auch die Anzahl der Prüfungsversuche, die der Betroffene benötigt, um erstmals den geforderten Mindestanforderungen zu entsprechen, Aufschluss über die Befähigung des Kandidaten für Tätigkeiten, die mit der jeweiligen Prüfung nachgewiesen werden sollen.456 Scheitert der Betroffene somit zwei Mal daran, eine Dissertationsschrift zu verfassen, die den vorgegebenen Minimalanforderungen entspricht, kann dies als Beleg dafür gewertet werden, dass er die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Tätigkeit nach seinen Fähigkeiten und Leistungen nicht erfüllt.457 Gleiches gilt für das Ansinnen eines Betroffenen, dem der Doktorgrad wegen akademischer Unwürdigkeit entzogen wurde. Zwar besteht hier noch der – aus dem ersten Promotionsverfahren resultierende – Befähigungsnachweis, doch ist der daraus abgeleitete Anspruch auf Graduierung mit ihrem Vollzug erloschen.458 Da die Graduierung jedoch aufgehoben wurde, steht die ihr ansonsten zukommende Sperrwirkung einem neuerlichen Promotionsverfahren nicht mehr entgegen. Folglich erhält auch derjenige, der wegen nachträglicher Unwürdigkeit seinen Doktorgrad verloren hat und bereit ist, die Mühen eines neuerlichen Promotionsverfahrens auf sich zu nehmen,459 eine zweite Chance. Dies verdeutlicht darüber hinaus, dass die der akademischen Würdigkeit zukommende Präventionswirkung letztlich auch verhältnismäßig ist. Selbst die Entziehung des Doktorgrades als schärfste Sanktion bei schwersten Verstößen gegen die Wissenschaftsstandards muss keinen endgültigen Ausschluss des Betroffenen aus der Wissenschaftsgemeinde bedeuten; er hat es in der 454
So auch Guhl, Prüfungen im Rechtsstaat (1978), S. 95. Vgl. BVerwG, Urteil vom 07. 03. 1991 – BVerwG 7 B 178/90 = Buchholz, 421.0 Prüfungswesen Nr. 285 m. w. N. 456 Vgl. BVerfGE 80, 1(35 f.). 457 So auch VG Augsburg, Urteil vom 30. 07. 2002 – Au 9 K 02.138 für die Erste Juristische Staatsprüfung. 458 So auch Baldus, Jura 1988, 573 (576). 459 Siehe hierzu sogleich Kapitel C.IV.3.b). 455
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Hand, sich durch eine redliche Leistung neuerlich in den Kreis der Wissenschaftler einzureihen und dort – unter Beachtung des bestehenden Regelwerkes – wieder am wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt mitzuwirken.
b) Subjektive Unmöglichkeit einer neuerlichen Promotion Jenseits der rechtlichen Hindernisse dürfte es dem überwiegenden Teil der vom Verlust des Doktorgrades Betroffenen jedoch oftmals tatsächlich unmöglich sein, ein neues Promotionsverfahren anzustrengen, um auf diese Weise die Graduierung zurückzuerlangen. Werner Thieme hatte diesbezüglich darauf hingewiesen, dass die persönliche Anfertigung einer Dissertationsschrift zumeist mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird.460 Selbst wenn ein Fall der akademischen Unwürdigkeit vorliegt, so dass die zweite Dissertation auf die redlich angefertigte erste auf bauen kann, muss dies nicht zwangsläufig mit einem Zeitvorteil einhergehen. Sofern der Erkenntnisfortschritt in dem von der Dissertation behandelten Bereich nicht kurzfristig zum Stillstand gekommen ist, können Aktualisierung und Weiterentwicklung der ursprünglichen Dissertationsthesen im Lichte des aktuellen Kenntnisstandes dem Betroffenen weit mehr abverlangen als den ursprünglichen Text ein paar Monate lang zu redigieren. Auch die mündliche Prüfung – schlimmstenfalls in der Form eines Rigorosums – verlangt dem Kandidaten allein in zeitlicher Hinsicht einen nicht unerheblichen, höchstpersönlichen Vorbereitungsaufwand ab. Berücksichtigt man zudem noch die Opportunitätskosten, die der Einzelne in dieser Situation zu tragen hätte, leuchtet schnell ein, dass die Wiedererlangung des Doktorgrades in manchen Lebenssituationen faktisch unmöglich ist. Die von Werner Thieme aufgestellte These, dass der Verlust des Doktorgrades seinem Träger kaum eine tatsächliche Chance lasse, „den Grad jemals in seinem Leben wieder führen zu können“461 wirkt somit durchaus überzeugend.462
D. Schlussbetrachtung Neben dem klassischen Verständnis der Promotion als einheitliches Verwaltungsverfahren, kann diese auch als gestuftes, zweigliedriges Verwaltungsverfahren angesehen werden. Der akademische Teil des Promotionsverfahrens endet dann mit dem Erlass des Befähigungsnachweises, der die zwingende Voraussetzung für die im zweiten Verwaltungsakt statuierte Graduierung bildet. Diese bringt als wesentliche Regelungswirkung die Aufnahme in die Wissenschaftsgemeinde zum Ausdruck, deren Mitglieder sich ihrerseits durch eine bestimmten Regeln folgende Interaktion 460 Vgl. Thieme, DÖV 1988, 250 (253); nach Enders/Bornmann, Karriere mit Doktortitel? Ausbildung, Berufsverlauf und Berufserfolg von Promovierten (2001), S. 64 ff. beträgt die Promotionsdauer im Durchschnitt der sechs von ihnen untersuchten Fächer 5,7 Jahre (mit Themenfi ndung), die reine Bearbeitungsdauer immerhin noch 4,2 Jahre. 461 Thieme, DÖV 1988, 250 (253). 462 Kritisch hingegen Nebendahl/Rönnau, NVwZ 1988, 873 (878), die diesbezüglich – bezugnehmend auf Thieme – von einer „nicht weiter belegten [. . .] Behauptung“ sprechen.
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auszeichnen.463 Eine besondere Bedeutung kommt hier der Einhaltung der Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu. Ihre konsentierte Beachtung bildet das Fundament dafür, dass einzelne Wissenschaftler die Thesen anderer Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde übernehmen können, ohne diese selbst bis an ihren Ursprung zurückverfolgen zu müssen. Dadurch werden die limitierten Ressourcen der Wissenschaftler geschont und der Erkenntnisfortschritt – begünstigt durch das seitens des Staates bereitgestellte Promotionsrecht – deutlich schneller vorangetrieben. Wer sich in diesem von wechselseitigem Vertrauen geprägten Umfeld eines massiven wissenschaftlichen Fehlverhaltens schuldig macht, „darf auf kein Pardon der scientific community hoffen, sondern muss mit einschneidenden Folgen rechnen.“464 Ohnehin ist die Sensibilität für wissenschaftliches Fehlverhalten deutlich geschärft worden; nicht zuletzt der Plagiatfall Karl-Theodor zu Guttenberg hat gezeigt, dass Verstöße gegen die Standards guter wissenschaftlicher Praxis nicht mehr alleine als Hochschulinternum verstanden werden. Missstände im Promotionswesen interessieren heute die breite Öffentlichkeit. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, verlangt dem Wissenschaftsbetrieb auf der anderen Seite aber auch – jenseits der Kodifikation von Wissenschaftsstandards und Verhaltensregeln – noch intensivere Bemühungen ab, wissenschaftliches Fehlverhalten erst gar nicht zur Entstehung gelangen zu lassen. Die Schärfung des Begriffs der akademischen Unwürdigkeit, wie ihn schon Dieter Lorenz erfolgreich begründet hat, kann hier zu einer verhaltenssteuernden Wirkung führen, die durchaus geeignet wäre, die wissenschaftliche Selbstkontrolle erfolgreich zu flankieren. Die von der h. M. immer noch propagierte Möglichkeit, auf den Doktorgrad verzichten und somit den Selbstreinigungsprozess der Wissenschaft beeinträchtigen zu können, könnte langfristig zu einem deutlichen Vertrauensverlust führen. In jedem Fall stellt sie eine Beschneidung der verfassungsrechtlich abgesicherten Selbstautonomie der Wissenschaft dar, indem sie die Hochschulen im Verzichtsverfahren auf den passiven Empfang der Verzichtserklärung reduziert. Das wird weder der Wissenschaft noch der Bedeutung des Doktorgrades gerecht. Will man der hier vertretenen These, dass auf den Doktorgrad nicht wirksam verzichtet werden kann, dennoch nicht folgen, sind die Fakultäten jedenfalls berufen, den Verzicht in ihren Promotionsordnungen durch entsprechende (deklaratorische) Regelung ausdrücklich auszuschließen. Es muss sichergestellt werden, dass dem einzelnen Delinquenten jedwede Möglichkeit genommen wird, sich der Konfrontation mit seinem Fehlverhalten zu entziehen. Nur dann kann die mit dem Entziehungsverfahren verbundene Präventivwirkung maximale Wirkungskraft erzeugen. Außerdem erscheint es angebracht, in Verfahren zur Entziehung des Doktorgrades von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen, wenn auf Tatbestandsebene bereits ein besonders schwerwiegender Verstoß gegen die konsentierten Wissenschaftsstandards festgestellt wurde. Die damit einhergehende Gewissheit über den sicheren Verlust des Doktorgrades dürfte zusätzlich eine disziplinierende Verhaltenssteuerung bewirken. In einer Zeit, in welcher die Informations- und Kommunikationstechnologie praktisch jeden Artikel weltweit verfügbar macht und in der die Verlockung, fremde 463 464
So auch Böhme, in: Stehr/König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie (1975), S. 231 (248). Hillgruber, BRJ 2011 (Sonderausgabe), S. II.
Wissenschaftliches Fehlverhalten und akademische Konsequenzen
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Erkenntnisse als die eigenen auszugeben, im Lichte eines kaum noch zu überblickenden Publikationsmarkt für wissenschaftliche Beiträge schon deshalb immer größer wird, weil das Risiko entdeckt zu werden jedenfalls kurzfristig gering erscheint, kann eine effektive Verhaltenssteuerung die wissenschaftliche Redlichkeit aller Beteiligten zusätzlich absichern. Vollumfänglicher Schutz gegen unredliche Arbeitstechniken wird jedoch auch mit ihr nicht zu erreichen sein. Damit sollte auch zukünftig der fortwährende persönliche Kontakt und regelmäßigen Austausch zwischen Doktorand und Doktorvater im Zentrum der Maßnahmen zur Verhinderung wissenschaftlichen Fehlverhaltens stehen.465 Dies verlangt mehr als die Einhaltung verantwortungsvoller Betreuungsrelationen. Bei der gegenwärtigen Praxis der leistungsorientierten Mittelvergabe, die sich unter anderem nach der Anzahl der betreuten Promotionen richtet, wird den Hochschullehrern insoweit auch eine finanzielle Selbstrestriktion abverlangt. Daneben geraten manche – vom Staat ohnehin nur notdürftig ausgestattete – Lehrstühle in einen weiteren Zielkonfl ikt: Da die Einwerbung von Drittmitteln häufig für Doktorandenstellen verwendet werden (müssen), könnte eine Reduzierung der Promovenden auch zu einer Limitierung ihrer Forschungsmöglichkeiten führen, weil „es keine alternativen wissenschaftlichen Personalstellen gibt oder diese nicht fi nanzierbar sind.“466 Es ist damit zwingend erforderlich, zunächst die Belohnungsmechanismen anzupassen, um dadurch Bedingungen zu erreichen, die durch persönliche Nähe und ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler determiniert werden. In einem solchen Umfeld können Forschungsansätze unter idealen Voraussetzungen weiterentwickelt und die Entstehung der Arbeit genau beobachtet werden. Zwangsläufig wird dann der Drang Einzelner zu plagiieren geringer und die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden deutlich höher.467 Die Vertreibung aus dem Paradiese könnte so zum Auslaufmodell werden; denn wer sich an die Wissenschaftsstandards hält, kann vom Baum der Erkenntnis kosten ohne (jedenfalls akademische) Konsequenzen fürchten zu müssen. Der Begriff „Plagiat“ – als Synonym für wissenschaftliches Fehlverhalten – stünde dann, mit Blick auf seine Etymologie,468 einmal mehr bereit, für eine neue, möglicherweise honorigere Wortbedeutung.
465 So auch Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 15: „Der Wissenschaftsrat unterstreicht die Wichtigkeit der kollegialen Begleitung der Doktorandinnen und Doktoranden.“ Ähnlich Hillgruber, BRJ 2011 (Sonderausgabe), S. II. 466 Wissenschaftsrat (Hrsg.), Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier (2011), S. 20. 467 So auch Hillgruber, BRJ 2011 (Sonderausgabe), S. II. 468 Siehe hierzu Kapitel B.I.2.d): Ursprünglich stammt der Begriff „Plagiat“ vom lateinischen „plagium“ – dem Menschenraub – ab [vgl. Kastner, NJW 1983, 1151 (1151 f.)]. Nachdem dieses Phänomen durch die schwere Strafandrohung in der römischen Kaiserzeit und dem darauf folgenden christlich geprägten Mittelalter verschwand, wurde das Wort frei für den „Seelendiebstahl“ fremder Gedanken.
Texte und Zeichen im öffentlichen Raum Verfassungslehre als Kulturwissenschaft in staatlichen Namensgebungen, Chiffren und Farben von
Prof. Dr. Michael Kilian, Universität Halle I. Grundlagen 1. Namen und Zeichen im öffentlichen Raum Namen werden gegeben, Zeichen werden gesetzt. Sie sind damit Mittel menschlicher Besitzergreifung. Die Schöpfung der Welt beginnt mit Namensgebungen1. Wer Namen gibt, eignet sich etwas geistig an und übt damit letztlich auch Macht aus. Denn Namen werden übernommen, stoßen auf Widerspruch oder sind Gegenstand eines geistigen Kampfes. Sie sind Mittel der Politik wie auch Mittel des Rechts. Staaten geben sich Namen 2, oft geschieht dies direkt oder mittelbar in einer Verfassung. Gesetze formen Begriffe aus, zuweilen werden diese auch durch das Gesetz selbst defi niert (Legaldefi nition) und dringen so, quasi als Benennungen von rechtlichen Phänomenen, auch in den alltäglichen Sprachgebrauch ein. Begriffe werden zu Namen. Dasselbe gilt auch, wenngleich in geringerem Umfang, für abstrakte Zeichen (Bsp. Verkehrszeichen) bis hin zum kompliziert ausgestatteten, nach heraldischen Regeln gestalteten Wappen (Bsp. Bundesadler). Schließlich wäre in diesem Zusammenhang auch Farbgebungen einzubeziehen (Bsp. Bundesflagge, Polizeifahrzeuge, S-Bahn-Züge3). Auch sie können ein Umfeld gedanklich, aber auch sinnlich wahrnehmbar, prägen. Sie werden damit zum Teil einer Alltagsästhetik. Damit sind Namensgebungen und Zeichensetzungen zugleich Phänomene des gelebten Rechtsalltags: des Staates, des Bundes wie der Länder, der Kommunen und der öffentlichen Einrichtungen aller Art. Mittelbar prägen öffentliche Einrichtungen den Alltag mit ihren Namensgebungen, Zeichensetzungen und Farbgebungen auch dann noch, wenn sie, wie im Falle der früheren großen Sondervermögen des Bundes 1 2 3
Genesis 1, 3–31. Burkina Faso anstelle von Obervolta. Orangegelb-rot in Berlin.
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Bahn und Post, mittlerweile formell und mehr oder weniger auch materiell privatisiert sind. Denn sie gehören als Teil der ubiquitär sichtbaren Gegenwart dennoch weiterhin zum öffentlichen Erscheinungsbild des Staates. Er hallt in ihnen nach. Denn im Bewusstsein der Menschen ist das rote Bahn-Logo, ebenso wie die gelbe Postfarbe, nach wie vor ein öffentliches Zeichen für die staatliche Gewährleistung der Infrastruktur des täglichen Lebens. Freilich werden diese öffentlichen Bindungen nach und nach schwächer werden: die Gleichsetzung des Staates mit den Namen „Bund“ („Bundesrepublik Deutschland“) mit „Bundesbahn“ und „Bundespost“4 wird irgendwann verloren gehen. Man mag dies positiv sehen oder bedauern: die öffentliche Sichtbarkeit des Staates im Leben wird abnehmen, seine alltägliche „Greif barkeit“ bis in die entlegendsten Gegenden des Staatsgebiets wird nicht mehr vorhanden sein. Er verschwindet, nicht nur rechtlich als Träger von Sondervermögen, sondern auch ästhetisch. Seine Namen und Zeichen verlieren sich im Dunkel der Geschichte, und so verschwindet er in beträchtlichen Teilen auch aus dem Alltagsbewusstsein. Damit werden Namen, Zeichen und Farben zu öffentlichen Dingen des Staates und seiner Gliederungen. Sie äußern sich jedoch in anderer Form, als es bei der Durchsetzung der staatlichen Rechtsnormen der Fall ist. Diese greifen mit Hilfe der Staatsorgane unmittelbar begünstigend oder belastend in das Leben ein. Jene wiederum wirken nur mittelbar in das öffentliche, kollektive Bewusstsein wie in das Bewusstsein des Einzelnen. Sie dringen in unterschiedlicher Weise in dieses Bewusstsein, prägen es gedanklich mit und formen es, bewusst oder unbewusst wahrgenommen, auch sinnlich – und damit ästhetisch. Im modernen, offenen Verfassungsstaat werden solche Phänomene entweder gar nicht wahrgenommen, als beliebig aufgefasst oder als unmaßgeblich ignoriert. Ganz anders ist es in totalitären Staatswesen, wo man sich dieser „ästhetischen Seite“ des Staates stets sehr belangvoll war. Sie diente dazu, das Volk auf die Ziele und Werte dieses Staates zu konditionieren5. Begriffsbesetzungen und Sprachregelungen sind nur einige dieser Mechanismen der Machtbeherrschung.
2. Namensgebung als Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung Namensforschung ist nicht nur ein Fach der Sprachwissenschaft6, sondern in jüngerer Zeit auch im Bereich der Wirtschaftswissenschaften, und hier vor allem im Marketingbereich, ein Untersuchungsgegenstand. So werden heute Namensgebungen und Umbenennungen für Unternehmen, Holdingunternehmen, Unterneh4 Früher noch, öffentlich deutlich sichtbar, in „gelbe Post“: Postkästen, Telefonzellen, Postomnibusse, Bahnpostwagen, Posttransporter, und „graue Post“: z. B. Telefonbaufahrzeuge, unterteilt. 5 Zu solchen Mechanismen und Manipulationen s. Wolf Schneider (langjähriger Leiter der Hamburger Journalistenschule), Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, Serie Piper 479, 9. A. Sept. 2000, S. 112 ff., 120 ff., 159 ff., 172 ff. 6 S. die Beiträge zur Namensforschung, begründet von Rudolf Schützeichel, herausgegeben von Rolf Bergmann, Damaris Nübling, Ulrich Obst, Heinrich Tiefenbach, Jürgen Untermann. Bis 2011 erschienen 46 Bände. Zur Namenstheorie s. Fabian Fahlbusch, Von Haarmanns Vanillinfabrik zu Symrise, von der Norddeutschen Affi nerie zu Arubis: Prinzipien des diachromen Wandels von Unternehmensnamen, Beiträge zur Namensforschung Bd. 46, Heft 1, 2011, S. 53 f.
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menstöchter bis hin zu einzelnen Produkten zuvor in alle Richtungen sorgfältig getestet7. Gerhard Bauer prägte für die Benennung jeglicher von Menschen geschaffener Objekte den Begriff „Ergonym“8. Im Bereich der öffentlichen Bezeichnungen, namentlich im Bereich des Staates, gab es bisher jedoch, soweit ersichtlich, keine Untersuchungen darüber 9. Dies kann verwundern, erschöpfen sich Namen doch nicht nur in ihrer Eigenschaft, etwas zu bezeichnen, sondern verkörpern darüber hinaus auch ein gedankliches Umfeld, das in die Öffentlichkeit in unterschiedlicher Weise abstrahlt.
3. Namen und Alltagsästhetik Namen, Zeichen und Farben sind – wie etwas Werbeaufschriften, Werbeslogans, Modeartikel in ihrer wechselnden Gestalt und Farbe – in unserer Umwelt überall zu fi nden, sie gehören zur Alltagsästhetik und formen sie auf vielfache Weise mit. Man fi ndet sich mit ihrer Hilfe zurecht, sie beeinflussen unser Lebensgefühl, ja sie werden zu „Mythen des Alltags“ (Roland Barthes). Sie sind längst Gegenstand kulturphilosophischer, soziologischer und sozialpsychologischer Forschung geworden10. In Unterschied zu den Mode-Mythen, die dem steten Wechsel unterliegen, scheinen jedoch die staatlich-öffentlichen ästhetischen „Mythen“ eine größere Beständigkeit aufzuweisen11. Sie begleiten uns oft lange Lebenszeiten hindurch, wenngleich es unseren Eltern und Großeltern bestimmt war, in ihrem Leben mehrere öffentliche Ästhetiken erleben zu müssen12 : von der Monarchie über die Republik, die Diktatur, die Besatzungszeit und, je nachdem, die DDR und die Bundesrepublik. Im Bundesstaat verdoppelte sich diese ästhetische Umwelt noch einmal mit den (abgesehen von den Republiken der Hansestädte) fürstlich regierten Ländern über die Länder der Weimarer Republik, den verschwundenen Ländern zwischen 1933 und 1945, ihrem Wiedererstehen 1946 (und ihrem Wiederverschwinden 1952 in der DDR bis zur Wiedervereinigung 1990), die sich dann ab 1990 in alten und neuen Ländern ausdrückte. In jedem Fall bildeten der Bundesstaat und seine Länder auf zwei Ebenen mit ihrer jeweiligen öffentlichen Ästhetik für alle Bewohner einen Lebensrahmen,
7
S. Fahlbusch a.a.O. S. 51–80. S. Fahlbusch a.a.O. S. 53. 9 Zu den Unternehmensnamen der Privatwirtschaft vgl. demgegenüber die Beschreibung des hier sich entwickelnden Forschungsgegenstands und die Literaturübersicht bei Fahlbusch a.a.O. S. 52–53 und das Literaturverzeichnis hierzu S. 78–80. 10 Zur Ästhetik, besonders derjenigen des Alltags, s. den „Klassiker“ von Roland Barthes, Mythen des Alltags, dt. erstmals 1964 in der edition suhrkamp; aus jüngster Zeit Konrad Paul Liessmann, Das Universum der Dinge: Zur Ästhetik des Alltäglichen, 2008; grundsätzlicher ders., Ästhetisches Empfi nden. Eine Einführung, UTB 3133, 2009, bes. S. 11 ff., 21 ff. 11 S. Peter von Matt, Das Kalb von der Gotthardpost, 2012, Was bleibt nach den Mythen? Das neue literarische Nachdenken über die Schweiz, S. 139 f. 12 Ernst Jünger, Siebzig verweht, Tagebücher III, 1985, S. 503/4, 2. April 1985: „Die Namen ändern sich bei uns sehr oft; daher finde ich ich mich in Paris besser als in deutschen Städten zurecht. Wenn etwa Jean oder Jacques von der Rue Royale am Hause, in dem Robespierre gewohnt hat, vorbei zur Bastille geht, hat er 200 Jahre Geschichte ohne kollektive Gewissensbisse absolviert.“ 8
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dem man sich allenfalls durch Auswanderung entziehen konnte. Die EU fügt dem eine dritte ästhetische Ebene hinzu13.
4. Namensgebung und Öffentlichkeit Nur selten kommt es bei Benennungen zu öffentlichem Unmut und zu Protesten14. Ein solcher Ausnahmefall stellte vor einigen Jahren die öffentliche Debatte um die neu errichtete Stadthalle in Graz dar. Hier wurde von der Eigentümerin, der Stadt Graz, ein Marketingunternehmen mit der Namensgebung beauftragt, dem nichts Besseres einfiel als „TrEvent“15. Also erzwang eine von der örtlichen Presse initiierte Umfrage bei der empörten Bevölkerung einen besseren Namen: „Stadthalle“. Dennoch sind Benennungen auch in Deutschland immer wieder ein Politikum, man muss nur an die heftige, jahrelange Debatte um die Rechtschreibreform seit 1990 denken16. Es ging hier gerade nicht nur um eine bürokratisch in einer Ministerkonferenz angeordnete und durchgesetzte Reform des Schreibunterrichts an den Schulen, vielmehr fasste die Öffentlichkeit die Reform als Ideologie auf, die ihr für ihre künftige Lebens- und Denkweise aufoktroyiert werden sollte. Eingeführte Zeichen sollten verschwinden (das „ß“), wie schon seit 1941 die Fraktur-Schrift verschwunden ist17. Selbst die deutsche Großschreibung der Substantive, ein nationales, unverwechselbares Merkmal, das die deutsche Sprache von fast allen anderen Sprachen abgrenzt, sollte der Vergangenheit angehören18. Namensgebungen unterliegen völkerpsychologischen Rahmensetzungen. Wie der Publizist Rudolf Walter Leonhardt in den sechziger Jahren festgestellt hat, ist deutsch „die Sprache der Vorsicht“19. Hans Magnus Enzensberger hat in einem Essay zum deutschen Sprachgebrauch sehr hellsichtig Ähnliches festgestellt und auf Verschleierungsformen deutscher Namensgebungen im öffentlichen Bereich hingewiesen 20. 13
Mit den entsprechenden Begriffsprägungen, Namen und Zeichen. Eine Reihe von Debatten erregten Benennungen von Schiffen des Bundes, so beim „Zerstörer Lütjens“ oder von Kasernen, so bei der „General-Dietl-Kaserne“. 15 Der Kunstname sollte signalisieren, dass in der künftigen Halle drei Arten von „events“ (= Veranstaltungsformen, was sonst?) in Graz ihren Ort haben sollten. 16 Umfassend zur Rechtschreibreform Wolfgang Kopke, Rechtschreibreform und Verfassungsrecht, 1995. Besprechung des Werks durch den Verf. in NJW 1997, S. 308 f. 17 Zum beidem s. Johannes Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik, 1999, Nr. 481. 18 Bezeichnenderweise war von den Reformen irreführenderweise „nur“ eine „gemäßigte Kleinschreibung“ vorgesehen: alle Großschreibungen der Substantive wären verschwunden bis auf die Satzanfänge und die Eigennamen. Vergleichbares gibt es bei den deutschen umlauten ä, ö, ü, die im internationalen Internetverkehr verschwunden sind und angelsächsische mit ae, oe und ue wiedergegeben werden – ganz im Gegensatz zu Sonderzeichen anderer Sprachen (Bsp. ø), die von den anderen Sprachnationen beibehalten und als internationale Kennzeichen durchgesetzt wurden. 19 In seinem in den sechziger Jahren viel gelesenen Buch „X-mal Deutschland“. 20 In: Einzelheiten I: Bewusstseins-Industrie, Ed. Suhrkamp März 1964. Auch dem ebenfalls sehr sprachsensiblen Johannes Gross kamen bei der Wortwahl Umwelt-, Daten-, Verbraucher-, Jugendschutz Beklemmungsgefühle, denn letztlich laufe dieser fürsorgliche Schutz auf Freiheitsbeschränkungen hinaus, s. Nachrichten aus der Berliner Republik. Notizen aus dem inneren und äußeren Leben 1995–1999, 1999, Nr. 577. 14
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Denn die deutsche Sprache ist oft zweideutig, manchmal erhellend 21, und lässt unterschiedliche Auslegungen zu22. Einem ausländischen Beobachter in Deutschland fiel schon um 1880 in Berlin auf, wie wenig Lust es in Deutschland – anders als in Frankreich – an poetischen, „sprechenden“ Namensgebungen gibt23. Ihm fiel allein „Unter den Linden“ auf. In anderen Städten kann man immerhin einen „Jungfernstieg“, eine „Rothenbaumchaussee“, die „Großen Bleichen“ finden. Ähnlich ist es bei Dorfnamen, wo gibt es in Deutschland ein „Colombey des deux Églises“? Jede Änderung des Gewohnten und jede Neuschöpfung findet die Aufmerksamkeit des Bürgers und der gesamten Öffentlichkeit. So fragte sich Wolfgang Hennis in einem Gespräch mit Patrick Bahners in der FAZ im Jahre 2008 verwundert, warum die Bundesanstalt für Arbeit auf einem Mal als „Bundesagentur für Arbeit“ formiere, und was wohl die Gründe für diese merkwürdige Umbenennung seien 24: „Deutschland ist ein Kulturland, wir haben hier ungeheure Verbrechen geschehen lassen, aber das ändert nichts daran, dass wir große Traditionen haben, die wir nicht aufgeben sollten. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Ich frage mich, wieso eigentlich die Bundesanstalt für Arbeit25 nun Bundesagentur heißen muss, das treibt mich um, ich wüsste gerne, wer dafür die Vorlage gemacht hat. Auch mein Lehrer Rudolf Smend hatte eine Abneigung gegen die ‚Anstalt‘“.
Öffentliche Namensgebungen stießen und stoßen auch heute oft auf Unmut der Bürger: so wurde es jüngst in Sachsen-Anhalt den Fahrzeughaltern bestimmter, neu gebildeter Großkreise gestattet, ihre Autokennzeichen auf Antrag wieder mit den alten, gewohnten Kreisabkürzungen versehen zu lassen 26. Die Neubildung der hessischen Großstadt „Lahn“ (1977–1979), geformt aus den traditionsreichen Städten Gießen und Wetzlar, scheiterte nicht zuletzt auch an dieser allzu technokratischen Bezeichnung27. Der bereits erwähnte Widerstand gegen die Rechtschreibreform ab 1990, der bis heute nicht abklingt, entzündete sich an gewohnten Schreibweisen, die zugleich Denkweisen und ästhetische Bilder verkörpern. Ob die Bezeichnung „Euro“ für die europäische Einheitswährung in den Augen ihrer Verwender – von allen derzeitigen Querelen um diese Währung abgesehen – übergroße Sympathie geweckt hat, kann durchaus dahin gestellt bleiben. „Deutsche Mark“ und „Schilling“ klingen anders, vom „Schweizer Franken“ ganz abgesehen. Eine Umbenennung der „ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald“ konnte mit knapper Mehrheitsentscheidung im Senat der Universität abgewendet werden. 21
Bsp.: „Das ‚sozialistische Lager‘ – ein Lager“. So kann der Begriff „Verfassungsschutz“, so Enzensberger, auch „Schutz vor der Verfassung“ bedeuten. 23 S. Jules Laforgue, Berlin. Der Hof und die Stadt, 1887, dt. 1970/90. 24 Nun wollte ich sehen, wie der Staat arbeitet. FAZ v. 18. 2. 2008, Nr. 41, S. 36. S. a. www.faz. net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/wilhem-hennis-im-gespräch-mit-patrick-bahners, abgerufen am 8. 2. 2012. 25 Bei der es sich rechtlich eigentlich um eine Körperschaft handelt, d. Verf. 26 S. Der Schildbürger. Seit Jahren fordern Heimatnostalgiker ihre alten Kennzeichen zurück, S. Braune/F. Dyele, DER SPIEGEL Nr. 35/2012, S. 42. 27 Demgegenüber setzten sich Gemeindefusionen und Neubildungen mit den Namen Wuppertal, Wolfsburg, Sennestadt, Salzgitter durch. In der DDR waren es Eisenhüttenstadt und Halle-Neustadt (später mit Halle fusioniert). 22
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Aber auch geänderte Zeichen führten zu öffentlichen Debatten und Kritik. Solche Beispiele der letzten Jahrzehnte sind die Änderung der Buchstaben- und ZiffernGraphik auf den Autokennzeichen nach einer europaweit eingeführten EU-Norm vor einigen Jahren, die Diskussion beim Übergang vom alten „Adenauer“-FünfMark-Stück zu einem modernen, automatengerechten DM-Stück (als „Chip“ kritisiert) oder das damals neue rote „DB“- Bundesbahn-Firmenzeichen. Und nicht zuletzt war auch der Übergang von den gewohnten DM-Geldmünzen und Scheinen zum den Euro-Stücken und Scheinen mit neuen, abstrakten Motiven ein für viele schmerzhaft empfundener Kulturverlust.
II. Namensgebung und Verfassungstheorie 1. Die Sichtbarkeit des Staates Der Staat ist (auch) Anschauung, er ist in vielen seiner Manifestationen Vergegenwärtigung des bloß abstrakt Gedachten und wird in dieser Weise wahrgenommen 28. Er ist nicht nur ein Rechts- und Normensystem, eine Struktur, ein Organisationsgebilde, sondern verkörpert sich auch in Namen, Zeichen, Farben, Formen, letztlich im Ästhetischen 29. Er drückt sich (auch) in ihnen aus, er ist bemerkbar anhand von Namen, mehr oder wenig komplexen Begriffen, Zeichensetzungen und einer Farbenund Formenwahl. Er ist damit (auch) mit den Sinnen erfassbar30. Diese ästhetische Dimension des Staates ist vielleicht nie so eindringlich dargestellt worden wie im berühmt gewordenen Frontispiz von Thomas Hobbes’ Werk „Der Leviathan“, der verbildlichten Wiedergabe des allmächtigen Ungeheuers, das den Menschen gleichermaßen zum Segen dienen wie zum Fluch ausarten kann31. Namen, Zeichen und Farben sind somit etwas Öffentliches, erst recht, wenn sie vom Staat und von öffentlichen Einrichtungen genutzt werden. „Nomen est omen“, der Name ist ein Zeichen, er ist nicht „Schall und Rauch“, gerade auch nicht im Recht und in der Politik. Wer Namen vergibt oder festlegt, übt Macht aus32. Dies kann beim Staat, aber auch in der Wirtschaft (Firmenname, Produktname) der Fall sein. Namen können erheben und lächerlich machen, wie die derzeitige Debatte um die schichtenspezifisch Vornamenvergabe durch Eltern für ihre Kinder bezeugt. Öffentliche Namen können Flair entwickeln, so machte Kurt Tucholsky die Speisewagen der „Mitropa“ zum literarischen Nimbus. Die UfA steht für die verführerischen 28 Zu dieser „Phänomenologie“ des Staates sehr luzide Hermann Heller in dessen Staatslehre, in der Bearbeitung von Gerhart Niemayer 1934, 6. rev. Aufl., Tübingen 1983, S. 21 f., 36 f., 41, 44 ff., 50 ff., 65. 29 S. M. Kilian, Vorschule einer Staatsästhetik, Zur Frage von Schönheit, Stil und Form als – unbewältigtem – Teil deutscher Verfassungskultur im Lichte der Kulturverfassungslehre Peter Häberles, in: Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle zum 70. Geb.Tg., hrsgg. von Blankennagel/Pernice/Schulze-Fielitz, 2004, S. 31–70. 30 Heller a.a.O. S. 63. 31 S. etwa in der grünen Meiner-Ausgabe von Hobbes „Leviathan“. 32 S. hierzu aus der populäreren sprachwissenschaftlichen Literatur Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache a.a.O.
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Wonnen des Unterhaltungs- wie für die Gefährlichkeit des Propagandafi lms. Beides sind mittelbare Schöpfungen des deutschen Generalstabs des Ersten Weltkriegs33. Funktionen von staatlichen Benennungen sind – unmittelbar – die reine Orientierung der Adressaten und der Allgemeinheit, mittelbar prägen sie aber auch Sprachschatz, Sprachgefühl, Wortwahl und letztlich das (Unter-)Bewusstsein ihrer Adressaten. Benennungen können auf diese Weise dem kollektiven Erinnern auf helfen und als gespeichertes Gedächtnis dienen. Dies geschieht vor allem in Straßen- und Platznamen. Nur ausnahmsweise wird ein größerer Aufwand, etwa in Gestalt von eigens zu diesem Zweck errichteten Denk- und Mahnmalen, seltener bei ganzen Gebäuden, betrieben34. Beispiele unter vielen sind der John-F.-Kennedy-Platz in Berlin, die gleichnamige Brücke in Köln, zu früheren Zeiten die Breslauer Jahrhunderthalle zum Gedenken an die Befreiungskriege gegen Napoleon, die explizit so genannte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zur Erinnerung an Kaiser Wilhelm I., später wurde sie als Ruine zum Mahnmal, die Siegessäule in Berlin, die an die deutschen Einigungskriege erinnern sollte, die Straße des 17. Juni in Berlin. Ein besonderes Beispiel aus der österreichischen Provinz, weil nur historisch Eingeweihten verständlich, ist die Kapruner-Generator-(Haupt-)Straße in der oststeirischen Industrie-Kleinstadt Weiz35. Namen und Bezeichnungen können politische Deutungshoheiten ausweisen: so wurde das „Phänomen“ der DDR noch in den sechziger Jahren öffentlich und offiziös entweder als sog. „DDR“ bezeichnet oder ständig in Anführungszechen, quasi als Distanzierung, gesetzt: „DDR“. Der Begriff „Mitteleuropa“ wird in Österreich mit dem Gebiet des ehemaligen k.u.k. Kaiserreichs bis 1918 gleichgesetzt. Das mitteleuropäische Deutschland wird darin nicht einbezogen. Im Unterschied zur Namensgebung für Unternehmen, deren Dienstleistungen und Produkten, werden bei staatlichen Namensgebungen öffentliche Zwecke verfolgt. Dies kann in unterschiedlicher Hinsicht geschehen: (1) Namensgebung als bloße Bezeichnung im Sinne einer Ordnungsgebung, um Unverwechselbarkeit, Aufgabenumschreibung, Kompetenzhinweis zu gewährleisten („Bundespolizei“). (2) Man kann mit einer Benennung aber auch einen Rechtsbegriff/Verfassungsbegriff setzen und damit ausdrücken („Bundespräsident“, „Bundesstaat“).
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S. Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, 2010, S. 272. Das Reichstagsgebäude in Berlin wurde der deutschen Öffentlichkeit nach jahrzehntelanger Nichtbeachtung erstmals wieder in den neunziger Jahren durch die Verpackung („Reichstagsverhüllung“) durch das Künstlerehepaar Christo ins Bewusstsein gerufen. Als Gesamt-Kunstwerk war es so seiner problematischen Geschichte enthoben. Kunst als Bannung historischer Geister. Bereits um die Hinweisschilder auf den Bundestag/Reichstag wurde gestritten, um ja keine Verwechslung von Gebäude und Funktion zu riskieren. 35 In Weiz hatte das ehem. Elektrounternehmen ELIN (heute Teil eines größeren Konzerns) seinen Sitz, das in den fünfziger Jahren die Generatoren für das Großkraftwerk in Kaprun baute. Der Kraftwerksbau symbolisierte den Wiederaufstieg Österreichs als Wirtschaftsnation nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und zählte so zu den Identifi kationsobjekten des wieder unabhängig gewordenen Staates. Die Generatoren wurden im Schienentransport von der ELIN zum Bahnhof über die benannte Straße geführt. 34
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(3) Dabei kann mit der Benennung/Namensgebung zugleich ein rechtspolitisch-, politisch-, sozialpsychologisch beabsichtigter „Mehrwert“ verbunden sein, entweder als: (a) gewollte Steuerung der öffentlichen Meinung („Zivilschutz“), oder (b) als nur mittelbar in Kauf genommene oder sogar unbeabsichtigte Begleiterscheinung der Benennung, die ein mehr oder weniger ausgebildetes Eigenleben führt (Treuhand“ in den neuen Ländern ab 1990 als Synonym für eine „feindliche Übernahme“ durch den Westen) oder in ihr mitschwingt (Bsp.: die Abkürzung „BGS“36 als Erinnerung an die „Zonengrenze“).
2. Die Mit-Beachtung des Ästhetischen in der Staatsrechtswissenschaft Unter den wenigen deutschen Autoren, die sich mit Fragen der öffentlichen Ästhetik befassen, befi nden sich Paul Kirchhof 37, Eckart Klein38, Ingo von Münch39, Josef Isensee40 und der Verf. selbst41. Es war aber vor allem Peter Häberle, der wie kein anderer den ästhetischen Kontinent des Staatsrechts entdeckte, vermaß, ausforschte, deutete und kategorisierte. Er unterzog die weißen Flächen der öffentlichen Ästhetik in Deutschland, Europa, ja der Welt einer Sichtung und stellte sie in dem von ihm gezogenen Rahmen der Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft. Zu dieser Sichtung gehörten Sonntage und Feiertage, Länderflaggen und Nationalhymnen und die Erinnerungskultur insgesamt42. 36 Bundesgrenzschutz, abgelöst durch die Bundespolizei; für Letztere gibt es m.w. keine offi zielle Abkürzung. 37 Deutsche Sprache, in: HStR II, 3. A. 2004, § 20. 38 Staatssymbole, in: HStR II, 3. A. 2004, § 19. 39 Farben und Recht, 2006; Kleidung und Recht, 2005. 40 S. HStR V, 3. A. 2007, § 122 Rd. 124, 125, 45, 48. 41 S. M. Kilian, Vorschule einer Staatsästhetik a.a.O., sowie ders.: Das Bild der Verwaltung in der Belletristik, in: Jahrbuch der europäischen Verwaltungsgeschichte, hrsgg. von Erik-Volkmar Heyen, Bd. 6, 1994, S. 79–97; Neue Medien ohne Grenzen – Der Schutz nationaler kultureller Identität zwischen Bewahrung und Weltkultur, in: Armin Dittmann u. a. (Hrsg.), Der Rundfunkbegriff im Wandel der Neuen Medien, Symposium zum 65. Geburtstag von Thomas Oppermann am 16. Februar 1996, 1997, S. 69–112; Verwaltungskultur im Spiegel verschiedener Literaturgattungen, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Verwaltungskultur, 2001, S. 113–140; § 1 Einführung: Kulturstaat – Die Landesidentität von Sachsen-Anhalt und das Staatsziel des Kulturstaats in der Landesverfassung –, in: Michael Kilian u. a. (Hrsg.), Verfassungshandbuch Sachsen-Anhalt, 2004, S. 11–63; Die Weltkulturerbeliste der UNESCO aus völkerrechtlicher und aus nationalstaatlicher Sicht – Zugleich ein Beitrag zu den Reflexwirkungen des so genannten soft law im Völkerrecht, in: Constanze Fischer-Czermak/Andreas Kletecka/Martin Schauer/Wolfgang Zankl (Hrsg.), FS für Rudolf Welser zum 65. Geb.Tg., Wien, 2004, 457–475; Das Land ohne Gesicht, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Staat und Schönheit, Möglichkeiten und Perspektiven einer Staatskalokagathie, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1. A. 2005, S. 145–179; Die Rekonstruktion von verlorenen Baudenkmalen – Wiederherstellung und Bewahrung einer ästhetischen Umwelt? – Ein Plädoyer zur Ausformung eines erweiterten Denkmalschutzbegriffs –, FS f. Werner Rengeling zum 70. Geb.Tg., hrsgg. von Jörn Ipsen/Bernhard Stüer, 2008, S. 105–126; Staat und Oper, in: B.-R. Kern/H. Lilie (Hg.), Jurisprudenz zwischen Medizin und Kultur, FS Gerfried Fischer z. 70. Geburtstag, 2010, S. 157–168; Staatsrecht und Staatssymbolik zwischen 9. November 1989 und 3. Oktober 1990, in: R. Gröschner/W. Reinhard (Hg.), Tage der Revolution – Feste der Nation, Politika 3, 2010, S. 221–240. 42 Grundlegungen in Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982), 2. A. 1998; Europäische Ver-
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3. Insbesondere: Namensgebung als Teil der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Viele Namen von Organen, Organisationen und Institutionen sind von den Gesetzen, bei den staatspolitisch wichtigen Bezeichnungen vor allem von den Verfassungen (in Deutschland im Grundgesetz und in den Landesverfassungen) vorgegeben43. Aber auch diese Namen und Bezeichnungen beruhen nicht einfach auf einem bloßen Dezisionismus, was auf Willkür hinausliefe, sondern unterlagen bei ihrer Festsetzung einem bestimmten Vorverständnis. In der Regel hat man sich bei der Begriffswahl, der Begriffsetzung und der Namensgebung etwas gedacht. Ist eine Namensgebung oder Bezeichnung aber einmal, z. B. in einer Verfassung oder einem einfachen Gesetz, einer Rechtsverordnung oder einer Satzung, erfolgt, und damit in der Welt, so wirkt sie in die verschiedensten Richtungen fort und prägt in mehr oder weniger intensiver Weise ein Umfeld. Namen setzen sich in der Öffentlichkeit durch, oder stoßen auch zuweilen auf Widerstand, und schieben sich unmittelbar oder auch nur mittelbar die Sinnenwelt der Allgemeinheit wie des Individuums. Ob wir wollen oder nicht sind wir in unserem Sprachgefühl wie in unserem Denken durch öffentliche/staatlichen Namensgebungen und Bezeichnungen mitgeformt und werden von ihnen mitgeprägt44. Öffentliche Namensgebungen fl ießen in das Kollektivgedächtnis ein und dringen so in das kollektive Bewusstsein. Sie formen die Verfassungskultur in wesentliche Zügen mit. Es ist etwas anderes, ob man ständig von Bezeichnungen hört, oder sie verwendet, die einen „Bund“ bezeichnen, oder aber einen „Staat“ oder ein „Reich“. Dies wird einem gewahr bei Angehörigen der älteren Generation, die oft ihr ganzes Leben (noch) in Bezeichnungen und Begriffen führen, die historisch längst durch anderen Namen und andere Bezeichnungen abgelöst worden sind. Selbst Straßen und Platzbezeichnungen, die seit Jahrzehnten geändert worden sind, bleiben im Gedächtnis der Generation, die sie in ihrer Jugend aufgenommen hat, festgehalten45. Ein weiteres Indiz für solche Namenseinwirkungen scheint dann auf, wenn im öffentlichen Sprachgebrauch plötzlich neue, ungewohnte Wörter und Namen auftauchen, die zunächst eine erhöhte Aufmerksamkeit zur Folge haben („Treuhand“, „BaFin“, „ARGE“ „HARTZ-IV“), ehe sie dann, mehr oder weniger rasch, in den Alltagssprachgebrauch eintauchen und mit den schon üblichen Bezeichnungen „mitschwimmen“. Dass Namen, ja Abkürzungen von Namen, hochpolitisch sein können, zeigte der jahrzehntelange Kampf im Westen um die richtige Bezeichnung „DDR“, fassungslehre, 7. A. 2011, Einleitung S. 4–64; speziell: Der Sonntag als Verfassungsproblem, 2. A. 2006; Feiertagsgarantien als kulturelle Identität des deutschen Verfassungsstaates, 1987; Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2008; Nationalfl aggen: bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008; zuletzt: Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011. 43 Die Benennungen von Landkreisen erfolgt in der Regel durch Landesgesetze, während Gemeinden kraft ihres Selbstverwaltungsrechts Namensbestimmungen in ihre Hauptsatzung aufnehmen können. Straßennamen werden ebenfalls üblicherweise in kommunalen Satzungen festgelegt. 44 Das Grundsatzwerk zur Kulturethnologie ist nach wie vor Otto Koenig, Kultur und Verhaltensforschung. Einführung in die Kulturethnologie, 1970, dtv-TB; Koenig prägte auch den Begriff „Kulturethnologie“. 45 Als Beispiel nannte die ältere Generation den 1945 umbenannten Tübinger Platz „Am Lustnauer Tor“ lange Zeit immer noch „Hindenburgplatz“.
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oder um deren völliges Ignorieren, und um die Abwehr der von den Medien der DDR initiierten Abkürzung „BRD“46. Namensgebungen, und seien sie Abkürzungen auf Auto-Kennzeichen (die man allüberall und täglich im Auto und außerhalb vor Augen hat), prägen sich ein und können so zur Identifi kation des Bürgers beitragen. Namensinteressen sind Identifikationsinteressen: es besteht ein vielfaches Empfi nden in weiten Bevölkerungskreisen, sich als Bürger einer bestimmten Gemeinde, ja eines Ortsteils, eines Kreises, eines Bundeslandes und eines Staates verstehen zu können, sich abgrenzbar und im Extremfall sogar unverwechselbar zu machen. Der vermeintlich so anonyme Massenmensch fühlt in sich (vielleicht deswegen?) das Bedürfnis, einer bestimmten Großgruppe anzugehören oder sich in einer Fläche, wörtlich genommen, „verorten“ zu können. Und wer dieses Gefühl nicht benötigt oder dieses Bedürfnis nicht hegt, der hat zumindest ein spielerisches, ästhetisches Interesse oder auch Vergnügen daran, seine Umwelt zu entschlüsseln, sie „lesbar“ zu machen. Dies wird einem am ehesten im Ausland gewahr, wo man, sobald eine Grenze einmal überschritten ist, mit einem Mal Dinge beobachtet und feststellt, die einem im eigenen Land – weil selbstverständlich – nicht mehr auffallen: Straßenbeschilderungen, die Aufmachung von Linienbussen, die Farbgebung von Lokomotiven und Bahnwaggons, Hinweisschilder, Straßen- und Autobahnmarkierungen, Behördenschilder47, Uniformen und Zahlreiches mehr. Man weiß binnen Minuten: man ist in der Schweiz, in Italien, in Frankreich usw.. Als ich als Schüler im Austausch in England war, prägten sich ein: Stadtbusse (nicht nur in London): rot, Überlandbusse: grün, – ganz im Gegensatz zum Busgestaltungs-Chaos in Deutschland, wo nicht einmal Schulbusse, wie die orange-farbenen Schulbusse in den USA, einer einheitlichen Farbgebung unterliegen: optisches Warnsignal für die Autofahrer, Vorsicht, aussteigende Kinder48 ! In Deutschland ist die Wahrnehmung einer öffentlichen Ästhetik – und die Kritik daran bei durchaus häufigen Geschmacksverirrungen49 – aus vielen Gründen unterentwickelt, eine aktive Befassung mit ihr ist vernachlässigt worden. Josef Isensee hat 46 Ein weiteres Beispiel wäre die Verwaltungsübung der Vermeidung der Vergabe von Abkürzungskombinationen bei Kfz-Kennzeichen wie „SA“, „SS“, „HJ“, „SD“, „NS“. Dies schlagt bis zu einer Landesabkürzung durch, wonach das Land Sachsen-Anhalt offi ziell nicht „SA“ sondern stets „LSA“ abzukürzen ist. 47 In Polen überall als weiß auf rotem Grund (Nationalfarben weiß-rot) zu fi nden. Die französische Gendarmerie Nationale ist in kleinsten Dörfern unter einem blau-weiß-roten Leuchtkörper „Gendarmerie Nationale“ zu fi nden. In Deutschland sind die (seltenen) Hinweisschilder auf Polizeiwachen in der Regel blau, obwohl die Polizei (bis auf neuere Farbenwechsel) stets grün gekleidet war und in grünen Autos fuhr. 48 Es gibt allerdings ein mehr oder weniger deutlich bemerkbares Warnschild auf der Rückseite eines Fahrzeugs, das der Schülerbeförderung dient. Ein generelles Haltegebot vor und Überholverbot für solche „orangen“ Fahrzeuge, wie in den USA, gibt es dagegen nicht, vgl. § 20 I, II, III (Überholverbot nur beim Heranfahren zum Halten und wenn Warnblinklicht gesetzt), IV, V StVO. 49 Erst nach Jahrzehnten fielen der Politik und der Öffentlichkeit auf, wie geschmacklos, ja hässlich die schlecht geschnittenen Uniformen sind, in denen die Polizisten herumlaufen müssen. Nie hat sich jemand öffentlich über die Farbgebung der Telefonzellen geäußert, als diese nicht mehr gelb (Signalfarbe), sondern techno-affi n silbern mit violetter Einfassung gestaltet wurden. Der Siegeszug des „handy“ (call-phone) hat sie gnädig verschwinden lassen. Den geschmackliche Messing-Horror der ersten Bistro-Waggons der damaligen Bundesbahn konnte man nur leidend über sich ergehen lassen – oder die Bistrowagen (die übrigens teilweise noch unverändert fahren) lieber ganz meiden. Zum geschmacklichen Unvermögen geselltes sich eine für Reisende völlig unpraktikable Sitz- und Tisch-Anordnung.
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dies öfters und zu Recht festgestellt50. Sie ist jedoch Teil der Kultur, und damit auch, weil folgenhaft, Teil der Verfassungskultur. Peter Häberle hat dies als erster mit Hilfe seines kulturwissenschaftlichen Ansatzes sowohl in großen theoretischen Darstellungen wie in speziell auf bestimmte Phänomene zugeschnittenen kleinen Monographien gezeigt51. Namensgebungen sind in Deutschland als Ergebnis der geschichtlichen Umbrüche, die immer auch Systemumbrüche waren, seit jeher bedeutsam gewesen. Nur ausnahmsweise gerieten sie zu einem Politikum und traten an die Öffentlichkeit, sie verwiesen damit aber auf verdeckte Unterströmungen des kollektiven Denkens52. Noch im alten Westberlin brachte der Senat die Bürger gegen sich auf, als er den gewohnten „Kaiserdamm“ in Charlottenburg in „Adenauerdamm“ umbenennen wollte. Es blieb bis heute beim Kaiserdamm. Umso geringer war ihre öffentliche Beachtung, von Ausnahmen wie dem Berliner Fall abgesehen, im Deutschland der Nachkriegszeit. Deshalb mutet es auch seltsam an, wie wenig bedeutsame Benennungen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erfahren, und wie insgesamt eine Vernachlässigung ästhetischer Fragen in Deutschland zu beobachten ist; maßgebliche Folge des vom nationalsozialistischen Regime eingesetzten ästhetischen Gestaltungswillens als wichtigem Element öffentlicher Bewusstseinsbildung. Damit ist auch diese heutige Ignoranz und Abstinenz Teil jener ästhetischen Leere, die das allgemeine Kennzeichen der gesamten deutschen Nachkriegsentwicklung zu sein scheint. Nur wenige Kulturkritiker, zu nennen wären hier vor allem Wolf Jobst Siedler, Johannes Gross und Martin Mosebach53, haben dies aufzuzeigen gewagt. Die zaghafte Kritik am Bau des geschmacklich verunglückten Kanzleramts in Berlin bestätigt als Ausnahme die Regel. Ganz anders war es in der DDR, wo ästhetische Fragen immer mit im Zentrum des staatlichen Agierens standen, allerdings aus nachvollziehbaren Gründen. Aber der Gegensatz zur ideologischen Überbewertung des Ästhetischen kann nicht dessen völlige Nichtbeachtung sein. Im Westen beschränkte man sich auf die „Kunst am Bau“ und sah sich so aller ästhetischen Belange entsorgt.
4. Ästhetik und Verfassungstexte Ästhetische Hinweise finden sich in Recht und Verfassung nur selten: neben den Namensgebungen können dies Festlegungen für die Fahnen und Flaggen sowie Wappen von Bund und Bundesländern sein. Das Grundgesetz enthält nur wenige Angaben zur Staatssymbolik, so zur Bundesflagge (Art. 22), und prägt damit ästhe50 S. die Zitate a.a.O. und im Artikel „Staatsvermögen“ in: HStR V, 3. A. 2007, § 122 VI. Inkurs: Staatseigentum und Gebäuderepräsentation, Rd. 45 ff. 51 S. die Liste der Arbeiten Häberles a.a.O. 52 Ein weiteres Berliner Beispiel ist die von der Bevölkerung bedauerte Aufgabe des Zentralflughafens Tempelhof, der den Namen „Tempelhof “ als urbane Sonderstellung im internationalen Flugverkehr beseitigte. 53 Jüngst: „Wider das heutige Bauen: Und wie fi nden diesen Schrott auch noch schön“. Zu fi nden im Internet unter FAT.net/aktuell/feuilleton/kunst. Grundsätzlich: Hans Vorländer (Hg.), Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung, Stiftung Bundespräsident-Theodor-HeussHaus, Wiss. Reihe Bd. 6, 2003.
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tisch das Land durch den Dreiklang der Farben schwarz-rot-gold. Da es jedoch keinen „echten“ Nationalfeiertag mit Volksfesten usw. gibt, der etwa dem französischen „quatorze juillet“ entspräche, und öffentliche Beflaggungen sehr selten sind, beschränkt sich das Bild vom nationalfarbenen Fahnenmeer auf die eher seltenen großen Sportereignisse, vor allem Fußballmeisterschaften. Allerdings enthält das Grundgesetz eine Fülle an Bezeichnungen, die zugleich öffentliche Namensgebungen sind und die so auch in die Sprach-, Denk- und Gefühlswelt der Bürger übergegangen sind: Bundesrepublik Deutschland, Grundrechte (mit den einzelnen Spielarten), Demokratie, Rechtsstaat (Art. 28 I GG), (mittelbar) Sozialstaat, Bundeskanzler, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsbeschwerde. Für „Fortgeschrittene“, die außerhalb der Sphäre der Juristen mit der Verfassungstheorie befasst sind, etwa als Journalisten, Pädagogen, Zeitungsleser usw., kommen Formulierungen wie „wehrhafte Demokratie“, „Richtlinienkompetenz“, „Notstandsverfassung“, „Länderfi nanzausgleich“ bis hin zu „soziale Marktwirtschaft“, „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“, „Sozialpartnerschaft“, jetzt „Schuldenbremse“ u.v. a. hinzu. Die Länderverfassungen sowohl der alten wie der neuen Länder sind etwas gehaltvoller und bezeichnen nicht nur die Landesorgane (Ministerpräsident, Landtag, Landesverfassungsgericht), sondern, oft in den Präambeln, auch den offiziellen Landesnamen, die Landesfarben, zuweilen auch das Landeswappen54. Im Gegensatz zu Verfassungen anderer Länder verzichten deutsche Verfassungen dagegen auf ein Nationalmotto oder auf Angaben zur Nationalhymne oder zum Staatsfeiertag. Die Festlegung der Landeshauptstadt ist in deutschen Verfassungen nur im Grundgesetz (Art. 22 I GG, nachträglich erst 2006 eingeführt) und in der Verfassung von SachsenAnhalt (Magdeburg) zu fi nden. Außerhalb der Verfassung ist es üblich geworden, ein Landesmotto zu propagieren (Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt) und in Anzeigenserien auf die Vorzüge des Landes hinzuweisen (Niedersachsen).
III. Weitere Ausprägungen der öffentlichen Ästhetik 1. Chiffren und Zeichen im öffentlichen Raum Die geläufigsten öffentlichen Zeichen, die jeder Fahrschüler sogar auswendig zu lernen hat, sind die Verkehrszeichen55. Hier gab es in der Vergangenheit insoweit eine Angleichung an die US-amerikanische Zeichenästhetik, als das deutsche HaltSchild durch das amerikanische rote, achteckige „Stop“-Schild ersetzt wurde56. Eine europäische Vereinheitlichung bewirkte, dass der orientierungsfreundliche Hinweis 54
S. die Verfassungen von Sachsen (Präambel, Art. 1); Sachsen-Anhalt (Präambel, Art. 1, 2 (Wappen); Mecklenburg-Vorpommern (Präambel, Art. 1); Berlin (Präambel, Art. 1); Brandenburg (Art. 1,2); Thüringen (Präambel); Hamburg (Präambel, Art. 1,2,3,4, 5 Wappen); Bayern (Art. 1, 2 Volksstaat); Rheinland-Pfalz (Präambel); Nordrhein-Westfalen (Art. 1 I); Schleswig-Holstein (Art. 1); Niedersachsen (Art. 1 I genauer Ursprung); Hessen (Präambel); Baden-Württemberg (Präambel, Art. 2 II); Bremen (Präambel). Nur die Verfassung des Saarlands hat auf derartige Angaben verzichtet. 55 Entweder weiß mit rotem Rand und schwarzer Schrift oder blau mit weißer Schrift. Dazu die weiß-gelben Vorfahrt-Rauten, die früher ebenfalls weiß mit rotem Rand gestaltet waren. 56 In Italien heißt es dagegen „Alt“, statt „Stop“.
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auf den nächsten Ort in der gelben Ortsende-Tafel durch den quer-rot durchgestrichenen Ortsnamen (Ende der 50 km-Beschränkung der Ortsgeschwindigkeit) ersetzt wurde. Solche Änderungen wurden von den Betroffenen mehr oder weniger rasch akzeptiert. Anders war es in den neuen Ländern, als das grüne Ampelmännchen der DDR an den westlichen Standard angeglichen werden sollte. Hier sorgte heftiger Protest dafür, dass das DDR-Männchen bis heute erhalten blieb. Eine Neuerung bei der Beschilderung der Autobahnen war vor etwa dreißig Jahren die Aufstellung farbpsychologisch „entspannender“ braun-weißer Hinweistafeln auf touristische Orte der näheren Umgebung, durch die man gerade fuhr. Waren diese Schilder aus verkehrspsychologischen Gründen57 in großen Abständen angebracht worden, so finden sie sich heute oft in Abständen von wenigen Kilometern58. Einige Hinweisschilder wirken in der prosaischen Umgebung einer Autobahn durchaus poetisch: „Wörlitzer Gartenreich“ bei Dessau. Ästhetische Zeichen auf den Autobahnen sind weiter die Hinweistafeln beim Überschreiten einer Landesgrenze. Einige Länder wie Bayern und Baden-Württemberg richteten dort jeweils das prächtige Staatswappen auf. Andere fügen eine Motto hinzu (Sachsen-Anhalt: „Willkommen im Land der Frühaufsteher“) oder weisen auf ihre touristische Vielfalt hin, wobei zugleich das Internetportal des Landes genannt wird (Thüringen). Anders als die Schweiz oder die USA und ihre Gliedstaaten oder auch Frankreich, verfügt die Bundesrepublik nicht über ein gemeinschaftsbildendes Motto59. Einer eigenen Untersuchung wert wären die mehr oder weniger aussagenkräftigen Werbesentenzen („Slogans“), die in jüngerer Zeit deutsche Städte, Kreise, Regionen und Bundesländer propagiert haben („Friedensstadt Osnabrück“, „Halle verändert“, „Erlangen – offen aus Tradition“60, „Metropolregion Nürnberg“, die Niedersachsenwerbung), um ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit und in der Wirtschaft in einer Art von Firmenwerbung aufzuhelfen. Aus Gebietskörperschaften sollen erkennbare „Marken“ werden. In dieselbe Richtung zielen Bemühungen, zur „Kulturstadt“ oder zur „Kulturhauptstadt Europas“ erhoben zu werden. Die Bundesregierung vergibt seit kurzem Plaketten an „Orte der Vielfalt“. Zu den staatlich-öffentlichen Zeichen zählen auch die Farben und Wappen auf Ausweisen61, Urkunden aller Art62, Amtstafeln an Behörden63, Geldmünzen und
57 Argument für eine Aufstellung in Mindestabständen von 20 bis 30 km war, dass man die Autofahrer damit nicht ablenken wolle. Es war aber eher umgekehrt: nichts sichert die Aufmerksamkeit auf öden Autobahnfahrten mehr als häufige freundliche Hinweise auf Schönes und Interessantes. 58 Zwischen der von mir regelmäßig befahrenen Autobahnstrecke Passau-Halle über RegensburgHof sind es mittlerweile geschätzt 50 bis 60 „braune“ Schilder. 59 S. „unus pro omnibus, omnus pro uno“ (Schweiz), „e pluribus unum“ (USA), „liberté, égalité, fraternité“. 60 Mit einem stilisierten „E“ als Stadtsignet. 61 Durch den einheitlich weinroten Europa-Pass ist die dunkelgrüne Kennzeichnung eines „deutschen“ Passes weggefallen. Nur der Bundesadler oder der österreichische Adler weisen noch optisch auf unterschiedliche Staatlichkeiten hin. 62 In Deutschland regelmäßig recht schmucklos und nüchtern gestaltet. 63 In Polen überall mit weißer Schrift auf rotem Grund (= Nationalfarben) zu fi nden; in Deutschland werden die Notariate mit den jeweiligen Landeswappen angezeigt; die Polizei in Österreich ist nach der Fusion mit der Gendarmerie einheitlich ausgeschildert.
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Geldscheine64 sowie Briefmarken65, Stempelmarken66 und auch die Farb- und Formgebung von Bundes- und Landesauszeichnungen67. Das Zeichenhafte des Staates in Geldscheinen, Münzen und Briefmarken ist allerdings verschwunden: deutsches Geld gibt es nicht mehr, staatliche Postwertzeichen auch nicht. Der Pass ist europäisch einheitlich weinrot, nicht mehr dunkelgrün. Die amtlichen Autokennzeichen, auf die schon hingewiesen wurde, formen in den höchsten Rängen des Staates und der Diplomatie eigene Zeichenwelten. Die Ziffernfolge „0-1 ff.“ ist – etwas merkwürdig, wer genauer hinsieht – für die höchsten Verfassungsorgane reserviert68. Das diplomatische Protokoll regelt höchst diffizil die Vergabe der privilegierenden und eine fremde, geschlossene Welt signalisierenden CD und CD-Schilder und die Reihenfolge der Nummernvergabe der 0-Schilder69. Die früher üblichen Minister-Kennzeichen der Dienstfahrzeuge Bundes- und Landesminister sind wegen der überall lauernden Terrorgefahr weitgehend verschwunden und durch möglichst beliebige, „unlesbare“ Kennzeichen ersetzt worden. Das „D-Schild“70 ist seit eh und je der Landesbuchstabe im Autoverkehr (auch im Luftverkehr)71. Durch das Europa-Kennzeichen sind jedoch die Länder-Zusatzschilder weggefallen72. Eine staatsrechtlich markante Abkürzung ist CH für die Schweiz als neutral-lateinische Bezeichnung „confoederatio helvetica“.
2. Farben im öffentlichen Raum Auch Farben sind Zeichen, man „zeigt Flagge“, also eine bestimmte Farben-Anordnung. Als das Zeichen schwarz-rot-gold erstmals vor einigen Jahren bei Fußballmeisterschaften flächendeckend sichtbar wurde, galt dies als Signal neu erwachter Identifi kation mit dem eigenen Land und wurde in den Medien anerkennend registriert. War die bisherige Farben-Abstinenz normal, oder war es umgekehrt verdächtig, dass man sich bis dahin so wenig mit den Nationalfarben einig sah? Nationale Wiedergeburt oder bloße Modeerscheinung? Zum gemeinsamen Feiern haben die Deutschen, von Ausnahmetagen wie dem November 1989 abgesehen, wenig Talent. 64 Durch die Einführung des Euro entfiel die Gelegenheit, staatliche Symbolik und Persönlichkeiten der deutschen Geschichte in der Öffentlichkeit kund zu tun und so zur nationalen Identität beizutragen. Die „neutrale“ äußere Gestaltung der Euro-Scheine ist wenig geeignet, Europäische Gemeinsamkeiten optisch-zeichenhaft zu propagieren. 65 Durch die Privatisierung der Post sind Briefmarken (Postwertzeichen) keine im engeren Sinne staatlichen Zeichen mehr, wohl aber öffentliche Zeichen. Sie weisen häufi g auf berühmte Persönlichkeiten der deutsche Geschichte und Geistesgeschichte und auf Stadtjubiläen hin. 66 Spezielle Dienstmarken gibt es nicht mehr, in Österreich gibt es noch Stempelmarken. 67 Das rote Bundesverdienstkreuz, das offenbar bewusst an keine überkommene deutsche Ordensform anknüpft, gibt zusammen mit dem Bundesadler auf goldenem Grund die Bundesfarben wieder. 68 Zum Kampf des Bundestagspräsidenten um eine niedrigere Nummer als der Bundeskanzler s. Joh. Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik a.a.O. Nr. 838. 69 S. hierzu die an meinem Lehrstuhl erarbeitete Dissertation von Martina Wohlan, Halle, über „Das Diplomatische Protokoll“. 70 Nicht etwa G für Germany, s. a. E für Espana oder H für Hungaria, aber A für Austria statt OE. 71 Zur Zeit der deutschen Teilung bestand ein regelmäßiges Politik-Magazin des ZDF mit Namen „Kennzeichen D“. 72 D befi ndet sich jetzt zusammen mit der Europa-Flagge links am Auto-Kennzeichen selbst.
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Das „als ob“ des Feierns73 passt zu ihnen wenig, der „homo ludens“ ( Jan Huizinga) spielt anderswo. Die ausgelassene Karnevalsstimmung an wenigen Tagen, wo „es erlaubt ist“, trägt keinen Gegenbeweis. Im Ausland freut man sich, wenn „Monsieur le Maire“ Trauungen mit der Nationalschärpe über dem Jackett vornimmt. Auf der anderen Seite sieht sich das „Volk ohne Witz“74 im Meer der Globalisierung in die Notwendigkeit versetzt, seine Konturenarmut zugunsten einer unverwechselbaren „corporate identity“ aufzuwerten. Hierzu bedarf es aber eines „corporate design“75. Die historischen Gründe dafür wurden schon vielfach dargetan76. Schwarz-rot-gold als eher „ernste“ Farbenfolge prägt sich anders aus als z. B. das heitere blau-weiß-rot (Frankreich, auch Großbritannien oder die USA) oder das grünweiß-rot (Italien), wie man bei großen Sportereignissen in Fußballstadien sehen kann, ohne freilich deshalb in eine Goethe-/Jünger’sche Farbenlehre verfallen zu müssen77. Aber nicht nur Flaggen und Fahnen setzen als Staatssymbolik78 bewusste und gewollte Zeichen. Auch die Auswahl und der Einsatz und die Verwendung von Farben kann ein Land ästhetisch prägen: Indirekt führt z. B. auch die farbliche Festlegung von Verkehrszeichen und Hinweisschildern zu ästhetischen Folgen. Sie färben große Teile eines Landes, nämlich die Verkehrsflächen mit ca. 10% des Staatsgebiets, ein. Am Auffälligsten sind die in Deutschland dunkel-gelben Hinweisschilder, Bundesstrassen-Nummern und Ortstafeln79. Wechselt man zu Autobahn, wird die GrundFarbgebung mit einem Mal (eher mediterran anmutend) blau. Man wechselt von einem gelben in ein blaues Farbreich über. Ist Deutschland somit in seinem Staatsgebiet gelb-blau gekennzeichnet, ist es z. B. in Österreich weiß-blau, in Italien blaugrün, in Frankreich weiß-blau usw.80 73 S. Hans Vaihinger (1852–1933), Die Philosophie des Als Ob. System einer theoretischen, praktischen und religiösen Fiktion der Menschheit auf Grund idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Niezsche, 1911. 74 S. Otto F. Best, Volk ohne Witz. Über ein deutsches Defi zit, erstmals als Fischer-TB 1993. 75 Hierzu mögen auch Anstrengungen im Tourismus beitragen, die 2011 Deutschland überraschend zum europäischen Land mit dem zweihöchsten Touristenzulauf machten. Zur Profi lschärfung können so der Wiederauf bau des Dresdner Neumarkts und der Stadtschlösser, Rathäuser und Kirchen in Berlin, Potsdam und anderswo beitragen. Entgegen aller Denkmalsideologen, die dies kritisch sehen: man hat etwas zum Anschauen anstelle der in Deutschland allzu häufigen leeren Flächen und mangelnden Verdichtung der Städte, die schon lange kein mit Spannung zu erkundendes Labyrinth mehr sind. 76 S. etwa H. Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, 1977; M. Schreiber, Selbstdarstellungen der Bundesrepublik Deutschland: Repräsentation des Staates in Bauten und Gedenkstätten, in: Gauger/Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, 1992, S. 191 ff.; K. Kramer, Ästhetik der politischen Repräsentation in: Depenheuer (Hg.), Staats und Schönheit, 2005, S. 75 ff.; J. Isensee, Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus, in: Gauger/Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, 1992, S. 223 ff., sowie die an anderer Stelle dieses Beitrags zitierten Publikationen des Verf. 77 Wohl aber hat Otto Koenig, Kulturethnologie a.a.O. eine sehr instruktive Farbenlehre anhand von Uniformfarben in Europa unternommen. 78 E. Klein, HStR a.a.O. § 19. 79 Gelb gilt historisch als eher unangenehme Farbe, da sie an Eiter gemahnt, bei der Bundesfl agge heißt es ja auch „gold“. Deshalb wurde diese Farbe bei Uniformen früher selten verwandt – im Gegensatz zum Rot des Blutes. S. dazu Otto Koenig, Kulturethnologie a.a.O. 80 Weitere Beispiele: Polen: Ortsschilder grün mit weißem Rand, in geschlossenen Ortschaften zusätzlich weiße Tafeln mit Ortschaftsumriß; Spanien: Ortsschilder weiß mit roter Umrandung, Ortsnamen schwarz; Serbien: Autobahnschilder grün mit weißem Rand, Ortsnamen schwarz.
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Staatlich/öffentliche Farbgebungen können wechseln, als wären sie einer Mode unterworfen: während das „postgelb“ jahrzehntelang unverändert vertraut war, wechselte das Polizeigrün der Polizeifahrzeuge von einem tiefen blaugrün über ein dunkel- und mittelgrün zu einem hellen, leuchtenden grasgrün. Auch die Feuerwehr wechselte von einem eher dunkleren satten Rot zu einem leuchtenden Signalrot, oft jetzt mit signalgelben Zusatzstreifen81. Zum bloßen Benennungs- und Hinweiszweck öffentlicher Zeichengebung tritt so eine ästhetische Formung hinzu, deren man sich meist gar nicht gewahr wird. Sie wird einem aber am ehesten deutlich, wenn man in andere Länder reist und in die schon genannten Farbgebungen unserer Nachbarländer und weiterer Länder eintaucht. Mittelbar fi nden sich solche Einfärbungen anderer Länder sogar auf deutschem Staatsgebiet, und zwar im Handel, wo dänische und schwedische Firmen (wie auch Firmen in der Schweiz) aus Völkern, die ein weniger befangenes Verhältnis zu ihrer Nationalität haben, ihre Niederlassungen rot-weiß oder blau-gelb (IKEA) kennzeichnen. Die österreichischen Autokennzeichen wurden vor ca. zwanzig Jahren aufgrund einer Umfrage in der Bevölkerung rot-weiß-rot mit den Landesfarben umrandet. Auch sonst gibt es Farbgebungen, die ein Land sehr rasch optisch kennzeichnen können. In Großbritannien ist es z. B. die Farbe scharlachrot (Doppelstockbusse und U-Bahn-Waggons in London und in anderen Großstädten, Guards-Uniformröcke, Brief kästen, oft bis hin zu Tee- und Konfektdosen). Rot zählt auch zu den Nationalfarben. Durch Farbgebungen folgt so oft eine geglückte Verbindung von Staatsästhetik und Lebensart wie jetzt, im Sommer 2012, wieder bei der Olympiade in London zu sehen war. Ähnliches fand und findet man auch bei der Farbgebung von Lokomotiven und Personenwagen bzw. Triebwagen der europäischen Staatsbahnen, soweit sie nicht privatisiert wurden und deshalb gegenüber Konkurrenzbahnen in eine Farben- und Design-Konkurrenz treten müssen. Die Deutsche Bundesbahn, und jetzt die Deutsche Bahn, war in ihrer, ein Land durchaus mitprägenden, Farbgebung wenig einheitlich. Überwogen früher grün bei normalen Zügen und E-Loks, so waren die Fernzüge und deren Lokomotiven zuweilen blau (Rheingold-Express und andere Fern-D-Züge), bei Ferntriebwagen aber rot, die Nahverkehrszüge rot, die Schlafund Speisewagen bordeauxrot82. Diese noch einigermaßen einheitliche Farbgebung wurde aufgesplittert, als im Nahverkehr plötzlich silberne Waggons auftauchten und die Schnellzugwaggons neben grünen und blauen auch rote Farben aufzuweisen begannen. Erst mit der Einführung der Intercity-Züge bemühte man sich wieder um ein einheitlicheres Bild: nach und nach setzte sich das heute gewohnte (oft schmutzige) Weiß durch, versehen mit einem dunkelroten Steifen. Die ICE-Komplett-Züge wurden dann einheitlich in dieser Farbkombination gehalten, während die Elektrolokomotiven nach und nach einheitlich in einem aufdringlichen Signalrot („verkehrsrot“ genannt) auftraten. Der Nah- und Regionalverkehr fährt in signalroten Zügen. Mit den Privatlokomotiven, die oft schrill gelb oder blau gehalten sind, und 81
Dass Feuerwehrfahrzeuge nicht immer „feuerrot“ angestrichen sein müssen zeigen z. B. die USA, wo es häufig auch gelbe und grüne Farbgebungen bei Feuerwehrfahrzeugen gibt. 82 Im Unterschied zu den dunkelblauen Waggons der Internationalen Schlaf- und Speisewagengesellschaft, die ebenfalls deutsche Strecken befuhr.
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mit den Zügen der Privatbahn-Gesellschaften, ist das Bild wieder unübersichtlicher geworden. Dass öffentliche Verkehrsmittel seit Jahrzehnten als Werbeträger dienen, ist eine Sonderform staatlicher Ästhetik83. Immerhin dienten die Busse und Straßenbahnen von jeher dazu, mit ihrer Farbgebung (München: blau-weiß, Stuttgart gelb-weiß, Dresden: gelb, Halle: rot-weiß) die eigene Stadt optisch hervorzuheben und so unverkennbar zu machen. Berlin wurde von der hellbeigen Farbe der DoppelstockBusse und von der rot-ockergelben Farbgebung der S-Bahn geprägt84. Polizeiwagen waren lange Zeit grün-weiß, jetzt erfolgt ein Wechsel auf blau-silber. Postkästen sind weiter gelb (früher waren sie auch einmal rot, die Länderpost vor 1918 hatte weitere Farben). Es gab gelbe Postomnibusse, die Busse der Bundesbahn waren dagegen einheitlich bordeaux-rot (vergleichbar der Schlaf- und Speisewagen der DSG).
3. Abkürzungen und Kunstnamen im öffentlichen Raum Abkürzungen sind nicht nur Abkürzungen: neben der erwähnten, bereits historisch gewordenen Kontroverse um die Abkürzungen DDR und BRD spielen Abkürzungen staatlicher Phänomene im Alltags-Sprachgebrauch eine häufige Rolle. Oft sind sie mit emotionalen, affi rmativ-positiven oder auch negativen Affekten belegt. Die Abkürzung „BRD“ war, wie erwähnt, zur Zeit der deutschen Teilung negativ besetzt und offiziell unerwünscht, da von der DDR abwertend propagiert85; anders als in Frankreich, wo „RF“ (= République Française) eine überaus angesehene, offizielle Abkürzung des Staates darstellt. Allgemein gebräuchliche Gerichts- und Behördenabkürzungen im Sprachgebrauch der Juristen, Politikern, Beamten, aber auch von Journalisten bis hin zum „normalen“ Bürger und in die Medien hinein sind etwa BGH, OLG, VGH, OVG. Abkürzungen von Universitäten sind selten (ETH, FU, HU), zuweilen auch unerwünscht86. Abkürzungen spielen im Alltag bei Institutionen wie Behörden (BKA, BND, BaFin) und Gerichten eine Rolle (BAG, BSG, BFH), dann auch bei Gesetzen (BGB, StVO) und – wie erwähnt – bei Autokennzeichen, die Kreise und Städte bezeichnen87. Anders als etwa in Österreich ist in Deutschland die Möglichkeit, freie Buchstaben- und Zahlenkombinationen als „Wunschkennzeichen“ zugeteilt zu erhalten, eher gering88. Manche Einrichtungen und Gesetze sind für die Alltagssprache nicht abkürzbar, weil kaum aussprechbar sind (BVerfG, BVerwG, VwVfG), es gibt 83 Allerdings trugen die bekannten Berliner Doppelstockbusse schon vor dem Zweiten Weltkrieg auf ihrer hell-beigen Grundfarbe Reklameaufschriften („Berlin raucht Juno“), was dem weltstädtischen Charakter der Großstadt zugute kam. 84 Leider nimmt die Zahl der heute eher grellgelben Doppelstockbusse ab, sie werden nach und nach ersetzt durch knallgelbe Niederflurbusse. 85 Noch heute hört man in Halle den Ausspruch „Es ist nicht alles schlecht in der BRD, es war nicht alles gut in der DDR“. 86 So ist „MLU“ für Martin-Luther-Universität, da in der DDR propagiert (Luther war Gegner der von Thomas Müntzer geführten aufständischen Bauern), seit 1990 nicht mehr opportun. 87 Ob es den Tatsachen entspricht, dass man im Westen den Buchstaben „L“ für Leipzig deshalb nicht vergeben hatte, weil man noch auf eine deutsche Einheit hoffte, ist umstritten. 88 Begehrt ist in Ulm die Kombination UL-M).
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aber auch komplizierter benannte Gesetze, bei denen sich dennoch eine Kurzform durchgesetzt hat („BImSchG“). Bei der kompliziert benannten staatlichen „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ hat sich die sprachlich nicht sehr schöne Abkürzung „EVZ“ eingebürgert, die wie ein Energieunternehmen klingt, während die sehr plakativ (und schön) bezeichnete „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“, soweit ersichtlich, keine Abkürzung erfahren hat89. Parteien-Abkürzungen sind zwar nicht staatlicher, aber öffentlicher Natur, gehören zum Sprachalltag: CDU/CSU, FDP mit Pünktchen, SPD, im Gegensatz zu den Parteinen „Die Grünen“, „Die Linke“, „Die Piraten“, die ohne Abkürzung auskommen. Im Verkehrsfunk spielen Abkürzungen von Bundesautobahnen und Bundesstrassen eine große Rolle („Achtung auf der A 7 zwischen . . .“, „Vorsicht auf der B 100 bei . . .“), die damit zugleich vielbefahrene Städteverbindungen und Verkehrs-Großräume markieren. Sie werden so ebenfalls als Chiffren für besondere Situationen Teil des öffentlichen Bewusstseins und der öffentlichen Ästhetik90. Berühmte Schnellstrassen tragen inoffizielle Namen: Rheintalautobahn, Sauerlandlinie, Ruhrschnellweg. Während die Polizeifahrzeuge der Länder die Abkürzungen der Stadt ihrer jeweiligen Polizeidirektion führen (freilich ohne Buchstaben-Zusatz), gibt es z. B. in Österreich und Italien einheitliche Polizei-Buchstabenkombinationen (BP für „Bundespolizei“ bzw. EI für „Esecutivo Italiano“). Im deutschen Sprachraum gibt es oft auf Merkwürdiges: so wird in Österreich der der „Österreichische“ Rundfunk „ORF“ abgekürzt, und man sagt auch „Ohrf “ (und nicht „ÖRF“). Die österreichische Fluglinie heißt angelsächsisch Austrian Airlines, abgekürzt aber deutsch „AUA“ genannt91. Mittlerweise kann es aber auch vorkommen, das einem nicht mehr in jedem Fall gelingt, Abkürzungen aufzulösen. Dies ist z. B. bei der DPDHL, der (verstaatlichten) HRE-Bank oder der GTAI der Fall. Neu zu lernende Abkürzungen sind SoFFin und ESM. Das „Bundesamt für Migration und Flüchtlingswesen“ wird BAMF abgekürzt
IV. Beispielhafte Einzelbereiche 1. Bund „Bund“ als staatsrechtliche Bezeichnung hat in Deutschland eine große Tradition, gehörten doch zu den Vorläufern des heutigen Deutschland der Deutsche Bund 89
S. bei der Analyse von Firmennamen Fahlbusch a.a.O. S. 56 ff., der anhand von Kriterien wie Bennennungs-Motiv, -Bildungsweise, – sog. graphemische Besonderheiten, -fremdsprachliche Elemente, -Länge,- Sonorität, -Transparenz,- Assoziationen vorgeht. 90 Dem hilft der Staat auch oft nach, so erhielt die berühmte Touristenstrasse „Schwarzwald-Hochstrasse“, die von Baden-Baden nach Freudenstadt verläuft, die plakative und gut merkbare Bezeichnung „B 500“. Die ehemalige „Reichsstrasse 1“ ist heute fast schon ein literarischer Mythos (ähnlich wie die US Route 66) und kann teilweise auf der „B 1“ nachverfolgt werden. Noch heute durchqueren die Bundesstrassen mit den niedrigen Nummern (B 3, B 10, B 27) große Teile des Bundesgebiets. 91 Auch das Auto-Landesschild lautet A = Austria, nicht OE, s. bereits oben.
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(Staatenbund) und der Norddeutsche Bund (Bundesstaat). Die Verfassungsväter von 1948 konnten so an diese althergebrachte Bezeichnung anknüpfen. Freilich klingt im „Bund“ immer auch das noch ältere deutsche Trauma der Uneinigkeit und Zerrissenheit mit, denn ein Bund kann immer wieder auch zerbrechen. Und das so homogen erscheinende Kaiserreich von 1870 war staatsrechtlich ebenfalls ein Bundesstaat deutscher Fürsten und Städte. Das bis 1945 gewohnte „Reich“, das noch einige Jahre (bis 1948) in der „Reichsmark“ und – ausgerechnet in der DDR – in der „Reichbahn“92 alltagssprachlich ein Schattendasein führte, wurde in der jungen Bundesrepublik sehr rasch und ohne öffentlichen Kampf aus dem Bewusstsein ausgeschieden. Dies ist, soweit ersichtlich, niemals eingehender reflektiert worden, 1990 schon gar nicht, obwohl der Begriff in betont demokratischen Nachbarländern wie den Königreichen der Niederlande und Schwedens, aber auch in der Republik Finnland, als Bezeichnung durchaus öffentliche Verwendung fi ndet (Reichspolizei93, Reichstag94). Auch die Weimarer Republik benannte sich wie selbstverständlich als „Deutsches Reich“ mit dem schönen Satz in Art. 1 I WRV: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“. Carlo Schmid bemerkte in den Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rats, als der Name des neuen Staates zur Debatte stand, dass in der Staatsbezeichnung „Deutsches Reich“ zwar „sehr schöne, aber auch sehr gefährliche Untertöne mitschwingen“, und man deshalb, schon des Auslands wegen, auf diese an sich würdige Bezeichnung besser verzichten solle. Er empfahl deshalb die Benennung „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“, da die „Grundorganisationsschicht“ des Staates die Bundesrepublik Deutschland ist, was in der Bezeichnung zum Ausdruck gebracht werden müsse95. Bloß „Deutschland“ würde das staatlich gefasste Gebiet auf Deutschland einengen, während „Bundesrepublik“ zum Ausdruck bringe, dass dieses Deutschland als staatliches Gebilde der Sache nach noch bestehe, wenn auch als Gefüge zerstört sei. „Bundesrepublik“ sei zugleich ein demokratisches, soziales und republikanisches Programm mit Volkssouveränität, der Begrenzung staatlicher Gewalt durch verfassungsmäßige Rechte, Rechtsstaat, Gleichheit vor dem Gesetz und dem Mut zu sozialen Konsequenzen96. Selten wurde ein öffentlicher Name in Deutschland auf einem so hohen Niveau von einem so hoch gebildeten Mann erörtert, allerdings ging es ja auch um den Staatsnamen schlechthin, der die kommenden Jahrzehnte, man dachte damals, wenige Jahre bis zur erhofften Wiedervereinigung Deutschlands, prägen sollte. Es fällt auf, dass im öffentlichen Diskurs die Parallelbegriffe des Bundes (und des Reiches), nämlich „Nation“ und „Republik“, von den Fachwissenschaften (Geschichte, Politologie, Rechtswissenschaft, Soziologie) abgesehen, meist mit spaßigen oder ironischem Unterton genannt werden: „Bomber der Nation“, „Mutter der Na92
In der auch noch „Mitropa-“Speisewagen fuhren. Bis zur Reform die Staatspolizei der Niederlande. 94 Parlament in Schweden und in Finnland. In Amsterdam gibt es das „Reichsmuseum“. 95 S. G. Leibholz/H. v. Mangoldt (Hg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 1, Tübingen 1951, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes i. A. der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rats und des Bundesministers des Innern aufgrund der Verhandlungen des Parlamentarischen Rats bearb. von K-B v. Doemming, R. W. Füsslein und W. Matz, S. 17. 96 A.a.O. S. 20. 93
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tion“97; „Berliner Republik“98. Anders war es in der DDR („Palast der Republik“, die Floskel „unsere Republik“), und anders ist es auch in Österreich, wo der Bundesstaat als „Republik Österreich“ ohne Zusatz „Bund“ fi rmiert. Freilich ruhen die österreichischen Bundesländer staatsrechtlich bei weitem nicht auf einer so ausgebauten Kompetenzgrundlage, wie es bei den deutschen Ländern der Fall ist. Aus der Deutschen Bibliothek und der Deutschen Bücherei (Frankfurt/M. bzw. Leipzig) wurde die „Deutsche Nationalbibliothek“. Es erstaunt daher etwas, dass die nicht ohne Kampf aufgewertete „Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften“ mit Sitz in Halle jetzt die Begriffe „Deutsch“ und „Nation“ in ihrem Namen führt. Die „Nationalgalerie“ in Berlin führt ihren Namen allenfalls aus (preußischer) Tradition so. Auch ist die Bezeichnung „Volk“ bei öffentlichen Einrichtungen nach wie vor selten (Ausnahmen sind der „Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge“ und die aus der Weimarer Republik stammende „Volkshochschule/VHS“) 99, Ergebnis des Missbrauchs, den der nationalsozialistische Staat mit dieser Bezeichnung bis in seine letzten Monate hinein („Volksgemeinschaft“, „Volkstumskampf “, „Volkssturm“, „Volksgrenadierdivision“) getrieben hat. Die DDR war hier unbefangener und gebrauchte die Bezeichnung „Volk“ häufig: Volkskammer, (Deutsche)Volkspolizei, Nationale Volksarmee, Verlag Volk und Wissen etc.. Allenfalls im Gerichtssaal ergehen Urteile „im Namen des Volkes“100. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Namenszusatz „deutsch“. Auch hier war die DDR unbefangener (Deutsche Post, Deutsche Volkspolizei). Die Benennung der fusionierten Landesversicherungsanstalten mit der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als „Deutsche Rentenversicherung“ fällt daher auf, weil sie den üblichen Rahmen verlässt. Immerhin behielten die privatisierten Sondervermögen den Zusatz „deutsch“ als „Deutsche Bahn“ und „Deutsche Telecom“101. Die schöne Bezeichnung „Volksstaat“ (= Republik) fand sich 1919 in einigen Länderverfassungen, so in der Verfassung Württembergs. Seit 1990 gibt es gleich drei Länder, die sich „Freistaat“ (= Republik) benannt haben. Versuche, das vereinte Deutschland in der Publizistik mit „Berliner Republik“, oder auch „Zweite/Dritte Republik“ zu benennen, setzen sich nicht durch102. In der Presse blieb es bei einem ironisch gebrauchten, allenfalls essayistisch-politischen Gebrauch ( Johannes Gross103), eine „Zweite“ (oder nach der Wiedervereinigung) „Dritte Republik“ wie in Frankreich oder auch in Österreich (1919, 1945/55) fand in den allgemeinen Sprachgebrauch keine Aufnahme, nachdem sich auf der offiziellen Verfassungsebene nach 1990 durch die deutsche Einheit kein Namenswechsel vollzogen hatte. Nur „Deutschland“ ohne Bundesrepublik-Zusatz wird (etwas) häufiger gebraucht, Die „Bundesre97
Gerd Müller bzw. Inge Meisel. Johannes Gross, Begründung der Berliner Republik, 1995. 99 Deswegen heißt es im Lichthof des Reichstag auch „Der Bevölkerung“, nicht „Dem deutschen Volke“. 100 In Österreich „im Namen der Republik“. 101 Bei der Telecom wird das „deutsch“ in der Umgangssprache weggelassen, Die „Deutsche Bahn“ wollte sich ursprünglich am liebsten „Die Bahn“ benennen. 102 Zur längst fälligen Aufwertung des Begriffs der „Republik“ s. v. a. Rolf Gröschner, Die Republik, HStR II, 3. A. 2004, § 23. 103 S. Joh. Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik a.a.O. 98
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publik“ mit oder ohne Deutschland ist nach wie vor vorherrschend, obwohl diese Bezeichnung – ebenso wie das „Grundgesetz“ – zunächst nur ein Provisorium benennen sollte. In Österreich geht man mit Bezeichnungen wie Staat (Staatsmeister, Staatspreis, Staatspolizei, Staatsstrasse), Nation (Nationalrat, Nationalbank), Republik104 großzügiger um, während der „Bund“ eher selten ist (Bundesrat, Bundestheater, Bundespolizei, Bundesgymnasium). Die Länder tauchten und tauchen als kollektiver Begriff ebenfalls nicht häufig auf (Länderbank, Bundesländerversicherung). Während man sich bei der Wiederverwendung des Reichstags-Gebäudes und seiner Benennung lange Zeit schwer tat (das Publikum war hier stets unbefangener), erwies sich die Namensgebung der unterschiedlichen Gebäude des Bundestags-Komplexes als sehr gelungen: Jakob Kaiser, Marie-Elisabeth Schröder und Paul Löbe konnten auf diese Weise geehrt werden105.
2. Länder Bei den Ländern fällt auf, dass die Bezeichnung als „Landesregierung, Landesminister, Landesministerium, Landesverfassungsgericht“ usw. überwiegt, während die Bezeichnung „Staat“ eher selten ist. Eine Ausnahme bietet da und dort die Bezeichnung „Staatsgerichtshof “ anstelle des Landesverfassungsgerichts, das „Staatsarchiv“ oder auch die „Staatskanzlei“ oder das „Staatsministerium“, das den Apparat des Ministerpräsidenten benennt. Nur Bayern106 verwendet bei Ministern und Ministerien konsequent die Bezeichnung „Staatsregierung, Staatsminister, Staatsministerium“ usw., sind doch die deutschen Ländern nach herrschender Auffassung zu recht „Staaten“. In Bayern heißt es auch, anders als in den meisten Ländern, „Staatsstrasse“, nicht „Landesstrasse“. Die schöne Bezeichnung „Gerichtshof “ (Verwaltungsgerichtshof ) fi ndet sich nur in Süddeutschland. Dass Berlin eine historische Bezeichnung „Kammergericht“ für sein OLG wählte, zeugt von Bewusstsein für Kontinuität, auch das „Hanseatische Oberlandesgericht“ zeigt Selbstbewusstsein. In einigen Ländern gibt es so benannte Staatstheater oder Staatsopern, in München allerdings ein „Nationaltheater“, ebenso, als historische Bezeichnung, in Mannheim und in Weimar. Im Badischen Staatstheater Karlsruhe lebt das unter gegangene Land Baden weiter (ebenso wie im Badischen Staatsarchiv), desgleichen in den „Staatstheatern“ ehemaliger Residenzstädte107. Abkürzungen für Länder fi nden sich allenfalls bei Internetadressen und offiziellen Autokennzeichen (BWL in Baden-Württemberg, BYL in Bayern sowie bei Ge104
S. o. Urteile werden „Im Namen der Republik“ gesprochen. Das mit-geplante „Bürgerforum“ im „Band des Bundes“ blieb jedoch ungebaut, offenbar gehen den Verfassungsorganen die Bürger ihrer Republik nicht sonderlich ab. 106 Und auch Österreich, s. oben. 107 Recht amüsant die Reise zu den deutschen Staatsopern, die auch städtische Opern mit einschließt, Ralph Bollmann, Walküre in Detmold. Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz, 3. A. 2011 (bei Klett-Cotta). Auch nach der Sparwelle unterhält Deutschland fast ebenso viele Opernhäuser wie die restliche Welt zusammen genommen – und wirbt nicht damit! Eigentlich ein Fall für das UNESCO-Weltkulturerbe. 105
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setzesabkürzungen). Nur bei Mecklenburg-Vorpommern hat sich, wegen der Länge des Landesnamens, das recht ordinär wirkende, nicht-offizielle Kürzel „MeckPomm“ eingeführt. Die badische Bevölkerung trauert in ihrer Mehrheit heute noch ihrem Land „Baden“ (ohne Zusatz) nach. Jüngst wurden Überlegungen angestellt, das Land „Sachsen-Anhalt“ nicht schlicht „Anhalt“ zu nennen, nach dem in der Geistesgeschichte Deutschlands hochbedeutsamen Land Anhalt, das formal bis 1945 als selbständiger Kleinstaat bestand108. Allerdings unterscheidet man im Sprachgebrauch der Medien „Bindestrichländer“ (sechs von 16), und seit 1990 gibt es (historisch unzutreffend109 ) „neue Länder“ und „alte Länder“ sowie, je nach politischer Einfärbung, A- und B-Länder, oder nach geographischer Lage eine Nord- und eine Südschiene. Ein historisches Aperçu ist es, dass sämtliche im Jahre 1952 zum „Südweststaat“ Baden-Württemberg fusionierten Vorgängerländer geographisch falsch bezeichnet waren110. Nur am Rande sei erwähnt, dass die von den westlichen Alliierten im Zuge der re-education durchgesetzte sog. „Entpolizeilichung der Verwaltung“ eine weit gefächerte Umbenennung von staatlichen Aufgaben und Behörden zur Folge hatte und die – historisch gesehen an sich sprachlich richtige111 – Gewerbe-, Gesundheits-, Lebensmittel-, Bau-, Feuer- usw. -Polizei im Sprachgebrauch verschwand und den Ordnungsbehörden Platz machte. In vielen Ländern gibt es heute selbst für die Exekutivpolizei kein „Polizeigesetz“ mehr, sondern ein „SOG“112.
3. Gemeinden/Ortsteile und Landkreise a) Die Gemeinden als bedeutendste staatliche Namensgeber Das Namens- und Benennungsrecht gehört zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie113 und ist eine Möglichkeit für die Kommunen, sich ein eigenes Profi l zu geben, über Benennungen das kollektive Gedächtnis zu beeinflussen und so auf den untersten Staatsebenen mitzugestalten114. Zudem können sie mit 108 R. v. Lucius, „Verdichtetes Europa im Kleinen“. Sachsen-Anhalt auf der Suche nach einer neuen Landesidentität. FAZ v. 28. 2. 2012, S. 8. Im Jahre 2012 wird die 800-jährige Gründung des Landes Anhalt (letzte Hauptstadt Dessau) festlich begangen. 109 Bis auf Baden-Württemberg 1952 wurden sämtliche späteren Bundesländer, auch diejenigen in der damaligen sowjetisch besetzten Zone, ab 1946 neu oder wieder gegründet. 110 „Württemberg-Baden“ bestand nur aus Nordbaden und Nordwürttemberg, „Württemberg-Hohenzollern“ nur aus Südwürttemberg (-Hohenzollern), „Baden“ nur aus Südbaden. 111 Umfassend hierzu M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 Reichspublizistik und Polizeywissenschaft 1600–1800, 1988. 112 Nur als sprachliches Detail: im baden-württembergischen Polizeigesetz wurden die Aufgaben der Polizei bis in die siebziger Jahre juristisch korrekt als Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ umschreiben, und man war stolz darauf. Die Vereinheitlichung des Polizeirechts erzwang die juristisch viel ungenauere (und sprachästhetisch weniger gelungene) Fassung „Sicherheit und Ordnung“. 113 Zum Namensrecht der Gemeinden s. etwa RGZ 101, 169 („Stadttheater“); BVerwGE 44, 351 („Bahnhof “); OVG Koblenz DöV 1986, 36; BVerwGE 44, 351 ff.; OVG LSA LKV 2010, 180 f. 114 Zum nicht ganz unkomplizierten Namensrecht der Gemeinden vgl. die Kommentierung von Klang/Gundlach/Kirchmer, Gemeindeordnung Sachsen-Anhalt, 3. A. 2012 zu §§ 12–14 GO LSA, § 12 Rd. 3 zur schwierigen Unterscheidung von Namen und Benennung bei einer Gemeinde.
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Benennungen verdiente Bürgerinnen und Bürger ehren – als Ausdruck der sog. kommunalen „Ehrenhoheit“115. Ein öffentlicher Kampf um kommunale Benennungen – der Fall „Lahn“ wurde bereits erwähnt – fi ndet vor allem dann statt, wenn durch Eingemeindungen oder Gemeindefusionen ein neuer Namen für das neue Gebilde zu fi nden ist oder wenn es darum geht, die zu bloßen Ortsteilen herabgesunkene ehemals selbständigen Gemeinden zu benennen bzw. ihren alten Namen zu belassen. Hier hat manches technokratische Unvermögen und fehlendes psychologisches Gespür bei Kommunalreformen viel Porzellan bei den betroffenen Bürgern zerschlagen. Denn mit dem überkommenen Ortsnamen verschwindet ein wesentliches Stück emotionaler Bindung. Oft muten die neu gefundenen Namen blutleer und traditionslos an. Meist versucht man, an die Benennung der Kleinregion anzuknüpfen (Gäufelden, Blaustein), während die Bevorzugung eines (Zentral-)Orts oft auf Widerstände stößt (deshalb heißt es dann Wettin-Löbejün oder auch Villingen-Schwenningen). Sehr begehrt sind bei Gemeinden Namenszusätze. Diese können Teil des Namens selbst sein („Baden-Baden“, „Gneisenaustadt Schildau“116, „Lutherstadt Eisleben“, erst jüngst „Goethestadt Bad Lauchstädt“ „Fontanestadt Neurupping“)117, oder aber eine davon unabhängige Zusatzbezeichnung sein (Bad, Seebad, Luftkurort, Große Kreisstadt, Universitätsstadt, Landeshauptstadt, Hansestadt118 ). Um Verwechselungen zu vermeiden können ebenfalls Namenszusätze zugelassen werden (Geislingen an der Steige, Oldenburg in Oldenburg, Neustadt/Saale, Neustadt an der Weinstrasse, Gießen/Brenz, Reichenbach im Täle119 ). Benennungen der DDR wurden teilweise aufgrund von Bürgerwünschen rückgängig gemacht („Wilhelm-Pieck-Stadt Guben“, „Karl-Marx-Stadt“). Bestrebungen, die Stadt Halle/Saale in „Händelstadt Halle“ umzubenennen, wurden kürzlich (zum Glück) wieder aufgegeben. Es gibt auch inoffizielle Bezeichnungen, so Leipzig im Herbst 1989 als „Heldenstadt“. Auch ein Landkreis kann mit einem Namen versehen werden, der nicht nur mit der Stadt des Kreissitzes identisch ist („Salzlandkreis“, „Saalekreis“120 ). In der Rechtsprechung gibt es allerdings nur einen durch die Praxis gefestigten Bereich des kommunalen Namensrechts: die sog. „Bahnhofs-Rechtsprechung“. Danach hat eine Gemeinde einen Anspruch, in dem ihr zugeordneten Bahnhof mit ihrer rechtlich korrekten Bezeichnung genannt zu sein121. Mit aufgelassenen Bahnhöfen, die es mittlerweile in großer Zahl gibt, verschwinden auch viele öffentlich sichtbare (und merkbare) Gemeindenamen aus dem kollektiven Gedächtnis. Oftmals 115
§ 34 GO LSA und Kommentierung dazu bei Klang/Gundlach/Kirchmer a.a.O. Das bekannte „Schilda“ der deutschen Volksbücher in Südbrandenburg. 117 Dessau will sich künftig „Bauhausstadt Dessau-Roßlau“ nennen. 118 Viele Städte in der früheren DDR, die ihre Bezeichnung als „Hansestadt“ verloren hatten, setzten alles daran, um diese Tradition im Stadtnamen wieder aufleben zu lassen, so Rostock, Wismar, Salzwedel, Stralsund, demnächst Naumburg. 119 Das obere Filstal im Gegensatz zum ebenfalls im Filstal gelegenen Reichenbach/Fils. 120 Vor der Kreisreform „Saalkreis“, Sitz Merseburg. 121 BVerwGE 44, 351. Zum kommunalen Namensrecht s. a. RGZ 101, 169; BVerwG DöV 1980, 79; OVG Koblenz DöV 1986, 36. Zum Domain-Recht der Gemeinden LG Oldenburg, Urt. v. 17. 12. 2003, 5 S 965/03, in: JurPCWeb-Dok. 115/2004; AG Ludwigsburg, Urt. v. 25. 5. 2000, L. 9c 612/00, in: jurpe.de/rechtspr/20010015.htm. 116
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kommt es zum Streit, welche Gemeinden bei Autobahnabfahrten genannt werden und welche nicht122.
b) Insbesondere: Straßen, Plätze, Brücken-Bezeichnungen Auf der Ebene der Gemeinden, wesentlich weniger auf der Kreisebene, findet die umfassendste Form der Namensgebung statt: dies geschieht mit der Benennung von Straßen und Plätzen, auch Brücken, Parkanlagen und von öffentlichen Einrichtungen aller Art statt. Sie begleiten den Bürger, sofern sie nicht geändert werden (wie in Deutschland in der Vergangenheit nach jedem Systemwechsel häufig und üblich), ein Leben lang vom Schulweg über den Gang zum Büro und zum Einkauf bis ins Alter. In fremden Orten orientiert man sich an Benennungen, die fremde Gemeinden in der jüngeren oder ferneren Vergangenheit vorgenommen haben. Man fi ndet so ein eigenständiges Benennungsmuster vor, das eine fremde Lebenswelt bezeichnet. Jeder Umzug im Leben in einen anderen Stadtteil oder in eine andere Gemeinde hat einen mehr oder weniger langen Lernprozess eines unbekannten Namenssystems zur Folge. Vertrautes ist verloren gegangen, Neues muss man sich aneignen. Und es gibt Straßen, die man sich auch nach Jahren nicht merken kann123. Zu diesem auch rechtlich interessanten Feld, über das es kaum Literatur und Rechtsprechung gibt, können nur wenige Bemerkungen gemacht werden. Üblich und sehr häufig sind die meist sehr alten Straßenbenennungen nach geographischen Angaben (Magdeburger-, Merseburger-, Leipziger Straße in Halle, Bahnhofstrasse, Universitätsplatz). Es folgen alte historische Namen (Hallmarkt, Kleinschmieden) und Namensgebungen, die auf berühmte Mitbürger und sonstige Berühmtheiten verweisen (Riveufer, Reilstrasse, Händelstrasse in Halle; Goethestrasse, Bebelstrasse, Bismarckstrasse überall). In Universitätsstädten ehrt man so, was selten ist, auch berühmte Gelehrte (Sigwartstrasse, Rümelinstrasse, Brunsstrasse, Helmuth-von-Glasenapp-Weg in Tübingen, Julius-Kühn-Straße, Emil-Abderhalden-Straße in Halle). Solche Straßennamen wurden meist im bildungsgesättigten 19. Jahrhundert vergeben. In vielen Städten ist die Bundesrepublik immer noch monarchisch (König- und Olgastrasse in Stuttgart, Kaiser-Joseph-Straße in Freiburg/Br., Kaiser-FriedrichRing in Wiesbaden, Prinzregentenstrasse in München, Hohenzollernbrücke in Köln). Benennungen von Straßen und Plätzen nach zeitgenössischen Politikern altern schnell und bleiben nur kurzlebig in Erinnerung (Riebeck kennt man in Halle, aber wer war Damaschke?). Eine Ausnahme sind Friedrich Ebert (nach ihm sind z. B. Anlagen in Frankfurt/M und in Heidelberg benannt124), J. F. Kennedy oder Theodor Heuss. Ein besonders dichtes Netz an Politiker-Benennungen fi ndet sich in Berlin (Otto-Suhr-Allee, Ernst-Reuter-Platz) und sehr ausgeprägt in Wien. Die überaus 122 Wegen der begrenzten Aufmerksamkeit des Autofahrens kann nur auf maximal drei Gemeinden in Abfahrtsnähe hingewiesen werden. 123 In Halle gibt es Große und Kleine Ulrich-, Klaus-, Märker-, Stein-Straßen usw., die oft quer zueinander liegen und wenig Orientierung bieten, hinzu kommt noch ein Steinweg und ein Steintor. Eine Mühlgasse bzw. ein Mühlweg sorgten dafür, dass der Verf. bei seinen Dienstverhandlungen im November 1991 in Halle beinahe hätte auf einer Parkbank übernachten müssen. 124 Es gibt auch eine Ludwig-Erhard-Anlage.
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zahlreichen Neubausiedlungen der fünfziger und sechziger Jahre wurden meist sehr schematisch und beliebig ohne Lokalbezug vorgenommen. Es wimmelt dort von Kastanien-, Amsel-, Vogelbeer-Wegen. Überregional bekannt wurden große Neubau-Siedlungskomplexe, die oft nach wenigen Jahren zu Problemsiedlungen wurden (Vogelstang, Neue Vahr, Hasenbergl, Märkisches Viertel). In Deutschland eher selten sind Benennungen nach einem Datum: nach der „Straße des 17. Juni“ erinnert Berlin mit dem „Platz des 18. März“ (westlich des Brandenburger Tors) an eine weitere deutsche Revolution125. Nur noch selten fi ndet man Erinnerungen an siegreiche Schlachten der Geschichte, so haben in Wuppertal eine „Sedanstrasse“ und ein „Sedan“-Stadtviertel überlebt, in Berlin gibt es den „Viktoriapark“. In Hamburg wird gefordert, künftig alle Straßen zu 50% zu Ehren von Frauen zu benennen. In vielen Städten werden politisch unkorrekte Straßennamen geändert. Jeder Systemwechsel drückt sich in Straßennamen, seltener in Gebäudenamen aus. In den neuen Ländern verschwanden mehr oder weniger rasch Straßennamen: „Straße der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ (DSF), der „Opfer des Faschismus“ (OdF), die Otto Nuschke-, Otto Grotewohl-, Wilhelm Pieck-Straßen126, während die Thälmann-, Thomas-Müntzer-, Adam-Kuckhoff-, Rosa-Luxemburg und KarlLiebknecht-Straßen erhalten blieben. Dasselbe gilt für die auch neutral deutbare „Straße der Jugend“. Das Gebäude, in dem jetzt die Deutsche Nationalakademie Leopoldina in Halle ihren Sitz bekommt, hieß zuvor in der DDR (und im Universitätsjargon noch lange danach) das Tschernyschewski-Haus, benannt nach einem bedeutenden russischen Sozialrevolutionär und geistigen Lehrer Lenins127. Eine gewisse Buntheit der Benennung, die allerdings in der Regel auf Landesebene geschieht, bilden Tourismusregionen ((Wein)-Region Saale-Unstrut) oder Touristikstrassen (Romantische Straße, Deutsche Alleenstrasse).
c) Öffentliche Einrichtungen der Gemeinden Neben Straßen, Plätzen und Brücken haben die Kommunen auch zehntausende von Schulen aller Formen und sonstige öffentliche Einrichtungen wie Bäder, Stadien, Stadt- und Veranstaltungshallen, Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten, Messegelände128 zu benennen. Bei den Gymnasien überdauerten häufig die Namen königlicher Gründer und Gründerinnen (Eberhard-Ludwigs Gymnasium, Karls-Gymnasium, Olgastift in Stuttgart) oder andere Traditionsnamen ( Johanneum, Schulpforta; Kepler-Gymnasium, Uhlandgymnasium, Wildermuth-Gymnasium in Tübingen), wie überhaupt Dichternamen lange Zeit bevorzugt waren (Goethe, Schiller, von Scheffel, Büchner, Mörike). Oft spiegeln Namen auch den Zeitgeist wieder (Albert-Schweitzer-Real125
Die „Märzrevolution“ 1848. In Erfurt ein Jurij Gagarin-Ring. 127 Nikolai G. Tschernyschewski, 1828–1889, Hauptwerk: „Was tun?“. Vor der Leopoldina beherbergte das palastartige, im Krieg unzerstörte, sehr prachtvolle Gebäude über der Saale Einrichtungen der Universität Halle, der SED-Bezirksleitung, des SMAD, der NS-Gauleitung und war ursprünglich der Sitz einer berühmten Freimaurerloge: deutsche Geschichte in ihrer ganzen Komplexität. 128 „Leipziger Messe“, „Hannover-Messe“. 126
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schule in Tübingen). Eher selten werden Schulen nach Politikern benannt (Bsp. Carlo-Schmid-Gymnasium Tübingen), öfters nach verdienten Lokalpolitikern wie etwa Oberbürgermeistern oder nach anderen bedeutenden Persönlichkeiten (Bsp. Elly Heuss-Knapp). Namen kehren auch zurück: das berühmte Vitzthums’sche Gymnasium in Dresden bekam nach 1990 seinen traditionellen Namen wieder. Berufsschulen werden oft nach Ferdinand Steinbeis oder Max Eyth, Wirtschaftsoberschulen nach Friedrich List benannt, auch Ludwig Erhard ist passender Name für solche Schulen129. Städtische Krankenhäuser werden öfters mit Namen versehen (Bsp. Ferdinand-Sauerbruch-Klinik Wuppertal, Rudolf-Virchow-Krankenhaus Berlin130 ), die berufsgenossenschaftliche Klinik in Halle heißt traditionsbewusst „Bergmannstrost“.
4. Verkehrseinrichtungen: Häfen, Bahnhöfe, Flughäfen Eigene Namen trugen im Wesentlichen nur die Berliner Fernbahnhöfe, ihre wechselnden Benennungen spiegeln ein Stück deutscher Geschichte: aus dem Schlesischen Bahnhof wurde der Hauptbahnhof, dann der Ostbahnhof. Einige Bahnhöfe verschwanden, ihre Namen blieben aber in Erinnerung, vor allem der Anhalter Bahnhof. Aus dem altbekannten Lehrter Bahnhof wurde – recht provinziell wirkend – der „Hauptbahnhof “131. Bei den See- und Binnenhäfen hat sich nur in Bremerhaven der Columbushafen als Ablegestelle der Atlantikdampfer und der Auswandererschiffe eingeprägt. Nachdem sich bei Flughäfen lange Zeit eine bloße Ortsbezeichnung üblich war: StuttgartEchterdingen, Hamburg-Fuhlsbüttel, München-Riem, Hannover-Langenhagen, Berlin-Tegel132, begann mit der Benennung des neuen Münchner Flughafens „Franz Josef Strauß“ eine neue Ära. So soll der neue Flughafen Berlin-Schönefeld den Namen Willy Brandts tragen133.
5. Universitäten, Fachhochschulen Universitäten tragen meist die Namen ihrer fürstlichen und monarchischen Gründer (Eberhard-Karls Universität Tübingen, Maximilian-Ludwigs Universität München), während die Neugründungen häufig ohne Namen blieben (Bsp. Bielefeld, Augsburg, Trier, Konstanz, Regensburg, Bayreuth, jedoch Freie Universität Berlin, Goethe-Universität Frankfurt, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Ruhr-Uni129
Es gibt mehrere Schulen dieses Namens. Rudolf Virchow war nicht nur ein berühmter Arzt, sondern auch ein bedeutender Abgeordneter des Reichstags. 131 Der „Badische Bahnhof “ in Basel, eine völkerrechtliche Kuriosität, ist leider nicht mehr in Betrieb. 132 Der Flughafen „Halle-Leipzig“ wurde in „Leipzig-Halle“ umbenannt, weil Halle die kleinere der beiden Städte ist und der Flughafen auch eher in der Nähe Leipzigs liegt. Allerdings spricht sich „Halle-Leipzig“ wesentlich flüssiger aus. 133 S. Paris „Charles de Gaulle“, Rom-Fiumicino „Leonardo da Vimnci“. 130
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versität Bochum). Einige Benennungen waren – m. E. zu unrecht – umstritten (Heinrich Heine Universität-Düsseldorf, Carl von Ossietzky-Universität Osnabrück, jüngst Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald). Umbenennungen erfuhren Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität, dann Humboldt-Universität) und Halle (Martin-Luther-Universität, vormals Vereinigte Friedrichs-Universität). Die junge Universität Lüneburg wurde „Leuphana“ benannt. Die technischen Hochschulen, später Universitäten, tragen über ihre Bezeichnung hinaus dagegen selten zusätzliche Namen (Ausnahmen sind die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH) oder die Otto von Guericke-Universität Magdeburg). Einen heute schon legendär gewordenen Namen trug die Ulmer „Hochschule für Gestaltung“. Auch die „rechtstechnische“ Benennung der (staatlichen) Universität (früher Anstalt, dann Körperschaft, jetzt auch Stiftung des öffentlichen Rechts) stieß auf Kritik. Wilhelm Hennis meinte dazu: „Dass die Rechtsform der Universität die einer ‚Körperschaft öffentlichen Rechts und Anstalt‘ war, passte ihm (dem Staat) nicht, die Anstaltsform sollte man streichen, es sollte nur noch ‚Körperschaft‘ heißen. Aber was bleibt dann von der Universität, wenn man ihr den Veranstalter wegnimmt? Das ist doch der Staat, und es ist doch der reine Hohn, wenn jetzt in Niedersachsen die Universitäten zu Stiftungsuniversitäten deklariert werden! Der Staat geht stiften und sagt: ‚Wir schenken euch eure Gebäude, und ihr geht mit dem Klingelbeutel rum und zeigt nun als Stiftung eure Effi zienz‘“134.
Fachhochschulen tragen außer ihren Orts- und Fachbezeichnungen eher selten besondere Namen (Fachhochschule Harz), anders ist es bei Kunst- und Musikhochschulen (Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein, Halle; Hochschule für Musik „Mendelssohn Bartholdy“, Leipzig Hochschule für Musik „Franz List“, Weimar). Hier bemerke man die Nachstellung des Namens, die in Deutschland eher ungewohnt ist, aber in der DDR – wohl nach russischem Muster – üblich war. Der Bund benennt immerhin zwei Bundesoberbehörden als „Paul-Ehrlich-Institut“ bzw. „Robert-Koch-Institut“135. Schön ist es, wenn eine Universität ihre maßgeblichen Gebäude mit einprägsamen Namen bedenkt (Henry-Ford-Bau der FU), dies ist etwa in Halle der Fall (Robertinum, Thomasianum, Melanchthonianum). Auch inoffizielle Namen können sich durchsetzen (das „Löwengebäude“ = Aula in Halle, der „Bonatz-Bau“ = Universitätsbibliothek in Tübingen). In Tübingen wurden auch Neubauten mit Namen bedeutender Personen versehen (Lothar Meyer-Bau, Hegel-Bau, während die Benennung des Bert Brecht-Baus, von den Studenten gewünscht, offiziell nicht zugelassen wurde). Ansonsten ist die Bezeichnung „Juridicum“ für die Gebäude der Juristischen Fakultäten häufig. Seltener werden Universitätskliniken neben ihrer Funktion (Klinikum der Universität, Chirurgische Universitätsklinik, Universitäts-Augenklinik) mit den Namen
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Hennis a.a.O. in der FAZ. Ersteres umbenannt 1999 in Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, letzteres ist das Bundesinstitut für Infektionskrankheiten. Auf Rügen gibt es Friedrich-Löffler-Institut. 135
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berühmter Ärzte bedacht136. Noch seltener ist es bei Instituten der Fall137. Man begibt sich dadurch einer plakativen, eingängigen Möglichkeit, das eigene Profi l zu schärfen und auf große Gelehrte hinzuweisen, die an der Hochschule einmal gelehrt haben. Die amerikanische Form, Stiftungslehrstühle mit den Stiftern zu benennen, setzt sich in Deutschland bisher nur langsam durch138.
6. Sonstige staatliche Einrichtungen und die sog. mittelbare Staatesverwaltung Das weite und unübersichtliche Feld der unselbständigen Anstalten und der mittelbaren Staats- (Bundes-, Landes-)Verwaltung, ihren Grauzonen und staatsabhängigen Ablegern in Hinblick auf Benennungen zu untersuchen wäre reizvoll, kann aber hier nur angedeutet werden. Immerhin sind nicht nur die kommunalen Namen rechtlich geschützt, sondern auch die Namen von Juristischen Personen des öffentlichen Rechts139. Aber nicht alle öffentlichen Einrichtungen haben eigene Namen. So bedürfen z. B. Strafvollzugsanstalten keines besonderen Namens, allein ihre Ortsbezeichnung (Moabit, Bautzen, Straubing, Bruchsal, Aichach, Landsberg) ist geeignet, sich dem Bürger einzuprägen und ihm kalte Schauer über den Rücken laufen zu lassen140. Bewusst gesetzte Benennungen mit Programmcharakter waren das Goethe-Institut, die Alexander von Humboldt-Stiftung und auch die Max-Planck-Gesellschaft, die nach 1945 einen Namenswechsel vollzog. Weltberühmt wurde sie als „KaiserWilhelm-Gesellschaft“, deren prominentestes Mitglied Albert Einstein war. Erst heute wird der historischen Forschung gewahr, da es sich bei Kaiser Wilhelm II. in vielen Zügen um einen sehr modernen Monarchen gehandelt hat. Ihm war immerhin die Initiative zur Gründung der Wissenschaftsförderungs-Gesellschaft zu verdanken. Auch die Fraunhofer- und die Helmholtz-Gesellschaft weisen in ihrem Namen auf einen Abglanz früherer Weltgeltung der deutschen Wissenschaft hin, hoffentlich nicht nur eine Reminiszenz. Auf die Umbenennung der Hallenser Leopoldina (Akademie der Naturforscher) als „Nationalakademie“ wurde bereits hingewiesen. Wie Wilhelm Hennis zutreffend bemerkt, verwundert die unwillkürlich ausgebrochene Vorliebe für die Benennung öffentlicher Einrichtungen als „Agentur“. Man hat sichtbare Hemmungen, von alters her gebräuchliche (und juristisch exakte) Benennungen als „Amt“ oder „Anstalt“ weiter zu verwenden. Offenbar gibt es das Bestreben, das Staatliche und Amtliche soweit als möglich zu verdrängen und auf eine „Service-Funktion“ der Behörde, denn um eine solche handelt es sich in der 136 In Halle wurden in jüngere die alten und neuen Stationspavillons einer Universitätsklinik nach bedeutenden früheren Chefärzten der Klinik benannt. 137 Walter-Schücking-Institut für Internationales Recht Kiel, Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht Berlin. 138 Bsp. Gündling – Professur für geistiges Eigentum in Halle. 139 S. Dörner, in: Schulz/Dörner/Ebert u. a., BGB, Handkommentar, 7. A. 2012 zu § 12 BGB; s. a. BGHZ 43, 252; 124, 178; 161, 220; NJW 2007, 683. Rechtliche nicht geschützt sind dagegen Bezeichnungen wie „Stiftung“ oder „Institut“. 140 Hinzu kommen oft inoffi zielle Bezeichnungen im Volksmund: Santa Fu, Klingelpütz, Gelbes Elend, Roter Ochse (Halle/S.).
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Regel, zu reduzieren: der Staat als (möglichst moderner, harmloser, effizienter, unbürokratischer) Dienstleister. Folgende „Agenturen“ sind dem Verf. bisher untergekommen (es können auch mehr sein): – – – – –
Bundesagentur für Arbeit141 Bundesnetzagentur Deutsche Energie-Agentur (GmbH, dena) ehem. Finanzagentur des Bundes GmbH142 ehem. Bundesagentur für Außenwirtschaft143.
Das Bundesamt für Finanzdienstleistungen wird, offenbar modisch, als BaFin (auch: BaFIN) abgekürzt, und ist so auch in den Alltagssprachgebrauch eingegangen, Frucht der 2007 ausgebrochenen internationalen Finanz- und Bankenkrise. Ortsprägende Bezeichnungen fi nden sich bei zahlreichen öffentlichen Einrichtungen wie Tierparks (Bergzoo Halle, Wilhelma, Hakenbecks Tierpark), Gebäuden (Odeon144, Maximilianeum), Sportstadien (Gottlieb-Daimler-Stadion, ehem. Neckarstation, Allianz-Arena in München145), Veranstaltungs- und Sporthallen (Beethovenhalle, Liederhalle, Westfalenhalle, Deutschlandhalle146, Martin-Schleyer-Halle147, Ostseehalle; Haus des Rundfunks/Berlin). Ein Nebenaspekt sind staatliche und nicht-staatliche, aber öffentlich wirkende Bezeichnungen prägender Geschäftsbauten in Großstädten (Mittnachtbau, Hindenburgbau in Stuttgart, Deutschlandhaus in Berlin).
7. Rundfunkanstalten und Kulturstätten Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten betonen, dem Rundfunkföderalismus in Deutschland folgend, ihre regionale Zuständigkeit (=Sendegebiet): Norddeutscher-, Hessischer-, Bayerischer-, Südwestdeutscher- usw. Rundfunk. Nur Bremen behielt die alte historische Bezeichnung („Radio Stuttgart/Frankfurt“ usf.) als „Radio Bremen“ bei. Der frühere „Sender Freies Berlin“ betonte seine Stellung im ideologischen Kampf des kalten Krieges. Hervorzuheben ist, dass der 1990 neu gegründete „Mitteldeutsche Rundfunk“ in seinem Namen die „mitteldeutsche“, nicht ostdeutsche Lage der Mitgliedsländer Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen be141
Früher: Bundesanstalt für Arbeit, rechtlich aber eine Körperschaft. Jetzt: Bundesrepublik Deutschland-Finanzagentur GmbH/Deutsche Finanzagentur, entstanden v. a. aus der Bundeswertpapierverwaltung, vormals Bundesschuldenverwaltung. Die beiden früheren Bezeichnungen sind weit treffender als die neue, allzu vage Bezeichnung. 143 Jetzt: Germany Trade and Invest-Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standort-Marketing mbH (GTAI), vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation. 144 Sitz des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen. 145 Ein Beispiel der Benennung einer kommunal-öffentlichen Einrichtung mit einem Firmennamen. Vergleichbares gibt es in Dortmund (Signal-Iduna-Park), Frankfurt/Main (CommerzbankArena), Dresen (Glücksgas-Arena anstelle des traditionsreichen Rudolf-Harbig-Stadions), ein m. E. bedenkliche Vermischung öffentlicher Einrichtungen mit privaten (Firmen-)Bezeichnungen; die Sponsoren wollen es so. 146 Noch berühmter wurde aus politischen Gründen der Berliner Sportpalast. 147 Zum Gedenken an den von der RAF ermordeten Arbeitgeberverbands-Präsidenten. 142
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tont. Der „Ostdeutsche Rundfunk“ ist damit korrekterweise der Rundfunk Berlins und Brandenburgs. Dass das 1960 gegründete „Zweite Deutsche Fernsehen“ die an sich wenig geglückte und farblose Bezeichnung „Zweites“ übernahm, weist auf eine gewisse Phantasielosigkeit hin. Durchgesetzt hat sich deswegen wohl die fast ausschließliche Benutzung der Abkürzung „ZDF“. Der organisatorische Zusammenschluss der Anstalten des „ersten“ Fernsehens zur ARD (rechtlich wohl eine GbR) führte zu einer Benennung, wie sie bürokratischer und farbloser nicht sein kann: „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“. Damit kann man international keinen Staat machen (s. BBC, RTF, RAI, ORF, SRG). Die Aussendung der „Tagesschau“ als lange Zeit bedeutsamste Sendung fungierte deshalb auch unter dem Logo „Deutsches Fernsehen“148. Erst nach Jahrzehnten wurden Mitte der achtziger Jahre öffentlich-rechtliche Sender mit sprechenderen Namen: „ARTE“ und „Phönix“, installiert. Eher technisch klingt „3-sat“. Plakativer waren die Benennungen bei der Deutschen Welle (Auslandsrundfunk) und beim früheren Deutschlandfunk als (früher Bundes- jetzt Länder-)Sender, der das deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl wach halten sollte und vor allem für die Deutschen in der DDR bestimmt war. Die teilselbständigen Unterabteilungen des neuen Deutschlandfunks heißen heute, m. E. gelungen, „Deutschlandradio Kultur“ und „Deutschlandradio Wissen“. Mit einer der wichtigsten Rundfunksender in Deutschland, der zunächst gar keine deutsche öffentlich-rechtliche Einrichtung war, wurde der RIAS – Rundfunk im amerikanischen Sektor (Berlins). Durch dieses extravagante Kürzel und seine exponierte Stellung im eingeschlossenen Westberlin war der Sender bald bekannter als alle Anstalten der ARD. Die DDR benannte ihre Sender, den ursprünglichen Intentionen ihrer Gründer gemäß, bewusst „deutsch“: Deutschlandsender, Deutscher Fernsehfunk der DDR. Der Bund benennt seine Kultureinrichtungen nicht sehr phantasievoll, sie heißen ähnlich nüchtern wie die Bundespolizei: „Bundeskunsthalle“ oder „Bundeskulturstiftung“. Allein die Stiftung Preußischer Kulturbesitz weckt Erinnerungen an Preußens Größe als Kulturstaat wie überhaupt bei staatlichen Stiftungen zuweilen größere Phantasie bei Namensgebungen zu beobachten ist: „Stiftung Mutter und Kind“, „Stiftung Weimarer Klassik“, Stiftung CAESAR. Manchmal weckt auch ein geheimnisvoller Name Neugier: „Leucorea“ (= βουνό λευκό = Weißer Sand/Berg = Witten-Berg) als inoffizieller Name der 1502 von Kurfürst Friedrich III. dem Weisen gegründeten Universität Friedericiana in Wittenberg. Deshalb führt auch die 1694 gegründete und 1814 mit Wittenberg fusionierte Universität Halle die Bezeichnung „Halle-Wittenberg“ Namen als Lesebuch der deutschen Kulturgeschichte. Die deutsche Geschichte mit ihren zahlreichen Residenzen spiegelt sich noch heute in der Bezeichnung von Theatern und Opernhäusern. Je nachdem werden sie als „Staatstheater“/“Staatsoper“ (ehem. Residenzstädte) oder als „städtisches Theater/ Oper“ bezeichnete („normale“ Städte). Das „Anhaltische Theater“149 in Dessau erinnert an die Residenz der Askanier. In Niedersachsen sind daher die Theater/ Opernhäuser in Hannover, Oldenburg und Braunschweig „Staatstheater/Opern“, vergleichbar ist es in vielen anderen Bundesländern. Charakteristische Namen tragen 148 149
Heute heißt das wichtigste Gemeinschaftsprogramm der ARD-Anstalten „Das Erste“. Nicht: „anhaltinisch“!
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die „Deutsche Oper am Rhein“ (Düsseldorf/Duisburg), die „Deutsche Staatsoper Berlin“ oder die „Hamburgische Staatsoper“. Um eine regionale Bedeutung zu signalisieren, gibt es das „Pfalztheater Kaiserlautern“. Bewusste gesetzte Originalität sollen Benennungen wie Gasteig (München) oder Kulturschirn (Frankfurt/M) verkörpern. Das Theater in Gelsenkirchen wurde in „MiR“ (Theater „Mitten im Ruhrgebiet“) benannt; sozio-kulturelle Zentren werden oft betont „sachlich“ benannt („Lagerhalle“ in Osnabrück, „Seifenfabrik“ in Graz). Staatliche und Städtische Kunstsammlungen haben oft charakteristische Namen, die meist aus dem 19. Jahrhundert stammen: Albertina Dresden, Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig, Friedericianum Kassel, Alte/Neue Pinakothek sowie Pinakothek der Moderne, Glyptothek in München, das Museum Städel in Frankfurt/M.150. Zuweilen werden Kulturstätten inoffi ziell auch mit dem Namen des Architekten: „Semper-Oper“ und „Semper-Galerie“, oder nach ihrer Lage: „LindenOper“, benannt.
8. Öffentliche Unternehmen und Privatisierung Auch formell und selbst materiell privatisierte Bundes- und Landeseinrichtungen sind dann zwar nicht mehr expliziert staatlich, ihre Benennungen bleiben aber öffentlich und bewirken zumindest einen Nachhall ihrer Staatlichkeit. Als quasi „öffentliche“ Einrichtungen kraft Tradition bestimmen sie auch weiterhin den ästhetischen Raum, den sie zuvor als mehr oder weniger verselbständigten Teil des Staates ausgefüllt hatten. So repräsentieren die früheren Bundes-Sondervermögen Bahn und Post den Bund auch weiterhin in der Fläche und mit nationsweiten Logos151, die organisationsrechtlichen Details kümmern den Bürger wenig. Eines der geheimnisvollsten Logos eines ehemaligen Bundes-Sondervermögens ist die „DHL“, deren gelb-roten Fahrzeugen man überall auf den Straßen begegnet. Man kann rätseln, was sich hinter dieser Buchstabenkombination verbirgt. Manchmal ist es auch gut, eine Abkürzung aufzulösen: begegnet man auf der Autobahn weißen Kleinbussen mit blauen Streifen und der Buchstabenfolge „BAG“, so ist nicht etwa das Bundesarbeitsgericht unterwegs, vielmehr kann man als Führer eines Pkw ruhig weiterfahren. Das „Bundesaufsichtsamt für den Güterverkehr“ überprüft (mit polizeilichen Befugnissen) lediglich Lkws. Sieht man grün-weiße Fahrzeuge mit der Aufschrift „ZOLL“, so muss man nur beunruhigt sein, wenn man gerade Zigaretten schmuggelt oder Schwarzarbeiter beschäftigt. Immerhin hat man das Gefühl, eine Art von Polizei sei präsent, die notfalls helfen kann, was dem Bürger dann doch ein zusätzliches Sicherheitsgefühl vermittelt. Zu den wenigen öffentlichen Unternehmen mit Staatsbeteiligung, die eine Kontinuität in der Benennung aufweisen, gehören die Lufthansa152 und die Volkswagen 150
Exakt: Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie. S. zu diesen Bundes-Sondervermögen M. Kilian, Nebenhaushalte des Bundes, 1993, S. 398 ff. (Bahn) bzw. S. 414 ff. (Post). 152 Fluggesellschaften mit ihren Farbgebungen und Firmenlogos gelten in vielen Staaten der Welt – mehr als Schiffe, die die Nationalfl agge führen – als nationale Vorzeigesymbole auch dann, wenn es 151
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AG, während die früheren Bundeskonzerne mit den weitbekannten Abkürzungen VEBA, VIAG und Preussag (zugleich eine Erinnerung an das Land Preußen) aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind. Besondere Marken der Staatsästhetik wurden auch Staatsfi rmen wie die „KPM-Berlin“, „Meißen“, „Nymphenburger“ oder „Ludwigsburg“ mit den entsprechenden Porzellan-Zeichen (Bsp. gekreuzte Schwerter). Mit dem Niedergang des Bankensektors im Verlauf der Finanzkrise haben auch die öffentlichen Banken ihre frühere Reputation und damit ihren „Namen“ verloren. Die „Kreditanstalt für Wiederauf bau“ nahm noch am Nimbus des Wirtschaftswunders teil. Heute wird sie nur noch abgekürzt „Kf W“ benannt. Aus der biederen Deutschen Pfandbriefanstalt153 wurde die Depfa plc mit Sitz in Dublin. Als HRETochter mussten ihre Verluste von demselben Steuerzahler aufgefangen werden, vor dem die Bank mit ihrer Ausgründung nach Irland ausgewichen war. Öffentliche Benennungen können in ihrem Kurs herabsinken: die Bezeichnung „Landesbank“ steht heutzutage für Inkompetenz und Verluste.
V. Weitere Auffälligkeiten bei Bezeichnungen Namengebungen und Benennungen sind ein Mikrokosmos für sich. Aus einigen Besonderheiten und Auffälligkeiten der staatlichen Namensgebung soll im Folgenden nur kurz hingewiesen werden. – euphemistischer Sprachgebrauch bei Bezeichnungen In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit dienten öffentliche und amtliche Benennungen oft dazu, historisch mit Schrecken belastete Begriffe tunlichst zu vermeiden, um den Bürger nicht unnötig zu beunruhigen. Dies begann schon im Grundgesetz selbst mit den Begriffen Verteidigungsminister (in Weimar noch Wehrminister, im Kaiserreich Kriegsminister genannt), und beim Verteidigungsfall. Heikle Behörden wurden Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst genannt154. Auf der Gesetzesebene bildet ein besonders drastisches Beispiel des einlullenden Euphemismus das „Bundesleistungsgesetz“, das eigentlich „Notstands-Beschlagnahmegesetz“ heißen müsste. Mündige Bürger werden so nicht angesprochen. Allerdings: „Atomgesetz“ würde heute kein Gesetzgeber ein Gesetz benennen. Auch andere Schreckenswörter wie „Armenrech“ „Konkurs“, „Vormundschaft“, „Offenbarungseid“, „Widerstand gegen die Staatsgewalt“, „Hilfsschule“ wurden sich nicht um eine staatseigene Gesellschaft handelt. So verkörpert der blaue Kranich auf gelbem Grund der DLH auch Deutschland im Ausland. Das Verschwinden der Swissair mit dem Schweizerkreuz und – demnächst vielleicht – der von der Lufthansa wirtschaftlich beherrschten AUA mit der österreichischen rot-weiß-roten Farbgebung führte bzw. führt zu einem schmerzlich empfundenen Verlust weltweit präsenter nationaler Identität. Die Stewardessen sind einheitlich nationalfarbenrot mit weißen Blusen gekleidet. 153 Dazu s. M. Kilian, Nebenhaushalte des Bundes, a.a.O, S. 484 f. 154 Erst seit kurzem fi ndet man in den Medien die Umschreibung „Auslands-“ bzw. „Inlandsgeheimdienst“.
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durch mildere, vermeintlich sachlichere Benennungen ersetzt, sie sind aber im Alltagssprachebrauch noch durchaus präsent, zumindest bei den Älteren. Ein Psychiatrisches Landeskrankenhaus heißt in Sachsen-Anhalt jetzt Salus-GmbH. Um das angstbeladene Wort „Luftschutz“ zu vermeiden, wurde in den fünfziger und sechziger Jahren von Selbstschutz und Zivilschutz gesprochen. Aus dem Zuchthaus wurde die Strafvollzugsanstalt. Einrichtungen mit negativem Erscheinungsbild werden umbenannt, so wird aus der GEZ ab 2013 der „ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice“. – Ungleichzeitigkeiten Auf der anderen Seite wundert sich die Öffentlichkeit über Gesetzesbegriffe, die eine seltsame Aura haben, sie wirken wie aus vergangenen Zeiten und Denkweisen überkommen: „unlauterer Wettbewerb“, „Untreue“, jüngst „Ehrensold“. Wo „Vorteilsannahme“ zur Generalmaxime jeder ökonomisch ausgerichteten Lebensweise propagiert wird, wirkt deren strikte Straf barkeit bei Inhabern öffentlicher Ämter archaisch155. – unschöne Sprache und Buchstaben-Kaskaden Sprachlich unschöne Neu- und Umbenennungen sind der „Auszubildende“ (Azubi) anstelle des schönen, und die Situation kennzeichnenden „Lehrlings“. Warum ein „Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht“ demokratischer sein soll als ein „Senatspräsident“ (was er ja ist), bleibt ein Geheimnis. Sprachlich (und damit ästhetisch) ist die Bezeichnung eine Katastrophe. Auch sei auf Gesetzes-Benennungen hingewiesen, die in Deutschland offenbar nicht aussterben, und die Mark Twain in helle Freude versetzt hätten („Buchstabenumzüge“156), so das Gemeindeneugliederungs-Grundsätzegesetz des Landes Sachsen-Anhalt mit den entsprechende amtlichen Abkürzungen (GemNeuglGrG LSA157). Hört man von einem Haushaltsbegleitgesetz oder einem Haushaltsstrukturgesetz so ist Vorsicht geboten: Mittelkürzungen drohen. – Verniedlichungen und Verfremdungen Oft benutzt der Volksmund Verniedlichungen und Verfremdungen dazu, den häufig verfremdlichen Erscheinungsformen des Leviathan zu begegnen. Die westlichen drei Besatzungszonen wurden scherzhaft „Trizonesien“ genannt. Öffentliche Gebäude bekommen mehr oder weniger geistvolle Spitznamen: „Schwangere Auster“ (Kongresshalle im Tiergarten), „Zirkus Karajani“ (Berliner Philharmonie), „Waschmaschine“ (Kanzleramt). Als ARGE, Hartz IV, BaFin/BaFIN/Bafin, früher von Wehrpfl ichtigen als „beim Bund“-sein umschrieben verliert manches Unangenehme viel von seinem Bedrohungspotential. „Zivis“ wurden zum Synonym für eine gesellschaftlich überaus wertvolle Berufsgruppe. Die Teilnehmer am Bundesfreiwilligendienst werden bereits „Bafdis“ genannt. Nur das Finanzamt behält seine 155 156
S. Joh. Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik, a.a.O. Nr. 728. S. dessen hochamüsanten, keineswegs veralteten Essay über „Die schreckliche deutsche Spra-
che“. 157
Vom 14. 2. 2008, GVBl. LSA 2008, S. 40.
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jahrhundertealte strenge Bezeichnung158, während die Werbung für „Bundesschätzchen“ (kurzfristige Schatzanweisungen des Bundes) wohl nicht mehr üblich ist. – Unrichtigkeiten der Bezeichnung Bezeichnungsfehler fanden sich nicht nur bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei der ehemaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), beides Körperschaften159, sondern auch bei einigen staatlichen Stiftungen, die rechtlich gar keine Stiftungen sind (Landesstiftung Baden-Württemberg GmbH). Erst recht befi ndet sich unter den sog. Parteienstiftungen nur eine einzige echte Stiftung: die FriedrichNaumann-Stiftung der FDP. – Benennungen im Zuge der Deutschen Einheit Der schmerz- und mühevoll Vorgang der deutschen Wiedervereinigung (ebenfalls ein umstrittener Begriff, es sollte „Deutsche Einheit“ heißen) erbrachte eine Reihe amtlicher, offizieller und offiziöser Namen und Begriffe. Auf das Hassobjekt „Treuhand“ wurde schon hingewiesen, die sog. Stasi-Unterlagen-Behörde160, alsbald die bekannteste deutsche Behörde schlechthin, wurde rasch mit den Namen der jeweiligen Amtsleiter benannt als „Gauck-“ bzw. „Birthler-Behörde“. Es wurde ein (beruhigender) „Fonds deutsche Einheit“ errichtet, ein „Einigungsvertrag“ geschlossen. Wenig hat das Zusammenleben zwischen Ost und West so erschwert wie die inoffizielle Benennung des Amtszuschlags für Beamte als Auf bauhelfer (auch ein Begriff von damals) mit der Bezeichnung „Buschzulage“. Bereits in den fünfziger Jahren wurde „Zone“ (aus SBZ = sowjetisch besetzte Zone) für die Betroffenen als schmerzlich Abwertung empfunden. – politische Psychologie und amtliche Sprachschöpfungen Bezeichnungen dienen zuweilen der politischen Psychologie: da die Errichtung einer wichtigen Bundesbehörde in (West-)Berlin auf heftigen Unmut der VierMächte-Garantiemacht Sowjetunion führte und andererseits die damalige Bundesregierung in Berlin unbedingt Präsenz zeigen wollte (es gab dort ja u. a. schon das Bundeskartellamt, das Bundesverwaltungsgericht und die Bundesdruckerei), wurde das beabsichtigte Bundes-Umweltamt sprachlich etwas niedriger gestuft und als „Umweltbundesamt“ bezeichnet161. Es gibt unbekannt bleibende Sprachschöpfer mit neuartigen Begriffsbildungen, so im Sozialrecht und im Sicherheitsbereich, welche in die Alltagssprache einsickern: „Zuverdienstgrenze“, „Großer Lauschangriff “, „fi naler Rettungsschuss“, „Vorratsdatenspeicherung“, „Online-Zugriff “. Durch die Finanzkrise kamen neue staatliche
158 Früher auch als Rentämter oder Akziseverwaltung bezeichnet, aber immer noch besser als das System der Steuerpacht. 159 M. Kilian, Nebenhaushalte des Bundes, a.a.O., S. 458 (BA § 189 I AFG) bzw. S. 465 (§ 29 SGB IV). 160 Exakt: „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)“. 161 Vergleichbar wurde allerdings auch das „Kraftfahrtbundesamt“ benannt, wohl aus sprachlichen Gründen.
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Begriffsschöpfungen hinzu: „Abwrackprämie“, „Schuldenbremse“, „Rettungsschirm“, „Staatsinsolvenz“. In der Rechts- und Gesetzessprache finden sich zuweilen Vorprägungen, die den betroffenen Adressaten zumindest sozial-psychologisch von vorn herein benachteiligen: „neue“ Länder sind die ewig fordernden Newcomer gegenüber den „alten“ Ländern, ein Störer im Polizeirecht (immer auch ein Mensch) ist so rasch als möglich zu beseitigen, der Arbeitgeber „gibt“ Arbeit, eigentlich nimmt er faktisch Arbeit vom „Arbeitnehmer“, der Mitbürger ist kein Vollbürger, wer (nur) Mitbestimmung übt, hat wenig zu sagen162. – angelsächsische Benennungen Über die häufige Verwendung englischer, amerikanischer oder angelsächsisch anmutender Bezeichnungen im öffentlichen Raum ist mit recht schon viel Kritisches gesagt worden. Öffentliche oder quasi-öffentliche Bezeichnungen bilden aber nur einen Ausschnitt im weit größeren Feld sprachlicher Verwahrlosung und Banalisierung. Der einzige Effekt, den die meisten dieser durchaus entbehrlichen Bezeichnungen beim Bürger und auch bei einem ausländischen Besucher auslösen, ist der Eindruck tiefer Provinzialität. Offenbar haben es manche Einrichtungen im Land nötig, sich dadurch, in welcher Weise auch immer, aufzuwerten. Selbstbewusstsein strahlt es nicht aus, wenn man Benennungen in anderen Kulturländern vergleicht: neben dem gewohnten Intercity163 gibt es DB-lounge, DB-Cargo, Fraport, servicecenter, snack point, im Universitätsbereich jetzt die law school. Die innerstädtische shopping mall hat die Fußgängerzone ergänzt und verewigt so das austauschbare Bild der deutschen Innenstädte mit den immergleichen Filialen der immergleichen Ketten. Und ob „job-center“ für die Betroffenen besser klingt als „Arbeitsamt“?164 Eine eigene Gestaltungskraft drückt sich so nicht aus. – Exkurs: Die Bezeichnungen der Deutschen Bahn Weltläufigkeit gaben die alten, traditionellen Bezeichnungen: Transeurop-Expreß (TEE), Rheingold-Express, Alpen-See-Expreß, Orientexpreß usw. Der schöne Brauch, Fernzüge mit den Namen berühmter Persönlichkeiten oder Charakteristiken zu benennen und so Identität zu stiften (Clara Schumann, Sophie Scholl, Bert Brecht, Bamberger Reiter, Münchner Kindl), wurde vor einigen Jahren wieder aufgegeben. Dafür werden Züge jetzt, offenbar nach dem Muster von Flugzeugen, mit Städtenamen bezeichnet165. Die große Richtung, wohin der Zug fährt, wird damit aber nicht gekennzeichnet. Bei den Zug-Städtenamen, roten Streifen an den durchaus ansprechenden dunkelblauen Bahnuniformen166, lounges, cargos etc. fragt man sich allerdings, ob es die Bahn angesichts ihrer eigenen, weit älteren Tradition nötig 162
S. a. Joh. Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik, a.a.O. In Österreich gibt es auch den „city-shuttle“. 164 In Österreich heißt es „Arbeitsmarkt-Service“, abgekürzt AMS. 165 Die Flugzeuge der Deutschen Lufthansa tragen traditionsgemäß Namen deutscher Städte. 166 Demgegenüber haben die Postuniformen jede Form verloren. Lt. Auskunft eines freundlichen bayerischen Zugführers (früher mit roter Schärpe versehen) bilden diese Streifen keinerlei Hierarchie ab, alle tragen drei Streifen (nur der Zugführer eine rote Schlaufe am Unterärmel), es soll nur eine gewisse Affi nität mit Flugpersonal hergestellt werden. Das frühere, stolze Bahnabzeichen: ein goldenes, 163
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hat, den Luftfahrtbetrieb zu imitieren, der seinen Nimbus und sein Flair längst verloren hat. Auch die Bezeichnung „Speisewagen“ hat einen angenehmeren, weil historischen Klang als „Bord-Restaurant“ oder gar „bord-bistro“167. Die Spielart, Lokomotiven, die ja im ganzen Land herum fahren, mit Namen zu versehen, wie man es in Großbritannien und der Schweiz beobachten kann, hat sich in Deutschland ohnehin nie durchgesetzt. Dafür waren Buchstaben-/Zahlenkombinationen für berühmte E-Loks wie E-10, E-18/19, E-44, E-93/94 allgemein bekannt, ehe auch sie der digitalen Datenverarbeitung zum Opfer fielen.
VI. Kurze Schlussfolgerung Staatliche Bezeichnungen, Namensgebungen und Benennungen zählen, ebenso wie eine bestimmte Wortwahl, zur Kulturgeschichte und sind damit Teil der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Allerdings besteht in der vielgestaltigen, oft konturenarmen Bundesrepublik Deutschland – gewollt oder unbewusst – kein expliziter Wille, ein „corporate design“ auszubilden168. Dies im Gegensatz zu anderen Staatsgebilden wie etwa Frankreich oder Österreich, aber auch Italien oder die skandinavischen Länder, von Staaten wie Großbritannien, der Schweiz oder der USA ganz zu schweigen. Dennoch bleiben die Namen, Zeichen, Chiffren, Farben, wie sie in der Bundesrepublik zu fi nden sind, lesbar und deutbar, man muss sich ihrer nur gewahr werden169. Diese Seite des Staates wurde (und wird) in der Bundesrepublik lange kaum beachtet170. Dass der „(staats-) ästhetische Schlummer“ auch gestört werden kann, und zwar in ganz anderer Weise, als man es sich versehen hätte, zeigte im Jahre 2010 im Geschehen um das Projekt „Stuttgart 21“ (abgekürzt „S 21“). Denn es wurde übersehen, dass dieses Großvorhaben, das in gewachsene „Zeichensetzungen“ eingreift (Stuttgarter Hauptbahnhof als Zeugnis monumentaler architektonischer Moderne und urbaner Mittelpunkt der Stadt) nicht ohne Widerstände eingegriffen werden kann171. „Stuttgart 21“ war deshalb auch ein Streit um die öffentliche Ästhetik – algeflügeltes Eisenbahnrad, ist dagegen verschwunden. Immerhin hat die Post ihr sehr altes Posthornsymbol noch behalten. 167 Die österr. Staatsbahn ÖBB macht es nicht besser, die Städteverbindung heißt „city schuttle“, das Putzpersonal trägt „claening“ auf dem Rücken, Fernzüge heißen „railjet“. 168 Mit welcher leichtfertigen Nonchalance man hier vorgeht, ganz im Gegensatz zu anderen Ländern, zeigt der Verlust des „Weltkulturerbes Dresdener Elbtal“ durch den Bau der sog. Waldschlösschenbrücke. Bund, Land und Stadt versagten hier gleichermaßen, ohne dass man sich darüber sonderlich wundern müsste, s. M. Kilian, Die Brücke über der Elbe: völkerrechtliche Wirklungen des WelterbeÜbereinkommens der UNESCO, LKV 2008, S. 248–254. 169 S. aber jetzt Horst Bredekamp, Politische Ikonologie des Grundgesetzes„ in: M. Stolleis (Hg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 9–35. 170 Ein Gegenbeispiel bildet eine im März 2012 anlaufende Kampagne für „GREAT Britain“, die mit 15 Bussen in den blau-weiß-roten Nationalfarben in Berlin Fachkräfte, Touristen und Studenten nach Großbritannien locken soll, man stelle sich solches einmal umgekehrt in London vor. 171 Ein dabei kaum beachteter Aspekt des Vorhabens ist die Ersetzung des urbanen Kopf bahnhofs durch einen „ordinären“ und von außen nicht wahrnehmbaren Durchgangsbahnhof. Großstädte in Europa zeichnen sich jedoch seit dem 19. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Eisenbahn“, durch Kopf-
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lerdings wurde er von den Verantwortlichen nicht als solcher empfunden. „Stuttgart 21“ gilt mittlerweile auch im Ausland als Synonym für Bürgerprotest und technokratische Planung ohne Sensibilität für ein gewachsenes und vertrautes – ästhetisches – Umfeld. Die Lesbarkeit des Staates anhand von Namen und Zeichen nimmt ab. Durch die Verwaltungsreformen verschwindet nicht nur die kommunale, sondern auch die staatliche Präsenz insgesamt aus der Fläche (Schließung zuerst von Schulen, Postämtern, Bahnhöfen, Gemeindeämtern, Kreissitzen, dann auch Amtsgerichten, Finanzämtern, Verwaltungsgerichten (Dessau), Sonderverwaltungsbehörden). Mit der Präsenz verschwinden auch die staatlich-kommunalen Bezeichnungen, Namen und Zeichen in weiten Lebensräumen. Umso nötiger ist, es die verbleibenden Zeichensetzungen für die Verfassungslehre, die immer auch eine „Verfassung“ eines Gemeinwesens beschreibt, kulturwissenschaftlich zu sichten und auszuwerten – und vielleicht einmal verfassungs-psychologisch zu deuten.
bahnhöfe aus (s. das alte Berlin, Paris, London, Wien, Mailand, Frankfurt/Main, Leipzig). Nicht ohne Grund heißt ein Bahnhof amtlich „Empfangsgebäude“. Man denke sich einmal bei der Stadt Zürich, die ungefähr der Größenordnung Stuttgarts entspricht, den Kopf bahnhof weg (die „Bahnhofstrasse“ führt quer auf ihn zu). Die anti-urbane Geisteshaltung in Deutschland lässt sich (neben der Aversion gegen die Rekonstruktion imperialer Gebäudekuppeln) u. a. auch an der Beseitigung der Kopf bahnhöfe ablesen (Bsp. Berlin, Heidelberg, Braunschweig, Kassel, jetzt Stuttgart). Dass derartige ästhetische Dimensionen in Deutschland bei Planungen nie jemanden in den Sinn kommen, spricht für den Befund der entsprechenden Leerstellen im Deutschland der Nachkriegszeit.
Landesverfassungsrichter Zur personalen Dimension der Landesverfassungsgerichtsbarkeit von
Professor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz, Universität Bonn
I. Landesverfassungsgerichte als gerichtliche Akteure mit Bedeutungszuwachs Seit geraumer Zeit erfährt das Landesverfassungsrecht, dessen Pflege ein traditionsreiches Anliegen dieses Jahrbuches ist,1 eine verstärkte Aufmerksamkeit,2 was sich jüngst etwa in dem Erscheinen umfangreicher und wissenschaftlich anspruchsvoller Kommentare,3 einem eigenständigen Lehrbuch zum Verfassungsrecht eines großen 1
Für den rechtskulturellen Reichtum stellvertretend aus jüngerer Zeit nur Hans Peter Bull, Die Verfassungsentwicklung in Schleswig-Holstein seit 1980, JöR 51 (2003), S. 489; Pascale Cancik, Die Verfassungsentwicklung in Hessen, JöR 51 (2003), S. 271 ff.; dies., Die Rezeption neuer Verfassungsregelungen. Ein Beitrag zur ‚Wirkung‘ der Oppositionsregelungen in den Landesverfassungen, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Bd. 55 (2007), S. 151 ff.; Johannes Dietlein, Die Verfassungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen 25 Jahren, JöR 51 (2003), S. 343 ff.; Christoph Gusy/Edgar Wagner, Die verfassungsrechtliche Entwicklung in Rheinland-Pfalz von 1996 bis 2001, JöR 51 (2003), S. 385 ff.; Felix Hammer, Die Verfassungsentwicklung in Baden-Württemberg, JöR 51 (2003); Albert Janssen/Udo Winkelmann, Die Entwicklung des niedersächsischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts in den Jahren 1990–2002, JöR 51 (2003), S. 459; Hans-Joachim Koch: Die Verfassungsentwicklung in Hamburg, JöR 51 (2003), S. 251 ff.; Winfried Kluth: Zehn Jahre Verfassungsentwicklung in SachsenAnhalt – 1992 bis 2002, JöR 51 (2003), S. 459 ff.; Peter Krause: Die Verfassungsentwicklung im Saarland seit 1980, JöR 51 (2003), S. 403 ff.; Wolfgang März, Die Verfassungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern, JöR 54 (2006), S. 175 ff.; Christian Pestalozza, Aus dem Bayerischen Verfassungsleben 1989– 2002, JöR 51 (2003), S. 121 ff.; Dieter Wilke, Die Verfassungsentwicklung in Berlin: Vom Ende der Teilung zum Aufstieg zur Bundeshauptstadt, JöR 51 (2003), S. 193 ff.; mit unverzichtbarem Blick auch auf das Verfassungsrecht der Gliedstaaten anderer Mitglieder der europäischen Staatenfamilie: Peter Häberle, Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung – das Beispiel St. Gallen, JöR 47 (1999), S. 149 ff.; ders., Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich, JöR 54 (2006), S. 367 ff. 2 Zum Impulsgeber der Verfassungsgebung in den (nicht mehr ganz) neuen Bundesländern eingehend Peter Häberle, Die Verfassungsbewegung in den fünf neuen Bundesländern 1991 bis 1992, JöR 42 (1994), S. 149 ff. 3 Hervorzuheben sind in chronologischer Folge vor allem Josef Franz Lindner/Markus Möstl/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2009; Rudolf Wendt/Roland Rixecker (Hrsg.),
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Bundeslandes4 und der stabilen Präsenz des Landesverfassungsrechts in Fachjournalen mit landesrechtlicher Schwerpunktsetzung5 dokumentiert.6 Ein wesentlicher Faktor, der dem Landesverfassungsrecht in der Rechtsanwendung praktische Relevanz verschafft, ist seine prozessuale Durchsetzbarkeit.7 Diese sicherzustellen ist vornehmlich Aufgabe der Landesverfassungsgerichtsbarkeit,8 der hinsichtlich der Vitalisierung des Landesverfassungsrechts institutionell eine vergleichbare Rolle zufällt wie auf Bundesebene dem Bundesverfassungsgericht für das Grundgesetz.9 Gerade in der Landesverfassungsgerichtsbarkeit zeigen sich prozessrechtlich verschiedene Eigenheiten,10 durch die die ‚Verfassungsautonomie‘ der Länder auch institutionell zur Entfaltung gelangt.
1. Landesverfassungsgerichte im Schatten des Bundesverfassungsgerichts In einer „Ordnung der unterschiedlichen Verfassungsgerichtsbarkeiten“11 haben die Landesverfassungsgerichte einen festen Platz.12 Von der grundgesetzlich belassenen Freiheit, eine Landesverfassungsgerichtsbarkeit einzurichten (vgl. Art. 99 GG),13 haben inzwischen – nachdem auch Schleswig-Holstein im Jahr 2008 als
Verfassung des Saarlandes, 2009; Andreas Heusch/Klaus Schönenbroicher (Hrsg.), Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010; Matthias Dehoust / Peter Nagel / Torsten Umbach (Hrsg.), Die sächsische Verfassung, 2011; sowie jüngst Frauke Brosius-Gersdorf/Hermann Butzer/Volker Epping/Ulrich Haltern/Veith Mehde/Kay Waechter (Hrsg.), Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012; Hasso Lieber/Steffen Iwers/Martina Ernst (Hrsg.), Verfassung des Landes Brandenburg, 2012. 4 Josef Franz Lindner, Bayerisches Staatsrecht, 2011. 5 Namentlich sind dies die „Verwaltungsblätter“ VBlBW, BayVBl., NWVBl., SächsVBl. und ThürVBl.; die gebündelten Landesrechtszeitschriften LKRZ (Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland), LKV (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) und NordÖR (Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein). Zu erwähnen ist ferner NVwZ-RR, die einen steten Fundus an landesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung enthält. 6 Besondere Beachtung verdient es, dass in Hessen auch das Verfassungsprozessrecht mit einem Kommentar von immerhin 1079 Seiten (damit mit einer Seite auf ca. 6000 Einwohner eine unübertroffene Quote!), der derzeit zu den besten Kommentierungen des Verfassungsprozessrechts bundesweit zählt, prominent vertreten ist: Herbert Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen. Kommentar zum Gesetz über den Staatsgerichtshof, 2004. 7 Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 282. 8 Lindner, Staatsrecht (Fn. 4), Rn. 470. 9 Christian Pestalozza, Einführung, in: ders., Verfassungen der deutschen Bundesländer, 9. Aufl. (2009), Rn. 188. Vgl. nachgerade überschwänglich Monika Hermanns, in: Wendt/Rixecker (Fn. 3), Art. 96 Rn. 1. Siehe für den Stil des Rechtsprechungsberichts als Instrument der Darstellung der Landesverfassungsentwicklung etwa Winfried Kluth, Das Landesverfassungsrecht von Sachsen-Anhalt im Spiegel der Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts 2000–2007, 2007. 10 Frühzeitig Peter Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, S. 41. Erschöpfend zum Landesverfassungsprozessrecht die Beiträge in: Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, 1983. 11 Andreas Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund, JöR 59 (2011), S. 215 (220). 12 Vgl. Helge Sodan, Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010, S. 76. 13 Lindner, Staatsrecht (Fn. 4), Rn. 472; Menzel, Landesverfassungsrecht (Fn. 7), S. 285.
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‚Nachzügler‘ eingelenkt ist14 – sämtliche Bundesländer Gebrauch gemacht. Die anspruchsvolle ebenenspezifische Schichtung der Verfassungsrechtsprechung tritt zunehmend deutlicher hervor15, was mit der Metapher des Verfassungsgerichtsverbundes16 umschrieben wird; die verfassungsrechtliche Dogmenbildung wird poröser, wechselseitige Lernerfolge nehmen ebenso zu wie (bisweilen durchaus produktive) wechselseitige Irritationen. Gewiss: Landesverfassungsgerichte verbleiben – nicht zuletzt auf Grund einer nivellierenden bundesverfassungsrechtlichen Rechtsprechungslinie im Grundrechtsbereich17 – im Gravitationsfeld des Bundesverfassungsgerichts,18 aber auch – was meist zu Unrecht weniger Beachtung findet – des Bundesverwaltungsgerichts, dessen Kompetenzen als Revisionsgericht (vgl. § 137 Abs. 1 VwGO) mit der bundesgrundrechtlichen Durchdringung der Rechtsordnung in der Nachkriegszeit ebenfalls signifi kant erweitert wurden.19 Entscheidungen eines Landesverfassungsgerichts sind in der Regel nur begrenzt spektakulär; eine überregionale Wahrnehmung blieb lange Zeit der Ausnahmefall. Mit Beiträgen zu den großen Themen und Konfl iktlinien verfassungsgerichtlicher Kooperation und Selbstbehaup-
14 Gesetz über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht (Landesverfassungsgerichtsgesetz – LVerfGG) v. 10. 1. 2008 (GVOBl. SH 2008, S. 25). 15 Es kommt zu einer Zunahme der Bedeutung sowohl der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit in einem materiellen Sinne als auch der Landesverfassungsgerichtsbarkeit. So Konrad Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, S. 265 (269); im Anschluss Voßkuhle, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 11), S. 218. 16 Voßkuhle, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 11). Siehe konzeptionell auch Ingolf Pernice, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2005, S. 53 ff. 17 BVerfGE 96, 345 (366 ff.); Kritik hieran etwa bei Dreier, Grundrechtsschutz durch Landesverfassungsgerichte, 2000, S. 34 ff.; Klaus Ferdinand Gärditz, Das Strafrecht in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, AöR 129 (2004), S. 584 (616); Karl-Eberhard Hain, Anmerkung, JZ 1998, S. 620 f. In eine andere Richtung Klaus Lange, Kontrolle bundesrechtlich geregelter Verfahren durch Landesverfassungsgerichte?, NJW 1998, S. 1278 (1281), der eine Überlastung mit Verfassungsbeschwerden besorgt. Zur vielschichtigen Diskussion stellvertretend Harald Clausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesstaatsgewalt, 2000; Christian von Coelln, Anwendung von Bundesrecht nach Maßgabe der Landesgrundrechte?, 2001; Eckart Klein/Andreas Haratsch, Die Landesverfassungsbeschwerde – Ein Instrument zur Überprüfung der Anwendung von Bundesrecht?, JuS 2000, S. 209 ff.; Jörg Menzel, Verfahrensgrundrechte vor Landesverfassungsgerichten – Noch ein Kooperationsverhältnis?, NVwZ 1999, S. 1314 ff.; Henning von Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, 1980; Hartmut Schwan, Der Thüringer Verfassungsgerichtshof als „außerplanmäßige Revisionsinstanz“, ThürVBl. 2012, S. 121, (123); Fabian Wittreck, Das Bundesverfassungsgericht und die Kassationsbefugnis der Landesverfassungsgerichte, DÖV 1999, S. 634 ff. 18 Vgl. Klaus Frey, Fünf Jahrzehnte Verfassungsrechtsprechung in Rheinland-Pfalz, in: Karl-Friedrich Meyer (Hrsg.), 50 Jahre Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, Teil 1, 1997, S. 355 (389); anschaulich auch Klaus Lange, Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 289 (306 ff.). Kritisch hierzu etwa Wolfgang Graf Vitzthum, Die Bedeutung des gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1986), S. 7 (35 f.); Ferdinand Kirchhof, Die Rolle der Landesverfassungsgerichte im deutschen Staat, VBlBW 2003, S. 137 (138); Jörg-Detlef Kühne, 45 Jahre Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, NWVBl. 1996, S. 325 (326); Walter Leisner, Die bayerischen Grundrechte, 1968, S. 11 f., 33, 95, 115 f.; Markus Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt?, AöR 130 (2005), S. 350 (388). 19 Zutreffend Christoph Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ – Die Entstehung eines grundgesetzabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 53 (61 ff.).
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tung im Mehrebenenverbund 20 treten Landesverfassungsgerichte nicht hervor. Der „Gang nach Karlsruhe“21 ist zu einer alltagstauglichen Chiffre avanciert; vom Gang nach Münster, Bückeburg, Wiesbaden, Stuttgart22, Dessau-Roßlau oder Koblenz ist nicht die Rede,23 auch wenn diese Gänge natürlich stattfinden und vor allem in ihrer Bedeutung zunehmen.24
2. Aktionsfelder mit Bedeutungszuwachs Vermehrt kommen politisch folgenreiche und über das Land hinaus wahrgenommene Entscheidungen auch von Landesverfassungsgerichten,25 wie jüngst etwa die durch Nichtigerklärung von Teilen des Landeswahlgesetzes erzwungene vorgezogene Neuwahl in Schleswig-Holstein,26 die Kassation des Landeshaushalts in Nordrhein-Westfalen 27 oder die Entscheidung zur verfassungswidrigen Inanspruchnahme des haushaltsverfassungsrechtlichen Notbewilligungsrechts durch den Finanzminister in Baden-Württemberg28 verdeutlichen. Landesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung mit Leitfunktion ergeht nicht selten im Wahl- und Parlamentsrecht; 29 hier haben Landesverfassungsgerichte in ihrer – bundesrechtlich kaum deter20 Aus der Fülle der Beiträge stellvertretend hierzu Udo Di Fabio, Das BVerfG und die internationale Gerichtsbarkeit, in: Andreas Zimmermann/Ursula E. Heinz (Hrsg.), Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit, 2004, S. 107 ff.; Klaus Grupp/Ullrich Stelkens, Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung deutschen Rechts, DVBl. 2005, S. 133 ff.; Jens Hofmann, Grundrechtsschutz durch BVerfG, EuGH, EGMR – Komplementärer, kooperativer und subsidiärer Grundrechtsschutz im Europäischen Rechtsprechungsverbund, in: Sigrid Emmenegger/Ariane Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 573; Alexander Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: Hartmut Rensen/Stefan Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 553 (556 ff.); Frank Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Thomas Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, S. 131 ff. 21 So der Buchtitel bei Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004; siehe ferner jüngst Rolf Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe, 2011. 22 Man beachte die staatstragende Sitzbestimmung nach § 1 BaWüStGHG: „Der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat seinen Sitz am Sitz der Regierung.“ 23 Berlinern, Hamburgern oder Bremern wird der Gang nach Berlin, Hamburg oder Bremen noch schwerer über die Lippen kommen. 24 Vgl. bilanzierend Peter Michael Huber, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ThürVBl. 2003, S. 73; Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 496. 25 Insoweit liegt inzwischen auch eine erste vergleichende politikwissenschaftliche Untersuchung vor; siehe Martina Flick, Organstreitverfahren vor den Landesverfassungsgerichten: Eine politikwissenschaftliche Untersuchung, 2011. 26 SchlHVerfG, JZ 2011, 254. 27 NWVerfGH, NVwZ 2011, 805. Siehe zuvor die spektakuläre einstweilige Anordnung NWVerfGH, NWVBl. 2011, 216. 28 BaWüStGH, NVwZ 2012, 300. 29 Siehe aus jüngerer Zeit etwa aus dem Parlamentsrecht BayVerfGH, NVwZ 2002, 715 ff.; NVwZ 2007, 204 ff.; BerlVerfGH, LKV 2012, 219 ff. MVVerfG, NVwZ 2012, 958; NWVerfGH, NVwZ-RR 2009, 41 ff.; SaarlVerfGH, NVwZ-RR 2003, 81 ff.; aus dem Wahlrecht RhPf VerfGH, NVwZ 2012, 106. Zur früheren Rechtsprechung umfassend Hans-Peter Schneider, Parlamente, Wahlen und Parteien in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, in: Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Lan-
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minierten – Funktion als Staatsgerichtsbarkeit 30 seit jeher Räume zur Entfaltung landesverfassungsrechtlicher Bindungen kraftvoll ausfüllen können.31 Auch staatsrechtliche Grundsatzfragen werden bisweilen – und dann in der Regel mit verallgemeinerungsfähigem Anspruch – in rechtsdogmatischer Pionierarbeit erstmals durch Landesverfassungsgerichte geklärt, wie etwa die richtungsweisende Anerkennung der Parteifähigkeit eines Rechnungshofes im Organstreit 32 durch den Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen zeigt.33 Im Bereich der direkten Demokratie, der sich derzeit wieder größerer Aufmerksamkeit erfreut, sind die Landesverfassungsgerichte – mangels geeigneter plebiszitärer Aktionsfelder auf Bundesebene – notgedrungen die Speerspitze anspruchsvoller Dogmenbildung.34 Das Verfassungsrecht der Kommunalfi nanzen, das mit der systematischen Einführung von Konnexitätsklauseln gerade auf Landesverfassungsebene35 erheblich an Brisanz gewonnen hat, eröffnet ein weiteres Betätigungsfeld vom Bundesverfassungsgericht emanzipierter Landesverfassungsrechtsprechung.36 Und in dem von den Ländern mit Recht als Hausgut verteidigten Bereich der Kulturpolitik und des Kulturrechts, das sich in besonderem Maße als Projektionsfläche kultureller Identitätsfi ndung37 auf Landesebene eignet 38 und wo die Landesverfassungen am meisten „ihren unverwechselbaren Charakter als gliedstaatliche Ordnungsgrundlage“39 bewahrt haben, entladen sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit politische Konfl ikte, von denen einige auch in Verfassungskonfl ikten enden.40 Der Zuwachs an Regelungsautonomie, den die Ländesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III, 1983, S. 91 ff.; jüngst ferner Jürgen Rühmann, Die Spinne im Netz – Der Sächsische Verfassungsgerichtshof und das Kräftefeld der Staatsgewalten, SächsVBl. 2012, S. 131 ff. 30 Alfred Rinken, Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, NordÖR 2000, S. 89 (90). 31 Immer noch grundlegend Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsprechung zum Landesstaatsorganisationsrecht, in: Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III, 1983, S. 1 ff. 32 Zum Streit auf Bundesebene siehe zutreffend bejahend bereits der an der Entscheidung des VerfGH mitwirkende Richter Wolfgang Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. (2005), § 17 Rn. 18, mit zahlreichen Nachweisen zur anderweitigen herrschenden Lehre. 33 NWVerfGH, DVBl. 2012, 165. 34 Wie hier Huber, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 24), S. 74. Grundlegend hierzu Fabian Wittreck, Direkte Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 53 (2005), S. 111 ff.; speziell zu Grundrechtsfragen Bernd J. Hartmann, Volksgesetzgebung und Grundrechte, 2005. Siehe zur Spruchpraxis auch die kommentierten Berichte bei Fabian Wittreck, Ausgewählte Entscheidungen zur direkten Demokratie, in: Lars P. Feld/Peter M. Huber/Otmar Jung/Christian Welzel/Fabian Wittreck (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, 2010, S. 317 ff. sowie Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011, S. 321 ff. 35 Beispielsweise Art. 83 Abs. 3 BayVerf; Art. 78 Abs. 3 NWVerf. 36 NWVerfGH, OVGE MüLü 53, 240; NVwZ-RR 2010, 627; DVBl. 2010, 1561; DVBl. 2011, 1155. Siehe auch die als Leiturteil wahrgenommene Entscheidung zum kommunalen Finanzausgleich: RhPf VerfGH, DVBl. 2012, 432; zur Selbstverwaltung NWVerfGH, ZUR 2012, 175. 37 Vertiefend Peter Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, S. 49 ff. 38 Peter Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 13; ferner Theodor Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 4. Aufl. (1992), Art. 131 Rn. 2; Markus Möstl, in: Josef Franz Lindner/ders./Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2009, Art. 131 Rn. 1. 39 Frey, Verfassungsrechtsprechung (Fn. 18), S. 389. 40 Man denke an das Schul- und Hochschulrecht sowie an das Staatskirchen- respektive Religions-
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der im Zuge der Föderalismusreform I erlangt haben, hat schließlich die Bedeutung der Landesverfassungsgerichte zusätzlich gesteigert.41
3. Landesverfassungsgerichte als Ausdruck pluralisierter Rechtserzeugung und als juristische Gegenöffentlichkeit in Wartestellung Auch soweit – wie oft bei grundrechtlich fundierten Streitigkeiten – paralleler Zugang zum Bundesverfassungsgericht eröffnet ist, verbleiben den Landesverfassungsgerichten wichtige Funktionen, in denen sie Selbststand bewahren können. Landesverfassungsgerichte eröffnen in allen Aktionsfeldern zusätzlichen Verfassungsrechtsschutz,42 was angesichts der strukturellen Überlastung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls ein rechtspraktischer Gewinn ist. Vor allem aber tragen sie zur dezentralen Pluralisierung der Rechtserzeugung auf dem Gebiet des Verfassungsrechts bei,43 was auch die Bundesgerichtsbarkeit – obschon Impulse (leider) zu selten aufgenommen werden – mit anderen Interpretationsansätzen konfrontieren kann.44 Insgesamt sind und bleiben die Landesverfassungsgerichte wichtige Foren verfassungsrechtlicher Argumentation, Diskursteilnehmer im gerichtlichen Dialog und Quellen verfassungsrechtlicher Dogmenbildung. Landesverfassungsgerichte sind dann aber auch juristische Gegenöffentlichkeit in Wartestellung.
4. Das Richterpersonal als Gelingenskontext der Landesverfassungsrechtsprechung Der praktische Stellenwert, den das Landesverfassungsrecht in der Rechtsanwendung erlangt, hängt entscheidend auch vom Zugang zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit und ihrem Wirken ab.45 Eine traditionell in Deutschland eher auf das materielle Recht und seine Interpretation fokussierte Betrachtung wird zunehmend – im verfassungsrecht, die verlässliche und beständige Quellen verfassungsrechtlicher Dispute sind. Siehe etwa Axel Freiherr von Campenhausen, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, in: Christian Starck/Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. III, 1983, S. 403 ff. 41 Heike Krieger, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichtsbarkeit – Was bleibt von der Föderalismusreform?, NdsVBl. 2010, S. 134 ff.; Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008, S. 108. 42 Katharina Pabel, BVerfGE 96, 330 – Landesverfassungsgerichte, in: Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. (2011), S. 623 (628); Christian Tietje, Die Stärkung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen System Deutschlands in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, AöR 124 (1999), S. 282 (301). 43 Vgl. Dreier, Landesverfassungsgerichte (Fn. 17), S. 9 ff.; Klaus Ferdinand Gärditz, Die bundesstaatliche Zuständigkeitsordnung in landesverfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren, ZG 2003, S. 376 (377); Markus Möstl, Grundrechtliche Garantien im Strafverfahren, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 2010, § 179 Rn. 11. 44 In diesem Sinne Klaus Ferdinand Gärditz, Grundrechte im Rahmen der Kompetenzordnung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 2011, § 189 Rn. 41; Christian Pestalozza, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, NVwZ 1987, S. 744 (747). 45 Ute Sacksofsky, Verfassungsrecht, in: Georg Hermes/Thomas Groß (Hrsg.), Landesrecht Hessen, 6. Aufl. (2008), § 2 Rn. 94.
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Einklang mit einer verstärkten Analyse auch der Kontexte von Rechtserzeugung46 – von der zutreffenden Einsicht überlagert, dass es gerade die institutionellen Rahmenbedingungen sind, die die besondere Bedeutung von Verfassungsrechtsprechung ausmachen.47 Namentlich dem Gerichtsverfassungs- und Prozessrecht fällt auf Grund der Entscheidungsgegenstände und der Entscheidungsmacht von Verfassungsgerichtsbarkeit eine zentrale legitimatorische Bedeutung zu.48 Der vorliegende Beitrag widmet sich einer anderen, bislang für die Landesebene – anders als für das Bundesverfassungsgericht49 – weniger beachteten50 Komponente der Verfassungsrechtsprechung: dem Richterpersonal. Richterstatus und Richterwahl bilden Kernfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit.51 Die institutionellen Eigenleistungen der Rechtsanwendungsebenen52 sind maßgeblich solche der Rechtsstäbe, des in ein Amt eingewiesenen Personals. Die gelebte – sprich: durch Rechtsanwendung die Staatspraxis empirisch-faktisch prägende – „Verfassungswirklichkeit“53 hängt entscheidend davon ab, wer zur Interpretation des einschlägigen Rechts berufen ist. Auch wenn man die rechtstheoretische Prämisse zugrunde legt, dass eine Norm einen feststehenden – mithin durch Interpretation zu erschließenden – Inhalt hat, bleibt die Verteilung der Macht zur Inter46 Statt vieler Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang HoffmannRiem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl. (2012), § 1 Rn. 15 ff. 47 Grundsätzliche Vorstöße hierzu etwa Oliver Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: Rupert Scholz/Dieter Lorenz/Christian Pestalozza/Michael Kloepfer/Hans D. Jarass/Christoph Degenhart/Oliver Lepsius (Hrsg.): Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, S. 103 ff. Ferner auch Marion Albers, Höchstrichterliche Rechtsfi ndung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), S. 257 ff. 48 Löwer, Bundesverfassungsgericht (Fn. 32), § 70 Rn. 2. Mit Recht kritisch daher zu einem bisweilen eher freihändigen Umgang der Verfassungsgerichte mit ihrem Prozessrecht Rinken (Fn. 30), S. 95. 49 Etwa Werner Billing, Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, 1969; Henning Frank, Die „neutralen“ Richter des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 163 ff.; Wilhelm Karl Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, 1986; ders., Zum Status der Verfassungsrichter: Besoldungs- und Versorgungsrecht, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 189 ff.; Franz Knöpfl e, Besetzung der Richterbank, insbesondere Richterausschließung und Richterablehnung, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 1, 1976, S. 142 ff.; Klaus Kröger, Richterwahl, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 1, 1976, S. 76 ff.; Stefan Ulrich Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998. 50 Positive Ausnahmen bei Beate Harms-Ziegler, Verfassungsrichterwahl in Bund und Ländern, in: Peter Macke (Hrsg.), Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Landesebene, 1998, S. 191 ff.; Franz Knöpfl e, Richterbestellung und Richterbank bei den Landesverfassungsgerichten, in: Christian Starck/ Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, 1983, S. 231 ff.; Wittreck, Dritte Gewalt (Fn. 24), S. 498 ff.; ferner Klaus Bilda, Die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofs, in: Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 57 ff., dessen Beitrag freilich weitgehend deskriptiv gehalten ist; bilanzierend auch Friedrich-Karl Fromme, Verfassungsrichterwahl, NJW 2000, S. 2977 f. 51 Peter Häberle, Funktionen und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, S. 685 (686). 52 Mit Recht wieder verstärkt betont, etwa bei Horst Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S. 537 (539); Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . . – Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, 2006, S. 33. 53 Vgl. Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 49.
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pretation innerhalb der staatlichen Organisation relevante Kompetenzfrage,54 weil eben „der Gehalt der Legalität [. . .] oftmals ungewiss bleibt“.55 Über die kollegiale Zusammensetzung der Verfassungsrichter fl ießen unterschiedliche methodische Vorverständnisse, Grundüberzeugungen, berufl iche und sonstige Erfahrungen und nicht zuletzt Fachkenntnisse in die Entscheidungsfi ndung ein.56 Etwa die unterschiedlichen Entscheidungsstile von Landesverfassungsgerichten und Bundesverfassungsgericht57 – ein bislang wenig untersuchtes Feld – sind nicht zuletzt auch Derivat der an den Gerichten eingesetzten Richterpersönlichkeiten. Die Besetzung der Richterbank hat als weicher Faktor fraglos Auswirkung auf den Inhalt der Rechtsprechung, ihre Neuausrichtung und die Responsivität in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel – und zwar unabhängig davon, inwiefern man die Legalität solcher Einflüsse anerkennt. Richterbestellung ist daher aktive Personalpolitik und als solche politische Machtausübung.58 Jeder Bereich der Gerichtsbarkeit kennt zudem jenseits des positiven Gerichtsverfassungs- und Prozessrechts seine Eigengesetzlichkeiten interner Arbeitsabläufe, Gepflogenheiten und Routinen, sprich: eine Gerichtskultur, in die man hineinwachsen muss, damit ein effektives wie effizientes Arbeiten möglich ist, für die aber gerade für Verfassungsgerichte kein praktisches Alltagswissen59 zur Verfügung steht.60 Damit bleiben Arbeitsstile umso mehr von den Richterpersönlichkeiten abhängig, die die Landesverfassungsgerichtsbarkeit prägen. Welche latenten sozialpsychologischen Mechanismen die Entscheidungsfi ndung beeinflussen und wie die Interaktion innerhalb von Spruchkörpern abläuft, lässt sich allenfalls begrenzt auf klären und ist spezifisch rechtswissenschaftlicher Analyse61 nicht zugänglich.62 Gewiss kann das abstrakte Amtsrecht der Verfassungsrichter weder ein bestimmtes Amtsethos noch einen bestimmten Arbeits- bzw. Entscheidungsstil herbeiführen.63 Der personalrechtliche Kontext bleibt aber ein entscheidender Wirkungsfaktor, in dessen Rahmen sich außerrechtliche Sozialfaktoren überhaupt erst entfalten können und auf dem funktionale und legitimatorische Folgefragen auf bauen. Der vorliegende Beitrag beschränkt 54 Albers (Fn. 47), S. 260; Klaus Ferdinand Gärditz, Grundrechte in der Kompetenzordnung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. (2011), § 189, Rn. 16; ferner Ralf Schenke, Die Rechtsfi ndung im Steuerrecht, 2007, S. 332 ff. 55 Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/ders./Christoph Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 281 (354). 56 Geck, Amtsrecht (Fn. 49), S. 36; Dieter Grimm, Was das Grundgesetz will, ist eine politische Frage, FAZ v. 22. 12. 2011, S. 30; Martin Hirsch, Zum Problem der Grenzüberschreitungen des Bundesverfassungsgerichts, DRiZ 1977, S. 225. 57 Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 10), S. 37. 58 Treffend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 2. Aufl. (1998), S. 100. 59 Für die Fachgerichte jedenfalls teilweise konzentriert in ‚Kochbüchern‘ für die Referendarsausbildung und in letzterer auch einführend vermittelt. 60 Anschaulich Oliver W. Lembke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 227 f. 61 Für eine empirisch-politikwissenschaftliche Analyse aufschlussreich aber jüngst Uwe Krahnenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses – Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, 2010. 62 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht: Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77 (83). 63 Lembke, Hüter (Fn. 60), S. 227.
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sich daher auf eine Untersuchung des personalrechtlichen Rahmens und seiner Ausfüllung im Rahmen der besonderen Personalverwaltungsaufgabe, die Verfassungsrichterbänke auf Landesebene zu besetzen. Ich möchte daher im Folgenden das Personalrecht der Landesverfassungsgerichte als Bestandteil der rechtlichen Gelingenskontexte landesverfassungsgerichtlicher Entscheidungsfi ndung untersuchen. Hierbei wird auch der Frage nachgegangen, wie dieser rechtliche Rahmen praktisch genutzt wurde und, soweit dies möglich ist, welche Schlüsse sich aus der gelebten Richterpersonalpraxis auf dahinter liegende Konzepte von Verfassungsgerichtsbarkeit ziehen lassen und welche verfassungspolitischen Handlungsperspektiven sich ergeben. Der Untersuchung liegt hierbei der Richterbestand Ende Januar 2012 zugrunde.
II. Dienstrecht der Landesverfassungsrichter in der bundesstaatlichen Kompetenzordnung Es ist anerkannt, dass das Landesverfassungsprozessrecht als Bestandteil des Landesstaatsrechts einer bundesrechtlichen Regelung entzogen ist.64 Bund und Länder gestalten ihr gerichtliches Kontrollkonzept bezogen auf ihre Verfassungsräume65 im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG jeweils selbstständig aus.66 Namentlich fällt das Organisations- und Verfahrensrecht der Landesverfassungsgerichtsbarkeit nicht unter das Gerichtsverfassungsrecht bzw. das gerichtliche Verfahren im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.67 Die Vorlagepfl ichten nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GG knüpfen an die landesrechtliche Institutionalisierung eines Landesverfassungsgerichts an, ohne ein solches zu fordern oder gar inhaltliche Anforderungen an Organisation und Verfahren zu formulieren. Aus der Zuordnung des Landesverfassungsrichterstatus zur Kompetenzenklave des Landesstaatsrechts folgt, dass auch die Grundsätze des Art. 33 GG, die auf den regulären öffentlichen Dienst und nicht auf Funktionen im Kernbereich der Staatsorganisation (‚Verfassungsorgane‘) zugeschnitten sind, für Landesverfassungsrichter nicht gilt. Es verbleibt daher bei den allgemein geltenden (Art. 1 Abs. 3 GG) Erfordernissen einer sachlichen Begründung der Auswahlentscheidungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG, was verfassungspolitische Erwägungen nicht ausschließt. Und Auswahlkriterien müssen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG diskriminierungsfrei sein. Es bedarf aus diesem Grund jedenfalls kraft Bundesrechts keines Verfassungsrichterbestellungsverfahrens, das eine Auswahl nach Eignung, Befähigung und Leistung im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG gewährleistet, obschon eine Orientierung anhand dieser Kriterien für die öffentliche Akzeptanz einer Wahlentscheidung und damit 64
Voßkuhle, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 11), S. 216. Siehe zur verfassungsprozessualen Spiegelung der grundsätzlichen Trennung Johannes Dietlein, Das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht, in: Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 203 (216 ff.). 66 Wolfgang Löwer, Bundesverfassungstextliche Ergänzungen der Landesverfassungen zur Gewinnung landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstäbe, NdsVBl. 2010, S. 138. 67 BVerfGE 96, 342 (368 f.). 65
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mittelbar der späteren Verfassungsrechtsprechung fraglos faktisch geboten ist. Dies ebnet den Weg insbesondere für politische Wahlverfahren, bei denen – anders als bei der materiell an das Leistungsprinzip gebundenen Richterwahl nach Art. 95 Abs. 2 und Art. 98 Abs. 4 GG68 – eine an den Maßstäben des Art. 33 Abs. 2 GG ausgerichtete Verfahrensgestaltung, Entscheidungsfi ndung und Entscheidungsbegründung rechtlich verzichtbar ist, auch wenn eine angemessene Begründung der politischen Vernunft entsprechen wird und mangelnde fachliche Eignung der parlamentarischen Gegenseite eine Steilvorlage für die Ablehnung des Wahlvorschlages liefern kann.69 Für andere Elemente, die den spezifischen Bedürfnissen der Verfassungsgerichtsbarkeit gerecht werden, wie etwa die Balancierung politischer Präferenzen und die pluralistische Repräsentanz, wird aber rechtlich hinreichender Raum geschaffen. Dies bedingt es freilich auch, dass der materiell-rechtliche und akzessorische verfahrensrechtliche Schutz, den Art. 33 Abs. 2 GG bietet (Bewerbungsverfahrensanspruch70 ), für ‚Bewerber‘ um ein entsprechendes Amt – praktisch wird es solche im eigentlichen Sinne ohnehin nicht geben – weitgehend ausgehebelt wird.71 Verfassungsrechtlich ist dies, wie auch Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG für das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht, aus der besonderen Funktion eines Verfassungsgerichts im Hinblick auf den erhöhten Legitimationsbedarf (unten sub III. 1.) zu rechtfertigen. Auch muss das Richteramt nicht nach hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) ausgestaltet werden, zumal es sich um atypische Ämter handelt, die auf Grund ihrer Besonderheiten ohnehin nicht zwingend herkömmlich organisiert werden müssen.72 Daher bestehen für Landesverfassungsrichter zulässigerweise zahlreiche Abweichungen vom regulären und insoweit ‚hergebrachten‘ Richterdienst (etwa Bestellung auf Zeit statt Lebenszeitprinzip, ehrenamtliche Tätigkeit statt Alimentationsprinzip, Ehren- oder Nebenamtlichkeit statt Hauptberuf ). Es besteht daher auch keine Pfl icht, Landesverfassungsrichter hauptamtlich und plan68 BVerfG-K, NJW 1998, 2590 (2591); NJW 1998, 2592; OVG Brandenburg, DRiZ 2004, 175 (177); OVG Schleswig, NVwZ 1993, 1222 (1223); DVBl. 2002, 134; VG Hamburg, DRiZ 2001, 270 f.; VG Schleswig, NJW 1992, 2240 f.; Klaus Ferdinand Gärditz, Richterwahlausschüsse für Richter im Landesdienst – Funktion, Organisation, Verfahren und Rechtsschutz, ZBR 2010, S. 109 (113); Christian Hillgruber, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, 2011, Art. 98, Rn. 65; Wolfram Höfling, in: Rudolf Dolzer/ Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, 2011, Art. 33 Abs. 1–3, Rn. 82; Axel Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 197 ff., 223; Jürgen Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 6. Aufl. (2009), § 10 RiWG, Rn. 10, § 12 RiWG, Rn. 8; Rupert Scholz, Die Wahl der Bundesrichter, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 151 (160); Helmut Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2. Aufl. (2008), Art. 95 Rn. 29; ders., Anmerkung, JZ 2002, S. 144; Jan Ziekow/Annette Guckelberger, Probleme der gerichtlichen Kontrolle von Auswahlentscheidungen bei der Besetzung von leitenden Richterämtern, NordÖR 2000, S. 13 (18). 69 Eine fachliche Begründung würde allerdings das Verfahren gerade bei der Wahl der Laienrichter überfordern, da diese strukturell keine besondere Eignung zur Verfassungsauslegung und zur spruchrichterlichen Tätigkeit aufweisen. 70 Vgl. nur BVerfG-K, NVwZ 2007, 1178 (1179); BVerwGE 118, 370 (372); 122, 237 (239); 124, 99 (106); BVerwG, DVBl. 2011, 228 (229). 71 Reinhard Mußgnug, Ämtervergabe durch Wahl, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 243 (249). 72 Zur Rechtfertigung zulässiger Durchbrechungen BVerfGE 117, 372 (388 ff.); Monika Jachmann, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. (2010), Art. 33 Rn. 54.
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mäßig im Sinne des Art. 97 Abs. 2 GG anzustellen. Die Mindestanforderungen an den persönlichen Statusschutz, die für nicht planmäßig angestellte Berufsrichter aus Art. 33 Abs. 5 GG abgeleitet wurden,73 greifen mangels Anwendbarkeit dieser Bestimmung ebenfalls nicht. Landesverfassungsgerichte sind allerdings in den Anwendungsbereich der bundesrechtlichen Bestimmungen über die Justizverfassung (Art. 92 ff. GG) einbezogen. Dies ergibt sich daraus, dass Art. 100 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GG die Landesverfassungsgerichte, soweit sie von den Ländern errichtet wurden, als Gerichte in ihrer rechtsprechenden Funktion begreift und nur insoweit adressiert. Hieraus folgt, dass auch Landesverfassungsrichter zu den Gerichten gehören, denen nach Art. 92 GG die Rechtsprechung anvertraut ist. Landesverfassungsrichter sind daher – wie das Landesrecht bisweilen deklaratorisch nachzeichnet74 – auch kraft Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und allein an das geltende Recht gebunden.75
III. Die Richterwahl als Legitimationsakt Die Landesverfassungen konstituieren ihre Verfassungsgerichte zwar verfassungsunmittelbar; handlungsfähig werden die Gerichte jedoch erst durch weitere organisatorische Maßnahmen, zuvörderst durch die Besetzung der Richterbank mit Richterpersonal.76 Die Steuerung des Personals, das Hoheitsfunktionen wahrzunehmen hat, ist in einer Demokratie ein nicht zu unterschätzender Eigenwert.77 Ein Verfassungsgericht übt allerdings rechtsprechende Gewalt aus (vgl. Art. 92 GG) und ist zuvörderst Gericht.78 Das Verfahren, in dem die Richterbank besetzt wird, ist daher vor allem an der von den ausgewählten Richtern im Amt auszuübenden Rechtsprechungsfunktion auszurichten.
73 BVerfGE 12, 81 (88); Jachmann (Fn. 72), Art. 33 Rn. 42; Dieter Leuze, in: Karl Heinrich Friauf/ Wolfram Höfl ing (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 2011, Art. 97 Rn. 64. 74 Etwa § 5 Abs. 1 SächsVerfGH. 75 Im Ergebnis auch Knöpfl e, Richterbestellung (Fn. 50), S. 248 f. Art. 97 Abs. 1 GG gilt für alle mit richterlichen Funktionen betrauten Amtswalter, z. B. auch für ehrenamtliche Richter. Zutreffend etwa Christian Hillgruber, in: Theodor Maunz/Günther Dürig (Hrsg.), GG, 2011, Art. 97 Rn. 20. 76 Frey, Verfassungsrechtsprechung (Fn. 18), S. 355. 77 Andreas Voßkuhle, Personal, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2009, § 43 Rn. 32, 122. 78 Christian Hillgruber/Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. (2011), Rn. 1. Auch im Landesverfassungsrecht kommt dies bisweilen darin zum Ausdruck, dass die Verfassung die Vorschriften über die Verfassungsgerichtsbarkeit in den jeweiligen Abschnitt über Rechtsprechung bzw. Rechtspflege integriert, vgl. Boris Wolnicki, Entstehung, Stellung und Arbeitsweise des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg, in: Hans-Georg Kluge/Boris Wolnicki (Hrsg.), Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, 1995, S. 25 (37); Alfred Rinken, Staatsgerichtshof, in: Volker Kröning/Günter Pottschmidt/Ulrich K. Preuß/Alfred Rinken (Hrsg.), Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, S. 484 (493).
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1. Richterwahl zwischen politischer Neutralisierung und Pluralisierung Eine Funktionsvoraussetzung von Rechtsprechung ist es, dass externe politische Einflüsse hinreichend neutralisiert werden.79 Auch die wirkungsvolle Absorption von politischem Konfl ikt- sowie Enttäuschungspotential durch Erledigung in einzelfallbezogenen Verfahren und die damit einhergehende Entlastung der abstrakt-generellen politischen Entscheidungsebene80 setzen eine hinreichende – soziale Zurechnung unterbrechende – Distanzierung und Differenzierung der richterlichen Entscheider vom politischen Betrieb voraus. Eine äußere Abschirmung ist institutionell über die sachliche Unabhängigkeit gesichert (Art. 97 Abs. 1 GG). Eine innere Unabhängigkeit der einzelnen Richter gewährleistet dies freilich nicht, zumal die äußere Unabhängigkeit theoretisch politischen ‚Aktivisten‘ die bestmöglichen Entfaltungsbedingungen böte. Richterliche Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit fordern es daher, die ebenfalls notwendige innere Resistenz der Justiz gegenüber externer politischer Einflussnahme vornehmlich über die Personalauswahl präventiv im Vorfeld der Amtsausübung zu stärken.
a) Berufsbeamtenrichter und Wahlrichter Dies kann auf zwei unterschiedliche Wege institutionell über das Bestellungsverfahren unterstützt werden: Man kann das Richterwahlverfahren möglichst entpolitisieren und auf die inhaltliche Neutralisierungspotenz von fachlicher Professionalität, Unabhängigkeit und bürokratischer Routine vertrauen.81 Dies ist das dem deutschen öffentlichen Dienstrecht bekannte Modell des Berufsbeamtentums,82 das über Art. 33 Abs. 2, Abs. 5 GG auch für den Richterdienst abgesichert ist83 und eine spezifisch richterdienstrechtliche Ausprägung in Art. 97 GG gefunden hat. Das Gegenmodell setzt demgegenüber auf eine politische Neutralisierung der Richterbank gerade durch Politisierung, indem nämlich unter Einbeziehung der Opposition – ggf. flankiert durch qualifizierte Mehrheiten (vgl. mustergültig § 6 Abs. 5, § 7 BVerfGG), dazu unten sub III. 1. b) bb) – versucht wird, die externe Pluralität der Rechtsanschauungen auch intern auf der Richterbank abzubilden, um eine einseitige Dominierung des Gerichts zu verhindern und sanften Druck zur fortwährenden übergreifenden Verständigung aufrecht zu erhalten. Mit besonderer Klarheit bringt dies Art. 112 Abs. 4 Satz 2 BbgVerf zum Ausdruck: „Bei der Wahl ist anzustreben, daß die 79 Böckenförde, Richterwahl (Fn. 58), S. 90; Theo Mayer-Maly, Die politische Funktion der Rechtsprechung in einer pluralen Gesellschaft, DRiZ 1971, S. 325. 80 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 4. Aufl. (1997), S. 238 f. 81 Vgl. auch Gerd Roellecke, Zum Problem einer Reform des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2001, S. 114 (115). 82 Vgl. nur BVerfGE 39, 196 (201); 99, 300 (315); 107, 218 (237); 114, 258 (288); 119, 247 (261 f.); Markus Kenntner, Sinn und Zweck des hergebrachten Berufsbeamtentums, DVBl. 2007, S. 1321 (1326 ff.); Herbert Landau/Martin Steinkühler, Zur Zukunft des Berufsbeamtentums in Deutschland, DVBl. 2007, S. 133 (135). 83 BVerfGE 12, 81 (88); 15, 298 (302); 26, 141 (154); 38, 1 (11); 55, 372 (391 f.); 56, 146 (162); Helmuth Schultze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG Bd. III, 2. Aufl. (2008), Art. 97 Rn. 16, 60; Jürgen Thomas, Richterrecht, 1986, S. 127.
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politischen Kräfte des Landes angemessen mit Vorschlägen vertreten sind.“84 Dies ist auch die Ratio, die dem Wahlmodell für das Bundesverfassungsgericht (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG, §§ 5 ff. BVerfGG) zugrunde liegt.85 Eine qualifizierte Mehrheit als Voraussetzung der Richterwahl führt zwar zwangsläufig zu einer parteipolitischen Aufladung,86 zwingt aber auch zur übergreifenden parlamentarischen Kompromissfi ndung, die ein Gericht ausbalanciert und zugleich die notwendige Pluralität der vertretenen Anschauungen wahrt.87 Der erhöhte Legitimationsbedarf eines Verfassungsgerichts lässt sich ohne eine gewisse Politisierung der Richterauswahl eben nicht befriedigen.88 Das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten kann zudem Persönlichkeiten, die typisierend für rechtswissenschaftliche Extrempositionen stehen (was im anderen Rationalitäten folgenden akademischen Diskurs kein Nachteil sein muss), herausfi ltern, um die Rechtsprechung konsistent zu halten, eine hinreichend breite Akzeptanz sowie inhaltliche Kontinuität der Rechtsprechungstätigkeit zu sichern und eine kontraproduktive Polarisierung des Spruchkörpers zu vermeiden. Praktisch gelingt dies meist. Das Modell des dem Berufsbeamten nachgeformten Berufsrichters hat nicht zu unterschätzende Vorteile im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit und Stabilität der Rechtsanwendung sowie die berechtigten Erwartungen an die Transparenz der Entscheidungsfi ndung. Die Zurückhaltung, überraschende Volten in der Rechtsauslegung zu vollziehen, der enthaltsame Begründungsstil und eine gewisse Innovationsabstinenz (manchmal auch -resistenz) in dogmatischer Hinsicht an den obersten Bundesgerichten verdeutlichen den praktischen Wert des bürokratischen Richtermodells als Stabilisator justizieller Dogmenbildung. Dies gilt gerade auch im Kontrast zur stärker von der Professorenschaft beeinflussten Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. Diese fällt eher durch einen ausladenden und zum abstrakt-generellen neigenden – sprich: vom Entscheidungsgegenstand emanzipierten dogmatischen Überhang produzierenden – Begründungsstil,89 eine nicht immer hinreichend vorhersehbare Entscheidungspraxis, die partiell durch die begrenzte Rationalisierbarkeit von Abwägungsprozessen zu erklären ist, und intellektuellen Esprit auf, der gewiss seinen Charme hat, aber bisweilen dazu führt, dass Urteile dysfunktional zu akademischen Diskursbeiträgen oder – gleichsam in justizieller Analogie zur symbolischen Gesetzgebung – zum Sendemast für apokryphe Signale mutieren.90 Das oft bestechend hohe Niveau bundesverfassungsgerichtlicher Begründung, das der akademische Diskurs dankbar aufgreift, verstört die bindungsüberlasteten politischen Akteure und damit die eigentlichen Adressaten verfassungsrechtlicher Pfl ichten. 84
Vgl. auch die Berücksichtigungsklausel des Art. 139 Abs. 2 Satz 3 BremVerf. Eingehend zur Diskussion der Risiken einer politischen Wahl Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 206 ff. 86 Vgl. Eckart Klein, Die Richter, in: Ernst Benda/Eckart Klein/Oliver Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. (2012), § 5 Rn. 139. 87 Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 360. 88 Klein (Fn. 86), § 5 Rn. 140. Siehe auch (obschon eher resignativ) Roellecke (Fn. 81), S. 116. 89 Luzide hierzu Oliver Lepsius, Die maßstabssetzende Gewalt, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/ Christoph Möllers/Christoph Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 159 ff. 90 Anlassbezogene und berechtigte Kritik im Sondervotum Richterin Lübbe-Wolff, BVerfGE 113, 273 (329), die sich gegen „die fallabgehobene Aussendung dunkler Signale an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“ wendet. 85
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Art. 94 Abs. 1 Satz 2, 95 Abs. 2 und Art. 98 Abs. 4 GG zeigen, dass die Verfassung einer stärker politisch aufgeladenen Richterauswahl durchaus offen gegenübersteht, mithin das bürokratische Modell des Berufsrichters im Amt auch mit nichtbürokratischen Verfahren der Richterauswahl in das Amt kombiniert werden kann. Die reguläre Richterwahl durch Richterwahlausschüsse einerseits und die Verfassungsrichterwahl andererseits erfüllen freilich unterschiedliche Legitimationsbedürfnisse. Richterwahlausschüsse nach Art. 95 Abs. 2 und Art. 98 Abs. 4 GG institutionalisieren ein besonderes Verfahren der Eignungsfeststellung und wirken (mit mäßigem Erfolg) einer Selbstergänzung der Justiz im Wege der Kooptation entgegen, sind aber – was schon die lediglich fakultative Errichtung auf Landesebene zeigt – kein spezifisches und zur exekutivischen Personalauswahl nur gleichberechtigt-alternatives Instrument demokratischer Legitimationsbeschaffung.91 Dies ist bei der Wahl von Verfassungsrichtern anders. Die Verfassungsrichterwahl ist legitimerweise ein politischer Akt, der den besonderen Legitimationsbedürfnissen an ein Organ entspricht, das in richterlicher Unabhängigkeit parlamentarische Gesetze zu kassieren kompetent ist.92 Legitimation wird aber nicht durch fachliche Professionalität allein gestiftet, sondern bedarf einer formalen Institutionalisierung entlang hinreichend dichter Legitimationsstränge. Parlamentarische Wahlverfahren eignen sich hierbei in besonderer Weise, gerade den qualifizierten Legitimationsbedarf der Verfassungsgerichtsbarkeit zu erfüllen.93 Das jeweilige Parlament trägt dann – als Gesetzgeber immerhin auf eigenes Risiko – die Verantwortung, auch die fachliche Professionalität bei der vielschichtigen Personalauswahl sicherzustellen, die für die rechtsstaatliche Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit und damit auch für die Ermittlung der Verfassungsbindung nach professionellen Regeln der Kunst unverzichtbar bleibt.
b) Die landesverfassungsrechtlichen Lösungen Die Landesverfassungen sehen heute konsequent eine Wahl der Verfassungsrichter durch das jeweilige Landesparlament (oder einen von diesem gebildeten Ausschuss) vor.94 Die Funktion der parlamentsunmittelbaren Wahl bringt es – im Kontrast zur bloßen Entscheidung durch einen Richterwahlausschuss nach Art. 98 Abs. 4 GG – mit sich, dass frei gewählt wird.95 Inhaltliche Bindungen bestehen daher grundsätz-
91 Gärditz, Richterwahlausschüsse (Fn. 68), S. 110; anders die herrschende Meinung, vgl. etwa OVG Koblenz, NVwZ 2008, 99 (100); Klaus Joachim Grigoleit/Angelika Siehr, Die Berufung der Bundesrichter: Quadratur des Kreises?, DÖV 2002, S. 455 (458); Hillgruber (Fn. 68), Art. 98 Rn. 51. 92 Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 359 f. 93 Vgl. auch Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 85), S. 209; Sodan (Fn. 12), S. 34. 94 Art. 68 Abs. 3 Satz 2 BaWüVerf; Art. 68 Abs. 2, Abs. 3 BayVerf; Art. 84 Abs. 1 Satz 2 BerlVerf; Art. 112 Abs. 4 BbgVerf; Art. 139 Abs. 2 Satz 2 BremVerf; Art. 65 Abs. 2 Satz 1 HmbVerf; Art. 130 Abs. 1 HessVerf.; Art. 52 Abs. 3 MVVerf; Art. 55 Abs. 2 NdsVerf; Art. 76 Abs. 1 NWVerf; Art. 134 Abs. 3 Satz 1 RhPf Verf; Art. 96 Abs. 1 Satz 2 SaarVerf; Art. 81 Abs. 3 Satz 1 SächsVerf; Art. 74 Abs. 3 Verf LSA; Art. 44 Abs. 3 Satz 2 SchlHVerf; Art. 79 Abs. 3 Satz 3 ThürVerf. 95 Mußgnug, Ämtervergabe (Fn. 71), S. 246.
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lich nicht;96 namentlich landesverfassungsrechtliche Parallelgarantien zu Art. 33 Abs. 2 GG97 werden kraft Spezialität durch die Wahlvorschriften verdrängt. Manchmal hat ein Verfassungsgericht aber auch einzelne geborene Mitglieder. So sind die Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte in Bremen und Rheinland-Pfalz Mitglieder kraft Amtes,98 in Nordrhein-Westfalen die Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts und die beiden lebensältesten – notabene: nicht dienstältesten99 – Präsidenten der Oberlandesgerichte (Düsseldorf, Hamm und Köln)100. Die Oberverwaltungsgerichtspräsidenten sind jeweils zugleich in Personalunion Verfassungsgerichtspräsidenten. Insoweit kommt es zu einer Aufspaltung der Legitimationsstränge, da die Auswahl der geborenen Mitglieder nach den für das jeweilige Amt geltenden Regeln, sprich: einer an Art. 33 Abs. 2 GG gebundenen Auswahlentscheidung durch die Exekutive, erfolgt.101 Dies ist durchaus sachgerecht, weil insoweit zum einen das für das Funktionieren und die Vorhersehbarkeit von Verfassungsrechtsprechung notwendige professionell-bürokratische Element durch einen lauf bahnrichterlichen Kern gestärkt und zugleich die von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ebenfalls qualifiziert betroffene Regierung in den Legitimationsprozess mittelbar eingebunden wird.102 Nicht zu übersehen ist freilich, dass die Personalauswahl für das jeweilige Laufbahnrichteramt hierdurch komplexer wird, weil bei der Besetzung der Präsidentenstelle zugleich die kraft Gesetzes mitübertragene Verfassungsrichterfunktion und die damit verbundenen – nicht notwendig deckungsgleichen – Personalanforderungen zu berücksichtigen sind, die mittelbare Verfassungsrichterauswahl also zu einer (schon bundesrechtlich nicht abtrennbaren103) Entscheidung nach Maßgabe des Art. 33 Abs. 2 GG wird. Daher müssen bei der Besetzung der relevanten Stelle eines Obergerichtspräsidenten zwangsläufig positive und diskriminierungsfreie Kriterien im Sinne von § 71 DRiG104 i. V. mit § 9 BeamtStG, die die Qualifi kation für ein Verfassungsrichteramt ausmachen, formuliert und in die Auswahlentscheidung inte96 Missverständlich Rolf Grawert, Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. (2008), Erl. zu Art. 76, der von einem „gewissen Gestaltungsspielraum“ ausgeht. Jedenfalls die Subjektivierung betont NWVerfGH, NVwZ-RR 1995, 618: „Die Besonderheit einer parlamentarischen Richterwahl liegt in einer zwangsläufig auch subjektiv gefärbten Auswahl unter Personen, die die Eignungsvoraussetzungen für das Amt erfüllen“. 97 Etwa Art. 116 BayVerf; Art. 4 Abs. 1 NWVerf i. V. mit Art. 33 Abs. 2 GG; Art. 19 RhPf Verf. 98 Art. 139 Abs. 2 Satz 1 BremVerf; Art. 134 Abs. 2 Satz 1 RhPf Verf. 99 Kritisch Thomas Mann, in: Wolfgang Löwer/Peter J. Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 76 Rn. 6. 100 Art. 76 Abs. 1 NWVerf. 101 Andreas Heusch, in: Andreas Heusch/Klaus Schönenbroicher (Hrsg.), Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art. 76 Rn. 7. Vgl. auch Mann (Fn. 99), Art. 76 Rn. 7; Karl-Friedrich Meyer, in: Christoph Grimm/Peter Caesar (Hrsg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art. 134 Rn. 24. 102 Für eine mehr an der Gewaltengliederung orientierte Richterbestellung de lege ferenda Knöpfl e, Richterbestellung (Fn. 50), S. 242. 103 Für die Auswahl der Stelle eines Obergerichtspräsidenten gelten nach § 71 DRiG i. V. mit § 9 BeamtStG die allgemeinen Auswahlkriterien und Diskriminierungsverbote. Diese lassen sich nicht dadurch aushebeln, dass man einen Bewerber zwar für den bestqualifi zierten Kandidaten für das Präsidentenamt erachtet, die (als solche – wie dargelegt – nicht unmittelbar an Art. 33 Abs. 2 GG gebundene) Eignung als Verfassungsrichter aber aus politischen Gründen verneint. 104 Deutsches Richtergesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 19. 4. 1972 (BGBl. I S. 713), das zuletzt durch Art. 17 des Gesetzes v. 6. 12. 2011 (BGBl. I S. 2515) geändert worden ist.
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griert werden.105 Namentlich wird man von einem Obergerichtspräsidenten, der zugleich Verfassungsgerichtspräsident sein soll, spezifische Erfahrungen im Verfassungsleben und im Verfassungsrecht fordern dürfen. Das geborene Mitglied nimmt zugleich eine Doppelrolle ein, deren inhärente Spannungen nicht zu übersehen sind, auch wenn sie sich praktisch allenfalls selten aktualisieren werden:106 Der Präsident eines obersten Landesgerichts untersteht in Justizverwaltungsangelegenheiten als Behördenleiter den Weisungen des Justizministers; als Verfassungsgerichtspräsident muss dies ausgeschlossen sein.107
aa) Dauer des Wahlamtes Eine Begrenzung der Amtszeit von Verfassungsrichtern reduziert – nicht zuletzt aus demokratischen Gründen – den Einfluss einzelner Richter auf die praktische Verfassungswirklichkeit und stellt sicher, dass die Legitimation der Richterbank auf Grund ihres qualifizierten Legitimationsbedarfs eine regelmäßige Auffrischung erhält.108 Interpretationsansätze können so einer regelmäßigen Richtigkeitskontrolle unterzogen werden und die berechtigen Kontinuitätsbemühungen der Verfassungsrechtsprechung mit Reformulierungsimpulsen konfrontieren. Die Amtsdauer ist landesrechtlich unterschiedlich ausgestaltet.109 Die häufigste Amtszeit beträgt sechs Jahre (Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und SchleswigHolstein)110, die kürzeste fünf Jahre (Thüringen111) und die längste zwölf Jahre (Mecklenburg-Vorpommern112 ). Daneben fi nden sich Amtszeiten von sieben113, acht114, neun115 und zehn116 Jahren. Auf die Legislaturperiode beschränkt bleibt die Wahl hingegen in Bremen117. In Hessen werden die berufsrichterlichen Mitglieder für sieben Jahre gewählt, die übrigen Mitglieder nach Zusammentritt des Landtags, also in der Sache ebenfalls für eine Legislaturperiode (§ 2 Abs. 1–2 HessStGHG). Ein Verbot der Wiederwahl ist nur in wenigen Ländern normiert,118 sichert aber insoweit 105 Gerade im Falle eines Konkurrentenstreits kann dieses auf den ersten Blick eher akademisch anmutende Problem durchaus einmal praktische Relevanz erlangen. 106 Man denke immerhin an den Konfl ikt betreffend die Ressortorganisation in Nordrhein-Westfalen: NWVerfGH, NJW 1999, 1243 ff.; kritisch hierzu Jörg Menzel, Die Organisationsgewalt der Verfassungsrichter im Bereich der Regierung, NWVBl. 1999, S. 201 ff. 107 Zutreffend Meyer (Fn. 101), Art. 134 Rn. 25. 108 Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 360. 109 Analytisch hierzu Wittreck, Dritte Gewalt (Fn. 24), S. 505. 110 § 6 Satz 1 HmbVerfGG; § 4 Abs. 1 NWVerfGH, § 5 Abs. 1 Satz 1 RhPf VerfGHG; § 2 Abs. 1 Satz 2 SaarVerfGHG, § 6 Abs. 1 Satz 1 SchlHVerfGG. 111 § 3 Abs. 1 Satz 1 ThürVerfGHG. 112 § 5 Abs. 1 Satz 1 MVVerfGG. 113 § 2 Abs. 1 Satz 1 BerlVerfGHG; § 3 Abs. 1 Satz 2 LSAVerfGG. 114 Art. 4 Abs. 3 BayVerfGHG. 115 Art. 68 Abs. 3 Satz 2 BaWüVerf. Baden-Württemberg kennt schließlich eine eigentümlich gestaffelte Wahlperiode, die auf einer zeitlich gestuften Erstwahl beruht. Siehe Art. 89 BaWüVerf; § 2 Abs. 1 BaWüStGHG. 116 § 4 Abs. 1 Satz 1 BbgVerfGG. 117 § 2 Abs. 2 Satz 1 BremStGHG. 118 Etwa § 4 Abs. 1 Satz 3 BbgVerfGG; § 2 Abs. 1 Satz 2 BerlVerfGHG; § 5 Abs. 1 Satz 3 MVVerfGG. Wiederwahl ist ausdrücklich zulässig nach Art. 4 Abs. 3 BayVerfGHG; § 2 Abs. 5 BremStGHG; § 3
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flankierend die innere richterliche Unabhängigkeit.119 Wo eine Wiederwahl möglich ist, hat dies bislang zu keinen erkennbaren Konfl ikten geführt,120 was auch daran liegen mag, dass ehrenamtliche Verfassungsrichter materiell von ihrem Amt wirtschaftlich nicht abhängig sind121 und die Entscheidungsmacht über die Fortsetzung der Amtstätigkeit daher kaum ein Instrument zur latenten Richterbeeinflussung ist.
bb) Mehrheitserfordernisse Ein Erfordernis qualifizierter Mehrheit ist nur teilweise auf Verfassungsebene zwingend vorgeschrieben;122 im Übrigen wird das Wahlverfahren dem einfachen Gesetzgeber überlassen.123 Qualifizierte Mehrheiten zwingen zur übergreifenden Kompromissfi ndung, in der Regel unter Einbindung der Opposition, und schützen damit die innere Pluralität bzw. Ausgewogenheit der Richterbank (oben sub III. 1.). Dies wiederum macht ein Gericht mental unabhängiger von den jeweiligen politischen Mehrheiten. Qualifi zierte Mehrheitserfordernisse verhindern, dass die aktuelle Parlamentsmehrheit der Minderheit Richterkandidaten aufzwingt,124 wodurch nicht nur eine einseitige Politisierung des Gerichts provoziert würde, sondern vor allem dessen Effektivität untergraben werden könnte, gerade auch Minderheitenrechte im politischen Prozess zu schützen. Nicht ohne Berechtigung wird vor diesem Hintergrund die Kumulation von strukturellen Schieflagen bei der Verfassungsrichterwahl in Hessen kritisiert, die für die jeweilige Legislaturperiode (mit der Option der Wiederwahl) – insoweit verfassungsrechtlichen Vorfestlegungen folgend (vgl. Art. 130 Abs. 1–2 HessVerf ) – nach Maßgabe einfacher Mehrheiten erfolgt (§ 5 Abs. 7 Satz 2 HessStGHG) und jedenfalls in der Tendenz die Politisierung des Gerichts befördert.125 In abgeschwächter Form gilt dies auch für Nordrhein-Westfalen, wo § 4 Abs. 2 Satz 1 NWVerfGHG ein differenziertes Verfahren vorsieht: Einigen sich nicht mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Landtages auf einen gemeinsamen Vorschlag für die Wahl (was praktisch freilich – soweit ersichtlich – stets geglückt ist), so sind zunächst in jedem Wahlgang zwei Mitglieder zu wählen. Jeder Abgeordnete kann seine Stimme in diesem Fall in jedem Wahlgang nur für einen Kandidaten abgeben. Gewählt sind die beiden KanAbs. 1 Satz 2 LSAVerfGG; § 6 Satz 2 HmbVerfGG; § 4 Abs. 4 NWVerfGHG; § 3 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG. Eine einmalige Wiederwahl ist zulässig nach § 5 Abs. 1 Satz 2 RhPf VerfGHG und § 6 Abs. 1 Satz 2 SchlHVerfGG. 119 In den anderen Ländern entspricht es der Staatspraxis, bisherige Richter in der Regel auch wiederzuwählen. Vgl. Knöpfl e, Richterbestellung (Fn. 50), S. 262. 120 Günther (Fn. 6), § 3 Rn. 20. 121 Wittreck, Dritte Gewalt (Fn. 24), S. 506 f.; im Ansatz auch Peter Michael Huber, Staatsrecht, in: ders. (Hrsg.), Thüringer Staats- und Verwaltungsrecht, 2000, 1. Teil Rn. 204. 122 Zweidrittelmehrheit nach Art. 84 Abs. 1 Satz 2 BerlVerf; Art. 112 Abs. 4 Satz 5 BbgVerf; Art. 52 Abs. 3 MVVerf; Art. 55 Abs. 2 Satz 2 NdsVerf; Art. 134 Abs. 3 Satz 1 RhPf Verf; Art. 96 Abs. 1 Satz 2 SaarVerf; Art. 81 Abs. 3 Satz 1 SächsVerf; Art. 74 Abs. 3 Verf LSA; Art. 44 Abs. 3 Satz 2 SchlHVerf; Art. 79 Abs. 3 Satz 3 ThürVerf. 123 Vgl. Art. 68 Abs. 4 BaWüVerf; Art. 76 Abs. 3 NWVerf. 124 NWVerfGH, NVwZ-RR 1995, 618; Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 85), S. 212. 125 Sacksofsky, Verfassungsrecht (Fn. 45), § 2 Rn. 70.
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didaten, die die meisten Stimmen erhalten. Dies ist ein Mittelweg zwischen einfacher und qualifizierter Mehrheit, der eine einseitige Dominierung des Gerichts durch eine Parlamentsmehrheit verhindert,126 aber anders als ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis eine Polarisierung des Gerichts durch politisch jeweils der anderen Seite nicht vermittelbare Kandidaten auch nicht verhindern kann. In Bayern werden Präsident und berufsrichterliche Mitglieder mit einfacher Mehrheit und die weiteren Mitglieder nach Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (Art. 4 Abs. 1–2 BayVerfGHG). Die Regelung ist zwar gemessen an Art. 68 Abs. 3 BayVerf verfassungskonform,127 sah sich aber nicht selten politischer Kritik auf Grund der damit möglichen einseitigen parteipolitischen Dominierung des Gerichts ausgesetzt,128 zumal in den meisten praktisch wichtigen Verfahren ohnehin nur Berufsrichter entscheiden. Auch in Baden-Württemberg werden die Mitglieder des Staatsgerichtshofs mit einfacher Mehrheit gewählt (vgl. § 2 Abs. 2 StGHG).129 Beide Länder sehen eine relativ lange Wahlperiode vor, weshalb ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis hier schon auf Grund der Langzeitwirkung der Personalentscheidung sachgerechter wäre.
cc) Konfliktarme Richterwahl Dass der Vorwurf politischer Einseitigkeit trotz der parteipolitischen Auswahlverfahren bislang gegenüber den Landesverfassungsgerichten kaum erhoben wird, mag man auch als Beleg der Unabhängigkeit von Richterpersönlichkeiten sowie als Resultat der disziplinierenden Wirkung einer am Ende notwendig juristischen Entscheidungsbegründung130 werten.131 Parlamentarisierung und Qualitätsorientierung der Auswahl müssen – dies belegt schon die im Allgemeinen glückliche Hand bei der Verfassungsrichterwahl – ersichtlich kein Widerspruch sein,132 zumal auch die vermeintlich objektiveren Verfahren einer exekutivischen Leistungsbeurteilung erst recht nicht frei von – hier weitgehend intransparenten – parteipolitischen Einflüssen sind und zudem über die Justizverwaltung die Richterschaft selbst als (hierfür nicht 126
Bilda (Fn. 50), S. 63 f. BayVerfGHE 46, 1 (10 f.); 47, 107 (117); Heinrich Amadeus Wolff, in: Lindner/Möstl/Wolff (Fn. 3), Art. 68 Rn. 20. 128 Nachweise bei Karl Schweiger, in: Hans Nawiasky/Karl Schweiger/Franz Knöpfle (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2008, Art. 68 Rn. 5. 129 Die Opposition hat daher keine verfassungsrechtlich gesicherten Mitwirkungsrechte. Siehe Hartmut Maurer, in: Paul Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, Art. 68 Rn. 111. Siehe aber auch die Verhältniswahl bei der Erstwahl mit Losverfahren über die Amtsdauer nach § 2 Abs. 1 StGHG. 130 Vgl. Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 276. Zu Wechselwirkungen zwischen Darstellung und Herstellung von Entscheidungen siehe grundlegend Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 9 (23 ff.). 131 Florian Edinger, Landesverfassungsgerichte: Einfluss politisch untersucht, ZParl 2012, S. 208 (210). 132 Zutreffend Kröger (Fn. 49), S. 87. 127
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legitimierten) standespolitischen Akteur ins Spiel bringen (Kooptationsproblem133). Das größere Defizit besteht eher in dem verkrampften Bemühen, die Verfassungsrichterauswahl nach außen mit dem Mantel einer rein fachlichen Entscheidung zu verhüllen und legitime politische Erwägungen gar nicht erst öffentlich zur Diskussion zu stellen.134 Meistens verläuft die – in der öffentlichen Wahrnehmung jenseits (aus unterschiedlichen Gründen) interessierter Fachkreise kaum beachtete – Verfassungsrichterwahl ‚geräuschlos‘, schon weil etwaiger Diskussionsbedarf diskret im Vorfeld durch die politischen Akteure im Bemühen um breite Konsensfindung aufgegriffen wird. Im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht wird die Besetzung der Verfassungsrichterbank auf Landesebene ohnehin im Regelfall kaum breiteres Politisierungspotential aufweisen. Dies muss freilich nicht zwingend so sein. Etwa die Auseinandersetzung um die Wahl einer Richterin zum amtierenden Berliner Verfassungsgerichtshof zeigt, dass die parlamentarische Wahl auch als Hebel öffentlicher Politisierung eingesetzt werden kann, insbesondere sofern die Opposition mit dem Modus der Abstimmung nicht einverstanden ist. Solche Konfl ikte sind, wenn eine Beschädigung der Person vermieden und die Auseinandersetzung auf Sachfragen konzentriert wird, unschädlich und können die politische Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie den Sinn des Wahlverfahrens in der Öffentlichkeit sichtbarer machen.
2. Wählbarkeit Allgemeine Voraussetzung der Wählbarkeit ist die deutsche Staatsangehörigkeit, auch wenn dies in der Regel für Verfassungsrichter nicht gesondert hervorgehoben wird. Mittelbar ergibt sich dies jedenfalls aus der Verweisung auf das Wahlrecht zum Bundestag oder zum Landtag. Darüber hinaus bestehen in manchen Ländern Anforderungen an das Mindestlebensalter, namentlich 35 Jahre135 oder 40 Jahre136. Diese Bestimmungen sollen zulässigerweise137 eine hinreichende Lebenserfahrung der 133 Allgemein zu den verfassungsrechtlichen Grenzen einer Mitbestimmung der Richterschaft bei der Personalauswahl Böckenförde, Richterwahl (Fn. 58), S. 80; Gärditz, Richterwahlausschüsse (Fn. 68), S. 111 f.; Hillgruber (Fn. 68), Art. 98, Rn. 61, 64; Sieg fried Jutzi, in: Joachim Linck/Siegfried Jutzi/Jörg Hoppe (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Thüringen, 1994, Art. 89, Rn. 10; Schulze-Fielitz (Fn. 68) Art. 98, Rn. 45; 134 Kritisch zu Intransparenz auch Jerzy Montag, Reform der Bundesverfassungsrichterwahlen?, RuP 2011, S. 140; positiver Fabian Wittreck, Reform der Bundesverfassungsrichterwahlen?, RuP 2011, S. 141. 135 § 3 Abs. 1 Satz 1 BerlVerfGHG; § 3 Abs. 1 BbgVerfGG; § 3 Abs. 2 Satz 1 BremStGHG; § 3 Abs. 1 Satz 1 HessStGHG; § 3 Abs. 1 Satz 1 MVVerfGG; § 2 NdsStGHG; § 3 Abs. 1 NWVerfGHG; ; § 4 Abs. 1 RhPf VerfGHG; § 2 Abs. 3 SächsVerfGHG; § 4 Abs. 1 ThürVerfGHG. 136 Art. 5 Abs. 1 Satz 1 BayVerfGHG; § 2 Abs. 1 HmbVerfGG; § 5 Abs. 1 Satz 2 LSAVerfGG; § 5 Abs. 1 SchlHVerfGG. 137 § 24 Nr. 2 AGG gilt mangels Bundeskompetenz nicht für Landesverfassungsrichter, wäre aber auch nach § 10 Nr. 2 AGG bzw. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16) gerechtfertigt, da es sich um eine zulässig typisierte Anforderung an die Lebenserfahrung für ein Amt mit besonderer Verantwortung handelt. Überdies dürfte
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Richter sicherstellen,138 was freilich bei einem Mindestalter von 35 Jahren gemessen am üblichen Berufseinstiegsalter für (meist promovierte) Volljuristen keine besonders hohe Hürde darstellt. Aufschlussreicher ist, ob die Wählbarkeit an das passive Wahlrecht zum jeweiligen Landtag139 oder an das zum Bundestag140 anknüpft. Da das Landtagswahlrecht durchweg einen Hauptwohnsitz im jeweiligen Bundesland erfordert,141 ventiliert sich bei dieser Anknüpfungsvariante eine besondere Form der ‚Heimatpflege‘: Wer über Verfassungsfragen des jeweiligen Landes entscheidet, soll seine Verbundenheit (und damit seine republikanische Mitbetroffenheit als territoriales Landeskind) auch durch Wohnsitznahme im ‚Inland‘ dokumentieren. Die Öffnung der Richterbank für Bürger, die nicht im jeweiligen Bundesland ihren Lebensmittelpunkt haben (und nur dies wird über die Verweisung auf das Wahlrecht zum Bundestag und damit auf das gemeinsame Indigenat der Bundesbürger erreicht), mag ein Stück weit landestypisches Kolorit der Verfassungsrechtsprechung abblättern lassen, erleichtert aber gerade in kleineren Bundesländern die Gewinnung qualifizierter Richter, insbesondere aus der Professorenschaft.142 Für eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die auf Grund der Kleinräumigkeit ihres Wirkungskreises und der vergleichsweise begrenzten landesverfassungsspezifischen Literatur und Spruchpraxis notgedrungen in besonderem Maße auf binnenföderale Rechtsvergleichung angewiesen ist,143 erscheint eine auch personale Öffnung in andere Bundesländer hinein die sachgerechtere Lösung. Dass sich damit zugleich die rechtsstaatliche Distanz zur – gerade in kleineren Bundesländern – oftmals eng verflochtenen lokalen ‚Juristenszene‘ amtsadäquat erhöhen lässt, ist ein weiterer Vorteil. Beide Modelle – Anknüpfung an das Bundes- oder das Landeswahlrecht – sind etwa gleichgewichtig vertreten. Erstaunlich ist eher, dass die Anknüpfung im Vergleich quer zum Bedeutungsgrad einer (jedenfalls kommunizierten) landesspezifischen Identität und damit zum spezifisch föderalen Selbstbewusstsein liegt. Eine ungewöhnliche Regelung kennt Mecklenburg-Vorpommern, das grundsätzlich an die Wählbarkeit zum Landtag anknüpft, aber eine Ausnahme für Hochschullehrer macht.144 Diese Regelung trägt möglicherweise dem Umstand Rechnung, dass ungeachtet der landschaftlichen Schönheit sowie (noch) zweier renommierter Juristenfadie Tätigkeit als Verfassungsrichter keine Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG bzw. Art. 3 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie sein, weil es sich zum einen um eine ehrenamtliche Funktion handelt, die nicht wegen der Erzielung eines Erwerbseinkommens ausgeübt wird, und zum anderen Funktionen im Bereich der Verfassungsorgane im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV generell vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeklammert sind. 138 Harms-Ziegler (Fn. 50), S. 195. 139 Art. 5 Abs. 1 Satz 1 BayVerfGHG; § 2 Abs. 1 HmbVerfGG; § 3 Abs. 1 Satz 1 HessStGHG; § 2 NdsStGHG; § 3 Abs. 1 NWVerfGHG; § 4 Abs. 1 RhPf VerfGHG; § 4 Abs. 1 Satz 2 LSAVerfGG; § 4 Abs. 1 ThürVerfGHG. 140 § 3 Abs. 1 Satz 1 BerlVerfGHG; § 3 Abs. 1 BbgVerfGG; § 3 Abs. 2 Satz 1 BremStGHG; § 2 Abs. 3 SächsVerfGHG; § 5 Abs. 1 SchlHVerfGG. 141 Stellvertretend § 7 Abs. 1 Nr. 2 BaWüWahlG; Art. 1 Abs. 1 Nr. 2 BayWahlG; § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HessWahlG; § 4 Abs. 1 Nr. 2 MVWahlG; § 4 Abs. 1 NWWahlG. 142 Der schon immer auch prominent besetzte Staatsgerichtshof der kleinen Freien Hansestadt Bremen belegt den Vorteil einer Öffnung mit unübertroffener Deutlichkeit. 143 Huber, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 24), S. 77. 144 § 3 Abs. 1 Satz 1 MVVerfGG.
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kultäten das Rekrutierungspotential unter Hochschullehrern mit Hauptwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern zu gering wäre. Aus funktionalen Gründen ist ein Richteramt an einem Landesverfassungsgericht grundsätzlich unvereinbar mit der Mitgliedschaft in einem anderen Verfassungsorgan (vor allem Parlament, Regierung),145 da das Gericht als neutraler Dritter insbesondere über Rechtsstreitigkeiten in den Interorganbeziehungen auf Verfassungsebene zu entscheiden hat.146 Eine Inkompatibilität besteht häufig auch für (nichtrichterliche) Angehörige des öffentlichen Dienstes,147 da diese strukturell eine besondere Nähe zur Exekutive aufweisen, was zu kontrollspezifischen Rollenkonfl ikten führen kann.148
IV. Die Besetzung der Landesverfassungsgerichte Die Bedeutung der personellen Auswahl der Verfassungsrichter für das Ansehen und die praktische Wirkkraft der Gerichte ist kaum zu überschätzen. Verfassungsrichter müssen im Gravitationsfeld politischer Verfassungsorgane sensibel agieren; ihre Amtsfunktionen sind daher in hohem Maße kommunikationsgeprägt.149 Dies gilt vor allem für die Fähigkeit zur ausgleichenden Kompromissbildung innerhalb des Spruchkörpers. Auch die Kontextsensibilität von Verfassungstexten,150 die gerade bei vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen eine Offenlegung kulturgeprägter Bedeutungsschichten151 im rechtspolitischen Mikrokosmos des jeweiligen Landes erfordert, macht die Auswahl von Landesverfassungsrichtern zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Im Idealfall gelingt es, Richterpersönlichkeiten zu finden, die gleichermaßen fachlich kompetent und im Umgang mit dem politischen Umfeld erprobt sind152 sowie sich sensibel für die fi ligranen Besonderheiten des jeweiligen Landes und seines Verfassungslebens zeigen. Zugleich kann eine zu große Nähe zum politischen Mikromilieu des jeweiligen Landes aber auch den funktionalen Anforderungen an ein 145 Etwa § 3 Abs. 2 Satz 2 BremStGHG; § 3 Abs. 2 Satz 1 BbgVerfGG; Art. 65 Abs. 1 Satz 4 HmbVerf.; § 3 Abs. 2 HessStGHG; § 3 Abs. 1 NWVerfGHG; § 5 Abs. 2 LSAVerfGG, § 5 Abs. 2 SchlHVerfGG. Ein politischer Staatssekretär und ein politischer Beamter können nicht Mitglied des Staatsgerichtshofs oder Stellvertreter sein: § 2a Abs. 1 BaWüStGHG, § 3 Abs. 2 HessStGHG. 146 Geck, Amtsrecht (Fn. 49), S. 59; ferner Knöpfl e, Richterbestellung (Fn. 50), S. 245. 147 § 3 Abs. 2 Satz 2 BbgVerfGG; § 3 Abs. 1 Satz 2 HmbVerfGG; § 3 Abs. 3 NWVerfGHG; § 5 Abs. 3 Satz 1 LSAVerfGG. 148 Siehe Gisela von Lampe, in: Gero Pfennig/Manfred J. Neumann (Hrsg.), Verfassung von Berlin, 2000, Art. 84 Rn. 8. 149 Paul Kirchhof, Der Beruf des Verfassungsrichters, in: Peter-Christian Müller-Graff/Herbert Roth (Hrsg.), Die Praxis des Richterberufs, 2000, S. 101 (109). 150 Nachdrücklich Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 10), S. 45. 151 Siehe namentlich zur kulturellen Prägung des Verfassungsrechts Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; ders., Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. (2009), S. 11 ff.; Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 80 ff.; Arndt Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 41 ff., 509. 152 Plakativ § 4 Abs. 3 BremStGHG: „Die vier Mitglieder des Staatsgerichtshofs, die nicht rechtsgelehrte bremische Richter zu sein brauchen, müssen sich durch Kenntnis im öffentlichen Recht auszeichnen und im öffentlichen Leben erfahren sein.“ Es ist daher zu kritisieren, dass die (zwar nicht steuerungswirksame, aber doch symbolisch nicht unbedeutende) Anforderung einer „Erfahrung im öffentlichen Leben“ aus § 3 BVerfGG gestrichen wurde. Mit Recht Kröger (Fn. 49), S. 85.
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Richteramt entgegenlaufen. Kleinräumigkeit, Überschaubarkeit und damit das Risiko des Distanzverlustes zum politischen Betrieb können gerade in den kleineren Bundesländern eine amtsadäquate Richterauswahl behindern.
1. Breite der Richterbank Die Richterbänke der Verfassungsgerichte sind meist mit neun (Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen) oder mit sieben (Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, NordrheinWestfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) Richtern besetzt. In Hessen sind es elf Richter (zuzüglich der Landesanwältin), im Saarland acht. Insgesamt pendelt daher die Zahl der Richter meist um die Zahl der Senatsmitglieder am Bundesverfassungsgericht. Auffällig ist allenfalls, dass keine Relation zwischen der Einwohnerzahl des Landes und der Breite der Richterbank festzustellen ist, eine Abbildung der Bevölkerungspluralität in einwohnerstarken Flächenländern auf einer verbreiterten Richterbank also offenbar kein relevantes Anliegen bei der Institutionalisierung der Landesverfassungsgerichte war. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof ist zwar mit 23 Berufsrichtern und 15 nichtberufsrichterlichen Mitgliedern besetzt, entscheidet jedoch in verkleinerten Spruchkörpern und in den wichtigsten Verfahren (Popularklagen, Normenkontrollen einschließlich normkontrollierender Organstreitverfahren, Richtervorlagen) in einer Besetzung ausschließlich mit Berufsrichtern (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayStGHG).153
2. Berufsrichter und Laienbeteiligung Berufsrichter an Verfassungsgerichten sind die organisatorische Konsequenz des spezifischen Gerichtscharakters,154 also der gerichtlichen Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts. Eine verfassungsrechtlich oder gesetzlich festgeschriebene Berufsrichterquote gewährleistet die für einen modernen Rechtsstaat unverzichtbare Professionalität im Umgang mit dem Rechtsstoff 155 und ist insoweit gebotene institutionelle Sicherung einer praktisch wirksamen Rechtsbindung der Justiz (Art. 20 Abs. 3 GG).156 153
Reguläre Besetzung: Präsident und acht Berufsrichter; kleine Besetzung (Art. 3 Abs. 5 BayVerfGHG) in verschiedenen prozessualen Vorentscheidungen: Präsident und zwei Berufsrichter. 154 Hans Lechner/Rüdiger Zuck, BVerfGG, 6. Aufl. (2011), § 2 Rn. 11. 155 Zutreffend betont bei Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht (Fn. 62), S. 107 f.; Andreas Voßkuhle/Gernot Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, JZ 2002, S. 673 (681). Vgl. auch Klaus Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1984, Art. 68 Rn. 36, zur Berufsrichterquote: „Dies ermöglicht eine fachlich-juristisch geprägte Entscheidungspraxis.“ 156 Zur institutionellen Rechtsstaatlichkeit Klaus Ferdinand Gärditz, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfl ing (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 2011, Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), Rn. 7 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. (2004), Kap. 2, Rn. 27 ff. Zur Angewiesenheit der Rechtsbindung auf eine praktische Wirksamkeit, die über die Geltung der Norm als Deutungsschema hinausgeht und tatsächliche Anwendungsstabilität bzw. mehr als bloß okkasionelle Durchsetzung verlangt, siehe Dirk Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 172 f., 184; Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatli-
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Richterliche Professionalität erfüllt zugleich eine demokratische Funktion, da die Wirksamkeit des demokratisch gesetzten Rechts im gestuften Prozess der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts nur über eine hinreichende methodische Stringenz der Rechtsanwendung sicherzustellen ist. Auch Art. 92 GG setzt daher nach zutreffender Ansicht voraus, dass ein Gericht zumindest auch mit Berufsrichtern besetzt ist.157 Das Landesverfassungsrecht sieht daher durchweg einen Mindestbestand an Berufsrichtern am Landesverfassungsgericht vor.158 Die ausschließliche oder zumindest mehrheitliche Besetzung der Gerichte mit Juristen, die die Befähigung zum Richteramt nach DRiG erworben haben, ist zugleich Ausdruck einer im institutionell ausdifferenzierten Rechtsstaat angelegten Bürokratisierung der Justiz.159 Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Verfahrensroutine und die spezifisch richterliche Funktion, die nicht in der Ausformulierung abstrakter Dogmen, sondern in der Entscheidung der unterbreiteten Rechtsstreitigkeiten liegt. Berufsrichter bringen langjährige Erfahrungen in den eher technischen Fragen der effektiven und effizienten Dezernatsorganisation mit sich.160 Berufsrichter müssen daher auch in der Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Kern ‚den Laden am Laufen halten‘. Dies ist auch dann wichtig, wenn das Gericht – wie meist der Fall – über einen oder mehrere berufsrichterliche Mitarbeiter verfügt, da gerade Mitarbeiterstäbe einer professionellen Führung bedürfen, um eine sanfte Steuerung der Verfassungsrechtsprechung durch in der Regel höchst qualifizierte, aber eben nicht zur Ausübung verfassungsrichterlicher Funktionen legitimierte Stäbe zu verhindern. Ein richterpsychologisches Problem ergibt sich allenfalls daraus, dass Berufsrichter, die – anders als die kraft ihres Amtes zu ausschließlichen Berufsverfassungsrichtern bestellten Amtswalter am Bundesverfassungsgericht – ehrenamtlich ein Verfassungsrichteramt wahrnehmen, unter Umständen zugleich Kontrolle gegenüber einem Gericht, dem sie weiterhin als hauptamtliche Richter institutionell angehören, ausüben müssen, auch wenn eine Kontrolle von Entscheidungen, an denen man selbst mitgewirkt hat, unzulässig bleibt (vgl. § 41 Nr. 6 ZPO).161 chen Verfassung, AöR 85 (1960), S. 241 (250); Friedhelm Hufen, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL 47 (1989), S. 142 (147); Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 156), § 26 Rn. 21, 24; Christian Waldhoff, Staat und Zwang, 2008, S. 13. 157 Christian Hillgruber, in: Theodor Maunz/Günther Dürig (Begr.), GG, 2011, Art. 92 Rn. 72. Ähnlich Thomas Groß, Grenzen der Pluralisierung der Judikative, KJ 2000, S. 209 (224 ff.), der mit Recht bei mehrheitlich mit Laienrichtern besetzten Spruchkörpern eine allgemein zugängliche Rechtsmittelinstanz fordert. 158 Etwa Art. 68 Abs. 3 Satz 1 BaWüVerf; Art. 68 Abs. 2 BayVerf; Art. 112 Abs. 2 Satz 2 BbgVerf; Art. 65 Abs. 1 Satz 2 HmbVerf; Art. 130 Abs. 1 Satz 1 HessVerf; Art. 52 Abs. 2 Satz 1 MVVerf; Art. 76 Abs. 1 NWVerf; Art. 134 Abs. 2 Satz 1 RhPf Verf; Art. 81 Abs. 2 SächsVerf; Art. 79 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf. Problematisch ist auch, ob unter den Begriff des Berufsrichters – in Entsprechung der §§ 1, 8 DRiG – auch Richter auf Zeit, auf Probe oder kraft Auftrags fallen. Für Proberichter im Hinblick auf die Bedeutung des Amtes ablehnend Sieg fried Jutzi, in: Joachim Linck/Siegfried Jutzi/Jörg Hoppe (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Thüringen, 1994, Art. 79 Rn. 6. Restriktiv gegenüber einer (an sich möglichen) Zulassung von Nichtjuristen neben den Berufsrichtern Dehoust/Nagel/Umbach (Fn. 3), S. 117. 159 Vgl. auch Hasso Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 37. 160 Vgl. Krahnenpohl, Beratungsgeheimnis (Fn. 61), S. 203 ff. 161 Auch dies ist im historischen Rechtsvergleich keine Selbstverständlichkeit. So waren etwa Richter des US Supreme Court anfänglich nach dem Judiciary Act von 1789 verpfl ichtet, mit anderen Bun-
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a) Richterarten im Landesverfassungsrecht Das Landesverfassungsprozessrecht kennt vor allem eine weitere Besonderheit, die es auf Grund ihres rechtpolitischen Experimentcharakters zu diskutieren gilt: Im Kontrast zum Bundesverfassungsgericht ist die Besetzung der Richterbank auch mit Nichtjuristen auf der Ebene der Landesverfassungsgerichtsbarkeit in den meisten Ländern durchaus möglich. Wenige Länder sehen eine obligatorische Beteiligung von Nichtjuristen vor, eine Reihe an Ländern aber immerhin eine optionale Besetzung einiger Richterstellen mit Nichtjuristen. Die Laienbeteiligung – obschon als anachronistisch gescholten162 – ist ein Spezifi kum der Landesverfassungsgerichtsbarkeit, das eine nähere Betrachtung verdient. Nach Art. 68 Abs. 3 Satz 1 BaWüVerf sind sechs der neun Verfassungsrichter am Staatsgerichtshof Juristen mit Befähigung zum Richteramt (drei davon Berufsrichter), bei den anderen drei Richtern darf diese Voraussetzung nicht vorliegen.163 Von den 38 Verfassungsrichtern am Bayerischen Verfassungsgerichtshof sind neben dem Präsidenten 22 Mitglieder Berufsrichter (Art. 68 Abs. 2 BayVerf, Art. 3 Abs. 1 BayVerfGHG). Die 15 weiteren Mitglieder sollen sich nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 BayVerfGHG durch besondere Kenntnisse im öffentlichen Recht auszeichnen. Sie sollen nach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 BayVerfGHG zudem die Befähigung zum Richteramt haben oder Lehrer der Rechtswissenschaft an einer bayerischen (!) Universität sein.164 In der Sache kommt eine Besetzung der Richterbank mit juristischen Laien nur sehr ausnahmsweise in Betracht, ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen. Die praktische Bedeutung dieser Frage ist eher gering, weil die weiteren Mitglieder nur in besonderen und selten aktivierten Verfahren mitwirken.165 Auffällig ist, dass einige Landesverfassungen die Wahl eines Blocks an Verfassungsrichtern vorsehen, die keine Juristen sein müssen, aber sein können (optionale Laienrichter), die damit eröffnete Möglichkeit einer Laienbeteiligung aber offenbar als nicht zweckmäßig erachtet wird. Beispielsweise Art. 84 Abs. 1 BerlVerf ließe es zu, dass drei der neun Verfassungsrichter keine Juristen sind. Bei der gegenwärtigen desrichtern als Richter an den Entscheidungen der Bundesgerichtsbezirke mitzuwirken (‚riding circuit‘). Die Supreme-Court-Richter mussten dann ggf. in der Rechtsmittelinstanz sogar an der Kontrolle eigener Entscheidungen mitwirken. Siehe hierzu Richard E. Ellis, The Jeffersonian Crisis – Courts and Politics in the Young Republic, 1971, S. 12 f. 162 Huber, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 24), S. 78. 163 Dies ließe theoretisch die Beteiligung eines Juristen mit nur erstem Staatsexamen zu, was aber der Funktion einer Laienbeteiligung zuwider liefe. 164 Das Qualifi kationsmerkmal „bayerisch“ ist weder überraschend noch sinnvoll. Wahlberechtigte zum Landtag, die an einer außerbayerischen Universität Rechtswissenschaft lehren, ohne über ein Assessorexamen zu verfügen, werden also im Kontrast zu bayerischen Professoren nicht automatisch auf die gleiche Qualifi kationsebene wie Volljuristen gehoben. Anders gewendet übernimmt also das Berufungsverfahren an einer bayerischen Universität die Funktion einer juristischen Qualifi kationskontrolle, die man auswärtigen Hochschulen offenbar nicht zutraut. Obschon praktisch kaum relevant, scheint hier doch mehr als nur ein wenig Hochmut durch. Eine Privilegierung von Hochschullehrern an einer deutschen Hochschule enthielt die alte Fassung des § 4 BremStGHG; hierzu Rinken, Staatsgerichtshof (Fn. 78), S. 496. 165 Zwingend vorgesehen ist die Beteiligung bei der Minister- und Abgeordnetenanklage (Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayVerfGHG). Sie ist ausgeschlossen bei allen Normenkontrollen, Popularklage eingeschlossen (Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 BayVerfGHG).
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Besetzung des Verfassungsgerichtshofs wurde diese Option indes nicht genutzt; alle Richter sind Volljuristen, was wohl auch ein Bedürfnis nach juristischer Professionalisierung indiziert, das mit der Zahl der Verfassungsbeschwerdeverfahren einhergeht. Auch Art. 139 Abs. 2 Satz 1 BremVerf ließe die Wahl von vier nichtjuristischen Mitgliedern zu; in Hamburg könnten drei der neun Verfassungsrichter Nichtjuristen sein (vgl. Art. 65 Abs. 1 HbgVerf ); in Hessen könnten sechs der elf Mitglieder des Staatsgerichtshofs Nichtjuristen sein (Art. 130 Abs. 1 HessVerf ); in Nordrhein-Westfalen wäre es möglich, vier der sieben Richterstellen auch mit Nichtjuristen zu besetzen (Art. 76 Abs. 1 NWVerf, §§ 2, 3 VGHG NW); in Mecklenburg-Vorpommern besteht die Option, die siebenköpfige Richterbank mit bis zu drei Nichtjuristen anzureichern (Art. 52 Abs. 2 Satz 2 MVVerf ). In allen genannten Fällen blieb die Möglichkeit einer Wahl von Nichtjuristen jedoch ungenutzt, sodass die Verfassungsgerichte jeweils exklusiv mit Juristen besetzt sind. In Niedersachsen enthält die Landesverfassung keine näheren Vorgaben zum berufl ichen Hintergrund oder Befähigungsprofi l der neun Verfassungsrichter (vgl. Art. 55 NdsVerf ). Einfachgesetzlich wurde allerdings vorgeschrieben, dass sechs Mitglieder die Befähigung zum Richteramt besitzen müssen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 NdsStGHG). Für die übrigen Mitglieder enthält § 2 NdsStGHG nur ein sehr offenes Qualifi kationsmerkmal: Die Mitglieder des Staatsgerichtshofs müssen auf Grund ihrer Erfahrung im öffentlichen Leben für das Richteramt besonders geeignet sein.166 Dennoch ist auch der Staatsgerichtshof derzeit ausschließlich mit Juristen besetzt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Länder Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – faktisch auch Mecklenburg-Vorpommern167 – keine Verfassungsbeschwerden auf Landesebene168 kennen, sodass eine drückende Verfahrenslast jedenfalls nicht der primäre Grund für eine stärkere juristische Bürokratisierung der Erledigung bzw. für eine bessere Arbeitsteilung sein kann. Insgesamt ist die Bilanz ernüchternd: Obschon an den 16 Landesverfassungsgerichten insgesamt immerhin 51 Richterstellen mit Nichtjuristen besetzt werden könnten, ist davon bundesweit nur in zwei Ländern und bei insgesamt sechs Verfassungsrichtern Gebrauch gemacht worden. In Brandenburg, wo drei der neun Richter keine Juristen sein müssen (Art. 112 Abs. 2 Satz 2 BbgVerf ), fi nden sich auf der Richterbank eine selbstständige Steuerberaterin und Mediatorin169, eine promovierte Theologin, die als selbstständige Organisationsberaterin, Trainerin und Coach tätig ist, und eine ehemalige Kindergärtnerin. In Baden-Württemberg sind ein Politologe, der vormals Hochschulrektor war, und die Landesbezirksleiterin einer Gewerkschaft 166 Dies entspricht einer früheren – 1972 gestrichenen – Formulierung des BVerfGG, vgl. Kröger (Fn. 49), S. 84 f. 167 Nach § 58 Abs. 3 MVVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde nicht zulässig, soweit eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegeben ist. Die Grundrechte der Landesverfassung werden wiederum im Wesentlichen über Verweis auf das Grundgesetz bestimmt (Art. 5 Abs. 3 MVVerf ). 168 Zur damit einhergehenden geringen Belastung: Rinken, Staatsgerichtshof (Fn. 78), S. 494 f. Siehe im Überblick Rüdiger Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Aufl. (2006), Rn. 215 ff. Zur Diskussion um die Einführung einer Landesverfassungsbeschwerde Johannes Dietlein, Verfassungsrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Johannes Dietlein/Martin Burgi/Johannes Hellermann (Hrsg.), Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, 4. Aufl. (2011), § 1 Rn. 253. 169 Zugleich Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Siehe http://www.asp.sachsen-anhalt. de/presseapp/data/stk/2010/096_2010_19ab562d95 f b2ca49e47c5d93486bd45.htm
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Verfassungsrichter. In der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechungspraxis der Nachkriegszeit scheinen die immer wieder als Richter beteiligten Laien denn auch nie eine tragende Rolle gespielt zu haben.170
b) Funktion der Laienbeteiligung in der Verfassungsgerichtsbarkeit Das Gerichtsverfassungsrecht kennt unterschiedliche Formen einer Laienbeteiligung, die bei der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit (§§ 19 ff. VwGO), der Finanzgerichtsbarkeit (§ 5 Abs. 3 FGO), der Sozialgerichtsbarkeit (§§ 12 ff. SGG) und der Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 6 Abs. 1 ArbGG) sowie über die Schöffen in Strafverfahren (vgl. §§ 28 ff. GVG) etabliert ist.171 Hierfür werden unterschiedliche Gründe genannt:
aa) Laienbeteiligung zwischen Wissensgenerierung, Öffnung und Kontrolle Vorab ausscheiden lässt sich das Argument, eine Mitwirkung der Bürger sei Ausdruck einer Demokratisierung der Justiz.172 Die amtliche Bestellung verschafft dem unabhängigen Laienrichter kein höheres demokratisches Legitimationsniveau als dem gleichermaßen ernannten Berufsrichter – nicht Jurist zu sein, macht nicht ‚demokratischer‘. Hier ventilieren sich eher bereits überwundene – für das GVG ursprünglich durchaus noch zutreffende – Vorbehalte gegenüber einer obrigkeitsstaatlichen Justizelite. Demokratisierung bedeutete dann vor allem gesellschaftliche Öffnung. Innerhalb einer demokratischen Staatsorganisation ist für solche Modelle die argumentative Grundlage entfallen. Sachgerechter erscheinen funktionale Betrachtungen, die die Rolle der Laienrichter als prozessuale Akteure in den Blick nehmen. Laienrichter erfüllen hiernach die wichtige Funktion, gesellschaftliche Wertungen und außerjuristische Lebenserfahrung bei der Ausfüllung von Entscheidungsspielräumen zu integrieren.173 Diese Funktion kann sich überall dort entfalten, wo das Gesetz den Richter zur Selbstprogrammierung auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite ermächtigt,174 namentlich bei der Feststellung des Sachverhalts im Rahmen der 170
So ausdrücklich Rinken (Fn. 30), S. 95. Für die Kritik hieran stellvertretend Urs Kramer, Abschied von den ehrenamtlichen Richtern in der Verwaltungsgerichtsbarkeit?, NVwZ 2005, S. 537 f.; für die engagierten Befürworter Rudolf Wassermann, Der Laienrichter im Justizsystem der Bundesrepublik Deutschland, 1982. 172 So Otto Rudolf Kissel/Herbert Mayer, GVG, 6. Aufl. (2010), § 28 Rn. 2; Eberhard Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (2007), Rn. 514; Paul Stelkens/Nicolai Panzer, in: Friedrich Schoch/Eberhard Schmidt-Aßmann/Rainer Pietzner (Hrsg.), VwGO, 2011, § 19 Rn. 6; Manfred Wolf, Gerichtsverfassungsrecht aller Gerichtszweige, 6. Aufl (1987), S. 229. Wie hier demgegenüber Voßkuhle/Sydow (Fn. 155), S. 681. 173 Kissel/Mayer (Fn. 172), § 28 Rn. 2; Schilken (Fn. 174), Rn. 517; Stelkens/Panzer (Fn. 172), § 19 Rn. 6. Kritisch Wolf (Fn. 172), S. 229. Kritisch aber Gunnar Duttge, Laienrichter in der Strafgerichtsbarkeit – Anspruch und Wirklichkeit, JR 2006, S. 358 (361); Klaus Volk, Der Laie als Strafrichter, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 373 ff. 174 Strukturell hierzu Matthias Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hans-Uwe Erichsen/Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 11 Rn. 33. 171
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freien richterlichen Beweiswürdigung (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO; § 261 StPO). Laienrichter üben zudem eine Kontrollfunktion aus.175 Organisationsrechtlich wird also eine besondere Form der Intraorgankontrolle176 institutionalisiert, die ihre Wirkung vor allem dadurch entfaltet, dass mit den Laien einzelne Organteile des kollegial organisierten Spruchkörpers nicht im Justizapparat sozialisiert sind. Hierdurch kann versucht werden – ohne dass Erfolge empirisch belegbar wären –, das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu stärken.177 Schließlich soll eine Laienbeteiligung eine hinreichende pluralistische Offenheit der Richterbank befördern,178 also einer möglichen Perspektivenverengung durch eine professionelle und soziale Abschottung des Justizapparats entgegenwirken. Im sozialund im arbeitsgerichtlichen Verfahren soll die Beteiligung von Nichtjuristen vor allem eine – strukturell fragwürdige179 – Repräsentation der antagonistischen Interessen betroffener Verbände und ihrer Mitglieder gewährleisten, was neben der Wissensgenerierung durch Institutionalisierung spezifischer Sachkunde180 auch der Balancierung der Rechtsprechung dient.
bb) Laienbeteiligung im Verfassungsprozess Welche Funktion können aber juristische Laien, deren Beteiligung doch in einem deutlichen Kontrast zur Besetzung der Senate des Bundesverfassungsgerichts steht, spezifisch im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit übernehmen? Die Auf klärung des relevanten Sachverhalts, die im Strafprozess im Vordergrund steht und dort am ehesten eine sinnvolle Einbindung der Lebenserfahrung der Schöffen ermöglicht, spielt im Verfassungsprozess keine signifi kante Rolle.181 Auch die diskretionäre 175
Kissel/Mayer (Fn. 172), § 28 Rn. 2; Stelkens/Panzer (Fn. 172), § 19 Rn. 7; Wolf (Fn. 172), S. 231. Hierzu HessVGH, NJW 1987, 1436 (1437); Klaus Ferdinand Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 471 ff.; Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 136 f.; Walter Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 115; Helge Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem, 1987, S. 61 f.; Andreas Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1994, S. 294. 177 Schilken (Fn. 172), Rn. 515. 178 Das Gerichtsverfassungsrecht fordert ausdrücklich eine pluralistische gesellschaftliche Gruppenrepräsentanz (vgl. § 36 Abs. 2 GVG). Siehe Kissel/Mayer (Fn. 174), § 28 Rn. 2 und § 36 Rn. 9. 179 Klaus Ferdinand Gärditz, Die Rechtswegspaltung in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, Die Verwaltung 43 (2010), S. 309 ( 3 2 9 ) ; Voßkuhle/Sydow (Fn. 155), S. 681; Peter A. Windel, Soll am Laienrichterwesen festgehalten werden?, ZZP 112 (1999), S. 293 (307). 180 Peter Bader/Roger Hohmann/Harald Klein, Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter beim Arbeits- und Sozialgericht, 11. Aufl. (2004), S. 1 ff.; mit Recht differenzierend Voßkuhle/Sydow (Fn. 155), S. 681. 181 Dies liegt zum einen am Gegenstand, zum anderen aber auch an einem bisweilen fragwürdigen Umgang der Verfassungsgerichte mit dem Prozessrecht (insbesondere Beweisrecht). Erhellender und kritischer Bericht bei Stefan Brink, Tatsachengrundlagen verfassungsgerichtlicher Judikate, in: Hartmut Rensen/Stefan Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 3 ff. Vertiefend zum Problemkreis Brun-Otto Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 533 ff.; Klaus Ferdinand Gärditz, Gerichtliche Feststellung genereller Tatsachen (legislative facts) im Öffentlichen Recht, in: Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 1557 ff.; Fritz Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseent176
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Rechtsfolgenbestimmung, bei der praktische Lebenserfahrung juristischer Laien integriert werden kann (wie etwa bei der Strafzumessung oder bei Billigkeitsentscheidungen im Arbeitsrecht), markieren in der Verfassungsrechtsprechung allenfalls periphere Problemkreise. Eine bisweilen angeführte Volksnähe182 ist zu diffus, um eine rechtliche Funktion zu beschreiben. Eine Analogie zur (aus Verwaltungsverfahren bekannten) Bürgerbeteiligung183 geht gänzlich fehl, weil die Laien auf der Richterbank als Richter autoritativ mitentscheiden und nicht in ihrer Rolle als Bürger beteiligt werden. Laienrichter können eine gesellschaftliche Offenheit der Verfassungsinterpretation184 innerhalb des Verfassungsgerichts institutionalisieren, die Verfassung also organisationsrechtlich politisieren und als gesamtgesellschaftliches Anliegen ausweisen, das sich nicht in der professionellen Operationalisierung textlicher Bindungen erschöpft. Die Beteiligung von Laien wäre hiernach also ein Pluralisierungsimpuls, durch den die Verfassung symbolisch ein Stück weit aus ihrem Charakter als technisches Regelungswerk herausgelöst und als Grundordnung eines Gemeinwesens, das alle angeht, einer stärkeren Anwendungskontrolle auch durch Vertreter einer nichtjuristischen Öffentlichkeit unterworfen wird. Dies entspricht freilich nicht der deutschen legalistischen Tradition,185 die primär auf die Bindungskraft von Texten und damit die juristisch professionelle Ausdeutung der Verfassung vertraut.186 Das deutsche System rückt den Volljuristen in den Mittelpunkt und verlagert die insoweit bereits rechtsstaatlich entpolitisierten Verfassungskonfl ikte in die Frage des angemessenen Verhältnisses der berufl ichen Hintergründe von Volljuristen auf der Richterbank, konkret: Berufsrichter, Professoren, Rechtsanwälte und juristisch erfahrene Politiker. Die damit einhergehende institutionelle Betonung der Rechtsstaatlichkeit geht freilich mit einem Verzicht auf potentielle argumentative Gegengewichte einher, die möglicherweise den professionellen Hang gerade fachlich exzellenter Juristen zur kreativ-hypertrophen Anreicherung der Verfassung mit materiellen Gehalten ausbremsen könnten. Schon der Zwang zur sprachlichen Anschlussfähigkeit für Laien mag disziplinieren.187 Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit böte daher die Chance, auch andere Kommunikationsformen zu erproben. Die Laienbeteiligung an der Verfassungsrechtsprechung ist zudem ein geeignetes personalrechtliches Fenster zur Einbindung der Politik. Ehemalige Landes- oder ggf. auch Bundespolitiker (etwa frühere Ministerpräsidenten oder Minister) könnten eine scheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I, 1976, S. 458 ff.; Klaus Jürgen Phillippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971; Heinrich Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1979. 182 Wittreck, Dritte Gewalt (Fn. 24), S. 499. 183 Rudolf Wassermann, Bürgerbeteiligung in der Verfassungsgerichtsbarkeit, NdsVBl. 1996, S. 131 ff. In eine ähnliche Richtung wohl auch Helge Sodan, Verfassungsgerichtsbarkeit – eine späte Errungenschaft, DVBl. 2002, S. 645 (649): Laien werde „ein Mitwirkungsrecht zugestanden“. 184 Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. 185 Zu anderen Modellen einer eher populistischen Verfassungskontrolle stellvertretend Larry D. Cramer, The People Themselves – Popular Constitutionalism and Judicial Review, 2004. 186 Hierzu pointiert und nicht unkritisch Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 361 ff. 187 In diesem Sinne auch Klaus Finkelnburg, Zehn Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit des Landes Brandenburg; LKV 2004, S. 17 (18).
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ideale Ergänzung der Richterbank bilden, weil sie Erfahrung aus dem politischen Betrieb einbringen und gerade insoweit den Wahrnehmungshorizont des Gerichts erweitern, als diese Erfahrungen primär nichtrechtlicher Art sind. Zugleich ist es möglich, hierdurch landesspezifische Kontextsensibilität einzubinden, sofern geeignete Persönlichkeiten mit landespolitischem Hintergrund zur Verfügung stehen.
c) Bayerischer Sonderweg: Berufsrichterliche Verfassungsrechtspflege Das bayerische Recht sieht innerhalb der gesetzlich fi xierten Berufsrichter zusätzlich eine Mindestquote an Richtern am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vor (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 BayStGHG), was mit Blick auf die besondere Erfahrung im Umgang mit öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nach Landesrecht188 im Ansatz durchaus vernünftig ist. In der Sache bedeutet dies, dass die Personalauswahlentscheidung des Parlaments durch eine – freilich nicht verfassungsgerichtsspezifische – Vorauswahl der Exekutive, die früher die Berufsrichter ernannt hat, begrenzt wird.189 Legitimatorisch bereitet dies keine Schwierigkeiten, weil die Exekutive für die Richterernennung einwandfrei legitimiert ist190 und der zusätzliche Legitimationsgewinn durch die parlamentarische Wahlentscheidung nicht dadurch substanziell geschmälert wird, dass der Kreis der in Betracht kommenden Personen durch qualifizierte berufsbezogene Merkmale verengt wird.191 Allerdings besteht eine im bundesdeutschen Vergleich der Verfassungsgerichte einmalige Besonderheit: In den wichtigsten Verfahren entscheidet der Gerichtshof in ausschließlich berufsrichterlicher Besetzung (siehe oben sub IV. 1.), wobei die Richterbank wiederum zwar nicht zahlenmäßig, aber doch wohl kraft Fachnähe von den gesetzlich vorgeschriebenen Verwaltungsrichtern dominiert werden dürfte. Ob diese umfängliche und exklusive Überantwortung der zentralen Bereich der gerichtlichen Spruchpraxis an anderweitige Berufsrichter – ein bayerischer Sonderweg – den besonderen Funktionsbedingungen eines Verfassungsgerichts wirklich gerecht wird, erscheint eher zweifelhaft. Was den Entscheidungsstil, die eher staatstragend-zurückhaltenden Rechtsprechungslinien und vor allem die unbeirrbare Orientierung der Auslegung der Landesverfassung an der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts betrifft, sind die institutionelle Prägung durch den Verwaltungsgerichtshof sowie die berufsrichterliche Routine unübersehbar. Der Baye188 Dies erklärt auch den Unterschied zu den anderen beiden Verwaltungsgerichtsbarkeiten, namentlich mit dem auf Bundesrecht konzentrierten Landessozialgericht und mit den beiden Finanzgerichten. Hierin liegt ein Unterschied zum BVerfG, wo die einseitige Berufung aus den Reihen des BGH und BVerwG mit Recht beklagt wird: Ulrich Wenner, Kein Anschluss unter dieser Nummer . . . – Richter des Bundesarbeitsgerichts und des Bundessozialgerichts bei der Wahl von Verfassungsrichtern ohne Chance?, Betrifft Justiz 3/2012, S. 220 (221). 189 Knöpfl e, Richterbestellung (Fn. 50), S. 257. 190 Vgl. BVerfG-K, NJW 1998, 2590 (2592); Dirk Ehlers, Verfassungsrechtliche Fragen der Richterwahl, 1998, S. 40 ff.; Gärditz, Richterwahlausschüsse (Fn. 68), S. 110; Hillgruber (Fn. 68), Art. 98, Rn. 56. 191 Auch am Assessorexamen eines Bundesverfassungsrichters (§ 3 Abs. 2 BVerfGG) haben die jeweilige Landesjustizverwaltung und im Vorfeld auch einmal das Lehrpersonal der berufsqualifizierenden Universität mitgewirkt.
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rische Verfassungsgerichtshof ist das Modellgericht einer berufsrichterlichen Verfassungsrechtspflege – und damit landestypisches Abbild eines im Freistaat (freilich nicht grundlos) fest etablierten Vertrauens in die Effizienz und Professionalität der traditionell eher zentralistisch organisierten und selbst ausgebildeten Justiz- und Verwaltungsstäbe. Dies hat nicht nur Vorteile. Der Verfassungsgerichtshof nähert sich der Rolle einer Außenstelle des Verwaltungsgerichtshofs mit besonderen Zuständigkeiten an; er ist ein stets berechenbarer, aber irgendwie auch blasser und selbstgenügsamer Akteur in den Reihen der Landesverfassungsgerichte geblieben; nicht allzu häufig gehen von der Rechtsprechung auch über den Freistaat hinaus maßgebliche Impulse aus. Während die (vorgrundgesetzliche) Landesverfassung des Freistaates Bayern jedenfalls bei einer textbasierten Betrachtung192 den wohl reichsten Fundus an landesspezifischen (nicht zuletzt kulturstaatlichen) Eigenheiten aufweist,193 bleibt die in der Regel eher biedere Ausdeutung durch den Verfassungsgerichtshof meist deutlich hinter ihrem Potential zurück. Die schematische und bisweilen beinahe antriebslose Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts194 hat gerade hier Vollendung erlangt195 – und kontrastiert mit dem ansonsten farbenfroh entworfenen Selbstbildnis des Freistaats als Hüter föderalen Eigenstandes.
3. Besonderheiten in der beruflichen Zusammensetzung der Richterschaft Will man Charakteristika der Richterschaft an Landesverfassungsgerichten untersuchen, erscheint der berufl iche Hintergrund immer noch als das aussagekräftigste Merkmal.196 Unterschiedliche berufl iche Hintergründe können der Entstehung einer Gruppenidentität tendenziell entgegenwirken197 und damit die ebenfalls im Interesse der Pluralität der Willensbildung notwendigen positiven Spannungen innerhalb eines Verfassungsgerichts aufrechterhalten. Gerade ungewöhnliche Lebensläufe, die vom stereotypen und linearen Schema des Karrierejuristen198 abweichen, bereichern die Gerichte.199 192 Grundlegend Peter Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: Festschrift für Karl Josef Partsch, 1989, S. 555 ff.; ferner etwa ders., Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates – Paradigmen, Verfassungsthemen, Textstufen und Tendenzen in der Weltstunde des Verfassungsstaates, Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 ff. 193 Wo gibt es sonst etwa ein Recht auf Genuss der Naturschönheiten und wo ist die Bergweide ein konstitutioneller Rechtsbegriff (siehe Art. 141 Abs. 3 Satz 1 BayVerf )? 194 Vgl. Peter Badura, Stellenwert von Länderverfassungen und Verfassungskonfl ikten am bayerischen Beispiel, BayVBl. 2007, S. 193 (197); Brun-Otto Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl. 2005 (Sonderheft), S. 5. 195 Plakatives Negativbeispiel etwa BayVerfGH, WissR 41 (2008), 160 (162 ff.). 196 Eine Übersicht über die Biographien der bisherigen Bundesverfassungsrichter fi ndet sich in Jörg Menzel/Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2. Aufl. (2011), S. 913 ff. 197 Beobachtung von Krahnenpohl, Beratungsgeheimnis (Fn. 61), S. 245 f. 198 Befördert nicht zuletzt auch durch eine bisweilen einseitige Stipendienpraxis, die Makellosigkeit prämiert und selbst das allenthalben geforderte ‚soziale Engagement‘ für standardisierbar wie kalkulierbar hält. 199 Markantes Beispiel: Ein am BbgVerfG als Richter tätiger Direktor des Sozialgerichts arbeitete in der DDR als ausgebildeter Gärtner. Ein Biologiestudium wurde ihm durch die Staatssicherheit ver-
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a) Der Hochschullehrer als Verfassungsrichter Eine starke Präsenz von Professoren der (Staats-)Rechtswissenschaft auf der Richterbank ist aus dem Bundesverfassungsgericht bekannt200 und dürfte als Ausdruck eines in Deutschland fest etablierten legalistischen Verfassungsverständnisses zutreffend beschrieben sein.201 Die Landesverfassungsgerichte stehen ebenfalls in dieser Traditionslinie; das geltende Recht setzt bewusst auf eine Integration rechtswissenschaftlicher Expertise in die Richterbank. Um einen nebenamtlichen Einsatz von Professoren an den Verfassungsgerichten zu ermöglichen, nimmt das Landesrecht diese bisweilen ausdrücklich von der allgemeinen Inkompatibilitätsregelung für den öffentlichen Dienst aus.202 Noch weiter geht § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 LSAVerfGG, wonach „mindestens ein Mitglied und sein Vertreter [. . .] auf Lebenszeit ernannte Universitätsprofessoren des Rechts sein“ müssen. Insgesamt sind derzeit 29 Hochschullehrer aus den Rechtswissenschaften an Landesverfassungsgerichten als Richter tätig, wobei eine nicht unerhebliche Zahl gar nicht Öffentliches Recht, sondern vielmehr Zivil- oder Strafrecht lehrt.203 Eine besondere Tradition, den eigenen Staatsgerichtshof mit prominenten auswärtigen Hochschullehrern zu besetzen, besteht in Bremen. Hier fanden sich schon häufiger im juristisch-akademischen Milieu bekannte Richterpersönlichkeiten, deren Bezüge zur Hansestadt sich über das Richteramt hinaus für einen Außenstehenden nicht unmittelbar erschließen.204 Derzeit handelt es sich zahlenmäßig um ein von Professorinnen des Öffentlichen Rechts dominiertes Gericht: Von den sieben Richtern sind vier Hochschullehrerinnen an deutschen Universitäten; nur eine lehrt in Bremen, die wehrt, so dass er Theologie studierte. Seine juristische Ausbildung absolvierte er nach dem Mauerfall. Er war Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer (SPD). Siehe http://www.mdj.brandenburg. de/cms/detail.php/bb1.c.234352.de. 200 Eingehende und anschauliche Darstellung der Wechselwirkungen bei Thomas Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 421 ff. 201 Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 365 f. 202 Etwa § 3 Abs. 2 Satz 2 BbgVerfGG; § 3 Abs. 2 BremStGHG; Art. 55 Abs. 3 Satz 3 NdsVerf; § 5 Abs. 3 Satz 2 LSAVerfGG. 203 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Manfred Baldus, Universität Erfurt; Walter Bayer, FriedrichSchiller-Universität Jena; Reinhard Brey, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern; Herbert Buchner, Universität Augsburg; Barbara Dauner-Lieb, Universität zu Köln; Christoph Degenhart, Universität Leipzig; Steffen Detterbeck, Philipps-Universität Marburg; Elke Gurlit, JohannesGutenberg-Universität Mainz; Friedhelm Hufen, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz; Jörn Ipsen, Universität Osnabrück; Wolfgang Joecks, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald; Winfried Kluth, Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg; Heike Krieger, FU Berlin; Klaus Lange, Justus-LiebigUniversität Gießen; Stephan Lorenz, LMU München; Wolfgang Löwer, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn; Hermann Reichhold, Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Barbara Remmert, Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Gerhard Robbers, Universität Trier; Matthias Ruffert, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Ute Sacksofsky, Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Erich Samson, Bucerius Law School; Sabine Schlacke, Universität Bremen; Hans-Heinrich Trute, Universität Hamburg; Felix Welti, Universität Kassel; Ulrike Wendeling-Schröder, Universität Hannover; Rudolf Wendt, Universität des Saarlandes; Stephan Weth, Universität des Saarlandes; Joachim Wieland, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; als Hessische Landesanwältin ferner Monika Böhm, Philipps-Universität Marburg. 204 Einer bekleidet heute ein Richteramt am Bundesverfassungsgericht.
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anderen im weniger hanseatisch durchdrungenen Südwesten (Mainz, Tübingen, Frankfurt am Main). Ein Mitglied des Gerichtshofs kann dafür auf umfassende Erfahrungen im Landesverfassungsrecht sowohl in wissenschaftlicher als auch in praktischer Hinsicht (insbesondere durch die frühere Wahrnehmung des Amtes der Hessischen Landesanwältin) verweisen. Für ein so kleines Bundesland wie Bremen ist dies ein bemerkenswert erfolgreicher „brain drain“. Nur in Brandenburg und Hamburg meint man, auf eine Mitwirkung von Rechtsprofessoren an den Verfassungsgerichten verzichten zu können. In Mecklenburg-Vorpommern ist nur ein Universitätsprofessor vertreten, dieser aber Strafrechtslehrer, was freilich eine – obschon wissenschaftssoziologisch verselbstständigte – Subdisziplin des Öffentlichen Rechts mit zahlreichen Bezügen zum Verfassungsrecht ist. Es ist offensichtlich, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit kein Rekrutierungsproblem in der – an sich strukturell unter der allgemeinen Arbeitslast ächzenden – Professorenschaft hat. Denn Verfassungsrichterämter sind beliebt.205 Die Verfassungsgerichtsbarkeit jedenfalls kann sich ob ihrer Attraktivität für exzellente Hochschullehrer glücklich schätzen; ihren enormen Ansehensgewinn über die letzten zwei Dekaden hat sie nicht zuletzt auch der tatkräftigen und engagierten Mitwirkung exponierter Rechtsprofessoren zu verdanken. Professoren-Richter erfüllen in der Verfassungsgerichtsbarkeit fraglos die wichtige Funktion,206 den unmittelbaren Kontakt zur Staatsrechtslehre und ihren Kreativitätsressourcen herzustellen.207 Dies ist auch ein Grund, warum die Bedeutung der Staatsrechtslehre für die Fortentwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik in Deutschland zu einer im Rechtsvergleich wohl einmaligen Blüte gelangt ist.208 Auch eine negative Rückkopplung an die Fachöffentlichkeit, namentlich über die Verarbeitung wissenschaftlicher Urteilskritik, kann über Staatsrechtslehrer leichter in das Gericht diffundieren und Prozesse des Überdenkens oder der offensiveren Verteidigung der entwickelten Dogmen anregen – eine sanfte Bändigung richterlicher Interpretationsherrschaft. Hochschullehrer üben faktisch einen großen Einfluss auf die Entscheidungspraxis aus und fungieren – durchaus positiv – als Gegengewicht zur professionellen Routine der Berufsrichter,209 die bisweilen auch eine Immunisierung der Spruchpraxis gegenüber Irritation 205 Namentlich sichern Richterämter den Hochschullehrern höhere Aufmerksamkeit. Vgl. Ernst Benda, Nachteile des Richteramtsbonus, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 43 ff. Ein wissenschaftliches Kriterium ist dies freilich nicht, sofern die Inhaberschaft eines Amtes und der damit verbundene Einfluss fokussiert wird und nicht etwa die aus dem Amt gewonnene Erfahrung, die selbstredend auch die wissenschaftlichen Diskurse bereichern kann und dies in den meisten Fällen auch tut. 206 Vgl. Huber, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 24), S. 78, nach dem die Beteiligung der Staatsrechtslehre „geradezu zu den Erfolgsbedingungen einer ehrenamtlichen Verfassungsgerichtsbarkeit“ zählt. 207 Krahnenpohl, Beratungsgeheimnis (Fn. 61), S. 205. Mit selbstgefälliger Polemik hiergegen Martin Pagenkopf, Fachkompetenz und Legitimation der Richter des BVerfG, ZRP 2011, S. 229 f. 208 Analytisch Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 319 (346). Kritisch zu den daraus folgenden wissenschaftlichen Theoriedefi ziten Jestaedt, Verfassung (Fn. 53), S. 32 ff.; kritisch zum deutschen Sonderweg und Machtanspruch der Dogmatik Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 39 (46 ff.). 209 Andreas Voßkuhle, Die politische Dimension der Staatsrechtslehre, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 135 (146).
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von außen und eine diskursive Abschottung gegenüber rechtsdogmatischer oder methodischer Innovation bzw. Rechtsprechungskritik sein kann. Selten wird der Überhang an Professoren am Bundesverfassungsgericht offen beklagt.210 Die Dominanz der Hochschullehrer birgt indes bei allen Vorzügen durchaus auch ihre Nachteile. So sind der eigentümliche Entscheidungsstil – der Hang zu lehrbuchartig begründeten Entscheidungen und die breite Entfaltung nicht unmittelbar entscheidungserheblicher dogmatischer Aussagen – am Bundesverfassungsgericht wohl auch mit der (zu) starken Präsenz von Hochschullehrern in beiden Senaten zu erklären.211 Eine mittelbare Folge hiervon ist eine ungemeine Maßstabsverdichtung.212 Auf der Gesetzgebung lastet heute der erdrückende Ballast von bald 130 Bänden der amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts, ohne dass ein adäquates methodisches Handwerkszeug entwickelt worden wäre, die Last (etwa durch Verzeitlichung) abzutragen.213 Die anspruchsvolle Aufgabe der dogmatischen Deutung und Aufarbeitung des Rechtsprechungsmaterials sichert wiederum der Rechtswissenschaft ihren eigentlichen – nicht-autoritativen – Herrschaftsanspruch. Ein Legitimationsgewinn liegt in dieser Expertifizierung jedenfalls nicht.214 Demokratische Reaktionsmöglichkeiten sind auf Grund der verfahrensrechtlichen Änderungsresistenz von Verfassungen begrenzt und führen, wenn es zu einer Änderung kommt, oft zu verästelten Detailregelungen nach dem – für Textstufenanalytiker einem Ästhetikschock gleich kommenden – Muster des viel gescholtenen Art. 16a GG, der seinerseits – notabene – nur Abbild der Filigranität einer zuvor von der Rechtsprechung etablierten Verfassungsrechtsdogmatik ist, die man zu korrigieren versuchte.215 Auch wenn die Landesverfassungsrechtsprechung – nicht zuletzt bedingt durch den engeren Gerichtszugang – bei weitem noch nicht die Dichte der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erreicht hat und sich amtliche Entscheidungssammlungen bislang auf Anhänge zum jeweiligen Publikationsorgan des Oberverwaltungsgerichts/Verwaltungsgerichtshofs beschränken, haben eine Akademisierung und ein kommunikativer Überhang auch hier längst Einzug gehalten. Dies bedarf zumindest der Beobachtung. Eine maßvolle Gewichtsverlagerung von Rechtsprofessoren zu anderen juristischen Professionen und vor allem zu politisch erfahrenen Juristen würde nicht notwendigerweise zu einem – selbstredend seinerseits zu vermeidenden – Verlust des verfassungsrechtsdogmatischen Argumentationsniveaus führen. Bereits die Dominanz der Hochschullehrer auf der Seite der Prozessvertreter vor Verfassungsgerichten (vgl. stellvertretend § 22 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, 210
Positive Ausnahme Häberle (Fn. 51), S. 686. In diesem Sinne auch Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht (Fn. 62), S. 124 ff.; Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 364. 212 Nochmals Lepsius, Maßstabssetzende Gewalt (Fn. 89), S. 159 ff. 213 Lepsius, Amerikanische Rechtswissenschaft (Fn. 202), S. 354 ff. 214 Vgl. Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 351 ff. 215 Klaus Ferdinand Gärditz, Das Sonderverwaltungsprozessrecht des Asylverfahrens, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 689 (692). Kritik an solchen Bestimmungen ist Legion. Stellvertretend Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 73, Rn. 54; Johannes Masing, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. (2004), Art. 16a Rn. 30; Christoph Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 61. Diese löst jedoch nicht das Problem, dass der Gesetzgeber praktisch keine anderen Handlungsmöglichkeiten hatte und legistische Zurückhaltung erfahrungsgemäß gerade nicht mit judicial self-restraint beantwortet wird. 211
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§ 17 Abs. 1 NWVerfGHG) 216 stellt eine Rückanbindung an die verfassungsrechtswissenschaftlichen Diskurse auf anderem Wege flankierend sowie gegenstandsadäquat sicher. Will man die Rückanbindung an die akademische Diskussion förmlich institutionalisieren, böte sich eher das geglückte hessische Modell einer – dann traditionell mit Hochschullehrern zu besetzenden – Landesanwaltschaft (§ 10 HessStGHG) an und nicht die übermäßige Professoralisierung der Richterbank.
b) Richter mit politischer Erfahrung Der amtierende Präsident des Deutschen Bundestags formulierte vor einiger Zeit die markante Maxime, Verfassungsrichter, die nur etwas von Rechtswissenschaft verstünden, aber nicht von Politik, seien nicht wählbar. Dies ist zwar einseitig,217 aber nicht unbedingt falsch, wenn lediglich darauf hingewiesen werden sollte, dass auch ein Verfassungsgericht selbstverständlich für die Lebenssachverhalte, die den ihm unterbreiteten Streitgegenständen zugrunde liegen, ein kontextsensibles Verständnis entwickeln muss. Hierfür muss man kein Berufspolitiker gewesen sein. Die mit der Ernennung von Berufspolitikern zu Verfassungsrichtern bisweilen erkennbar verbundene Hoffnung, politisch erfahrene Akteure würden auf Grund ihres Verständnisses für die politischen Entscheidungsprozesse die Politik auch als Richter schonen, ist freilich nicht nur für eine Richterwahlentscheidung funktionsinadäquat, sondern mehr als trügerisch. Auch der vormalige Politiker wächst nach aller Erfahrung in sein Richteramt; und die Amtspfl icht eines Verfassungsrichters ist es, die Bindung an das geltende Verfassungsrecht (Art. 20 Abs. 3 GG) im Prozess zu aktualisieren, und zwar gerade dann, wenn dies den jeweiligen politischen Mehrheiten lästig ist. Der Eigenwert politischer Erfahrung auf der Richterbank besteht daher nicht darin, eine präterlegale Rücksichtnahme auf die politischen Entscheidungsträger in Parlament und Regierung zu institutionalisieren, sondern zu verhindern, dass bei der verfassungsrechtlichen Maßstabsbildung argumentative Perspektiven verloren gehen, die gerade für eine politisch sensible Interpretation der Verfassung wichtig sind. Die bisherigen Erfahrungen dürften indizieren, dass frühere Tätigkeiten innerhalb der Politik oder in ihrem (rechtsberatenden) Umfeld nicht notwendig zu einer stärkeren parteipolitischen Aufladung der Rechtsprechung führen. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass Erfahrung im Umgang mit dem politischen Betrieb auch zur Sensibilität für soziale Kontexte und damit zu einer gewissen Resistenz gegenüber externen Erwartungshaltungen führt. Zudem wird sich ein politisch (vermeintlich) eindeutig zuordenbarer Richter in der Regel seiner besonderen Verantwortung und der gerade auf ihm lastenden Blicke der (Fach)Öffentlichkeit bewusst sein. Dies ist eine Last, die etwa ein in juristisch-professionelles Gewand gekleideter Hochschullehrer oder Berufsrichter kaum zu tragen hat, obschon auch diese Personalgruppen vereinzelt eine hidden agenda verfolgen können, zumal der berufl iche Einstieg in das Richteramt nicht selten ebenfalls (nicht notwendig illegitim) einer unterschiedlichen Berührung 216
Zutreffend Voßkuhle, Staatsrechtslehre (Fn. 203), S. 147. Man mag etwa fragen, ob man ein besserer Richter ist, wenn man vornehmlich etwas von Politik, aber wenig von Rechtswissenschaft versteht. 217
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mit dem jeweiligen politischen Milieu zu verdanken ist.218 Als politisch heikel wahrgenommene – und insoweit teils sowohl methodisch wie auch politisch kritisierte, teils bei Affi nität zu eigenen politischen Wertungen mit Applaus bedachte219 – Impulse und Kehrtwenden gerade in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gingen meist gerade von Hochschullehrern aus, weniger von ehemaligen Berufspolitikern. Mit der Parlaments- und/oder Regierungspraxis vertraute Praktiker aus dem politischen Betrieb wären an einem Verfassungsgericht – kraftvoll: „oberstes Gericht für staatsrechtliche Fragen“ (Art. 60 BayVerf ) – gegenstandsbedingt eigentlich unverzichtbar.220 Ganz überwiegend positive Erfahrungen am Bundesverfassungsgericht mit ehemaligen Politikern sprächen mithin dafür, die Richterbänke der (Landes-) Verfassungsgerichte stärker auch mit dieser Personalgruppe anzureichern. Einen Mangel an Juristen hat die berufspolitische Arena gewiss nicht zu verzeichnen, auch wenn selbstredend nicht jeder Berufspolitiker mit Staatsexamen fachlich hinreichend qualifiziert und zudem eine geeignete Richterpersönlichkeit ist. Insbesondere parteipolitisch polarisierende Persönlichkeiten sind nicht nur schwer vermittelbar, sondern würden auch die Akzeptanz der Entscheidungen des Gerichts untergraben sowie in Verfahren häufig zum Anschein der Voreingenommenheit führen. Der Kreis potentieller Kandidaten verringert sich vor allem dadurch, dass nur ehemalige Berufspolitiker für ein Richteramt ernsthaft in Betracht kommen, weil eine aktive Nähe zur Politik ebenfalls mit den Funktionsbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit unvereinbar wäre. Da herausgehobene Funktionen in politischen Parteien oder Verbänden – anders als bestimmte Ämter im öffentlichen Dienst – keine gesetzlichen Inkompatibilitäten begründen, bedarf es hier besonderer Sorgfalt bei der Richterauswahl und ggf. der Bereitschaft, solche Funktionen mit Antritt des Richteramtes niederzulegen.221 Erfahrene ehemalige Berufspolitiker wären schließlich, sofern sie denn zur Verfügung stünden, ein geeignetes Gegengewicht zur dominanten Professorenschaft und könnten den Hang zum Überhang in der Entscheidungsfindung durch das Gegengewicht praktisch geerdeter Begrenzungsstrategien ausbalancieren.222 Ob sich die damit eröffneten positiven Wirkungschancen in der Praxis zur Entfaltung bringen lassen, hängt entscheidend von der gewählten Person ab. Gegenüber dem geballten Sachverstand von Berufsrichtern und Hochschullehrern wird sich nur derjenige behaupten können, der nicht nur über politische Erfahrung, sondern auch über fachjuristischen Sachverstand verfügt, um seine Argumente auf Augenhöhe einbringen zu können. Hier liegt dann auch das eigentliche Problem. 218 Siehe zur partiellen Politiknähe der Staatsrechtslehre anschaulich, obschon bisweilen überpointiert Voßkuhle, Staatsrechtslehre (Fn. 203), S. 143 ff. 219 Scharfsichtig hierzu Uwe Volkmann, Was uns trägt – Wie kommt das Bundesverfassungsgericht zu seiner Entscheidung, in: Reinhard Müller (Hrsg.), Staat und Recht, 2011, S. 246 (249). 220 Häberle (Fn. 51), S. 686. 221 So spricht es nicht unbedingt für große Amtssensibilität, wenn in Nordrhein-Westfalen ein Verfassungsrichter (und zuvor zudem amtierender Gerichtspräsident) weiterhin das Amt des Vorsitzenden eines großen Unterbezirks einer Volkspartei ausübt. Für das operative Geschäft ist diese prononcierte Nähe zur Politik nicht folgenlos geblieben – und gelegentliche Befangenheitserklärungen ändern nichts am strukturellen Problem in einer Gerichtsbarkeit, die vornehmlich auch (partei)politisch aufgeladene Verfahren zu entscheiden hat. 222 Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 363.
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Auf der Ebene der Landesverfassungsgerichtsbarkeit wurde die Chance – vielleicht bisweilen auch in Ermangelung geeigneter Kandidaten – jedenfalls nicht ergriffen.223 Insgesamt fi nden sich nur wenige ehemalige Berufspolitiker unter den Landesverfassungsrichtern, davon drei in Bayern,224 zwei in Hamburg, zwei in Hessen und einer im Saarland.
c) Sonstiger juristischer Sachverstand Neben den Professoren fi nden sich unter den Landesverfassungsrichtern – im deutlichen Kontrast zum Bundesverfassungsgericht225 – erfreulich viele Rechtsanwälte, nämlich insgesamt 24 an den 16 Gerichten. Rechtsanwälte sind schon deshalb geeignete Verfassungsrichter, weil sie den Prozess der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts aus einer anderer Perspektive kennen gelernt haben, die für Verfassungsgerichte, insbesondere wenn eine Verfassungsbeschwerde (in Bayern zudem die Popularklage) verfassungsprozessualen Individualrechtsschutz eröffnet, wesentlich ist: der Kampf des Einzelnen um ‚sein Recht‘.226 Der Erfahrungsschatz als Rechtsanwalt wäre für jedes Richteramt – auch an den Fachgerichten – von Vorteil, geht aber dem prononciert als eigenständige Lauf bahn ausgestalteten deutschen Richterdienstrecht überwiegend verloren. Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit bietet sich für Rechtsanwälte auch deshalb als Betätigungsfeld besonders an, weil die Belastung durch das Richteramt in der Regel eine nebenberufl iche Ausübung noch zulässt. In Hessen ist derzeit ein Rechtsanwalt (erneut) sogar Präsident des Staatsgerichtshofs. Die deutliche Sichtbarkeit der Anwaltschaft, deren Mitglieder als selbstständige Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAO) einen wesentlichen Anteil an der praktischen Operationalisierung des geltenden Rechts in seinen sozialen Kontexten haben, könnte auch ein Vorbild für das Bundesverfassungsgericht sein. Andere juristische Berufe sind an Landesverfassungsgerichten hingegen nur marginal vertreten, was auch darauf zurückzuführen ist, dass Tätigkeiten in der Exekutive in der Regel unvereinbar mit dem Richteramt sind, weshalb eine breite juristische Personalressource von vornherein nicht zur Verfügung steht. Drei Verwaltungsbeamte (einer in Hamburg, zwei in Rheinland-Pfalz) bilden die – durchaus nicht unproblematischen 227 – Ausnahmen. Ansonsten fi nden sich zwei Notare und ein Oberlandeskirchenrat unter den Landesverfassungsrichtern. 223 Auch auf der Bundesebene sind Politiker auf der Richterbank eine Ausnahme, vgl. Möllers, Legalität (Fn. 55), S. 361. Ein Fehlen gerade parlamentarischer Erfahrung beklagt Ulrich Wenner (Fn. 188), S. 220. 224 Einer war immerhin früher Bundesminister sowie ehemaliger Oberbürgermeister von München und ehemaliger SPD-Bundesfraktionsvorsitzender. 225 Vgl. Lechner/Zuck (Fn. 154), § 2 Rn. 11. Dass ein Rechtsanwalt Bundesverfassungsrichter sein kann, folgt unmittelbar aus § 104 Abs. 1 BVerfGG. 226 Engagiertes Plädoyer Rüdiger Zuck, Kämpfer für das Recht gesucht, in: Reinhard Müller (Hrsg.), Staat und Recht, 2011, S. 268 ff. Dies gilt in Sonderheit für Strafverteidiger; etwa die Richterbank des BbgVerfG hat ein Mitglied, das exponiert im Hauptberuf als einer der angesehensten deutschen Strafverteidiger tätig ist. 227 Berücksichtigt man die nicht nur theoretische, sondern auch in der konkreten Spruchpraxis zum Ausdruck kommende Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung zum Kommunalverfassungsrecht, er-
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Naturgemäß finden sich unter den Juristenpersönlichkeiten, die für eine Wahl an das jeweilige Verfassungsgericht in Betracht kommen, auch Praktiker aus juristischen Berufen, die sich um die Fortbildung des Landesverfassungsrechts verdient gemacht haben.228 Im Saarland ist aus dem Kreis der Mitglieder des Verfassungsgerichts heraus sogar ein Kommentierungsprojekt der Landesverfassung entstanden, in das auch gerichtsexterne Autoren eingebunden werden konnten.229 Und die Mitwirkung von Verfassungsrichtern an landesverfassungsrechtlichen Werken ist verbreitet.230 Solches publizistisches Wirken von Verfassungsrichtern ist zwar ambivalent, da Rollenkonfl ikte zwischen Richteramt und wissenschaftlichem Anspruch nicht auszuschließen sind,231 stellt aber meist doch eher eine sachgerechte Kommunikationsform für abstrakte Vorüberlegungen und Anschauungen der Richterschaft dar, die durch wissenschaftliche Veröffentlichungen nur transparent und damit präventiv einer Auseinandersetzung (nicht zuletzt in der Wissenschaftsöffentlichkeit) zugänglich gemacht werden. Wenn Verfassungsrichter als Private ihre wissenschaftliche Auffassung ohne die Autorität der Amtlichkeit und ohne Bindung des Gerichts veröffentlichen, ist dies allemal besser, als einen vom Streitgegenstand nicht geforderten akademischen Überhang in Gerichtsurteile zu projizieren, die dann – obschon als Traktat gefasst – zum Ausgangspunkt politischer Exegese unter Berufung auf die Autorität des Gerichts mutieren. Und ein selbstbewusster Verfassungsrichter wird sich der sozialen Rollendifferenzierung zwischen Richteramt und wissenschaftlichem Akteur bewusst sein und entsprechend differenziert agieren. An Landesverfassungsgerichten, die ehrenamtlich besetzt sind, wäre ein Postulat publizistischer Zurückhaltung zudem für die allgegenwärtigen Hochschullehrer nicht zumutbar und gemessen an ihrer besonderen Brückenfunktion in die Staatsrechtslehre schlechterdings dysfunktional.
d) Gerichtsbesetzung unter dem Primat fachlicher Professionalität In der Gesamtbilanz zeigt sich, dass offenbar das Vertrauen in die fachliche Professionalität einer juristisch ausgebildeten und im Kern aus Berufsrichtern bestehenden Verfassungsrichterschaft232 die Besetzung der Richterbänke dominiert, und zwar trotz (oder gerade auf Grund?) der stärkeren Politisierung des Richterwahlverfahrens. Auch das Landesrecht hat sich also ganz dem legalistischen Verfassungsverständnis deutscher Prägung verschrieben und aus den Landesverfassungsgerichten personell eher kleine Abbilder des Bundesverfassungsgerichts geformt. Von der Fülle an Optionen, die das Landes(verfassungs)recht bietet, die Richterbank in berufl icher scheint die Besetzung der Richterbank des RhPf VerfGH mit einem Landrat und einer leitenden Kommunalbeamtin nicht sonderlich funktionsadäquat. 228 Beispielsweise der Verfasser des Standardkommentars zur Hamburgischen Verfassung: Klaus David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 2. Aufl. (2004). 229 Wendt/Rixecker (Fn. 3). 230 Mancher Kommentator fi ndet sich später auf der Richterbank wieder, so etwa Wolfgang Löwer (seit 2006 Richter am NWVerfGH), der einen maßgeblichen Kommentar zur Landesverfassung in NW (Fn. 99) herausgibt und als Autor bearbeitet. 231 Überkritisch Voßkuhle (Fn. 203), S. 157. 232 Hierfür akzentuiert etwa Huber, Landesverfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 24), S. 78; kritisch Finkelnburg (Fn. 189), S. 18.
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und sozialer Hinsicht zu pluralisieren, wurde praktisch kein Gebrauch gemacht. Vom Recht optional für Nichtjuristen freigehaltene Stellen werden vorsichtshalber zur Vermeidung unnötiger Irritationen im juristischen Weltbild mit Volljuristen unterschiedlicher Provenienz besetzt. Dies muss für die Außenwahrnehmung des Gerichts nicht von Nachteil sein und stärkt gewiss die Professionalität der Spruchpraxis, lässt aber zumindest Chancen ungenutzt, abweichende Regelungsansätze im föderalen Labor des Landesverfassungsrechts experimentell zu erproben. Dies ist nur eine weitere Arabeske in einem fi ligranen Bundesstaat ohne echte Föderalisten – das Vertrauen in die Kraft der Vielfalt wird durch ein bürokratiefi xiertes Rechtsstaatsvertrauen ersetzt. Es nimmt nicht wunder, dass Landesverfassungsgerichte dann eher als dezentrale Hilfsorgane des Bundesverfassungsgerichts wahrgenommen und behandelt werden, die schnellere Entscheidungen versprechen, der Arbeitsentlastung in Karlsruhe dienen und ansonsten (vor allem grundrechtlich) auf Linie gebracht werden – ein Schicksal, mit dem das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf seine supranationale Verflechtung inzwischen ebenfalls zu kämpfen hat.233 Professionalisierung durch Stärkung des berufsrichterlichen Elements kann auch eine stärkere Hinwendung zu einem verwaltungsgerichtlichen Entscheidungsstil bewirken, der durch große Routine und Sachkunde, seltener aber durch Kreativität auffällt. Die Besetzung mit berufsrichterlichen Mitgliedern hat freilich auch Vorteile. Es kommt zu einer professionell routinierten Annäherung des Entscheidungsstils an ein Fachgericht. Dies ist jedenfalls strukturell geeignet, die Fallbezogenheit des Begründungsstils stärker in den Vordergrund zu rücken, damit zugleich den Überhang an abstrakt-genereller Maßstabsbildung auf Augenhöhe mit dem Gesetzgeber zu reduzieren, abstrakt-generelle Höhenflüge (wie die gefürchteten staatstheoretisch inspirierten Exkurse des Bundesverfassungsgerichts234) zurückzudrängen und damit letztlich auch die Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung für die politischen Organe zu erhöhen. Ausgewogenheit und Vielfalt der Besetzung der Richterbänke und damit eine Balance auch der unterschiedlichen Methoden von Herstellung sowie Darstellung von Entscheidungen 235 stünden den Verfassungsgerichten des Bundes und der Länder daher gleichermaßen gut zu Gesicht.
4. Frauenanteil Der Anteil von Frauen an Verfassungsgerichten und eine mögliche Bedeutung für Stile und Inhalte der Entscheidungsfindung haben – ungeachtet der erkannten politischen Bedeutung, die sich zuverlässig im Begleitdisput zur Besetzung von bedeutenden Richterämtern ventiliert – bislang eher am Rande Aufmerksamkeit erfahren.236 Eine solche Diskussion ist wichtig, sollte aber Bestandteil einer allgemeinen 233 Katalysator, auch die rein inländische Grundrechtsanwendung zunehmend einer unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen, könnte hierbei folgende Entscheidung sein: EuGH, Urt. v. 8. 3. 2011, Rs. C-34/09 (Zambrano), NVwZ 2011, 545. 234 Harsche Kritik bei Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah?, Der Staat 48 (2009), S. 498 ff. 235 Siehe Hoffmann-Riem (Fn. 130). 236 Bilanzierend und Fragestellungen formulierend Katja Gelinsky, Wise Old Men and Wise Old
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Pluralitätsdebatte sein, schon um einen eher kontraproduktiven binären Schematismus zu vermeiden und um andere Fragen pluralistischer Repräsentanz nicht aus dem Auge zu verlieren.237 Ungeachtet dessen verdient der Frauenanteil als ein wichtiger und vor allem objektivierbarer Indikator der Problemwahrnehmungssensibilität eines Gerichts selbstredend ebenso weiterhin Aufmerksamkeit, wie das Anliegen einer insoweit ausgewogenen Richterbank legitim ist. Ausdrückliche (und symmetrisch gefasste) Regelungen enthalten § 1 Abs. 3 BerlVerfGHG, § 2 Abs. 2 BbgVerfGG und § 1 Abs. 2 Satz 3 NdsStGHG für die jeweils neun Verfassungsrichter: Frauen und Männer müssen (Berlin) bzw. sollen (Brandenburg, Niedersachsen) jeweils mindestens drei der Verfassungsrichter stellen.238 Die Richterbänke der meisten Landesverfassungsgerichte sind etwa mit einem Viertel bis einem Drittel mit Frauen besetzt,239 was auch in etwa das Gesamtbild der Senate am Bundesverfassungsgericht widerspiegelt. Ein höherer Anteil findet sich in Berlin und Brandenburg (jeweils vier von neun Richtern). Lediglich in Bremen stellen Frauen die Mehrheit (fünf von sieben Richtern), was – wie dargelegt – nicht unwesentlich auch auf eine äußerst gelungene Anwerbung von Professorinnen nicht bremischer Universitäten zurückzuführen ist. Eine deutliche Unterrepräsentanz besteht in Mecklenburg-Vorpommern (eine Richterin, die zugleich Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts ist), in Hamburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen (jeweils zwei von neun Richtern). In Baden-Württemberg sind die zwei weiblichen Mitglieder des Gerichts Nichtjuristen. Abgeschlagen fällt Hessen mit einer Richterin von elf Richtern zurück (nicht berücksichtigt freilich die amtierende Landesanwältin).
V. Das Dienstrecht der Landesverfassungsrichter Ein weitgehend ungeregelter und kaum beachteter Grenzbereich des grundsätzlich dem allgemeinen Beamtenrecht nachgebildeten (vgl. § 71 DRiG, § 4 NWRiG) Richterdienstrechts ist das Dienstrecht der Landesverfassungsrichter, zu dem einige knappe Anmerkungen nicht fehlen sollen.
1. Anwendbarkeit des allgemeinen Richterdienstrechts? Das DRiG gilt grundsätzlich nicht für Landesverfassungsrichter. § 84 DRiG stellt es vielmehr den Ländern frei, den Umfang der Geltung festzulegen. Grund hierfür ist die fehlende Regelungskompetenz des Bundes (siehe oben sub II.). Entsprechendes Women – Vom Rätselraten über den Einfluss der Frauen am Bundesverfassungsgericht und am Supreme Court, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Herzkammern der Republik – Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 82 ff. 237 Gelinsky, Frauen am Bundesverfassungsgericht (Fn. 234), S. 108 f. 238 Hierzu Wolnicki (Fn. 78), S. 50; Sodan, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 183), S. 649. Tendenziell kritisch Sebastian Wille, Der Berliner Verfassungsgerichtshof, 1993, S. 43 f. 239 Bayern: 6 Berufsrichterinnen unter 23 Berufsrichtern, 3 Frauen unter den 15 nichtberufsrichterlichen Mitgliedern; Niedersachsen: 3 von 9; Nordrhein-Westfalen: 2 von 7 (davon eine OLG-Präsidentin kraft Amtes); Saarland: 2 von 8; Land Sachsen-Anhalt: 3 von 7; Schleswig-Holstein: 2 von 7; Thüringen: 3 von 9.
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muss für das Richterdienstrecht in den Ländern gelten, für das der Bund zwar nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG grundsätzlich über eine Kompetenz verfügt, die sich aber nicht auf die Regelung besonderer Amtsverhältnisse nach materiellem Landesstaatsrecht (Landesverfassungsrichter eingeschlossen) erstreckt.240 Das DRiG setzt mit der eröffneten Anwendungsoption aber immerhin voraus, dass Landesverfassungsrichter ebenfalls Richter im Sinne dieses Gesetzes sind.241 Sind Landesverfassungsrichter im Hauptamt Berufsrichter und lediglich nebenamtlich Verfassungsrichter, so gilt das DRiG zwar uneingeschränkt für das Hauptamt, nicht jedoch für das verfassungsrichterliche Nebenamt.242 Die häufigste Gruppe hauptberufl icher Beamter (im Sinne des BeamtStG), die ein Amt als Verfassungsrichter bekleiden, sind die Hochschullehrer, deren beamtenrechtliches Dienstverhältnis von der Richtertätigkeit unberührt bleibt, die im Hinblick auf eine richterähnliche Unabhängigkeit qua Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) 243 aber auch im Hauptamt hinreichend persönlich abgesichert sind, um das Richteramt adäquat und unbeeinträchtigt auszufüllen. Die Wahrnehmung eines Verfassungsrichteramtes ermöglicht hier – abhängig vom Aufwand – unter Umständen eine Reduktion des Lehrdeputats wegen der Wahrnehmung anderer Dienstaufgaben im öffentlichen Interesse. 244 Auch wenn das Amtsrecht der Landesverfassungsrichter – mangels spezifischen Regelungsbedarfs – in der Regel fragmentarisch geblieben ist, kann auf ungeregelte Sachverhalte nicht ohne weiteres sinngemäß das DRiG angewendet werden.245 Vielmehr muss die normative Ausdeutung aus Kompetenzgründen beim einschlägigen Landesrecht, also bei den Verfassungsgerichtsgesetzen, ansetzen. Diese werden in der Regel richterdienstspezifische Fragen ungeregelt gelassen haben, weil Regelungsbedarf augenscheinlich nur besteht, soweit vom jeweiligen Landesrichtergesetz abweichende Regelungen getroffen werden. Dann fi ndet das Landesrichterdienstrecht aber in der Regel jedenfalls qua impliziter Verweisung Anwendung.246 Das Landesrecht kann wiederum die Anwendbarkeit von Bestimmungen des DRiG voraussetzen, da dieses als Statusrecht auch für Richter im Landesdienst unmittelbar geltende Regelungen enthält. Diese Regelungen, ohne die ein Landesrichtergesetz unvollständig bliebe, müssen dann ggf. bei der Interpretation mitberücksichtigt (bzw. reimplantiert) werden. Zufriedenstellend ist dies nicht. Erfreulich sind demgegenüber Klarstellungen wie in § 5 Abs. 1 Satz 2 SächsVerfGHG und § 5 Abs. 1 Satz 2 NdsStGHG, 240 Etwa die Amtsverhältnisse von Landtagsabgeordneten oder Landesministern können danach nur durch Landesrecht näher ausgestaltet werden. Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG ist im Wesentlichen eine Kompetenz, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums näher auszuformen und fortzuentwickeln. So Stefan Oeter, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. (2010), Art. 74 Rn. 177. Verfassungsunmittelbare Ämter sind hiervon aber schon auf Grund ihrer Atypik nicht erfasst. 241 Jürgen Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 6. Aufl. (2009), § 84 Rn. 2. 242 Schmidt-Räntsch, DRiG (Fn. 239), § 84 Rn. 2; Horst Arndt/Otto Mühl, in: Walther Fürst/dies. (Hrsg.), Richtergesetz, Erläuterung zu § 84. 243 Vgl. bereits Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. (1933), Art. 142, Anm. 4 (S. 663). 244 Vgl. z. B. für Nordrhein-Westfalen § 5 Abs. 2 Verordnung über die Lehrverpfl ichtung an Universitäten und Fachhochschulen (Lehrverpfl ichtungsverordnung – LVV) v. 24. 6. 2009 (GVBl. S. 409). 245 So aber Horst Arndt/Otto Mühl, Richtergesetz (Fn. 240). 246 Negativregelung aber etwa in § 1 Abs. 2 BerlRiG: „Die Rechtsstellung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs bleibt unberührt.“
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die das DRiG und das einschlägige Landesrichtergesetz jeweils auch für Verfassungsrichter für entsprechend anwendbar erklären.
2. Verfassungsrichteramt als Ehrenamt Der Status der Landesverfassungsrichter beruht ganz überwiegend auf dem Grundsatz der Ehrenamtlichkeit, was einige Landesgesetze ausdrücklich vorgeschrieben haben 247 und was sich in den anderen Fällen implizit aus dem Entschädigungsrecht ergibt. Teils üben berufsrichterliche Mitglieder ihr Amt aber auch als Nebenamt aus.248 Bisweilen wird ein Vorrang der Pfl ichten als Verfassungsrichter gegenüber anderen richterlichen Pfl ichten ausdrücklich festgeschrieben,249 was bei verfassungskonformer Auslegung freilich nicht dazu führen darf, dass hauptamtliche Berufsrichter ihre nach Bundesprozessrecht bestehenden Amtspfl ichten in rechtswidriger Weise zu Gunsten ihres Verfassungsrichteramtes zurückstellen. Eine Ernennung zum hauptamtlichen Verfassungsrichter (Amt nach Besoldungsstufe R 3) im Fall eines entsprechenden Geschäftsanfalls kennen Berlin und Brandenburg.250
3. Richterentschädigung Die Entschädigung der Richter ist im Hinblick auf den mittelbaren Schutz der richterlichen Unabhängigkeit eine wesentliche Frage der Ausgestaltung des Dienstverhältnisses und bedarf daher im Grundsatz einer formellgesetzlichen Regelung. Die meisten Länder sind dem nachgekommen. Es gibt grundsätzlich drei Modelle, wie die ehrenamtlichen Landesverfassungsrichter für ihre Amtstätigkeit entschädigt werden. Teils wird eine pauschale monatliche Entschädigung gewährt,251 teils ein 247 Ausdrücklich etwa § 7 Abs. 1 BaWüStGHG; § 2 Abs. 6 BremStGHG; § 8 Abs. 1 LSAVerfGHG; § 5 Abs. 1 Satz 1 NdsStGHG; § 5 Abs. 1 Satz 3 SächsVerfGHG; § 8 Abs. 2 SchlHLVerfGG; § 9 Abs. 1 Satz 1 ThürVerfGHG. 248 So § 5 Abs. 1 Satz 1 SächsVerfGHG. 249 Art. 8 Satz 1 BayVerfGHG § 1 Abs. 1 GeschO RhPf VerfGH, § 8 Abs. 2 LSAVerfGG; § 5 Abs. 2 NdsStGH; § 5 SaarVerfGHG, § 8 Abs. 2 LSAVerfGG, § 8 Abs. 3 SchlHLVerfGG. Für funktionsnotwendig erachtet von von Lampe (Fn. 148), Art. 84 Rn. 14. 250 § 13 Abs. 4 BerlVerGHG; § 9 Abs. 3 BbgVerfGG. Zum Hintergrund von Lampe (Fn. 148), Art. 84 Rn. 13: Unsicherheit im Parlament über eine mögliche Überlastung des Gerichts. Auch die hauptamtlichen Richter werden nur auf Zeit ernannt, was nur deshalb möglich ist, weil die Sperrvorschrift des § 11 DRiG aus Kompetenzgründen und nach § 84 DRiG nicht anwendbar ist. War der ernannte Richter zuvor in einem anderen Amtsverhältnis, ist er auf Antrag entsprechend § 11 BgbRiG i. V. mit § 121 Abs. 6 LBG Bbg nach Ablauf der Richteramtszeit in das frühere Amtsverhältnis zu übernehmen. In Berlin bereitet dies im Hinblick auf § 1 Abs. 2 BerlRiG Schwierigkeiten, obschon § 19 BerlRiG eine entsprechende Verweisung auf das LBG Berl kennt, das freilich keine abweichende Regelung im Sinne des § 22 Abs. 3 BeamtStG enthält, vgl. § 95 LBG Berl. Ein automatischer Rückfall in das frühere Amt ist daher nicht möglich. Die hauptamtlichen Verfassungsrichter auf Zeit befi nden sich daher in einer durchaus prekären Situation. Dass ein Regelungsdefi zit besteht, konstatiert auch Wille, Verfassungsgerichtshof (Fn. 236), S. 60 f., ohne dies näher zu vertiefen. 251 § 9 Abs. 1 BbgVerfGG; § 13 BremStGHG; § 65 MVVerfGHG; § 5 Abs. 3 NdsStGHG; § 46 Abs. 1 SächsVerfGHG.
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Sitzungsgeld,252 teils aber auch eine Kombination aus Grund- und fallabhängiger Aufwandsentschädigung,253 deren Gesamthöhe sich meist im Bereich zwischen 200 und 700 Euro monatlich bewegt und bemerkenswerterweise auch schon einmal von einem amtierenden Verfassungsgerichtspräsidenten als unangemessen niedrig beanstandet wurde.254 Teilweise wird die Entschädigung reduziert, wenn der Richter bereits aus einem öffentlichen Amt besoldet wird; 255 dahinter steht das allgemeine – obschon durchaus kritisch zu hinterfragende – dienstrechtliche Motiv, Doppelalimentierung zu vermeiden respektive zu begrenzen, da der Amtsinhaber bereits aus seinem Hauptamt angemessen alimentiert werde und daher keine weitere Belastung öffentlicher Kassen geboten sei.256 Teilweise ist zudem ein Berichterstatterbonus vorgesehen,257 mit dem zwar durchaus nachvollziehbar ein Mehraufwand des Berichterstatters abgegolten wird, der aber als sozialer Mechanismus der Verantwortungskonzentration ein Stück weit auch dazu führen kann, die Gesamtverantwortung sämtlicher Richter für die gemeinsame Entscheidungsfindung auf den Berichterstatter abzuwälzen. In Berlin wurde kurz nach der Wiedervereinigung versucht, die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs mit einer durchaus opulenten Entschädigung in Höhe der Bezüge der Mitglieder des Abgeordnetenhauses (für den Präsidenten sogar in doppelter Höhe) auszustatten.258 Das Gesetz stieß indes auf Widerstand in der Öffentlichkeit und musste daher kurz darauf – und noch vor der Wahl der Richterbank durch 252 § 7 Abs. 2 BaWüStGHG und § 55 Abs. 1 SchlHLVerfGG: 1/15 des Grundgehaltes B9 für jeden Sitzungstag. Dies entspricht knapp 650 Euro; ferner § 9 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG: 1/20 des Grundgehaltes B 9; § 14 HessStGHG, gekoppelt an Abgeordnetenentschädigung; § 8 Abs. 2 LSAVerfGG: 600 Euro. Als Ausdruck besonderer Bescheidenheit § 10 Abs. 1 RhPf VerfGHG: 205 Euro pro Sitzungsmonat. 253 Stellvertretend § 9 Abs. 1 VerfGHG: Aufwandsentschädigung in Form eines Sitzungsgeldes von 30 Euro sowie eine Zulage von 511,29 Euro (§ 9 Abs. 1 VerfGHG i. V. mit Nr. 2.2. der Anlage zum Landesbesoldungsgesetz). Ferner für ein Kombinationsmodell § 13 Abs. 1–2 BerlVerfGH, § 6 BremStGHG; § 7 SaarVerfGHG. 254 Michael Bertrams, Status, Organisation und Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofs, in: Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, 2002, S. 33 (46). In der Sache greift der Einwand nicht. Für die geborenen Mitglieder wird der Mehraufwand bereits über die Besoldung ihres Hauptamtes abgegolten. Die weiteren Mitglieder nehmen ein exzeptionelles Ehrenamt wahr, dessen Bekleidung im wörtlichen Sinne eine Ehre ist und bei denen die Entscheidung über die Zurverfügungstellung für das Amt nicht von der Feinjustierung der Sitzungsvergütung abhängen wird. Im Übrigen handelt es sich um einen Verfassungsgerichtshof, der nicht über normale Verfassungsbeschwerden zu entscheiden hat, weshalb die Verfahrensgrundlast vergleichsweise gering ist. 255 § 13 Abs. 3 BerlVerfGHG, § 9 Abs. 1 Satz 2 BbgVerfGG. 256 Siehe BVerfGE 55, 207 (239); BVerwGE 41, 316 (320 ff.); BVerwG, ZBR 2004, 52 (53). Ablehnend K. F. Gärditz, Zur beamtenrechtlichen Ablieferungspfl icht von Vergütungen aus wissenschaftlicher Nebentätigkeit im öffentlichen Dienst, JZ 2007, S. 521 ff.; Werner Thieme, Die Doppelalimentation, DVBl. 2001, 1025 (1026); Carl Hermann Ule, Bemerkungen zum Nebentätigkeitsrecht, in: Festschr. f. Werner Weber, 1974, S. 609 (615). 257 § 7 Abs. 4 BaWüStGHG; § 13 Abs. 2 Satz 2 BerlVerfGHG. 258 § 13 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof (VerfGHG) v. 8. November 1990 (GVBl. S. 2246): „Die Verfassungsrichter erhalten eine Aufwandsentschädigung in Höhe der Entschädigung, die ein Abgeordneter gemäß §§ 6, 21 des Landesabgeordnetengesetzes erhält. Die Aufwandsentschädigung beträgt für den Präsidenten das Doppelte, für den Vizepräsidenten das Eineinhalbfache der Aufwandsentschädigung eines Verfassungsrichters.“
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das Abgeordnetenhaus – revidiert werden.259 Da die ehrenamtliche Entschädigung des Richters einerseits keine amtsangemessene Alimentation darstellen soll, aus der der Richter seinen Lebensunterhalt bestreitet, eine Unteralimentation aber andererseits die persönliche Unabhängigkeit untergraben kann, wird man bei der Eignungsfeststellung im Rahmen der Richterwahl darauf zu achten haben, dass der Richter bereits aus einem Hauptamt angemessen alimentiert wird bzw. aus seinem Hauptberuf (etwa als Rechtsanwalt) über hinreichende Einkünfte verfügt.260
4. Nebentätigkeit Grundsätzlich sind zur Wahrung der richterlichen Neutralität und des öffentlichen Vertrauens in das Verfassungsrichteramt besonders strenge Maßstäbe an entgeltliche (nichtwissenschaftliche) Nebentätigkeiten zu stellen.261 Ein besonderes Problem entsteht dadurch, dass die landesgesetzlichen Regelungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit keine nebentätigkeitsrechtlichen Bestimmungen enthalten. Die Regelungen des allgemeinen Richterdienstrechts (vgl. insbesondere §§ 40 ff. DRiG) finden auch bei etwaigen Verweisungen grundsätzlich keine Anwendung, da sie auf die hauptamtliche Tätigkeit als Richter zugeschnitten sind und daher schon tatbestandlich die möglichen Konfl iktsituationen bei ehrenamtlich tätigen Verfassungsrichtern nicht angemessen erfassen können.262 Denn der Hauptberuf eines ehrenamtlichen Verfassungsrichters wird durch die Annahme des Richteramtes nicht beeinträchtigt und darf auch weiterhin ausgeübt werden, schon weil der Richter aus diesem Beruf seinen Lebensunterhalt bestreitet, der eine Wahrnehmung des Richteramtes erst wirtschaftlich möglich macht. So wäre es etwa gleichermaßen sinnwidrig wie unzumutbar, einem hauptberufl ichen Rechtsanwalt unter Verweis auf sein Verfassungsrichteramt nach § 41 Abs. 1 DRiG zu untersagen, entgeltliche Rechtsauskünfte zu erteilen. Ein Blick auf das allgemeine Beamtenrecht bekräftigt dies. Dieses erklärt nämlich die nebentätigkeitsrechtlichen Bestimmungen auf Ehrenbeamte generell für unanwendbar; 263 und auch § 41 Abs. 2 DRiG trägt diesen Erwägungen für bestimmte Amtswalter (Professoren mit Richteramt) Rechnung. Die Ausgestaltung als Ehrenamt und das Wahlverfahren setzen voraus, dass der Amtsinhaber über die persönliche Integri259
Art. I Erstes Änderungsgesetz v. 11. 12. 1991 (GVBl. S. 280). Als Richtwert für ein Mindesteinkommen kann die Besoldung nach R 1 BBesO zugrunde gelegt werden. Dass mit dem Verfassungsrichteramt eine höhere Verantwortung als mit dem Eingangsamt eines Richters einhergeht, ist unschädlich. Denn vorliegend geht es nicht um eine amtsangemessene Besoldung, sondern um ein Grundeinkommen, dass dem Verfassungsrichter ein hinreichendes Auskommen sichert und ihn insoweit nicht in Abhängigkeit von fremden Finanzierungsquellen bringt. Hieran hat sich aber bereits die Besoldung für Eingangsämter zu orientieren. 261 In diesem Sinne auch Geck, Amtsrecht (Fn. 49), S. 59 f. 262 § 2 DRiG stellt ausdrücklich klar, dass das DRiG ausschließlich auf Berufsrichter Anwendung fi ndet. Diese Bestimmung soll freilich allein das Verhältnis zu den ehrenamtlichen Richtern der Fachgerichtsbarkeiten klären. Dass eine Anwendbarkeit des DRiG auf Landesverfassungsrichter für möglich erachtet wurde, belegt wiederum § 84 DRiG. Dies entbindet aber nicht davon, die gegenständliche Anwendbarkeit der jeweiligen Einzelbestimmung auf den konkreten Status des Verfassungsrichters gesondert zu prüfen. 263 Stellvertretend § 133 Abs. 1 Nr. 2 BBG; § 108 Abs. 1 Nr. 2 LBG NW. 260
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tät verfügt, eigenverantwortlich potentiellen Konfl ikten mit seinem Richteramt aus dem Weg zu gehen. Sowohl mit richterdienstlichen Pfl ichten im Ehrenamt, die mit der Ernennung aus der Funktion des Richteramtes heraus verbunden sind, als auch mit anwaltlichen Berufspfl ichten (§ 43 Satz 2, § 43a Abs. 4 BRAO) unvereinbar ist es freilich, als Rechtsanwalt Parteien in Verfahren vor dem Verfassungsgericht zu vertreten, dem man selbst angehört, oder entsprechende Rechtsgutachten zu erstatten, die in Landesverfassungsprozessen vor dem einschlägigen Gericht Verwendung fi nden können.264 Entsprechendes gilt für Prozessvertretungen und Gutachtertätigkeiten von Hochschullehrern mit Richteramt in Bezug auf das jeweilige Landesverfassungsgericht. Verfassungsrichter, die ein Hauptamt im öffentlichen Dienst bekleiden (namentlich verbeamtete Hochschullehrer oder Berufsrichter), unterliegen zwar dem allgemeinen Nebentätigkeitsrecht, das eine Untersagung von Nebentätigkeiten ermöglicht, wenn dienstliche Interessen beeinträchtigt werden können (vgl. § 40 Satz 2 BeamtStG; § 51 Abs. 2 LBG NW). Dienstliche Interessen sind freilich nur solche des Dienstherrn des Beamten, der nicht mit dem Dienstherrn des Verfassungsrichters, dem jeweiligen Land, identisch sein muss (z. B. bei dienstherrenfähiger Hochschule oder bei länderübergreifender Richterrekrutierung); 265 und der zuständige Dienstvorgesetzte ist in der Regel nicht die geeignete Stelle, die besonderen Belange gerade der Verfassungsgerichtsbarkeit zu beurteilen: Dass beispielsweise der Rektor einer dienstherrenfähigen nordrhein-westfälischen Universität über die Untersagung einer rechtsgutachterlichen Tätigkeit eines Professors im Hinblick auf das Ansehen und die Neutralität des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen entscheiden soll, erscheint kaum funktionsadäquat. In der Sache scheidet daher das Nebentätigkeitsrecht als Instrument aus, um die Funktionsbedingungen in einem Ehrenamt als Verfassungsrichter zu stabilisieren. Allenfalls sehr grobe Pfl ichtverletzungen können durch eine Entfernung aus dem Verfassungsrichteramt geahndet werden (vgl. etwa § 8 Abs. 4 NWVerfGHG). Wenn dies unbefriedigend erscheinen sollte, müsste man ein Verfassungsrichternebentätigkeitsrecht im jeweiligen Verfassungsgerichtsgesetz schaffen und dem Gerichtspräsidenten Befugnisse als Dienstvorgesetzter übertragen. Der Würde des exponierten Amts würde man damit freilich eher schaden als nutzen.
VI. Schlussbetrachtung Das Landesverfassungsrecht ist ein Mikrokosmos verfassungsrechtlicher Dogmenbildung und ein Schlüsselelement in der Architektur einer pluralistisch verfassten
264 Eine grenzüberschreitende ‚Vermarktung‘ des Richteramtes in Landesverfassungsstreitigkeiten vor anderen Landesverfassungsgerichten schließt dies freilich rein rechtlich nicht aus. 265 Etwas anderes mag man annehmen, wenn man die – problematische und die rechtliche Disaggregation der Verwaltung nivellierende – Figur einer Einheit des öffentlichen Dienstes anerkennen würde. So immerhin etwa BVerfG-K, JZ 2007, 519 (520). Ablehnend Klaus Ferdinand Gärditz, Wissenschaftliche Nebentätigkeiten im Beamtenrecht, ZBR 2009, S. 145 (152 f.), m. w. Nachw.
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Bundesstaatlichkeit.266 Der Schutz der wünschenswerten föderalen Vielfalt obliegt zu einem entscheidenden Teil den Landesverfassungsgerichten. „Vielfalt setzt aber voraus, dass die Landesverfassungsgerichte die Landesverfassung eigenständig auslegen, statt dem Sog der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundgesetz automatisch zu folgen.“267 Hier sind nicht selten noch deutliche Defizite zu beklagen, was in bestimmten Bundesländern auch auf eine zu einseitige berufsrichterliche Prägung und die damit einhergehende fachgerichtliche Routine zurückzuführen sein dürfte. Vor allem eine adäquate Besetzung der Richterbank kann hier gegensteuern und zur Entfaltung dezentraler Reserven kontextsensibler Dogmenbildung beitragen. „Handwerksregeln für kluge Verfassungspolitik in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit“268 sind daher sowohl beim Landesgesetzgeber, der das Verfassungsgerichtsverfassungsrecht ausgestaltet, als auch bei den parlamentarischen Wahlorganen vonnöten. Das Landesverfassungsprozessrecht könnte dann verstärkt wieder Experimentierfeld werden, um andere personalrechtliche Modelle institutionalisierter Verfassungsgerichtsbarkeit zu erproben, statt selbstgenügsam das Bundesverfassungsgericht in falsch verstandener Ebenbildlichkeit nachzuformen.
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Menzel, Landesverfassungsrecht (Fn. 7), S. 159; ähnlich Sieg fried Jutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht, 1982, S. 13; Tietje (Fn. 42), S. 301. 267 Sacksofsky, Verfassungsrecht (Fn. 45), § 2 Rn. 94. 268 Häberle (Fn. 51), S. 688.
In keinem unbekannten Land Der Staat in Waldemar Bonsels’ „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ in der Tradition der Bienengleichnisse von
Michael Schwarz, Humboldt-Universität Berlin A. Einleitung Es gibt wenige Helden aus Kindertagen, die durch Geschick, Charme und Abenteuerlust die Phantasie einer ganzen Generation beflügelt haben. Noch überschaubarer wird die Anzahl, wenn man unter den erdichteten Lieblingsfiguren der Kindheit diejenigen aussondert, die uns generationenübergreifend bis in die Gegenwart hinein verzaubern. Eine, die der allgemeinen Kurzlebigkeit unserer Zeit die gelbschwarz gestreifte Stirn bietet, ist die Biene Maja. Erstmals verlegt wurde „Die Biene Maja und ihre Abenteuer. Ein Roman für Kinder“ im Jahr 1912.1 In den nunmehr 100 Jahren seit der Erstveröffentlichung wurde das Werk in mehr als 40 Sprachen übersetzt und mehr als zweimillionenfach verkauft. Unter den zwischen 1915 und 1940 im Deutschen Reich meistgelesenen Büchern belegt die Biene Maja den vierten Rang.2 Für ihre andauernde Popularität unter den Nachkriegsgenerationen sorgte schließlich ab Mitte der 1970er Jahre die gleichnamige Zeichentrickserie, welche sowohl den Roman als auch dessen Fortsetzung „Himmelsvolk“3 zur Vorlage hatte, sich indes inhaltlich sowie figurativ, etwa in Gestalt des sympathischen Antihelden Willi, teilweise davon löste.4 Nach einigen medienwirksamen, selbst für einen gefeierten Star à la „Maja Superbee“5 unvermeidlichen, kosmetischen Korrekturen, er1 Für Zitate wird im Folgenden verwendet die mit Farbillustrationen versehene Jubiläumsausgabe W. Bonsels, Die Biene Maja und ihre Abenteuer, Stuttgart 1962. 2 Siehe zu den statistischen Angaben die Seite der Waldemar-Bonsels-Stiftung unter http://www. waldemar-bonsels-stiftung.de/index.php?article_id=52http://www.waldemar-bonsels-stiftung.de/ index.php?article_id=52, abgerufen am 29. 1. 2012. 3 W. Bonsels, Himmelsvolk – Ein Märchen von Blumen, Tieren und Gott, Berlin/Leipzig 1915. 4 Siehe J. Thiele, „Die Biene Maja“. Materialien zur Analyse einer Fernsehfolge, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1978, S. 63 (67 ff., 73 ff.). 5 Vgl. P. Mesenhöller, „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ – Zur Soziologie eines Erfolges (Literaturbericht), in: R.-M. Bonsels (Hrsg.), Waldemar Bonsels im Spiegel der Kritik, Wiesbaden 1986,
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freut sich die tapfere Biene auch heute noch großer Beliebtheit bei ihrem Publikum.6 Und das Publikum ist damals wie heute breit gefächert. Entgegen der Betitelung als „Roman für Kinder“7, gehörten zu den ersten Lesern die prestigeträchtigen und einflussreichen Damen am Hof Kaiser Wilhelms II., sowie nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zehntausende deutscher Soldaten, die mit der Biene Maja „im Tornister ins Feld“ zogen.8 Als Erklärung für dieses Phänomen mag gelten, dass die idealisierende, neuromantische Darstellung der Naturidylle sowohl den Tagträumen der Noblesse zu Hofe als auch den Soldatenphantasien inmitten der Schützengräben Flügel verlieh. Die stilistische Überfrachtung der Handlung und der andächtige Ton, unter dem insbesondere der kindgerechte Humor zu kurz kommt, melden hingegen Zweifel an der Zielsicherheit Bonsels’ an, seinen anvisierten Adressatenkreis zu treffen.9 Mit dem literarischen Genre „Kinderbuch“ ist die Biene Maja daher wohl zu grob umrissen. Das meint auch der Rezensent der „Straßburger Post“, der die Sensitivität des Werks preist: „Es ist auch wirklich ein Buch für die Jugend und ebenso für die Alten, denn es ist das Werk eines Dichters und Sehers, der eine große Offenbarung über das tiefste Wesen der Dinge zu verkünden hat.“10 Nach einer kurzen Schilderung der Entstehungsgeschichte (B.) soll die Geschichte Majas im Hinblick auf ihre Vermenschlichung und Außenseiterstellung beleuchtet (C.) und im Abgleich mit klassischen Bienengleichnissen der Frage nachgegangen werden, inwiefern eine historische Interpretation des Bienenstaats bei Bonsels zulässig ist, um zu klären, ob die Biene Maja in deren Reihe aufgenommen werden kann (D.).
B. Entstehungsgeschichte Das anekdotische Bonmot zur Entstehung der Biene Maja enthüllt, dass es nicht zärtliche Tierliebe war, die Waldemar Bonsels zum Schreiben veranlasste, sondern – wenn man der Legende Glauben schenken kann11 – Rechthaberei und der Wunsch, den eigenen Freund und Förderer zu übertrumpfen. Bonsels kehrt 1904 von einem mehrmonatigen Indienaufenthalt als Missionskaufmann nach München zurück, wo er gemeinsam mit Gleichgesinnten, denen der Schriftsteller Bernd Isemann angehörte, den Verlag E. W. Bonsels & Co. gründet. Im Jahr 1905 bezieht Isemann, der im Gegensatz zu Bonsels nicht nur wohlhabend ist, S. 100 (105 f.). Siehe nun auch H. Weiß, Mediale Metamorphosen der Biene Maja, in: S. Hannschek (Hrsg.), Waldemar Bonsels – Karrierestrategien eines Erfolgsschriftstellers, Wiesbaden 2012, S. 67 ff. 6 Siehe etwa die offi zielle Homepage unter http://www.diebienemaja.de, abgerufen am 29. 1. 2012. 7 Dieser Titelzusatz fehlt in den Folgeausgaben. 8 D. Grieser, Im Tiergarten der Weltliteratur, München 1991, S. 140. 9 Vgl. L. Müller, Die Biene Maja von Waldemar Bonsels, in: M. Weil (Hrsg.), Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen, Berlin 1986, S. 56 (62 ff., 69), der das Erfolgsgeheimnis Bonsels’ in dessen „Virtuosität“ sieht, die alle „Themen und Gegenstände einem stilistischen Imprägnierungsverfahren unterzieht, das allem Irdischen den Stempel des Göttlichen aufdrückt.“ 10 Vgl. die Pressestimmen in W. Bonsels, Himmelsvolk – Ein Märchen von Blumen, Tieren und Gott, Berlin 1922, S. 204. 11 Siehe zum Folgenden Grieser, Weltliteratur (Fn. 8), S. 133, insb. 138 ff.
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sondern auch eine klassisch humanistische Ausbildung genossen hat, das ehemalige Atelier des Malers Richard Poschinger im heutigen Oberschleißheim bei München und gewährt seinem engen Freund und Vertrauten Bonsels ein unbegrenztes, unentgeltliches Wohnrecht. Ein leidenschaftliches Interesse für Ameisen und Bienen, dem er im großangelegten Garten des Anwesens frönen kann, verleiten den Literaten und Tierfreund Isemann dazu, seine naturwissenschaftlichen Beobachtungen in prosaische Form zu gießen und sich an einem Jugendroman zu versuchen. Es entsteht, wie es dem Naturell des introvertierten Schriftstellers entspricht, in intellektueller Isolation die Geschichte um die beiden Ameisen „Nala und Re“. Erst mit Fertigstellung des Werks weiht Isemann seinen Kollegen in die Idee ein und liest ihm aus dem Manuskript vor. Doch der Hausgast übt scharfe Kritik: „Ein Tierbuch muss man ganz anders schreiben. Nicht mit Gedanken und Gefühlen überfrachtet wie dieses, sondern vor allen Dingen amüsant.“12 Und schickt sogleich hinterher: „Du hast eine Ameisengeschichte geschrieben, laß mich eine Bienengeschichte schreiben – wir werden sehen, welche mehr Erfolg hat.“13 Der Ausgang jener Wette ist bekannt: Während die Biene Maja zum Bestseller avanciert und Bonsels zu Weltruhm gelangt, fi ndet Isemann für „Nala und Re – Eine Ameisenfreundschaft“ zwar im Jahr 1920 endlich einen Verleger,14 doch bleibt den Ameisen und ihrem geistigen Schöpfer der Erfolg verwehrt.
C. Vermenschlichung und Außenseiterstellung I. „Ausnahmenatur“ und Ausreißertum Nicht lange nach Majas Geburt bemerkt die erfahrene Bienenamme und Erzieherin Kassandra deren „Ausnahmenatur“ (S. 9).15 Wenn auch empört über Majas Ungeduld sowie darüber, was der kleine Naseweis mit ihren ersten Empfindungen an ihrer Lebenswelt auszusetzen hat, nimmt sich Kassandra der jungen Biene an, um sie in Grundnormen, Etikette und Gepflogenheiten des Bienendaseins zu instruieren. Maja will sich derweil mit ihrer Rolle im Bienenvolk schon als Jungtier nicht abfinden: „Soll ich denn später den ganzen Tag Honig sammeln?“ (S. 10). Mit ihrer naivkindlichen Trotzigkeit erreicht sie dennoch, oder gerade deshalb, dass die Amme ihr mehr Zeit widmet als für gewöhnlich, um ihr auch vom Menschen zu erzählen, der „das Höchste und Vollkommenste ist, was die Natur hervorgebracht hat“ (S. 10 f.). 12
Zitiert nach Grieser, Weltliteratur (Fn. 8), S. 139. Ebd. 14 Die zwei weiteren Versuche Isemanns, zunächst 1943 das Werk unter dem Titel „Die Ameisenstadt – ein Tier-Roman“ und schließlich 1953 mit Illustrationen geschmückt neu aufzulegen, scheiterten ebenfalls, vgl. Grieser, Weltliteratur (Fn. 8), S. 140. 15 Die Namensgebung ist sicher kein Zufall. Für die werkspezifi sche Deutung kommen indes mehrere Bezugspunkte in Betracht. Zum einen kann Maja auf lat. maius, maia, maium (größer, höher) zurückgeführt werden und ist als „die Höhere“, „die Hehre“ zu übersetzen. In der römischen Mythologie ist Maja die Göttin des Wachstums und Mutter des Merkur. Zum anderen kann darin eine Reminiszenz an die Indienreise Bonsels’ gesehen werden, denn die indische Gottheit Maja gilt als die Verkörperung des Weiblichen schlechthin, vgl. H. Bahlow, Unsere Vornamen im Wandel der Jahrhunderte, Limburg a.d. Lahn 1965, S. 69. 13
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Das menschliche Antlitz, gepaart mit den Herrlichkeiten der Natur, soll Maja über ihren Dienst zum persönlichen Glück verhelfen. Und mit dem Ziel, glücklich zu sein, kann sich die neugierige Biene schließlich anfreunden. Der Mensch wird durch die Worte Kassandras zum Absoluten, Göttlichen erhoben, die Suche nach ihm zur Wallfahrt und das Aufsuchen seiner Präsenz zu Majas Bestimmung.16 Die humanistische Sehnsucht nach dem Menschen in Erinnerung an die eigene „Ausnahmenatur“, die sich in Kassandras Fürsorge manifestiert, führt Maja ihre Wesensverwandtschaft mit den Menschen vor Augen, die in ihrer Selbsterkenntnis kulminiert: „ich bin nicht, wie die anderen Bienen sind, mein Herz ist für Freude und Überraschungen, für Erlebnisse und Abenteuer bestimmt“ (S. 15). So folgt aus der Selbstbewusstwerdung die Verweigerung der ihr zugewiesenen Rolle im Gemeinwesen, als sie sich bei ihrem ersten Ausflug freudetrunken und überwältigt von den Eindrücken der Welt von ihrer Begleiterin distanziert und den Entschluss fasst, nicht mehr in den Bienenstock zurückzukehren. Die „Flucht aus der Heimatstadt“, wie es in der Kapitelüberschrift heißt, befördert Maja vom Mitglied der starken Bienengemeinschaft in die existentiell-riskante Rolle der sozialen Außenseiterin mit privilegierter Abstammung. Die anfangs bewusste Individualisierung wandelt sich im Lauf der Begegnungen mit anderen Insekten, die Maja als Kind in einer Erwachsenenwelt erlebt17 und deren selbstgefällige Art und vielfach rauer Umgangston, intensiviert durch rasche Meinungs- und Perspektivwechsel, die kindliche Biene verunsichern und schließlich zur Vereinzelung der Protagonistin führen.18 Das Netz der Spinne Thekla, in dem sich Maja aus tagträumerischer Unachtsamkeit verfängt, steht sinnbildlich für diesen Prozess und lässt ihr die Isolation bewusst werden. Maja „schrie und summte, so laut sie konnte, und rief um Hilfe und wußte nicht wen“ (S. 74). Indes leitet diese Erfahrung einen Reflexionsprozess ein, der in der Begegnung mit dem Schmetterling, „der Symbolfigur der Metamorphose“19, zündet: sie beschließt, „vorsichtiger zu werden und sich künftig nicht mehr allzu rasch einzulassen“ (S. 84). Doch erst als sie in Begleitung des Elfs das menschliche Liebespaar im Mondschatten antrifft, vollzieht sich Majas Gesinnungswandel. Die gegenseitige Zuneigung der Liebenden führt sie zu der Erkenntnis, „daß die Menschen am schönsten sind, wenn sie einander liebhaben“ (S. 127). Erst und allein die Sensibilität ihrer „Ausnahmenatur“ gestattet ihr, das Geschehen im faden Mondlicht zu erhellen und den Sinn ihres Daseins zu begreifen. Die Vereinzelung Majas wird in diesem Moment transzendiert durch die „Erkennt16 Vgl. auch die Worte Kassandras in Majas Erinnerung (S. 71 f.): „Die Menschen sind gut und weise [. . .] Sie sind sehr stark und mächtig, aber sie mißbrauchen ihre Kräfte nicht, sondern überall, wo sie hinkommen, entsteht Ordnung und Wohlstand [. . .] Du wirst immer wieder unter den Insekten Stimmen hören, die dem Menschen Böses nachsagen. Höre nicht auf sie.“ 17 Zur Charakterisierung der Erwachsenenwelt siehe Thiele, Fernsehfolge (Fn. 4), S. 78 f. Gerade indem die Tiere ins „‚menschliche‘ Korsett von Sprachkonventionen gedrängt“ werden, verlieren sie ihre Unschuld, siehe H. Karrenbrock, Tagträume und Kinderwünsche – Die Biene Maja und ihre mannigfaltigen Brüder und Schwestern, in: D. Römhild (Hrsg.), Die Zoologie der Träume – Studien zum Tiermotiv in der Literatur der Moderne, Opladen 1999, S. 152 (160 f.). 18 H. Lexe, Pippi, Pan und Potter – Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur, Wien 2003, S. 130 f. 19 Lexe, Motivkonstellation (Fn. 18), S. 132.
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nis einer erfüllten Existenz in der wechselseitigen Hingabe“.20 Diese Einsicht ist jedoch mit dem hedonistischen Vagabundentum nicht zu vereinbaren. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es vielmehr ihrer Rückkehr in das Gemeinwesen des Bienenstaats. Aufgrund des Austritts aus dem Kollektiv genügt für die rehabilitierende Rückkehr in die Heimat nicht mehr allein, das Losungswort ihres Volkes am Tor zu nennen, und so ist es ex post betrachtet ein heilsbringender Wink des Schicksals, dass Maja von einer Hornisse überrascht und in Gefangenschaft genommen wird, woraus sie sich mit Geschick und List befreien kann, denn noch in Gefangenschaft wurde sie en passant Zeugin einer Hornissenversammlung, auf der diese den Plan vom Überfall auf das Bienenvolk schmiedeten. Demzufolge ist es zum einen die persönliche Sehnsucht nach der Heimat, zum anderen das Wissen darum, dass es „die beste Gelegenheit [ist], alles gutzumachen“ (S. 151), was Maja antreibt, nach Hause zu eilen, um ihr Volk gerade noch rechtzeitig zu warnen. Am Ende scheint der jugendlich-tollkühne Regelverstoß mit einem gesellschaftlichen Aufstieg honoriert zu werden, wenn die Königin ihr mit einem Mal die Absolution erteilt und sie sogleich adelt: „was immer vorher geschehen sein mag, du hast es tausendfältig gutgemacht“ (S. 155), „Für die Zukunft sollst du an meiner Seite bleiben und mich in der Leitung der Staatsgeschäfte unterstützen“ (S. 172). Das klingt nach Happy End, doch Oberschleißheim ist nicht Bollywood. Betrachtet man den Werdegang der Biene Maja vor der Projektionsfolie ihres Ausreißertums, fügen sich die einzelnen Teile zu einem anderen Mosaik zusammen, denn weshalb nur wird Maja überhaupt von der Königin angehört?
II. Das Recht und die Außenseiterin Nach Richard Weisberg liegt der Zweck der literarischen Auseinandersetzung mit der Rolle des Außenseiters aus der Perspektive der Jurisprudenz darin, das empathische Sensorium des Juristen für die Belange und Bedürfnisse des Outsiders zu verfeinern 21 und das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das Recht dem Rechtsunterworfen abverlangt, sich anstatt in seiner Sprache, in der Formsprache des Rechts auszudrücken, also eine Sprache zu wählen und sprechen zu können, welche die rechtsinternen Wertvorstellungen wiederaufgreift.22 Maja hatte mit ihrem Ausbruch aus der Gemeinschaft deren oberstes Prinzip, „daß jede in allem, was sie denkt und tut den anderen gleichen und an das Wohlergehen aller denken muß“ (S. 9 f.), verletzt.23 Mit welcher Intention Maja ihre Rückkehr angetreten ist, ist in Anbetracht des Regelverstoßes, durch den sie das Loyalitätsband zwischen sich und ihrem Volk durchtrennte, bei ihrem Auftritt vor der Königin 20 21
Lexe, Motivkonstellation (Fn. 18), S. 133. Siehe Richard Weisberg, Poethics: and other Strategies of Law and Literature, New York 1992,
S. 41. 22 Weisberg, Poethics (Fn. 21), S. 44: „The law requires from those over whom it has power a form of communication that replicates the values of the law.“ (Herv. im Original). 23 Siehe dazu unter D. II. 2.
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nicht von Relevanz. Allein ihr „Beseeligter Opferwille“24 und die Identifi kation mit ihrem Mutterland, für das zu sterben sie bereit ist (S. 155), bringen zum Ausdruck, dass sie ihren kindlichen Individualismus dem Staatswohl und dem Überleben ihres Volkes unterzuordnen bereit ist, so dass der Dienst am Volk als aus der vernünftigen, binnenlogischen Pfl icht heraus geleistet erscheint. Die anschließende Auszeichnung und Beförderung in den Rang einer königlichen Beraterin maskiert das eigentliche Geschehen, denn letzten Endes opfert sie ihre Freiheitsliebe und persönliche Autonomie der Reintegration und dem Ansehen im Staat. Wegen der o.g. Akzessorietät von Außenseiterrolle und der im Selbstbewusstsein der Wesensverwandtschaft mit dem Menschen verankerten anthropomorphen Individualität büßt Maja durch die Wiedereingliederung und Unterordnung in das hierarchische Staatswesen ihre „Ausnahmenatur“ vollständig ein.25 Das Recht verharrt derweil in Unbeweglichkeit und verschließt sich vor dem Anspruch „to understand the world within the other’s optic.“26 Vater Staat triumphiert über Mutter Natur.
D. Der Bienenstaat I. Historische Zeugnisse Die Frage bleibt: Was verbindet die Literatur mit der Staatstheorie? Mit Peter Häberle, der in einzigartiger Weise die kulturwissenschaftliche Sicht auf die Verfassung und das Verfassungsrecht der Bundesrepublik geschärft hat, lässt sich sagen, dass das Verbindende zwischen schöner oder schöngeistiger Literatur und Themen der politischen Philosophie oder Staatstheorie in den „kulturwissenschaftlich faßbare[n] Paradigmen“ verborgen liegt, wie sie in den Menschen- und Staatsbildern, ihrer Symbolsprache, ihren Metaphern und Gleichnissen in Kunst und Wissenschaft lebendig sind.27 24 K. Gysi et al. (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 9, Berlin 1974, S. 441. 25 Vgl. Lexe, Motivkonstellation (Fn. 18), S. 133. 26 Weisberg, Poethics (Fn. 21), S. 46. Der Mehrwert der Betrachtung von Topoi des Rechts in der Literatur, wobei „Recht“ weit zu verstehen ist und sich nicht in konkreten Normen erschöpft, liegt demnach mit Blick auf den Außenseiter in der Bewusstmachung struktureller Asymmetrien des Rechts, bedingt durch das Allgemeinheitspostulat. 27 P. Häberle, Begegnungen von Staatsrechtslehre und Literatur – Peter Schneider zum 70. Geburtstag, AöR 115 (1990), S. 83 (90), Herv. im Original. Hinzu tritt naturgemäß die historische Dimension, welche die kulturellen Errungenschaften des Rechts und seiner Literatur stets begleitet. Siehe zu Methodik und Bandbreite des Themengebiets „Recht und Literatur“ auch Richard Weisberg, Recht und Literatur, (i.E.) Frankfurt a. M. 2013; B. Greiner (Hrsg.), Recht und Literatur: interdisziplinäre Bezüge, Heidelberg 2010; R. A. Posner, Law and Literature, Cambridge 2009; K. Schlothmann, Recht und Gerechtigkeit im Werk Heinrich Bölls – Ein Beitrag zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Baden-Baden 2008; D. Halft, Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf, Berlin 2007; M. Kloepfer, Dichtung und Recht, Berlin 2008; G. Hofmann, Figures of Law – Studies in the Interference of Law and Literature, Tübingen u. a. 2007; E. Schramm, Law and Literature, JA 2007, 581 ff.; H. Weber (Hrsg.), Recht und Justiz im Bild der Literatur, Berlin 2005; P. Hanafi n/A. Gearey/J. Brooker (Hrsg.), Law and Literature, Oxford u. a. 2004; G. Binder/Robert Weisberg, Literary Criticism of Law, Princeton 2000; R. A. Posner, Law and Literature – A Relation Reargued, Virginia Law Review 72 (1986), 1351 ff.; P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten – Der Verfassungsstaat im (Zerr?)-Spiegel der Schönen Litera-
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Abhandlungen über Bienenvölker und deren soziale Ordnung als Allegorien menschlicher Vergesellschaftung sind beinahe so alt wie die Menschheitsgeschichte.28 Während das Alte Testament die Bienen in ihrer Schreckensgestalt idiomatisiert und sie als schwarmweise auftretende, stechwütige Menschenfeinde zeichnet,29 erheben die alttestamentarischen Verse demgegenüber ihren süßen, goldfarbenen Saft zum Sinnbild für Fruchtbarkeit und Segen.30 So verheißt der sich Mose durch den brennenden Dornbusch Offenbarende, der das Elend seines Volkes gesehen hat, dass er sie „in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fl ießt“ führen werde.31 Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, soll im Folgenden eine Auswahl dreier Zeugnisse die lange Tradition der Bienengleichnisse in groben Federstrichen nachzeichnen. Die Selektion der Autoren und ihrer Werke ist darauf bedacht, ein sowohl zeitlich als auch disziplinär breites Spektrum abzudecken, das als Hintergrundfolie für die anschließende Deutung des Bonselsschen Bienenstaats fungieren kann.
1. Vergil: Georgica In den Jahren zwischen 37 und 29 v. Chr., als das Römische Reich mit dem Transformationsprozess von der Republik zum Kaiserreich einem historischen Umbruch unterliegt, schreibt der römische Dichter Vergil die „Georgica“ als Hymnus vom einfachen Leben auf dem Land. Das „klassische Hohelied der Bienen“ und der Abschnitt zu deren Staatswesen in dessen Zentrum bilden die Krönung des Gedichts.32 Die Bienen sind tugendhaft, da ihnen der Geschlechtstrieb fremd ist, aber sie sich trotz ihrer Unfähigkeit zur Fortpflanzung um die Aufzucht der Jungen sorgen, gesetzestreu und rechtschaffen, mit Loyalität zu ihrem Herrscher, fleißig im Dienst, tapfer im Kampf und sich aus reiner Liebe zum Gemeinwesen dem commune bonum unterordnend.33 Jede Biene bezwingt ihre individuellen Neigungen und Laster mit den Kräften der ratio und fi ndet im arbeitsteilig organisierten Gesamtsystem ihren zugedachten Platz. Als mustergültige Beispiele stoischer Tugendhaftigkeit steuern sie, geleitet vom innatus amor habendi, als Mitglieder der Gemeinschaft ihren Beitrag zum ewigen Bestand des Gemeinwesens bei.34 Sprachlich wird die Metaphorik des Getur, Baden-Baden 1983; B. N. Cardozo, Law and Literature and Other Essays and Addresses, New York 1931. Eine umfangreiche analytische Bibliographie fi ndet sich bei Th. Sprecher, Literatur und Recht – Eine Bibliographie für Leser, Frankfurt a. M. 2011. 28 Eine frühe Darstellung fi ndet sich bei J. Ph. Glock, Die Symbolik der Bienen und ihrer Produkte in Sage, Dichtung, Kultus, Kunst und Bräuchen der Völker, Heidelberg 1891, der seine umfassende Abhandlung auch als „Anthologie der Bienenpoesie aller Zeiten“ bezeichnet. 29 Jesaja 7, 18 f.; Psalm 118, 12; 5 Mose 1, 44. Vgl. jedoch die Geschichte der einzigen weiblichen Richterin Deborah (hebräisch für ‚Biene‘) in Richter 4 und 5. Zum Ganzen Glock, Symbolik (Fn. 28), S. 145 ff. Der Koran widmet der Biene in Sure 16 ein ganzes Kapitel. 30 1 Samuel 14, 25; Psalm 19, 10 und 11. Wer die Frucht der Bienen in Maßen genießt (Sprüche 25, 16 und 27), dem wird es wohlergehen, vgl. Sprüche 24, 13. 31 2 Mose 3, 8. 32 Und nach Glock, Symbolik (Fn. 28), S. 278, sogleich „die glücklichste Leistung des ganzen Altertums im Lehrgedicht“. 33 Vergil, Georgica, IV, 153 ff. 34 H. Dahlmann, Der Bienenstaat in Vergils Georgica, 1954, zitiert nach dem Wiederabdruck in
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dichts („si parva licet componere magnis“35) durch diese Anthropomorphisierungen sowie in der Verwendung der menschlichen Bezeichnungen statt der für Bienen üblichen deutlich.36 Die Biene ist ein „geselliges Thier“37, ein wahres ζῷον ολιτικόν.38 Inhaltlich ergibt sich die Metaphorik aus dem historischen Kontext und der Entfaltung des philosophischen Hintergrundpanoramas, der das Bienengleichnis sogleich in seiner nicht erschöpfenden aber wegweisenden Funktion als Legitimierung des Prinzipats offenbart.39 Der Tugenddreiklang (labor, fortitudo, concordia) ist Sinnbild für das natürliche, unverdorbene und glückliche Leben und die im Bienenvolk schon verkörperte vollkommene Lebensform das heilige, stoische Ideal, dem die Rückbesinnung auf diese vernachlässigten Werte des vergangenen Säkulums und deren Regeneration gilt.40 Die vollkommenste politische Ordnung ist nach der klassischen Stoa die Monarchie, da sie der natürlichen und damit vernünftigen Herrschaftsordnung des Kosmos mit Zeus als Alleinherrscher entspricht.41 In der Natur legen die Bienenvölker innerhalb ihres Lebenskreises beredtes Zeugnis von der gottgewollten und vom logos regierten Staatsform ab und realisieren daher bereits einen Teil der divina mens, des göttlichen Geistes, der in der Welt waltet.42 Der archimedische Punkt des Staatswesens ist bei Vergil das Verhältnis der Bienen zu ihrem König.43 Der König steht als Integrationsfigur an der Spitze, er ist das einheitsstiftende Element: „Wenn der König nur lebt, ist alles in Eintracht; / Stirbt er, sofort ist gebrochen der Bund [. . .] Er ist der Hüter des Werks, auf ihn sehn alle in Ehrfurcht [. . .] Oft auf den Schultern erheben sie ihn und dem Kampfe die Leiber / Bieten sie dar und suchen den rühmlichen Tod durch die Wunden.“44 Von der Absicht der Erneuerung getragen ist das gottgewollte Ideal der monarchischen Regierungsform, das sich auf natürlichem Wege im Bienenstaat manifestiert, dem menschlichen Gemeinwesen ein leuchtendes, imperatives Vorbild als einzig vernünftige Form der Staatsbildung. Ph. R. Hardie (Hrsg.), Virgil – Critical Assessments of Classical Authors, London et. al. 1999, S. 253 (263). 35 Georgica, IV, 176. 36 Dahlmann, Bienenstaat (Fn. 34), S. 256. 37 Plotin, 3. Enneade, 4, 2. 38 Glock, Symbolik (Fn. 28), S. 184. 39 Vgl. K. Sion-Jenkis, Von der Republik zum Prinzipat – Ursachen für den Verfassungswechsel in Rom im historischen Denken der Antike, Stuttgart 2000, S. 129; Dahlmann, Bienenstaat (Fn. 34), S. 266. 40 Dahlmann, Bienenstaat (Fn. 34), S. 260 f., der dies sowohl im engeren Sinn auf die bäuerliche Lebensform, der das Gedicht vom Landbau gewidmet ist, als auch im weiteren Sinn auf das Staatswesen bezieht. 41 Sion-Jenkis, Prinzipat (Fn. 39), S. 128. 42 Georgica, IV, 149 f. („Auf, nun will ich der Bienen Natur, die Jupiter selber / Ihnen verlieh, auslegen“), sowie 219 ff. Ferner F. Bockemüller, Vergils Georgica nach Plan und Motiven, Stade 1874, S. 70. 43 In der Literatur der Antike ist das Staatsoberhaupt der Bienen ausschließlich männlichen Geschlechts, vgl. Glock, Symbolik (Fn. 28), S. 185 f. 44 Georgica, IV, 212 ff. Für Seneca, der das Bienengleichnis seines Lieblingsdichters Vergil in „De Clementia“ (I 19, 2 ff.) aufgreift, ist für die herausragende Stellung des Königs außerdem das Fehlen des Stachels als Sinnbild für Zorn und ungemäßigtes Temperament von Bedeutung: in Ermangelung des Gewaltsymbols verkörpert der Herrscher das Dasein wahrer Güte, vgl. Sion-Jenkis, Prinzipat (Fn. 39), S. 129.
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2. Mandeville: Die Bienenfabel Ein Beispiel aus der nationalökonomischen Wissenschaft gibt der Nervenarzt und Sozialphilosoph Bernard Mandeville (1670 bis 1733) in seiner „Bienenfabel“.45 Der Bienenstaat der Fabel ist das England des anbrechenden 18. Jahrhunderts am Vorabend der industriellen Revolution, in dem sich der niederländische Autor hugenottischer Abstammung 1693 niedergelassen hatte. Die Fabel beginnt mit der ungeschönten Schilderung der vorherrschenden sozialen Verhältnisse im Land. Vetternwirtschaft, ein korruptes Rechtssystem, in dem Justitia die Waagschale nur hinhält, damit man darauf seinen Obolus entrichte, ein durch Egoismus, Gewinnstreben und Eitelkeit geprägtes gesellschaftliches System, das die verarmte Arbeiterschicht, welche die Basis des Reichtums und Hedonismus der privilegierten Oberschicht trägt, radikal ausbeutet. Man wartet darauf, dass diesem Gesellschaftsmodell eine klare normative Absage erteilt wird, doch die Bewertung fällt nicht im geringsten subversiv aus: „Thus every Part was full of Vice, / Yet the whole Mass a Paradise“ und weiter „That strange ridic’lous Vice, was made / The very Wheel that turn’d the Trade.“46 Noch deutlicher tritt die ökonomische Überlegenheit des status quo hervor, wenn Jupiter, der Lasterhaftigkeit der Sterblichen müde, „At last in Anger swore, He’d rid / The bawling Hive of Fraud; and did“ (S. 27). Denn auf die göttliche Zensur, die ad hoc Redlichkeit und Tugend im Volk etabliert, folgt der allmähliche Verfall und schließlich der Untergang des Bienenstaats. Die tugendhafte, puritanisch-sparsame Spielart des Merkantilismus bringt nicht nur die Volkswirtschaft zum Erliegen, sondern zersetzt alle zivilisatorisch-kulturellen Errungenschaften. Die ökonomische Erklärung dafür lautet: sinkende Bedürfnisse bedingen ein Absinken der Nachfrage. Mandeville bringt dieses scheinbare Paradoxon im abschließenden Teil, den er explizit als „Moral“ überschreibt, auf den Punkt: „So Vice is beneficial found, / When it’s by Justice lopt and bound; [. . .] A Golden Age, must be as free, / For Acorns, as for Honesty.“47 Die beworbene Tugendlosigkeit48 indiziert gesamtgesellschaftlich die 45 Grundlage war das 1705 anonym erschienene Gedicht „Der unzufriedene Bienenstock oder die ehrlich gewordenen Schurken“ (The Grumbling Hive, or Knaves turn’d Honest), das unter eigenem Namen 1723 mit ausführlichen Anmerkungen versehen als „The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits“, veröffentlicht wurde. Zur Kritik an den ergänzten Anmerkungen zur Fabel, die sich in erster Linie an die Rezensenten richteten, siehe E. J. Hundert, The Enlightenment’s Fable: Bernard Mandeville and the Discovery of Society, Cambridge et. al. 1994, S. 75 ff. (Hutcheson & Hume), S. 105 ff. (Rousseau, Earl of Shaftesbury), S. 219 ff. (Smith). 46 B. Mandeville, The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits, London 1723, S. 24 (Nachdruck der Originalausgabe, Oxford et. al. 2001). Zu Hegels Haltung siehe A. Neschen, Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen wirtschaftsethischen Entwürfen, Hamburg 2008, S. 196 ff. Zu Adam Smith vgl. L. Schneider (Hrsg.), Paradox & Society: The Work of Bernard Mandeville, New Brunswick 1987, S. 149. 47 Mandeville, Fable (Fn. 46), S. 37. Damit geht Mandeville entschieden über die damals vorherrschende Ansicht hinaus, dernach sich moralisch neutrale Handlungen im gesellschaftlichen Aggregat des Markts in Bezug auf die Gemeinschaft vorteilhaft auswirken, vgl. R. Rolle, Homo oeconomicus: Wirtschaftsanthropologie in philosophischer Perspektive, Würzburg 2005, S. 76. 48 Freilich bleibt eine inhaltsleere Tugend in Gestalt der Doppelmoral vorhanden, doch kommt ihr keine eigenständige Bedeutung mehr zu, sie fungiert allein als Mittel zum Zweck, vgl. dazu H.-G. Schmitz, Das Mandeville-Dilemma: Untersuchungen zum Verhältnis von Politik und Moral, Köln 1997, S. 71 ff.
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Wendung von einer Gebrauchswert- zur Tauschwertorientierung als Quelle des Gemeinwohls.49 Die konkret-sinnliche Bedürfnisdeckelung durch das tugendhafte Normprogramm der Gebrauchswertorientierung wird zugunsten der Lasterhaftigkeit als Synonym kapitalistischen Fortschrittsdenkens verworfen50 und darüber die fatalen Folgen sozialer Stratifi kationsprozesse in Kauf genommen.51 Dabei will Mandeville nicht als Apologet der Lasterhaftigkeit missverstanden werden, deren Naturgegebenheit er schon anthropologisch verneint. Nicht dass der Mensch von Natur aus schlecht ist, sondern dass seine persönlichen Laster in der Summe für das Gemeinwohl unablässig sind, ist seine These.52 Die bürgerliche Gesellschaft bildet einen Schauplatz des Kampfes, doch entgegen revolutionärer Befürchtungen soll dieses Spannungsverhältnis dem sozialen Hybrid Stabilität verleihen.53 Diese Szenerie aufzuzeigen sowie die Motive des Handelns in der Form des Lehrgedichts54 darzustellen, ist sein erklärtes Anliegen.
3. Carl Vogt: Untersuchungen über Thierstaaten Als abschließendes Zeugnis soll die Epoche des deutschen Konstitutionalismus herangezogen werden. Der maßgebliche Text entstammt der Feder Carl Vogts. Vogt, von Haus aus Mediziner und Professor für Zoologie, war radikaler Demokrat und als solcher Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung.55 In seinen 1851 erschienenen „Untersuchungen über Thierstaaten“ seziert er auf über 80 Prosaseiten den Bienenstaat als animalisches Exempel der konstitutionellen Monarchie.56 Als Naturwissenschaftler und Politiker versucht Vogt dabei den polemischen Spagat zwischen biologischer Beschreibung der apiformen Physis und den realpolitischen Strömungen seiner Zeit, um die Verfechter der konstitutionellen Monarchie zu dämonisieren: „Ich will sie Euch zeigen, diese konstitutionelle Monarchie im Thierreiche, mit dem Alleinherrscher an der Spitze, der sogar seine eigenen Kinder tödtet, um sich auf dem Throne zu erhalten, mit der erblichen Pairie, gestützt auf die Nichtverpfl ichtung zur Arbeit, mit dem armen, gedrückten Volke, das seine rührende Sorge auf Pflegung der Kinder und Ernährung der Nachkommenschaft richten muß, und das nur zuweilen aus der Sklaverei sich aufrafft, um auf ’s Neue wieder darin zu versinken! Ich will sie Euch zeigen, diese konstitutionelle Monarchie [. . .] mit ihren 49
G. Stapelfeldt, Der Merkantilismus: Die Genese der Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2001, S. 336. 50 Stapelfeldt, Merkantilismus (Fn. 49), S. 338 f. 51 Adam Smith nimmt diesen Gedanken Mandevilles wohl auf, erhebt jedoch das Eigeninteresse zur Tugend und führt die Idee der Sympathie für den Mitmenschen zur Zügelung des Selbstinteresses ein, vgl. A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1985, 1. Abschn. 1. Kap., dazu Rolle, Wirtschaftsanthropologie (Fn. 47), S. 87 f. 52 Stapelfeldt, Merkantilismus (Fn. 49), S. 340 f. 53 Vgl. Rolle, Wirtschaftsanthropologie (Fn. 47), S. 77. 54 G. E. Lessing, Werke (hrsgg. v. H. G. Göpfert), Bd. 5, Darmstadt 1973, Abhandlung über die Fabel, S. 355 f. 55 Vgl. H. Misteli, Carl Vogt: seine Entwicklung vom angehenden naturwissenschaftlichen Materialisten zum idealen Politiker der Paulskirche (1817–1849), Zürich et. al. 1938. 56 C. Vogt, Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt a. M. 1851, S. 35 ff.
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periodisch wiederkehrenden Revolutionen, die in der Existenz bevorzugter Stände beruhen, mit ihrer systematischen Verdummung des Volkes, mit ihrer planmäßigen Auferziehung eines verkümmerten, zur Arbeit und zur Entsagung verdammten Proletariats!“57 Seine Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Ständeordnung des Bienenstaats, die der Autor der Staatsform der konstitutionellen Monarchie als wesenstypisch zueignet.58 So existieren unter den Bewohnern drei Kasten: die Königin als Staatsoberhaupt und „Inbegriff des ganzen Volkes“, da sie dieses buchstäblich „im Keime in ihrem Hinterleibe mit sich herum[trägt].“59 Der Monarchin untergeordnet folgen die männlichen Drohnen, die „unnützesten Geschöpfe im Staate“,60 die ohne Arbeitskraft und mangels Stachel unfähig zur Verteidigung nach außen, allein die Renten der Übrigen verzehren und so den parasitischen Adel („Pairie“) repräsentieren.61 Schließlich das für das Gemeinwesen unentbehrliche Proletariat, welches „mit außerordentlicher Hingebung an die Allgemeinheit“ unermüdlich seine Arbeitskraft dem Wohl des Staats opfert und in seiner Rolle von der Obrigkeit systematisch unterdrückt und in seinen Rechten beschnitten wird, sich aber dennoch in „Ehrfurcht vor dem Gesetze und dem regierenden Haupte“, pfl ichtbewusst und „bescheiden in seinen Ansprüchen“ fügt.62 Diese hochexplosive Mixtur ist derweil pointiert auf einen gewaltsamen Umsturz angelegt, die Revolution in der Gesellschaftsordnung selbst begründet, so dass im Spätsommer, wenn die Verteilung der Vorräte ansteht, die sozialen Unruhen beginnen, die Drohnen das Verbrechen der Aristokratenkaste büßen, indem das Arbeiterinnenvolk sie und ihre Brut martialisch niederstreckt und nach dieser Machtdemonstration ihrer Königin eine demokratische Verfassung abringt. Doch die erkämpfte Demokratie währt nur einen kurzen Augenblick, denn das Proletariat trägt den monarchischen Sinn tief in sich und weiß daher mit seiner Freiheit nichts anzufangen und so nutzt die intrigante Herrscherin die politische Stagnation ihrer Untertanen aus und legt im Frühjahr neue Drohneneier, deren Emporkömmlinge von der Lehre, die ihren Vätern erteilt wurde, nichts wissen. So beginnt sich das Rad von neuem zu drehen.63 Obwohl der konstitutionelle Bienenstaat keine legale Reform zulässt, greift auch der blutige Umsturz zu kurz, da die Massen ihr Freiheitsstreben nicht zu etablieren vermögen, solange die monarchische Gesinnung und der Dynastieglaube in ihnen wurzelt. So gilt es, das Zwischenstadium der konstitutionellen Monarchie und ihrer Standesordnung gänzlich zu überspringen und den Bürger in die demokratische Republik und in die Freiheit der Verantwortung zu entlassen. Obzwar die politische Forderung derart unmissverständlich proklamiert wird, kommt der moralische Imperativ subtiler zur Entfaltung: Freiheit ohne Bildung führt entweder zur Willkürherrschaft oder zurück in die Sklaverei.
57 58 59 60 61 62 63
Vogt, Thierstaaten (Fn. 56), S. 37 f. Vogt, Thierstaaten (Fn. 56), S. 108. Vogt, Thierstaaten (Fn. 56), S. 44. Siehe auch Vergil, Georgica, IV, 168 und 244. Vogt, Thierstaaten (Fn. 56), S. 76. Vogt, Thierstaaten (Fn. 56), S. 104, ferner S. 40 ff., 47 ff. Vogt, Thierstaaten (Fn. 56), S. 105 ff.
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II. Der Bienenstaat Bonsels’ 1. Legitimität einer historischen Interpretation Waldemar Bonsels, geboren 1880 im Holsteinischen und gestorben 1952 in Starnberg bei München, war Bürger vier deutscher Staaten vom wilhelminischen Kaiserreich über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis zur jungen Bundesrepublik. Die Biene Maja erschien 1912, also am Vorabend der Geschehnisse, die zum fi nalen Ausbruch des ersten Weltkriegs führten. Innenpolitisch stand Kaiser Wilhelm II. nicht zuletzt aufgrund wachsender sozialer Unruhen und der Daily-TelegraphAffäre in der Kritik. In der Außenpolitik manifestierte sich eine zunehmende Spannungslage, die Notallianz mit der habsburger Donaumonarchie vermochte nicht, ein tatsächliches Mächtegleichgewicht gegenüber der Entente cordiale beizubringen, den imperialistischen Expansionsfantasien wurden insbesondere seitens Großbritanniens jähe Grenzen gesetzt.64 Die deutsche Monarchie in der Prägung des „persönlichen Regiments“65 Wilhelms II. war in der Krise. War nun das harmlos anmutende Kinderbuch, das am Hof des Kaisers und in den Händen der Soldaten so beliebt werden sollte, in Wahrheit als Affirmation des deutschen Kaisertums in Zeiten der Krise geschrieben? Oder ist es gar als „Apotheose von Herrschaft und Königtum und deren abwehrbereiter ‚Friedensliebe‘ am Vorabend des Ersten Weltkriegs“66 zu verstehen?
2. „Ein seltsames Volk, das Volk der Bienen“ Der Bienenstock Majas wird schon zu Beginn durch die belehrenden Worte Kassandras an die frisch geschlüpfte Jungbiene als Staatswesen identifiziert (S. 10) und später als Königreich (S. 106) unter dem Regiment von Königin Helene VIII. (S. 109) charakterisiert. Maja wundert sich zudem über den Aufruhr in der Bienenstadt, denn „Ein großer Teil der jüngeren Bienen hatte das Reich verlassen, um einen neuen Staat zu begründen“, was jedoch nicht „aus Übermut oder böser Gesinnung gegen die Königin geschehn [war], sondern das Volk hatte sich so stark vermehrt, daß die 64 Vgl. H. M. Müller, Schlaglichter der deutschen Geschichte, Bonn 2003, S. 202 ff. Zur innenpolitischen Krise Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, München 1993, S. 729 ff. 65 Erstmalig wählte Bernhard Fürst von Bülow diesen Begriff in einem Brief an Graf Eulenburg zur Charakterisierung der Regentschaft Wilhelms II., abgedruckt in: J. C. G. Röhl (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. 3, Boppard am Rhein 1983, S. 1714 (Nr. 1245). 66 M. Dahrendorf, Kinder- und Jugendliteratur im bürgerlichen Zeitalter: Beiträge zu ihrer Geschichte, Kritik und Didaktik, Königstein i. Taunus 1980, S. 187. Ebenso zieht J. Eckhardt, Imperialismus und Kaiserreich, in: R. Wild (Hrsg.), Geschichte der Deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart 1990, S. 179 (200), die Verbindungslinie zwischen „bedingungslose[r] Untertanentreue der Hauptfigur“ und „obrigkeitsstaatliche[r] Ausrichtung des Kaiserreichs“. Kritisch Mesenhöller, Soziologie (Fn. 5), S. 103; Karrenbrock, Kinderwünsche (Fn. 17), S. 158 f.; K. Seeberger, Waldemar Bonsels – heute, in: Waldemar-Bonsels-Stiftung (Hrsg.), Waldemar Bonsels – Grußworte und Ansprachen zur Ausstellungseröffnung am 100. Geburtstag und zur Verleihung des Waldemar-Bonsels-Preises, München 1983, S. 25, die die emanzipatorische Deutung hervorheben. L. Müller, Maja (Fn. 9), S. 73, nennt Bonsels schlichtweg ein ideologisches Leichtgewicht („strikt unpolitisch“), dessen politische Wirkungen unsichtbar blieben und „im Geschehenlassen, nicht im Tun, im Weitermachen, nicht im Unterbrechen“ bestanden.
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Stadt nicht mehr Raum genug für alle Bewohner bot“ (S. 12). Das Königreich ist mit seiner dynastischen Erbfolge, dank seiner Prosperität und rastlosen Schaffensbereitschaft der Staatsbürger, die zur regelmäßigen Teilung des Immenstaats durch den Schwarmtrieb zwingen,67 nicht nur nach innen ein streng organisiertes, sondern auch ein außenpolitisch aktives und für sein „geordnetes Staatswesen“ geschätztes (S. 27) Völkerrechtssubjekt, das u. a. „alte Staatsverträge“ mit den Menschen unterhält (S. 13) und sich innerhalb einer Staatengemeinschaft mit anderen Akteuren wie den Wespen- und Hornissenvölkern arrangiert, die analoge Ordnungsstrukturen aufweisen (S. 136 ff., 145). Die Bienenkönigin weist dabei vorder- wie tiefgründige Reminiszenzen an Person und Wirken Wilhelms II. auf. Letzterer hatte mit der Entlassung des Reichskanzlers Bismarck im März 1890 einen „Neuen Kurs“ unter seinem „persönlichen Regiment“ verfolgt, der institutionell eine stärkere Machtkonzentration in der Hand des Regenten und eine spiegelbildliche Entmachtung des Amtes des Reichskanzlers mit sich brachte. In spätabsolutistischer Manier überdehnte Wilhelm II. seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen,68 indem er selbst das Reich regieren, „sein eigener Minister und Kanzler“ sein wollte.69 Diese Machtfülle ist in der literarischen Bienenmonarchie ebenso deutlich in der Figur der Königin existent. Sie entscheidet als oberste Richterin über Leben und Tod (S. 152, 155), ist Oberbefehlshaberin der Streitkräfte (S. 159), im durchaus Smendschen Sinne Integrationsfigur (S. 12, 154 ff., 160), vertritt Exekutive und Legislative in Personalunion und ist allein, der konstitutionellen Monarchie entsprechend, der obersten Staatsmaxime verpfl ichtet.70 Die berauschte Leidenschaft des letzten deutschen Kaisers für militärische Paraden und sonstige Umgangsformen forcierte die schon traditionell bestehende Vormachtstellung des Militärs im preußischen Staat, wertete den gesellschaftlichen Rang des Militärs zusätzlich auf und steigerte zudem den politischen Einfluss der nichtzivilen Klasse.71 Der lancierte Militarismus umspannte die gesamte Zivilgesellschaft. Wer nicht gedient hatte, galt wenig in der wilhelminischen Gesellschaft, wer hingegen im zivilen Leben den Rang des Reserveoffiziers vorweisen konnte, machte rasch politische oder staatsmännische Karriere.72 Vom säbelrasselnden Militarismus gibt auch die apiforme Gesellschaft ein ins Pathetische gesteigertes Beispiel ab. In der Welt der Bienen werden soldatische Tugenden wie Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft, eiserne Disziplin und Königstreue in den feierlichsten Formen glorifi ziert. Der ubiquitäre, militärische Tugendkatalog zieht sich wie ein blutgetränktes Loyalitätsband durch die Geschichte und tritt besonders deutlich bei Majas Rückkehr in Erscheinung (S. 154 ff.). Die Königin ist im 67 Dass dieser Vorgang rückblickend in einem anderen Licht erscheint – in der Begegnung mit der Mücke bejaht Maja die Frage danach, ob sie denn in ihrem Bienenvolk „kürzlich Revolution“ gehabt hätten (S. 109, Herv. d. Verf., auch S. 157) – ist wohl dem situativ erweckten Patriotismus und ihrer Freude darüber geschuldet, dass das Insekt ihr eine „beneidenswerte Abstammung“ attestiert, unter der die Richtigkeit der Auskunft leidet. 68 Siehe dazu W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, München 2010, Rn. 492 ff. 69 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart et. al. 1982, S. 330. 70 Dazu sogleich unten. 71 H. M. Müller, Schlaglichter (Fn. 64), S. 206 f. 72 Zum Militarismus unter Wilhelm II. siehe Ch. Clark, Preußen – Aufstieg und Niedergang. 1600– 1947, München 2007, S. 682 ff.
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Augenblick der Kunde vom bevorstehenden Angriff ohne politische Berater, allein ein Teil ihres Offiziersstabs und ein weiterer Adjutant sind anwesend. Die hierarchische Befehlsstruktur setzt den Militärapparat in Bewegung und innerhalb weniger Minuten wandelt sich das Volk der Reservisten in eine kampf bereite Armee, und das „alte Soldatenlied der Bienen“ ertönt (S. 156). Der Einigkeit beschwörende Soldatenhymnus wird wenige Augenblicke später vom Pathos der Worte der Königin arrondiert, wenn diese den Befehl zum Angriff auf die Hornissen erteilt: „Im Namen eines ewigen Rechts und im Namen der Königin, verteidigt das Reich!“ (S. 160). Den Höhepunkt der ideologischen Mobilmachung markiert derweil die Begegnung Majas mit einem sterbenden Soldaten (S. 167 f.).73 Selbst in aussichtsloser Situation bittet der tapfere Offizier seine Feinde nicht um Gnade, fügt sich seinem unumstößlichen Schicksal und lehnt die Linderungsofferte Majas ab: „Was ich haben will, nehme ich mir selbst [. . .] geschenkt will ich nichts [. . .] Ich muß sterben.“ Nach der martialischen Schilderung der erbarmungslosen Schlacht zwischen dem Bienenvolk und den Hornissen, welche für die Bienen zwar verlust- aber letztlich siegreich verläuft, überbringt ein Bote die Nachricht der Bienenkönigin an die unterlegenen Hornissen: „Gefangene sind nicht gemacht. Die Euren, die eingedrungen sind, sind alle tot. Ihr könnt wiederkommen, wann ihr wollt, es wird euch niemals besser gehen als heute, und wenn ihr jetzt fortkämpfen wollt, so fi ndet ihr uns bis auf den letzten Mann bereit“ (S. 164). Diese kurze Sequenz erinnert denn auch an die sog. Hunnenrede Wilhelms II.,74 die dieser am 27. Juli 1900 in Bremerhaven anlässlich des Auslaufens des ostasiatischen Expeditionskorps hielt, das zur Niederschlagung des Boxeraufstands in China entsendet wurde und in der der Kaiser die deutschen Soldaten aufrief: „Kommst ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“75 Die organisatorische Ausgestaltung der Staatsstruktur, die Rhetorik der Staatsakteure und die schlussendliche Wiedereingliederung Majas in den rigide, man kann sagen „preußisch“, geführten Staatsverband plädieren für eine historische Lesart,76 die sich der emanzipatorischen weniger angliedert, als sie vielmehr deren notwendiges Korrelat ist. 73 Bemerkenswert ist hier die auch an anderer Stelle auftretende Verzerrung der Natur. Indem Maja einen männlichen Soldaten antrifft, weicht Bonsels von der naturgetreuen Schilderung explizit ab, da sich die männlichen Drohnen – ohne tödlichen Stachel ausgerüstet – als kampfungeeignet erweisen. 74 Siehe S. Hanuschek, „In einem unbekannten Land / Vor gar nicht allzu langer Zeit“ – Waldemar Bonsels’ Literatur und ihre Folgen: Skizze eines Forschungsprogramms, in: Ch. Haug/A. Vogel (Hrsg.), Quo vadis, Kinderbuch? Gegenwart und Zukunft der Literatur für junge Leser, Wiesbaden 2010, S. 193 (196). 75 Der Text dieser inoffi ziellen Version der Rede ist abruf bar auf der Webseite des Deutschen Historischen Museums unter http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/wilhelm00/index.html, abgerufen am 29. 1. 2012. Siehe auch Ch. Clark, Wilhelm II. – Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, Frankfurt a. M. et. al. 2009, S. 169 ff. 76 So auch Hanuschek, Skizze (Fn. 74), S. 196 f., der anklingend an die – in der Retrospektive – durchaus vorhandene „völkische“ Rhetorik des Werks den Bogen weiterspannt und seine Untersu-
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Zu keinem anderen Verständnis gelangt, wer die normative Substanz, das legitimatorische Substrat des Staats betrachtet. Der monarchische Bienenstaat ruht auf einer Ordnung, deren oberste Maxime lautet, „daß jede in allem, was sie denkt und tut, den anderen gleichen und an das Wohlergehn aller denken muß. Es ist bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die richtige erkannt haben und die sich auf das beste bewährt hat, die einzige Grundlage für das Wohl des Staates“ (S. 9 f.). Grundlage für das idealisierte Wohl des Staats ist mithin die Negation jeglicher Individualität, die Substitution des persönlichen Glücks, wie es Maja anstrebt, durch die und das Aufgehen des Einzelnen in der Gemeinschaft. Majas Wiederaufnahme in die staatliche Schicksalsgemeinschaft ist unter dem Anspruch der Widerspruchsfreiheit nur durch die Bindung an die suprema lex zu verstehen. Sie macht nur Sinn, soweit die Regel als Verfassungsprinzip gedeutet wird, dem sich auch die Herrscherin beugen muss. Aus der inneren Logik dieser Norm hat sich die Ausreißerin durch ihren Dienst am Volk rehabilitiert, da nur durch das in der warnenden Heimkehr liegende Treuebekenntnis das Überleben des Staats gesichert werden konnte. Wer sich aber um das Wohl des Staats verdient macht, kann gerechterweise nicht mehr verstoßen, sondern muss begnadigt und fortan als propagandistischer Säulenheiliger ausgestellt werden. Im preußischen Staatsmodell, verkörpert im preußischen Geist, dem die Kardinalund Sekundärtugenden des Preußentums wie Ordnungssinn, Pfl ichtbewusstsein, Tapferkeit, Treue, Unterordnung, Fleiß und Disziplin beigemessen sind, wird der Staat zur „transzendente[n] Domäne, in der die entfremdeten rivalisierenden ‚Interessen der Einzelnen‘ zu einem kohärenten Ganzen und einer Identität verschmelzen.“77 Materiell verläuft die analytische Verbindungslinie im beiderseits propagierten Kollektivismus, der die Unterordnung und Unselbstständigkeit des Individuums als Preisgabe für die Verwirklichung des staatlichen Gemeinwohls fordert.78
3. Der Roman als Bienengleichnis Angereichert um die historische Dimension verlässt die Erzählung den Kokon des politisch harmlosen Entwicklungsromans und reiht sich ein in die Anthologie der Bienengleichnisse. Geht man den Weg durch die präsentierten Zeugnisse in umge-
chung auf nachfolgende Veröffentlichungen Bonsels’ erstreckt, darunter insb. den 1942 erschienenen Weltanschauungsroman „Dositos“, dem der Autor in der nur 100 Exemplare umfassenden Erstaufl age ein deutlich antisemitisches Vorwort voranstellte, aaO, S. 202 ff. Zum Antisemitismus Bonsels’ siehe ferner A. Rühle, Die Biene und die Blaue Blume, SZ vom 08. 03. 2011, S. 11, in der Online-Ausgabe lautet der Titel „Unsere braune Biene Maja“, abruf bar unter http://www.sueddeutsche.de/kultur/tagung-zur-literatur-unsere-kleine-braune-biene-maja-1.1069120, abgerufen am 29. 1. 2012; L. Müller, Maja (Fn. 9), S. 73 f., und die dort zitierten Erinnerungen Robert Neumanns sowie jüngst: W. Haefs, Waldemar Bonsels im „Dritten Reich“: Opportunist, Symphatisant, Nationalsozialist?, in: Hannschek, Bonsels (Fn. 4), S. 197 ff. 77 Clark, Preußen (Fn. 72), S. 495, der verweist auf die staatstheoretische Legitimation der konstitutionellen Monarchie bei G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, §§ 258, 273. 78 Vgl. Ch. Horn, Einführung in die Politische Philosophie, Darmstadt 2009, S. 18 f.
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kehrter Folge zurück, so zeigt sich ferner, dass die Schnittmenge an Versatzstücken und Anleihen beständig zunimmt. Vom verdummten Proletariat, wie es bei Carl Vogt beschrieben wird, den sozialen Unruhen und dem Ruf des unterdrückten Volks nach Zerschlagung der Klassengesellschaft und partizipativer Demokratie ist im Roman nichts zu hören. Die Biene Maja ist entgegen dem Trend ihrer Zeit79 gerade keine Sozialdemokratin.80 Auch der in gesamtökonomischer Betrachtungsweise positiven Interpretation des individuell lasterhaften Strebens bei Mandeville wird eine klare Absage erteilt. Dass eine obrigkeitliche Intervention, wie die Jupiters, keine Heilung des pathologischen Gesellschaftszustands brächte, wäre bei Bonsels ebenso undenkbar, läge darin doch die offenkundige Unterminierung der kaiserlichen Autorität. Lediglich in der Figur Majas treten Parallelen auf. Ihr anfänglicher Sündenfall gewinnt für die Rettung des Bienenvolks existentielle Bedeutung, ihre darüberhinaus gesammelte Erfahrung wird in der Rolle der königlichen Beraterin zur Quelle gesamtgesellschaftlichen Nutzens, allerdings nur um den Preis des Verlusts aller Individualität,81 und damit nicht in letzter Konsequenz. Ausweislich der apologetischen Stoßrichtung weist Bonsels’ Bienenstaat mit dem Gemeinwesen der Bienen in der „Georgica“ die meisten Gemeinsamkeiten auf. Beiden Autoren geht es um die Legitimation eines Herrschaftskonzepts mit einer starken, einheitsstiftenden Autorität an der Spitze und einem allumspannenden Tugendgleichklang, überwölbt vom obersten Prinzip widerspruchsloser Unterordnung und treuer Aufopferung für das commune bonum und zur Bewahrung dessen ewigen Bestands. Der Blick ist dabei wie beim „Engel der Geschichte“ von Walter Benjamin in sehnsuchtsvoller Besorgnis nach hinten gerichtet.82 Orientiert sich bei Vergil jedes Zukunftsdenken an den Werten des Vergangenen und ist ihm jeder Fortschrittsglaube nur in Rückbesinnung und Regeneration des von alters her vernünftigen, stoischen Ideals versöhnlich, so klingt der Erneuerungsruf bei Bonsels romantisch verklärt und politisch überholt, wird im Werk die Natur ebenso schemenhaft „zum Projektionsraum für Träume von einer Erneuerung der modernen Kultur aus dem Geist anti-moderner Zivilisationskritik.“83
E. Fazit Bonsels’ literarische Kritik an Isemanns gedankenschwerer und gefühlsüberfrachteter Dichtung84 mochte ihre Berechtigung gehabt haben. Eine Antwort blieb er – gemessen am eigenen Anspruch – nichtsdestotrotz schuldig. Den schwerlich als kind79 Im Januar 1912 bildeten die Sozialdemokraten mit ihrem bis dahin besten Wahlergebnis von über 34% der Stimmen und dementsprechend 110 Sitzen die stärkste Fraktion im Reichstag, vgl. G. Hohorst/ J. Kocka/G. A. Richter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 2, München 1978, S. 173 ff. Kritisch zur „Erdrutschwahl“ siehe Nipperdey, Geschichte (Fn. 64), S. 746 ff. 80 Wohl anders Rühle, Biene (Fn. 76), S. 11. 81 Siehe bereits unter C. II. 82 W. Benjamin, Gesammelte Schriften (hrsgg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser), Bd. I/2, Frankfurt a. M. 1990, Über den Begriff der Geschichte, S. 691 (697 f.). 83 L. Müller, Maja (Fn. 9), S. 67. 84 Siehe Zitat bei Fn. 12.
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gerecht zu empfi ndenden Humor gelingt es ihm unter einer dicken Lage aus moraltriefender Stilisierung und roher Brutalität sicher zu verstecken. So nimmt es nicht wunder, dass vornehmlich Majas Begleiter Willi in der fi lmischen Adaption für die komischen Momente sorgt,85 indem er den Part des notorischen Tollpatschs mimt, der nicht nur leichter zu ertragen ist als die ewig erfolgreiche Vorzeigegefährtin, sondern aus der Kinderperspektive realistischerweise auch mehr Raum für Identifikation belässt. Was bleibt, ist der eiserne Beigeschmack der wilhelminischen Ära und ihrer restaurativen Rhetorik sowie die Erkenntnis, dass das von Karel Gott besungene Land der Biene Maja eben doch kein unbekanntes ist.
85
Thiele, Fernsehfolge (Fn. 4), S. 73.
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Bemerkungen zum Rationalitätsbegriff der Wissenschaftstheorie und des Rechts von
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Mittelstraß, Universität Konstanz Vorbemerkung Philosophie und Jurisprudenz hatten sich einmal viel zu sagen. Von Anfang an in den antiken Rechts- und Staatstheorien eng miteinander verbunden, in vertragstheoretischen Dingen im 17. und 18. Jahrhundert Arm in Arm in eine neue Zeit gehend, die Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in die Atemwege der modernen Gesellschaft leitend, stets waren es große Philosophen – unter ihnen Locke, Rousseau, Kant, Hegel –, die Einfluß auf die Theorie des Rechts nahmen, und stets waren es große Rechtswissenschaftler, Bodin, Grotius, Pufendorf, v. Savigny und andere, die unter den Philosophen als ihresgleichen galten. Doch die großen Zeiten sind längst vorbei, die allgemeine Abkühlung im Verhältnis der Disziplinen untereinander – wohl ein Begleitumstand des Akademisierungsprozesses der Wissenschaften im 19. Jahrhundert – hat auch Philosophie und Rechtswissenschaft erreicht. Kelsen hat die Philosophen verschreckt, nicht, weil er einen konsequent positivistischen Rechtsbegriff, sondern weil er, wie mit guten Gründen gesagt wurde, überhaupt keinen sinnvollen Rechtsbegriff vertrat1, die rechtstheoretische Wende in der Rechtsphilosophie hat der Rechtswissenschaft die Philosophie weitgehend ausgetrieben. Auch haben die Dogmatiker das Sagen; disziplinäre Grenzüberschreitungen, z. B. in Richtung Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Ethik, sind in der Rechtswissenschaft nicht gern gesehen. Und doch scheinen sich beide, Philosophie und Jurisprudenz, auch wieder einander zu nähern, z. B. über den Rechtsphilosophen John Rawls, dessen einflußreiche Theorie der Gerechtigkeit an klassische vertragstheoretische Konzeptionen, insbesondere an Kant anschließt2, aber
1
Vgl. W. Lübbe, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, Tübingen 1991, 57. 2 J. Rawls, A Theory of Justice, Cambridge Mass. 1971 (dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1975).
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auch über ein wiedererwachtes philosophisches Interesse an traditionellen Kategorien der Rechtswissenschaft wie Unterlassung und Zurechnung.3 Dabei stellt von jeher die Rechtsphilosophie, innerhalb der Rechtswissenschaft zwischen Ethik und Dogmatik stehend, das Bindeglied zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft dar. Sie war (und ist) als Teil der Praktischen Philosophie mit dem Problem einer allgemeinen Begründung des Geltungsanspruchs faktischen (positiven) Rechts befaßt. Historisch erweist sich daher auch, nicht weiter überraschend, eine Naturrechtskonzeption gegenüber allen Formen des Rechtspositivismus, für den der normsetzende Wille des Staates die alleinige Rechtsquelle darstellt, als die natürliche Tochter der Rechtsphilosophie. Es sind die Prinzipien des Naturrechts bzw. die im Naturrecht zur Geltung gebrachten Prinzipien, die sowohl als Legitimationsbasis des positiven Rechts als auch als kritische Beurteilungsinstanz gegenüber dem positiven Recht in Anschlag gebracht wurden und werden, wenn auch meist nicht mehr unter diesem Titel.4 Dabei sind nach den ursprünglichen Vorstellungen eines rationalistischen Naturrechts die Prinzipien des natürlichen Rechts in der Vernunft vorgegeben, deren Gebrauch den Menschen befähige, das seiner Natur Gemäße (auch im rechtlichen Sinne) zu erkennen. In seiner voluntaristischen Variante, die nicht auf eine gegebene Ordnung, sondern auf einen ordnenden Willen abhebt, bildet das Naturrecht später selbst – nach der Ablösung eines (ursprünglich vorausgesetzten) ordnenden göttlichen Willens durch den normsetzenden Willen des Staates – eine Brücke zum Rechtspositivismus, neben dem es im wesentlichen dann nur noch als ein abstraktes Vernunftrecht existiert. Eben daran lassen sich womöglich moderne Problemlagen in der Ethik, in den Grundlagen des Rechts, in der Wissenschaftstheorie wieder anschließen. Das sind Eingangsbemerkungen, die ich schon einmal in einem kleinen Versuch zur gegenseitigen Annäherung von Rechtswissenschaft und Philosophie gemacht habe5 und die ich heute um einige wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte ergänzen möchte. Hier wiederum schließe ich an neuere wissenschaftstheoretische Diskussionen innerhalb der Rechtswissenschaft an, die unter dem Titel ‚Rechtswissenschaftstheorie‘ geführt werden, und verbinde sie mit allgemeineren Überlegungen zum Status der Theorie und des Begriffs der (wissenschaftlichen) Rationalität. Begonnen sei mit einem kurzen erinnernden Blick auf die Geschichte der Rechtsphilo3 Vgl. W. Lübbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, München 1998. Dazu auch, von juristischer Seite, G. Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, Opladen 1996 (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 344). Zum Begriff der Zurechnung vgl. ferner R. Wimmer/W. Lübbe, Zurechnung, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 1996, 861–862. 4 Vgl. H. R. Ganslandt, Rechtsphilosophie, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 1995, 511–514. Zu einer naturrechtlichen Perspektive in rechtsanthropologischen Zusammenhängen vgl., in Verbindung mit einer Cicero-Interpretation, E.-J. Lampe, Rechtsanthropologie heute, in: R. Alexy u. a. (Eds.), Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zur Standortbestimmung, Stuttgart 1991, 222–235. Hier wird gleich zu Beginn ein Satz Ciceros als ‚Motto der Rechtsanthropologie‘ zitiert und hervorgehoben („Wir müssen die Natur des Rechts erklären, indem wir sie aus der Natur des Menschen ableiten“), der unmittelbar klassische naturrechtliche Implikationen hat (222). 5 Zwischen Rechtswissenschaft und Philosophie. Versuch einer Annäherung, in: H.-J. Albrecht u. a. (Eds.), Wechselwirkungen. Beiträge zum 65. Geburtstag von Albin Eser, Freiburg i. Br. 2001, 13–25.
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sophie – unter einer besonderen, begriffskritischen Perspektive – und mit dem Status der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie.
1. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Wie jeder gute Anfang beginnt auch das Nachdenken über das Recht mit einer Unterscheidung, nämlich der zwischen dem ‚von Natur aus Gerechten‘ (δίκαιον ψύσει) und dem vom Menschen gesetzten Recht (δίκαιον νόμῳ), wobei sich auch das gesetzte Recht auf das ‚natürliche Recht‘, das zugleich für die Gerechtigkeit steht, bezieht bzw. aus diesem seine Geltung gewinnt. So ‚nähren‘ sich nach Heraklit „alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen“.6 Was hier noch zusammengedacht wird – das gesetzte Recht als Ausdruck eines natürlichen Rechts bzw. orientiert an einem göttlichen Recht –, fällt erst in der Neuzeit auseinander. Naturrecht und positives Recht werden zu Gegensätzen. Bei Platon fi ndet sich das göttliche Recht in der Idee der Gerechtigkeit wieder, die bei Aristoteles sowohl die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) als auch die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) umfaßt; bei Augustinus spiegelt sich das göttliche Recht als lex aeterna im Rechtsdenken als lex naturalis, deren Realisierung wiederum das gesetzte Recht als lex temporalis ist. So auch im Mittelalter, wenn man hier von philosophischen Differenzierungen zwischen voluntaristischen Begründungen (Fundierung des natürlichen Rechts in einem ordnenden göttlichen Willen, Duns Scotus) und intellektualistischen Begründungen (Fundierung des natürlichen Rechts in einer ordnenden göttlichen Vernunft, Thomas von Aquin) absieht, desgleichen von eher realistischen und eher nominalistischen Deutungen, je nachdem, ob ein göttliches oder natürliches Recht als gegeben oder als erst durch die Theorie Erzeugtes dargestellt wird. Erst mit den neuzeitlichen vertragstheoretischen Vorstellungen löst sich das rechtsphilosophische Denken aus den alten Unterscheidungen, die gleichwohl noch im Hintergrund weiterwirken. Aus der göttlichen Vernunft wird auch in rechtlichen Dingen die menschliche Vernunft, aus dem göttlichen Willen der normsetzende Wille des Staates. Noch für das 19. Jahrhundert gilt, daß bei „einer aus unterschiedlichen Naturauffassungen abgeleiteten, inhaltlich differierenden Ausgestaltung (. . .) die Prinzipien des Naturrechts entweder als unmittelbar geltendes Recht oder als dessen Idee sowohl Legitimationsbasis des positiven Rechts als auch kritische Instanz für dessen Beurteilung“ sind.7 Auch die Historische Rechtsschule, die mit v. Savigny das Naturrecht für den Ausdruck eines ‚bodenlosen Hochmuths‘ der Philosophen hält8, ändert daran wenig. Entscheidend ist, daß die 6 VS 22 B 114 (H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch [Berlin 1903], I–III, ed. W. Kranz, Berlin 61951/1952, 176). 7 H. R. Ganslandt, Rechtsphilosophie, a.a.O., 511 f.. Zur Epoche des ‚rationalistischen‘ Naturrechts vgl. St. Strömholm, A Short History of Legal Thinking in the West, Lund 1985, 165–211 (dt. Kurze Geschichte der abendländischen Rechtsphilosophie, Göttingen 1991, 160–202). Zur Problemgeschichte der Rechtsphilosophie allgemein: A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: A. Kaufmann u. a. (Eds.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg etc. 82011, 26–147. 8 F. C. v. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), in: Thibaut und Savigny. Zum 100jährigen Gedächtnis des Kampfes um einheitliches bürgerliches Recht für
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„Eliminierung Gottes (. . .) das voluntaristische Naturrecht in den Rechtspositivismus, das rationalistische Naturrecht in ein abstraktes Vernunftrecht“ führt.9 Am Rande sei aus Gründen historischer und systematischer Gerechtigkeit vermerkt, daß man sich die rechtsphilosophischen Dinge erkenntnistheoretisch zu leicht macht, wenn man sie auf den Gegensatz von Naturrecht als Ausdruck einer Substanzontologie10 und positivem Recht als Ausdruck eines konventionellen Gesetzesrechts bzw. eines Gesetzespositivismus bringt. Schon Platon muß nicht – auch wenn das viele Platoninterpreten so sehen – mit seiner Rede von Ideen im Sinne einer ‚Substanzontologie‘ (Ideen als substantielle Entitäten) verstanden werden. Entscheidend ist vielmehr die Unterscheidung zwischen Idee und Begriff, um die es hier (bei Platon zumindest zwischen den Zeilen) geht. Begriffe konstituieren einen Gegenstand, Ideen sind Wegweiser in einem Realisierungsprozeß. Genau dies ist gemeint, wenn Platon von der Idee der Gerechtigkeit (wie von der Idee des Guten und der des Schönen) spricht. Ideen kommt neben ihrer handlungsleitenden Bedeutung keine eigene Existenz zu; sie sind, wie Begriffe, Konstruktionen des Verstandes (oder des Geistes). Im Unterschied zu den Begriffen haben sie einen regulativen, keinen konstitutiven Sinn. Vollends klar wird dies erst bei Kant, für den (in einem praktisch-philosophischen Kontext) Ideen, und damit auch alle moralischen und rechtlichen Vorstellungen, in der Autonomie des vernünftigen Subjekts (als ‚Zwecke an sich selbst‘) gründen. Damit ist weniger eine Fehlentwicklung korrigiert als eine bislang unklare Vorstellung, nämlich die eines Naturrechts im Sinne eines Vernunftrechts, auf den Begriff gebracht. Die Unverfügbarkeit ‚subjektiven‘ Rechts des Menschen und die Positivität des Rechts lassen sich zusammendenken. Dies ist und bleibt der Kern einer – in diesem Sinne sowohl in der Philosophie als auch in der Rechtswissenschaft unverzichtbaren – Rechtsphilosophie. In dieser Weise sind denn auch die jüngeren Bemühungen, für die z. B. die Namen Radbruch und Larenz (Letzterer trotz seiner Verstrickung in die NS-Ideologie) stehen, zu verstehen, desgleichen die von der Analytischen Philosophie (v. Wright und andere) angestrengten sprachphilosophischen und logischen Ansätze (Stichwort Rechtslogik), auf anderem Felde und mit anderen Orientierungen die Wiederbelebung einer rhetorischen Jurisprudenz, die Systemtheorie des Rechts (Luhmann) und neuere Gerechtigkeitstheorien wie die mit vertragstheoretischen Mitteln arbeitende Fairneß-Theorie (Rawls) und die Diskurstheorie (Habermas) des Rechts. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Während Gegenstand der Rechtsphilosophie im dargestellten Sinne die Grundlagen des Rechts sind, befaßt sich die Rechtstheorie im wesentlichen mit strukturellen und formalen Aspekten des Rechts. Darin ist sie in mancher Hinsicht der Rechtsphilosophie ähnlich – hier wäre z. B. wieder die Rechtslogik zu nennen –, doch bewegt sie sich wie auch die Rechtsdogmatik und die Rechtssoziologie in ihrer empirischen, die faktische Rechtsentwicklung begleitenden, in ihrer analytischen, die Struktur der Deutschland, 1814–1914. Die Originalschriften in ursprünglicher Fassung mit Nachträgen, Urteilen der Zeitgenossen und einer Einleitung, ed. J. Stern, Berlin 1914, 74. 9 H. R. Ganslandt, Rechtsphilosophie, a.a.O., 512. 10 Vgl. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, in: Görres-Gesellschaft (Ed.), Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft IV, Freiburg i. Br. 71988, 707.
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Rechtsnormen, der Rechtssprache und der Rechtsordnung darstellenden und in ihrer normativen, auf den Rechtsbegriff selbst und die Rechtsdogmatik wie die Rechtsanwendung beziehenden Funktion11 in den Grenzen des bestehenden Rechts. Das macht sie philosophisch keineswegs uninteressant, geht es doch auch hier unter anderem um die Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Sätzen, speziell um die philosophisch höchst anspruchsvollen Probleme einer Normenlogik12, und um die spezifische Differenz zwischen Recht und Moral. Zugleich setzt an dieser Stelle die Wissenschaftstheorie mit ihren allgemeineren Überlegungen zum theoretischen Status einer Disziplin an. Dazu und zur besonderen Form, die wissenschaftstheoretische Konstruktionen in der Rechtswissenschaft annehmen, jetzt einige nähere Erläuterungen.
2. Wissenschaftstheorie Wissenschaftstheorie ist heute ein Teilbereich der Theoretischen Philosophie, insofern es unter einer philosophischen Perspektive um die wissenschaftlichen Formen der Wissensbildung, insbesondere um deren theoretische Formen, geht. Begriffsbildung, Theoriebildung, Methodenbildung unter besonderer Berücksichtigung historischer Entwicklungen und des systematischen Status wissenschaftlicher Erklärung und wissenschaftlicher Wahrheit stehen im Mittelpunkt. Ziel ist die Klärung wissenschaftlicher Wissensbildungsprozesse bzw. die systematische Rekonstruktion wissenschaftlicher Theoriebildungen unter den genannten Aspekten.13 In der so genannten Konstruktiven Wissenschaftstheorie, die ihren Anfang in den 1960er Jahren an der Universität Erlangen nahm, erfolgt diese Rekonstruktion in der Weise, daß die Gegenstände der Wissenschaft (Begriffe, Theorien, Methoden) als Konstruktionen begriffen werden14, und dies sowohl unter Gesichtspunkten der Forschung als auch unter Gesichtspunkten der Darstellung, d. h. der Verfahren zur Geltungssicherung wissenschaftlicher Aussagen und Theorien. Drei Stichworte sind in diesem Zusammenhang thematisch maßgebend: Theorienstruktur, Theoriendynamik und Theorienexplikation. Unter dem Stichwort Theorienstruktur werden erstens Strukturen der Wissenschaftssprache analysiert, z. B. in Form einer Zwei-Stufenkonzeption, d. h. der Unterscheidung zwischen einer Theoriesprache und einer Beobachtungssprache, zweitens Strukturen wissenschaftlicher Gesetze und Erklärungen, z. B. über die Formulierung von Kriterien der Gesetzes11 Vgl. B. Rüthers, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, München 42008, 15 f., 52010 (mit Chr. Fischer), 15 f. So auch schon R. Dreier, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte (1988/90), in: ders., Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie 2, Frankfurt/Main 1991, 211–235, bes. 217. 12 Dazu, zur Normenlogik und ihrer Semantik, die gründliche Darstellung von E. Morscher, Normenlogik. Grundlagen – Systeme – Anwendungen, Paderborn 2012. Vgl., speziell zur Rechtslogik, ders., Kann denn Logik Sünde sein? Die Bedeutung der modernen Logik für Theorie und Praxis des Rechts, Wien 2009, 111–166 (IV Nomenlogik und Rechtslogik). 13 Vgl. M. Carrier, Wissenschaftstheorie, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 1996, 738–745. 14 Dazu C. F. Gethmann, Wissenschaftstheorie, konstruktive, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, 746–758.
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artigkeit und die Strukturidentität von Erklärung und Prognose, drittens der Auf bau von Theorien, etwa im Hinblick auf zentrale und nicht-zentrale Teile einer Theorie. Unter das Stichwort Theoriendynamik fallen z. B. Probleme der semantischen Reduzierbarkeit zweier Theorien aufeinander, die entweder als problemlos (Popper) oder unmöglich (Kuhn) angesehen wird, und transtheoretisch anwendbarer Kriterien im Leistungsvergleich von Theorien untereinander. Dabei stehen sich in der wichtigen Frage einer Begründung transtheoretischer Kriterien vor allem drei Ansätze gegenüber: Erstens die konventionelle Verpfl ichtung auf ein Wissenschaftsziel (Popper), zweitens die Forderung nach historischer Konsistenz, wonach jede Methodologie, auf Wissenschaftsentwicklungen angewandt, ihre eigenen Anforderungen an wissenschaftliche Theorien auch selbst erfüllen muß, und drittens erkenntnistheoretische Begründungen, etwa im Begriff der Wahrheitsähnlichkeit (Popper) oder der Begründungskonstruktion (Konstruktivismus). Schließlich behandelt die Wissenschaftstheorie unter dem Stichwort Theorienexplikation forschungsnah Fragen, die die Theorieentwicklung einzelner Disziplinen selbst betreffen, so in Form einer Philosophie der Physik oder einer Philosophie der Biologie. Fragen dieser Art lauten etwa, ob die Geometrie des Raumes nach Festlegung der Kongruenzdefinition empirisch eindeutig bestimmbar ist oder ob es eine physikalische Auszeichnung für die Anisotropie der Zeit gibt. Je nachdem wie Antworten bzw. Konstruktionen bezogen auf Theorienstruktur, Theoriendynamik und Theorienexplikation ausfallen, führen sie zu unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und damit auch zu unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen. Wissenschaftstheorie in der hier kurz dargestellten gegenwärtigen Form steht, wenn sie auf die Rechtswissenschaft Anwendung finden sollte, hinsichtlich der zuvor getroffenen Unterscheidungen der Rechtstheorie innerhalb der Rechtswissenschaft näher als der Rechtsphilosophie (wenn als Teil der Rechtswissenschaft verstanden). Sie bezöge sich auf die Theorieform von Teilsystemen, hier in Form von Rechtsdogmatiken, und auf deren Entwicklung. Als solche stand die Wissenschaftstheorie lange Zeit im Schatten des rechtswissenschaftlichen Interesses, doch scheint sich die Situation gegenwärtig zu ändern. So macht sich allgemein wieder ein stärkeres Theorieinteresse geltend15, und zwar insbesondere unter dem Stichwort ‚Rechtswissenschaftstheorie‘16. Hier geht es weniger um eine Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, die deren wissenschaftlichen Status beträfe, sondern allgemein um den Stellenwert der Theorie in der Rechtswissenschaft, für die die Rechtstheorie nur ein Beispiel – und wegen ihrer Abhängigkeit vom gegebenen Recht nur ein marginales – wäre. Spezielles Augenmerk gilt dabei der Etablierung eines ‚intradisziplinären‘ juristischen Wissenschaftstheoriediskurses17, der nicht einseitig von Teilen des Rechts 15
Vgl. die thematischen Bände: H. Schulze-Fielitz (Ed.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007 (Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften. Beiheft 7); Chr. Engel/W. Schön (Eds.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Tübingen 2007. 16 Dazu M. Jestaedt/O. Lepsius (Eds.), Rechtswissenschaftstheorie, Tübingen 2008, hier insbesondere: M. Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, 185–205. Vgl. Chr. Möllers, Der vermißte Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt/Main 2008, 120. 17 Vgl. O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt/O. Lepsius (Eds.), Rechtswissenschaftstheorie, 19, 49; M. Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, a.a.O., 188 ff.
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(Zivilrecht, Öffentliches Recht, speziell Staatsrecht, Strafrecht) her denkt, und dem Rationalitätsanspruch, der mit dem Theorieanspruch verbunden ist und wiederum in die Rechtsphilosophie, zumindest hinsichtlich ihrer allgemeinen Grundlagenteile, führt und insofern diese auch in rechtsphilosophischen Dingen wieder erkennbar werden läßt. Mit gutem Grund beklagt Lepsius die Philosophieabstinenz in der neueren Lehrbuchliteratur: „Wer Larenz zum Allgemeinen Teil des BGB las, wußte, eine hegelianische und ganzheitliche Sicht der Dinge zu bekommen; wer zu Flume griff, erwartete romanistische Distinktionen. Und welche Unterschiede bestanden zwischen dem „Deutschen Staatsrecht“ von Maunz und den „Grundzügen des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ von Hesse! Inzwischen sind Lehrbücher weithin austauschbar geworden.“18 Gerufen wird in erster Linie nicht schon nach einer normativen Wissenschaftstheorie, wie nachgerade schon befürchtet wurde19 – obgleich es in der Rechtswissenschaft immer um normative Sachverhalte, auch in ihrer eigenen Theoriebildung, geht –, sondern nach einer systematischen Reflexion der eigenen Strukturen, die deren (durchaus kontrovers erörterbaren) Grundlagen erkennen läßt. Hervorgehoben werden z. B. Fragen, „die der Rechtswissenschaftler namentlich aus Gründen reflexiver Ortsbestimmung und Selbstvergewisserung innerhalb der Jurisprudenz, also sozusagen zum Eigengebrauch und aus der Binnensicht, aufwirft“20. Daß eben diese Reflexion nicht ausschließlich analytisch verfahren kann und insofern nicht ohne normative Gesichtspunkte auskommt, dürfte allerdings auch klar sein.21 Eine derartige Vorstellung entspricht auch einer allgemeinen wissenschaftstheoretischen Ortsbestimmung der Rechtswissenschaft. Danach sind Zweck und Ziel der Rechtswissenschaft in erster Linie nicht die reine Theorie, sondern die Ausbildung und die Anwendung eines Könnens, nämlich Recht zu setzen und (mittelbar) Recht zu sprechen (Recht hier im Sinne der „Gesamtheit von institutionell kontrollierten Bestimmungen zur Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die von der akzeptierten normgebenden Instanz legitimiert werden“22 ). Ihr Erkenntnisinteresse ist (nach philosophischer Normierung) weniger ein theoretisches als ein praktisches Interesse (formulierbar etwa in der Einheit von Erkenntnisrationalität und Handlungsrationalität), auch wenn es selbstverständlich, und wie dargestellt, den wissenschaftlichen Status der Rechtswissenschaft ausmacht, in ihrer Begriffl ichkeit, in ihrer Methodik und in ihrer Dogmatik denselben Rationalitätsstandards zu folgen wie alle anderen Wissenschaften. In der Terminologie von Jestaedt bezöge sich auf diesen Status als praktische Wissenschaft die Rechts-Wissenschaftstheorie, nämlich die Wissenschaftstheorie bezogen auf die Wissensbildung in der Rechtswissenschaft23, von ihm auch als ‚exogenes 18
Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, a.a.O., 7. Vgl. Chr. Möllers, a.a.O., 163. 20 M. Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, a.a.O., 189. 21 So auch M. Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, a.a.O., 205; Chr. Engel/W. Schön (Eds.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Vorwort XII f.; U. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: A. Kaufmann u. a. (Eds.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 396 f. 22 B. Gräfrath, Recht, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, 510. 23 M. Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, a.a.O., 186–191. 19
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Verständnis‘ charakterisiert – im Unterschied zur Bedeutung einer Rechtswissenschaftswissenschaft, die als ‚endogenes Verständnis‘ charakterisiert wird und unter deren Gegenständen etwa die (Frage nach der) Einheit des Rechts auftritt. Wo es wiederum um die Grundlagen des Rechts und um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, Recht und Schuld sowie vergleichbare Beziehungen geht, die das Recht mit anthropologisch relevanten Beständen der menschlichen Befi ndlichkeit, der conditio humana, verbinden, treten rechtsphilosophische Gesichtspunkte hinzu. Entscheidend ist, daß die Rechtswissenschaft, für die wiederum zunehmend auch intra- und transdisziplinäre Forschungsformen geltend gemacht werden, nicht nur einer eigenen Rationalität folgt, „die letztlich auf die Handlungsrationalität der (ihr) zugrundeliegenden vortheoretischen Könnensbestände zurückgeht“24, sondern auch in Form praktischer Fächer, in gleicher Weise wie z. B. auch die medizinischen Fächer, ihre Zwecke und Ziele weniger in der Theorie als in der Praxis hat, d. h., daß sie „auf das intersubjektiven Verbindlichkeiten unterworfene Handeln zwischen menschlichen Akteuren bezogen“ ist25. Darin liegt nicht zuletzt die spezifische juristische Orientierungsfunktion, eine Funktion, die auch die Wissenschaften in der modernen Welt haben (haben sollten) und die in diesem Falle, im Falle der Rechtswissenschaft, bereits in deren Wesen als praktischer Wissenschaft liegt. Normative Gesichtspunkte treffen sich hier sowohl aus einer internen (‚endogenen‘) als auch aus einer externen (‚exogenen‘) wissenschaftstheoretischen Perspektive. Entsprechend heißt es z. B. bei Häberle, daß sich die Rechtswissenschaft „über die handlungspraktische und entscheidungserhebliche Bedeutung juristischer Begriffsbildung i. S. einer praktischen Theorie Rechenschaft zu geben“ hat.26 Unmittelbar auf die Rechtswissenschaftstheorie bezogen bedeutet das, daß diese in der Lage sein muß, „die Dynamik der Wirklichkeit und des Rechts einzufangen und in ihren Begriffen zu reflektieren. Sie muß der normgeleiteten rechtswissenschaftlichen Arbeit eine wirklichkeitsorientierte Dimension geben können, um so eine normative Selbstisolierung der normativ-dogmatischen Rechtswissenschaft zu überwinden“27. Auch hier treffen sich wieder beide Aspekte einer Rechtswissenschaftstheorie – der (nach Jestaedt) exogene Aspekt (Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft) und der endogene Aspekt (Wissenschaftstheorie in der Rechtswissenschaft). Rechtswissenschaft ist ein ‚praktisches Fach‘ und sie ist normativ: „Dafür braucht man normative Maßstäbe.“28
24
C. F. Gethmann u. a., Gesundheit nach Maß? Eine transdisziplinäre Studie zu den Grundlagen eines dauerhaften Gesundheitssystems, Berlin 2004 (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte 13), 48. 25 A.a.O., 49. 26 Allgemeine Staatslehre, demokratische Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre?, Archiv des Öffentlichen Rechts 98 (1973), 130. 27 A. van Aaken, Funktionale Rechtswissenschaftstheorie für die gesamte Rechtswissenschaft. Eine Skizze, in: M. Jestaedt/O. Lepsius (Eds.), Rechtswissenschaftstheorie, 82. 28 Chr. Engel/W. Schön (Eds.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Vorwort XII f.
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3. Der Rationalitätsbegriff der Wissenschaftstheorie Wenn in der Wissenschaftstheorie Theorienstruktur, Theoriendynamik und Theorienexplikation das Thema bilden, ist auch von Rationalität die Rede. Theorien sind Ausdruck wissenschaftlicher Rationalität, die sich wiederum allgemein über die Existenz von Rationalitätsstandards oder Rationalitätskriterien wie Nachprüf barkeit (wissenschaftlicher Ergebnisse), Reproduzierbarkeit (wissenschaftlicher Verfahren und Ergebnisse) sowie begriffl icher, methodischer und theoretischer Klarheit definiert, aber etwa in der Frage transtheoretisch anwendbarer Kriterien im Leistungsvergleich von Theorien auch als abhängig von der Theorienbildung selbst gilt (so in der Konzeption einer Theoriendynamik bei Kuhn 29 ). Hier wird der Rationalitätsbegriff relativiert und selbst abhängig gemacht von Sachverhalten, die er eigentlich beurteilen soll. Das wiederum macht eine genauere Bestimmung des Rationalitätsbegriffs erforderlich, bevor er seine Anwendung in der Wissenschaftstheorie findet bzw. fi nden sollte. Rationalität bezeichnet die besondere Art und Weise, wie Geltungsansprüche eingelöst werden. Im Unterschied zu mythischen Formen der Geltungssicherung erfolgt die Einlösung derartiger Ansprüche nicht unter Berufung auf übermenschliche Mächte – Götter oder Naturgewalten –, auch nicht (im ethischen Falle) unter Berufung auf vorab absolut gesetzte Werte, die wie etwa das Gute, das Gerechte und das Vernünftige der Behauptung nach keiner weiteren Begründung mehr bedürfen, sondern auf argumentativen, verfahrensbestimmten Wegen. Zugleich führt die im griechischen Denken erfolgte Entdeckung der Möglichkeit derartiger verfahrensmäßig eingelöster Geltungsansprüche, die selbst wieder die Entdeckung der Möglichkeit von Philosophie und Wissenschaft überhaupt bedeutet 30, dazu, dem Menschen entsprechende Vermögen wie Vernunft und Verstand zuzusprechen, womit neben einen prozedural bestimmten Rationalitätsbegriff ein ‚substantiell‘ bestimmter Rationalitätsbegriff tritt. Beide zusammen bilden aufeinander bezogene Bestimmungen von Rationalität und damit die Einheit der Rationalität. Das kommt auch in der Explikation unterschiedlicher Rationalitätstypen zum Ausdruck, z. B. mit den Unterscheidungen zwischen diskursiver und prädiskursiver Rationalität (die Rationalität von Regeln und Voraussetzungen), zwischen reduktiver und produktiver Rationalität (die Rationalität rückwärts und vorwärts schreitender Begründungsbemühungen), zwischen regulativer und konstativer Rationalität (die Rationalität präskriptiver und deskriptiver Verfahren) und die zwischen kommunikativer und strategischer Rationalität (die Rationalität verständigungsorientierter und erfolgsorientierter Verfahren).31 Deren Einheit besteht wiederum in der Einheit argumentativer und verfahrensmäßiger Rationalität. 29 Vgl. J. Mittelstraß, Historismus in der neueren Wissenschaftstheorie, in: Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie (Symposion der Leibniz-Gesellschaft Hannover, 29. und 30. November 1974), Wiesbaden 1977 (Studia Leibnitiana. Sonderheft 6), 43–56. 30 Vgl. J. Mittelstraß, Die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962–1966), 410–435, ferner in: J. Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt/Main 1974, 29–55, 209–221. 31 Diese Unterscheidungen nach C. F. Gethmann, Rationalität, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, 468–481.
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Das gilt auch für den wissenschaftlichen Rationalitätsbegriff, und zwar sowohl im Sinne einer Forschungsrationalität als auch im Sinne einer Darstellungsrationalität, die das griechische Denken in Form einer Theorierationalität, d. h. mit der Formulierung allgemeiner (‚theoretischer‘) Sätze und dem Beweis dieser Sätze in bestimmten Konstruktions- und axiomatisch wie deduktiv geordneten Zusammenhängen, gleich miterfunden hat. Allerdings wird dies in der Wissenschaftstheorie eben auch anders gesehen, nämlich dort, wo von unterschiedlichen Rationalitätsmodellen gesprochen wird. Damit bezieht sich die Wissenschaftstheorie auf unterschiedliche Deutungen von Theoriestrukturen und Theoriegenesen. Unterschieden werden im wesentlichen drei Modelle, nämlich ein fallibilistisches, ein historistisches und ein strukturalistisches Modell.32 Nach dem fallibilistischen Modell bezieht sich der Begriff der wissenschaftlichen Rationalität nicht mehr auf den Auf bau von Theorien, sondern auf Verfahren ihrer Kritik, und werden wissenschaftliche Rationalitätsstandards konventionalistisch als Regeln in einem ‚Spiel Wissenschaft‘ (Popper) gedeutet. Nach dem historistischen Rationalitätsmodell erfolgt eine Beurteilung von Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Theorien, einschließlich derjenigen Standards, denen sie folgen, allein auf der Basis faktischer theoretischer Entwicklungen. Nach dem strukturalistischen Modell sind es in einer modelltheoretischen Konstruktion wissenschaftstheoretisch reflektierte Strukturen, die über die der Theoriebildung inhärente Rationalität entscheiden. In allen drei Fällen verabschiedet sich die Wissenschaftstheorie von der Idee einer Begründungsrationalität, wie sie dem zuvor skizzierten allgemeinen Rationalitätsbegriff entspricht. Ohnehin signalisiert die Rede von Modellen eine gewisse Beliebigkeit, insofern Modelle der vereinfachenden Darstellung komplexer Sachverhalte und der Veranschaulichung abstrakter Strukturen dienen. Eine Explikation der normativen Rolle von Rationalität leisten sie damit nicht. Faktisch wirkt hier ein problematisches wissenschaftstheoretisches Toleranzprinzip, welches besagt, daß Rationalität das ist, was jeweils in einem Modell wissenschaftlicher Rationalität dargestellt wird. Von diesem oberflächlichen Umgang mit dem Rationalitätsbegriff sollte sich die Rechtswissenschaft nicht anstecken lassen. Wie es wenig überzeugend wäre, den Vernunftbegriff im Modellsinne zu relativieren – hier dürfen wir im Gegenteil beruhigt auf Kant zurückgreifen –, ist es angezeigt, dies auch im Falle des Rationalitätsbegriffs nicht zu tun. Zwar gibt es in dem Sinne unterschiedliche Rationalitäten, in dem wir von unterschiedlichen Rationalitätstypen sprechen und dabei auf Besonderheiten disziplinärer Begriffsbildungen (etwa in der Ökonomie oder in der Soziologie) stoßen, doch handelt es sich dabei rechtverstanden um spezifische Ausprägungen und Anwendungen ein und desselben Rationalitätsbegriffs, nicht um modellhaft ausgearbeitete Varianten dieses Begriffs selbst. Das gilt auch für die Rechtswissenschaft, wenn sie ihren Grundlagen, zu denen auch der Rationalitätsbegriff im theoretischen wie im praktischen, normativen Sinne gehört, nahebleiben will.33 32 Vgl. J. Mittelstraß, Die Philosophie der Wissenschaftstheorie. Über das Verhältnis von Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsethik, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 19 (1988), 308–328, hier 315–319, ferner in: J. Mittelstraß, Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt/Main 1989, 167–193, hier 177– 181. 33 O. Lepsius spricht, bezogen auf die Kontroverse zwischen Dogmatikern und Theoretikern in der
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Schlußbemerkung Alles hier über die Theoriebildung im allgemeinen und über die Wissenschaftstheorie im besonderen Gesagte versteht sich als ein Plädoyer für die Wiederkehr philosophischer Aspekte – in der Wissenschaftstheorie selbst und in ihren Anwendungen in den Wissenschaften, also auch in der Rechtswissenschaft, hier in Form der Rechtsphilosophie. Wissenschaftstheorie, die sich auf allein formale oder innertheoretische Gesichtspunkte bei der Behandlung ihres Gegenstandes beschränkt, greift zu kurz. Sie verliert nicht nur die normativen Bezüge, die den Gegenstand selbst charakterisieren, aus dem Blick, sie übersieht auch die normativen Implikationen, die sich mit ihr selbst, ihrem Zugriff auf ihren Gegenstand verbinden. Bezogen auf andere Disziplinen, z. B. die Physik, mag das auf den ersten Blick nicht unmittelbar der Fall sein, bezogen auf die Rechtswissenschaft ist das offenkundig. Übrigens nicht nur unter Gesichtspunkten der Forschung und der Darstellung, d. h. der Theoriebildung. Wer das Recht lernt, sollte auch lernen, über das Recht nachzudenken. Schließlich ist sein Gegenstand nicht gegeben, wie etwa Naturgegenstände gegeben sind. Es ist vielmehr das Nachdenken über das Recht, das das Recht hervorbringt. Ausdruck dieses Nachdenkens ist auch und gerade die Idee der Gerechtigkeit bzw. das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit; und es ist das Verhältnis von Theorie und Praxis, welches das besondere juristische Wissen und das besondere juristische Können ausmacht. Erst in der Verbindung rechtswissenschaftstheoretischer Gesichtspunkte, externer (‚exogener‘) wie interner (‚endogener‘) Art, und rechtsphilosophischer Gesichtspunkte spiegelt sich das Recht in allen seinen analytischen und normativen Dimensionen, und zwar in Wissenschaftsform, wider bzw. gewinnt es diese Dimensionen, wenn sie denn verloren sein sollten, wieder zurück.
Rechtswissenschaft, von jeweils eigenen Rationalitätsansprüchen (und Erkenntnisinteressen), die nur in die ‚professionelle Abschottung‘ führen (Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, a.a.O., 4).
Antrittsvorlesungen
Rationalität des Rechts und „Irrationalität“ demokratischer Rechtsetzung Eine Problemskizze am Leitfaden der „Hartz IV“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von
Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth I. Einleitung: Was ist rational? „Rationalität des Rechts und ‚Irrationalität‘ demokratischer Rechtsetzung“. Das ist ein weites Feld, und manch einer von Ihnen wird sich fragen, warum mich dieses Thema interessiert.1 Der Bayreuther Lehrstuhl, für den ich verantwortlich bin, widmet sich dem öffentlichen Recht mit Schwerpunkten im Sozial-, Wirtschafts- und Gesundheitsrecht. Sieht man sich diese Materien genauer an, insbesondere das Sozialrecht, dann kann man allerdings sehr schnell auf die Idee kommen, dass es sich lohnt, etwas intensiver über Rationalität und Irrationalität im Recht nachzudenken.2 Einige Überlegungen hierzu möchte ich im Folgenden präsentieren. Im Rahmen dieses Symposiums, das anstelle einer einzigen Antrittsvorlesung zwei Antrittsvorlesungen mit einem Festvortrag verbindet,3 ist dies schon aus Zeitgründen nur in Form einer Problemskizze möglich.4 1
Zum grundlagentheoretisch informierten Umgang mit dem positiven Recht noch unten sub V. Denn das Sozialrecht gilt nicht als Musterbeispiel einer stringent durchkomponierten Rechtsmaterie, es ist nicht auf dem Reißbrett „eines Meisterarchitekten der Gesetzgebung“ (Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 1) entstanden. Die Stellungnahmen zur systematischen Systemlosigkeit des Sozialrechts sind Legion, vgl. Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 1 ff., 6 ff. m. weit. Nachw. 3 Das Symposium fand am 4. 5. 2012 unter dem Oberthema „Rationalität des Rechts durch rationale Rechtswissenschaft“ statt. An den Festvortrag von Jürgen Mittelstraß schlossen sich die Antrittsvorlesungen von Kay Windthorst und Stephan Rixen an. 4 Das bedeutet auch, dass nicht alle kritikwürdigen Aspekte des „Hartz IV“-Urteils des BVerfG benannt werden, s. dazu die in Fußn. 12 genannten Beiträge, s. außerdem die exzellente Feinanalyse von Miriam Meßling, Grundrechtsschutz durch Gesetzgebungsverfahren. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (SGB II-Regelsatz-Urteil), in: Festschrift für Renate Jaeger, 2011, S. 787 ff. 2
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Stephan Rixen
Dass sich das Nachdenken über Rationalität aus juristischer Sicht lohnt, verdeutlicht nicht zuletzt der Eintrag in einem der führenden philosophischen Handbücher, wo es lapidar heißt: „In der Rechtswissenschaft hat R[ationalität] keine originäre Bedeutung [. . .].“5 Das ist durchaus „nah dran“ an der realen rechtswissenschaftlichen Situation, denn das Wort „Rationalität“ wird in rechtswissenschaftlicher Literatur6 und Rechtsprechung7 meist undefi niert oder kriteriell unscharf verwandt, als sei ohnehin klar, was man darunter verstehen müsse. Was meine ich, eingedenk des Anwendungsbezugs der Rechtswissenschaft und vorbehaltlich der Überlegungen, die erst noch anzustellen sind, mit „rational“? In Anlehnung an Max Weber gehe ich davon aus, dass es um ein (rechtswissenschaftlich zu reflektierendes) Handeln geht, das „weder affektuell (und insbesondere nicht emotional) noch traditional“ gesteuert ist, sondern das sich „nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke rational abwägt“8. Lässt man auf der Basis eines weiten Akteursverständnisses kollektive Akteure als Handelnde gelten,9 dann kann auch der Gesetzgeber rational handeln, wobei Gesetzgeber hier eine Sammelbezeichnung für die gesetzgebenden Körperschaften ist.10 Rationales Handeln in diesem Sinne setzt empirisches Wissen voraus, weil ohne dieses Wissen Zusammenhänge zwischen Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen nicht hergestellt werden können. Rationales Verfassungsrecht, 5 Lothar Rolke, Rationalität, Rationalisierung, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 52 (59). 6 Immer noch aussagekräftige Bestandsaufnahme bei Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 777 ff., insb. S. 795 ff.; was mit Rationalität gemeint ist, wird selten fraglos deutlich, s. etwa aus jüngerer Zeit Bernd Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 ff.; Matthias Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl 2011, 1053 ff. 7 So spricht das BVerfG etwa allgemein (bezogen auf Art. 3 Abs. 1 GG) vom „Gebot der Rationalität“ (BVerfGE 111, 115, Rn. 80) oder (bezogen auf Art. 14 GG) von einem „hinreichende[n] Maß an Rationalität“ (BVerfGE 115, 97, Rn. 40; BVerfGE 123, 111, Rn. 32). Es spricht allgemein von „wirtschaftliche[n] Rationalitätserwägungen“, „wirtschaftliche[r] Rationalität“ bzw. „rationale[r] Begrenzung der Bundesverschuldung“ (BVerfGE 119, 96, Rn. 169 f., Rn. 189), es spricht (bezogen auf die StPO) von der „Eigenrationalität, die der Formenstrenge innewohnt“ (BVerfGE 122, 248, Rn. 142) oder der „marktwirtschaftliche[n] Handlungsrationalität“ (BVerfGE 129, 356, Rn. 30). In der Fachgerichtsbarkeit (nachfolgend Beispiele aus der Sozialgerichtsbarkeit) fi nden sich ähnlich vage Wortverwendungen: Anknüpfend bei Art. 3 Abs. 1 GG ist von der Zweck- und der Begründungsrationalität jeden staatlichen Handelns die Rede (vgl. SächsLSG, NZS 2001, 438, Rn. 32), von der „Rationalität der zu Grunde liegenden gesetzgeberischen Einschätzungen“ (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 29. 11. 2010 – L 11 AS 611/07 –, FEVS 63, 29, Rn. 22), ferner davon, dass im Lichte des Gebotes der Folgerichtigkeit für die Abweichung von einem „vorherigen Rechtsgedanken“ ein „vernünftiger oder plausibler Grund zu fordern ist“ (BSGE 90, 56, Rn. 27). In Bezug auf den Erlass untergesetzlicher Normen wird auf die „besondere politische Komponente“ verwiesen: „Sie sind oft Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und vollziehen sich deshalb nicht nach den Grundsätzen strenger Rationalität“ (LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 19. 12. 2007 – L 17 U 128/07 –, Rn. 24). 8 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 13; dazu Peter Wehling, Rationalität und Nichtwissen. (Um-)Brüche gesellschaftlicher Rationalisierung, in: Nicole C. Karafyllis/Jan C. Schmidt (Hrsg.), Zugänge zur Rationalität der Zukunft, 2002, S. 255 (257 f.). 9 Zusf. zu diesem auf Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf zurückgehenden Ansatz Frank Nullmeier, Politische Theorie des Sozialstaats, 2000, S. 269 ff. 10 Vgl. Art. 55 Abs. 1 GG.
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das die Tätigkeit des Parlamentsgesetzgebers rahmt, wäre danach solches, das für den Prozess der Erzeugung von unterverfassungsrechtlichem Recht Rationalitätsanforderungen formuliert, also insbesondere Anforderungen dazu aufstellt, wie der parlamentarische Gesetzgeber empirisches Wissen über die Welt, die er ordnen und umgestalten will, ermittelt und als aussagekräftig darstellt.11 Genügt das Produkt parlamentarisch-demokratischer Rechtsetzung, das Gesetz, diesen Anforderungen, dann handelt es sich um rationales Recht. Genügt es den Anforderungen nicht, dann handelt es sich im vorgenannten Sinne um ein irrationales Produkt demokratischer Rechtsetzung und der Gesetzgeber wäre ein irrationaler Gesetzgeber. Nur dieser Ausschnitt aus dem Universum der Rationalitätsdebatten soll hier interessieren: Wie Recht – als Output eines Rechtsetzungsprozesses – dadurch rational wird, dass der Rechtsetzer seine Normen, die Realität abbilden und verändern sollen, auf empirisches Wissen über die Realität auf baut. Die damit angesprochene Problematik lässt sich am Beispiel der „Hartz IV“-Gesetze gut nachvollziehen.12 Eine Kammer des Sozialgerichts Berlin hat dem Bundesverfassungsgericht vor kurzem die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob die Neuregelung der „Hartz IV“-Regelsätze den Vorgaben an die Gewährleistung des Existenzminimums genügt,13 die das Bundesverfassungsgericht in seinem „Hartz IV“-Urteil aus dem Jahre 2010 formuliert hat.14 Die Vorlageentscheidung des Sozialgerichts wirft zahlreiche Fragen auf, auch – wie zumindest die Kläger des Ausgangsverfahrens meinen – die Frage, ob Ratenzahlungen für eine Playstation etwas mit dem Existenzminimum und der Menschenwürde zu tun haben,15 aber das soll hier dahinstehen. Mich interessiert etwas anderes. Das Sozialgericht Berlin setzt sich sehr ausführlich mit der Argumentation auseinander, die das Bundesverfassungsgericht in seiner „Hartz IV“-Entscheidung vor gut zwei Jahren entwickelt hat. Die Überlegungen aus Karlsruhe fasst das Sozialgericht Berlin u. a. in dem Satz zusammen: „Der demokratische Prozess ist auf rationale Ent11 Zum Wissen, das durch die Verbindung mit Begründungen zur begründeten Kenntnis wird und nicht mehr nur Information ist, Jürgen Mittelstraß, Gestörte Verhältnisse? Zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Wissenschaft, in: Hermann J. Schuster (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftstransfers, 1990, S. 43 (52). 12 Im Folgenden greife ich auf Überlegungen und z. T. auch auf Formulierungen in früheren Publikationen zurück: Stephan Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik? „Hartz IV“ auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, Sozialrecht aktuell (SRa) 2010, S. 81 ff.; ders., Was folgt aus der Folgerichtigkeit? „Hartz IV“ auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts. Erste Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 9. 2. 2010 („Hartz IV-Urteil“), Die Sozialgerichtsbarkeit (SGb) 2010, S. 240 ff.; s. auch Stephan Rixen, Entspricht die neue Hartz IV-Regelleistung den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts?, Sozialrecht aktuell (SRa) 2011, S. 121 ff.; ders., Buchbesprechung: Wolfgang Spellbrink/Johannes Münder/Steffen Luik, Verfassungsrechtliche Probleme im SGB II. Neue Regelleistungen und Organisationsreform, Reihe DSGT Praktikerleitfäden (hrsgg. v. Deutschen Sozialgerichtstag) 2011, Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 2011, S. 333 f. 13 SG Berlin, Beschl. v. 25. 4. 2012 – S 55 AS 9238/12 –, s. auch den weiteren Vorlagebeschluss SG Berlin, Beschl. v. 25. 5. 2012 – S 55 AS 29349/11 –. 14 BVerfGE 125, 175 (Urt. v. 9. 2. 2010). – Im Folgenden wird nicht thematisiert, ob bzw. inwieweit dieses Urteil möglicherweise durch das Urteil des BVerfG zu den existenzsichernden Geldleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 18. 7. 2010 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11), s. etwa Rn. 96, punktuell präzisiert bzw. korrigiert wurde. 15 SG Berlin, Beschl. v. 25. 4. 2012 – S 55 AS 9238/12 –, Rn. 14 (u. a. zur Ratenzahlung für eine Playstation).
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scheidung [. . .] angelegt [. . .].“16 Dieser Satz führt uns auf die Spur sehr spezifischer Rationalitätsanforderungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem „Hartz IV“-Urteil formuliert hat. Diese Rationalitätsanforderungen – es sind zwei – kreisen um ein bestimmtes Verständnis rationalen Rechts, genauer: rationaler Rechtsetzung. Das Bundesverfassungsgericht fasst diese Rationalitätsanforderungen17 in dem Begriff der Folgerichtigkeit zusammen (ähnliche Tendenzen sind im EU-Recht unter dem Etikett „Kohärenzgebot“ bekannt, was hier allerdings nicht weiter interessieren soll).18 Was meint das Verfassungsgericht mit „Folgerichtigkeit“?
II. Folgerichtigkeit als Chiffre für ein Konzept rationaler Gesetzgebung 1. Folgerichtigkeit: quasi-gleichheitsrechtliche Selbstbindung des Gesetzgebers „Zur Konkretisierung des Anspruchs“ auf Gewährleistung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip,“ so das Bundesverfassungsgericht, „hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht zu bemessen.“19 „Hierzu hat“ der Gesetzgeber, so das Gericht weiter, „zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor“,20 allerdings muss sich der Gesetzgeber auf „belastbare Zahlen“21 stützen. „Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen [. . .] der sachlichen Rechtfertigung“22. Gerade die Formulierung „sachliche Rechtfertigung“ verweist auf den gleichheitsrechtlichen Hintergrund der verfassungsrechtsdogmatischen Rede von „Folge-
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SG Berlin, Beschl. v. 25. 4. 2012 – S 55 AS 9238/12 –, Rn. 81. Der Hinweis, dass es sich um „mehr oder weniger gegriffene Rationalitätsanforderungen“ handele (Wolfram Höfling, Diskussionsbemerkung, VVDStRL 71 [2012], S. 481), verdeutlicht, dass das BVerfG hier bestimmte Rationalitätsbilder und -kriterien an den insoweit schweigsamen Normtext des Grundgesetzes aktiv heranträgt. 18 S. hierzu – jeweils m. weit. Nachw. – Alexander Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450 ff.; Jörg Gundel, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 8. 9. 2010 (Rs. C-46/08), ZUM 2010, S. 955 (956 f.); Stephan Rixen, Europas Abschied von Altersgrenzen für Vertragsärzte? Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 12. 1. 2010 (Rs. C-341/08), Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 2010, S. 249 ff.; zum Teil wird auch im Hinblick auf die Folgerichtigkeit von einer „Kohärenzkontrolle gegenüber dem gesetzlichen Regelungskonzept“ gesprochen, Klaus Ferdinand Gärditz, Das verfassungsrechtliche Existenzminimum im „Hartz IV“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Bonner Rechtsjournal (BRJ) H. 1/2010, S. 4 (10). Zu Unterschieden zwischen grundgesetzlicher Folgerichtigkeit und EU-rechtlicher Kohärenz Johannes Dietlein, Diskussionsbemerkung, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (97). 19 BVerfGE 125, 175, Rn. 139. 20 BVerfGE 125, 175, Rn. 139. 21 BVerfGE 125, 175, Rn. 161. 22 BVerfGE 125, 175, Rn. 139. 17
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richtigkeit“.23 Das „Gebot hinreichender Folgerichtigkeit“24 galt lange Zeit als bereichsspezifische Ausprägung des Gleichheitssatzes für den Bereich des Steuerrechts und insbesondere für den des Einkommensteuerrechts.25 Die Argumentationsfigur ist mit Denkfiguren wie Systemgerechtigkeit, Systemstimmigkeit, Konsequenz- oder Kontinuitätsgebot oder dem allgemeinen Gebot der Widerspruchsfreiheit eng verwandt.26 Anknüpfend bei einem quasi-rechtsquellenhaften Systemdenken, das seine Wurzeln in der zivilrechtlichen Methodologie einer bestimmten Epoche hat,27 wird hier eine im Ansatz steuerpolitisch motivierte Kritik 28 in ein gleichheitsrechtliches Argument transformiert29 und sodann grundrechtsdogmatisch universalisiert, also prinzipell auf alle anderen Grundrechtspositionen erstreckt. Der Gedanke der Folgerich23 Näher Rixen (Fußn. 12), SRa 2010, S. 81 (84); ders. (Fußn. 12), SGb 2010, 240 (243) – jew. m. weit. Nachw. 24 BVerfGE 120, 125, Rn. 106. 25 BVerfGE 110, 412, Rn. 64. 26 Aus der umfangreichen Literatur nur beispielhaft Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 65 f.; ders., Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 166; Peter Axer, Kontinuität durch Konsequenz in der Sozialversicherung, in: Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 965 ff.; Ulrich Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht. Zur Bedeutung von Konsistenz bei der Ausgestaltung von Sozialversicherungssystemen, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 77 ff.; Christian Bumke, Die Pfl icht zur konsisten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 ff.; Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 ff.; Josef Franz Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspfl icht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (196): „Grundsatz konsequenter Zweckrealisierung“; Simon Bulla, Freiheit der Berufswahl, 2009, S. 212 ff. (zur Systemstimmigkeit); zur Debatte s. ferner Uwe Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 ff.; außerdem Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, 2008, S. 84 zur „systematische[n] Folgerichtigkeit“; krit. Franz-Josef Peine, Systemgerechtigkeit. Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle, 1985, S. 282 ff. 27 Grdl. zur Kritik Dieter Grimm, Rezension: Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1969), AcP 171 (1971), S. 266 (269) 28 Olaf Köppe, Bundesverfassungsgericht und Steuergesetzgebung – Politik mit den Mitteln der Verfassungsrechtsprechung?, in: Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 435 ff.; Rainer Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, Festschrift für Klaus Vogel, 2000, S. 293 ff.; Bestandsaufnahme der Rspr. des BVerfG Christian Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Sigrid Emmenegger/Ariane Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Bd. 2, 2011, S. 179 ff. – Wie stark der zur Verfassungsrechtsfortbildung animierende Hautgout gegenüber der Qualität steuerrechtlicher Gesetzgebung ist, verdeutlicht gewohnt ausdrucksstark Josef Isensee, Rezension: Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, AöR 102 (1977), S. 324 (324): „Das Bedürfnis nach gesetzgeberischer Konsequenz und Kontinuität wächst in dem Maße, in dem redaktionelle Nachlässigkeit und legislatorische Flickschusterei, Hektik, Planlosigkeit, Zielunstetigkeit, Experimentier-Manie und Reform-Amok um sich greifen.“ Dazu auch Alexander Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber?, Der Staat 41 (2002), S. 429 (443). 29 Deutlich Josef Isensee, Vertrauensschutz für Steuervorteile, in: Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 611 (612); meinungsprägend insoweit insb. Paul Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, 1973, S. 80; ders., Steuergleichheit, StuW 1984, S. 297 ff.; ders., Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, S. 44; ders., Der allgemeine Gleichheitsatz, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 124 Rn. 205 ff. (zur Sachgerechtigkeit), Rn. 222 ff. (zur Folgerichtigkeit), s. insb. Rn. 223: „Die Folgerichtigkeit diszipliniert von Verfassungs wegen den Gesetzgeber, fordert die Abgestimmtheit des gesamten Gesetzgebungswerks“; Rn. 227 (zu Freiheitsrechten speziellen Gleichheitsgarantien), Rn. 234 (u. a. zur „Kunst der Gesetzgebung“).
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tigkeit lässt sich daher auch auf den „Leistungsanspruch“30 aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG übertragen. Der über das Steuerrecht hinausweisende Trend zum Argumentieren mit dem Topos „Folgerichtigkeit“ setzt sich mit der „Hartz IV“-Entscheidung fort.
2. Folgerichtigkeit: Rationalität der Realitätskonstruktion und Begründungsrationalität Das Bundesverfassungsgericht formuliert im „Hartz IV“-Urteil zunächst eine erste Rationalitätsanforderung, die man als Gebot rationaler Realitätskonstruktion bezeichnen kann: Bezogen auf die Regelsatzbemessung, so führt es aus, sei ein „im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren“ geboten. Zudem müssten die „erforderliche Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt“31 bzw. „belegt“32 werden. Nötig sei in diesem Sinne eine „empirische Grundlage“33. Dabei sei durchweg zu fragen, ob sich der Gesetzgeber „in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren“34 bewege. Sodann führt das Gericht eine zweite Rationalitätsanforderung ein: ein spezifisches Gebot legislativer Begründungsrationalität,35 das zum Gebot rationaler Realitätskonstruktion akzessorisch ist: Den Gesetzgeber treffe die „Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen“.36 Erforderlich seien hierbei „tragfähig[e]“37 Begründungen, allerdings nicht notwendig in der amtlichen Gesetzesbegründung. Komme der Gesetzgeber dieser Obliegenheit „nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang“.38 Im Klartext: Ein Begründungsmangel führt zur Verletzung der Menschenwürdegarantie.
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BVerfGE 125, 175, Rn. 134. BVerfGE 125, 175, Rn. 143. 32 BVerfGE 125, 175, Rn. 177. 33 BVerfGE 125, 175, Rn. 171. 34 BVerfGE 125, 175, Rn. 143. 35 Zu der im vorliegenden Rahmen nicht zu vertiefenden Debatte über das Ob und Wie gesetzgeberischer Begründungspfl ichten s. mit Blick insb. auf das „Hartz IV“-Urteil Timo Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpfl ichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, S. 754 ff.; Kyrill-A. Schwarz/Christoph Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Bergründungspfl ichten des Gesetzgebers, JZ 2011, S. 653 ff.; Ingwer Ebsen, Verfassungsgerichtliche Begründungs- oder Verfahrensanforderungen an den Gesetzgeber, in: Karl-Jürgen Bieback/Christine Fuchsloch/Wolf hard Kohte (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik und Sozialrecht. Zu Ehren von Alexander Gagel, 2011, S. 17 ff.; Meßling (Fußn. 4). 36 BVerfGE 125, 175, Rn. 144. 37 BVerfGE 125, 175, Rn. 142. 38 BVerfGE 125, 175, Rn. 144. 31
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3. Folge der Folgerichtigkeit: ein „irrationaler“ Gesetzgeber Vor diesem Hintergrund – dem Gebot rationaler Realitätskonstruktion und dem Gebot legislativer Begründungsrationalität – überrascht die Subsumtion im „Hartz IV“-Urteil nicht: Die Höhe der Regelleistungen sei zwar „nicht [. . .] evident unzureichend“39, denn unstreitige Kriterien der Evidenz fehlten; die „Hartz IV“-Regelsätze sind also allein der Höhe nach nicht verfassungswidrig. Auch habe der Gesetzgeber mit dem von ihm gewählten „Statistikmodell“40 ein grundsätzlich geeignetes Verfahren gewählt. Aber er weiche zu oft von den „Strukturprinzipien des Statistikmodells“41 „ohne sachliche Rechtfertigung“42, also unvertretbar ab, insbesondere deshalb, weil er Berechnungen nicht empirisch tragfähig ermittelt und begründet habe. So gesehen, ein irrationales Gesetz, ein irrationaler Gesetzgeber, irrationale demokratische Rechtsetzung. Das Vorgehen des Gesetzgebers war aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts vor allem deshalb nicht folgerichtig, weil der Gesetzgeber einzelne Ausgabepositionen als nicht regelsatzrelevant aus der statistischen Datengrundlage heraus gerechnet hat, z. B. Ausgaben für Maßkleidung, Sportboote oder Segelflugzeuge.43 Hierbei handelt es sich nach Ansicht des Gesetzgebers nicht um Güter, die für das Existenzminimum unabdingbar sind. Eine überaus nachvollziehbare Einschätzung, nur hat der Gesetzgeber aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts den Fehler gemacht, sich auf empirische Daten zu stützen, die nicht verlässlich darüber informieren, ob in einkommensschwachen Haushalten solche Ausgaben überhaupt getätigt werden; darum hätten sie auch nicht einfach herausgerechnet werden dürfen.44 Das Gericht versteht hierbei die statistische Datenbasis, die sog. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS),45 nicht – wie der Gesetzgeber – als bloße Groborientierung, die von vornherein wegen der begrenzten Aussagekraft der Daten wertender Korrektur bedarf. Die EVS wurde nämlich nicht speziell für die Existenzminimumssicherung geschaffen, sondern erfüllt allgemeine wirtschaftsstatistische Funktionen; alle fünf Jahre werden nicht-zufällig ausgewählte mehrere zehntausend Haushalte auf freiwilliger Grundlage zu ihren ökonomischen Lebensverhältnissen befragt. Diese EVS macht das Bundesverfassungsgericht zur Basis eines Regelungsmodells mit festen Strukturprinzipien und stringenter Berechnungsmethode. Das musste den Gesetzgeber überraschen, denn dass sein Hilfsinstrument zur statistisch-empirischen Annährung an die Wirklichkeit sich durch starke „Strukturprinzipien“ auszeichnete – sozusagen ein System ist –, dies ist dem Gesetzgeber vor der Entscheidung aus Karlsruhe nicht bekannt gewesen. Der Gesetzgeber hat dieses Modell nämlich von vornherein nur als heuristisches Instrument – sozusagen als „Krücke“ der Realitätsannäherung – verstanden und 39
BVerfGE 125, 175, Rn. 151. BVerfGE 125, 175, Rn. 167, Rn. 172. 41 BVerfGE 125, 175, Rn. 173. 42 BVerfGE 125, 175, Rn. 173. 43 BVerfGE 125, 175, Rn. 175. 44 Näher BVerfGE 125, 175, Rn. 175 f. 45 Statistisches Bundesamt, Wirtschaftsrechnungen: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe – Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte 2008, Fachserie 15, Heft 4, 2010. 40
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genutzt. Das Bundesverfassungsgericht hingegen nimmt dieses statistische Hilfsinstrument gegen die gesetzgeberische Intention letztlich viel zu ernst. Der Gesetzgeber wiederum hat die konstitutive Werturteilsgebundenheit empirischer Daten ernst genommen.46 Wenn man so will, handelt es sich bei der „Hartz IV“-Entscheidung um eine Wiederauflage des sozialwissenschaftlichen Werturteils- bzw. Positivismusstreits im verfassungsrechtlichen Gewand, denn es geht um die Grenzen der Aussagekraft empirischer Daten und den Grad ihrer Interpretationsbedürftigkeit. Der Blick in die Sozialpolitikgeschichte zeigt: Die Geschichte der Versuche einer empirisch-statistischen Verwissenschaftlichung der Existenzminimumsbestimmung ist eine Geschichte des Scheiterns.47 Und dennoch stellt sich das Bundesverfassungsgericht ein Ausmaß an statistisch valider Empirie vor, das mit den verfügbaren empirischen Daten wenig zu tun hat. Zweifelsfrei aussagekräftige, zumal widerspruchsfreie und zudem wertungsfrei erstellte Daten zum Existenzminimumsbedarf von Ein-Personen-Haushalten, von Kindern, von unterschiedlich großen Familienhaushalten, von Alleinerziehenden gab es bei Erlass der „Hartz IV“-Gesetze und gibt es immer noch nicht.48 Die Verbindung (die sog. Triangulation) unterschiedlicher quantitativer und qualitativer empirischer Quellen, die mehr oder weniger direkt mit dem Existenzminimum zusammenhängen – Armutsberichte, amtliche Statistiken, Sozioökonomisches Panel, EU-Daten, nicht-repräsentative Fallstudien – ist gemessen an den Methoden der empirischen Sozialforschung außerordentlich kompliziert.49 Der Gesetzgeber hat daher mit gutem Grund, als er das ursprüngliche „Hartz IV“Gesetz erließ, darauf verzichtet, das Gesetzgebungsverfahren in ein Labor der empirischen Sozialforschung zu verwandeln, in dem möglicherweise dann doch nichts Aussagekräftiges erforscht worden wäre. Gleichwohl treibt das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in eine pseudowissenschaftliche Statistikfalle in der fachlich durch nichts gedeckten Annahme, dass eine statistisch differenziertere Auf bereitung der weiterhin als empirische Basis dienenden EVS mit ihrem beschränkten Aussagewert mehr Realitätsnähe garantiere.50 Ingwer Ebsen meint deshalb ganz zu Recht, dass das „Hartz IV“-Urteil „im Ergebnis wenig mehr bewirkt hat als ein hohes Maß an Faktenhuberei, welche die immer noch gegebenen Spielräume eher verdeckt als transparent macht.“51 46
Näher Rixen (Fußn. 12), SRa 2011, 121 (124). Hierzu Stephan Leibfried/Eckhard Hansen/Michael Heisig, Vom Ende einer bedarfsfundierten Armenpolitik? Anmerkungen zu einem Regime sozialer Grundsicherung und seinen Gefährdungen, in: Stephan Leibfried/Florian Tennstedt (Hrsg.), Die Spaltung des Sozialstaats, 1985, S. 125 ff.; außerdem Mathias Willing, Sozialhilfe, in: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 7, 2005, S. 479, 493 ff.; Mathias Willing, Sozialhilfe, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11, 2007, S. 765, 795 ff. 48 Zur Aktualisierung der Daten s. nunmehr § 10 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) v. 24. 3. 2011 (BGBl. I S. 453); zur Problematik dieser Bestimmung Rixen (Fußn. 12), SRa 2011, 121 (124). 49 S. hierzu bspw. Christian Seipel/Peter Rieker, Integrative Sozialforschung, 2003, S. 214 ff., insb. S. 224 ff.; Susanne Pickel, in: Susanne Pickel/Gert Pickel/Hans-Joachim Lauth/Detlef Jahn (Hrsg.), Methoden der vergleichenden Politik- und Sozialwissenschaft, 2009, S. 517 ff.; Hans-Joachim Lauth/Gert Pickel/Susanne Pickel, Methoden der vergleichenden Politikwissenschaft, 2009, 204 ff. 50 Hierzu Wolfgang Spellbrink, Zur Bedeutung der Menschenwürde für das Recht der Sozialleistungen, DVBl 2011, 661 (665). 51 Ebsen (Fußn. 35), S. 30. 47
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Wenn das Folgerichtigkeitskonzept derartige Folgen hat, dass nämlich der Gesetzgeber bei der empirisch-statistischen Annäherung an die bzw. bei der Konstruktion von Realität in kleinteiliger und, gemessen an der Eigenlogik statistisch-empirischen Arbeitens, in m. E. sehr fragwürdiger Weise gleichsam unter Karlsruher Kuratel gestellt wird,52 dann stellt sich vor allem eine Frage: Passt das eigentlich zum demokratietheoretischen Design des Grundgesetzes?
III. Folgerichtigkeit und Fallibilität demokratischer Rechtsetzung Der inzwischen ausgeschiedene Richter des Bundesverfassungsgerichts Brun-Otto Bryde hat eine überaus lesenswerte abweichende Meinung verfasst – leider nicht zum „Hartz IV“-Urteil, sondern zur „Nichtrauchergesetz“-Entscheidung –,53 in der er die demokratietheoretische Sollbruchstelle des Folgerichtigkeitsdenkens und seiner überstrengen Rationalitätsanforderungen klar benennt: Die Senatskollegen, meint Bryde, würden dem Gesetzgeber einen Grad an legislatorischer Perfektion abverlangen, der die realen politischen Bedingungen von Gesetzgebung gerade in Bereichen verkenne, die stark (nicht zuletzt durch mächtige Lobbys) umkämpft würden: Hierbei sei „im ersten Anlauf häufig nur ein mehr oder weniger durchlöcherter Kompromiss möglich [. . .] – und Kompromiss ist geradezu das Wesensmerkmal demokratischer Politik. Das Bundesverfassungsgericht darf keine Folgerichtigkeit und Systemreinheit einfordern, die kein demokratischer Gesetzgeber leisten kann.“54 Andernfalls werde die „Reformfähigkeit von Politik“55 gefährdet – so Richter Bryde.56 Was Bryde sagt, gilt ersichtlich auch und gerade für sozialpolitisch umstrittene Politikfelder wie die „Hartz IV“-Gesetzgebung. Die Anhänger des Folgerichtigkeitsgedankens wenden ein, Brydes Analyse habe eine rein verfassungspolitische bzw. politikwissenschaftliche Bedeutung, denn sie be52 Mir ist bewusst, dass diese pointierte Formulierung („unter Karlsruher Kuratel gestellt“) nach einer harschen Kritik an „Karlsruhe“ klingen könnte, zumal die Kritik an der „Karlsruhisierung der Politik“ (Rüdiger Voigt, Das Bundesverfassungsgericht in rechtspolitologischer Sicht, in: Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers [Hrsg.], Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 65 [71]) inzwischen (wieder einmal) sehr verbreitet ist. Dass Kritik am BVerfG nötig ist (wenn sie sich nicht in sinnfreiem „Gerichtsbashing“ erschöpft), verdeutlicht die frühere Präsidentin des Gerichts, Jutta Limbach, wenn sie betont, dass sich „alle öffentlichen Institutionen kritische Gegenfragen gefallen lassen und sich mit diesen auseinandersetzen“ müssen: „Das gilt für das Bundesverfassungsgericht umso mehr, als seine Mitglieder – im Gegensatz zu den Politikern – nicht in periodisch wiederkehrenden Wahlen zur Verantwortung gezogen werden können. Das Gericht ist zu seinem Vorteil nie von Kritik verschont geblieben. Wegen der Vielschichtigkeit der von ihm zu entscheidenden Probleme und weitreichenden Folgen seiner Entscheidungen ist es auf das kritische Mitdenken sowohl der Öffentlichkeit als auch aller juristischen Berufe angewiesen“ ( Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2. Aufl. 2010, S. 75). Letztlich mag das BVerfG die Einsicht besänftigen, dass jede/r Rechtswissenschaftler/in in Anlehnung an Ralf Dahrendorfs (Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965, S. 318) auf Intellektuelle gemünzte Formulierung die „Nachfolge des Hofnarren angetreten“ hat, dazu auch Jens Alber, Der Soziologe als Hofnarr – Zur politischen und soziologischen Aktualität des Denkens von Ralf Dahrendorf, Leviathan 38 (2010), S. 23 (29). 53 BVerfGE 121, 317. 54 BVerfGE 121, 317, Rn. 175. 55 BVerfGE 121, 317, Rn. 175. 56 In diesem Sinne auch Hebeler (Fußn. 35), DÖV 2010, S. 754 (762).
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schreibe die faktische „Kompromisshaftigkeit“ des Politikbetriebs durchaus zutreffend, erhebe sie aber irrigerweise zum normativen Aspekt der Demokratietheorie des Grundgesetzes.57 Selbst wenn der Kompromiss ein realer Faktor des Politikbetriebs sei, heiße das ja nicht, dass dies von Verfassungswegen auch so sein solle. In der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich Belege für beides finden: Ausführungen, die Brydes Einschätzung (bezeichnenderweise ohne diesen zu nennen) zurückweisen und hierbei leider zu erkennen geben, dass Brydes normativ gemeintes Argument mindestens missverstanden wurde,58 und Ausführungen, die Brydes Argument zwar nicht explizit teilen, aber dem kompromisshaften Aushandeln einen positiveren Stellenwert im Gesetzgebungsverfahren zubilligen.59 Was meint Richter Bryde? Das Denken vom Kompromiss her verdeutlicht, dass allzu starke Rationalitätsanforderungen, wie sie auch, aber nicht nur im „Hartz IV“Urteil aufgestellt werden, quer zu den normativ gewollten „Entstehungsbedingungen demokratischer Gesetzgebung“60 liegen.61 Die politische Arena ist kein Seminarraum an der Universität, indem zweckfrei und endlos räsonniert werden kann in der Hoffnung, „die“ eine richtige Lösung zu fi nden. „Kompromiss“ ist eine Chiffre für das Imperfekte, das Fragmentarische, das Änderungsanfällige, die vorläufige Endgültig-
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In diesem Sinne Thiemann (Fußn. 28), S. 188 f. Vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2012, 257, Rn. 45: „Als Differenzierungsgrund genügt es nicht bereits, dass die [. . .] vorgenommene Unterscheidung das Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen den damaligen Regierungsfraktionen in der Hamburgischen Bürgerschaft ist. Die Notwendigkeit, sich durch einen politischen Kompromiss eine parlamentarische Mehrheit zu sichern, prägt Politik. Sie kann für sich allein genommen die mit schwerwiegenden Nachteilen für die Ausübung eines Freiheitsrechts verbundene Ungleichbehandlung verschiedener Normadressaten freilich nicht rechtfertigen. Auch wenn der Gesetzgeber im demokratischen Staat regelmäßig auf politische Kompromisse angewiesen ist, gilt doch auch für ihn gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Bindung an die Grundrechte. Dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ist mithin nicht allein schon wegen des Vorliegens eines politischen Kompromisses Genüge getan, er setzt vielmehr seinerseits der Möglichkeit eines Kompromisses inhaltliche Grenzen.“ 59 BVerfG, Urt. v. 18. 7. 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Rn. 96: „Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen beziehen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundgesetz beinhaltet in den Art. 76 ff. GG Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sichern. Das Grundgesetz schreibt jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und berechnen ist. Es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG bringt insofern für den Gesetzgeber keine spezifi schen Pfl ichten im Verfahren mit sich; entscheidend ist, ob sich der Rechtsanspruch auf existenzsichernde Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lässt.“ 60 Oliver Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 (43). 61 Näher und grdl. Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit. 39. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“ in Zürich 1999, 1999, S. 123 ff.; s. auch Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (383 ff., 395 ff.). 58
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keit von Rechtsetzung in einer pluralistischen Demokratie.62 Als Teil des grundgesetzlichen Normprogramms – nicht nur als vorverfassungsrechtliche Funktionsbedingung – muss diese Charakteristik demokratischer Rechtsetzung Folgen auch für die Erfassung der Realität durch den Gesetzgeber haben. Es ist der von Versuch und Irrtum angetriebene, von Vorläufigkeit zu Kompromiss zu neuer Vorläufigkeit sich fortbewegende, um kleine Verbesserungen fehlbar ringende Gesetzgeber, der „lernende Gesetzgeber“ – auch der bei der Realitätserfassung lernende Gesetzgeber –, den das Grundgesetz vor Augen hat. Gesetzgebung ist – auch bei der Erfassung komplexer tatsächlicher Zusammenhänge – Ausdruck vorläufig-fallibler Vernünftigkeit, die die begrenzte Aussagekraft und die Widersprüchlichkeit von empirischen Daten durch begründete, aber eben im Kern durch politische Wertentscheidungen vereindeutigen muss.63
IV. Ausblick Was ist aus Sicht der Verfassungsrechtswissenschaft zu tun, damit diese Sichtweise demokratischer Rechtsetzung – dieser demokratietheoretische favor legislatoris – effektiv zur Geltung kommt? Was ist zu tun, wenn wir uns von einem allzu starken Konzept der Gesetzgebungsrationalität lösen wollen? Nur zwei Herausforderungen will ich skizzieren:
1. Wechselbeziehung von Verfassungsrecht und Gesetzgebungskunst Erstens: Neu zu justieren ist die Wechselbeziehung von Verfassungsrecht und Gesetzgebungskunst. Hinter dem verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitskonzept steht ein diffuses Bild vom „guten, vernünftigen Gesetzgeber“. Leise, sehr leise könnte sich hier ein gegen die pluralistische Demokratie gerichteter Affekt andeuten, der meint, letztlich gebe es eben doch die eine, die richtige Lösung. Der „gute, folgerichtige Gesetzgeber“ ist so nicht mehr nur eine Forderung der Gesetzgebungslehre, der Gesetzgebungskunst, er wird zur Forderung des geltenden Verfassungsrechts. Nötig ist demgegenüber, so meine ich, eine differenzierte – keine radikale – Dekonstitutionalisierung der Gesetzgebungskunst. Sie ist, so paradox dies zunächst erscheinen mag, durchaus eine Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft, denn sie muss auch defi nieren, was nicht ihre Aufgabe ist. Mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle ist daran zu erinnern, dass die Aufgabe von Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern „immer häufiger darin [besteht], innerhalb eines veränderbaren und sich stetig verändernden rechtlichen Rah62 Zu einem „Recht, dessen Ursprünge politisch sind“, das sich „in Kasuistik und Kompromissen beweg[t]“, zu einem „Recht der pluralistischen Demokratie“ Lepsius (Fußn. 60), S. 49. 63 Dazu, dass ein Recht mit kompromisshaften Zügen eine besondere Herausforderung für die methodisch-dogmatische Auf bereitung der Normen darstellt, vgl. Christian Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik. Rechtsdogmatik im Spannungsfeld von Gesetzesbindung und Funktionsorientierung, in: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was heißt Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts?, 2012, S. 17 (34).
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mens mögliche Handlungsalternativen aufzuzeigen, ihre Folgen abzuschätzen, Interessengegensätze offen zu legen und“ demgemäß „rational begründete, praktische Entscheidungsvorschläge zu erarbeiten, die je nach Brauchbarkeit dann ihrerseits wieder an den dogmatischen Diskurs rückgekoppelt werden können.“64 Zu dieser Wiederentdeckung wissenschaftlicher Rechtspolitik gehört es, die Gesetzgebungskunst, eine Disziplin mit langer Tradition,65 unter dem Dach der Verfassungsrechtswissenschaft zu aktualisieren, ohne Gesetzgebungsklugheit in jeder Hinsicht in ein Gebot des Verfassungsrechts umzudeuten. Hierbei wird es vor allem um die feinere Strukturierung des gesetzgeberischen Gestaltungs-, Einschätzungs- und Prognosespielraums gehen, der gegen allzu strenge Folgerichtigkeitsphantasien immunisert werden muss. „Let us not be afraid of legislation“,66 diese Haltung, keine gegen die Vernünftigkeit parlamentarisch-demokratischer Rechtserzeugung gerichtete Hermeneutik des Verdachts, ist angezeigt.
2. Arbeit an rechtsgebietsadäquater „Verbundrationalität“ Zweitens: Notwendig ist die Arbeit an einer rechtsgebietsadäquaten „Verbundrationalität“. Für eine verfassungsrechtswissenschaftlich reflektierte Gesetzgebungskunst ist die Arbeit an einem rechtsgebietsadäquaten Rationalitätsbegriff unabdingbar. Es geht um eine „Verbundrationalität“, die drei Aspekte von Rationalität aufeinander bezieht: – Erstens geht es um die jeweilige rechtsgebietsspezifische „Partikularrationalität“67. In der jüngeren facettenreichen Debatte zur sog. Rechtswissenschaftstheorie besteht immerhin ein Grundkonsens darüber, dass diese „Partikularrationalität“ profi liert werden müsse. Also: Was gilt in welchem rechtsgebietsspezifischen Kontext als rational, auf welche Realität beziehen sich die relevanten Normen, die ja Ordnungsmodelle von Wirklichkeit implizieren oder doch Programme dazu enthalten, wie Realität geordnet werden kann? Dies ist der erste, der rechtsspezifische Aspekt von „Verbundrationalität“. – Ein zweiter Aspekt von „Verbundrationalität“ kommt hinzu: Die spezifisch rechtsnormativen „Partikularrationalität[en]“68 werden von allgemeinen wissenschafts64 Andreas Voßkuhle, Europa als Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion – eine thematische Annäherung in 12 Thesen, in: Claudio Franzius/Franz Mayer/Jürgen Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, 2010, S. 37 (44); kritisch zur Funktion der Dogmatik Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Fußn. 63), S. 39 ff. 65 Hierzu jew. m. weit. Nachw. Diethelm Klippel, Die Philosophie der Gesetzgebung. Naturrecht und Rechtsphilosophie als Gesetzgebungswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Barbara Dölemeyer/Diethelm Klippel (Hrsg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, 1998, S. 225 ff.; ders., Gesetzgebung, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, 2006, Sp. 739 (743 ff.); s. auch für eine bestimmte Epoche Sigrid Emmenegger, Gesetzgebungskunst, 2006. 66 Roscoe Pound, Law in Books and Law in Action, American Law Review 1910, S. 12 (35). 67 Matthias Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 185 (197). 68 Jestaedt (Fußn. 67), S. 197; ähnl. ders., Braucht die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht eine fachspezifische Wissenschaftstheorie?, in: Andreas Funke/Jörn Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, S. 17 (39): „Sonderrationalitäten“ (hier ohne die im Original enthaltene kursive Hervorhebung).
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theoretischen Einsichten, also „[m]etajuristischen Rationalitätskonzepte[n]“69 fundiert, in denen es vor allem um Rationalitätskriterien wie Intersubjektivität, begriffl iche Klarheit und Widerspruchsfreiheit geht.70 – Diese beiden Aspekte von Rationalität sind – drittens – verkoppelt mit der „Eigenrationalität“ anderer Wissensgebiete: Ein Gesetzgeber, der realitätsgerecht agieren will (etwa bei der Existenzminimumssicherung), muss sich, weil er empirische Daten benötigt, mit den fachlichen Standards der Statistik bzw. der empirischen Sozialforschung vertraut machen, muss klären, ob die danach gewonnenen Daten für die spezifisch rechtliche Aufgabenerfüllung weiterhelfen oder nicht. Diese in dreifacher Hinsicht tragfähige „Verbundrationalität“ auszubuchstabieren, ist eine bleibende Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft, bei der sie grundlagentheoretisch unterstützt wird nicht zuletzt durch die philosophische Wissenschaftstheorie. Die Wissenschaftstheorie als methodische Selbstreflexion wissenschaftlicher Rationalität, die wie alle Rationalität damit befasst ist, Orientierungsprobleme zu lösen,71 muss, worauf Jürgen Mittelstraß nachdrücklich hinweist, einer verbreiteten „Erosion des Rationalitätsbegriffs“72 wehren, in deren Folge gängige Rationalitätskriterien ihre unterscheidende Kraft zu verlieren drohen. Angesichts der Uneinigkeit über das, was Rationalität im allgemeinen und wissenschaftliche Rationalität im Besonderen ausmacht, ist mit Jürgen Mittelstraß für eine die „Pluralität von Rationalitätsmodellen“73 übergreifende „transparadigmatische [. . .] Rationalitätsform“74 einzutreten, in der nicht zuletzt Kriterien wie begriffl iche Klarheit und Widerspruchsfreiheit ernstgenommen und zugleich bereichsspezifisch mit Blick auf bestimmte Wissenschaftsdisziplinen und ihre Gegenstände modifiziert werden. So gesehen, könnten die Einsichten der philosophischen Wissenschaftstheorie dazu beitragen, dass die Entwicklung einer rechtsgebietsadäquaten „Verbundrationalität“ nicht auf Sonderwege eines beliebigen, nicht mehr „anschlussfähigen“ Rationalitätsverständnisses gerät, sich also „inmitten der Konstellation von Pluralität und Übergängen“75 nicht in inkommunikablen Subjektivismus auflöst. Wenn Christoph Möllers darauf hinweist, die Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft sei „ein wieder neu entdecktes Feld“76, dann trifft das zu, wenn man unter dem Aspekt der Verbundrationalität bedenkt, dass das neue Feld noch weithin unbestellt ist.
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Meßerschmidt (Fußn. 6), S. 806. Dazu Jürgen Mittelstraß, Hat Wissenschaft eine Orientierungsfunktion? (1998), in: ders., Wissen und Grenzen, 2001, S. 13 (18 f.); s. außerdem Ulfrid Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 385 (396 ff.). 71 Jürgen Mittelstraß, Forschung, Begründung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begründungsstreit, in: Herbert Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität. Philosophische Beiträge, 1984, S. 117 (119). 72 Mittelstraß (Fußn. 70), S. 18. 73 Mittelstraß (Fußn. 70), S. 18. 74 Mittelstraß (Fußn. 70), S. 18 f. 75 Wolfgang Welsch, Vernunft. Zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, 1996, S. 49. 76 Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, 2008, S. 120. 70
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V. Zwischen den Stühlen Bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag habe ich bei Jürgen Mittelstraß die auf den Wissenschaftstheoretiker Lorenz Krüger zurückgehende Formulierung gelesen, die Wissenschaftstheorie sitze „zwischen den Stühlen“77. Das hat mir nicht nur in formelhafter Kürze die komplexe Qualität wissenschaftstheoretischer Argumente vor Augen geführt. Diese Aussage – „zwischen den Stühlen“ – bildet auch die Brücke zu einem biographisch nicht unwichtigen Ereignis. Als ich den Ruf an die Universität Bayreuth erhalten hatte, da konnte der Vorsitzende der Berufungskommission78 auf meine Frage, wieso ausgerechnet mich der Ruf ereilt habe, eine ganze Reihe von Gründen anführen. Und stellen Sie sich vor: Die Rationalität dieser Gründe hat mir sofort eingeleuchtet. Meine gute Stimmung konnte er nochmals steigern, indem er die Gründe in dem Satz zusammenfasste: „Wir haben uns für Sie entschieden, weil Sie zwischen den Stühlen sitzen.“ Das hätte manch einer nicht als Kompliment oder Ermutigung begriffen79 – ich schon. Ich verstehe das öffentliche Recht zwar von bestimmten Interessengebieten her, aber ich bewege mich dabei gewissermaßen in einem denkerischen Spagat hin zu den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Unterscheidungen und Begriffen und versuche zugleich – es sind Versuche –, zumindest etwas von den angrenzenden Grundlagenund Bezugswissenschaften zu verstehen und zu integrieren, sozusagen als „Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten“80. Konkrete Rechtsfragen, etwa wie die nach dem Existenzminimum, haben eben in aller Regel auch eine grundlagentheoretisch gefärbte Seite. Diese grundlagentheoretische Unruhe muss man wahr- und ernstnehmen, will man die Problematik einer positivrechtlichen Norm wirklich verstehen. Wer die Oberfläche der Normtexte durchstößt, den Blick auf das richtet, was dahinter grundlagentheoretisch „gärt“, dem ist der Unterschied zwischen anspruchsvoller Gesetzeskunde und innovativer Rechtswissenschaft wichtig. Das zwingt natürlich immer wieder dazu, disziplinäre und denkerische Grenzen zu überschreiten, ohne am Anfang immer schon zu wissen, wo das hinführt, wie meine natürlich fragmentarischen Überlegungen zur Rationalität des Rechts und zur „Irrationalität“ demokratischer Rechtsetzung ein wenig veranschaulicht haben. Es sind diese produktiven intra- und interdisziplinären Grenzüberschreitungen, die die Rechtswissenschaft zu einer faszinierenden und manchmal auch fröhlichen Wissenschaft machen. Solche Grenzüberschreitungen sind „die stillen, meist [. . .] aus Widersprüchen sich herausdifferenzierenden Optionen jener, die zwischen irgend77 Jürgen Mittelstraß, Die Philosophie der Wissenschaftstheorie, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 1988, S. 308 (308, 309); siehe auch Lorenz Krüger, Wissenschaftstheorie zwischen den Stühlen?, in: Kuno Lorenz (Hrsg.), Konstruktionen versus Positionen, Bd. II, 1979, S. 378 ff., insb. S. 391. 78 Der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre. 79 Zur eher negativen Konnotation der Redensart vgl. Agnieszka Rajewska-Perzyn´ska, Rolf Bongs – Dissoziation eines Schriftstellers im Spannungsfeld zwischen Selbststilisierung und Anpassung, 2009, S. 95 m. weit. Nachw. 80 So die berühmte Formulierung Jacob Burckhardts in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ (hrsgg. v. Rudolf Marx), 1978, S. 23.
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welchen Stühlen sitzen, gelegentlich auch zwischen allen, die verfügbar sind“ (Ernst Loewy).81 Die Universität Bayreuth ist für solche produktiven Grenzüberschreitungen der richtige Ort, und ich freue mich, insbesondere mit Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, auch künftig nicht zwischen allen, aber doch zwischen einigen Stühlen sitzen zu dürfen.
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S. 96.
Zit. nach Wolfgang Benz, Deutsche Juden im 20. Jahrhundert – Eine Geschichte in Porträts, 2011,
Rationalität des Rechts durch Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik von
Prof. Dr. Kay Windthorst, Universität Bayreuth* I. Die Einleitung „Rationalität des Rechts durch Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik“ – sehr geehrte Damen und Herren, ich gebe zu: der Titel meines Vortrages klingt nicht gerade mitreissend. Daran ändert wenig, wenn er als Frage formuliert wird, was mir zu Beginn meiner Überlegungen sinnvoll scheint. Denn der Zugang zu diesem Thema wird durch die Abstraktheit und Komplexität der drei Begriffe „Rationalität“, „Rechtsdogmatik“ und „Rechtsdidaktik“ erschwert, die die Eckpunkte der folgenden Ausführungen markieren. Liebe Zuhörer, nach dieser Einstimmung werden Sie sich möglicherweise wie Bergwanderer vorkommen, die zur Begehung der drei berühmten Gipfel des Berner Oberlandes aufgefordert werden. Doch solche Befürchtungen werden sich hoffentlich als unbegründet erweisen. Vielmehr bietet der Aufstieg zu diesen „Gedankenbergen“, zu dem ich Sie nun herzlich einlade, viele interessante Einsichten und Ausblicke.
II. Die Rationalität des Rechts Das erste Ziel der Betrachtung ist die Rationalität des Rechts. Sie bildet den Bezugspunkt für die Bewertung der Leistungen von Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik. Hierzu werden sich verlässliche Aussagen allerdings nur gewinnen lassen, wenn klar ist, was Rationalität des Rechts bedeutet. Das bereitet einige Schwierigkeiten.1 Diese beginnen schon bei der Defi nition von Rationalität. Sie wird zwar in * Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik der Universität Bayreuth. Der Beitrag gibt seine Antrittsvorlesung an der Universität Bayreuth wieder, die am 4. Mai 2012 im Rahmen eines Symposiums zu dem Thema „Rationalität des Rechts durch rationale Rechtswissenschaft“ stattfand. 1 Zu den Problemen, einen eindeutigen Begriff der Rationalität festzulegen, vgl. nur H. Lenk, Ra-
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aufgeklärten Staaten allgemein anerkannt. Gleichwohl ist Rationalität trotz oder wohl eher wegen ihrer langen geistesgeschichtlichen Tradition ein schillernder Begriff geblieben.2 Seine Facetten spiegeln unterschiedliche Erklärungsmodelle wider, die auf die Begründung, den Inhalt oder den Nutzen von Rationalität abstellen.3 Das hat zu einem unübersichtlichen Geflecht unterschiedlicher Rationalitätsbegriffe und -konzepte geführt. So zählt etwa Hans Lenk in seiner Untersuchung 20 verschiedene Rationalitätstypen auf.4 Infolge dieser Aufspaltung verlieren anerkannte Kriterien der Rationalität, wie Klarheit und Widerspruchsfreiheit, ihre begriffsprägende Kraft. Darauf haben Sie, lieber Herr Mittelstraß, schon früh hingewiesen.5 Rationalität läuft Gefahr, zu einer substanzlosen Hülse zu werden, die mit nahezu beliebigem Inhalt gefüllt werden kann. Die Erosion eines einheitlichen Rationalitätsbegriffs wird zusätzlich dadurch beschleunigt, dass je nach Referenzgebiet spezifische Rationalitäten entwickelt werden, die abweichenden Denkmustern folgen. So wird etwa von rechtlicher, ökonomischer und sozialer Rationalität gesprochen.6 Georg Lienbacher hat dieses relationale, partikulare Verständnis auf der Staatsrechtslehrertagung im Jahr 2012 in Münster wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Es gibt nicht die Rationalität an und für sich“. „Von Rationalität [kann] nur im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Bezugsfeld gesprochen werden.“7 Ist es also Zeit, sich von einem einheitlichen Rationalitätsbegriff zu verabschieden? Oder erheben Teile der Rechtswissenschaft einen fachspezifischen Begriff der Rationalität zum „Heiligen Gral“, ohne dass dies notwendig und sachlich gerechtfertigt ist? Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine strikt akzessorisch verstandene Rationalität des Rechts die Abschottung dieses Bereichs fördern und die Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen behindern kann.8 tionalitätstypen, in: G. Pasternack (Hrsg.), Rationalität und Wissenschaft, 1988, S. 9 ff.; M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1053 f.); T. Raiser, Max Weber und die Rationalität des Rechts, in: ders., Beiträge zur Rechtssoziologie, 2011, S. 80 (81 ff.); B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (51). 2 Vgl. J. Mittelstraß, Rationalität und Reproduzierbarkeit, in: G. Preyer / G. Peter / A. Ulfi g (Hrsg.), Protosoziologie im Kontext, 2000, S. 152 ff., der zugleich die Erosion des Rationalitätsbegriffs beklagt. 3 Zu Rationalitätskonzepten in der Jurisprudenz B. Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991, S. 100 ff. 4 Dazu zählt er etwa die reine Folgerungsrationalität, die hierarchisch-architektonische Rationalität, die materiale Rationalität, die Mittelrationalität bzw. die instrumentelle Rationalität, die Wertrationalität, die entscheidungstheoretische Rationalität, die konstruktivistische Rationalität und die szientistische Rationalität, vgl. Lenk, Rationalitätstypen (Fn. 1), S. 9 (11 ff.); Mittelstraß, Rationalität und Reproduzierbarkeit (Fn. 2), S. 152 (154 f.), unterscheidet zwischen dem fallibistischen, dem historischen und dem strukturalistischen Rationalitätsmodell. 5 Mittelstraß, Rationalität und Reproduzierbarkeit (Fn. 2), S. 152, der eine transparadigmatische Rationalitätsform favorisiert, ebda., S. 156 ff. 6 Vgl. S. Magen, Rechtliche und ökonomische Rationalität im Emissionshandelsrecht, 2009, S. 1 ff.; zu den spezifi schen Rationalitätsproblemen des Rechts A. Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: W. Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177 (189 ff.). 7 G. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (11). 8 Hierzu S. Gosepath, Eine einheitliche Konzeption von Rationalität – Ein Zugang aus Sicht der
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Eine befriedigende Antwort auf diese Fragen erfordert eine Rückbesinnung auf die wesentliche Funktion von Rationalität. Sie liegt darin, Handlungen und ihre Wirkungen zu erklären und zu bewerten.9 Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Vernunft. Rationales Verhalten ist vernunftgeleitet, es beruht auf Reflexion. Dagegen wird irrationales Verhalten als emotional, affektiv oder intuitiv qualifiziert.10 Dies soll nicht als Diskreditierung missverstanden werden. Denn Rationalität ist nicht das universelle Heilsversprechen der Moderne. Sie ist ein wichtiger, aber nicht der allein relevante Gesichtspunkt bei Entscheidungsprozessen. Ihr Erkenntnispotenzial beschränkt sich vielmehr darauf, eine vernunftgeleitete Erklärung und Bewertung von Verhalten zu ermöglichen.11 Rationales Recht ist somit vernünftiges Recht. Aber kann Recht überhaupt vernünftig sein? Das verlangt eine Auseinandersetzung mit seinem Begriff und seiner Bedeutung. Danach umfasst Recht die Gesamtheit der Sollensanordnungen, die Verbindlichkeit beanspruchen. Sie sind in Rechtssätzen und Rechtsakten enthalten. Rechtssätze sind generell-abstrakte Anordnungen, die regelmäßig in der Form eines Gesetzes ergehen. Dagegen umfassen Rechtsakte verbindliche Einzelfallentscheidungen, insbesondere Urteile und Verwaltungsakte. Gemeinsames Merkmal von Rechtssätzen und Rechtsakten ist ihre dirigistische Kraft, mittels derer sie auf das Verhalten des Einzelnen einwirken.12 Recht ist also vernünftig, wenn es eine vernünftige Ordnung etabliert.13 Dies setzt voraus, dass Recht in einem Prozess entsteht, der den Anforderungen der Rationalität genügt. Sie kann als prozedurale Rationalität bezeichnet werden, die ein wesentliches Element in Max Webers Konzept formaler Rationalität bildet.14 Eine Entscheidung ist somit rational, wenn sie begründbar, also argumentativ abgesichert, intersubjektiv vermittelbar und reproduzierbar ist.15 Was bedeutet dies konkret für die prozedurale Rationalität des Rechts? Das ergibt sich primär aus den normativen Analytischen Philosophie, in: N. Karafyllis / J. Schmidt (Hrsg.), Zugänge zur Rationalität der Zukunft, 2002, S. 29 ff.; unter dem Aspekt transparadigmatischer Rationalität Mittelstraß, Rationalität und Reproduzierbarkeit (Fn. 2), S. 152 (155 ff.). 9 Vgl. W. Sztumski, Wozu Rationalität?, in: G. Banse / A. Kiepas (Hrsg.), Rationalität heute, 2002, S. 61 (63 f.); Lienbacher, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (10 f.). 10 Diese Bewertung von Rationalität geht auf Überlegungen von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl. 1976, S. 12 f., zurück; dazu Raiser, Max Weber (Fn. 1), S. 80 (82 f.); s. ferner Gosepath, Rationalität (Fn. 8), S. 29 (51). 11 Hierzu Gosepath, Rationalität (Fn. 8), S. 29 (30 ff.); Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (51 f.). 12 K. Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, 2009, S. 384 ff.; zu Rechtssätzen ferner K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 250; zu Rechtsakten H.-P. Schneider, Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, DÖV 1975, S. 443 (449); W. Brohm, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit als Steuerungsmechanismen in einem polyzentrischen System der Rechtserzeugung, DÖV 1987, S. 265 (269 ff.); C. Brüning, Einstweilige Verwaltungsführung, 2003, S. 449. 13 Nach Ansicht von Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (51), muss Recht vernünftig sein, um dem Anspruch auf eine verbindliche Ordnung zu genügen. 14 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), S. 468 f., 563 f.; Raiser, Max Weber (Fn. 1), S. 80 (86 ff.); s. auch Peters, Rationalität (Fn. 3), S. 118; zur prozeduralen Rationalität G.-P. Calliess, Prozedurales Recht, 1999, S. 83 ff.; Scherzberg, Rationalität (Fn. 6), S. 177 (184 ff.); kritisch Cornils, DVBl. 2011, S. 1053 (1058 f.). 15 Vgl. Mittelstraß, Rationalität und Reproduzierbarkeit (Fn. 2), S. 152; G. Ropohl, Rationalität und allgemeine Systemtheorie – Ein Weg synthetischer Rationalität, in: N. Karafyllis / J. Schmidt (Hrsg.),
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Vorgaben für seine Entstehung und Wirkung, in denen spezifische Rationalitätserwartungen an das Recht gespeichert sind. Im Mittelpunkt steht dabei das Rechtsstaatsprinzip.16 Danach muss rationales Recht klar und eindeutig, berechenbar, konsistent, insbesondere widerspruchsfrei, beständig und verlässlich sein.17 Die weiteren Anforderungen an die prozedurale Rationalität des Rechts hängen davon ab, auf welcher Ebene dieses im mehrstufigen System unserer Rechtsordnung erzeugt wird. So unterliegt beispielsweise der Erlass förmlicher Bundesgesetze den Verfahrensvorschriften der Art. 76 ff. GG. Beim Erlass eines Verwaltungsakts gewährleisten die Anhörungspfl icht nach § 28 VwVfG und die Begründungspfl icht gemäß § 39 VwVfG prozedurale Rationalität.18 Die Umrisse der Rationalität des Rechts werden dadurch sichtbar. Ihr konkretes Leistungsprofi l hängt aber von einer grundlegenden Frage ab: Muss rationales Recht neben prozeduralen auch materiellen Anforderungen genügen? Anders gewendet: Ist Recht nur dann rational, wenn es mit materiellen Werten wie Gerechtigkeit, Freiheit und Gemeinwohl im Einklang steht? Max Weber lehnte dies aus soziologischer Sicht ab. Er sah in einer auf außerrechtlichen moralischen Werten beruhenden materialen Rationalität einen Widerspruch zum abstrakten Formalismus der Rechtslogik, der die formale Rationalität bedrohe.19 Nun kann man einwenden, dass Webers Befürchtung durch die spätere Entwicklung widerlegt worden sei. Modernes Recht enthält typischerweise Elemente materialer Rationalität, etwa das Bekenntnis zu den Grundrechten. Rationales Recht muss diesen Wertentscheidungen Rechnung tragen.20 Aber bedeutet dies auch, dass rationale Entscheidungen inhaltlich richtig sein müssen? Selbstverständlich, werden Sie vielleicht sagen! Aber, mit Verlaub, diese Fokussierung auf das richtige Ergebnis ist eine typisch deutsche Sicht auf rechtliche Entscheidungen. Dagegen spielt im angelsächsischen Rechtsverständnis die Verfahrensrichtigkeit eine weit größere Rolle, während die Ergebnisrichtigkeit eher zurücktritt.21 Bitte verstehen Sie diesen Hinweis nicht als Vorbereitung eines Generalangriffs auf die materiale Rationalität des Rechts. Es geht nicht um deren pauschale Ablehnung, sondern um eine Stärkung der prozeduralen Komponente. Zugänge zur Rationalität der Zukunft, 2002, S. 113 (114 f.); Lienbacher, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (10 f.). 16 Dazu Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (51 f.), wonach Rechtsstaatlichkeit die Erfüllung der Erwartung zugeschrieben wird, dass der Staat eine rationale Einrichtung ist. 17 Vgl. Cornils, DVBl. 2011, S. 1053 (1054 ff.); ferner Lienbacher, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (10 f.). 18 Zum Zusammenhang zwischen diesen Verfahrenspfl ichten und der Rationalität Cornils, DVBl. 2011, S. 1053 (1055); zur Verankerung dieser verfahrensrechtlichen Verpfl ichtungen im Rechtsstaatsprinzip s. A. Müller, Die Anhörungspfl icht bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 II Nr. 4 VwGO, NVwZ 1988, S. 702; M. Hochhuth, Vor schlichthoheitlichem Verwaltungseingriff anhören? – Drei Thesen zur Dogmatik des Realhandelns, NVwZ 2003, S. 30 (30, 32 f.); H. J. Bonk / D. Kallerhoff, in: P. Stelkens / J. Bonk / M. Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 28 Rn. 2; U. Stelkens, ebda., § 39 Rn. 2. 19 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), S. 396 f.; dazu Peters, Rationalität (Fn. 3), S. 115 f.; Raiser, Max Weber (Fn. 1), S. 80 (83). 20 Vgl. Peters, Rationalität (Fn. 3), S. 117; Raiser, Max Weber (Fn. 3), S. 80 (91 ff.). 21 Dazu O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof / S. Magen / K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, S. 39 (47 f., 61 f.); zur Verfahrens- und Ergebnisrichtigkeit ferner H. Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S. 537 (545); E. SchmidtAßmann, Verwaltungsverfahren und Verwaltungskultur, NVwZ 2007, S. 40 (41 ff.).
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Webers Kritik legt jedenfalls ein strukturimmanentes Problem der materialen Rationalität des Rechts offen: Sie generiert die sie ausfüllenden Werte nicht selbst, sondern kontrolliert grundsätzlich nur deren Einhaltung. Die Werte werden durch materiale Rationalität in der Regel nicht autonom entwickelt, sondern sind ihr heteronom vorgegeben.22 Materiale Rationalitätsanforderungen sind vor allem in der Verfassung enthalten. Exemplarisch hierfür ist die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG.23 Materiale Rationalität verlangt zudem eine vernunftgeleitete Verarbeitung dieser Werte in der rechtlichen Entscheidung.24 Die dabei zu beachtenden Kriterien und Leitsätze sind selbst häufig normativ verankert. Das zeigt etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.25 Besondere Herausforderungen für die prozedurale und materiale Rationalität des Rechts bestehen in den Fällen, in denen der Akteur bei der rechtlichen Entscheidung über einen Spielraum verfügt. Dieser kann für den Gesetzgeber aus seiner besonderen Stellung26 und für die Verwaltung aus einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung resultieren.27 Exemplarisch hierfür sind fi nanzpolitische Prognoseentscheidungen der Legislative, etwa die berüchtigten „Rettungsschirme“,28 und Ermessensentscheidungen der Exekutive. Kehrseite solcher Freiräume ist die Einschränkung des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle dieser Entscheidungen.29 Aus Sicht der Rationalität des Rechts können Spielräume die Vorhersehbarkeit, Gleichmäßigkeit und Konsistenz rechtlicher Entscheidungen beeinträchtigen.30 Um 22
S. nur Lienbacher, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (10 f.). Zu diesem Zusammenhang Lienbacher, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (11, 13 f., 29 ff.), der insoweit von der Akzessorität der Rationalität spricht; nach Ansicht von Peters, Rationalität (Fn. 3), S. 50, kann die Befolgung einer Norm rational sein, auch wenn man die Gründe ablehnt oder die Norm für irrational hält; zur Garantie der Menschenwürde s. nur W. Höfling, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 3 ff.; zu ihrer Bedeutung als wesentlichem Bestandteil des Rechtsstaates E. Schmidt-Aßmann, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 30 ff. 24 Vgl. Raiser, Max Weber (Fn. 1), S. 80 (83); als Ausdruck dieser vernunftgeleiteten Verarbeitung des Rechtsmaterials ist insbesondere ein widerspruchsfreies, logisch strukturiertes und argumentativ abgesichertes Vorgehen erforderlich, dazu Scherzberg, Rationalität (Fn. 6), S. 177 (181). 25 Hierzu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 861 ff.; E. Schmidt-Aßmann (Fn. 23), § 26 Rn. 87. 26 S. etwa BVerfGE 90, 145 (172 f.); 110, 141 (157 f.); 117, 163 (183); U. Di Fabio, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 27 Rn. 18 ff.; K. Stern, Staatsrecht I (Fn. 25), S. 672 ff.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 596 ff. 27 Vgl. M. Sachs, in: P. Stelkens / J. Bonk / M. Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 40 Rn. 13 ff., 21 ff., 158 ff. 28 BVerfG, NJW 2011, S. 2946 (2952); Urt. v. 12. 9. 2012 – 2 BvR 1390/12 u. a. 29 Das wird anhand von § 114 Satz 1 VwGO deutlich; danach prüft das Gericht in Fällen, in denen die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist; strukturell ähnlich verhält es sich bei Beurteilungsspielräumen der Verwaltung auf der Tatbestandsseite einer konditional strukturierten Norm; insoweit ist die gerichtliche Kontrolle insbesondere darauf beschränkt festzustellen, ob der Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt wurde, Verfahrensvorschriften und allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe eingehalten wurden und ob sich die Behörde von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen, vgl. BVerfGE 84, 34 (49 ff.); 84, 59 (77 ff.); BVerwGE 81, 12 (17); 94, 307 (309 f.); 111, 318 (319); 120, 227 (232); Sachs, VwVfG (Fn. 27), § 40 Rn. 224. 30 Zu diesen Grundsätzen im Zusammenhang mit Rationalitätsanforderungen Cornils, DVBl. 2011, 23
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diesem Rationalitätsverlust entgegenzuwirken, haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung Kriterien und Leitsätze entwickelt, die bei der Nutzung von Entscheidungsspielräumen zu beachten sind. Ein aktuelles Beispiel ist das vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Gesetzgebung aufgestellte Gebot der Folgerichtigkeit.31 Mein Kollege Stephan Rixen wird darauf ausführlich eingehen.32 Aber auch für die Ausfüllung von Spielräumen bei gerichtlichen Entscheidungen, auf die sich die weiteren Betrachtungen konzentrieren, werden prozedurale und materiale Leitsätze postuliert. So wird etwa im verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz ein Primat materiell-akzessorischer Entscheidungskriterien angenommen, ohne dass dieses Entscheidungsprogramm im Wortlaut des § 80 Abs. 5 VwGO verortet werden kann.33 Wie ist diese Entwicklung zu bewerten? Stärken diese Sätze die Rationalität des Rechts? Oder bedarf umgekehrt ihre Begründung und Handhabung der Rationalisierung?
III. Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rationalität des Rechts Diese Fragen stoßen das Tor zur Rechtsdogmatik auf. Denn die angesprochenen Leitsätze sind rechtsdogmatische Sätze. Sie bieten eine Orientierungshilfe bei rechtlichen Entscheidungen.34 Was aber versteht man unter Rechtsdogmatik? Vor allem: Dient rechtsdogmatisches Vorgehen der Rationalität des Rechts? Die erste Frage klingt vertraut. Auch die Rechtsdogmatik erfreut sich zwar weit überwiegender Zustimmung; an den Begriff werden jedoch unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich seines Inhalts und seiner Leistungsfähigkeit geknüpft.35 Auf die vielfältigen Defi nitionsversuche kann hier nicht weiter eingegangen werden.36 Wie breit das MeiS. 1053 (1054 ff.); allgemeiner Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 277 ff.; H. D. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe – Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Sachgesetzgeber und Abgabengesetzgeber, AöR 126 (2001), S. 588 (601 f.); H. Maurer, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 138. 31 BVerfGE 125, 175 (225); dazu S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik? „Hartz IV“ auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, Sozialrecht aktuell 2010, S. 81 (84 ff.); Cornils, DVBl. 2011, S. 1053 (1054, 1056); Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (55 ff.). 32 S. Rixen, Rationalität des Rechts und „Irrationalität“ demokratischer Rechtsetzung, JöR n. F. 61 (2013), S. 525 ff. (dieser Band). 33 Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 267 f., 656 ff. 34 Sie sind somit keine Sätze der Rechtsdogmatik, sondern Sätze durch Rechtsdogmatik, also rechtsdogmatisch legitimierte Sätze; zu dieser Unterscheidung Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 387 ff.; zur dirigistischen Kraft dieser Sätze ebda., S. 389 ff. 35 Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 376. 36 Ein guter Überblick fi ndet sich bei C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: G. Kirchhof / S. Magen / K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, S. 17 (21 ff.); für eine Gleichsetzung von Rechtsdogmatik und Jurisprudenz S. Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, AcP 172 (1972), S. 131 (132); U. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? Zum Selbstverständnis der Rechtswissenschaft, 1973, S. 20; G. Struck, Dogmatische Diskussion über Dogmatik, JZ 1975, S. 84 f.; für ein Verständnis der Rechtsdogmatik als Systematisierung des Rechts L. Raiser, Wozu Rechtsdogmatik?, DRiZ 1968, S. 98; O. Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (197); H. Schulze-Fielitz, Verwaltungsdogmatik als Prozeß der Ungleichzeitigkeit, Die Verwaltung 27 (1994), S. 277; zur Defi nition der Rechtsdogmatik anhand der gesetzesunabhängigen Bindungswirkung F. Wieacker, Zur praktischen Leistung
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nungsspektrum gefächert ist, wird deutlich, wenn man seine Eckpunkte betrachtet. Auf der einen Seite setzt Karl Larenz Rechtsdogmatik schlicht mit theoretischer Jurisprudenz gleich,37 negiert also einen eigenständigen Bedeutungsgehalt. In diese Richtung weisen auch Stimmen, die Rechtsdogmatik auf eine systematische Normauslegung reduzieren.38 Auf der anderen Seite erkennt Robert Alexy rechtsdogmatischen Sätzen normativen Gehalt zu.39 Entsprechend kontrovers wird der Nutzen der Rechtsdogmatik beurteilt, wobei das Meinungsbild in der geschichtlichen Entwicklung starke Schwankungen verzeichnet.40 Gegenwärtig hat Rechtsdogmatik in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung jedenfalls Konjunktur. Mein Fakultätskollege Oliver Lepsius hat dies in dem einprägsamen Satz zugespitzt: „Nie waren wir so dogmatisch wie heute.“ 41 Das ist nicht als Lobpreisung, sondern als Warnung gegenüber einer ausgreifenden Rechtsdogmatik zu verstehen. Sie führe zu keinem Zugewinn, sondern vielmehr zu einem Verlust an Rationalität durch Entdifferenzierung des rechtlichen Entscheidungsprozesses.42 Muss es also heißen: „Rationalität des Rechts trotz Rechtsdogmatik?“ Der Schlüssel für die Antwort liegt in der dienenden Funktion der Rechtsdogmatik.43 Recht in Form von Rechtssätzen und Rechtsakten will etwas bewirken, ist also anwendungsorientiert.44 Rechtsdogmatik erleichtert diesen Prozess, indem sie das Rechtsgewinnungsmaterial strukturiert, für die rechtliche Entscheidung auf bereitet und Lösungsvorschläge für bestimmte Konfl iktsituationen bereitstellt. Das geschieht im Diskurs von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung.45 der Rechtsdogmatik, in: R. Bubner / K. Cramer / R. Wiehl (Hrsg.), Festschrift für Hans-Georg Gadamer, Bd. II, 1970, S. 311 (319); C. Starck, Rechtsdogmatik und Gesetzgebung im Verwaltungsrecht, in: O. Behrends / W. Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, S. 106; für eine Definition der Rechtsdogmatik anhand der normativen Bindungswirkung R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation: Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 1978, S. 314. 37 K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 37; ähnlich Simitis, AcP 172 (1972), S. 131 (132); Meyer-Cording, Dogmatiker (Fn. 36), S. 20; Struck, JZ 1975, S. 84 f. 38 Raiser, DRiZ 1968, S. 98; Bachof, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (197); Schulze-Fielitz, Die Verwaltung 27 (1994), S. 277. 39 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 36), S. 314, wonach die Rechtsdogmatik „eine Klasse von Sätzen ist, die auf die gesatzten Normen und die Rechtsprechung bezogen, aber nicht mit ihrer Beschreibung identisch sind, untereinander in einem Zusammenhang stehen, im Rahmen einer institutionell betriebenen Rechtswissenschaft aufgestellt und diskutiert werden und normativen Gehalt haben“. 40 Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtsdogmatik Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (28 ff.). 41 Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (49). 42 Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (54 ff.), der als weitere Kritikpunkte den „Verlust des eigenständigen Charakters der Wissenschaft“ sowie „fehlende kritische Distanz und verkapptes Dirigieren“ anführt; ferner ders., Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt / O. Lepsius, (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 (29 ff.). 43 Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 415 ff. 44 Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17; s. auch schon J. Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 154; K. Larenz, Methodenlehre (Fn. 12), S. 234; B. Rüthers / C. Fischer, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011, Rn. 72 ff. 45 Vgl. Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (31); hierzu ferner B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 206 ff.; M. Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 22.
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Die aufgrund dieses Dialogs gewonnenen rechtsdogmatischen Kriterien und Sätze haben eine Entlastungsfunktion. Sie entfalten aus Normen und Präjudizien ein bestimmtes Verständnis und fi xieren dieses, so dass es bei künftigen rechtlichen Entscheidungen grundsätzlich übernommen werden kann, ohne dass seine Berechtigung immer wieder neu begründet werden muss.46 Dazu werden auch so genannte Leitbilder herangezogen, wie die gerechte Lastenverteilung in der Ehe oder die Garantie eines effektiven lückenlosen Rechtsschutzes.47 Die Rechtsdogmatik hat zudem eine Ordnungsfunktion. Sie entwickelt Regeln für das Zusammenwirken von Normen und wirkt so auf die Bildung, Nutzung und Weiterentwicklung eines Rechtssystems hin.48 Damit sind wir an einer zentralen Frage angelangt: Wird die Rationalität des Rechts durch die Ordnungs- und Entlastungsfunktion der Rechtsdogmatik gefördert oder behindert? Legt man die Anforderungen an die Rationalität rechtlicher Entscheidungen als Beurteilungsparameter zugrunde, scheint die Antwort eindeutig. Auf den ersten Blick ist Rechtsdogmatik ein, wenn nicht das Instrument zur Rationalisierung des Rechts. Denn die Ordnungsfunktion der Dogmatik ist auf ein planvolles, systematisches und konsistentes Vorgehen ausgerichtet.49 Zudem reduziert ihre Entlastungsfunktion die Komplexität rechtlicher Entscheidungen und kann dadurch zu deren Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Stabilität beitragen. Angesichts dieser Wirkungen wird überwiegend angenommen, dass Rechtsdogmatik der Rationalität des Rechts diene.50 Bei tiefergehender Betrachtung werden aber auch Schattenseiten der Rechtsdogmatik für die Rationalität des Rechts sichtbar. Im Anschluss an die zuletzt geäußerte Kritik muss man fragen: Ist der Preis für die Reduktion an Komplexität nicht eine Einbuße an Reflexion? 51 Missachtet die Ausrichtung der Entscheidung an bewährten Denkmustern nicht die Vielschichtigkeit des Rechts und führt zu seiner Erstarrung? Ist nicht die Omnipräsenz der Rechtsdogmatik Ausdruck eines sehr deutschen Denkens, dessen Tendenz zur Introvertiertheit und Abschottung die Anschlussfähigkeit der Rechtswissenschaften an benachbarte Wissenschaftszweige und auf internationa-
46 Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 462 ff.; s. auch M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 39 f. 47 Zu Begriff, Wirkung und Nutzen von Leitbildern P. M. Huber, Rechtsgewinnung aus Bildern – Kurzintervention, in: J. Küper / H. Merten / M. Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 91 f. 48 Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (34 f.); als weitere Funktionen der Rechtsdogmatik im Prozess der Rechtsgewinnung sind eine Erleichterung und Stabilisierung der Entscheidungsfi ndung sowie eine Homogenisierung des Entscheidungsergebnisses zu nennen, s. Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 467 ff. 49 Vgl. Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (40 f.). 50 S. etwa M. H. Müller, Neutralität und Parität als dogmatikleitende Rechtsprinzipien des Religionsverfassungsrechts – eine Intervention, in: J. Küper / H. Merten / M. Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 43; s. zum Zusammenhang zwischen der Rationalität der Entscheidung, die maßgeblich durch die zur Verfügung stehenden Information bedingt wird, der mit dem Informationsumfang steigenden Komplexität der Entscheidungssituation und ihrer Vereinfachung durch Rechtsdogmatik zur Sicherung der Entscheidungsfähigkeit K. F. Röhl / H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 644. 51 Morlok, Verfassungstheorie (Fn. 46), S. 41.
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ler Ebene gefährdet? 52 Sehr geehrte Damen und Herren, vielleicht werden Sie dieser Kritik jetzt mit dem gleichen Nachdruck zustimmen wie dem vorhergehenden Lob der Rechtsdogmatik. Wo aber liegt die Lösung? Was gilt? Die Antwort lautet: Weder in der Verherrlichung noch in der Verdammung der Rechtsdogmatik, sondern in ihrer behutsamen Reflexion, Anwendung und Weiterentwicklung. Anders formuliert, geht es nicht darum, ob, sondern wie Rechtsdogmatik bei rechtlichen Entscheidungen verstanden und eingesetzt werden muss, um die Rationalität des Rechts zu fördern. Dabei sind folgende Faktoren zu beachten: Dogmatische Sätze entstehen im Diskurs von Jurisprudenz und Judikative. Vorschläge der Rechtswissenschaft müssen sich in der Rechtsanwendung bewähren und werden dort mitunter abgeändert oder abgelehnt. Die Gerichte geben ihrerseits der Rechtswissenschaft Anstöße, dogmatisch konsistente Lösungen für die Bewältigung konkreter praktischer Probleme zu entwickeln. Dieses Vorgehen gewährleistet ein Zusammenspiel von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis in Deutschland, das – auch im internationalen Vergleich – einzigartig ist.53 Zudem fi ndet der rechtsdogmatische Erkenntnisprozess auch ohne Änderung von Rechtsnormen statt. Dies gewährleistet seine dynamische Fortentwicklung und wirkt so der befürchteten Erstarrung des Rechts entgegen.54 Ein weiteres Proprium der Rechtsdogmatik liegt in der Normakzessorietät ihrer Sätze. Sie sind an die geltenden Rechtssätze gebunden, erzeugen nicht selbst Recht, sondern geben Verwaltungsbehörden und Gerichten im polyzentrischen Mehrstufensystem der Rechtserzeugung55 Begründungshilfen an die Hand. Rechtsdogmatische Sätze sind daher keine Rechtsquellen, sondern Rechtserkenntnisquellen. Das begrenzt ihre Wirkkraft, die sich keinesfalls gegen Rechtsnormen durchsetzen kann.56 Diese strukturell bedingte Limitierung sichert die Steuerungsprärogative des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Zugleich verhindert sie, dass sich die Rechtswissenschaft zum eigentlichen Dirigenten des polyphonen Orchesters der Rechtserzeugung aufschwingt. Das angesprochene Erkenntnis- und Steuerungspotenzial rechtsdogmatischer Sätze hängt maßgeblich von der Methode der Rechtsgewinnung ab.57 Der Vorwurf, Rechtsdogmatik sei zu stark auf Rechtsnormen fokussiert und vernachlässige außerrechtliche Elemente, etwa gesellschaftliche Verhältnisse und ökonomische Bedin-
52 Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (47, 54, 60 ff.); weniger kritisch Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (35 f.). 53 Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (31); diese Einzigartigkeit zeigt sich bereits durch Seitenblicke zum EuGH respektive ins Ausland (insbesondere Frankreich), s. ders., ebda. 54 Vgl. W. Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkungen der Rechtsdogmatik, in: M.-E. Geis / D. Lorenz (Hrsg.), Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 1079 (1085); Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (28). 55 Dazu Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 404; s. auch W. Brohm, DÖV 1987, S. 265 (269 ff.); C. Brüning, Einstweilige Verwaltungsführung (Fn. 12), S. 449; Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (18 f.). 56 Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 389 ff.; zur Gesetzesakzessorietät der Rechtsdogmatik ebda., S. 415 ff., 454. 57 Zu diesem Nexus Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 391 ff.
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gungen,58 richtet sich daher unabhängig von seiner Berechtigung jedenfalls gegen den falschen Adressaten. Eine unzureichende Berücksichtigung von Fakten geht nicht auf das Konto der Rechtsdogmatik, sondern einer eindimensionalen Rechtsmethodik. Die Rechtsdogmatik kann nur das Rechtsgewinnungsmaterial verarbeiten, das ihr die Rechtsmethodik zur Verfügung stellt.59 Daher ist Rechtsdogmatik nach ihrer Struktur und Funktionsweise durchaus anschlussfähig für Nachbardisziplinen wie die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften.60 Als Merkmal rechtsdogmatischer Sätze ist zudem ihre eingeschränkte Bindungswirkung hervorzuheben. Der Rechtsanwender muss sie nicht strikt befolgen, sondern bei seiner Entscheidung nur berücksichtigen und ein Abweichen begründen.61 Stehen die Gerichte also vor der Alternative: „Comply or explain“? 62 Nein, denn diese Formel des Governance-Rechts kann nicht auf die Rechtsdogmatik übertragen werden. Dogmatische Sätze lassen bei ihrer Befolgung die Begründung der Entscheidung nicht entfallen, sondern erleichtern diese lediglich. Außerdem ist weniger das „Ob“ als das „Wie“ der Begründung problematisch. Mit anderen Worten: Welches Gewicht müssen die Argumente haben, um im konkreten Fall die Abweichung von einem dogmatischen Satz zu rechtfertigen? 63 Verdichtet sich dessen dirigistische Kraft, wenn er aus Präjudizien abgeleitet wird? Ergeben sich daraus strengere Anforderungen an die Zulässigkeit von Abweichungen? Diese Fragen sind bei Weitem noch nicht abschließend geklärt und können in der zur Verfügung stehenden Zeit auch nicht beantwortet werden.64 Jedenfalls wird eines deutlich: Rechtsdogmatik besitzt genügend Flexibilität, um einen Rationalitätsverlust durch undifferenzierte 58 Vgl. Morlok, Verfassungstheorie (Fn. 46), S. 41 f., der kritisiert, dass die Dogmatik zu einer zu starken Fixierung auf Normen führe und damit das tatsächliche Geschehen vernachlässige. 59 Für ein weiter gefasstes Rechtsgewinnungsmaterial daher Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 418 ff., 423 ff., 435 f. 60 In diese Richtung auch Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (35 f.); kritisch Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (60 ff.). 61 Hierzu Brohm, Kurzlebigkeit (Fn. 54), S. 1079 (1084 f.); J. Kühling / O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung, EuR 2003, S. 371 (382); Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 464 f.; s. ferner Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 36), S. 327. 62 Nach § 161 AktG sind börsennotierte Unternehmen jährlich verpfl ichtet zu erklären, dass den Empfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ entsprochen wurde und wird, respektive welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht; hierzu M. Körner, Comply or disclose: Erklärung nach § 161 AktG und Außenhaftung des Vorstands, NZG 2004, S. 1148; S. Bank, Pfl ichtverletzungen durch Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft, in: R. Patzina / S. Bank / D. Schimmer / M. Simon-Widmann (Hrsg.), Haftung von Unternehmensorganen, 2010, Rn. 349; S. Jung, Das Grünbuch der Kommission zu einem europäischen Corporate Governance-Rahmen und die Weiterentwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts, BB 2011, S. 1987 (1988). 63 Dazu eingehend Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 464 f.; vgl. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (Fn. 36), S. 327; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 245 (248); ders., Kurzlebigkeit (Fn. 54), S. 1079 (1084 f.); W. Heun, Begriff, Eigenart, Methoden der Verfassungsdogmatik, in: C. Starck (Hrsg.), Die Rolle der Verfassungswissenschaft im demokratischen Verfassungsstaat, 2004, S. 35 (40); Rüthers/Fischer, Rechtstheorie (Fn. 44), Rn. 324; s. zu Präjudizien M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S. 243 ff.; M. Sachs, Zur Verbindlichkeit bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: B. Ziemske / T. Langheid / H. Wilms / G. Haverkate (Hrsg.), Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 431 (444). 64 S. hierzu umfassend Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 464 ff. m. w. N.
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Bindung an Bewährtes zu vermeiden. Bei diesem Verständnis beeinträchtigt sie nicht die Rationalität des Rechts, sondern sichert und fördert sie.
IV. Bedeutung der Rechtsdidaktik für die Rationalität des Rechts Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind damit an der letzten Etappe unserer Wanderung durch die Gefi lde von Rationalität, Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik angelangt. Vor uns liegt aber noch ein weithin unerforschter Bereich, den ich mit Ihnen erkunden will: Die Bedeutung der Rechtsdidaktik für die Rationalität des Rechts. Auch hier möchte ich zunächst den Gegenstand der Betrachtung präzisieren. Dabei stoßen wir auf ein bekanntes Phänomen. Rechtsdidaktik ist zwar zu einem Modebegriff avanciert; ihr Inhalt und Leistungspotenzial sind indes umstritten.65 Didaktik wird traditionell als die Kunst des Lehrens verstanden.66 Aktuell wird diskutiert, wie die praktische Lehre mit Hilfe der Wissenschaft verbessert werden kann.67 Zu dieser Frage komme ich gleich. Zunächst aber zum Begriff der Rechtsdidaktik. Sie kann umschrieben werden als Anleitung zur Optimierung der Vermittlung rechtlichen Wissens.68 Die Verbindung zur Rationalität ist aus zwei Blickwinkeln von Interesse: Aus Sicht der Rechtsdidaktik geht es um den Einfluss der Rationalität auf die Wissensvermittlung. Rechtsdidaktik ist nach neuerem Verständnis darauf ausgerichtet, diesen Prozess wissenschaftlich zu analysieren und mittels der so gewonnenen Erkenntnisse zu optimieren.69 Sie öffnet sich dabei zunehmend den Anforderungen der Rationalität. Aber ist diese Entwicklung sinnvoll? Oder wird hier der individuelle und intuitive Vorgang des Lehrens in das Prokrustes-Bett der Rationalität gezwängt? Darauf werde ich später zurückkommen. Zunächst will ich auf die Sicht der Rationalität auf die Rechtsdokmatik eingehen, die sich in der Ausgangsfrage nach der Rationalität des Rechts durch Rechtsdidaktik 65 Dazu W. Kilian, Zur Notwendigkeit einer Didaktik des Rechts, JuS 1970, S. 50 (51); D. Oehler, In welcher Weise empfiehlt es sich, die Ausbildung der Juristen zu reformieren? in: 48. DJT 1970, S. E 5 (E 77 ff., 144 ff.); F. Henneke, Regeln der Lehrkunst – Versuch einer außerrechtlichen Begründung der normativen Geltung von Lehrplänen, RdJB 1980, S. 317 (320 f.); M. Heinz, Rechtsdidaktik in der Verwaltungsausbildung, VR 1981, S. 383 ff.; J. Goerdeler, Rechtswissenschaft und Didaktik. Ein Modell für eine andere juristische Ausbildung, Forum Recht 1998, S. 29 f.; J. Brockmann / J.-H. Dietrich / A. Pilniok, Von der Lehr- zur Lernorientierung – Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik, Jura 2009, S. 579 (581); A. Pilniok / J. Brockmann / J.-H. Dietrich, Juristische Lehre neu denken: Plädoyer für eine rechtswissenschaftliche Fachdidaktik, in: J. Brockmann / J.-H. Dietrich / A. Pilniok (Hrsg.), Exzellente Lehre im juristischen Studium – Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik, 2011, S. 9 (14 f.). 66 Didaktiké téchne (griech.) = Fähigkeit bzw. Kunst des Lehrens. 67 R. Mußgnug, Juristenausbildung: Qualifi kation durch Wissenschaft, JuS 1991, S. 613 ff.; Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579; Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (18). 68 Ähnliche Defi nitionen fi nden sich bei Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (581); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (16 f.). 69 Einen Vorschlag zur Restrukturierung der wissenschaftlichen Ausbildung als Folge einer rationalen Analyse des bestehenden Systems entwickelt Kilian, JuS 1970, S. 50 (51); s. auch Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (580); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (29).
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spiegelt. Diese Sichtweise zielt auf die Bedeutung der didaktischen Vermittlung von Rechtswissen für die Verständlichkeit und Akzeptanz des Rechts, die wichtige Elemente für seine Rationalität darstellen. Das Potenzial der Rechtsdidaktik hängt dabei von ihrer Struktur und ihren Methoden ab. Diese werden durch die Wesensmerkmale der Rechtsdidaktik geprägt. Bei ihrer Ermittlung stößt man auf ein überraschendes Phänomen: Es bestehen wichtige strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsdidaktik und Rechtsdogmatik. Leider hat diese Einsicht bisher nicht die notwendige Aufmerksamkeit gefunden. Denn sie ermöglicht belastbare Aussagen zum Nutzen der Rechtsdidaktik und zur verbindenden Kraft der Rationalität in Bezug auf Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik. Beide haben dienende Funktion. Die Rechtsdidaktik bei der Vermittlung von Rechtskenntnissen, die Rechtsdogmatik bei der Erzeugung von Recht.70 Erstere strukturiert den Lehrstoff, Letztere den Rechtsstoff.71 Ihnen liegt jeweils ein komplexer Prozess zugrunde. Rechtsdogmatik betrifft insbesondere die Rechtsanwendung, die sich nicht in bloßer Subsumtion von Rechtssätzen erschöpft.72 Rechtsdidaktik befasst sich mit der Vermittlung rechtlicher Kenntnisse. Diese darf sich nicht mit der Bereitstellung von Wissen zur passiven Rezeption durch die Lernenden begnügen, sondern muss deren Fähigkeit zu aktiver Wissenskonstruktion fördern.73 Rechtsdogmatik wie Rechtsdidaktik besitzen eine Entlastungsfunktion, indem sie die Komplexität dieser Vorgänge durch Rückgriff auf bewährte Erklärungsmuster reduzieren.74 Sie sind dabei an heteronome Vorgaben gebunden. Rechtsdogmatik an Rechtsnormen und die institutionellen Bedingungen der Rechtserzeugung,75 Rechtsdidaktik an den vorgeschriebenen Lehrstoff und die institutionellen Bedingungen
70 Zur dienenden Funktion der Rechtsdogmatik ausführlich Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 415 ff. m. w. N.; zur Abhängigkeit der Rechtsdidaktik von der konkreten Ausgestaltung der Studiengängen vgl. Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (18); zur Ausrichtung der rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (581); danach dienen didaktische Theorien vor allem dem Verstehen und der Erklärung des Lehrens und Lernens (S. 581). 71 Zur Rechtsdogmatik Müller, Dogmatikleitende Rechtsprinzipien (Fn. 50), S. 43 (55); Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (27); zur Rechtsdidaktik S. Edenfeld, Die Struktur – das A und O juristischen Lernens, JA 1996, S. 843 (845 ff.). 72 Vgl. W. Hassemer, Juristische Argumentationstheorie und juristische Didaktik, in: H. Albert / N. Luhmann / W. Maihofer / O. Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 467 (476); Edenfeld, JA 1996, S. 843 (845 f.). 73 Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (581); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (15). 74 S. zur Entlastungsfunktion der Rechtsdogmatik Bachof, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (198); Morlok, Verfassungstheorie (Fn. 46), S. 39 f.; Müller, Dogmatikleitende Rechtsprinzipien (Fn. 50), S. 43 (55); Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (27); kritisch Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (53 ff.), ebda. zu den Verlusterscheinungen der Dogmatik, zu denen er insb. einen Rationalitätsverlust infolge Entdifferenzierung zählt; zur Entlastungsfunktion der Rechtsdidaktik U. Meyer, Zum Zusammenhang von Methodenlehre und didaktischen Konzepten in den Rechtswissenschaften, in: J. Brockmann / J.-H. Dietrich / A. Pilniok (Hrsg.), Exzellente Lehre im juristischen Studium – Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik, 2011, S. 107 (112); s. auch schon Hassemer, Juristische Argumentationstheorie (Fn. 72), S. 467 (477); Edenfeld, JA 1996, S. 843 (845 f.). 75 Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (27 f.); vgl. auch Brohm, DÖV 1987, S. 265 (269 ff.); Brüning, Einstweilige Verwaltungsführung (Fn. 12), S. 449; Windthorst, Rechtsschutz (Fn. 12), S. 404.
Rationalität des Rechts durch Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik
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der Lehre.76 Rechtsdogmatik ermöglicht den Diskurs von Wissenschaftlern und Praktikern, Rechtsdidaktik zielt auf den Diskurs von Dozenten und Studenten ab.77 Kontrollinstrument ist hier die Überprüfung durch den Richter, dort die Evaluation durch Studenten.78 Diese Gegenüberstellung verleiht der Rechtsdidaktik konkrete Konturen. Eine offene Frage harrt indes noch der Antwort: Ist eine Rationalisierung der Lehre durch Didaktik, also eine vernunftgeleitete Vermittlung des Wissens, überhaupt sinnvoll und wünschenswert? Verweigern Lehren und Lernen sich nicht von vornherein einer Rationalisierung und Verwissenschaftlichung, weil sie durch irrationale Elemente wie Begabung, Emotion und Intuition geprägt sind? Neuere Erkenntnisse der Lernpsychologie sprechen gegen diese Befürchtung. Danach spielen die genannten Faktoren zwar eine wichtige Rolle für den Lernerfolg; dieser kann aber auch und gerade durch wissenschaftliche Analyse und rationale Elemente aktiv gefördert werden.79 Das Leistungspotenzial einer wissenschaftlichen Rechtsdidaktik verdient daher grundsätzlich Anerkennung. Ähnlich wie die Rechtsdogmatik sollte auch die Rechtsdidaktik weder dämonisiert noch glorifiziert werden. Sie ist kein Fluch, aber auch kein Segen. Entscheidend ist vielmehr, dass ein angemessenes Verständnis von Wissenschaftlichkeit der Rechtsdidaktik entwickelt und ihr eine angemessene Rolle bei der Wissensvermittlung zugewiesen wird. Bei der Identifizierung und Vermeidung möglicher Gefahren hilft ein Blick in den Abgrund der Fehlleistungen einer falsch verstandenen Rechtsdidaktik. Exemplarisch hierfür ist die „Überdidaktisierung“ der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens. Davor haben Sie, sehr geehrter Herr Mittelstraß, schon Ende der 90er Jahre mit deutlichen Worten gewarnt.80 Droht nun die „Überrationalisierung“ der Rechtsdidaktik? 76
Vgl. Kilian, JuS 1970, S. 50; Mußgnug, JuS 1991, S. 613 (614); Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (581); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (18); zur geschichtlichen Entwicklung Oehler, Ausbildung der Juristen (Fn. 65), S. E 5 (E 43 ff.); zur außerrechtlichen Begründung der normativen Verbindlichkeit von Lehrplänen Hennecke, RdJB 1980, S. 317 ff. 77 Zur Diskursfunktion der Rechtsdogmatik Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 45), S. 206 ff.; Jestaedt, Verfassung (Fn. 45), S. 22; Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (31); zur Diskursfunktion der Rechtsdidaktik, Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (584); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (18). 78 Zur engen Verbindung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung im Hinblick auf die Rechtsdogmatik Waldhoff, Dogmatik (Fn. 36), S. 17 (31); zur Sicherung der Qualität der Lehre durch Kontrolle mittels Evaluation Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (584); Pilniok/Brockmann/ Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (18). 79 S. schon Kilian, JuS 1970, S. 50 (51); zum Medienverbund J. Blomeyer, Das juristische Studium im Medienverbund, JZ 1973, S. 118 (120); Edenfeld, JA 1996, S. 843; zur individuell unterschiedlichen Rezeption multimedialer Lerninhalte aufgrund verschiedener IT-Kompetenz G. Zimmer, Mit Telematik vom Fernunterricht zum Offenen Telelernen, in: L. J. Issing / P. Klimsa (Hrsg.), Information und Lernen mit Multimedia und Internet, 2002, S. 301 (313); zur Bedeutung der Visualisierung K. F. Röhl / S. Ulrich, Recht anschaulich, Visualisierung in der Juristenausbildung, 2007, S. 84; C. Brunschwig, Rechtsvisualisierung – Skizze eines nahezu unbekannten Feldes, MMR 2009, S. IX. 80 J. Mittelstraß, Vom Elend der Hochschuldidaktik, in: ders., Die Häuser des Wissens, 1998, S. 213 ff., insb. S. 224 ff.; kritisch auch ders., ebda., S. 227, zur Annahme von H. M. Saß, Hochschuldidaktik als Wissenschaftsdidaktik, in: K. Schaller (Hrsg.), Wissenschaft und Lehre, 1970, S. 38, der die Wissenschaftsdidaktik als „Grundlage, Bewegungselement und optimales Ziel des wissenschaftlichen Pro-
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Das ist eine schwierige Frage, auf die ich eine sehr persönliche Antwort geben möchte: Die Rationalisierung der Wissensvermittlung im Rahmen der Rechtsdidaktik darf jedenfalls nicht zur Relativierung irrationaler Faktoren missbraucht werden. Sie werden sich vielleicht fragen, was zu diesen Faktoren gehört. Das will ich anhand einer neueren – natürlich anonymen – Lehrevaluation veranschaulichen. Darin wurde der Dozent zwar als fachlich kompetent bezeichnet. Gleichwohl gab es einen Kritikpunkt: Sein mangelnder Mut bei der Farbwahl der Krawatte. Dies mag man belächeln, an der Grundeinsicht ändert es aber nichts: Rechtsdidaktische Erkenntnisse dürfen emotionale „Soft Facts“ nicht an den Rand drängen oder vernachlässigen. Rechtsdidaktik hat eine dienende Funktion bei der arbeitsteiligen Vermittlung des Rechtswissens. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe bietet die wissenschaftliche Erforschung des Lernprozesses in der Lernpsychologie und der Biochemie eine wichtige Hilfestellung.81 Um die dort gewonnenen Erkenntnisse nutzen zu können, muss aber zunächst ein Perspektivwechsel vom Lehrenden zum Lernenden erfolgen. Das wirkt auf die Bezugspunkte der Rechtsdidaktik zurück: Dies sind neben dem Lehren eben auch das Lernen.82 Gerade für die Optimierung des Lernerfolgs kann auf die Forschungsergebnisse der genannten Wissenschaftsdisziplinen zurückgegriffen werden. Sie geben Aufschluss darüber, welche Lerntechniken effektiv sind, auf welche Weise das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis funktionieren und wie aufgrund der Kenntnis dieser Mechanismen die Merkfähigkeit des Einzelnen gesteigert werden kann.83 Rechtsdidaktik öffnet sich somit in weitem Umfang anderen Wissenschaftsdisziplinen, sie ist nach ihrer Struktur in hohem Maße anschlussfähig.84 Gegenstand der Rechtsdidaktik ist daher nicht nur die Vermittlung der Kenntnisse des Rechts durch den Dozenten, sondern auch deren Aufnahme und Speicherung durch die Studenten.85 Wie man es nicht machen soll, zeigt folgendes Beispiel: Als ein Redner nach seinem Vortrag die ratlosen Gesichter der Zuhörer sah, kommentierte er dies mit dem lapidaren Satz: „Eine Rede wurde verlangt, eine Rede wurde gehalten – fürs Kapieren bin ich nicht zuständig!“ zesses“ bezeichnet mit dem zutreffenden Einwand, dann „wäre nicht die Wissenschaftsdidaktik um der Wissenschaft willen da, sondern die Wissenschaft um der Didaktik willen.“ 81 Kilian, JuS 1970, S. 50 (51); W. Hussy, Denkpsychologie, Bd. 1, 1984, S. 97 ff., 183 ff.; Edenfeld, JA 1996, S. 843 (844). 82 R. Sethe, Zehn Thesen zu guter Hochschullehre, JZ 2008, S. 351 (352); Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (584); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (15). 83 P. Zimbardo, Psychologie, 6. Aufl. 1995, S. 315 ff.; Edenfeld, JA 1996, S. 843 (844 ff.); vertiefend Hussy, Denkpsychologie (Fn. 81), S. 97 ff., 183 ff. 84 Zur Relevanz der Soziologie H. A. Hesse, Die Relevanz der Soziologie Max Webers für juristische Praxis und Juristenausbildung, ZVglRWiss 82 (1983), S. 242 ff.; zur Bedeutung der Biochemie und Psychologie Edenfeld, JA 1996, S. 843 (844 ff.); zur Pädagogik Kilian, JuS 1970, S. 50 (51); zur Nutzung elektronischer Lehr- und Lernformen Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (582); zur Nutzung multimedialer Inhalte aus didaktischer Sicht P. Klimsa, Multimedianutzung aus psychologischer und didaktischer Sicht, in: L. J. Issing/P. Klimsa (Hrsg.), Information und Lernen mit Multimedia und Internet, 2002, S. 5 (14). 85 Brockmann/Pilniok/Dietrich, Jura 2009, S. 579 (584); Pilniok/Brockmann/Dietrich, Rechtswissenschaftliche Fachdidaktik (Fn. 65), S. 9 (15).
Rationalität des Rechts durch Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik
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Wenden wir den Blick zurück zur Rechtsdidaktik. Ein letzter Einwand betrifft ihre Entlastungsfunktion. Droht damit nicht wie bei der Rechtsdogmatik eine Verstetigung, ja Verkrustung von Bewährtem zu Lasten innovativer Ansätze? 86 Dieser Kritik ist entgegenzuhalten, dass sie die Funktionsweise der Rechtsdidaktik verkennt. Sie beruht auf dem Prinzip von „Trial and Error“. Dies gewährleistet eine dynamische Weiterentwicklung rechtsdidaktischer Erkenntnisse. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass Rechtsdidaktik bei diesem Verständnis durch rationale Elemente geprägt ist und ihrerseits die Rationalität des Rechts fördert.
V. Fazit Sehr geehrte Damen und Herren, es ist Zeit für ein Fazit. Die Überlegungen haben deutlich gemacht, dass Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik einen wichtigen Beitrag zur Rationalität des Rechts leisten können. Dies setzt allerdings voraus, dass sie als flexible, dynamische und anschlussfähige Handlungsanweisungen verstanden werden. Zugleich besitzen sie viele strukturelle Gemeinsamkeiten, die man zunächst wohl nicht vermutet hätte. Das schroffe Antlitz der Begriffe „Rationalität“, „Rechtsdogmatik“ und „Rechtsdidaktik“ gewinnt also bei näherer Betrachtung eine gewisse Regelmäßigkeit, ja Schönheit. Nun bin ich mir nicht sicher, ob jeder von ihnen durch diese Schönheit betört worden ist oder ob dieses Empfi nden allein dem verklärten Blick des Rechtswissenschaftlers geschuldet ist. Eines wird aber deutlich: Rationalität kann zwar vieles erklären, jedoch nicht alles erfassen. Ihr fehlt die Fähigkeit zur Emotion. Emotion ist zwar nicht alles. Eine Gesellschaft, die allein auf Rationalität und Eigennutz beruht, aber keine Emotion, keinen Gemeinsinn erkennen lässt, gerät indes aus dem Gleichgewicht. Wärme wird dann durch Kälte verdrängt. Das kann sich keiner wünschen! Weder Rationalität noch Emotionalität dürfen verabsolutiert werden, wie dies gegenwärtig zunehmend zu beobachten ist. Erst in ihrem Zusammenspiel liefern sie wertvolle Steuerungsimpulse. Das gilt für die Rechtsdidaktik,87 aber auch für die Rechtsdogmatik, bei der Offenheit und Flexibilität an die Stelle der Emotionalität treten. Bei diesem Verständnis leisten Rechtsdogmatik und Rechtsdidaktik einen wichtigen Beitrag zur Rationalität des Rechts.
86 S. zur Rechtsdogmatik Morlok, Verfassungstheorie (Fn. 46), S. 41 f.; Lepsius, Dogmatik (Fn. 21), S. 39 (43 ff., 52 ff.); für die Rechtsdidaktik befürwortet Hassemer, Juristische Argumentationstheorie (Fn. 72), S. 467 (476), einen argumentationstheoretischen und damit schöpferischen und dynamischen Ansatz. 87 Für eine Kultivierung der emotionalen Elemente innerhalb des didaktischen Konzepts Hesse, ZVglRWiss 82 (1983), S. 242 (257).
Seniorendemokratie* von
Prof. Dr. Ralf Brinktrine Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Deutsches und Europäisches Umweltrecht und Rechtsvergleichung
A. Einführung in die Problemstellung I. Der demografi sche Wandel: Zahlen und Fakten Deutschland altert – und dies in immer schnellerem und größerem Maße. Die Dramatik des Vergreisungsprozesses in unserem Land illustrieren die folgenden Aussagen des neuesten Demografieberichts der Bundesregierung von 20111. Die Bevölkerung nimmt in Deutschland seit dem Jahr 2003 stetig ab. Schon heute ist sie auf knapp 82 Millionen Menschen gesunken. In den nächsten 50 Jahren wird die Bevölkerung von zunächst ca. 75 Millionen im Jahre 2030 bis auf etwa 65 Millionen im Jahre 2060 zurückgehen.2 Neben dem Bevölkerungsrückgang wird zudem sich der Altersauf bau der Bevölkerung verschieben. Bereits in den kommenden beiden Jahrzehnten wird der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung deutlich wachsen, der Anteil der jüngeren Menschen drastisch sinken, weil einerseits die Lebenserwartung kontinuierlich steigt und andererseits zugleich die Geburtenzahl stark sinkt.3 *
Aktualisierte, mit Fußnoten versehene und leicht erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 27. Januar 2012 vor Mitgliedern und Gästen der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg gehalten hat. Die Vortragsform wurde beibehalten, von Auf bau und Inhalt versteht sich die Rede in der Tat als Vorlesung in akademischer Tradition und nicht als Forschungsaufsatz. 1 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Demografiebericht – Bericht der Bundesregierung zur demografi schen Lage und künftigen Entwicklung des Landes, Stand Oktober 2011, als download verfügbar über www.bmi.bund.de. 2 Vorstehende Zahlen nach BMI, Demografiebericht (Fn. 1), S. 29 ff. Zusammenfassendes Zahlenmaterial zur Bevölkerungsentwicklung auch bei Brosius-Gersdorf, Demografi scher Wandel und Daseinsvorsorge – Aufgabenwahrnehmung und Verwaltungsorganisation der Kommunen in Zeiten des Rückgangs und der Alterung der Bevölkerung –, VerwArch. 98 (2007), S. 317 (318); Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, München 2010, S. 457 f., 459 f. 3 Siehe Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Bericht der Bundesregierung zur demografi schen Lage
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Was bedeutet diese Verschiebung des Altersauf baus ganz konkret in Zahlen? Bildlich gesprochen, hielten sich 2009 die Zahl der 20-jährigen und die Zahl der 70-jährigen mit jeweils etwa 1 Million Menschen ziemlich genau die Waage. Mag das noch angehen, so ist es schon problematischer, dass es vor drei Jahren schon 60.000 weniger 5-jährige als 75-jährige gab4. Diese schon jetzt nicht mehr austarierte Waagschale neigt sich nun immer weiter zu Lasten der jungen Generation. Schon 2020, also bereits in 8 Jahren, wird es nach verlässlichen Prognosen eineinhalbmal so viele Menschen jenseits des 65. Lebensjahres wie unter 20-jährige geben.5 Und 2030 wird die Zahl der über 65-jährigen das Niveau von 29 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen. Gleichzeitig wird der Anteil der unter 20-jährigen auf etwa 17% schrumpfen.6 Und Besserung dieses zunehmenden Ungleichgewichts zwischen Alt und Jung ist – anders als in den USA, Kanada oder Frankreich7 – nach allen seriösen Voraussagen über die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland nicht in Sicht.8 An die Stelle einer ausgewogenen Verteilung der Generationen tritt somit das, was Bundespräsident a.D. Herzog die „Rentnerdemokratie“9 oder der Soziologe Miegel die „Altenrepublik“10 genannt haben. Ich möchte etwas zurückhaltender von der Seniorendemokratie sprechen.
II. Auswirkungen des demografi schen Wandels auf die Demokratie: „Altenrepublik“, „Rentnerdiktatur“, „Enkelausbeutung“ – die Gefahr des Generationenkonflikts Nun kann man die Frage aufwerfen: Ist diese demografische Entwicklung für die Demokratie in Deutschland überhaupt ein nennenswertes Problem? und künftigen Entwicklung des Landes, Stand Oktober 2011, – Kurzfassung, S. 1 f.; als download verfügbar über www.bmi.bund.de; ferner auch Schmid, Demografi scher Wandel – Herausforderung für die öffentliche Hand, Sicher ist sicher – Zeitschrift für Arbeitsschutz 2011, S. 16 (16). Zahlen zur Entwicklung der Geburtsraten bei BMI, Demografiebericht (Fn. 1), S. 13 ff. sowie Brosius-Gersdorf (Fn. 2). VerwArch. 98 (2007), S. 317 (319 ff.); Tichy, Wenn die Störche sterben, Wirtschaftswoche vom 9. 7. 2012, Ausgabe 28/2012, S. 3. Zu möglichen Gründen für die sinkende Geburtenrate siehe Miegel, Epochenwende, Berlin 2007, S. 175 ff. sowie Tichy, Wirtschaftswoche vom 9. 7. 2012, Ausgabe 28/2012, S. 3. 4 BMI, Demografiebericht (Fn. 1), S. 11 ff. 5 Siehe dazu die Grafi k für das Jahr 2020 der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, abruf bar unter https://www.destatis.de/bevoelkerungspyramide/. 6 BMI, Demographiebericht – Kurzfassung (Fn. 3), S. 2. 7 Zur Entwicklung in diesen Ländern siehe BMI, Demografiebericht (Fn. 1), S. 8, 15, 16 und 34; Sarrazin (Fn. 2), S. 336, 338, 377, 388. 8 BMI, Demografiebericht – Kurzfassung (Fn. 3), S. 2 f., 12 f. Dass die Bevölkerungszahl Deutschlands im Jahre 2011 durch gute Zuwanderungszahlen leicht gestiegen ist, vgl. Süddeutsche.de, Wir sind wieder mehr, sueddeutsche.de vom 13. 01. 2012, abruf bar unter http://www.sueddeutsche.de/panorama/2.220/bevoelkerungswachstum-in-deutschland-wirsind-wieder-mehr-1.1256821, ändert nichts an der grundsätzlichen Tendenz eines langfristigen Bevölkerungsschwundes. 9 Herzog, zitiert nach Kuhlmann/Boscheinen, Kraftprobe zwischen Alt und Jung. Interview mit Bernhard Vogel und Anna Lührmann, Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3. 10 Miegel, zitiert nach Kuhlmann/Boscheinen (Fn. 9), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3.
Seniorendemokratie
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Die demografische Entwicklung und der sich dramatisch verändernde Altersaufbau wird in einem demokratisch bestimmten Gemeinwesen aufgrund des verfassungsrechtlich verankerten Mehrheitsprinzips11 jedenfalls dann problematisch, wenn mit der zunehmenden Zahl einer Altersgruppe auch Machtansprüche und Forderungen gegenüber den zahlenmäßig schwächeren Altersgruppen verbunden werden, und diese Forderungen auch und gerade mit der Mehrheit der zahlenmäßig überlegenen Altersgruppe durchgesetzt werden sollen. Im Fall des demografischen Wandels kann also die hohe Entscheidungsmacht der Senioren aufgrund der kontinuierlich steigenden Zahl älterer Menschen bis 2030 und die fernere Zukunft insbesondere zu schweren fi nanziellen, aber auch anderen Belastungen der kommenden Generationen führen.12 Aus diesen Belastungen kann so am Ende ein Generationenkonfl ikt entstehen, bei dem die Jüngeren sich als Verlierer sehen.13 Von einem solch heraufziehenden Generationenkonfl ikt in Deutschland gehen Politiker, Journalisten und Wissenschaftler verschiedener Fachdisziplinen in ihren Analysen aus,14 denn die ersten Anzeichen hierfür sind bereits deutlich sichtbar. Ein erstes Indiz einer herannahenden „Kraftprobe zwischen Alt und Jung“15 ist das Bewusstsein der Rentner und ihrer Interessenverbände, über eine hohe Wählermacht zu verfügen. Diese politische Macht der Senioren als Wähler folgt zwingend aus dem derzeit geltenden Wahlrecht. Wegen des in Art. 38 Abs. 2 GG verankerten Mindestwahlalters von 18 Jahren dürfen Minderjährige nicht wählen. Damit sind diese aus 11 Vgl. zum Mehrheitsprinzip aus neuerer Zeit aus der Judikatur nur BVerfGE 123, 267 (341 ff.); aus dem Schrifttum etwa Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG. Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 2. Aufl. Tübingen 2006, Art. 20 GG Rn. 73 ff.; Robbers, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, Stand des Gesamtwerkes 157. Aktualisierung Juni 2012, Stand der Kommentierung 137. Aktualisierung Dezember 2008, Art. 20 Abs. 1 GG Rn. 645 ff. 12 Diese Befürchtungen werden seit Jahren mehrfach von verschiedenen Seiten geäußert, vgl. dazu etwa Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel. Brauchen wir ein Familienwahlrecht?, Der Staat 44 (2005), S. 43 (43); Klein, Generationenkonfl ikt am Beispiel des Kinderwahlrechts, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 277 (277); Lenze, Gleichheitssatz und Generationengerechtigkeit, Der Staat 46 (2007), S. 89 (94); Kahl, Staatsziel Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, DÖV 2009, S. 2 (2). 13 Dazu Kuhlmann/Boscheinen (Fn. 9), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3; Voss, Arme Rentner – reiche Rentner?, Focus.de vom 23. 04. 2008, S. 1, abruf bar unter http://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/rente/tid-9700/alterseinkuenfte-arme-rentner-reiche-rentner_aid_296751. html.; Zeh/Späth/Gründinger, „Wir haben ein Luxusproblem“, Wirtschaftswoche vom 10. 10. 2011, Ausgabe 41/2011, S. 138 ff. sowie auch die in Fn. 12 genannten Autoren. Tremmel sieht die strukturelle Benachteiligung nachrückender Generationen durch Gegenwartspräferenz sogar als grundlegendes Dilemma der Demokratie, siehe Tremmel, Institutionelle Verankerung der Rechte nachrückender Generationen, ZRP 2004, S. 44 (44). 14 Vgl. dazu den Antrag der Abgeordneten Landgraf u. a., Der Zukunft eine Stimme geben – Für ein Wahlrecht von Geburt an, BT-Drs. 16/9868, S. 1 (1), die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur Verankerung der Generationengerechtigkeit (Generationengerechtigkeitsgesetz), BT-Drs. 16/3399, S. 1 (1 f.) sowie die Beiträge von Kuhlmann/Boscheinen (Fn. 9), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3; Zeh/Späth/Gründinger (Fn. 13), Wirtschaftswoche vom 10. 10. 2011, Ausgabe 41/2011, S. 138 ff.; Voss (Fn. 13), Focus.de vom 23. 04. 2008, S. 1, abruf bar unter http:// www.focus.de/fi nanzen/altersvorsorge/rente/tid-9700/alterseinkuenfte-arme-rentner-reiche-rentner_aid_296751.html. 15 So der Titel des Beitrags von Kuhlmann/Boscheinen (Fn. 9), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3.
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Sicht der politischen Entscheidungsträger eher von untergeordneter Bedeutung.16 Andererseits ist die Politik sich der Bedeutung der Senioren für den Wahlausgang wohl bewusst.17 Nach Informationen des Bundeswahlleiters waren bei der Bundestagswahl 2009 nämlich ein Drittel der Wähler 60 Jahre und älter, und damit fast doppelt so viele wie die jüngere Generation unter 30 Jahren, die nur noch gut 1/6 der Wahlberechtigten ausmachte.18 Diese Wählermacht der Senioren sind die Interessenvertreter der Altersrentner und Senioren auch gewillt, für ihre Ziele einzusetzen. So äußerte zum Beispiel vor der Bundestagswahl 2009 der Sozialdemokrat Walter Hirrlinger, der Ehrenpräsident des Sozialverbands VdK Deutschlands, „20 Millionen Rentner sind 20 Millionen Wähler“19. Und der Vorsitzende der Senioren-Union in der CDU, Otto Wulff, drohte offen damit, dass die Rentner „nach Jahren der Demütigungen jetzt auch mal schärfer zurückschlagen“20. Angesichts dieser Einlassungen könnte der Begriff „Jugendschutz“ bald eine neue Bedeutung bekommen. Die Frage des demografischen Wandels für die Demokratie wird überdies zweitens dann relevant, wenn im politischen Prozess Parteien ganz überwiegend ihre politischen Aussagen an die Zustimmung in bestimmten Altersgruppen knüpfen. Ich spreche hier nicht einmal von Gruppierungen, die offen die Interessen der Senioren vertreten, sondern von den – zurzeit noch – als „Volks“parteien angesehenen Parteien CDU und SPD. So erzielte die CDU bei der letzen Bundestagswahl ihre Zweitstimmen zu 43,8% von Wählern der Altersgruppe 60 plus. Der Zweitstimmenanteil der SPD beruhte 2009 zu 41% auf der Wahlentscheidung dieser Altersgruppe21. Das bedeutet, dass die beiden großen Parteien, die seit der Gründung der Bundesrepublik immer den Kanzler gestellt haben, mit steigender Tendenz von der Zustimmung der älteren und ältesten Bürger abhängig sind 22 und dort ihr größtes Wählerreservoir haben 23. Die demografische Entwicklung wird für die Demokratie drittens zu einer ernsten Frage, wenn die Wählermacht bestimmter Altersgruppen und die Abhängigkeit po16 Vgl. Boscheinen, Kein Grund zur Panikmache, Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3; Tremmel (Fn. 13), ZRP 2004, S. 44 (45). 17 Diese Einschätzung und zugleich Befürchtung wird verschiedentlich geäußert, vgl. etwa Boscheinen (Fn. 16), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3; Tremmel (Fn. 13), ZRP 2004, S. 44 (44); Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (43 und 44). 18 Der Bundeswahlleiter, Repräsentative Statistik zur Bundestagswahl 2009, Pressemitteilung vom 5. Februar 2010, S. 1, als download abruf bar unter http://www.bundeswahlleiter.de. 19 Zitiert nach Voss (Fn. 13), Focus.de vom 23. 04. 2008, S. 1, abruf bar unter http://www.focus. de/f inanzen/altersvorsorge/rente/tid-9700/alterseinkuenfte-arme-rentner-reiche-rentner_aid_ 296751.html. 20 Ebenfalls zitiert nach dem Bericht von Voss (Fn. 13), Focus.de vom 23. 04. 2008, S. 1, abruf bar unter http://www.focus.de/fi nanzen/altersvorsorge/rente/tid-9700/alterseinkuenfte-arme-rentnerreiche-rentner_aid_296751.html. 21 Zahlen nach Der Bundeswahlleiter, Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009, Heft 4: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach Altersgruppen, Wiesbaden 2010, S. 14, als download abruf bar unter http://www.bundeswahlleiter.de, sowie Der Bundeswahlleiter, Repräsentative Statistik zur Bundestagswahl 2009, Pressemitteilung vom 5. Februar 2010, S. 1 als download abruf bar unter http://www.bundeswahlleiter.de. 22 Vgl. dazu Boscheinen (Fn. 16), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3. 23 Vgl. Der Bundeswahlleiter, Repräsentative Statistik zur Bundestagswahl 2009, Pressemitteilung vom 5. Februar 2010, S. 2, als download abruf bar unter http://www.bundeswahlleiter.de.
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litischer Entscheidungsträger zu einer nicht ausgewogenen Verteilung von Ressourcen und zu einer zunehmenden fi nanziellen Belastung der Jüngeren führen.24 Eine solche Entwicklung zeichnet sich schon heute durch die anhaltende Ressourcenumschichtung der Staatseinnahmen in konsumtive Ausgaben wie Gesundheits- und Altersvorsorgesysteme sowie eine exorbitant hohe Staatsverschuldung ab. Bereits jetzt werden gut 80 Milliarden Euro, das sind etwa 26,5 Prozent des Bundeshaushaltes 2011, allein für die Renten aufgewandt25. Die chronisch defizitäre Gesetzliche Krankenversicherung wird im gegenwärtigen Haushalt26 mit einem Bundeszuschuss von 15 Milliarden Euro unterstützt.27 Eine Besserung ist auch auf diesen Feldern nicht in Sicht. Vielmehr ist nach allen Prognosen hier mit weiter steigenden Ausgaben zu rechnen.28 Es kommt daher nicht von ungefähr, dass das böse Wort von der „Enkelausbeutung“29 die Runde macht.30
III. Rechtliche Optionen zur Vermeidung des Generationenkonflikts – Überblick Wie kann nun für die Zukunft dem nach Meinung von Sozial-, Politik- und Rechtswissenschaftlern sich abzeichnenden oder zumindest nicht gänzlich auszuschließenden Generationenkonfl ikt 31 in der Seniorendemokratie mit den Mitteln des 24 Zu dieser realen Gefahr einer „Pflege der Interessengärtchen der Rentner“ (Schümer) durch die Parteien siehe Schümer, Euer Kredit für unsere Leut’, FAZ vom 29. Mai 2012, Ausgabe 123/2012, S. 29. 25 Vgl. Haushaltsplan 2011 – Einzelplan 11 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, abrufbar unter http://www.bmas.de/DE/Ministerium/BMAS-Kompakt/haushaltsplan-einzelplan-2011. html. Siehe dazu auch Süddeutsche.de, Regierung auf Sparkurs, Mitteilung vom 7. 7. 2010, S. 1 f., abruf bar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/bundeshaushalt-regierung-auf-sparkurs1.971145. Die Gesamtausgaben 2011 des Bundes betrugen 305,8 Mrd. Euro, siehe Bundeszentrale für politische Bildung, Bundestag verabschiedet Haushalt 2011, S. 1 (mit Grafi k), abruf bar unter http://www. bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/68943/haushalt-2011-26-11-2010 26 Für die Antrittsvorlesung herangezogen wurden die Zahlen für 2011. Die Zahlen für 2012 sind, soweit verfügbar, in den Fußnoten nachgewiesen. 27 Zu dieser Zahl siehe Rede des Bundesministers für Gesundheit, Dr. Philipp Rösler, zum Haushaltsgesetz 2011 vor dem Deutschen Bundestag am 14. September 2010 in Berlin, abruf bar unter http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2010/09/86-3-bmg-bt.html; ferner auch Bund der Steuerzahler NRW, Bundezuschuss (sic!) zur GKV darf nicht erhöht werden, Mitteilung vom 24. 06. 2010, abruf bar unter http://www.steuerzahler-nrw.de/Bundezuschuss-zur-GKV-darf-nicht-erhoehtwerden/31659c38176i1p377/index.html. Im Jahr 2012 betrug der Bundeszuschuss 14 Mrd. Euro, siehe dazu Bundesministerium für Gesundheit, Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung, abruf bar unter http://www. bmg.bund.de/krankenversicherung/fi nanzierung/fi nanzierungsgrundlagen-der-gesetzlichen-krankenversicherung.html. 28 BMI, Demographiebericht (Fn. 1), S. 139 ff., 149 ff. 29 Zu diesem Schlagwort siehe Kuhlmann/Boscheinen (Fn. 9), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3. 30 Ein damit in direktem Zusammenhang stehendes, weiteres Konfl iktfeld ist der Gegensatz zwischen Eltern und Kinderlosen, hier ist explizit von „Elternausbeutung“ durch Kinderlose die Rede, siehe dazu etwa Adrian, Eltern werden ausgebeutet, Kinderlose beschenkt, Leserbrief in der FAZ vom 8. März 2012, Nr. 72/2012, S. 8. 31 Vgl. Klein (Fn. 12), S. 277 (277); Kuhlmann/Boscheinen (Fn. 9), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3.
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Rechts entgegensteuert werden? Wie kann durch normative Regeln ein fairer Interessenausgleich zwischen den Altersgruppen erreicht und so an Stelle einer möglichen „Rentnerdiktatur“32 das Ideal einer generationengerechten33 Demokratie und Gesellschaft verwirklicht werden? Ich möchte diese Fragen nach den Optionen der Steuerungsressource Recht im folgenden in der Weise angehen, dass ich meine Betrachtung der möglichen rechtlichen Gegenmaßnahmen auf zwei normative Ebenen fokussiere. Die erste Betrachtungsebene ist die des deutschen Verfassungsrechts. Welche Möglichkeiten des Ausgleichs der Interessen oder zumindest der Milderung etwaiger Spannungen zwischen den Generationen können im Rahmen der Verfassungsordnung des Grundgesetzes verfolgt werden? Die zweite Analyseebene ist die des Verwaltungsrechts. In diesem Zusammenhang lautet die Frage, welchen Beitrag das einfache Gesetz zur Lösung von Generationenkonfl ikten leisten kann. Zur Illustration werde ich zwei Rechtsgebiete des Verwaltungsrechts herausgreifen, nämlich das Umweltrecht und das öffentliche Dienstrecht.
B. Seniorendemokratie und die Idee der Generationengerechtigkeit: die verfassungsrechtliche Ebene Wenden wir uns nun zuerst den konkreten Konfl iktlösungsmöglichkeiten des Verfassungsrechts zu. Wie kann mit Mitteln des Staatsrechts ein gerechtes Partizipations- und Transferverhältnis zwischen den Generationen erreicht werden, ein Zustand also eintreten, welchen Rechtsphilosophen „Generationengerechtigkeit“34 genannt haben?
I. Das Wahlrecht als Ressource zur Behebung von Generationenkonflikten Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist zunächst Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das wesentliche Kennzeichen der Demokratie des Grundgesetzes somit
32 Oder auch „Diktatur der Rentner“, so der Terminus bei Voss (Fn. 13), Focus.de vom 23. 04. 2008, S. 1, abruf bar unter http://www.focus.de/fi nanzen/altersvorsorge/rente/tid-9700/alterseinkuenftearme-rentner-reiche-rentner_aid_296751.html. 33 Zu dem Begriff der Generationengerechtigkeit und den damit verbundenen Vorstellungen siehe aus dem kaum noch zu überschauenden Schrifttum etwa Kahl (Fn. 12), DÖV 2009, S. 2 ff.; Lenze (Fn. 12), Der Staat 46 (2007), S. 89 ff.; Schuler-Harms, Demografi scher Wandel und Generationengerechtigkeit, DVBl. 2008, S. 1090 ff.; Tremmel (Fn. 13), ZRP 2004, S. 44 ff., alle m. w. N. 34 Zu diesem Begriff siehe bereits die Angaben und Beiträge oben Fn. 33. Ausführlich zur Mehrdeutigkeit des Begriffs Kahl (Fn. 12), DÖV S. 2 (7 f. m. w. N.). Siehe ferner etwa Lechevalier, Generationengerechtigkeit und Rentenreform am Beispiel der Rentenanpassungsformel, ZSR 56 (2010), S. 373 ff., sowie den Antrag der Abgeordneten Landgraf u. a. (Fn. 14), BT-Drs. 16/9868, S. 1 und den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur Verankerung der Generationengerechtigkeit (Generationengerechtigkeitsgesetz), BT-Drs. 16/3399, S. 1 ff.
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„die Selbstbestimmung des Volkes“35, also die Volksherrschaft 36. Alle weitere staatliche Herrschaft muss sich vom Volkswillen herleiten lassen. Das Volk übt nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG diese Staatsgewalt – und folglich auch seinen Willen und seine Herrschaft – durch Wahlen und Abstimmungen sowie näher bezeichnete Organe aus. Der Volkswille kommt in der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes vor allem durch die Wahlentscheidung bei Bundestags- und Landtagswahlen zum Ausdruck.37 Damit kommt den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen sowie der konkreten Ausgestaltung des Wahlrechts ganz entscheidende Bedeutung für die Frage zu, wie eine generationengerechte Herrschaftsausübung durch das Volk erfolgen kann. Das haben auch fraktionsübergreifend 47 bzw. 46 Abgeordnete des Deutschen Bundestags erkannt, die schon 2003 und zum Teil nochmals 2008 weit reichende Reformvorschläge für ein generationengerechtes Wahlrecht eingebracht haben38 – allerdings bislang ohne jeden Erfolg.39 Um das sich abzeichnende, langfristig strukturelle Übergewicht der Wähler der Altersgruppe 65+ wenigstens teilweise auszugleichen, kann man zwei Ansätze – jeweils einzeln oder in Kombination – ins Spiel bringen: erstens die Erweiterung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten um Personen unter 18 Jahren40 und/oder zweitens die Beschränkung der Wählerschaft auf Personen unterhalb eines klar definierten Wahlhöchstalters.
1. Die Erweiterung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten Werfen wir zunächst einen Blick auf die Möglichkeit, durch Ausweitung des Kreises der aktiv Wahlberechtigen dem immer größer werdenden Gewicht der Senioren bei Wahlen entgegenzuwirken. Hierzu werden drei Modelle „für eine stärkere Beteiligung Jüngerer und eine größere Berücksichtigung der Belange insbesondere
35
BVerfGE 2, 1 (12 f.). Im Übrigen variieren die Formulierungen, gebräuchlich ist auch „freie Selbstbestimmung aller Bürger“, so BVerfGE 107, 59 (92). 36 Auch Volkssouveränität genannt, zur Volksherrschaft bzw. Volkssouveränität vgl. Dreier (Fn. 11), Art. 20 GG Rn. 86 ff.; Robbers, (Fn. 11) Art. 20 Abs. 1 GG Rn. 478; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. München 2011, Art. 20 GG Rn. 4. 37 Vgl. BVerfGE 44, 125 (149); aus der Literatur etwa Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt München, Stand des Gesamtwerkes 64. Lfg. Januar 2012, Stand der Kommentierung 60. Lfg. Oktober 2010, Art. 38 GG Rn. 135; Stein/Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. Tübingen 2010, S. 58. 38 Siehe Antrag der Abgeordneten Arndt-Brauer und 46 weiterer Abgeordneter, Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an, BT-DRs. 15/1544 aus dem Jahre 2003 sowie Antrag der Abgeordneten Landgraf u. a. (Fn. 14), BT-Drs. 16/9868 von 2008. 39 Die Entwürfe wurden durch den Bundestag nicht weiter behandelt, siehe Maurer, Staatsrecht I. Grundlagen – Verfassungsorgane – Staatsfunktionen, 6. Aufl. München 2010, § 13 Rn. 6 m. w. N. Positiv zu diesem Antrag äußert sich Rolfsen, Eine Stimme für die Zukunft? – Über erneute Bestrebungen nach einem altersunabhängigen Wahlrecht –, DÖV 2009, S. 348 (348 f.). 40 Überlegungen zur Begrenzung des Kreises der passiv Wahlberechtigten durch Einführung von Höchstaltersgrenzen der Bewerber konnten im Rahmen der Antrittsvorlesung aus Zeitgründen nicht ausgeführt werden, sie werden von mir demnächst an anderer Stelle vorgestellt werden.
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von Familien“41 bei den Wahlen ernsthaft diskutiert42, wobei die Begriffl ichkeit bei den Modellbezeichnungen mitunter stark changiert:
a) Das Elternwahlrecht Ein erstes Modell, um das Gewicht der Familien und der jüngeren Menschen bei den Wahlen zu erhöhen, ist das Elternwahlrecht.43 Beim Elternwahlrecht dürfen die Eltern pro Kind eine weitere Stimme ‚als eigene‘ abgeben44. Dieser Vorschlag wird von der Staatsrechtslehre zu Recht verworfen.45 Nach geltendem Verfassungsrecht ist das Elternstimmrecht nicht zulässig. Mit dem Elternstimmrecht würde nämlich ein Pluralwahlrecht eingeführt,46 dass nicht mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar ist.47 Wahlrechtsgleichheit ist immer auch – und mindestens – Zählwertgleichheit48 :49 Jeder Wähler hat nur eine Stimme, unabhängig von Herkunft, Bildung, Vermögen, Familienstand oder anderen Kriterien.50 Da der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit streng formal zu deuten ist51, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ausnahmen nur aus zwingenden Gründen zulässig52, die folglich „nur in Zweck, Ziel und Natur der Wahl selbst liegen können“53.Das Ziel, bestimmte Grup41
Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (44). Überblicke etwa bei Schroeder, Familienwahlrecht und Grundgesetz, JZ 2003, S. 917 (917 f.); Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (44 ff.); Badura, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, Stand des Gesamtwerkes 157. Aktualisierung Juni 2012, Stand der Kommentierung 131. Aktualisierung September 2007, Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37. Lediglich zwei Modelle stellt Schreiber, Wahlrecht von Geburt an – Ende der Diskussion, DVBl. 2004, S. 1341 (1342 ff.) vor. 43 Zum Elternwahlrecht aus dem Schrifttum etwa Hattenhauer, Über das Minderjährigenwahlrecht, JZ 1996, 9 ff. Zum Teil wird es auch als Familienwahlrecht bezeichnet, so etwa von Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37. 44 So prägnant Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49). 45 Ablehnend Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37; Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG. Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 2. Aufl. Tübingen 2006, Art. 38 GG Rn. 121; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49 ff.) 46 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49); ebenso Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37. 47 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49 f.). 48 BVerfGE 51, 222 (236); 85, 148 (157 f.); 95, 408 (417); Ipsen, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 23. Aufl. München 2011, Rn. 96; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49). 49 Ob die Stimmen auch gleichen „Erfolgswert“ haben müssen, ist umstritten, aber für unsere Fragestellung auch nicht von Bedeutung, vgl. zu diesem Problem statt vieler Ipsen (Fn. 48), Rn. 96. 50 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. Heidelberg 1995, Rn. 146; BVerfG 95, 335 (353); Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 115. 51 Ständige Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 4, 375 (382), aus der neueren Judikatur des BVerfG siehe BVerfGE 78, 350 (357 f.); 82, 322 (337); 95, 408 (417); 99, 1 (10). Aus der dem BVerfG zustimmenden Literatur vgl. etwa Ipsen (Fn. 48), 100; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49). 52 Siehe BVerfGE 36, 139 (141); 82, 322 (338); 95, 408 (418). 53 So explizit Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49) unter Berufung auf Hesse (Fn. 50), Rn. 146: Differenzierungen zulässig, die auf der unvermeidlichen technischen Unvollkommenheit des Wahlrechts beruhen. 42
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pen zu stärken, stellt keine ausreichende Rechtfertigung dar, weil es bei der Teilnahme an der Staatswillenbildung keine Wertungen geben darf.54 Auch durch eine Verfassungsänderung kann das Elternstimmrecht als Mehrfachstimmenrecht nicht eingeführt werden.55 Dies wäre ein Verstoß gegen die so genannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, denn die Gleichheit der Wahl gehört zu den Kernelementen des demokratischen Prinzips56, dessen Grundsätze auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht antasten darf.57
b) Das Familienwahlrecht Das zweite und zugleich noch radikalere Modell ist das so genannte Familienwahlrecht.58 Es statuiert ein „Wahlrecht von Geburt an“59, das als „Wahlrecht ab 0“60 oder „Babywahlrecht“60a bezeichnet werden kann. Dem Wahlrecht von Geburt an liegt die Vorstellung zugrunde, dass auch die Kinder zum wahlberechtigten Volk gehören. Da sie aber noch nicht selbst das Wahlrecht ausüben können, sollen die Eltern als Stellvertreter fungieren und die Stimme für die Kinder abgeben dürfen.61 Auch dieser Vorschlag wird von der deutschen Staatsrechtslehre nahezu einhellig abgelehnt.62 Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob das Familienwahlrecht mit dem Wahlrechtsgrundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl63 wegen der mit ihm verbundenen Stellvertretungsproblematik vereinbar ist64, steht seiner Einführung durch ein54 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (49 f.). Ebenso im Ergebnis Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. München 2011, Art. 79 GG Rn. 65: keine Vorzugsbehandlung von Minderheiten. 55 Dazu ausführlich Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (50 f.). 56 So Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 2, 6. Aufl. München 2010, Art. 79 GG Rn. 82; Sachs (Fn. 54), Art. 79 GG Rn. 65. 57 Hain (Fn. 56), Art. 79 GG Rn. 82. 58 Zum Familienwahlrecht näher Oebbecke, Das Wahlrecht von Geburt an, JZ 2004, S. 987 ff. Zum Teil wird das Familienwahlrecht auch als Kinderwahlrecht bezeichnet, so etwa von Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37. 59 So auch der Titel des Beitrags von Oebbecke (Fn. 58), JZ 2004, S. 987 (987). 60 Basierend auf dem Gedanken, dass mit der Einführung des Stellvertreterwahlrechts die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf Null herabgesetzt wird, dazu Oebbecke (Fn. 58), JZ 2004, S. 987 (988) 60a Begriff – soweit ersichtlich – von mir. 61 Zum Inhalt des Familienwahlrechts näher Oebbecke (Fn. 58), JZ 2004, S. 987 (987) mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Siehe ferner auch Schroeder (Fn. 42); JZ 2003, S. 917 (918), Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (51). 62 Gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Wahlrechts von Geburt an sprechen sich – unter anderem – aus Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37; Morlok (Fn. 45), Art. 38 GG Rn. 121; Schroeder (Fn. 42), JZ 2003, 917 (191 ff.); Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (51 ff.). Befürwortet und für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten wird es hingegen von Oebbecke (Fn. 58), JZ 2004, S. 987 (990, 992). 63 Zu diesem Grundsatz näher Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 100 ff.; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. München 2011, Art. 38 GG Rn. 83 f. 64 Mit Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG für vereinbar – trotz der Notwendigkeit einer gesetzlichen Stellvertretung – halten das Familienwahlrecht Oebbecke (Fn. 58), JZ 2004, S. 987 (987 ff.), ebenso früher schon Hattenhauer (Fn. 43), JZ 1996, 9 (15 f.). Für unvereinbar mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der
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faches Gesetz schon Art. 38 Abs. 2 GG entgegen. Nach dieser Vorschrift ist nur wahlberechtigt, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Art. 38 Abs. 2 GG regelt dabei nicht nur die Ausübung des Wahlrechts, sondern begrenzt auch die „materielle Rechtsposition als solche“65.66 Das Babywahlrecht kann auch nicht Gegenstand einer Verfassungsänderung sein. Ebenso wie beim Elternstimmrecht ist dieser Weg wegen Art. 79 Abs. 3 GG versperrt. Das durch diese Vorschrift geschützte demokratische Prinzip ist durch das Familienwahlrecht in seinem Kern berührt, so dass man von einer Aushöhlung des Demokratieprinzips sprechen muss, weil das Wahlrecht von Geburt an nicht mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit im Einklang steht.67 Bei näherer Betrachtung ist beim Familienwahlrecht nämlich die gleiche Sachlage wie beim Elternstimmrecht gegeben: Da die Eltern zusätzlich eine Stimme pro Kind erhalten, haben sie faktisch ein Mehrfachstimmrecht.68 Dieses Stimmrecht können sie auch rechtlich nach eigenem Gutdünken ausüben, ohne dass ihre Stimmabgabe darauf hin überprüft werden könnte, ob es tatsächlich dem in Art. 6 Abs. 2 GG verankerten Kindeswohl entspricht. Eine Kontrolle durch das Familiengericht scheitert nicht nur schon am Grundsatz der Geheimheit der Wahl69, sondern auch daran, dass das Gericht als staatliche, selbst demokratisch legitimationsbedürftige Stelle nicht über die Ausübung des Wahlrechts entscheiden kann.70 Bei dem Familienwahlrecht handelt es sich bei genauerer Analyse also um ein „unkontrolliertes und unkontrollierbares“71 verdecktes Mehrfachstimmrecht72, dass mit der Wahlrechtsgleichheit als einem zentralen Element des Demokratieprinzips nicht vereinbar ist.73
c) Das Minderjährigen- oder Kinderwahlrecht Verfassungsrechtlich weniger problematisch scheint dagegen der dritte Vorschlag zu sein, das Wahlalter abzusenken und ein Minderjährigen- oder Kinderwahlrecht74 einzuführen. Art. 38 Abs. 2 GG ist mit dem Erfordernis eines Mindestwahlalters von 18 Jahren nämlich selbst eine Durchbrechung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl stufen es dagegen ein Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (51 f. m. w. N.) und die in Fn. 62 genannten Autoren. 65 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (51). 66 Ebenso Schröder (Fn. 42), JZ 2003, S. 917 (918 f.). 67 Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (53 ff.). 68 Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37. 69 So zutreffend Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (55). Zum Grundsatz der Geheimheit der Wahl siehe beispielsweise Maurer (Fn. 39), § 13 Rn. 12 f. 70 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (55); auf gleicher Linie Maurer (Fn. 39), § 13 Rn. 6. 71 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (55). 72 Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (55). 73 So aus der Rechtsprechung BayVerfGH BayVBl. 2004, 207 (208); aus der Literatur Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138 mit Fn. 3; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (55) m. w. N. 74 Dazu Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (45).
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Wahl.75 Gerechtfertigt wird das Erfordernis eines Mindestwahlalters mit der Erwägung, dass eine gewisse Reife erforderlich sei, um am durch Kommunikation geprägten demokratischen Entscheidungsprozess teilzunehmen.76 Diese Reife ist vom Gesetzgeber in verfassungsrechtlich zulässiger Weise mit 18 Jahren festgesetzt worden.77 Nun plädieren nicht wenige Stimmen für eine Absenkung des Wahlalters auf 16.78 Dieser Vorschlag hat einen gewissen Charme und ist in Österreich seit 200779 bereits Gesetz80. Auch in einigen Ländern der Bundesrepublik wie Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg ist ein Wahlalter von 16 Jahren für Kommunal-, zum Teil aber auch für Landtagswahlen bereits eingeführt worden.81 Gleichwohl ist umstritten, ob auf der Ebene des Bundes eine Neujustierung der Wahlmündigkeit durch Änderung des Art. 38 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich zulässig wäre.82 So wird erstens bezweifelt, ob 16-jährige genügend politische Reife und Urteilskraft besitzen, um durch Wahlen für das Volk zu sprechen.83 Der Haupteinwand ist aber, dass eine Absenkung des Wahlalters im Widerspruch zu den Regeln über die Volljährigkeit im BGB stehe.84 Auf diese Weise würden Wahlalter und Volljährigkeit entkoppelt, obwohl zwischen beiden Altersgrenzen eine starke Abhängigkeit bestehe. Rechte und Pfl ichten gehörten zusammen. Die Volljährigkeitsgrenze auf 16 Jahre nach vorne verlegen wolle jedoch praktisch niemand. Wer 16-jährigen das Wahlrecht verleihe, ihnen aber die Volljährigkeit verweigere, entwerte es.85 Diesen – überwiegend gesamtrechtssystematischen und staatspolitischen – Argumenten ist aus verfassungsrechtlicher Sicht zuzugeben, dass derjenige, auch wenn er zum deutschen Staatsvolk gehört, nicht für das Volk sprechen kann, bei dem die politische Mündigkeit offensichtlich gänzlich fehlt. Nehmen politisch unmündige Bevölkerungskreise an der Wahl teil, ist nämlich eine Verfälschung des Volkswillens zu befürchten, der das Demokratieprinzip in seinen Grundsätzen berührt und damit wegen eines Verstoßes gegen Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig wäre.86 75 Dies wird allenthalben konzediert, vgl. Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 10; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. München 2011, Art. 38 GG Rn. 18; a. A. aber Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 140: „Konkretisierung“. 76 Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 35; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (46 ff.). 77 Vgl. BVerfG, NVwZ 2002, 69 ff.; aus dem Schrifttum Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 95. 78 Nachweise bei Klein (Fn. 12), S. 277 (278 ff.). 79 Durch Änderung der Nationalrats-Wahlordnung durch Bundesgesetz BGBl. I Nr. 27/2007. 80 Siehe § 21 Nationalrats-Wahlordnung der Republik Österreich. 81 Siehe dazu den Überblick bei Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37. 82 Befürwortend etwa Oppermann/Walkling, Zur rechtlichen Zulässigkeit der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, RuP 1995, S. 85 ff.; ablehnend zum Beispiel Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37; Magiera (Fn. 63); Art. 38 GG Rn. 81 mit Fn. 259; Morlok (Fn. 45), Art. 38 GG Rn. 121; Klein (Fn. 12), S. 277 (282 f.). 83 Auf dieser Linie Magiera (Fn. 63), Art. 38 GG Rn. 81 mit Fn. 259; ebenso Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (46). 84 So etwa Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 37; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (46). 85 Vorstehende Argumentation gegen die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre bei Jesse, Reformvorschläge zur Änderung des Wahlrechts, APuZ 2003, S. 3 (9). 86 Vgl. Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138.
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Ab welchem Alter man generell die erforderliche Einsichtsfähigkeit und Reife unterstellen kann, ist indes mit allerlei Unsicherheiten behaftet. Diese rühren zum einen daher, dass die Entwicklung Heranwachsender ganz unterschiedlich verläuft, zum anderen auch daher, dass man, auch wenn man ein „Normalbild des Wählers“ zu zeichnen versucht, schwer sagen kann, welchen Grad an Einsichts- und Willensbildungsvermögen man voraussetzen darf und muss. Zieht man vergleichsweise die Rechte heran, die die einfach-gesetzliche Rechtsordnung etwa 14-jährigen (Wahl des religiösen Bekenntnisses) 87 oder 16-jährigen (etwa die Heiratsfähigkeit) 88 zugesteht, ohne dass insoweit durchgreifende Bedenken ersichtlich sind89, erscheint der Regelungsspielraum, den man dem verfassungsändernden Gesetzgeber bei der Definition der politischen Mündigkeit des Wählers zugestehen muss,90 jedenfalls bei einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre aus meiner Sicht rechtlich noch nicht überschritten,91 und damit der unantastbare Bereich des demokratischen Prinzips noch nicht berührt.
2. Die Einführung eines Höchstwahlalters Wenn eine Erweiterung der Wählerschaft nur eingeschränkt als möglich erscheint, wie steht es dann mit der Einführung eines Höchstalters im aktiven Wahlrecht? Das aktive Wahlrecht ist die Berechtigung, die Abgeordneten als Vertreter des Volkes zu wählen.92 Hier könnte man an eine Regelung denken, die vorgibt, dass das aktive Wahlrecht mit dem 80. Lebensjahr oder 90. Lebensjahr endet. Durch einfaches Gesetz ist eine Einführung nicht möglich, weil Art. 38 Abs. 2 GG sowie der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl dies verhindern. Letzterer besagt nämlich, dass alle wahlberechtigten Bürger stimmberechtigt sind und es keine Diskriminierungen geben darf.93 Eine Beschränkung des Stimmrechts Erwachsener allein wegen des fortgeschrittenen Alters wäre eine solche Ungleichbehandlung. Für eine Inkorporation eines Höchstwahlalters durch Änderung des Art. 38 Abs. 2 GG bildet wiederum die „Ewigkeitsgarantie“ den materiellen Prüfungsmaßstab. Dabei geht es erneut um die Frage, ob das Demokratieprinzip in seinem jeglicher Abänderung entzogenen Gehalt die vorgenommene Altersbeschränkung des aktiven Wahlrechts erlaubt. 87
§ 5 Satz 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (KErzG). Vgl. § 1303 Abs. 2 BGB. 89 Zu § 1303 Abs. 2 BGB siehe nur Brudermüller, in: Palandt (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 70. Aufl. München 2011, § 1303 BGB Rn. 2. 90 Einen solchen Spielraum mit Blick auf die Untergrenze für das aktive Wahlrecht gesteht auch Klein (Fn. 12), S. 277 (282 f.) dem Gesetzgeber zu. Im Übrigen ist auf folgendes hinzuweisen: Bereits die Herabsenkung des Wahlalters von 21 Jahre auf 18 Jahre stieß auf Bedenken, die aber unbegründet waren, so zutreffend Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (45 f.). Allgemein zum Spielraum des Gesetzgebers im Wahlrecht etwa Hesse (Fn. 50), Rn. 147. 91 Ebenso Maurer (Fn. 39), § 13 Rn. 7. 92 Zum Begriff des aktiven Wahlrechts statt vieler Badura (Fn. 42), Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 34. 93 Vgl. Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 88 und 90. 88
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Die Idee des Höchstwahlalters variiert den Gedanken, der zur Rechtfertigung des Art. 38 Abs. 2 GG dient: Während Kinder und Jugendliche noch nicht wahlmündig sind, sind Alte und ganz Alte vielleicht nicht mehr wahlmündig. Gestützt werden können solche Überlegungen auf die Entwicklung bei altersbedingten Erkrankungen. In den Mittelpunkt gerückt ist dabei vor allem die Altersdemenz. Nach den Mitteilungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zur Epidemiologie der Demenz sind mehr als 1/3 der über 90-jährigen an Altersdemenz erkrankt. Rund 2/3 aller 1,1 Millionen Erkrankten haben das 80. Lebensjahr vollendet.94 Der Umstand, dass eine Altersgruppe in einer bestimmten Größenordnung von einer die Wahlmündigkeit ausschließenden Krankheit betroffen ist, sagt aber nichts über den einzelnen Wähler in dieser Altersgruppe aus. Da das Wahlrecht ein höchstpersönliches subjektives Recht eines jeden Staatsbürgers ist95, muss sein Verlust auch in jedem Einzelfall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.96 Dieser Tatsache tragen bereits die geltenden Wahlgesetze Rechnung, die überdies auch wegen des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl nur wenige Gründe für den Verlust des Wahlrechts zulassen, so etwa die im Einzelfall angeordnete Betreuung nach § 1896 BGB.97 Ein pauschaler Ausschluss einer ganzen Gruppe von an sich Wahlberechtigten vom aktiven Wahlrecht allein wegen eines bestimmten Alters und aufgrund bloßer Vermutung verletzt daher den zu den Kernelementen des Demokratieprinzips zählenden Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl98. Das heißt, dass eine generelle Beschränkung des Kreises der aktiven Wählerschaft, etwa auf die unter 90-jährigen oder gar 80jährigen, auch durch verfassungsänderndes Gesetz nicht möglich ist.
II. Materielle Verfassungsbestimmungen als Möglichkeiten zur Eindämmung von Generationenkonflikten Bietet das Wahlrecht somit nur geringe Perspektiven, so sind nun in einem zweiten Schritt verschiedene Verfassungsbestimmungen in den Blick zu nehmen, welche die Spielräume für mögliche Sachentscheidungen der gewählten Gesetzgebungsorgane zugunsten der Senioren deutlich limitieren. In der Demokratie gilt prinzipiell der Wille der Mehrheit. Das demokratische Mehrheitsprinzip muss jedoch vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Schran94 Zu diesen Zahlen für Deutschland siehe Deutsche Alzheimer Gesellschaft, Das Wichtigste – Informationsblätter, 1. Die Epidemiologie der Demenz, 2008, S. 1, als download abruf bar unter www. deutsche-alzheimer.de/fi leadmin/alz/pdf/. . ./FactSheet01.pdf. Zur vergleichbaren weltweiten Entwicklung von stark zunehmenden Demenzerkrankungen Spiegel Online, WHO warnt vor dramatischer Demenz-Ausbreitung, abgerufen am 16. April 2012, Quelle verfügbar unter http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/0,1518,826910,00.html. 95 So Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 138. 96 Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 88. 97 Zu den Ausschlussgründen näher Klein (Fn. 37), Art. 38 GG Rn. 91 ff. 98 Den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl als von Art. 79 Abs. 3 GG erfasst sehen Hain (Fn. 56), Art. 79 GG Rn. 82; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt München, Stand des Gesamtwerkes 64. Lfg. Januar 2012, Stand der Kommentierung 52. Lfg. Mai 2008, Art. 79 GG Rn. 134; Sachs (Fn. 54), Art. 79 GG Rn. 65.
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ken gesehen werden, die den Gestaltungsmöglichkeiten der Mehrheit Grenzen setzen.99 Von Kompetenz- und Verfahrensnormen einmal abgesehen, sind dies vor allem materielle Verfassungsgrundsätze und die Grundrechte, die der Entscheidungsmacht der vom Wähler bestimmten Repräsentanten in den Gesetzgebungsorganen, sprich den Abgeordneten im Bundestag sowie den Landtagen, Schranken ziehen.100
1. Bereits existierende Grenzen a) Die Grundrechte In der Demokratie kommt zunächst den Grundrechten in ihrer Funktion als Schutzrechte von Minderheiten eine große Bedeutung zu.101 In der Seniorendemokratie gewinnt aus Sicht der Familien dabei Art. 6 Abs. 1 GG besondere Relevanz.102 Nach dieser Vorschrift stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Staat darf die Ehe und Familien gegenüber anderen Lebensformen nicht benachteiligen.103 Darüber hinaus verpfl ichtet Art. 6 Abs. 1 GG den Staat, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern.104 Die Bedeutung dieses „Förderungsgebots“105 darf indes nicht überschätzt werden. Erstens hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, wie er fördern will.106 Zweitens lassen sich aus dem Förderungsgebot – so das Bundesverfassungsgericht – keine konkreten Ansprüche herleiten.107 Vielmehr hat der Gesetzgeber neben der Familienförderung auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen, er darf dabei „auf die Funktionsfähigkeit und das Gleichgewicht des Ganzen“ achten.108 Die Familienförderung steht damit gleichsam „unter dem Vorbehalt des Möglichen“109. Das heißt zugleich im Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 1 GG für Umverteilungsentscheidungen zugunsten der Senioren keine unüberwindbaren Hindernisse aufstellt.
99 Vgl. Hesse (Fn. 50), Rn. 153 ff.; Rn. 287; Dreier (Fn. 11), Art. 20 GG Rn. 80; Robbers (Fn. 11), Art. 20 GG Rn. 652; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (57 f.). 100 Nachfolgender Überblick über begrenzende materielle Prinzipien vor allem unter Rückgriff auf die Überlegungen bei Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (59 ff.). Zu Begrenzungen des Mehrheitsprinzips siehe ferner auch Robbers (Fn. 11), Art. 20 GG Rn. 650 f., 652. 101 Siehe Hesse (Fn. 50), Rn. 287; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (58) m. w. N. 102 Mit Blick auf die Auswirkungen des demographischen Wandels im Ergebnis ebenso Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (59, 60). 103 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit BVerfGE 6, 55 (76), zum Benachteiligungsverbot bzw. Diskriminierungsverbot aus der neueren Judikatur etwa BVerfGE 99, 216 (232); 105, 313 (346); aus der Literatur statt vieler Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. München 2011, Art. 6 Rn. 12; Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (60) m. w. N. 104 BVerfGE 103, 242 (259); 107, 205 (213); 124, 199 (225). 105 Wernsmann (Fn. 12), Der Staat 44 (2005), S. 43 (60). 106 BVerfGE 82, 60 (81); 87, 1 (36); 112, 50 (66). 107 BVerfGE 87, 1 (37 f.); 103, 242 (259 f.); 107, 215 (213); 110, 412 (436, 445). 108 So BVerfGE 82, 60 (82); 87, 1 (35 f.); 103, 242 (259); 106, 166 (177). 109 So ausdrücklich BVerfGE 103, 242 (259); 112, 50 (66).
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b) Art. 20a GG Wenn Grundrechte keinen wirksamen Schutz vor der Gefahr einer „Rentnerdiktatur“110 bieten, was ist dann mit Verfassungsprinzipien? Bietet etwa das Umweltschutzprinzip111 des Art. 20a GG der jungen Generation Schutz vor einem Parlament, das sich vornehmlich den Interessen der Alten verpfl ichtet fühlt? Auch dies ist im Ergebnis zu verneinen: Die geringe Schutzwirkung der Norm ergibt sich erstens aus ihrem Charakter. Art. 20a GG enthält zwar eine „verfassungsmateriale Wertentscheidung“112 zugunsten des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen in Verantwortung für die künftigen Generationen113, diese lässt aber Ausnahmen zu und wird zudem durch gegenläufige verfassungsrechtliche Vorgaben begrenzt.114 Die schwache Begrenzungsmacht der Vorschrift ergibt sich des Weiteren aus ihrem Schutzgegenstand und ihrer Zielrichtung. Art. 20a GG enthält vor allem ein Verschlechterungsverbot der Umweltgesamtsituation.115 Er verpfl ichtet den Staat, eigene Eingriffe in die Umwelt zu unterlassen.116 Überdies hat er Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der natürlichen Umwelt zu ergreifen.117 Mit Blick auf unsere Fragestellung verbietet Art. 20a GG somit lediglich einen gezielten Umweltverbrauch zu Lasten der nachfolgenden Generationen.118 Auch kann er Regelungen von Alltagskonfl ikten gebieten.119 Er zieht aber einer Ressourcenverteilung auf anderen Feldern keine Grenzen.120 Zudem steht Art. 20a GG unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung.121 110
Zu diesem Schlagwort schon oben Fn. 32. Als „Prinzip“ auch verstanden von Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG. Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 2. Aufl. Tübingen 2006, Art. 20a GG Rn. 23; ferner auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. München 2011, Art. 20a GG Rn. 1. 112 So explizit Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt München, Stand des Gesamtwerkes 64. Lfg. Januar 2012, Stand der Kommentierung 40. Lfg. Juni 2002, Art. 20a GG Rn. 18. 113 Auf gleicher Linie wie Scholz auch Jarass (Fn. 111), 20a GG Rn. 1. Zum vieldeutigen Charakter der Norm siehe ferner Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. München 2011, Art. 20a GG Rn. 12 ff. („Staatsziel“); Schulze-Fielitz (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 23 („Prinzip“, „Umweltstaatsprinzip“) und Rn. 26 („Optimierungsgebot“). 114 So Jarass (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 1. 115 So Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 44; Schulze-Fielitz (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 44; Jarass (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 10. 116 Vgl. Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 33 und 34. 117 Vgl. Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 41 und 43 („Verbesserung der Umweltsituation“); Schulze-Fielitz (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 44. 118 Jarass (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 10; Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 38. 119 Der Gesetzgeber hat in dieser Hinsicht allerdings einen weiten Gestaltungsspielraum, vgl. BVerfGE 118, 79 (110), auf gleicher Linie auch das Schrifttum, siehe statt vieler Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 60. 120 Art. 20a GG ist zwar Ausdruck einer „intergenerationellen Gerechtigkeit“ (so Schulze-Fielitz (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 38), doch seine Wirkkraft ist eben vorrangig auf die Erhaltung von Artenvielfalt und natürlichen Ressourcen begrenzt, vgl. dazu wiederum Schulze-Fielitz (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 38. 121 Zur Bedeutung dieses Vorbehalts Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 58 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 41. Zum Konkurrenzverhältnis mit anderen Verfassungsnormen Murswiek (Fn. 113), Art. 20a GG Rn. 52 ff.; Jarass (Fn. 111), Art. 20a GG Rn. 14 ff. 111
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Die Beschränkungsmacht des Umweltschutzprinzips ist daher mit Blick auf die vorrangigen Interessen der Senioren auf umfassenden Gesundheitsschutz, hohe Versorgungsleistungen und Sicherheit sehr begrenzt.
c) Haushaltsrechtliche Grenzen: Die Schuldenbremse Eine Begrenzung der Entscheidungsmacht des demokratischen Gesetzgebers mit Blick auf Finanzentscheidungen stellt Art. 115 Abs. 2 GG neue Fassung122 dar. Diese Vorschrift ist mit dem Etikett der „Schuldenbremse“123 versehen worden. Ihre wesentliche Funktion ist, die Staatsverschuldung von Bund und Ländern durch immer weitere Kreditaufnahmen zu begrenzen.124 Die jahrzehntelange Praxis, den „Bürger durch Leistungen zu erfreuen, die Lasten aber in die Zukunft zu verschieben“125, sollte unterbunden und die Schuldenbelastung für künftige Generationen reduziert werden.126 In dieser Hinsicht ist Art. 115 Abs. 2 GG sicherlich Ausdruck der Vorstellung von der Generationengerechtigkeit. Art. 115 Abs. 2 GG verbietet aber nicht, vorhandene fi nanzielle Ressourcen so zu verteilen, dass vor allem bestimmte Altersgruppen profitieren.127 Denn die Entscheidung über die Ausgaben des Staates fällt nach wie vor in die Budgethoheit des Parlaments.128 Das heißt, dass es auch vor dem Hintergrund der „Schuldenbremse“ weiterhin verfassungsrechtlich zulässig ist, die Ausgaben für die Sektoren Gesundheit und Alterssicherung zu erhöhen. Einen Schutz vor der von Altbundespräsident Herzog befürchteten „Ausplünderung der Jungen durch die Alten“129 bietet Art. 115 Abs. 2 GG daher nicht.130
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Neufassung des Art. 115 Abs. 2 GG durch das 57. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. 7. 2009 (BGBl. I, S. 2248). 123 Der Begriff fi ndet sich im juristischen Schrifttum beispielsweise bei Lenz/Burgbacher, Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz, NJW 2009, S. 561 (561 und passim); Schliemann, Von der Schuldenbremse zur Normenbremse, ZRP 2009, S. 193 (193); Groh, Schuldenbremse und kommunale Selbstverwaltungsgarantie, LKV 2010, S. 1 (1). 124 Vgl. dazu statt vieler Kube, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt München, Stand des Gesamtwerkes 64. Lfg. Januar 2012, Stand der Kommentierung 56. Lfg. Oktober 2009, Art. 115 GG Rn. 118. Sie enthält aber keine Pfl icht zur Schuldentilgung, so statt vieler Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. München 2011, Art. 115 GG Rn. 33. 125 So deutlich Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. München 2011, Art. 115 GG Rn. 1. Zur verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit einer solchen Praxis Kube (Fn. 124) Art. 115 GG Rn. 1 und 118. 126 Zu den Gründen der Einfügung des Art. 115 Abs. 2 GG siehe ausführlich BT-Drs. 16/12410, S. 6 sowie auch Kube (Fn. 124), Art. 115 GG Rn. 54 ff. 127 Dazu trifft Art. 115 Abs. 2 GG nämlich keine Aussage, weil es seinen Anwendungsbereich gar nicht betrifft. Zum Anwendungsbereich der Norm ausführlich Kube (Fn. 124), Art. 115 GG Rn. 118 ff. 128 Zur Budgethoheit des Parlaments statt vieler Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 6. Aufl. München 2011, Art. 110 GG Rn. 12 ff. 129 Herzog, zitiert nach Boscheinen (Fn. 16), Rheinischer Merkur, Ausgabe 16/2008, S. 3 sowie nach Voss (Fn. 13), Focus.de vom 23. 04. 2008, S. 1, abruf bar unter http://www.focus.de/fi nanzen/altersvorsorge/rente/tid-9700/alterseinkuenfte-arme-rentner-reiche-rentner_aid_296751.html. 130 Skeptisch zur Wirkkraft der Norm auch Kube (Fn. 124), Art. 115 GG Rn. 246 ff.
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2. Grenzen de lege ferenda Die Defizite des geltenden Verfassungsrechts haben Überlegungen auf kommen lassen, zusätzliche materielle Schranken in der Verfassung zu verankern. Am weitesten gediehen ist der fraktionsübergreifende Vorschlag eines „Generationengerechtigkeitsgesetzes“131. In diesem Gesetz wird unter anderem angeregt, eine neue Staatszielbestimmung „Generationengerechtigkeit“ in das Grundgesetz aufzunehmen.132 Dieser neue Art. 20b GG soll lauten: „Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen.“ Dieser Versuch einer rechtlichen Normierung eines Generationengerechtigkeitsprinzips ist sicherlich ehrenwert,133 aber es ist zweifelhaft, ob dieser Ansatz – wie auch schon Art. 20a GG – für unsere Fragestellung nennenswerte Wirkung zeigen wird.134 Dies deshalb, weil mit dieser Vorschrift dieselben Probleme verbunden sind, die schon die weitgehende Wirkungslosigkeit des Art. 20a GG in der Seniorendemokratie bedingen. Gleichwohl ist die Einführung des Art. 20b GG zu befürworten, weil nicht auszuschließen ist, dass zukünftig im Wege bereichsspezifischer einfach-gesetzlicher Konkretisierungen die Interessen künftiger Generationen größeres Gehör fi nden werden.135
C. Seniorendemokratie und die Idee der Generationengerechtigkeit: die verwaltungsrechtliche Ebene Wenn das Staatsrecht nicht viel weiter helfen kann, vermag dann vielleicht das Verwaltungsrecht einen Beitrag zur Lösung von Generationenkonfl ikten zu leisten und in der Seniorendemokratie zur Befriedung beizutragen? Die Antwort ist: ja, das kann es, und zwar durch konkrete Regeln des abwägenden Interessenausgleichs.
I. Das Verwaltungsrecht als Ressource zur Vermeidung oder Milderung von Generationenkonflikten: grundsätzliche Optionen Auf verwaltungsrechtlicher Ebene stehen verschiedene Konfl iktlösungsstrategien zur Verfügung. Abstrakt gesprochen kann der einfache Gesetzgeber – ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Aufzählung –
131 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur Verankerung der Generationengerechtigkeit (Generationengerechtigkeitsgesetz), BT-Drs. 16/3399. 132 Siehe Art. 1 Nr. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur Verankerung der Generationengerechtigkeit (Generationengerechtigkeitsgesetz), BT-Drs. 16/3399, S. 1 (3). 133 Zur Rezeption dieses Vorschlags in der Literatur siehe Kahl (Fn. 12), DÖV 2009, S. 2 (2 Fn. 4). 134 Skeptisch auch Kahl (Fn. 12), DÖV 2009, S. 2 (8 f.). 135 Grundsätzlich positive Beurteilung des Vorschlags, ein Generationengerechtigkeitsprinzip in Form eines Art. 20b GG zu verankern, auch bei Kahl (Fn. 12), DÖV 2009, S. 2 (2 und 12 f.).
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– bei Abwägungsentscheidungen dirigierende Abwägungsvorgaben normieren,136 so etwa, dass die Belange der Jugend stärker zu bewerten sind als die der älteren Generationen, – er kann – wie etwa im Schwerbehindertenrecht oder im Ausländerrecht – ein System von Beauftragten137 schaffen, deren Aufgabe es ist, die Interessen der Jugend bei Verwaltungsentscheidungen zu wahren,138 oder – vorausschauende Maßnahmen bei der Personalbewirtschaftung139, der Verwaltungsorganisation oder der Infrastrukturverwaltung ergreifen. Auch kann die Verwaltung selbst in vielfältiger Weise initiativ tätig werden und zum Beispiel generationenversöhnende Projekte wie Mehrgenerationenhäuser finanziell oder ideell fördern.140
II. Das Verwaltungsrecht als Ressource zur Vermeidung oder Milderung von Generationenkonflikten: Beispiele aus dem besonderen Verwaltungsrecht Neben diesen eher allgemeinen Optionen möchte ich anschließend zwei aktuelle Beispiele konkreter gesetzlicher Regelungen aus dem besonderen Verwaltungsrecht vorstellen, die praktikable Lösungen zur Milderung des Generationengegensatzes darstellen:
1. Konfliktbewältigungsregeln im Umweltrecht Konkrete Konfl iktbewältigungsregeln hält erstens das Umweltrecht, insbesondere das Immissionsschutzrecht bereit. Sie sind dort auch zwingend erforderlich, denn in der Seniorendemokratie verschärft sich gerade im täglichen Leben der Gegensatz Jung gegen Alt. Kinder, früher eine Normalität, werden mehr und mehr zu einer seltenen species. Zunehmend wird ihr natürliches Verhalten, vor allem ihre Lebendigkeit und ihre nicht immer leisen Aktivitäten, von der alternden Umgebung als störend empfunden.141 Gegen diese Störungen soll dann mit Staatsmacht, nicht zu136 Zu dieser bewährten Technik der Normierung von Abwägungsdirektiven siehe beispielhaft das Bauplanungsrecht, so etwa die in § 1 Abs. 5 und 6 BauGB aufgeführten Planungsleitlinien und Belange, die in der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB zu verarbeiten sind, dazu näher Krautzberger, in: Battis/ Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. München 2009, § 1 BauGB Rn. 102 ff. 137 Vgl. im Schwerbehindertenrecht den Beauftragten des Arbeitgebers, § 98 SGB IX , im Aufenthaltsrecht die Beauftragte/den Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration, § 92 ff. AufenthG. 138 Zu derartigen institutionellen Absicherungen als Ausdruck der Generationengerechtigkeit auch Tremmel (Fn. 13), ZRP 2004, 44 (45 ff.), der allerdings eine Schaffung neuer Institutionen auf der Ebene des Staatsrechts favorisiert. 139 Dazu näher Schmid (Fn. 3), Sicher ist sicher – Zeitschrift für Arbeitsschutz 2011, S. 16 (17 ff.). 140 Zu eher technischen Lösungen durch innovative Technologien (z. B. Assistenzsystemen, Sensoren oder Roboter) für die Behebung von Problemen einer zunehmend vergreisenden Gesellschaft siehe Ress/Kuhn, Ein Paul für alle Fälle, Wirtschaftswoche vom 13. 2. 2012, Ausgabe 7/2012, S. 66 ff. 141 Zum seit Jahren virulenten Konfl ikt zwischen Betreibern von Kindereinrichtungen und deren Nachbarn siehe unter anderem die Berichterstattung zur Kinderlärmproblematik auf becklink: „Grüne wollen Klagen gegen Kinderlärm unterbinden, Meldung vom 20. 09. 2010, becklink 1005036; „Bun-
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letzt mit Mitteln des öffentlich-rechtlichen Lärmschutzrechts vorgegangen werden.142 Solche Alltagskonfl ikte können durch Vorschriften wie etwa den neuen § 22 Abs. 1a BImSchG143 zumindest entschärft werden. Dieser lautet: „Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise Ballspielplätzen durch Kinder hervorgerufen werden, sind im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung. Bei der Beurteilung der Geräuscheinwirkungen dürfen Immissionsgrenz- und -richtwerte nicht herangezogen werden.“144 Durch derartige Bewertungs- und Ausschlussklauseln (Kinderlaute sind kein Lärm) wird sowohl die Möglichkeit des behördlichen Einschreitens beschränkt als auch subjektiv-öffentlichen Ansprüchen Privater gegenüber Behörden auf Einschreiten gegen andere Private der Boden entzogen.145 Dieser Normtyp wäre im Ordnungsrecht vielfältig einsetzbar und von hoher Wirkkraft als Gegensteuerungsmittel, da hier vielfältige Entscheidungen zugunsten der jüngeren Generationen getroffen werden können.
2. Beamtenrecht und die Generationengerechtigkeit fördernde Maßnahmen Eine weitere einfach-gesetzliche Gegensteuerungsmaßnahme vor allem im Bereich der Ressourcenverteilung eröffnet das öffentliche Dienstrecht. Auf diesem Feld sind vor allem das Beamtenstatusrecht sowie das Beamtenversorgungsrecht geeignet, den fi nanziellen Interessen der jüngeren Generationen Rechnung zu tragen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass das reguläre Ruhestandsalter der Beamten heraufgesetzt146 und so die ältere Beamtengeneration noch länger am Wertschöpdesregierung: Kinderlärm soll kein Klagegrund mehr sein“, Meldung vom 14. 01. 2011, becklink 1009160; „Bundesrat billigt Recht auf Kinderlärm“, Meldung vom 15. 04. 2011, becklink 1012348. 142 Zu öffentlich-rechtlichen Nachbarklagen gegen Kinderspielplätze oder Kindertagesstätten wegen Lärm vgl. beispielsweise VGH Kassel, NVwZ-RR 2012, S. 21 ff.; OVG Lüneburg, NVwZ 2006, S. 1199 ff.; VGH Mannheim, NVwZ 1990, S. 988 ff.; zu Klagen gegen sonstigen Kinderlärm etwa OVG Koblenz, becklink 242530: Gemeinde muss unzumutbaren Straßenlärm durch spielende Kinder unterbinden. 143 In das Bundes-Immissionsschutzgesetz eingefügt durch Artikel 1 des Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes vom 28. 07. 2011 (BGBl. I, S. 1474). 144 Näher zu den Gründen der Einführung und zum Gehalt dieser Vorschrift Scheidler, Das Zehnte Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, NVwZ 2011, S. 838 (838 ff.); Fricke/Schütte, Die Privilegierung des Kinderlärms im Bundes-Immissionsschutzgesetz – Eine rechtliche Anmerkung zu BImSchG, ZUR 2012, S. 89 (89 ff.). 145 In der Tendenz grundsätzlich ebenso Scheidler (Fn. 144), NVwZ 2011, S. 838 (840). Skeptisch mit Blick auf den konkreten § 22 Abs. 1a BImSchG hingegen Fricke/Schütte, die für diese Konstellation die Normierung einer spezifi schen Kinderlärmverordnung favorisieren, Fricke/Schütte (Fn. 144), ZUR 2012, S. 89 (93). Zur möglichen Ausstrahlungswirkung des § 22 Abs. 1a BImSchG auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen siehe ebenfalls Scheidler (Fn. 144), NVwZ 2011, S. 838 (840). 146 Die grundsätzliche lebenslängliche Anstellung als Beamter lässt (Höchst)altersgrenzen zu, die verfassungsrechtlich nicht vorgegeben sind, sondern vom Gesetzgeber bestimmt werden dürfen und müssen, vgl. aus der Judikatur BVerfGE 71, 255 (270); 67, 1 (11 ff.); BVerwGE 133, 143 (145); NVwZ 1997, S. 1207 (1207 f.); aus dem Schrifttum Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG-Kom-
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fungsprozess beteiligt wird. Versorgungsrechtlich ist der Weg eröffnet, die maximale Höhe des Ruhegehaltes bis auf das von Art. 33 Abs. 5 GG festgeschriebene Mindestniveau zu reduzieren147 oder von einer längeren Dienstzeit abhängig zu machen148. Beide Optionen – späterer Eintritt in den Ruhestand mit Erreichen des 67. Lebensjahres und Versorgungsabsenkung – sind im neuen bayerischen Dienstrecht149, aber auch im neuen Bundesbeamtengesetz und im novellierten Beamtenversorgungsgesetz150 aufgegriffen worden. Damit ist ein Schritt zur fi nanziellen Entlastung der jüngeren Menschen geleistet worden, der allerdings aus physischen Gründen – irgendwann setzt unweigerlich bei jedem Beamten die Dienstunfähigkeit ein – und der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums im Versorgungsrecht151 nicht wesentlich weiter gegangen werden kann.
D. Fazit Das Verfassungsrecht vermag mit Blick auf einen etwaigen Generationenkonfl ikt zwischen Alt und Jung wenig Konkretes zu bewirken. Das Wahlrecht bietet kaum Möglichkeiten, das sich abzeichnende strukturelle Übergewicht älterer und alter Menschen gegenüber der Altersgruppe der Minderjährigen sowie gegenüber der Wählerschaft insgesamt auszugleichen. Allenfalls eine Absenkung des aktiven Wahlrechts auf 16 Jahre steht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben noch im Einklang. Auch materielle Prinzipien des Verfassungsrechts wie das Umweltschutzprinzip oder Vorgaben wie die Schuldenbremse sowie die Grundrechte vermögen wenig beizutragen. Sie können einem – im doppelten Sinne – „Parlament der Rentner“ nur sehr eingeschränkt Grenzen setzen. Konkrete, die verschiedenen Altersinteressen ausgleichende Regelungen sind wohl eher auf einfach-gesetzlicher Ebene möglich. Im Verwaltungsrecht ergeben sich hierfür vielfältige Möglichkeiten. Hoffnungsfroh stimmen die Beispiele des neuen § 22 Abs. 1a BImSchG oder die altersbezogenen Reformen im Beamtenstatusund Beamtenversorgungsrecht. Ob es zu weiteren, die Interessen der verschiedenen
mentar, Band 2, 6. Aufl. München 2010, Art. 33 GG Rn. 52; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. München 2011, Art. 33 GG Rn. 49 und 50. 147 Diese Mindestpension beträgt nach der Rechtsprechung des BVerfG 35% der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge, so BVerfGE 7, 155 (169). Zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Reduktion der Besoldung und der Versorgungsbezüge für die Zukunft BVerfGE 107, 218 (238); 76, 256 (310); 64, 367 (379). 148 Zur Zulässigkeit dieser Option BVerfGE 114, 258 (285 ff.); Pieroth (Fn. 146), Art. 33 GG Rn. 59. 149 Zu den bayerischen Regelungen in Art. 62 BayBG sowie in einer Reihe von Regelungen des BayBeamtVG ausführlich Voitl/Luber, Das neue Dienstrecht in Bayern, München 2011, S. 78 ff., S. 91 ff. 150 Zu den Änderungen im Statusrecht durch Verlängerung der Dienstzeit (§ 51 BBG) sowie zu den Kürzungen im Versorgungsrecht siehe statt vieler Battis, Das Dienstrechtsneuordnungsgesetz, NVwZ 2009, S. 409 (412). 151 Zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums auf dem Gebiet des Versorgungsrechts zusammenfassend Jachmann (Fn. 146), Art. 33 GG Rn. 51; Pieroth (Fn. 146), Art. 33 GG Rn. 49 f.
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Altersgruppen versöhnenden normativen Regelungen kommt, müssen wir abwarten. Aber wir dürfen – und sollten – hoffen, dass mit der Gesamtzahl der Alten auch die Zahl der weisen Alten wächst, und dass diese weisen Alten wissen und erkennen, dass im Sinne der Generationengerechtigkeit nicht nur ihr eigenes Wohlergehen, sondern auch das Glück, die Wohlfahrt und die Zukunft möglichst vieler wichtig ist. Ein literarisches Vorbild für Senioren, die dergestalt über ihre eigene begrenzte Existenz hinaus denken, mag der Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland sein, der sich – ganz modern – dem Nachhaltigkeitsdenken verpfl ichtet fühlt, indem er auch noch im Sterben an die Kinder denkt und sich eine Birne ins Grab legen lässt, um mit segnender Hand für künftige Generationen zu spenden.152 Ich möchte schließen mit den Worten Carl Siebels, eines Dichters aus dem aus unserer Sicht so lang zurückliegenden 19. Jahrhundert: Das ist das ew’ge Lied und Leid, dass die Erfahrung erst gedeiht, wenn Mut und Kraft verrauchen. Die Jugend kann – das Alter weiß. Du kaufst erst um des Lebens Preis Die Kunst, das Leben zu gebrauchen.153
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Fontane, Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (1889), Strophen 3 und 4, abgedruckt in Reiners, Der ewige Brunnen, Sonderausgabe auf der Grundlage der 2. Aufl. 1959 München 2000, S. 244. 153 Siebel, Das ist das ew’ge Lied und Leid, abgedruckt in Reiners (Fn. 152), S. 242.
Innovative Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen Die Innovationsoffenheit des Rechts und die Gestaltungsaufgabe der Rechtswissenschaft von
Prof. Dr. Steffen Augsberg, Saarbrücken* A. Einleitung: Funktion und Erscheinungsformen von Innovation im Gesundheitswesen Mit den nachfolgenden Überlegungen möchte ich mich auf zwei grundlegende Fragestellungen konzentrieren: – Zum einen ist darzulegen, wie das Recht, hier weit verstanden als System der geschriebenen Regeln einschließlich deren Anwendung durch ein entsprechend geschultes Rechtspersonal, auf Innovationsbedarf im allgemeinen sowie im Gesundheitswesen im besonderen reagiert und wie sich mögliche Spannungen erklären und abbauen lassen (dazu B.). – Zum anderen ist nach der spezifischen Aufgabe der Rechtswissenschaft im Kontext der (deskriptiven und normativen) Innovationsforschung zu fragen (dazu C.). Beide Fragen hängen ohne Zweifel eng miteinander zusammen, sollten aber dennoch analytisch geschieden werden.
I. Zielsetzung: Kostenersparnis und/oder verbesserte Behandlungsqualität Vorab allerdings ist zur Einleitung kurz das Regelungsumfeld abzugrenzen. Dabei kann ich mich angesichts der soeben gehörten, gleichermaßen umfassenden wie detaillierten Beschreibung des status quo1 auf einige wenige Sätze beschränken: Es kann schlicht nicht bestritten werden, daß das deutsche Gesundheitswesen unter * Prof. Dr. iur, Lehrstuhl für Öffentliches Rechts, insbesondere Recht des Gesundheitswesens an der Universität des Saarlandes. Es handelt sich um die leicht überarbeitete und um Nachweise ergänzte Fassung der Antrittsvorlesung an der Universität des Saarlandes vom 6. Juli 2012. 1 Der interdisziplinären Thematik und Forschungsperspektive entsprechend wurde die Antrittsvorlesung gemeinsam mit Prof. Dr. Martin Dietrich, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Management des Gesundheitswesens, abgehalten, dessen Vortrag sie insoweit ergänzte.
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massivem, vor allem fi nanziell orientiertem Anpassungs- und Wandlungsdruck steht. Dabei besitzen der – euphemistisch so bezeichnete – „demographische Wandel“2 und die damit einhergehenden Veränderungen der Morbidität 3 eine nicht zu leugnende Bedeutung. Mit Blick auf die gesamtsystemisch zu beobachtenden Ausgabenzuwächse sind indes monokausale Erklärungen offensichtlich unzureichend; im Gegenteil gilt es gerade, den Wechselwirkungen zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dem medizinischen Betrieb und der rechtlichen Regulierung nachzugehen. Auch für den hier interessierenden Bereich der Innovationen ist an dieser Stelle eine gewisse Ambivalenz festzustellen: Begriffl ich gelten als Innovationen „signifikante Neuerungen, die zur Bewältigung eines bekannten oder eines neuen Problems beitragen und gegenstandsbezogen etwa die Erzeugung und Verbreitung neuer Produkte, die Entwicklung von Verfahren oder die Schaffung von Strukturen oder auch die Herausbildung neuer sozialer Verhaltensweisen betreffen.“4 Eine eindeutige Zielsetzung, namentlich eine kostenreduzierende Funktion, ist damit auch im Gesundheitssektor zunächst nicht verbunden. – In der Tat können Innovationen sogar Mehrkosten verursachen. Beispielhaft verdeutlichen dies „neue“ Medikamente, deren Preis den Entwicklungsaufwand (und ggf. den Einsatzbereich) mitreflektiert und deshalb deutlich über dem bereits seit längerem eingeführter, v. a. bereits als Generika vorliegender Arzneimittel liegt. Die „Innovationsquote“ bei den Arzneimitteln stellt insoweit – ebenso wie die „Morbiditätsquote“ bei den Arztausgaben und der Anstieg der „Case-Mix-Punkte“ bei den Krankenhausausgaben – einen rechtsinduzierten, kostenintensivierenden Mengen- und Struktureffekt des Medizinbetriebs dar.5 – Andererseits können Innovationen nur oder doch ganz überwiegend dazu dienen, kostensenkend zu wirken. Erfaßt sind hiervon insbesondere Versorgungsmodelle, mittels derer Rationalisierungen, Priorisierungen oder sogar Rationierungen durchgesetzt werden könn(t)en.6 2 Vgl. im hier interessierenden Kontext Hans Adolf Müller/Christiane Vössing/Andreas Wöhler, Versorgungsmanagement als Antwort auf den demografi schen Wandel, in: Volker Amelung/Susanne Eble/ Holger Hildebrandt (Hrsg.), Innovatives Versorgungsmanagement: neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, Berlin 2011, S. 195 ff. 3 Instruktiv dazu: Gutachten 2009 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens, BT-Drs. 16/13770, S. 251 ff. 4 Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (589); zum Innovationsbegriff siehe ferner statt vieler Marian Adolf, Die Kultur der Innovation. Eine Herausforderung des Innovationsbegriffes als Form gesellschaftlichen Wissens, in: Reto M. Hilty/Thomas Jaeger/Matthias Lamping (Hrsg.), Herausforderung Innovation. Eine interdisziplinäre Debatte, Berlin 2012, S. 25 (27 ff.). 5 Vgl. hierzu etwa K. H. Schönbach/Birgit Schliemann/Jürgen Malzahn/Jürgen Klauber/Christian Peters, Zukunft der Bedarfsplanung und Gestaltung der Versorgung, GuS 2011, 11. 6 Vgl. zum Problemkontext etwa Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unter Finanzierungsvorbehalt? – Verfassungsrechtliche Determinanten indirekter und direkter Rationierung im Gesundheitswesen, ZfmE 2009, 45 ff.; Philipp Storz, Die Debatte über Priorisierung und Rationierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung: überfällig oder überflüssig?, GuS 2010, 11 ff.; Ulrich Wenner, Rationierung, Priorisierung, Budgetierung: verfassungsrechtliche Vorgaben für die Begrenzung und Steuerung von Leistungen der Gesundheitsversorgung, GesR 2009, 169 ff.
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– Überwiegend sollen demgegenüber Innovationen zwar auch dazu beitragen, die fi nanziellen Belastungen des Gesundheitssystems zu verringern. Im Vordergrund steht aber – jedenfalls in den offiziellen Verlautbarungen – das Ziel, durch innovative Veränderungen Schwächen des bestehenden Systems auszugleichen und namentlich eine verbesserte Behandlungsqualität zu gleichbleibenden oder sogar sinkenden Kosten zu gewährleisten. Dem liegt die weitgehend konsentierte Einschätzung zugrunde, der Gesundheitsversorgung sei durch eine strikte Aufrechterhaltung der Trennung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor nicht gedient, und sie bedürfe im Sinne der Wettbewerbsstärkung (zusätzlicher) selektiver Vertragsoptionen.7 Dementsprechend bestehen auch wenig Zweifel daran, daß Modelle wie die sog. hausarztzentrierte Versorgung oder Disease-Management-Programme grundsätzlich versorgungsoptimierend wirken können.8 Gerade solche leistungsverbessernden und/oder kostensparenden Innovationsmechanismen stehen daher aktuell im Zentrum der Aufmerksamkeit; sie gelten als Hoffnungsträger in einem strukturell überlasteten, in seiner Gesamtausrichtung und Leistungsfähigkeit fragwürdig gewordenen System. Für diese letztgenannte, in sich durchaus heterogene Gruppe läßt sich demnach immerhin mit Blick auf die avisierte Zwecksetzung eine gewisse Einheitlichkeit attestieren. Der Gesetzgeber verbindet mit ihnen die Erwartung einer verbesserten Versorgungsqualität und einer effizienteren Mittelverwendung. Pars pro toto gilt insoweit, was der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen über die „Integrierte Versorgung“ sagt: Sie „beinhaltet zunächst bzw. für sich betrachtet noch keine Aussagen über bestimmte Verfahrensinhalte [. . .] und auch keine Hinweise über die mit diesem Instrument anzustrebenden Ziele oder gar deren Realisierung. Die integrierte Versorgung stellt – ebenso wie der Wettbewerb und die vielfältigen Formen selektiven Kontrahierens – mit all ihren Organisationsformen keinen Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur Verwirklichung von höherrangigen Zielen dar. Alle Organisationsformen der integrierten Versorgung, z. B. integrierte Versorgungsformen, D[isease-]M[anagement-]P[rogramme] oder hausarztzentrierte Versorgung, dienen instrumental der Verbesserung von Effi zienz und Effektivität der Gesundheitsversorgung.“9 „So war Zielvorstellung des Gesetz7 Vgl. zu letzteren etwa Michael John Neumann, Selektivverträge in der vertragsärztlichen Versorgung – Eine Reformoption?, Berlin 2010; allgemein etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 67 ff. 8 Vgl. etwa Volker Amelung, Neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, in: Volker Amelung/Susanne Eble/Holger Hildebrandt (Hrsg.), Innovatives Versorgungsmanagement: neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, Berlin 2011, S. 3 ff.; siehe als Überblick etwa Stephan Besl, Moderne, vernetzte Versorgungsformen, in: Horst Kunhardt (Hrsg.), Systemisches Management im Gesundheitswesen. Innovative Konzepte und Praxisbeispiele, Wiesbaden 2011, S. 205 (208 ff.); Michael Quaas/Rüdiger Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl age München 2008, § 11 Rn. 1 ff.; Franz Knieps, in: Friedrich E. Schnapp/ Peter Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl age München 2006, § 12 Rn. 1 ff.; Matthias von Schwanenflügel, Moderne Versorgungsformen im Gesundheitswesen – Förderung der Qualität und Effi zienz, NZS 2006, 285 ff.; Carsten Sterly/Martina Hasseler, Integrierte Versorgung, in: Christian Thielscher (Hrsg.), Medizinökonomie, Band 1: Das System der medizinischen Versorgung, Wiesbaden 2012, S. 483 ff. 9 Gutachten 2007 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, BT-Drs. 16/6339, S. 108.
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gebers, Wissen und Kenntnisse und neue Techniken der Medizin aus den verschiedensten Teilgebieten der Medizin zusammenzufassen, dem Patienten die eigene Vorsorge um die Überleitung von dem einen in den anderen Teilbereich der Medizin abzunehmen und so ein Behandlungsergebnis zu erreichen, bei dem der Erfolg mehr ist als die Summe aneinander gereihter Behandlungsstationen ohne übergreifenden Verantwortungszusammenhang.“10
II. Abgrenzung: Technische Weiterentwicklungen, Patientenverhaltenssteuerung, Versorgungsstrukturen Dieser vergleichsweise einheitlichen Zielsetzung korrespondiert jedoch im Gesundheitswesen eine Vielzahl unterschiedlicher Innovationsmechanismen. In einer ersten, noch recht groben Einteilung können dabei mindestens drei unterschiedliche Erscheinungsformen herausgearbeitet werden. In diesem Sinne kann unterschieden werden zwischen solchen Innovationen, die auf technischen Weiterentwicklungen beruhen oder die Patientenseite in die Pfl icht nehmen, und solchen, die die Struktur der Leistungserbringung betreffen. – Dem Bereich medizinisch-technischer Innovationen zuzuordnen sind alle Formen von Weiterentwicklungen, die sich auf die Produktebene beziehen. Erfaßt sind damit vor allem Neuerungen im Bereich von Arzneimitteln11 und medizinischer Gerätschaft, aber auch die damit zusammenhängenden handwerklich-personenbezogenen Anforderungen, etwa mit Blick auf den Einsatz von lasergestützten und/oder minimalinvasiven Operationsverfahren. Ähnliches gilt für Angebote oder Leistungen der sog. Telemedizin.12 – Innovationen sind indes nicht hierauf beschränkt, sondern lassen sich auch auf der Ebene der Struktur der Gesundheitsversorgung darstellen. Das betrifft zunächst die Patientenseite. Obwohl das deutsche Gesundheitsrecht traditionellerweise nicht die Leistungsempfänger, sondern die Leistungserbringer fokussiert, sind in jüngerer Zeit eine Reihe von Regelungen getroffen worden, die der Stärkung der sog. Patientensouveränität dienen sollen.13 Die Einbeziehung der Patienten gewinnt zudem zunehmend an Bedeutung, soweit erkannt wird, daß gerade bei den „typischen“ Erkrankungen ad hoc ansetzende, auf Akuterkrankungen zugeschnittene Behandlungsformen Defi zite aufweisen und deshalb zumindest ergänzend auch Präventions10 Dieter Hensgen, Integrierte medizinische Versorgung – Grundlegender Paradigmenwechsel, Clinical Research in Cardiology 95, Supplement 2 (2006), II/8 (9). 11 Vgl. exemplarisch zum Innovationspotential in diesem Bereich etwa die Beiträge in: Irene Krämer/Wolfgang Jelkmann (Hrsg.), Rekombinante Arzneimittel. Medizinischer Fortschritt durch Biotechnologie, 2. Aufl age Berlin 2011. 12 Siehe schon Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (600). Vgl. hierzu allgemein Dennis Häckl, Neue Technologien im Gesundheitswesen Rahmenbedingungen und Akteure, Wiesbaden 2010, S. 56 ff., sowie die Beiträge in: Christian Dierks/Hubertus Feussner/Albrecht Wienke (Hrsg.) Rechtsfragen der Telemedizin, Berlin 2001; bereichsspezifisch Christian Rosenberg/Sönke Langner/Britta Rosenberg/Norbert Hosten, Medizinische und rechtliche Aspekte der Teleradiologie in Deutschland, RöFo 2011, 804 ff. 13 Vgl. hierzu etwa Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 362 ff.
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maßnahmen zu berücksichtigen sind.14 In ähnlicher Form gerät verstärkt das Selbstmanagement der Patienten – im Sinne einer behandlungsangemessenen Compliance – in den Blick. Hier lassen sich zudem Kombinationen herstellen mit entsprechender technischer Unterstützung, etwa durch Monitoring- und Erinnerungsfunktionen verbindende „Apps“ oder durch Präventionsmaßnahmen im Bereich sozialer Netzwerke15. Beide Beispiele verdeutlichen zugleich, daß technologische und soziale Innovationen sich nicht ausschließen, sondern häufig sinnvollerweise miteinander verschränkt werden müssen.16 – Schließlich und vor allem sind innovative Lösungen auf der Leistungserbringerseite von Bedeutung. Die traditionellen, historisch gewachsenen Strukturen des Gesundheitswesens und namentlich die strikten Sektortrennungen werden zunehmend als den aktuellen Herausforderungen des Gesundheitssystems nicht mehr adäquat erachtet; statt dessen werden kooperative Lösungen in unterschiedlicher Form propagiert und ausprobiert.17 Namentlich auch die Änderungen häufig eher skeptisch gegenüberstehende Ärzteschaft befürwortet mittlerweile ausdrücklich die „Förderung kooperativer Versorgungsstrukturen“. Von Seiten der Bundesärztekammer wird betont, das System müsse „auf Synergien und Arbeitsteilung ausgerichtet werden“, und ein jüngst auf dem Deutschen Ärztetag mit großer Mehrheit angenommener Leitantrag formuliert die Erwartung, „das Spektrum möglicher Kooperations- und Berufsausübungsformen“ werde in Zukunft „deutlich breiter und vielfältiger werden“.18
B. Innovationen als Herausforderung für Recht und Rechtswissenschaft Das deutsche Gesundheitswesen befi ndet sich also, so scheint es, in einer tiefgreifenden, innovationsorientierten und -basierten Transformationsphase.19 Wie wirtschaftswissenschaftlicher Sachverstand sich dieser Problematik annimmt, haben wir vorhin gehört. Wie geht nun aber das Recht und wie geht die Rechtswissenschaft 14 Vgl. etwa Thomas Kliche, Versorgungsstrukturen und Qualitätssicherung für Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2011, 194 ff.; siehe ferner Rainer Feinen, Patientenbezogene Organisation von Behandlungsprozessen, in: Siegfried Eichhorn/Barbara Schmidt-Rettig (Hrsg.), Profitcenter und Prozeßorientierung. Optimierung von Budget, Arbeitsprozessen und Qualität, Stuttgart 1999, S. 188 ff. 15 Vgl. dazu Horst Kunhardt, Gesundheitsbildung und Gesundheitsförderung in sozialen Netzwerken, in: ders. (Hrsg.), Systemisches Management im Gesundheitswesen. Innovative Konzepte und Praxisbeispiele, Wiesbaden 2011, S. 199 ff. 16 So auch schon Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (600). 17 Vgl. hierzu im Überblick die Beiträge in: Volker Amelung/Susanne Eble/Holger Hildebrandt (Hrsg.), Innovatives Versorgungsmanagement: neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, Berlin 2011. 18 Siehe den entsprechenden Bericht über den Deutschen Ärztetag im Deutschen Ärzteblatt; vgl. http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/50291. 19 Ebenso etwa Volker Amelung/Christoph Wagner, Neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung, in: Volker Brinkmann (Hrsg.), Case Management. Organisationsentwicklung und Change Management in Gesundheits- und Sozialunternehmen, 2. Aufl age Wiesbaden 2010, S. 169 (172).
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mit Innovationen um? Sind rechtliche Regelungen als Innovationshemmnis zu betrachten, sind sie innovationsneutral, oder funktionieren sie eventuell – zumindest partiell – sogar als Innovationsmotor? 20 Diesen Fragen soll nun in zwei Schritten nachgegangen werden: Zunächst ist in allgemeiner Hinsicht das ohne Zweifel bestehende Spannungsverhältnis zwischen Recht und Innovation zu betrachten und sind die Konsequenzen für eine rechtswissenschaftliche Innovationsforschung zu erläutern (dazu I.). Sodann kann am hier interessierenden Referenzbereich der Gesundheitsversorgung näher belegt werden, wie rechtliche Regelung Innovation integriert und beeinflußt (dazu II.).
I. Ausgangspunkt: Recht und Rechtswissenschaft zwischen prinzipieller Strukturkonservativität und Innovationsoffenheit Das Recht steht im Ruf, strukturkonservativ zu sein, also dem Alten und Bewährten prinzipiell den Vorzug gegenüber dem Neuen und Unerprobten zu geben. In der Tat lassen sich hierfür Gründe anführen, die in der Natur und Funktion des Rechts wurzeln. Nur knapp seien drei davon benannt, die sich mit den Topoi: Bewahren, Reagieren, Nachvollziehen umschreiben lassen: – Zu den grundlegenden Funktionen des Rechts zählt es, (notfalls auch kontrafaktische) Orientierungs- und Erwartungssicherheit zu vermitteln.21 In geschichtlicher Perspektive bedeutete das zunächst eine Wiedergabe gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensstandards; im demokratischen Rechtsstaat ersetzt die Rückbindung an den Mehrheitswillen diese Konsensbasierung, ohne den Gedanken gänzlich zu verdrängen. Rechtsnormen, aber auch die Rechtsdogmatik, setzen damit in formal herausgehobener Weise gesellschaftliche Lernprozesse um. Recht bildet insoweit einen sozietalen Erfahrungsspeicher. Als solcher ist es zwar kontingent und tendenziell nicht auf Dauer gestellt, sondern entwicklungsoffen, im Grundansatz jedoch vergangenheitsorientiert. Besonders deutlich und manifest ist diese vergangenheitsbezogene Lerndimension in Common law-Systemen, die sich durch die Bezugnahme auf sog. precedents, also prinzipiell rechtsverbindliche frühere Entscheidungen, auszeichnen.22 20 Die Frage ist zunächst nicht besonders originell. Sie ist so oder in ähnlicher Form auch in diesem Zusammenhang schon gestellt, soweit ersichtlich aber noch nicht beantwortet worden, vgl. Stephan Rixen, Steuerung der Versorgung durch Vergütung?, Zu den Änderungen des vertrags(zahn)ärztlichen Vergütungsrechts durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG), GesR 2012, 337 (343) m. w. N. 21 Klassisch hierzu: Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl age Opladen 1983, v. a. S. 38 ff., 114 f. 22 Dazu statt vieler Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Band I: Grundlagen, 2. Aufl age Tübingen1984, S. 299 ff.; Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Perspektive, Bd. 2: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975, S. 83 ff.; zum deutschen Verständnis exemplarisch Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion. Grundlegung einer verfassungsrechtlichen Theorie der rechtsgestaltenden Rechtssprechung, Tübingen 1997, S. 7 ff. Siehe schon Alexis de Tocqueville, Democracy in America, 7. Aufl age New York 1847, S. 305 f.: „The Americans, who have made such copious innovations in their political legislation, have introduced very sparing alterations in their civil laws [. . .]. The reason of this is, that in matters of civil law the majority is obliged to defer to the authority of the legal profession, and that the American lawyers are disinclined to innovate when they are left to their own choice. It is curious for a Frenchman,
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In kontinentaleuropäischen Rechtssystemen gilt aber im Grundsatz nichts anderes, auch wenn hier (scheinbar) die zeitliche stärker zugunsten der Sachdimension zurückgestellt wird.23 – Rechtliche Regelungen reagieren zudem typischerweise auf gesellschaftliche Entwicklungen. Das bedeutet nicht, daß Recht nicht auch gesellschaftliche Veränderungen anstoßen und etwa (auch: ungewollte) Langzeitfolgen haben kann. Regelhaft folgen indes die Rechtsbestimmungen zeitlich der sozialen Entwicklung. Namentlich für Gerichtsverfahren gilt dies in besonderem Maße: Der zu entscheidende Fall liegt in der Vergangenheit; die gerichtliche Kontrolle vollzieht ein vergangenes Geschehen nach. – Schließlich: Gegenstand der juristischen Erkenntnis ist das Recht als die in spezifischen Verfahren gewonnenen und in besonderen Formen niedergelegten Verhaltensanforderungen der Gesellschaft. Es ist insoweit ganz unvermeidbar, daß eine entsprechend formorientierte Wissenschaft zunächst auf das Bewahren des Bewährten ausgelegt ist. Speziell für die Rechtswissenschaft und deren Selbstreflexion ist daher die Vergangenheitsbezogenheit nicht nur des Rechts, sondern namentlich der rechtswissenschaftlichen Methodik zu berücksichtigen.24 Es liegt nach alledem nahe, ein basales Spannungsverhältnis zwischen Recht und Innovationen anzunehmen. Denn diese zielen ja gerade auf die Ersetzung bzw. Ergänzung des Bestehenden. Und dennoch ginge es fehl, anzunehmen, rechtliche Vorgaben seien prinzipiell innovationsschädlich. Auch wenn die Wahrnehmung des Rechts häufig auf dessen „bremsende“ Wirkung fokussiert ist, zeigt sich bei genauerer Betrachtung doch die (jedenfalls: auch) positive Innovationsrelevanz rechtlicher Regelungen. – Das Recht gewährleistet zum einen die allgemeinen Rahmenbedingungen von Innovationen, indem es etwa durch Vorschriften zum geistigen Eigentum einen grundlegenden Anreiz für Innovationen setzt und diese wenn nicht ermöglicht, so doch absichert.25 Umgekehrt besitzen staatliche Genehmigungs- und Zertifizierungsverfahren – etwa im Sinne der Produktsicherheit26 – eine klare Entlastungsfunktion. In diese Richtung wirken auch Regelungen zur Haftung(sbeschränkung) accustomed to a very different state of things, to hear the perpetual complaints which are made in the United States against the stationary propensities of legal men, and their prejudices in favor of existing institutions.“ 23 Vgl. dazu auch Ino Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, Manuskript S. 240 ff. 24 Vgl. Christoph Möllers, Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtslehre, Baden-Baden 2004, S. 131 (133). Zur Pluralisierung der juristischen Methodik siehe Ingeborg Maus, Plädoyer für eine rechtsgebietsspezifi sche Methodologie oder: wider den Imperialismus in der juristischen Methodenlehre, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 74 (1991), 105 ff. 25 Vgl. dazu etwa die Beiträge in: Reto M. Hilty/Thomas Jaeger/Matthias Lamping (Hrsg.), Herausforderung Innovation. Eine interdisziplinäre Debatte, Berlin 2012; v. a. Jan Eichelberger, Innovationsrelevante Regeln des allgemeinen Zivilrechts und ihre Innovationswirkung, a.a.O., S. 45 ff.; Andreas Neef, Innovationsförderung durch Schutz der Vertragsfreiheit in § 1 GWB, a.a.O., S. 65 ff.; ferner die Beiträge in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Geistiges Eigentum und Innovation – Innovation und Recht I, Berlin 2008; v. a. Christine Godt, Innovationsfreiheit und Innovationsverantwortung: Geistiges Eigentum und öffentliche Ziele post grant, a.a.O., S. 363 ff. 26 Vgl. zu den entsprechenden Strukturen jüngst Georgios Dimitropoulos, Zertifi zierung und Akkre-
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und namentlich die Möglichkeit, durch entsprechende Versicherungsgestaltungen Risikodispersion zu betreiben.27 Selbst die vordergründig nur auf das Versagen privater (gesellschaftlicher) Selbstregulierung bzw. auf schädliche Innovationsfolgen ausgerichteten Anforderungen des Haftungsrechts können so letztlich positiv auf Innovationen wirken. Innovationen profitieren von der durch rechtliche Regelungen garantierten Verläßlichkeit.28 – Doch die Innovationsoffenheit des Rechts bleibt nicht auf diese bloßen Rahmenbedingungen beschränkt. Zwar können durch Recht (außerrechtliche) Innovationen nicht generiert werden. Weil die zugrunde liegende Kreativität nicht Befehl und Zwang gehorcht, bleiben rechtliche Einflüsse bestenfalls darauf beschränkt, bestimmte Innovationsziele vorzugeben.29 Zugleich öffnet sich das Recht bereichsspezifisch (reaktiv) für Innovationen bzw. regt diese (proaktiv) sogar selbst an. Idealtypisch kann man insoweit auf der reaktiven Seite unterscheiden zwischen der bloßen Hinnahme außerrechtlicher Innovationen (Innovationstoleranz) und der der bewußten Nutzung (und ggf. Beeinflussung und Modifi kation) außerrechtlicher Innovationen (Innovationsübernahme). Proaktiv ist vor allem die – unmittelbare und mittelbare – Anregung von Innovationen durch Rechtsvorschriften (Innovationsförderung).30 Die Rechtswissenschaft hat diese Entwicklungen nicht verpaßt oder ignoriert, ihnen indes vielleicht doch nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings existiert schon seit längerem das Projekt einer „rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung“, das ihr Protagonist, der ehemalige Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem, in den Kontext umfassenderer verwaltungsrechtswissenschaftlicher Debatten einordnet und wie folgt beschreibt: „Ihr Gegenstand ist das innovationserhebliche Recht, also das Recht, das auf Innovationsprozesse einwirkt, sei es als allgeditierung im Internationalen Verwaltungsverbund. Internationale Verbundverwaltung und gesellschaftliche Administration, Tübingen 2012, S. 77 ff. 27 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Wissenserzeugung im und durch Recht – das Problem der „evidenzbasierten Medizin“, GesR 2011, 455 ff.; siehe auch Wolfgang Hoffmann-Riem/Saskia Fritzsche, Innovationsverantwortung – zur Einleitung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung. Innovation und Recht III, Berlin 2009, S. 11 (24 ff.). 28 In diesem Sinne etwa auch Ulrich Weigeldt, Innovative Versorgungsformen brauchen eine verlässliche gesetzliche Basis, in: Volker Amelung/Susanne Eble/Holger Hildebrandt (Hrsg.), Innovatives Versorgungsmanagement: neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, Berlin 2011, S. 47 ff. Zugleich erhält sich das Rechtssystem eine spezifi sche Offenheit und Anpassungsfähigkeit; konkretisierende Entscheidungen lassen sich so – wie Entscheidungen allgemein – im Sinne einer spezifi schen Bifunktionalität nachvollziehen; sie dienen „der provisorischen Bindung von Ungewissheit, d. h. dem Schutz in das Vertrauen der Stabilität der rechtlichen Regelbestände (Erwartungssicherheit), aber zugleich, ja in einer dynamischen Gesellschaft vielleicht sogar primär, der Ermöglichung des Neuen (Variation).“, so Thomas Vesting, Rechtstheorie. Ein Studienbuch, München 2007, Rn. 227. 29 Vgl. exemplarisch Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung als Reaktion auf gesellschaftlichen Innovationsbedarf, in: Martin Eifert/ders. (Hrsg.), Innovation und rechtliche Regulierung. Schlüsselbegriffe und Anwendungsbeispiele rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung, Baden-Baden 2002, S. 26 (42 ff.); siehe ferner Thomas Jaeger, Synopse zum interdisziplinären Ansatz, in: Reto M. Hilty/ders./Matthias Lamping (Hrsg.), Herausforderung Innovation. Eine interdisziplinäre Debatte, Berlin 2012, S. 1 (4). 30 Vgl. ähnlich schon Jens-Peter Schneider, Technologieförderung durch eingerichtete Märkte: Erneuerbare Energien, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung – Innovation und Recht II, Berlin 2009, S. 257 ff.; siehe allgemein Martin Eifert, Innovationsfördernde Regulierung, a.a.O., S. 11 ff.
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mein geltendes Recht, sei es als ein speziell auf innovationsgeneigte Problemfelder bezogenes Recht [. . .]. Zum Gegenstand der Forschung gehören Überlegungen zur Absicherung der Möglichkeit von Innovationen, aber zugleich zur Vorsorge für deren Gemeinwohlverträglichkeit und gegebenenfalls zur Begleitung von Innovationsprozessen bis hin zur Anwendung der aus ihnen hervorgehenden Produkte und Dienstleistungen. Gegenstand dieser rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung sind nicht Innovationen in der Rechtsordnung (also der Wandel im Recht), sondern die rechtlichen Einwirkungen auf außerrechtliche Innovationsprozesse. Dies schließt es selbstverständlich nicht aus, dass die Beschäftigung mit diesem Gegenstandsbereich Anregungen vermittelt, die auch auf Änderungen im Recht zielen.“31 Sehr zu Recht wird in diesem Zusammenhang auf eine – rechtswissenschaftlich zu beschreibende und einzufordernde – sog. Innovationsverantwortung als notwendiges Korrelat der Innovationsoffenheit hingewiesen.32 Der in diesem Zusammenhang zumeist genannte Aspekt der „Gemeinwohlverträglichkeit“ als Zielsetzung der Innovationsverantwortung33 ist indes potentiell mißverständlich. Denn von entscheidender Bedeutung ist nicht die Orientierung an einer schwer faßlichen, möglicherweise gar überpositiven materiellen Größe, sondern vielmehr die Rolle des Rechts als Ausdruck und Garant konkreter demokratischer Entscheidungen. Ungeachtet möglicher Kritik an den Vorgaben des Gesetzgebers, die natürlich auch von der Rechtswissenschaft geübt werden kann und soll, wirkt die rechtsnormative Vorgabe damit expertokratischen Tendenzen entgegen.
II. Innovationsförderung, Innovationsübernahme und Innovationstoleranz im Gesundheitsrecht Für die beschriebene triadische Struktur von Innovationsförderung, Innovationsübernahme und Innovationstoleranz liefert das Gesundheitsrecht plastische Beispiele.34 31
Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung – Plädoyer für einen trans- und interdisziplinären Dialog zwischen Rechts- und Technikwissenschaft, Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 2003, S. 92 (94). 32 Vgl. dazu etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationsoffenheit und Innovationsverantwortung durch Recht, Aufgaben rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung, AöR 131 (2006), S. 255 (265 ff.); ders., Recht als Instrument der Innovationsoffenheit und der Innovationsverantwortung, in: Hagen Hof/Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung. Ansätze, Methoden, Grenzen und Perspektiven. Münster 2007, S. 387 ff.; ders./Saskia Fritzsche, Innovationsverantwortung – zur Einleitung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung. Innovation und Recht III, Berlin 2009, S. 11 ff. 33 Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung – Plädoyer für einen trans- und interdisziplinären Dialog zwischen Rechts- und Technikwissenschaft, Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 2003, S. 92 ff. 34 Für andere Referenzbereiche vgl. etwa Jürgen Kühling, Innovationsschützende Zugangsregulierung in der Informationswirtschaft, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung – Innovation und Recht II, Berlin 2009, S. 47 ff.; Torsten J. Gerpott, Regulierung als Einflussfaktor von Innovationen in der Telekommunikationswirtschaft, a.a.O., S. 93 ff.; Michael Rodi, Innovationsförderung durch ökonomische Instrumente der Umweltpolitik, a.a.O., S. 147 ff.; Martin Jänicke/Stefan Lindemann, Innovationsfördernde Umweltpolitik, a.a.O., S. 171 ff.; Mi-
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1. Strukturen einer Innovationsübernahme fi nden sich etwa dort, wo das Gesundheitsrecht Mechanismen außerrechtlicher Wissensgenerierung nicht nur akzeptiert, sondern in seine Regelungsstrukturen integriert und (teilweise) modifiziert.35 Gesundheitsrechtliche Bedeutung besitzen dabei interessanterweise nicht (nur) die handlungs-, struktur- oder produktbezogenen Innovationen selbst, sondern auch und vor allem die in den Nachbardisziplinen entwickelten diesbezüglichen Prüfverfahren und Kontrollmuster. Als Paradigma lassen sich in diesem Zusammenhang vor allem die Prozesse heranziehen, mittels derer die schon für sich gesehen stark verfahrensgeneigte sog. Evidenzbasierte Medizin (EBM) in die bereichsspezifische Konkretisierungskomplexität des sozialversicherungsrechtlichen Normengeflechts eingebracht wird.36 In diesem speziellen, sequentialisierten Verfahren der Entscheidungsfi ndung besitzen – diesseits der ausgetretenen Pfade der Legitimationskritik – das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und der Gemeinsame Bundesausschuß (G-BA)37 eine wichtige, innovationsrelevante Mittlerfunktion.38 Dieser EBM-Rezeption eignet ein gewisser Meta-Charakter, denn die EBM ist als solche keine Innovation, sondern dient der Bewertung von Innovationen.39 2. Im Rahmen der Innovationsförderung als der intensivsten Form rechtlicher Innovationsoffenheit werden rechtsintern Innovationsprozesse angestoßen, indem etwa bestimmte (Versuchs-)Konstruktionen etabliert werden, die als Konkurrenz und Gegenmodell zu etablierten Versorgungsformen wirken sollen. Deutlich zeigen läßt sich dies vor allem an den zunehmenden Versuchen, integrierte Versorgungsstrukturen einzuführen, die bestehende Sektortrennungen zugunsten interdisziplinär-kooperativer Behandlungsformen (partiell) aufgeben. – Ein markantes Beispiel gezielter Förderung innovativer intersektoraler Prozesse sind etwa die mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingeführten sog. Pflegestützpunkte, zu deren Aufgaben nach § 93c Abs. 2 Nr. Nr. 3 SGB XI namentlich die
chael Fehling, Innovationsförderung durch staatliche Nachfragemacht: Potentiale des Vergaberechts, a.a.O., S. 119 ff.; ders., Innovationsförderung durch Herstellerverantwortung und Optionsmodelle im ElektroG, NuR 2010, 323 ff. 35 Vgl. hierzu allgemein aus soziologischer Perspektive Alfons Bora, Innovationsregulierung als Wissensregulierung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung – Innovation und Recht II, Berlin 2009, S. 23 ff.; im Blick auf das Technikrecht siehe etwa Erik Gawel, Technologieförderung durch „Stand der Technik“: Bilanz und Perspektiven, a.a.O., 2009, S. 197 ff. 36 Vgl. dazu etwa Peter Axer, Normengeflecht und Wissensrezeption in der gesetzlichen Krankenversicherung, GuP 2011, 201 ff.; siehe auch Robert Francke/Dieter Hart, Bewertungskriterien und -methoden nach dem SGB V, MedR 2008, 2 ff. 37 Zu ihrem Verhältnis siehe Stephan Rixen, Verhältnis von IQWiG und G-BA: Vertrauen oder Kontrolle? – Insbesondere zur Bindungswirkung der Empfehlungen des IQWiG, MedR 2008, 24 ff.; Rainer Pitschas, Information der Leistungserbringer und Patienten im rechtlichen Handlungsrahmen von G-BA und IQWiG: Voraussetzungen und Haftung, MedR 2008, 34 ff. 38 Vgl. Steffen Augsberg, Kooperative Wissensgenerierung im Gesundheitsrecht – Zum Umgang der Sozialgerichte mit Evidenzbasierter Medizin GesR 2012, i.E. 39 Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 562; vgl. allgemein zur EBM nur Heiner Raspe, Der „allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse“ – das Konzept der Evidence-Based Medicine, GesR 2011, 449 ff.
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„Vernetzung aufeinander abgestimmter pflegerischer und sozialer Versorgungs- und Betreuungsangebote“ zählt.40 – Bekannt ist diese bewußte Innovationsförderung indes wohl primär aus dem Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Praktische Relevanz kommt unter den insoweit zu beachtenden Versuchen, sektorerweiternde Versorgung41 zu ermöglichen, zunächst der Regelung der Medizinischen Versorgungszentren nach § 95 SGB V zu.42 Bedeutung besitzt daneben insbesondere die Einbeziehung der Krankenhäuser in die ambulante Versorgung.43 Allerdings ist hier eher ein Nebeneinander unterschiedlicher Modelle denn ein kohärentes Gesamtkonzept auszumachen:44 So existieren etwa Sonderbestimmungen zur vor- und nachstationären Behandlung im Krankenhaus (§ 115a SGB V)45, zu den Hochschulambulanzen (§ 117 SGB V)46, zum ambulanten Operieren (§ 115b SGB V)47, zur Behandlung von seltenen Erkran40 Vgl. dazu etwa Kerstin Hämel/Michaela Röber, Der Auf- und Ausbau von Pflegestützpunkten – Gestaltungsspielräume für Innovationen nutzen, GuP 2011, 53 f.; Armin Lang, Pflegestützpunkte – eine nachhaltig wirkende soziale Innovation in einer älter werdenden Gesellschaft, in: Norbert Klusen/Andreas Meusch (Hrsg.), Zukunft der Pflege in einer alternden Gesellschaft. Konzepte, Kosten, Kompetenzen, Baden-Baden 2009, S. 183 ff.; Dagmar Jung, Praxisbeitrag – Sinnhaftigkeit von Pflegestützpunkten (PSP), in: Deutscher Sozialgerichtstag – Sozialrecht im Umbruch – Sozialgerichte im Auf bruch: 2. Deutscher Sozialgerichtstag am 4. und 5. Dezember 2008 in Potsdam, Stuttgart 2010, S. 87 ff.; ferner auch Peter Michell-Auli/Gerlinde Strunk-Richter/Ralf Tebest, Was leisten Pflegestützpunkte? Konzeption und Umsetzung: Ergebnisse aus der „Werkstatt Pflegestützpunkte“ inklusive Empfehlungen des Beirats zum Weiterentwicklungsbedarf, Köln 2010. Speziell zur Verbindung mit der Pflegeberatung siehe Utz Krahmer/Marie-Luise Schiffer-Werneburg, Die neue Pflegeberatung nach § 7a SGB XI. Fallmanagement nach der Novelle zur Pflegeversicherung, in: Volker Brinkmann (Hrsg.), Case Management. Organisationsentwicklung und Change Management in Gesundheits- und Sozialunternehmen, 2. Aufl age Wiesbaden 2010, S. 201 (214 ff.). 41 Vgl. zur Terminologie Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 558 f.; siehe auch Claudia Beule, Rechtsfragen der integrierten Versorgung (§§ 140a bis 140h SGB V), Berlin 2003, S. 46 ff. 42 Dazu etwa Franz-Josef Dahm, Anforderungsprofi l des medizinischen Versorgungszentrums, in: ders./Karl-Heinz Möller/Rudolf Ratzel (Hrsg.), Rechtshandbuch Medizinische Versorgungszentren Berlin 2005, S. 35 ff.; Rudolf H Fürstenberg, Ausgewählte rechtliche Aspekte von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), in: Ulrich Korff (Hrsg.), Patient Krankenhaus. Wie Kliniken der Spagat zwischen Ökonomie und medizinischer Spitzenleistung gelingt, Wiesbaden 2012, S. 149 ff.; siehe auch Martin Rehborn, Beendigung Medizinischer Versorgungszentren, MedR 2010, 290 ff. 43 Dazu umfassend etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011; als Überblick etwa Jens-M. Kuhlmann, Ambulante Versorgung durch und in Krankenhäusern, in: Medizinrecht heute: Erfahrungen, Analysen, Entwicklungen. Festschrift 10 Jahre Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen Anwaltverein, Bonn 2008, S. 545 ff. 44 Ähnlich schon Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 559 f. 45 Dazu etwa Franz-Josef Dahm, Zusammenarbeit von Vertragsärzten und Krankenhäusern im Spannungsfeld der Rechtsbereiche, MedR 2010, 597 (604 ff.); Stefan Bäune/Franz-Josef Dahm/Roland Flasbarth, Vertragsärztliche Versorgung unter dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG, MedR 2012, 77 (93 f.); Torsten Nölling, Kooperationen zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten nach § 115a SGB V, ArztR 2010, 88 ff.; Vgl. hierzu etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 155 ff.; Rudolf Ratzel/Tibor Szabados, Schnittmengen zwischen niedergelassenen Leistungserbringern (Vertragsärzten) und Krankenhäusern nach GKVVStG, GesR 2012, 210 ff. 46 Dazu etwa etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 170 ff. 47 Dazu etwa Stefan Bäune/Franz-Josef Dahm/Roland Flasbarth, Vertragsärztliche Versorgung unter
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kungen und Krankheiten mit besonderem Krankheitsverlauf (§ 116b SGB V)48, zu den psychiatrischen Institutsambulanzen (§ 118 SGB V)49, den Sozialpädiatrischen Zentren (§ 119 SGB V) 50, zur ambulanten Ermächtigungen von Krankenhausärzten (§ 116 ff. SGB V) 51, namentlich zur ambulanten Versorgung bei Unterversorgung (§ 116a SGB V) 52 sowie speziell zur ambulanten Behandlung im Rahmen der Disease-Management-Programme (§ 116b Abs. 1 SGB V) 53. – Zudem und vor allem sehen die §§ 140a ff. SGB V Selektiv- oder Einzelverträge in der sog. Integrierten Versorgung54 vor, die durch eine Leistungssektoren übergreifende bzw. eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung gekennzeichnet sind und zwischen der populationsspezifischen (Voll-)Versorgung, die ein breites medizinisches Versorgungsangebot für größere Patienten- oder Bevölkerungsgruppen vorsieht, und der indikationsspezifischen Versorgung, die sich auf konkrete Erkrankungen bezieht, differenzieren.55 Die rechtliche Förderung beschränkt sich hier nicht dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG, MedR 2012, 77 (93 f.); Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 161 ff.; Rudolf Ratzel/Tibor Szabados, Schnittmengen zwischen niedergelassenen Leistungserbringern (Vertragsärzten) und Krankenhäusern nach GKV-VStG, GesR 2012, 210 (212 ff.). 48 Dazu etwa Stefan Bäune/Franz-Josef Dahm/Roland Flasbarth, Vertragsärztliche Versorgung unter dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG, MedR 2012, 77 (86 ff.); Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 209 ff.; Rudolf Ratzel/Tibor Szabados, Schnittmengen zwischen niedergelassenen Leistungserbringern (Vertragsärzten) und Krankenhäusern nach GKV-VStG, GesR 2012, 210 (214 ff.). 49 Vgl. hierzu etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 175 ff. 50 Dazu etwa Rainer Hess, in: Stephan Leitherer (Hrsg.), Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Loseblatt (Stand: 06/2005), § 119 SGB V Rn. 1 ff.; Thorsten Kingreen, in: Christian Rolfs/ Richard Giesen/Ralf Kreikebohm/Peter Udsching (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht (Stand: 06/2012), § 119 SGB V Rn. 1 ff.; siehe auch BSG, Urteil v. 29. 6. 2011, Az.: B 6 KA 34/10 R, GesR 2012, 29 ff. 51 Vgl. hierzu etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 142 ff. 52 Vgl. hierzu etwa Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 142 ff. 53 Dazu Rainer Pitschas, Verfassungsrechtliche Zentralfragen der Neuordnung ambulanter Krankenversorgung und § 116b SGB V, MedR 2010, 513 ff.; Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 167 ff. 54 Dazu schon frühzeitig Ulrich Becker, Rechtliche Rahmenbedingungen der integrierten Versorgung, NZS 2001, 505 ff.; Peter Wigge, Integrierte Versorgung und Vertragsarztrecht, NZS 2001, 17 ff., 66 ff.; Kay Windthorst, Die integrierte Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Gefahr oder Chance für die Gesundheitsvorsorge?, Baden-Baden 2002; Claudia Beule, Rechtsfragen der integrierten Versorgung (§§ 140a bis 140h SGB V), Berlin 2003; Bernd Wiegand/Eberhard Jung/Volker Heuzeroth, Die Integrierte Versorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ein Leitfaden, Berlin 2009; siehe als bereichsspezifi sche Untersuchung jüngst Andreas Schmid, Konsolidierung und Konzentration im Krankenhaussektor. Eine empirische Analyse der Marktstruktur unter Berücksichtigung des Krankenhausträgers, Baden-Baden 2012. 55 Vgl. zu dieser Differenzierung aus der Literatur etwa Philipp S. Fischinger, in: Andreas Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, Kommentar, 1. Aufl age München 2011, § 140a SGB V Rn. 4 f.; Stefan Huster, in: Ulrich Becker/Thorsten Kingreen (Hrsg.), SGB V, 2. Aufl age München 2010, § 140a Rn. 7 ff., jeweils m. w. N.; siehe auch Klaus Theuerkauf, Direktverträge und Wettbewerb in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Status und Ausblick – Zugleich eine Analyse des Entwurfs zum Versorgungsstrukturgesetz, NZS 2011, 921 ff.; Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 95 ff.
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nur auf die Bereitstellung innovativer Alternativstrukturen, sondern zwischenzeitlich wurden auch erhebliche Finanzmittel im Sinne einer Anschubfi nanzierung bereitgestellt.56 – Ähnliches gilt für die ebenfalls im SGB V angesiedelten Strukturierten Behandlungsprogramme (sog. Disease-Management-Programme – DMP57). Hier gesteht das Gesetz in den §§ 137 f, 137g SGB V den Krankenkassen die Möglichkeit zu, die im SGB V vorgesehenen Gestaltungsformen der Integrierten Versorgung zu nutzen – neben den bereits genannten §§ 140a ff. SGB V sind dies insbesondere die innovativen Ansätze zu sog. Managed Care,58 wie sie die Strukturverträge nach § 73a SGB V und die Modellvorhaben gemäß den §§ 63 ff. SGB V vorsehen.59 Von besonderer Bedeutung ist insoweit die mögliche, an spezielle Voraussetzungen geknüpfte Anbindung an die Finanzmittel des Risikostrukturausgleichs – andere DMP werden dadurch indes nicht ausgeschlossen.60 3. Am Beispiel der Integrierten Versorgung läßt sich ferner auch nachweisen, wie bereichsbezogen die Grenzen zwischen bloßer Innovationstoleranz und bewußter Innovationsförderung verschwimmen können. Denn die gegenwärtig zu beobachtende, systemweite Tendenz zu verstärkter intersektoraler Kooperation und Vernetzung geht über die ausdrücklich im SGB V genannten Varianten hinaus. Klassische Modelle wie Gemeinschaftspraxen61 und „Ärztehäuser“ werden insoweit zunehmend ergänzt durch fachärztliche Satellitenpraxen62, Praxisnetze63, Kooperationen von 56 Dazu etwa Dagmar Felix/Judith Brockmann, Zu den Voraussetzungen der Anschubfi nanzierung im Rahmen der integrierten Versorgung, NZS 2007, 623 ff.; Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 118 ff. 57 Vgl. als Überblick Marlis L. Richter/Klaus Suwelack, Disease Management, in: Christian Thielscher (Hrsg.), Medizinökonomie, Band 1: Das System der medizinischen Versorgung, Wiesbaden 2012, S. 437 ff. 58 Vgl. allgemein Volker Amelung, Managed Care: Neue Wege im Gesundheitsmanagement, 5. Auflage Wiesbaden 2011; Michael Wiechmann, Managed Care: Grundlagen, internationale Erfahrungen und Umsetzung im deutschen Gesundheitssystem, Wiesbaden 2003, sowie die Beiträge in: Siegfried Eichhorn/Barbara Schmidt-Rettig (Hrsg.), Chancen und Risiken von Managed Care. Perspektiven der Vernetzung des Krankenhauses mit Arztpraxen, Rehabilitationskliniken und Krankenkassen, Stuttgart 1998; siehe ferner Hans-Georg Faust, Volkskrankheiten und sektorenübergreifende Versorgung, in: Volker Schumpelick/Bernhard Vogel (Hrsg.), Volkskrankheiten. Gesundheitliche Herausforderungen in der Wohlstandsgesellschaft, Freiburg 2009, S. 401 (403 ff.); Wolf Rainer Wendt, Case Management, in: Christian Thielscher (Hrsg.), Medizinökonomie, Band 1: Das System der medizinischen Versorgung, Wiesbaden 2012, S. 505 (514 ff.). 59 Vgl. dazu – in Abgrenzung zur integrierten Versorgung – etwa Claudia Beule, Rechtsfragen der integrierten Versorgung (§§ 140a bis 140h SGB V), Berlin 2003, S. 169 ff.; Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 113 ff., 116 ff. 60 Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 563. 61 Vgl. dazu etwa Peter Wigge/Kaiser/Jürgen Rudolf Fischer/Reinhard Loose, Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Radiologen und Ärzten anderer Fachgebiete – rechtliche Vorgaben für die ambulante und stationäre Versorgung, MedR 2010, 700 ff. Zur Zulässigkeit gesellschaftsrechtlicher Beteiligungen von Ärzten an Unternehmen der Hilfsmittelbranche Christian Wittmann/Detlef Koch, Die Zulässigkeit gesellschaftsrechtlicher Beteiligungen von Ärzten an Unternehmen der Hilfsmittelbranche im Hinblick auf § 128 Abs. 2 SGB V und das ärztliche Berufsrecht, MedR 2011, 476 ff. 62 Vgl. zu den Anforderungen an Zweigpraxen BSG, Urteil v. 9. 2. 2011, Az.: B 6 KA 7/10 R, GesR 2011, 429 ff.; BSG, Urteil v. 9. 2. 2011, Az.: B 6 KA 3/10 R, GesR 2011, 431 ff.; BSG, Urteil v. 9. 2. 2011, Az.: B 6 KA 49/09 R, GesR 2011, 484 ff. 63 Vgl. aus Sicht der Praxis etwa Peter Maaß/Volker Möws, „Der zufriedene Patient“ – Das TK-Pra-
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Ärzten mit Krankenhäusern, mit Pflegekräften in Heimen64 oder mit ambulanten Pflegediensten, ambulante Rehabilitations-Zentren verschiedener Berufsgruppen u.v.m.65 Über eine unmittelbare Steuerungswirkung hinaus fungiert hier die Etablierung integrierter Versorgungsstrukturen – wiewohl als Versuch oder Alternative – als Signal an die Gesundheitsdienstleister. Ähnliches läßt sich auch mit Blick auf die Pflege formulieren, wo sich parallel zu den genannten legislativ eingeführten Versorgungsstrukturen eine Vielfalt unterschiedlicher neuer (innovativer) Angebote entwickelt hat, „etwa Formen der externen ortsnahen Übergangsbetreuung zur Entlastung der pflegenden Angehörigen, zur Vervollständigung der Heilung nach einem Krankenhausaufenthalt und zur Eingliederung in den Wohnalltag (Alltagsrehabilitation) sowie zur Verkürzung oder Vermeidung eines Krankenhausaufenthalts. Zu erwähnen sind Formen der Angehörigenarbeit, etwa in Gestalt der Pflegeberatung, Pflegeanleitung oder eines Gesprächskreises für pflegende Angehörige.“66 4. Im übrigen kommt der innovativen Ausgestaltung der Versorgungsmodelle ein Grundcharakteristikum des deutschen Sozialrechts entgegen. Typischerweise beschränken sich hier nämlich die gesetzgeberischen Vorgaben auf einen bloßen (ordnungspolitischen und rechtlichen) Rahmen. Dessen konkrete Ausfüllung bleibt demgegenüber im GKV-System der gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen und Leistungserbringern überlassen.67 Auch und gerade im Blick auf die beschriebenen Innovationsstrukturen läßt sich dieses Rechtsetzungsmuster wiedererkennen; auch hier sind die gesetzlichen Vorgaben auf eine allgemeine Rahmensetzung beschränkt und bleibt ihre bereichsbezogene Ausgestaltung und Umsetzung Aufgabe der (kollektiven und selektiven) Vertragsgestaltung. „Mit Ausnahme des obligatorischen Angebotes einer hausarztzentrierten Versorgung basieren alle besonderen Versorgungsformen auf Verträgen und damit auf Einigungen zwischen Kran-
xisNetz Mecklenburg-Vorpommern: Ansätze und Lösungen einer besonderen Versorgungsform, in: Volker Amelung/Susanne Eble/Holger Hildebrandt (Hrsg.), Innovatives Versorgungsmanagement: neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, Berlin 2011, S. 167 ff.; Volker Amelung/Sascha Wolf, Gesundheitssystem im Umbruch – Ärztenetze: Treiber für integrierte Versorgung?, Urologe 2011, 1566 ff. 64 Dazu etwa Ursula Eva Wiese, Der Heimarzt als Zukunftsmodell – Ein Trendbericht zur ärztlichen Versorgung im Pflegeheim, Pfl R 2010, 543 ff. 65 Vgl. etwa Rudolf Ratzel, Ärztliche Zusammenarbeit jenseits des medizinischen Versorgungszentrums, in: Franz-Josef Dahm/Karl-Heinz Möller/ders. (Hrsg.). Rechtshandbuch Medizinische Versorgungszentren Berlin 2005, S. 1 ff. 66 Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (599), mit Hinweis auf eine entsprechende mittelbare Unterstützung durch erbrechtliche Vorschriften. Vgl. umfassend Kerstin Hämel, Öffnung und Engagement. Altenpflegeheime zwischen staatlicher Regulierung, Wettbewerb und zivilgesellschaftlicher Einbettung, Wiesbaden 2012, v. a. S. 53 ff., 153 ff.; siehe auch Sonja Laag/Ralph Läget/Udo G. Richter, Neue Ansätze zur strukturierten Pflegeversorgung – das gemeinwesenorientierte Primärversorgerkonzept (goPV), in: Volker Amelung/Susanne Eble/Holger Hildebrandt (Hrsg.), Innovatives Versorgungsmanagement: neue Versorgungsformen auf dem Prüfstand, Berlin 2011, S. 159 ff. 67 Vgl. dazu statt vieler etwa Volker Neumann, in: Friedrich E. Schnapp/Peter Wigge (Hrsg.), ?Handbuch des Vertragsarztrechts, ?2. Aufl age München 2006, § 13 Rn. 9 f. Einen speziellen akteursorientierten Ansatz liefert etwa Anke Reile, Gestaltungsoptionen von Krankenkassen bei staatlichen Systemvorgaben: Eine theoriegeleitete Analyse der kasseneigenen Freiräume zur Einnahmen- und Ausgabengestaltung, Berlin 2007.
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kenkassen und Leistungserbringern.“68 Das verweist zugleich auf das innovationsbezogene Potential der Kautelarjurisprudenz, die unter Einbeziehung entsprechender betriebswirtschaftlicher bzw. gesundheitsökonomischer Expertise entsprechende Vertragstypen zu entwickeln bzw. zu verfeinern hat.69 Im Grundsatz entspricht dem auch die Linie des BSG, das in seinen Entscheidungen zur Auslegung der Tatbestandsvoraussetzung des § 140a Abs. 1 S. 1 SGB V maßgeblich auf die gesetzgeberische Zielsetzung abstellt und die integrierte Versorgung funktionell zu bestimmen versucht.70 Insgesamt lassen die vorhandenen gesetzlichen und vertraglichen Regelungen somit hinreichend Raum, um auch innerhalb dieser Vorgaben für die spezifischen Versorgungssituationen angepaßte Lösungen zu fi nden.71
C. Juristische Innovationsorientierung als integraler Bestandteil interdisziplinärer Versorgungsforschung Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Aufgabe konkret die Rechtswissenschaft in diesem komplexen Gefüge unterschiedlicher Innovationsanstrengungen und -hindernisse übernehmen kann bzw. sollte. Zu unterscheiden ist hier zwischen den im engeren Sinne intradisziplinären Anforderungen an eine innovationsgerechte Rechtswissenschaft einerseits (dazu I.) und den mit der Einbindung der Rechtswissenschaft in eine trans- und interdisziplinäre Innovations- und Versorgungsforschung verbundenen Erfordernissen und Desiderata andererseits (dazu II.).
I. Innovationsbedingte Veränderungen des rechtswissenschaftlichen Aufgabenfelds Dabei kann zunächst an die bestehenden Vorarbeiten zur rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung angeknüpft werden. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nicht nur die grundlegende Einsicht in die rechtliche Relevanz zunächst eher unvertrauter Steuerungsmechanismen, etwa der bereits genannten fi nanziellen Anreizsetzung. Noch weitergehend wird die Innovationsforschung als Anwendungsfeld einer allgemeinen Umorientierung verstanden, nach der sich die traditionell als Normwis68 Gutachten 2007 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, BT-Drs. 16/6339, S. 148. Zur hausarztzentrierten Versorgung siehe etwa Eberhard Mehl/Ivo Weiß, Selektivverträge am Beispiel der Hausarztmodelle, in: Christian Thielscher (Hrsg.), Medizinökonomie, Band 1: Das System der medizinischen Versorgung, Wiesbaden 2012, S. 459 ff. 69 Siehe schon Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, Tübingen 2005, S. 561. Vgl. hierzu knapp K. H. Schönbach/Birgit Schliemann/Jürgen Malzahn/Jürgen Klauber/Christian Peters, Zukunft der Bedarfsplanung und Gestaltung der Versorgung, GuS 2011, 11 (19 f.); umfassend Claudia Beule, Rechtsfragen der integrierten Versorgung (§§ 140a bis 140h SGB V), Berlin 2003, S. 115 ff.; Andreas Franken, Die privatrechtliche Binnenstruktur der integrierten Versorgung, §§ 140 a-h SGB V. Zugleich ein Beitrag zum Anwendungsbereich von § 69 SGB V sowie der Normen des UWG und GWB im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, Berlin 2003. 70 Vgl. BSG, Urteil v. 6. 2. 2008, Az.: B 6 KA 5/07 R, NZS 2009, 294 (295). 71 Vgl. exemplarisch Ernst-Wilhelm Luthe, Vier Modellebenen der integrierten Versorgung – am Beispiel psychiatrischer Netzwerke, NDV 2011, 1 ff.
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senschaft im Kontext der Geisteswissenschaften und deren Methodenverständnissen verortete Rechtswissenschaft von einer textorientierten, methodisch tendenziell der Hermeneutik verpfl ichteten72 Kontroll- zu einer trans- und interdisziplinär verflochtenen, entscheidungs- und problembezogenen Steuerungsperspektive (fort-)entwikkelt.73 Ob dieser Analyse in ihrer Allgemeinheit gefolgt werden muß, braucht hier nicht geklärt zu werden. Sicher scheint mir indes, daß sich die rechtswissenschaftliche Forschung ihre disziplinären Eigenheiten und Charakteristika gerade deshalb erhalten muß, weil sie nur dann eine reelle Chance hat, im vielstimmigen Chor der Innovationsforschung gehört zu werden.74 Zwei zentrale Aufgabenbereiche verdienen es, hervorgehoben zu werden: Zum einen die rechtswissenschaftliche Innovationsförderung durch begleitende Ordnung und Systematisierung, gegebenenfalls aber auch Begrenzung der Innovationsprozesse, zum zweiten die konkrete Identifi kation von (rechtlichen) Innovationshemmnissen.
1. Kontrolle innersystemischer Konsistenz und struktureller Stringenz Ebensowenig wie das Recht selbst kann die Rechtswissenschaft außerrechtliche Innovationen produzieren. Sie kann allerdings sehr wohl die genannten rechtlichen Bedingungen untersuchen und ordnen, die Innovationen erst ermöglichen oder doch zumindest unterstützen. In diesem Sinne sehe ich, erstens, die Aufgabe der Rechtswissenschaft in der vermittelnden Überprüfung der Anforderungen des Rechts und der Innovationsforschung: Sie achtet auf Systemkohärenz und -konsistenz der Neuerungen, fokussiert namentlich deren organisations- und verfahrensbezogenen Aspekte. Ungeachtet der beschriebenen Innovationsoffenheit des Rechts und der Rechtswissenschaft bleibt gerade die Rechtswissenschaft verpfl ichtet, Innovationen und ihre rechtlichen Grundlagen auf ihre Vereinbarkeit mit den basalen, normhierarchisch vorgeordneten demokratischen Entscheidungen zu überprüfen. An ihr ist es insbesondere, gegenüber dem modischen (und an sich nachvollziehbaren) Verweis auf die Erfordernisse der Kooperation und der Netz(werk)bildung (auch) an den Sinn einer klaren Kompetenzzuordnung und Aufgabentrennung zu erinnern. Das schließt
72 Zu einem alternativen, in sich innovativen Modell siehe Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie, Weilerswist 2009, S. 9 ff. 73 Siehe nur Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung – Plädoyer für einen trans- und interdisziplinären Dialog zwischen Rechts- und Technikwissenschaft, Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 2003, S. 92 (92 f.). Vgl. hierzu allgemein schon Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 65 ff.; ferner etwa Martin Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassisch dogmatischem Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), S. 286 ff.; Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl., 2012, § 1 Rn. 17 ff. 74 Vgl. schon Steffen Augsberg, Die aktuelle Methodendiskussion: eine wissenschaftstheoretische Renaissance?, in: Jörn Lüdemann/Andreas Funke (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, Tübingen 2009, S. 145 (169 ff. m. w. N.).
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Innovationen natürlich nicht aus, fügt der Innovationsforschung aber ein – vielleicht notwendiges – Quantum Skepsis bei. Auf der Makro-Ebene kann juristische Expertise ferner benötigt werden, um nach dem Vorliegen eines übergreifenden Regelungskonzepts bzw. dessen Fehlen und den Auswirkungen einer bloß symbolischen, nicht auf nachhaltige Veränderung zielenden Rechtsetzung zu fragen. Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung schließt so auch die Frage nach den konkreten Steuerungsmechanismen ein. „Speziell aus rechtswissenschaftlicher Sicht kann etwa gefragt werden, welche Bedeutung die Rechtsförmigkeit oder die rechtliche Umhegung entsprechender Strukturen und Prozesse einnimmt.“75 Im übrigen trägt das für die deutsche Rechtswissenschaft charakteristische Systematisierungsstreben76 – stets eingedenk der grundsätzlich nicht auf strikte Systematik ausgerichteten Natur des demokratischen Prozesses – gerade in unübersichtlichen und durch eine Vielzahl allenfalls ansatzweise aufeinander abgestimmter Reformen77 gekennzeichneten Sektoren wie dem Gesundheitssystem potentiell dazu bei, einerseits Ordnungsmuster, andererseits aber auch Abweichungen und Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Hilfreich wirken kann hier auch die Juristen eignende terminologische Stringenz und Konsequenz: So läßt zwar etwa die fehlende Legaldefi nition der integrierten Versorgung im SGB V Raum für unterschiedlichste diesen Terminus verwendende Versorgungsformen und ist insoweit innovationsoffen. Zugleich kann aber ein begriffl icher „Wildwuchs“ Unklarheiten hervorrufen, unter denen letztlich auch die Innovationsanstrengungen selbst leiden.
2. Identifikation konkreter (rechtlicher) Innovationshemmnisse Auf der anderen Seite gehört es, zweitens, zu den Aufgaben rechtlicher Innovationsforschung, Innovationshemmnisse zu identifizieren, die gerade der rechtlichen Regulierung zuzurechnen sind.78 Auch das läßt sich am gewählten Beispielsektor beobachten und erläutern: Während es die besonderen Versorgungsformen zunächst in relativ kurzer Zeit ermöglichten, Bewegung in die tradierten und als „verkrustet“ 75 Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (593). 76 Durchaus charakteristisch und zeitlos insoweit die Kritik, die Max Weber (Die Entwicklungsbedingungen des Rechts, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 3: Recht, Gesamtausgabe Band I/22–3, hrsg. v. Werner Gephart und Siegfried Hermes, Tübingen 2010, S. 274 [480]) an der amerikanischen (Kautelar-)Jurisprudenz übt: „Aus den ihr immanenten Entwicklungsmotiven geht ein rational systematisiertes Recht nicht hervor. Auch nur in begrenztem Sinn eine Rationalisierung des Rechts überhaupt.“ 77 Vgl. im vorliegenden Kontext etwa den historischen Überblick bei Moritz Quaas, Rechtsfragen der ambulanten Versorgung im Krankenhaus, Baden-Baden 2011, S. 79 ff. 78 Vgl. in diesem Sinne namentlich Wolfgang Hoffmann-Riem, Soziale Innovationen. Eine Herausforderung auch für die Rechtswissenschaft, Der Staat 47 (2008), 588 (594): „Für den rechtswissenschaftlichen Umgang mit Innovationen empfiehlt sich eine Beschränkung des Erkenntnisinteresses der rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung. Sie sollte sich darauf konzentrieren, die Rolle des Rechts bei innovativen Entwicklungen zu erfassen und zu klären, ob Recht und welches Recht hinderlich und förderlich für Innovationen ist und ob es dazu beiträgt, Gemeinwohlziele auch in den innovationsbezogenen Prozessen zu verwirklichen, also insbesondere unerwünschte Nebenfolgen zu vermeiden und erstrebte Ziele wirkungstauglich zu erreichen.“
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kritisierten Strukturen der deutschen Gesundheitsversorgung zu bringen, ist zwischenzeitlich bei nahezu allen besonderen Versorgungsformen eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Das gilt namentlich auch für die Integrierte Versorgung nach dem SGB V, die nach dem Auslaufen der finanziellen Förderung mittlerweile mit relativ bescheidenen Zahlen aufwartet.79 Als ursächlich für diesen Rückgang angesehen werden dabei nicht allein übertriebene Erwartungen, sondern auch und vor allem an Schwachstellen der jeweiligen Rahmenordnungen, die den mit diesen Instrumenten angestrebten Effizienz- und Effektivitätsverbesserungen entgegenstehen.80 Die hier angesprochene übergreifende Analyse des „Funktionierens“ der Innovationen ist natürlich keine genuin und allein rechtswissenschaftliche Aufgabe. Soweit indes hier – auf der Mikro-Ebene der Praxisakzeptanz – als problematisch unter anderem die Komplexität der eingesetzten Verträge und der erforderliche organisatorische Aufwand angesehen werden, ist es an der Rechtswissenschaft, diese Vorwürfe auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls praxistauglichere Alternativvorschläge zu unterbreiten. „Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung muss auch bereit sein, sich einzumischen und das Recht als Mittel zur Bewirkung erwünschter und zur Vermeidung unerwünschter Wirkungen zu nutzen, es also für die Steuerung von Abläufen und Ergebnissen einzusetzen.“81 Sie muß zugleich aber auch und gerade die rechtlichen Mechanismen mit besonderer Skepsis betrachten und bereit sein, diese als problemursächlich zu erkennen und problemadäquatere Lösungen zu erarbeiten.
II. Insbesondere: Kooperations- und Koordinationserfordernisse Zu den Standardtopoi der rechtswissenschaftlichen Diskussion über Innovationsforschung gehört die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Erkenntnisvermögens.82 In der Tat dürfte es eine massive Überschätzung der eigenen Kräfte sein, zu meinen, Versorgungsforschung83 in relevanter Form in disziplinärer Isolation zu be79
Vgl. Stephan Besl, Moderne, vernetzte Versorgungsformen, in: Horst Kunhardt (Hrsg.), Systemisches Management im Gesundheitswesen. Innovative Konzepte und Praxisbeispiele, Wiesbaden 2011, S. 205 (208). 80 Vgl. Stephan Besl, Moderne, vernetzte Versorgungsformen, in: Horst Kunhardt (Hrsg.), Systemisches Management im Gesundheitswesen. Innovative Konzepte und Praxisbeispiele, Wiesbaden 2011, S. 205 (208 m. w. N.). 81 Wolfgang Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung als Reaktion auf gesellschaftlichen Innovationsbedarf, in: Martin Eifert/ders. (Hrsg.), Innovation und rechtliche Regulierung. Schlüsselbegriffe und Anwendungsbeispiele rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung, Baden-Baden 2002, S. 26 (40). 82 Vgl. etwa Stefanie Neveling/Susanne Bumke/Jan-Hendrik Dietrich, Ansätze wirtschaftswissenschaftlicher und soziologischer Innovationsforschung, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovation und rechtliche Regulierung. Schlüsselbegriffe und Anwendungsbeispiele rechtswissenschaftlicher Innovationsforschung, Baden-Baden 2002, S. 364 ff.; vgl. auch Gert Brunekreeft/Dierk Bauknecht, Regulierung und Innovationstätigkeit: eine ökonomische Perspektive, in: Martin Eifert/ Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsfördernde Regulierung – Innovation und Recht II, Berlin 2009, S. 243 ff. 83 Vgl. dazu allgemein etwa knapp Volker Amelung/Christoph Wagner, Neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung, in: Volker Brinkmann (Hrsg.), Case Management. Organisationsentwicklung
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treiben. Das betrifft nicht nur die Differenzierung von deskriptiver und normativer Versorgungsforschung,84 sondern setzt auch innerhalb der letzteren eine rechtsspezifische Abgrenzung voraus. Denn das grundsätzlich nachvollziehbare Streben nach Autonomie mutiert zum Autismus, wenn grundlegende Frage- und Problemstellungen, die den eigenen disziplinären Horizont überschreiten, schlicht ausgeblendet werden. Statt dessen verlangt das Anwendungsfeld nach einem intensiven interdisziplinären Austausch. Eigene Erkenntnisgrenzen führen damit nicht zu Resignation, sondern motivieren zu Kooperation und Koordination. Dem Kooperationserfordernis im Gesundheitssystem korrespondiert damit ein Kooperationsbedürfnis in der Gesundheitswissenschaft. Dies umzusetzen, das sollten die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, ist weder einfach noch gar selbstverständlich. Um so wichtiger ist es, daß die Universität des Saarlandes bewußt eigene innovative Forschungsstrukturen geschaffen hat, um den trans- und interdisziplinären Zugang zu erleichtern, den wir Ihnen heute ausschnittsweise – einschließlich der schon äußerlich erkennbaren wissenschaftskulturellen Unterschiede – präsentieren durften. Daß das Arbeiten in diesem institutionellen setting nicht nur für sich gesehen spannend und herausfordernd, sondern auch eine besondere Freude ist, verdanke ich ganz konkret den Kollegen hier vor Ort. Ihnen und Ihnen allen danke ich für die Aufmerksamkeit.
und Change Management in Gesundheits- und Sozialunternehmen, 2. Aufl age Wiesbaden 2010, S. 169 (182 ff.). 84 Vgl. dazu jetzt etwa Daniel Strech/Georg Marckmann, Normative Versorgungsforschung. Eine orientierende Einführung in Themen, Methoden und den Status quo in Deutschland, GuS 2012, 8 ff., zusammenfassend dort, 15: „Wenngleich normative Aspekte in vielen Versorgungs- und Gesundheitssystemfragen involviert sind, werden diese in Deutschland i. d. R. doch eher selten systematisch berücksichtigt und bearbeitet.“
Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen
Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft von
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Stern, Universität zu Köln Den Titel wiederholend, den Peter J. Tettinger und Michael Sachs meinen ausgewählten Reden, 2002 erschienen, gegeben haben, wage ich es – nicht ohne inneren Vorbehalt – mit eigener Feder ein Jahrzehnt später in der so verdienstvollen Reihe „Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen“ Staatsrechtswissenschaft und Lebensweg miteinander zu verknüpfen. Während es heute als fast selbstverständlich gilt, dass Politiker jeder Couleur – ob bedeutsam oder nicht – Erinnerungen vorlegen, sind Wissenschaftler, zumal des Staatsrechts, bezüglich einer Darstellung ihres zurückliegenden Wirkens eher zurückhaltend1. Für sie steht die Sache im Vordergrund, aber die Sache ist meist nicht ohne die sie bearbeitende Persönlichkeit beschreibbar. Darum heißt es hier auch nicht „Staatrechtslehrer“, sondern „Staatsrechtslehre“ in Selbstdarstellungen. Gleichwohl hatte seit Beginn dieser Literaturgattung im Jahrbuch des öffentlichen Rechts 1983 kein Autor darauf verzichtet, seinen persönlichen Lebensweg auszublenden, der eine mehr, der andere weniger. Das soll auch hier so sein.
1 Erinnert sei an einige wichtige publizierte Memoiren von Öffentlichrechtlern: Paul Laband, Lebenserinnerungen – als Handschrift gedruckt, o. J.; Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben 1947/48, hrsg. und eingeleitet von Walter Pauly, 2. Aufl. 2008; Willibalt Apelt, Jurist im Wandel der Staatsformen, 1965, mit meiner Besprechung und Nachruf „In memoriam Willibalt Apelt“ in NJW 1966, S. 28–29; Karl Carstens, Erinnerungen und Erfahrungen, hrsg. von Kai von Jena und Reinhard Schmoeckel, 1993; Karl Doehring, Von der Weimarer Republik zur Europäischen Union, 2008. Vergeblich hatte ich versucht, Hermann Jahrreiß zu bewegen, seine Erinnerungen vor allem an den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, an seine Präsidentschaft der Westdeutschen Rektorenkonferenz und viele andere Ereignisse seines Lebens zu schreiben (vgl. meine Gedächtnisrede AöR 119 (1994), S 137 ff.). Weniges teilte er in dieser Reihe, JöR 35 (1986), S. 125 ff., mit. Dass insgesamt Autobiografien von Juristen so selten sind, zeigt die Zusammenstellung von Jens Jessen, Die Selbstzeugnisse der deutschen Juristen. Erinnerungen, Tagebücher und Briefe. Eine Bibliographie, in: Hans-Jürgen Becker u. a. (Hrsg.), Rechtshistorische Reihe, Bd. 27, 1983. Hans Kelsens Autobiografie von 1947 ist jetzt wieder veröffentlicht, in: Matthias Jestaedt (Hrsg. in Koop. m. d. Hans-Kelsen-Institut), Hans Kelsens Werke, Bd. 1, 2007.
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I. Von Nürnberg über Erlangen und München nach Berlin Geboren im Endstadium der Weimarer Republik in Nürnberg erlebte ich mehrere Perioden deutscher Staatlichkeit: das nationalsozialistische Regime, die Besatzungsherrschaft der vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die Bundesrepublik im geteilten Deutschland, das wiedervereinigte Deutschland, beide eingebettet in den europäischen Staatenverbund. Zeitzeuge der nationalsozialistischen Herrschaft war ich angesichts meines Alters nur begrenzt. Aber das Kriegsende 1945 hat unvergessene Spuren hinterlassen, besonders die Zerstörung der Nürnberger Altstadt am 2. Januar 1945 mit ihren zum Teil sehr berühmten mittelalterlichen Fachwerkhäusern und Kirchen sowie der Totalschaden des großen meiner Großmutter gehörenden Miethauses im Süden der Stadt am 16. März 1945. Damals wurden wir – meine Mutter, meine Großmutter und ich – wie es hieß – „total ausgebombt“. Mit dem Leben kamen wir nur davon, weil das Haus einen besonders gesicherten öffentlichen Luftschutzkeller hatte, der dem Einsturz des fünfstöckigen Hauses trotz des Volltreffers standhielt. Dank der unterirdischen Verbindung mit dem Luftschutzkeller des schon früher zerstörten Nebenhauses konnten wir dem Flammenmeer entrinnen. Die Einnahme Nürnbergs durch amerikanische Truppen Ende April 1945 erlebte ich dann im Norden der Stadt nahe der Kaiserburg, ohne dass es noch wirklich Kämpfe mit deutschen Truppen gab. Mein Vater, seit August 1939 zur Wehrmacht eingezogen und als Arzt in Polen, Holland und seit 1941 in der Sowjetunion, Rumänien, Ungarn, der Tschechoslowakei an der Front und in Lazaretten eingesetzt, kam im Sommer 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft zurück, in die er glücklicherweise mit seinem Lazarett im Gebiet der heutigen Tschechischen Republik geriet. Er konnte seine Tätigkeit als Arzt in Nürnberg wieder aufnehmen, so dass es uns in der Hungerzeit des Winters 1945/46 nicht ganz schlecht ging. Anfang 1946 konnte ich meine schulische Ausbildung am altehrwürdigen humanistischen Melanchthon-Gymnasium fortsetzen und dort im Frühjahr 1951 das Abitur ablegen, zu einer Zeit also, da der wirtschaftliche Aufschwung und die politische Stabilisierung Westdeutschlands mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Einführung des Grundgesetzes 1949 dem Einzelnen wieder Halt gewährte – trotz des Ost-West-Konfl ikts, der sich bekanntlich bis zum „Kalten Krieg“ steigerte und die Deutschen nicht wenige kritische Phasen erleben ließ – bis zur Kriegsgefahr 1961/62. Das Studium der Rechtswissenschaft konnte ich im Wintersemester 1951/52 an der Universität Erlangen unter Umständen beginnen, die die Universitäten schon wieder intakt sein und an die tradierten Formen der Weimarer Republik anknüpfen ließen: Freiheit der Forschung und Lehre, Autonomie der Hohen Schulen, Respekt der Kultusverwaltungen vor der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Wissenschaft, Studierfreiheit, Wiederkehr der traditionellen Formen der Lehrveranstaltungen wie Vorlesungen, Übungen, Seminare, sowie Pfl icht zum Erwerb von „Scheinen“, die angesichts des Mangels an Lehrbüchern und Kommentaren für die meisten Rechtsgebiete den Besuch der Lehrveranstaltungen unentbehrlich machte.
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Erlangens Lehrbetrieb überzeugte mich nicht in jeder Hinsicht. Die Universität München mit bedeutendem Namen erschien mir verlockender, nicht zuletzt auch als Stadt der Kultur. Dorthin führte mich im Wintersemester 1952/53 der Weg. Diese größte bayerische Universität hielt mich denn auch fürderhin fest: Sechssemestriges Studium, Erstes und Zweites Staatsexamen, Assistentenzeit seit 1955, Promotion 1956, Habilitation im Juli 1961. Die akademische Lauf bahn hatten mir eindrucksvolle Lehrer vorgezeichnet, namentlich die Vorliebe für das Öffentliche Recht. Es war eine goldene Zeit an den Universitäten für Professoren, Assistenten und Studenten – für jeden auf seine Weise. Das sollte sich später ändern. Die Ludwig-Maximilians-Universität glänzte durch große Namen, die gehört zu haben mir unvergesslich blieb: Hans Nawiasky, Willibalt Apelt, Friedrich Berber, Johannes Heckel, Theodor Maunz, Hans Spanner – letztere beiden meine „Habilitationsväter“ – Karl Engisch, Leo Rosenberg, Reinhard Maurach, Murad Ferid, Alfred Hueck, Eugen Ulmer, Wolfgang Kunkel, Rudolf Pohle, Karl Blomeyer und als Privat-Dozenten Karl-Heinz Schwab und Günther Dürig. Die Gespräche mit den (Assistenten-)Kollegen Peter Lerche, Hans F. Zacher, Martin Heckel, Walter Leisner, Wolfgang Knies, Roman Herzog, Walter Schick, Ekkehart Schumann, Götz Hueck, Wolfgang Zöllner und Hermann Blei sowie mit Freunden wie Winfrid von Egloffstein und den Mitgliedern der Münchener Juristen-Gesellschaft waren stets bereichernd. Das akademische Milieu Münchens war prägend für den angehenden Hochschullehrer, der seine ersten eigenständig zu verantwortenden Vorlesungen im Wintersemester 1961/62 zu halten hatte, aber Kathedererfahrung schon vorher als Lehrbeauftragter, vor allem für ausländische Studierende und in Vertretung des zum Kultusminister berufenen Theodor Maunz sammeln konnte. Kaum hatte ich die Vorlesung Allgemeines Verwaltungsrecht erarbeitet, traten zwei für meine wissenschaftliche und berufl iche Zukunft wichtige Ereignisse ein. Zum einen: Die Freie Universität Berlin wollte mich für die Vertretung eines freien Lehrstuhls im Sommersemester 1962 verpfl ichten. Im Januar 1962 flog ich nach Berlin und verhandelte mit dem Dekan der Juristischen Fakultät, Wilhelm Wengler, und dem mit höchsten Vollmachten nach altem preußischem System ausgestatteten Kurator Fritz von Bergmann, Enkel des berühmten Chirurgen Ernst von Bergmann und Sohn des Internisten Gustav von Bergmann. Da selbst Sohn eines Mediziners, kamen wir uns sehr rasch näher, so dass es mir nicht schwer fiel, sehr gute Bedingungen auszuhandeln, darunter für die Übung mehrere Assistenten, die mir die Fakultät zuteilte und die allesamt später „Größen“ unserer Zunft wurden, wie Rupert Scholz, Dieter Wilke und Klaus Finkelnburg. Im Sommer 1962 lernte ich also das kurz vorher geteilte Berlin näher kennen. Trotz Mauer und Stacheldraht sowie mancherlei Reisebeschwernissen fühlte ich mich wohl in der Stadt, die in mehrfacher Hinsicht Schicksal für mich spielte. Noch im Sommer 1962 erreichte mich die Berufung auf ein Ordinariat, die ich gern annahm. Es war selbstverständlich, dass der 30jährige (trotz anderer reizvoller Rufe) nicht zögerte, in die geteilte Stadt zu gehen, in der ich überaus engagierte und interessierte Studenten erlebte. Aus Berlin im Januar 1962 von den Verhandlungen mit der Freien Universität nach München zurückgekehrt, fand ich zum zweiten einen Brief von Herbert Krüger, dem Vorsitzenden der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, vor mit der Einla-
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dung, im Oktober in Münster den „Mitbericht“ zum Thema „Die öffentliche Sache“ zu halten. Neben dem „großen“ Werner Weber, der mich für Göttingen zu gewinnen suchte, hatte ich zu bestehen – gewiss, zumal erst im zweiten Jahr Mitglied dieser – wie Friedrich Karl Fromme später einmal in der Frankfurt Allgemeinen Zeitung schrieb – „höchst exklusiven Vereinigung“, keine leichte Aufgabe, wie mir schwante. Aber sie gelang, jedenfalls nach dem allgemeinen Urteil der Tagungsteilnehmer. Dass ich 15 Jahre später, 1977, zum Ersten Vorsitzenden der Vereinigung gewählt wurde, ahnte ich ebenso wenig wie dass ich 1983 die zweite Kölner Tagung nach 1960 auszurichten hatte, umrahmt von einem Empfang des Bundespräsidenten Karl Carstens in Schloss Brühl, der fast 400 Mitglieder einschließlich Begleitung anzog. 1978 beim Empfang von Bundespräsident Walter Scheel in der Villa Hammerschmidt anlässlich der Bonner Tagung war es nur etwa die Hälfte, die ich dem Bundespräsidenten vorzustellen hatte, nach seinem Wunsch auch mit dem Ort ihres universitären Wirkens. Beide Präsidenten blieben lange im Kreis der Vereinigung. Nach dem geglückten Auftritt in der Vereinigung, die 1962 noch weniger als 100 Mitglieder zählte, gleichsam nach erfolgter zweiter Habilitation, war ich für die Vorlesungstätigkeit an der Freien Universität Berlin einigermaßen gerüstet, jedenfalls, was das Verwaltungsrecht betraf. Aber Staatsrecht sowie die besondere Rechtsstellung Berlins und die damit verbundenen Probleme hatte ich mir noch zu erarbeiten. Ich tat es mit Verve, innerer Anteilnahme und im Gefühl, in der Stadt zu wirken, die im Brennpunkt deutschen Schicksals, ja im Zentrum des globalen Ost-Westkonfl ikts stand und Vorkämpfer von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war, die zu verinnerlichen mir in Schule und Studium auf den Weg gegeben wurde und die Teil der Grundüberzeugungen war, die ich auch in Forschung und Lehre zu vertreten gedachte. Das „alte“ ungeteilte Berlin war mir nur noch in dunkler Erinnerung, das ich im August 1944 aus Pommern kommend unter dramatischen Umständen von Alarm und Bombenangriffen letztmalig erlebte. Meine Vorlesungen an der Juristischen Fakultät und am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität bezogen sich vor allem auf Staats- und Verwaltungsrecht, aber auch die rechtlichen Grundlagen der Politik für Politologen. Die Studierenden begeisterten mich ob ihrer Lebhaftigkeit und ihres Engagements, vielleicht auch ich sie. Auch wenn es in der Fakultät Spannungen wegen der heterogenen Charaktere einzelner Mitglieder gab, war für mich Berlin und seine Freie Universität eine befriedigende und glückliche Zeit – bis 1965, als es zu Unstimmigkeiten kam, die ich als persönlich verletzend empfi nden musste. Lehnte ich bis dahin alle Rufe in den „sicheren Westen“ – wie es hieß – ab, so galt dies nicht mehr für Köln und die Nachfolge auf den Lehrstuhl von Hans Peters. Die Freie Universität hat mir dennoch viel bedeutet; sie gab mir reiche Erfahrung für die akademische Zukunft mit. Ich konnte vertieft Vorlesungen zum Staatsrecht, zum Verwaltungsrecht, zur Staatslehre ausarbeiten, Kommentierungen für den Bonner Kommentar erarbeiten, die heute noch Bestand haben. Meine Antrittsvorlesung „Probleme der Errichtung eines Verfassungsgerichts für Berlin“ (zunächst für WestBerlin) ließ auf horchen 2. Ich erntete Skepsis und Beifall. Es ging mir darum klarzu2 Klaus Stern, DVBl. 1963, S. 696 ff. = ders., in: Peter J. Tettinger / Michael Sachs (Hrsg.), Klaus Stern, Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft. Ausgewählte Reden, 2002, S. 521 ff. S. auch ders.,
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stellen, dass für mich die Teilung Deutschlands (und Berlins) keine Entscheidung für die Ewigkeit war. Das war auch der Tenor aller meiner staatsrechtlichen Vorlesungen. 1989 erfüllte sich der Wunsch zur Wiedervereinigung; ich konnte später den bewusst an das Ende meines Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland gestellten Band V zur Geschichte im Juli 2000 mit der Wiedervereinigung Deutschlands abschließen. Doch halt, ich eile zu weit voraus. Fünf Jahre Berlin waren akademische, juristische und politische Lehrzeit, die ich nicht missen möchte. Die Stadt und ihre Teilung, Fähigkeit und Kraft der Menschen, damit fertig zu werden, zogen mich in ihren Bann. Mehrere Rufe an andere Universitäten lehnte ich ab, ehe es mit Köln Ernst wurde, die Stadt zu verlassen. Die Kölner Universität bot mir vorzügliche Bedingungen; rasch wurden die Verhandlungen mit Kultusminister Prof. Dr. Paul Mikat, seinem verständnisvollen Hochschulreferenten, Ministerialdirigent Paul Vogtmann, Rektor Günter Schmölders, Dekan Ulrich Klug und mit dem mir später freundschaftlich verbundenen Universitätskanzler Dr. Wolfgang Wagner abgeschlossen. Am 1. März 1966 übernahm ich das Ordinariat von Hans Peters, der leider kurz vorher ebenso überraschend wie plötzlich verstorben war3, und die Leitung seines Instituts für Verwaltungswissenschaften, später von mir umbenannt in Institut für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre. Die Universität zu Köln und das Haus im Bergischen Land – des besseren Klimas wegen – wurden meine berufl ichen und privaten Heimstätten bis zum heutigen Tag, wiewohl München 1977 verführerisch lockte und von den Kollegen Peter Badura, Peter Lerche und Hans F. Zacher sowie Dekan Dieter Nörr besonders „schmackhaft“ gemacht wurde.
II. Die neuen Wirkungsstätten in Köln, Bonn, Düsseldorf und Münster 34jährig startete ich im Sommersemester 1966 als Jüngster in der renommierten Kölner Rechtwissenschaftlichen Fakultät, nunmehr nach dem Tod meines Freundes Hans Joachim Hirsch fast der Älteste. Man nahm mich freudestrahlend als ersten Öffentlichrechtler nach dem Tod bzw. nach der fast gleichzeitigen Emeritierung der „großen Vier“ dieses Rechtsgebiets, Hans Peters, Hermann Jahrreiß, Ernst von Hippel und Armin Spitaler, auf und schenkte mir großes Vertrauen bei den Besetzungsvorschlägen für die anderen frei gewordenen öffentlich-rechtlichen Lehrstühle. Die fast gleichaltrigen Karl-Heinrich Friauf, Martin Kriele sowie die etwas älteren Ignaz SeidlHohenveldern und Klaus Tipke stießen als weitere Öffentlichrechtler bald hinzu. 1969 folgte Dietrich Pirson für das Kirchenrecht. Das Lehrangebot konnte wieder vervollständigt werden. Vertretungen und Lehraufträge erledigten sich. Die Dekane dieser Zeit Heinz Hübner, Ulrich Klug, Dietrich Oehler und Bodo Börner waren vieler Sorgen ledig. Köln konnte sich mit der Berufung von mehreren Privat- und Strafrechtlern in Perspektiven des Berlin-Status seit 1971, in: Ingo von Münch (Hrsg.), Finis Germaniae? – Symposium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Herbert Krüger, 1977, S. 33 ff.; ders., Grundfragen der Rechtslage Berlins, in: Georg Brunner u. a. (Hrsg.), Sowjetsystem und Ostrecht. Festschrift für Boris Meissner zum 70. Geburtstag, 1985, S. 793 ff.; ders., Berlin, in: StL, 7. Aufl. 1985, Sp. 639 ff. 3 S. meine Gedächtnisrede „In memoriam Hans Peters“, in: P. J. Tettinger / M. Sachs (Hrsg.), Klaus Stern, Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft. Ausgewählte Reden, 2002, S. 759 ff.
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meinen Dekanatsjahren von 1969 bis 1971 wieder in die Reihe der führenden und sehr begehrten juristischen Fakultäten einreihen. Alles schien bestens bestellt. Doch in der kritischen Zeit wurde auch die Universität Köln nicht von den studentischen Unruhen verschont, wenngleich wohl am wenigsten von allen deutschen Universitäten getroffen. Ein nicht geringes Verdienst daran durften sich die Rektoren und Prorektoren dieser Zeit Karl Gustav Fellerer, Heinz Hübner, Peter Mittelstaedt, Klaus Stern (1971–1975) und Wolf Isselhard zurechnen. Unsere Handlungsmaxime „fortiter in re, suaviter in modo“ hat die Kölner Universität auf Kurs gehalten. Forschung und Lehre wurden nur ausnahmsweise gestört. Viele Kollegen haben mir am Ende meiner Amtszeit dankbar Briefe geschrieben, dass ich die Universität von den schlimmsten Widrigkeiten verfehlter Reformen fernhalten konnte. Das war nicht einfach und kostete Kraft und Nerven; denn es war ein Kampf an mehreren Fronten. Es bedürfte eines eigenen Kapitels, für das hier weder Raum noch Anlass besteht, um nur die wichtigsten Auseinandersetzungen zu schildern. Begann ich meine Amtszeit als Rektor programmatisch mit einer Rede über den Rechtsstaat4, so konnte ich am Ende die Standfestigkeit der alma mater coloniensis mit den Worten betonen: „Im aktuellen Hochschulgeschehen hat die Universität Köln gezeigt, dass wir nicht dazu verurteilt sein müssen, der Zeiten ohnmächtige Gestalten zu sein“5. Für mich waren die Amtsjahre als Rektor und Prorektor Zeiten großer Verantwortung, schwieriger Entscheidungen, bei denen mir die Amtsträger der Universität, vor allem die Dekane und Universitätskanzler Wolfgang Wagner, Kollegen, Universitätsbedienstete, insbesondere engste Mitarbeiter im Rektorat, auch einige Vertreter der Assistenten und Studenten, in einem andernorts beneideten und bewunderten Klima geholfen haben, so dass ich festhalten konnte: „Nicht alles, was zu verbessern ich mir vorgenommen hatte, ist gelungen; nicht wenigen aber ist misslungen zu zerstören, was mir zu bewahren wert erschien“6. Nicht dass ich vorher nichts im Staatsrecht, im Verwaltungsrecht, besonders im Kommunal-, Rundfunk- und Postrecht7 publizierte und mir nicht viele Gedanken über unseren Staat und seine Verfassung gemacht hätte, die engste Verbindung mit der Staatsrechtslehre begann 1975, als ich mich aus dem Rektorat verabschieden konnte. Ich entschloss mich, ein „großes Staatsrecht“ – wie Hans Peter Ipsen in seiner Rezension anmerkte8 – zu schreiben. Die Amtsjahre als Dekan, Rektor und Prorektor der alma mater coloniensis sowie als Vorsitzender der nordrhein-westfälischen Landesrektorenkonferenz hatten mich von der Wissenschaft ein wenig entfernt; es musste in der Tat wissenschaftlich etwas Großes in Angriff genommen werden, um mich gleichsam zurückzumelden. Das Staatsrecht schien mir die geeignete Materie zu sein – trotz bereits vorliegender be4
Vgl. K. Stern, ebda., S. 541. Ebda, S. 579. 6 Ebda, S. 578. 7 Vgl. neben dem schon mehrfach erwähnten Sammelband „Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft“ auch Helmut Siekmann (Hrsg.), Klaus Stern: Der Staat des Grundgesetzes. Ausgewählte Schriften und Vorträge, 1992. 8 Vgl. Hans Peter Ipsen, Das große „Staatsrecht“ von Klaus Stern, AöR 103 (1978), S. 413 ff. Zu Ipsen jetzt meine Würdigung, in: Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, hrsgg. von Peter Häberle / Michael Kilian / Heinrich Amadeus, Wolff, i. E. 5
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deutsamer großer Kommentare zum Grundgesetz und mehrerer, wenn auch kürzerer Lehrbücher. Aber es fehlte das umfassende Handbuch aus einer Feder: Diese Lücke machte ich mir zu Nutze. Es gelang mir, den Verlag C. H. Beck, München, mir wohlvertraut durch meinen Freund aus der Münchener Juristengesellschaft, Cheflektor Hans-Ulrich Büchting, zu überzeugen, das Vorhaben in sein Programm aufzunehmen und – länger als geplant – über alle Schwierigkeiten hinwegzusteuern dank des verdienstvollen Einsatzes der Lektoren Burkhard Schulz, Rolf-Georg Müller und Wolfgang Czerny. Staatsrechtliche Vorarbeiten hatte ich neben den Vorlesungen vor allem aus der Zeit meiner Tätigkeit in der Enquête-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, der ich von 1971 bis 1976 angehörte, in der Schublade. Diese Kommission, zusammengesetzt aus sieben Bundestagsabgeordneten, sieben vom Bundesrat gewählten Vertretern und sieben Sachverständigen hat mich der politischen Praxis nahegebracht, besonders den Abgeordneten Friedrich Schäfer, Carl Otto Lenz, Claus Arndt und Burkhard Hirsch sowie dem Vertreter Bayerns, Ministerialdirektor Otto Barbarino, und Schleswig-Holsteins, Altministerpräsident Lemke. Es ging in ihr nicht bloß um „Theorie“, sondern auch um Fragen der politischen Macht, um die Austarierung politischer Kräfteverhältnisse, um Bund/Länder-Konstellationen, um Kompromissfi ndung zwischen den Vertretern politischer Parteien. Es war eine lehrreiche und für den Wissenschaftler ergiebige Zeit, die sich in den Diskussionen bei den zahlreichen Sitzungen in Bonn ergab9: Vorträge über die Arbeit der Kommission und deren sich anschließende Debatten mit Wissenschaftlern und interessierten Bürgern bestätigten mich in meiner Absicht. Nicht zuletzt erlebte ich in den 70er Jahren ein Knistern im Gebälk unseres scheinbar so wohl konstituierten Staates, das einen Staatsrechtslehrer herausfordern musste, wenn er die Verfassung seines Staates für richtig hielt. So machte ich mich denn auf den Weg unter der Devise „Zeige mir dein Staatsrecht, und ich sage dir, welchen Staat du hast“. Mit meinem Staatsrechtslehrbuch verfolgte ich die Absicht „zu verdeutlichen, dass die staatliche Ordnung, die das Grundgesetz verbürgt, Freiheit gewährt, die so viele Deutsche nicht besitzen, und Anarchie verhindert, die so sichtbar zerstörerisch ist“10, insgesamt also einen freiheitlich-demokratischen Rechts- und Bundesstaat verfasst, in dem die Grundrechte eine herausragende Rolle spielen. Der erste den Grundbegriffen und den Grundlagen des Staatsrechts sowie der Verfassung und ihren Strukturprinzipien gewidmete Band konnte dank eines Sabbatjahres rasch 1977 erscheinen (und eine 2. Auflage 1984 erfahren), dem der organisatorische Teil zu den Staatsorganen und Staatsfunktionen sowie zur Finanz-/ Haushalts- und Notstandsverfassung 1980 nachfolgte. Aber die sodann anstehende Bewältigung der Grundrechte erwies sich schwieriger und umfangreicher als ich voraussah. Kongeniale Mitautoren gesellten sich der Arbeit hinzu, zunächst Michael Sachs und später noch Johannes Dietlein, beide als frühere Assistenten dem Werk und mir wohlvertraut. Aus geplanten zwei Bänden zu den Allgemeinen Lehren der
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Vgl. Fragen der Verfassungsreform, Zur Sache 1/73, 3/76 und 2/77. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Aufl. 1977, S. VI.
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Grundrechte und zu den einzelnen Grundrechten wurden bald vier Bände, die 1988, 1994, 2006 und 2010 veröffentlicht werden konnten. Manche Verzögerung ergab sich daraus, dass sich 1989 eine staats- und völkerrechtliche Aufgabe von welthistorischem Ausmaß einstellte, die auch Anforderungen an den für diese Probleme zuständigen Wissenschaftler stellte und ihn zu Beratungen der Politik verpfl ichtete. Die Wiedervereinigung Deutschlands geriet dank des Mutes und des Freiheitswillens der Deutschen jenseits von Elbe und Werra nach dem Fall der „Mauer“ mit Nachdruck auf die politische Agenda. Art. 23 GG a. F. und Art. 146 GG – wissenschaftlich über lange Zeit schlummernd –, der Fortbestand des Deutschen Reiches als Völkerrechtssubjekt, die realisierbaren politischen und juristischen Schritte zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit kamen auf die Tagesordnung. Es jagten sich Sitzungen, Expertisen und Interviews – auch auf Auslandsreisen, die ich gerade absolvierte und mich zwangen, manchen vorbereiteten Vortrag beiseite zu schieben und aus dem Stegreif über die Wege zur Wiedervereinigung zu sprechen. Es war eine bewegte, aber für alle Deutschen auch glückliche Periode ihrer Zeitgeschichte, weil sie mit dem 3. Oktober 1990 und den ersten freien Wahlen in ganz Deutschland zum Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990, der nunmehr – verfassungsrechtlich und plebiszitär legitimiert – das gesamte deutsche Volk vertreten konnte, ein für Deutschland, Europa und die ganze Welt gelungenes Ende fand. Ein Verfassungsauftrag fand nach vier Jahrzehnten seine Erfüllung; Beharrlichkeit und Rechtstreue hatten sich gelohnt. Wir erlebten eine glückliche Fügung in der so wechselvollen deutschen Geschichte. Wer diese Zeit miterlebte, dürfte sich an Goethes Worte aus seinem autobiographischen Werk „Campagne in Frankreich“ über die Kanonade von Valmy (1792) erinnern: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabeigewesen.“ Mir boten die Geschehnisse die Gelegenheit, zusammen mit Ministerialdirektor Dr. Bruno Schmidt-Bleibtreu vom Bundeministerium der Finanzen die drei Bände „Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit“ zu erarbeiten – ein Werk, das bereits 1991 vollendet und der Praxis, die schwierige Auslegungsfragen vor allem des Einigungsvertrages zu bewältigen hatte, dienstbar gemacht werden konnte11. Die Fritz Thyssen Stiftung, deren Unterstützung ich nach der Emeritierung auch für die Staatsrechtsbände gewann, erklärte sich darüber hinaus bereit, einen Arbeitskreis zu fi nanzieren, zu dem ich mit engagierter Unterstützung meiner Assistentin Andrea Kretschmann, jetzt in Potsdam tätig, zu Tagungen in die „alten“ und „neuen“ Bundesländer einladen konnte, um wichtige Sachfragen mit Wissenschaftlern und Praktikern zu diskutieren. Sechs Bände erschienen zu folgenden Themen: Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung – Wiederherstellung der inneren Einheit (Vermögensfragen – Öffentlicher Dienst – Universitäten – Rundfunkrecht – Stasi-Akten – Wiedergutmachung – Öffentliche und private Wirtschaft) – Zur Entstehung von Landesverfassungen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland – Zur Reform des Grundgesetzes – Zehn Jahre Deutsche Einheit12. Alle Themen standen 11
Vgl. Band I: Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, 1990; Band II: Einigungsvertrag und Wahlvertrag, 1990; Band III: Zwei-plus-Vier-Vertrag, 1991. 12 Vgl. K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. I, 1991; Bd. II/1, 1991; Bd. II/2, 1992; Bd. III, 1992; Bd. IV, 1993; Bd. V 2001.
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seiner Zeit im Mittelpunkt lebhafter und kontroverser Debatten, die etwa in den Eigentumsfragen jahrelang virulent blieben und für manchen heute noch als offene Wunde des Rechtsstaats gelten. Die Wiederherstellung der Deutschen Einheit ließ mich endlich auch den historischen Teil des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland in Angriff nehmen. Ich hatte diesen mit Vorbedacht an das Ende des Gesamtwerks gestellt, weil ich glaubte und hoffte – wie im Vorwort von Band I zum Ausdruck gebracht –, dass die deutsche Geschichte nicht mit der deutschen Teilung zu Ende gegangen sei13. 1994 begann die Arbeit an Band V zu den geschichtlichen Grundlagen des Deutschen Staatsrechts – die Verfassungsentwicklung vom Alten Deutschen Reich zur wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland –. Sie konnte 1999 abgeschlossen werden. Präsentiert wurde das Buch von Außenminister Klaus Kinkel im Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin. Zwei Drittel des mehr als 2000 Seiten umfassenden Buches nehmen Besatzungsherrschaft und Wiedererrichtung deutscher Staatsgewalt, der Fortbestand Deutschlands nach der Kapitulation vom 7./8. Mai 1945, die Entstehung der zwei Staaten in Deutschland und deren Konstitutionalisierung sowie die Wiederherstellung der Deutschen Einheit ein. Aber auch die vorausgegangenen Perioden deutscher Staatlichkeit, beginnend mit den frühmittelalterlichen Herrschaftssystemen, dem Sacrum Imperium Romanum, dem deutschen Territorialstaat, dem Deutschen Bund, dem Deutschen Kaiserreich bis zur ersten deutschen Republik und dem totalitären Regime des Nationalsozialismus blieben nicht ausgeblendet. Ich empfand die Schicksalswege dieser Staatlichkeit mit ihren mehrfachen Zäsuren und Neuorientierungen als lang und verschlungen. Dunkle und helle Epochen wechselten einander ab. Gleichwohl wurde auch Großartiges geschaffen, nicht allein für Deutschland und für Deutsche, sondern für alle Menschen, auch wenn die deutsche Geschichte mit Blick auf Verfassungen nicht für eine zündende weltweit wirkende Idee steht, wie die Frankreichs mit Liberté, Egalité und Fraternité, für die Menschenrechte also, die Amerika so glänzend in Verfassungsrecht zu prägen wusste, oder die Englands mit dem parlamentarischen Regierungssystem. Doch darf festgehalten werden, dass der gegenwärtige freiheitliche demokratische und soziale Rechtsstaat, die bundesstaatliche Form, überhaupt die Verfassung und besonders die die Grundrechte schützende Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die von der Verfassung gestützte soziale Marktwirtschaft Errungenschaften sind, die weltweit Anerkennung gefunden haben. Darüber dürfen freilich schlimme Unrechtstaten, die im deutschen Namen geschehen sind, nicht vergessen werden. Aber der mehr als 60 Jahre durch das Grundgesetz konstituierte deutsche Staat, eingebettet in den Verbund europäischer Staaten, hat dank der in der Verfassung verankerten Grundwerte Respekt in der Gemeinschaft der Völker gewonnen14. Verwirklicht wurde, was der Parlamentarische Rat mit den Worten des Vorsitzenden seines Haupt13 Hierzu jetzt Edzard Schmidt-Jortzig, Rückblick auf das Postdamer Abkommen, in: Michael Sachs / Helmut Siekmann (Hrsg. in Verbindung mit Hermann-Josef Blanke, Johannes Dietlein, Michael Nierhaus, Günter Püttner), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 187. 14 Vgl. K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2010; früher K. Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, 1990; Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung – Die Verfassung vor
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ausschusses, Carlo Schmid, erstrebte: „Das Gemeinwesen, das wir durch das Grundgesetz schaffen, [hat] seinen letzten Sinn darin, dass es helfen soll, Deutschland wieder in die Gemeinschaft der freien Völker einzugliedern“15. In diesem Geist und mit diesem Ziel habe ich über das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland geschrieben, es kommentiert und gelegentlich auch kritisiert. Dass es insgesamt 13.000 Seiten wurden, lag nicht in meiner und meiner Mitautoren Absicht. Aber jeder Kundige weiß, dass das Verfassungsrecht durch seine Ausstrahlung, besonders der Grundrechte, auf die gesamte Rechtsordnung immense Bedeutung erlangt hat. Eine weit ausgreifende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts legt dafür Zeugnis ab. Darum war es unvermeidlich, der Darstellung der Grundrechte sowohl hinsichtlich ihrer allgemeinen Lehren als auch hinsichtlich der einzelnen Grundrechte breiten Raum zu geben und die Bände III und IV jeweils auf zwei Halbbände aufzuteilen. Mehr und mehr im Laufe der einzelnen Schaffensperioden habe ich dem Recht der Europäischen Union (und des Europarats) sowie dem ausländischen Verfassungsrecht Aufmerksamkeit zugewandt. Das war nicht immer leicht, sind doch unsere Universitätsbibliotheken kaum internationalrechtlich ausgerichtet – ein Defizit, das durch Politikerreden von der Internationalität von Ausbildung und Forschung nicht ausgeglichen wird, sondern nur durch zusätzliche Forschungsmittel, bei denen Köln dank engagierter Sponsoren durch die Gründung von Instituten an der Universität nicht schlecht abschneidet. Auf diesen Feldern halfen mir viele Auslandsreisen und Beziehungen zu Fachkolleginnen und -kollegen in anderen Ländern. Die Verbundenheit mit ihnen habe ich durch die Widmung des letzten 2010 erschienenen Band IV/2 zum Ausdruck gebracht. Diese Verbindungen konnten auch über die Emeritierung hinaus im Rechtszentrum für Europäische und Internationale Zusammenarbeit (R. I. Z.), dem ich von 1995 bis 2000 angehörte, und im Institut für Rundfunkrecht weiter gepflegt werden, zumal alle dort tätigen Mitdirektoren übereinstimmende Vorstellungen über die Wichtigkeit von Auslandskontakten hatten. Mehr als drei Jahrzehnte hat mich die Arbeit am Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen – gewiss ein Lebenswerk, das nur zu bewältigen war dank stabiler Gesundheit, großen Engagements, eiserner Disziplin, Organisationskunst, mich eifrig unterstützender Mitarbeiter, die das jeweilige Vorwort ausweist, und nicht zuletzt einer helfenden und verständnisvollen Ehefrau, die für die Sachregister aller Bände verantwortlich war. Natürlich blieben während der Arbeit am Staatsrecht weder Lehre noch sonstige Publikationen oder das öffentliche Wirken als Professor vernachlässigt. Gerade das letztere lag mir stets am Herzen, weil ich mir bewusst war, dass ordentlicher „öffentlicher“ Professor der Rechte zu sein auch bedeutet, sich zu bekennen. Und hier gab es etliche Bereiche, die nicht zuletzt damit zusammenhingen, dass Köln nahe der (vorläufigen) Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, lag, dass aber auch Düsseldorf, die Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens, dessen Beamter ich ja war, der Zukunft, Verfassungskongress „50 Jahre Grundgesetz – 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, 1999. 15 Carlo Schmid, 10. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949, Stenogr. Berichte des Plenums, S. 235.
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nicht weit entfernt war, und sich nur wenig weiter entfernt Münster, der Sitz des Verfassungsgerichtshofs des Landes, befand. Dem Staatsrechtler waren damit vielfältige Betätigungsfelder geboten, wenn man ihn rief. In der Tat bekam ich, kaum in Köln eingewöhnt, nicht wenige Berufungen, die mir interessante Tätigkeiten im politischen, staats- und verwaltungsrechtlichen Raum eröffneten. 1968 berief mich die Landesregierung Nordrhein-Westfalen in ihre Neugliederungskommission C, die sich mit der Neuordnung der Regierungsbezirke, Landschaftsverbände und des Siedlungsverbandes Ruhr unter Vorsitz von Staatssekretär Fritz Rietdorf zu befassen hatte. Als einziger Professor unter höchst sachkundigen Persönlichkeiten der Verwaltungspraxis und der Politik hatte ich es nicht einfach, vor allem die verfassungsrechtlichen Aspekte des Art. 28 Abs. 2 GG und der Art. 78 und 79 NRWVerf. geltend zu machen. 1971 folgte die Berufung in die schon erwähnte vom Bundestag eingesetzte Enquête-Kommission Verfassungsreform. Sie ließ mich den Bonner inneren politischen Zirkel kennenlernen. Namhafte Abgeordnete von CDU/CSU, SPD und FDP, nicht wenige selbst Professoren, wie Claus Arndt, Karl Carstens, Hans Hugo Klein, Carl Otto Lenz, Friedrich Schäfer und Carl-Christoph Schweitzer, aktive und im Ruhestand befi ndliche Landesminister, wie Ernst Heinsen, Burkhard Hirsch und Helmut Lemke saßen den Universitätsprofessoren Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wilhelm Kewenig, Fritz Wilhelm Scharpf, Waldemar Schreckenberger, Adalbert Leidinger und Klaus Stern gegenüber. Wir pflegten einen überaus fruchtbaren Gedankenaustausch, der sich in vielen Kommissionsdrucksachen – insgesamt 700 Schreibmaschinenseiten – niederschlug. Weithin, auch über Parteigrenzen hinweg, herrschte Einigkeit darüber, dass sich das Grundgesetz bewährt habe und nur vorsichtiger und gemäßigter Reformen bedürfe. Einer mitunter geforderten „Totalrevision“ des für „antiquiert“ gehaltenen Grundgesetzes, das einer „neuen Zeit“, die „1968“ begonnen habe und „Systemveränderungen“ verlange, wurde eine klare Absage erteilt. Die Kommission hat im Wesentlichen die vom ursprünglichen Verfassunggeber getroffenen Grundentscheidungen bekräftigt. Das galt vor allem hinsichtlich der Ablehnung von Volksbegehren und Volksentscheid. Der Vorwurf, keinen „großen Wurf “ gewagt zu haben, war unberechtigt, weil man zu Recht das Werk von 1948/49 nach gründlicher und gewissenhafter Überprüfung für gut und richtig bewertete. Nach der später erreichten Wiedervereinigung Deutschlands unter Bestätigung des Grundgesetzes hat sich diese Grundhaltung als richtig erwiesen. Das Grundgesetz wurde die Verfassung des wiedervereinigten Deutschland und von der ganz großen Mehrheit der Deutschen akzeptiert und gut geheißen. In kleineren Kommissionen wie etwa der „Kommission zur Untersuchung der rundfunkpolitischen Entwicklung im südwestdeutschen Raum (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland)“ – 1968 bis 1970 – oder der vom Bundespräsidenten eingesetzten Kommission zur Neuordnung der Finanzierung der politischen Parteien (1992/1993) sowie der vom Präsidenten des Nordrhein-Westfälischen Landtags berufenen Kommission zur Neuordnung der Diäten der Abgeordneten 2002/03 konnte ich auf wichtigen Politikfeldern mitwirken, aber auch – wie man heute zu sagen pflegt – „Netzwerke“ auf bauen, die zu weiterwirkenden persönlichen Beziehungen führten, die bis zum heutigen Tag Bestand haben.
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Längere Zugehörigkeiten brachten die Berufungen in den Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1983–1989) und in den wissenschaftlichen Beirat des Bundesfi nanzministeriums seit 1975 mit sich. Für den Juristen war in der DFG herzlich wenig auszurichten; sie war beherrscht von Naturwissenschaftlern und Medizinern. Geisteswissenschaften hatten eher eine Randposition. Ja, ich scheiterte sogar in der Kommission, die sich mit der Aufnahme der Deutschen Sporthochschule Köln in die DFG zu befassen hatte. Sport habe nichts mit Forschung und Wissenschaft zu tun, hieß es. Welch fataler Irrtum, welche Unkenntnis des heutigen Spitzensports und der Methoden, mit denen Spitzenleistungen zu erreichen sind! Auch dass die Kölner Einrichtung weltberühmt ist und nicht selten kopiert wird, verfing nicht. Niederlagen gehören zum Leben auch des Wissenschaftlers; man hat sie sportlich zu nehmen, wie mir aus meiner sportlichen Betätigung seit der Jugendzeit und später im Tennisund Golfsport wohlvertraut war. Um Rechts- und vor allem Personalpolitik ging es in vorzüglicher Weise in der Deputation des Deutschen Juristentages. Dort wurden die Themen und vor allem die Gutachter und Referenten für die zweijährig staatfi ndenden Juristentage ausgewählt. 1960 schloss ich mich dieser größten mittlerweile 3000 Mitglieder umfassenden juristischen Vereinigung aller Berufsgruppen und Fächer an. Mehrfach Vortragender und Diskussionsredner wurde ich 1972 in die Deputation und später in das Gremium der Vertrauensleute, die die Deputationsmitglieder zu bestimmen hatten, gewählt. Harmonisch ging es in der Deputation nicht immer zu. Spannungen und Interessensgegensätze konnten nicht ausbleiben. Aber fast immer gelang es, attraktive Juristentage zu veranstalten, in denen Deputationsmitglieder – nicht alle – meist als Vorsitzende von Abteilungen viel Arbeit zu leisten hatten. 1978 erreichte mich die Nachricht von meiner Berufung in die „Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften“, jetzt „Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste“. Es war eine für mich völlig überraschende Ehrung, in eine Einrichtung aufgenommen zu werden, deren moderne Form in Deutschland auf G. W. Leibniz mit der Gründung der „Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften“ 1700 in Berlin, der späteren „Königlich Preußischen Akademie“, zurückging. Nach Gesetz und Satzung vereinigt die Akademie in satzungsmäßig begrenzter Zahl bedeutende Gelehrte aller Fachrichtungen zum Gedankenaustausch, die verschiedenen Klassen – Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Medizin, Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften sowie Künste – zugeordnet sind und jeweils von den Klassen auf Lebenszeit gewählt werden. Den Klassen können auch als korrespondierende Mitglieder nicht in Nordrhein-Westfalen ansässige Persönlichkeiten angehören. In den nunmehr 35 Jahren meiner Zugehörigkeit, in denen ich drei Mal referiert habe16, ist es mir selten gelungen, die Stimme der Akademie im Wissenschaftskonzert und in der breiten Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen, auch wenn viele bedeutende Projekte erarbeitet und gefördert wurden. Nach ihrer Zusammensetzung und ihrem geistigen Zuschnitt hätte die Akademie eigentlich Im16 Vgl. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Schriftenreihe der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 243, 1980; Die Wiederherstellung der deutschen Einheit – Retrospektive und Perspektiven, in: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 313, 1992, S. 15 ff.; Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, in: NordrheinWestfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 350, 1997.
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pulsgeber für Politik und Gesellschaft sein können und sollen. Aber ebenso wie ihre älteren Schwester-Akademien in Göttingen, München, Heidelberg, Mainz sowie der nach der Wiedervereinigung neukonstituierten Akademien in Leipzig und Berlin mochte die 1969 gegründete aus der 1950 geschaffenen Arbeitsgemeinschaft für Forschung hervorgegangene Düsseldorfer Akademie kaum aus ihrer Zurückhaltung heraustreten. Selbst die durch einen rechtlich zweifelhaften Organisationsakt der Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan als „Nationale Akademie“ deklarierte „Akademie der Naturforscher Leopoldina“ in Halle vermochte nur begrenzt Aufmerksamkeit zu erreichen. Nichts anderes gilt für den Zusammenschluss der Akademien der Länder in der „Union“ und deren Verbindungen auf europäischer und internationaler Ebene. Das muss traurig stimmen! 1974/75 lernte ich Fritz Neumark, den Nestor der deutschen Finanzwissenschaft und Vorsitzenden des seit 1948 bestehenden „Finanzbeirats“17, seit 1950 „Wissenschaftlicher Beirat bei dem Bundesministerium der Finanzen“, kennen. Wir wurden beide zusammen mit dem Saarbrücker Oberlandesgerichtspräsidenten a. D. Dr. Rolf Werner Best vom Bundespräsidenten in ein Schiedsgericht berufen, das im Konfl ikt zwischen dem Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Prof. Dr. Wolfgang Stützel, und dem Sachverständigenrat, also den übrigen Mitgliedern des Rates, für die namentlich Prof. Dr. Herbert Giersch den Widerpart Stützels spielte, über die Zulässigkeit einer von einem Gutachten abweichenden Meinung, gemeinhin Sondervotum genannt, entscheiden sollte. Obwohl die Rechtslage nach § 3 Abs. 2 Sachverständigenratsgesetz klar war18, war man im Rat nicht bereit, Stützels Votum in das Gutachten aufzunehmen, weil man es für „falsch“ hielt. Erbittert wurden die Streitigkeiten geführt. Rechtsanwälte, Bundeswirtschaftsministerium und Bundespräsident wurden eingeschaltet. Der Streit eskalierte, die Medien berichteten genüsslich über die Kontroverse. Wer die Idee zum Schiedsgericht hatte, lässt sich nicht mehr eruieren, möglicherweise mein Kollege Werner Hoppe. Jedenfalls tagte es, verhandelte mündlich, vernahm Zeugen und entschied am 21. Mai 1973, wie nicht anders zu erwarten war, zu Gunsten der Zulässigkeit des Sondervotums19. Das Urteil fand große Aufmerksamkeit in anderen ähnlichen Gremien, nicht nur wegen der seltenen Ausnahme der Tätigkeit eines öffentlich-rechtlichen Schiedsgerichts gemäß §§ 168 Abs. 1 Nr. 5, 173 VwGO iVm § 1025 ZPO, weil beide Streitparteien über den Streitgegenstand verfügen konnten 20, sondern vor allem wegen der grundsätzlichen Aussagen zur Zulässigkeit von Sondervoten. 17 Ursprünglich „Steuerbeirat“, dann „Finanzpolitischer Beirat bei der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets“ genannt. 18 § 3 Abs. 2 lautete damals wie heute: „Vertritt eine Minderheit bei der Abfassung der Gutachten zu einzelnen Fragen eine abweichende Auffassung, so hat sie die Möglichkeit, diese in den Gutachten zum Ausdruck zu bringen.“ 19 Abgedruckt in DÖV 1973, 852; dazu Rupert Scholz, DÖV 1973, 843; Hans-Uwe Erichsen, VerwArch 65 (1974), S. 311 ff. 20 Näher Helmuth von Nicolai, in: Redeker / von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2010, § 40 Rn. 79; Dirk Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand 2011, § 40 Rn. 723; Christa M. Loos, Die Schiedsgerichtsbarkeit in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1984.
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Fritz Neumark war es dann, der mich 1975 dem Beirat beim Bundesministerium der Finanzen zur Kooptation vorschlug. Nach dessen positivem Votum berief mich der Bundesfi nanzminister im selben Jahr als Nachfolger meines verstorbenen Kollegen Friedrich Klein in dieses satzungsgemäß mit völliger Unabhängigkeit ausgestattete Beratungsgremium. Klein war neben dem prononcierten Steuerrechtler Heinz Paulick der einzige Jurist im Beirat. Über längere Zeit war ich das auch, bis der Beirat dann Hartmut Söhn, Johanna Hey und Christian Waldhoff kooptierte. Dennoch überwiegen die Finanzwissenschaftler, Volks- und Betriebswirte bei weitem. Die Zusammenarbeit mit ihnen verläuft in harmonischer Atmosphäre und führte mich bisweilen zurück zu meinen alten volkswirtschaftlichen Studien in Erlangen und München bei Rudolf Stucken, Werner Ehrlicher und Fritz Terhalle, wenngleich damals die Volkswirtschaftslehre noch den heute fast verflogenen Geist von Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack und anderen Klassikern atmete. Die neuen Richtungen – stark amerikanisch beeinflusst und mathematisch durchdrungen sowie englischsprachig dominiert – sind nicht immer „mein Ding“. Aber Wissenschaft muss sich fortentwickeln, was besonders für die Wirtschaftswissenschaften gilt; das heißt, auch die Neuerungen zu respektieren, zumal die neue Richtung auch in die die Gutachtenarbeit des Beirats begleitende Ministerialbürokratie eingezogen ist21. Von einem Juristenmonopol in Finanz- und Wirtschaftsministerien, wenn es je bestand, kann keine Rede mehr sein. Eine herausragende und nachhaltige Bedeutung erlangte für mich die Wahl in den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen 1976, die drei Mal für jeweils sechs Jahre wiederholt wurde, so dass ich eine Amtszeit von 24 Jahren erreichte. Zwar hat der NRW-Verfassungsgerichtshof keine Zuständigkeit für Individual-Verfassungsbeschwerden, sondern nur für Kommunal-Verfassungsbeschwerden, Wahlbeschwerden, Organstreitigkeiten und Normenkontrollen, aber die anfallenden Streitsachen waren dennoch sowohl der Quantität als auch der verfassungsrechtlichen Qualität nach groß genug, um einen gewichtigen Teil der Arbeitskraft in Anspruch zu nehmen. Entscheidend für mich bei der Wahrnehmung dieser richterlichen Aufgabe war die Beschäftigung mit einer Fülle von politisch und verfassungsrechtlich relevanten Fallkonstellationen, die man sonst nur bei Gutachtenaufträgen erleben konnte. Über Jahre hatte der Verfassungsgerichtshof mit der territorialen kommunalen Neugliederung zu tun, die die betroffene Bevölkerung tief bewegte und viel Verdruss über die allzu groß geplante Dimensionierung der Gemeinden und Kreise erregte. Das Gericht konnte trotz verfassungsrechtlich erarbeiteter Richtmaße, vor allem der Verhältnismäßigkeitsprüfung, nur krasse Fehlgriffe korrigieren. Ob ich immer richtig entschied, müssen andere beurteilen. Zumindest ein Fall, in dem meine Stimme den Ausschlag gab, bewegt mich in der Rückschau auch heute noch. Jedenfalls lernte ich die Verantwortlichkeit der Richter letzter Instanz kennen, die anderes Gewicht hat als die gutachterliche und wissenschaftliche Tätigkeit. Die Kontrolle der kommunalen Neugliederung setzte sich in der Prüfung der Sparkassenzu21 Die Gutachten sind abgedruckt in: Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen – Entschließungen, Stellungnahmen und Gutachten 1949–1973; ders. 1974–1987; ders. 1988– 1998; ders. 1999–2008.
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sammenschlüsse und -neuordnungen fort. Sie berührte mich besonders in Anbetracht meiner seit 1967 währenden Lehrtätigkeit in Bonn für den Nachwuchs der Sparkassenorganisation im Lehrinstitut der Sparkassenakademie, der heutigen Management-Akademie der Sparkassen-Finanzgruppe. Darüber hinaus hatten wir eine Fülle von Entscheidungen zur Finanz- und Haushaltsverfassung, insbesondere zur Finanzausstattung der Kommunen, zur Bildungsverfassung, zum Wahlrecht, etwa dem Wegfall der 5% -Klausel bei den Wahlen zu den Kommunalvertretungen, zu entscheiden 22. Als besonders spektakulär wurde das Urteil über die Verfassungswidrigkeit der Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium eingestuft; diese durfte nicht im Wege eines Organisationserlasses des Ministerpräsidenten erfolgen, sondern hätte aus Gründen der „Wesentlichkeitstheorie“ eines Gesetzes bedurft23. Insgesamt waren es 24 ereignisreiche Jahre, die ich im Verfassungsgerichtshof verbracht habe. Sie haben mir hervorragende praktische Anschauung von der Verfassungswirklichkeit und ihrer verfassungsgerichtlichen Kontrolle gebracht, vor allem aber viel Respekt vor den Richterkollegen, seien sie aus der Wissenschaft, wie die Kollegen Hans Brox, Martin Kriele und Bernhard Schlink, oder aus der Rechtsanwaltschaft, wie die auf tragische Weise durch einen Flugzeugunfall zu früh ums Leben gekommene Renate Schwarz, oder aus der Gerichtsbarkeit, wie Renate Jäger, die später in das Bundesverfassungsgericht und in den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berufen wurde, oder Hilde Brossok und Ernst Pottmeyer, die aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit kamen. Bestes Einvernehmen konnte ich mit den von Amts wegen dem Verfassungsgerichtshof angehörenden Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Münster und den Präsidenten der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Köln und Hamm gewinnen. Ihr in langer Richtertätigkeit gewonnenes Judiz hat mich stets beeindruckt. Da über die Zugehörigkeit das Lebensalter entschied (§ 2 Abs. 1 VerfGHG), konnte ich mit vielen Herren der ordentlichen Gerichtsbarkeit zusammenarbeiten, die genannt werden sollen, auch wenn sie anderen Rechtsdisziplinen verbunden waren als der Staatsrechtslehre: Herbert Asselborn, Otto Tiebing, Herbert Weltrich, Heinrich Wiesen, Klaus Bilda, Dieter Laum, Heinz Palm und Armin Lünterbusch. Als Gerichtspräsidenten erlebte ich die Herren Diether Bischoff, Max Dietlein und Michael Bertrams. Sie waren souveräne Vorsitzende in den mündlichen Verhandlungen und angenehme Leiter der Beratungen, denen höchste Sachkunde zu eigen war und die stets glänzend vorbereitet waren. Nicht von jedem Verfassungsgericht hört man Konfl iktfreiheit; das Nordrhein-Westfälische Gericht zeichnete sich durch ein höchst kollegiales, ja bisweilen freundschaftliches Verhältnis seiner richterlichen Mitglieder aus, in das auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter einbezogen waren, die uns tatkräftig unterstützten. Wissenschaftliches Arbeiten ausschließlich im Elfenbeinturm war nicht meine Sache. Ich nahm es ernst, ordentlicher öffentlicher Professor zu sein. Deswegen hatte ich 22 Vgl. Michael Bertrams, 60 Jahre Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, NWVBl. 2012, 81 ff. 23 VerfGH NRW, OVGE 47, 280 = NWVBl. 1999, 176; zustimmend u. a. Andreas von Arnauld, AöR 124 (1999), S. 658 ff.; ablehnend P. J. Tettinger, in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 52 Rn. 44 ff. m. w. N.; Klaus Schönenbroicher, in: Heusch/Schönenbroicher, Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art. 52 Rn. 19 ff.
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von Anfang an Kontakte zu den Medien, insbesondere Presse, Rundfunk und Fernsehen, denen ich zu Interviews und Beiträgen zur Verfügung stand. Im Hearing des Bundestages zum Gesetz über die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten der größeren Unternehmen lernte ich Dr. Henning Frank kennen, der in den überregionalen Zeitungen schrieb und vor allem im Deutschlandfunk über staatspolitische und juristisch relevante Ereignisse berichtete. Ich war oftmals sein Interviewpartner, meist zusammen mit Politikern aller Couleur, gewissermaßen der neutrale Experte. Ein wenig älter als ich, verlor er in der Normandie 1944 ein Bein, war aber im journalistischen Metier voll aktiv, dem er sich zunächst in Sachsen, nach der Promotion bei Werner Weber in Leipzig und nach der notwendigen Flucht wegen seiner oppositionellen Haltung in Bonn widmete. Seine vita activa fand meine Bewunderung; wir wurden Freunde, wirkten vielfach bei den vom rheinland-pfälzischen Justizminister Otto Theisen gegründeten Bitburger Gesprächen zusammen, wo ich mehrfach referierte und abends mit den Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Gebhard Müller und Ernst Benda sowie dem Bundesverfassungsrichter Walter Rudi Wand und anderen wichtigen Persönlichkeiten Skat spielte oder – ohne Leidenschaft – an Kegelrunden teilnahm. Entscheidend für die öffentliche Wirksamkeit wurde jedoch die Vortragstätigkeit. Bei fast allen juristischen Studiengesellschaften war ich eingeladen, bei der Berliner sogar zweimal, darunter 1984 zum Festvortrag anlässlich des 125jährigen Jubiläums. Ich sprach über „Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit“ – ein Thema, das ich mir in der großartigen Bibliothek der Harvard Law School erarbeitet hatte mit historischen Trouvailles, die selbst amerikanische Kollegen überraschen 24. Festvorträge hielt ich u. a. auch in der Paulskirche zum 100jährigen Jubiläum der Reichsrechtsanwaltsordnung auf Einladung der Bundesrechtsanwaltskammer 197925, beim 75jährigen Jubiläum des Deutschen Städtetags in der Stadthalle von Bad Godesberg auf Einladung des Geschäftsführenden Präsidialmitglieds Dr. Bruno Weinberger 26 und in Köln bei der Rheinischen Notarkammer zu deren 50jährigen Bestehen 27 sowie zum 40jährigen Jubiläum des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen 1989 in Münster28 und in Frankfurt (M) zum Festakt „275 Jahre Finanzkontrolle in Deutschland“ ebenfalls 198929, um nur wichtigste Ereignisse in Deutschland zu nennen. Besonders ließ ich mir angelegen sein, deutsches Verfassungsrecht, namentlich seine Prinzipien und Leitgrundsätze im Ausland vorzutragen. Es begann wohl kurz 24 Vgl. Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 91, 1984 = H. Siekmann (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes, 1992, S. 995. 25 Vgl. Anwaltschaft und Verfassungsstaat, in: Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer, Heft 1, 1980 = ebda. S. 76. 26 Vgl. Gemeindeselbstverwaltung und Staatsverfassung, in: Neue Schriften des Deutschen Städtetags, Heft 43, 1989 S. 35 ff. = ebda. S. 881. 27 Vgl. Von der Kaiserlichen Notariatsordnung zum Grundgesetz – das Notariat im deutschen Verfassungsrecht, in: MittRhNotK 1999, S. 365 ff. = P. J. Tettinger / M. Sachs (Hrsg.), Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft, 2002, S. 703. 28 Das Grundgesetz im fünften Jahrzehnt seiner Geltung – Erfüllte und unerfüllte Verfassungserwartungen, in: NWVBl. 1990, 1 ff. = ebda. S. 645. 29 Bundesrechnungshof und Finanzkontrolle aus verfassungsrechtlicher Sicht, DÖV 1990, 261 = ebda. S. 665.
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nach meiner Berufung nach Köln auf Einladung von Karl Korinek, der später Präsident des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs wurde, an der Universität Graz. Die mir später sehr am Herzen liegende Verbindung mit der österreichischen Verfassungsrechtswissenschaft wurde besonders vertieft durch die Freundschaft mit Herbert Schambeck, dem Linzer Kollegen, Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundesrates der Republik Österreich. Er lud mich in seine Universität und mehrfach als Präsident in die österreichisch-deutsche Kulturgesellschaft ein, zuletzt im Mai 2012. Als glänzender Redner mit unübertroffener Improvisationsgabe sprach er auf der Feier zu meinem 65. Geburtstag anlässlich der Übergabe der Festschrift „Verfassungsstaatlichkeit“30 und neben Bundesverfassungsrichter a.D. Udo Steiner zur Vollendung meines Staatsrechts in Köln im Dezember 201031. In das europäische Ausland führten mich ferner neben der Schweiz, Frankreich und Griechenland vor allem Einladungen nach Spanien, Italien und Polen zu zahlreichen Vorträgen und Konferenzen. In Spanien gewann ich viele Kolleginnen und Kollegen als Freunde, darunter den leider zu früh verstorbenen Kollegen Sebastián Martín-Retortillo, der schon 1958 als Assistent bei mir in München war, den Präsidenten des spanischen Verfassungsgerichtshofs Truyol y Serra, die Kollegen Antonio Jiménez Blanco, ebenfalls Gast bei mir in Köln wie auch Pedro Cruz-Villalón, Carlos Vidal Prada, Alberto Oehling de los Reyes, Francisco Fernández Segado und andere mehr. Im Februar 2012 konnten wir uns wieder in dem von Christian Pielow und Antonio Jiménez Blanco gegründeten spanisch-deutschen Gesprächskreis zum öffentlichen Recht in Baeza treffen, um das höchst aktuelle Thema „Staatsverschuldung“ zu erörtern. Bedingt durch italienische Sprachkenntnisse wurden engste Verbindungen nach Italien geknüpft, das ich seit meiner ersten Italienreise 1950 zu lieben und zu schätzen wusste. Vittorio Italia lernte ich schon bei seinem Forschungsaufenthalt in München 1959/60 als Assistenten kennen. 2009 sprach ich bei seinem 70. Geburtstag an der Universität Mailand 32. Er rezensierte mein Staatsrecht in italienischen Fachzeitschriften und veranstaltete in Abano Terme zusammen mit der Stadt, die meine Frau und ich als „Kurschatten“ so oft der Gesundheit wegen aufsuchten, eine Feier zur Vollendung des Staatsrechts, die mir sehr zu Herzen ging. Stelio Mangiameli, Professor zunächst in Catania, dann in Teramo, wo ich jeweils Vorträge hielt, und jetzt in Rom gehört seit 1987 nach einem Treffen der Humboldt-Stipendiaten in Bologna zum engeren Freundeskreis, ebenso Erminio Ferrari, ehedem in Ferrara und Pavia und jetzt in Mailand, und Alessio Zaccaria, früher in Ferrara und jetzt in Verona. So wie ich an ihren Universitäten redete, hielten sie bei mir in Köln Vorträge. Es war eine für mich besonders feierliche Stunde, als mir die Juristische Fakultät der aufstrebenden Universität Verona anlässlich des 10jährigen Jubiläums der Juristischen Fakultät den Eh-
30 Vgl. Freundesrede zum 65. Geburtstag, Privatdruck, hrsgg. von Klaus und Helga Stern, 1997. Die Reden anlässlich der akademischen Feier von Joachim Burmeister, Kurt Eichenberger und Hans Dieter Beck sowie den Amtsträgern der Universität sind in dem vom Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft herausgegebenen Band publiziert. 31 Präsentationsfeier zur Vollendung des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland von Klaus Stern am 10. Dezember 2010, Privatdruck. 32 In: Vittorio Italia, Scritti Scelti, 2009, S. IX–XVII.
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rendoktor verlieh. Der damit verbundene Besuch der Festspiele in der Arena bleibt unvergesslich. Engste Freundschaftsbeziehungen bestehen zu Diana-Urania Galetta, Kollegin an der Mailänder Universität, und ihrem Mann Jacques Ziller, Kollege an der Universität der alten kaisertreuen Stadt Pavia, der durch stupende Sprachkenntnisse meine Bewunderung erregt, da er mühelos vom Deutschen ins Italienische, von da ins Französische oder Englische zu wechseln vermag. Frau Galetta, Humboldt-Stipendiatin seit 1999, gehört zu den bedeutenden Kennern des Rechts der Europäischen Union, schreibt in drei Sprachen – italienisch, deutsch und englisch – und wurde deshalb mit vollem Recht ebenso wie ihr Mann 2011 in die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer aufgenommen. 2012 durfte ich wieder ihr Gastgeber in Köln sein, wohl zum vierten Mal, und in Erinnerung rufen, dass sie vor 10 Jahren auf der Akademischen Feier am 14. Juni 2002 in der Universität zu Köln zur Präsentation meiner „Ausgewählten Reden“ den Festvortrag „Klaus Stern und das Europäische Verfassungs- und Verwaltungsrecht“ gehalten hat 33. Eine interessante Verbindung entstand sehr frühzeitig auch zu Polen. 1967 bewarb sich ein junger Assistent aus Lódz, Witold Goralski, für einen Forschungsaufenthalt bei mir, um eine Dissertation über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu völkerrechtlichen Verträgen anzufertigen. Ich nahm ihn, obwohl zu diesem Zeitpunkt die deutsch-polnischen Beziehungen nicht die allerbesten waren, gern auf, weil ich glaubte, dass menschliche und wissenschaftliche Kontakte wichtig sind auch für die Aussöhnung mit ehemaligen Kriegsgegnern, besonders mit Polen, in dessen tiefer Schuld wir Deutsche stehen. Er und der Akademische Rat des Kölner Universitätsinstituts für Ostrecht, Dr. Alexander Uschakow, vermittelten dann weitere Kontakte auf Reisen zu Vorträgen und Kongressen in Breslau, Warschau, Danzig, Krakau, Posen. Es kam zu denkwürdigen Begegnungen, u. a. mit Anhängern der gerade aufgekommenen Solidarnosz-Bewegung, mit erstklassigen Wissenschaftlern wie Senator und Verfassungsrichter Kazimierz Działocha34, Leszek Garlicki35, Janusz Trzcinski, Konrad Nowacki, Miroslaw Wyrzykowski, Mílan Smíd, Boguslaw Banaszak und vielen anderen. Nach der „Wende“ war ich mit unserem „Ostrechtler“ Georg Brunner, dem Nachfolger von Boris Meissner, zu einer eindrucksvollen Gesprächsrunde mit den Mitgliedern des neu geschaffenen polnischen Verfassungsgerichtshofs in Warschau eingeladen, um über die Frage, ob man in Polen, Deutschland vergleichbar, eine Individualverfassungsbeschwerde einrichten solle, zu diskutieren. Mehr als die Hälfte der polnischen Richter waren der deutschen Sprache mächtig, hatten an deutschen Universitäten geforscht, waren mit der deutschen verfassungsrechtlichen Literatur ver33 In: Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Klaus Stern, Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft, hrsgg. von P. J. Tettinger und M. Sachs, Akademische Feier zur Präsentation des Buches, hrsgg. aus Anlass des 70. Geburtstages, 2002. Darin auch die Rede des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes des Landes NRW Michael Bertrams „Klaus Stern und die Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen“ und die Vorstellung des Buches „Klaus Stern, ‚Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft‘“ durch Michael Sachs. 34 Am 30. Januar 2012 feierten wir mit der Übergabe einer Festschrift seinen 80. Geburtstag im Oratorium Marianum der glanzvoll wiederhergestellten Breslauer Universität und einem wissenschaftlichen Symposium, dem zu präsidieren ich die Ehre hatte. 35 Jetzt Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
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traut. Es war ein Gewinn für beide Seiten, auf hohem Niveau diskutieren zu können. Wie man die alten Universitätstraditionen in Polen aufrechtzuerhalten wusste, erlebte ich am 13. November 1987, als mir in feierlicher Form in der berühmten Aula Leopoldina der Breslauer Universität die Ehrendoktor-Würde verliehen wurde, für die ich mich in einer einstudierten Rede in polnischer Sprache bedankte. Neben den europäischen Kontakten dürfen die Verbindungen nach Brasilien, Südafrika, den Vereinigten Staaten von Amerika und Nordostasien – Japan, Südkorea und Taiwan – nicht vergessen werden. Sie gingen in allen Fällen von diesen Ländern aus, wurden dann aber mit wachsender Intensität von mir vertieft. Kolleginnen, Kollegen, ja Freunde habe ich dort viele gewonnen. In Brasilien war es vor allem der große Verfassungsrechtler und Verfassungshistoriker dieses Landes, Paulo Bonavides, der mehrmals auch in Köln war und korrespondierendes Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie in Düsseldorf wurde, mit dem ich engste Kontakte pflegte. Mehrfach hielt ich an seiner Universität Fortaleza im Bundesstaat Ceará, die mir in einer der deutschen Universitätstradition entsprechenden eindrucksvollen Feier am 10. August 1991 den Ehrendoktortitel verlieh, Vorträge sowie auf dem Jubiläumskongress der einflussreichen Brasilianischen Rechtsanwaltsvereinigung in Rio de Janeiro. In Südafrika lud man mich in nahezu alle Universitäten dieses schönen und weiten Landes vor und nach der politischen Wende zu Vorträgen ein wie umgekehrt viele Südafrikaner bei mir zu Gast waren. Genannt seien Marinus Wiechers, Rektor der Unisa, der Fernuniversität Südafrikas, in Pretoria, André van der Walt (Universität Stellenbosch), Johan van der Walt (jetzt Universität Luxemburg, früher Rand Afrikaans Universität), André Thomashausen (Universität Pretoria) und viele andere. Unter ihnen sind vor allem der Germanist Klaus Köhnke und seine Frau zu nennen, mit denen wir freundschaftliche Verbindungen hielten, sowie die Verwandten meiner Frau, die nach Südafrika ausgewandert waren. Die Besuche anderer Universitäten in der Kapprovinz, in Natal und Zululand ließen mich die komplexen Probleme des Landes kennenlernen. Der Besuch des Obersten Gerichtshofs in Bloemfontein und später die Gespräche mit dem neu errichteten Verfassungsgerichtshof werden unvergesslich bleiben. Die Kölner Rechtswissenschaftliche Fakultät hatte 1956 ein Partnerschaftsabkommen mit der Law School der Universität Berkeley (USA) abgeschlossen, an der viele emigrierte deutsche Rechtswissenschaftler tätig waren, darunter Hans Kelsen, kurzzeitig auch an der Kölner Fakultät, die sich engagiert gegen seine Entfernung aus dem Amt durch die Nationalsozialisten wehrte36, Stephan Kuttner, David Daube, Stephan Riesenfeld, Melvin Eisenberg, Richard Buxbaum. Zwei Mal hielt ich mich dort zu Forschungsaufenthalten auf und machte mich mit dem amerikanischen Verfassungsdenken durch eigene Forschungen und in Gesprächen mit John E. Coons, Jesse Choper und anderen vertraut. Gleichzeitig besuchte ich bekannte Kollegen an den Universitäten Harvard, Yale, Princeton, Columbia, Baltimore, wo ich den leider 2000 verstor36
Das diesbezügliche Protestschreiben an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, das alle Fakultätsmitglieder mit Ausnahme von Carl Schmitt unterschrieben, blieb erfolglos, setzte aber ein Zeichen; vgl. M. Jestaedt (Hrsg. in Koop. m. d. Hans-Kelsen-Institut), Hans Kelsen, Werke, Bd. I, 2007, S. 79 Fn. 240.
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benen Kollegen Gerd Ehrlich als Freund gewann, der mehrfach in Köln war, und San Diego, an deren Law School mein Freund Joe Darby, ein Sprachgenie, wirkte. Bei dem von Paul Kirchhof und Donald P. Kommers veranstalteten Kongress zum 40jährigen Jubiläum des Grundgesetzes und zum 200jährigen Jubiläum der amerikanischen Verfassung in Washington hatte ich die Ehre, mit Chief Justice William Rehnquist und anderen bedeutenden amerikanischen Juristen ins Gespräch zu kommen37. Ansatzpunkt waren meine Ausführungen zur amerikanischen Verfassung und ihrem Einfluss auf das Grundgesetz in meinem Vortrag „Das Grundgesetz – eine grundsätzliche Bewertung aus deutscher Sicht.“ Reichten meine Kontakte im Westen bis Brasilien und die Vereinigten Staaten von Amerika, so kam aus dem fernen Osten vor allem Japan in mein Blickfeld. Junge japanische Wissenschaftler, mittlerweile allesamt Professoren, wie Hidemi Suzuki, Go Koyama, Atsushi Takada, Sohn des mit Deutschland sehr eng verbundenen Prof. Dr. Bin Takada, bei Carl Hermann Ule promoviert, Atsuhiro Maruyama, Masahiro Akasaka, Akira Morita, Toshiyuki Okada, Kônosuke Kimura und Masahisa Deguchi, um nur einige wenige zu nennen, kamen seit den 80er Jahren zu mir nach Köln zu Forschungsaufenthalten. Sie waren Schüler bedeutender japanischer Wissenschaftler, besonders der Professoren Akira Ishikawa, Hiroshi Shiono, Koji Tonami und Seiichi Taguchi, einem der führenden Verfassungsrechtler Japans, der mich und meine Frau 1987 als Gast der Japanischen Forschungsgemeinschaft nach Japan, besonders Tokyo und Umgebung, aber auch Kyoto und Osaka, einlud, um das Land und seine vielen staatlichen und privaten Universitäten und die dort forschenden und lehrenden Wissenschaftler und Studierenden kennenzulernen. Glaubten wir anfänglich, es würde unsere einzige Reise nach Japan werden, so irrten wir uns gewaltig. Wir wurden begeistert aufgenommen; Verehrung und Freundschaft schlugen uns überall entgegen. Die so positive Einschätzung Japans meines Freiburger Kollegen Wilhelm Grewe, zugleich deutscher Botschafter in Tokyo von 1971 bis 1976, mit dem ich später im Vorstand der Deutschen Atlantischen Gesellschaft saß, traf in vollem Umfang zu. Mittlerweile sind es acht Besuche geworden, verbunden mit vielen Vorträgen, u. a. an den Universitäten Keiô, Waseda, Nihon, Sophia, Osaka, Kyoto und vielen anderen, und der Teilnahme an mehreren Kongressen, die zu vertieften wissenschaftlichen und persönlichen Verbindungen und zu wechselseitigen Besuchen führten. Ich gewann dort zahlreiche „ferne Gefährten“38, um einen anderen deutschen Botschafter, Günter Diehl, zu zitieren, denen ich dankbar bin, dass sie mich in Wissenschaft, Kultur und Lebensweise Japans eingeführt haben. Aus vielerlei historischen und aktuellen Gründen hat das deutsche Verfassungsrecht mit dem japanischen „kempô“, dem japanischen Wort für Verfassungsrecht, sehr interessante Berührungspunkte, die aufzuzählen hier nicht der Ort ist 39. Es ge37 Vgl. Paul Kirchhof / Donald P. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz: Themen einer deutsch-amerikanischen Konferenz, Edition Dräger-Stiftung, Bd. 13, 1993; in englischer Sprache, ebda., Bd. 14. 38 Neben den schon Genannten vor allem die Professoren Hiroaki Kobayashi, Yoriaki Narita, Toshiyuki Munesue, Toru Mori, Noriko Kokubun, Hisao Kuriki, Nozomu Shimizu sowie den großzügigen Förderer der Beziehungen zwischen japanischen und deutschen Juristen Ichigaku Kawanaka. 39 Vgl. K. Stern, Deutschland und Japan als Verfassungsstaaten, in: Nihon University (Hrsg.), Com-
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nügt darauf hinzuweisen, dass die geltenden Verfassungen beider Staaten in Besatzungszeiten entstanden und nicht frei von amerikanischen Einflüssen sind, die in Japan um vieles stärker waren als in Deutschland; denn die Japanische Verfassung von 1946 darf als von der amerikanischen Besatzungsmacht oktroyiert bezeichnet werden40. Mittlerweile hat – wie ich es bei meinem ersten Besuch ausdrückte – die „Japanisierung der Japanischen Verfassung“ zugenommen und die nach preußischem Vorbild unter Hermann Röslers Federführung entstandene Meiji-Verfassung von 1889 wieder Gewicht bekommen und sich dadurch eine auch moderne Hinwendung zur deutschen Verfassungsrechtsdogmatik, namentlich der Grundrechtsdogmatik, herausgebildet41. In diesem Lichte fanden meine Beiträge in Wort und Schrift stets größte Aufmerksamkeit, nicht zuletzt dank vorzüglicher Übersetzungen der japanischen Kolleginnen und Kollegen, und ihre wissenschaftliche Krönung in der Übersetzung wichtiger Teile meines Staatsrechts in zwei Bänden. Persönlich fühlte ich mich besonders geehrt durch die Berufung zum Ehrenmitglied der Japanischen Akademie der Wissenschaften 2007, bei der mein Freund und Kölner Ehrendoktor Hiroshi Shiono, Professor an der (Staatlichen) Universität Tokyo, Pate bei meiner Aufnahme war und Gespräche und Dankesworte an das Präsidium der Akademie unter Vorsitz der Professoren Nagakura Saburô und Kubo Masaaki übersetzte. 2009 verlieh mir die international hoch angesehene Keiô-Universität den Ehrendoktor in einer eindrucksvollen Feierstunde, in der ich zur Überraschung aller meine Dankesworte nach hartem Training mit meiner „Lehrerin“ Professorin Hidemi Suzuki in Japanisch sprach. Im September 2011 besuchten meine Frau und ich das durch Erdbeben, Tsunami und Atomkraftwerksschäden schwer getroffene Land erneut auf dem Weg zum dritten Symposium des deutsch-nordasiatischen Gesprächskreises der Fritz Thyssen Stiftung, die zwei Jahre vorher nach Tokyo und erstmalig 2007 nach Seoul eingeladen hatte, nach Taipeh (Taiwan), wo Frau Professorin Tzung-Jen Tsai und ihre Kollegen42 glänzend die Tagung zum höchst aktuellen Thema „Wirtschaftlicher Wettbewerb versus Staatsintervention“ ausrichteten. In Japan wollten wir uns überzeugen, ob es allen japanischen Freunden gut ginge, und gleichzeitig Jürgen Christian Regge, den Vorstand der Fritz Thyssen Stiftung, bei der Übergabe einer Spende für die Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der schwer geschädigten Tohoku-Universität in Sendai nahe Fukushima assistieren. Auf diese Weise haben deutsche Rechtswissenschaftler und die für sie so wichtige Stiftung ihre Verbundenheit mit den japanischen Wissenschaftlern in schwerster Stunde zum Ausdruck bringen und die Dankbarkeit vieler Betroffener erleben dürfen.
parative Law, 2007, S. 95 ff.; ders., Weltweite Verfassungsentwicklungen und neue Verfassungsentwicklungen, in: ebda. 2001, S. 99 ff. 40 K. Stern, Verfassungsreformpläne in Deutschland und Japan, in: ebda. 2006, S. 1 ff. 41 Vgl. K. Stern, Die Schutzpfl ichtenfunktion der Grundrechte. Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, 241 ff.; Yoichi Higuchi, Die rechtsdogmatische Wiederentdeckung des Axioms der „Modernität“ und ihre Probleme, DÖV 2010, 249 ff. 42 Darunter Prof. Chien-liang Lee, der in der Festschrift zu meinem 80. Geburtstag über die Verfassungsrechtsordnung Taiwans unterrichtet (ebda., S. 1097 ff.).
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III. Forschungsschwerpunkte Wem aufgegeben ist, über Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen zu schreiben, dem ist auch auferlegt, nicht nur über Persönliches zu berichten, sondern auch über seine Forschungsgebiete und seine wichtigsten Publikationen43. Das fällt nicht ganz leicht; denn allzu oft gerät eine solche Darstellung in die Nähe der Selbstbelobigung. Zurückhaltung ist also am Platz; der Verweis auf die Einschätzung anderer ist angebracht. Sie kommt am besten zum Ausdruck in den Vorworten, von Helmut Siekmann 1992 anlässlich der Herausgabe der Ausgewählten Schriften und Vorträge unter dem Titel „Der Staat des Grundgesetzes“ und von Peter J. Tettinger 2002 in den „Ausgewählten Reden“, die er zusammen mit Michael Sachs herausgegeben hat und die das Motto auch dieses Essays tragen: „Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft“. Gleichermaßen haben mein wissenschaftliches Oeuvre meine ehemaligen, langjährigen Mitarbeiter in Berlin und Köln unter Federführung von Joachim Burmeister, 1999 zu früh verstorben, im Geleitwort zur Festschrift zum 65. Geburtstag44 und Michael Sachs im Geleitwort zur Festschrift zum 80. Geburtstag gewürdigt45. Kurt Eichenberger, Herbert Schambeck und Hans-Ulrich Büchting wussten bei der festlichen Übergabe 199746 sowie Rainer Willeke, Barbara Grunewald, Wolfgang Knies, Michael Sachs und Helmut Siekmann 201247 zu viel des Guten über mich zu berichten. Gleiches gilt für die schönen Worte, die Diana-Urania Galetta, Michael Bertrams und Michael Sachs 2002 gefunden haben48. Dennoch will ich nicht zögern, die Grundgedanken und Grundprinzipien darzustellen, die mich bei meiner wissenschaftlichen Arbeit geleitet haben. Guten Ratschlägen folgend, war es zunächst das Verwaltungsrecht, das am Beginn des Forschens und Publizierens stand. In diesem Sinne war es nicht überraschend, dass mir in Berlin Otto Ziebill, ehedem Nürnberger Oberbürgermeister und Präsident des Deutschen Städtetages, die Mitdirektion des vom Deutschen Städtetag getragenen Kommunalwissenschaftlichen Forschungszentrums anbot. Dort kam ich mit ihm und seinem Mitarbeiter Wolfgang Haus sowie mit den Direktoren-Kollegen Hans Peters, Ulrich Scheuner, Hans Herzfeld, Wolfgang Gunzert, Karl-Heinrich Hansmeyer in engeren Kontakt sowie über den Kommunalwissenschaftlichen Arbeitskreis mit weiteren Professoren, u. a. dem scharfzüngigen Arnold Köttgen und dem grandsenioralen Werner Weber, sowie vielen Praktikern, darunter Oberbürgermeister Alfred Dregger und Bruno Weinberger, dem späteren Geschäftsführenden Präsidialmitglied des Deut43 S. dazu auch K. Stern, Staats- und Verwaltungsrecht, in: Christoph Schneider (Hrsg.), Forschung in der Bundesrepublik Deutschland: Beispiele, Kritik, Vorschläge, 1983, S. 267 ff. 44 Joachim Burmeister (Hrsg.) mit Michael Nierhaus, Günter Püttner, Michael Sachs, Helmut Siekmann, Peter J. Tettinger, Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997. 45 M. Sachs / H. Siekmann (Hrsg. in Verbindung mit H.-J. Blanke, J. Dietlein, M. Nierhaus, G. Püttner), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Klaus Stern, 2012. 46 Vgl. Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Akademische Feier aus Anlass der Überreichung einer Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Dres. h.c. Klaus Stern, 1997; Herbert Schambeck, Freundesrede zum 65 Geburtstag anlässlich der Übergabe der Festschrift, Privatdruck. 47 Vgl. die Reden anlässlich der Präsentation der Festschrift vom 21. April 2012, Privatdruck. 48 Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Akademische Feier vom 14. Juni 2002 zur Präsentation des Buches „Klaus Stern, Im Dienste von Recht Staat und Wissenschaft“, 2002.
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schen Städtetages, mit dem uns alsbald freundschaftliche familiäre Beziehungen verbanden. Als Mitarbeiter unterstützte mich damals Günter Püttner, später Herausgeber des mehrbändigen Handbuchs der Kommunalen Wissenschaft und Praxis. Wissenschaftlich sind in der Berliner Zeit wichtige energiewirtschaftsrechtliche und kommunalrechtliche Veröffentlichungen entstanden49, namentlich zusammen mit Günter Püttner die ausführliche Darstellung „Gemeindewirtschaft – Recht und Realität“ sowie meine umfassende Kommentierung des Art. 28 GG im Bonner Kommentar, die sich nicht lediglich auf das reine Verfassungsrecht der kommunalen Selbstverwaltung bezog, sondern weit in das einfache Kommunalrecht ausgriff und – wohl erstmals – die Verbindungslinien dieser Materie zum Recht der Europäischen Gemeinschaft hergestellt hat. Dabei habe ich bereits damals „eine lebenskräftige Gemeinde“ zu den Rechtswerten des Art. 79 Abs. 3 GG gezählt und Maßnahmen europäischer Organe, die „die kommunale Selbstverwaltung in ihrer Wurzel träfen oder die Struktur der deutschen Gemeinde radikal veränderten“, für rechtsunwirksam erklärt50. Heute ist dies nach h. M. durch Art. 4 Abs. 2 EUV – „lokale Selbstverwaltung“ – als identitätsbegründetes Merkmal der Mitgliedstaaten sichergestellt51. Das Kommunalrecht, ergänzt um das Sparkassenrecht, verlor ich auch in Köln nicht aus den Augen, nicht zuletzt deshalb, weil die in den 70er Jahren einsetzende territoriale Neugliederung der Gemeinden und Kreise in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland sowie die Fusionen der Sparkassen politisch und rechtlich ein äußerst strittiges Thema wurden, das Verwaltungsrechtler und Verwaltungswissenschaftler über Jahre herausforderte und mich später – wie gezeigt – auch am Verfassungsgerichtshof beschäftigte. Noch in Berlin kamen die Ermessenslehre52 und das Verwaltungsprozessrecht in mein Blickfeld. In der gerade für Studenten neu geschaffenen Zeitschrift „Juristische Schulung ( JuS)“ widmete ich den „Verwaltungsprozessualen Grundproblemen in der öffentlich-rechtlichen Arbeit“ Aufmerksamkeit, um den Studierenden bündig den zusammengefassten Lehrstoff im Verwaltungsprozessrecht für Hausaufgaben und Klausuren in Übung und Examen an die Hand zu geben, gewonnen aus der Erfahrung eigener Vorlesungen und Übungen. Der Erfolg der Serie führte dazu, die Darstellung zu einem Buch in der Schriftenreihe der Juristischen Schulung (Band 3) zu erweitern, das zwischen 1972 und 2000 acht Auflagen erfuhr, ehe ich es Hermann-Josef Blanke, Universität Erfurt, zur Fortsetzung übertrug53, weil ich die Vollendung des Staatsrechts als vordringliche Aufgabe ansah. Der Abschied von dieser über Jahrzehnte gepflegten Vorlesung zum Verwaltungsprozessrecht und deren publizistischer Verarbeitung fiel mir nicht leicht. 49 Die verfassungsrechtliche Position der kommunalen Gebietskörperschaften in der Elektrizitätsversorgung – eine Schrift, mit der ich zugleich die Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre begründete, die mittlerweile mehr als 80 Bände umfassen, zunächst Verlag Franz Vahlen, der vom Verlag Beck übernommen wurde, jetzt Nomos-Verlag, Baden-Baden. 50 Vgl. K. Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 28 Rn. 75. Eine Neubearbeitung ist bis heute noch nicht erfolgt. 51 Vgl. Rudolf Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn. 16. 52 Vgl. Ermessen und unzulässige Ermessensausübung – Vortrag auf der Tagung der Deutsch-Französischen Juristenvereinigung in Paris, 1964, sowie BayVBl. 1964, 381 ff. 53 Jetzt in 9. Aufl age 2008 unter dem Titel „Verwaltungsprozessrecht in der Klausur“ von Stern/ Blanke publiziert.
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Im ersten Wintersemester meiner Tätigkeit an der Kölner Universität 1966/67 wurde im Bund die „Große Koalition“ aus CDU/CSU und SPD gebildet. Sie sollte die Bundesrepublik aus ihrer Rezession nach 1½ Jahrzehnten Wirtschaftsaufschwung, wirtschaftspolitisch initiiert durch Ludwig Erhard und wirtschaftstheoretisch mit der Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“ vorbereitet durch den Kölner Universitätsprofessor Alfred Müller-Armack, der Erhards Staatssekretär wurde, auf der Grundlage der Vorarbeiten der sog. Ordoliberalen um Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Friedrich August von Hayek, Alexander Rüstow und anderen herausführen. Franz-Josef Strauß und Karl Schiller, seines Zeichens Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, entfachten ein wirtschaftspolitisches und wirtschaftswissenschaftliches verbales Feuerwerk. Neue Begriffe wie gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, globale Wirtschaftssteuerung, Konjunkturprogramm, Konjunktursteuerung, Konjunkturausgleichsrücklage, antizyklische Finanzpolitik, konzertierte Aktion etc. beherrschten die öffentliche Diskussion. Das Grundgesetz wurde geändert und wirtschaftspolitisch aufgeladen: In Art. 109 und in Art. 115 wurde die Verpfl ichtung von Bund und Ländern auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und eine neuartige Begrenzung der staatlichen Kreditaufnahme eingeführt. Neue Gesetze wurden zur Ausführung der Verfassungsbestimmungen notwendig, darunter vor allem das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom 8. Juni 1967. Angeregt von Paul Münch, Beigeordneter im Verband kommunaler Unternehmen in Köln, übernahm ich sofort die Kommentierung des Gesetzes, die Münch als Mann der Wirtschaftspraxis ergänzte. Das Buch erschien noch im Jahr des Inkrafttreten des Gesetzes und erfuhr unter Beiziehung von Karl-Heinrich Hansmeyer, Ordinarius für Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln, 1972 eine zweite Auflage. Die wegen der Neuartigkeit des Begriffsarsenals und der gesetzespositiven Ausgestaltung wirtschaftswissenschaftlicher Theoreme schwierige Auslegung der Vorschriften bereitete mannigfaches Kopfzerbrechen. Aber es entstand ein stattliches Werk von annährend 400 Seiten, das auch den Deutschen Juristentag 1968 veranlasste, eine Abteilung zum Thema „Konjunktursteuerung und kommunale Selbstverwaltung – Spielraum und Grenzen“ einzurichten, in der ich das Gutachten zu erstatten hatte54. Mit dem Stabilitätsgesetz wollte man ein Instrumentarium schaffen, um das „magische Viereck“ von „Stabilität des Preisniveaus, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ (§ 1 Satz 1 StWG) zu bewältigen. Dem Staat wurde stärker als früher die Aufgabe des „crisis management“ durch einen wirtschafts- und fi nanzpolitischen „pouvoir actif “ übertragen. Von wirtschaftswissenschaftlicher Seite wurde das Gesetz als „Magna Charta der modernen Konjunkturpolitik“ gefeiert 55. Diesen Enthusiasmus, der vorwiegend von den politischen Initiatoren des Gesetzes zur Schau getragen wurde, vermochte ich nicht zu teilen. Sehr bald machte sich auch in der Politik Ernüchterung Platz, weil das Gesetz zwar zur Überwindung der Rezession griff, aber bei der notwendigen Eindämmung einer überschäumenden Konjunktur scheiterte, da man die bremsenden Instrumente des Gesetzes nicht anzuwen-
54 55
Gutachten E zum 47. Deutschen Juristentag, 1968. Fritz Neumark, FinArch 28 (1969), S. 321.
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den wagte. Heute ist das Gesetz praktisch vergessen56, obwohl manche Instrumente nach wie vor sinnvoll sind. In der gegenwärtigen europäischen, wenn nicht internationalen Finanzkrise dramatischen Ausmaßes wären sie allerdings unzureichend. Eine überbordende Staatsverschuldung war bei den Reformen 1967 und 1969 noch kein Problem, ebenso wenig eine Krise systemrelevanter Banken. Weltweite Interdependenzen prägen heute Wirtschafts-, Banken- und Finanzsystem; sie rufen geradezu nach einer Neuordnung. Was ich 1968 schrieb, gilt in der Gegenwart zumindest für die Europäische Union: „Weit über das Maß einer staatlichen Rahmenordnung hinaus dirigiert der Staat heute das wirtschaftliche Geschehen, oder er paktiert mit der Wirtschaft, je nach der ihm angemessen erscheinenden Methode. Da dieser Staat aber ein durch und durch verfasster Staat ist, bedürfen seine Handlungen auch in Bezug auf die Wirtschaft rechtsnormativer Absicherung“57. Was hier für den Staat gesagt wurde, gilt gleichermaßen für die Europäische Union; auch sie ist durch Vertragsnormen gebunden, die beiseitezuschieben den Handelnden nicht gestattet ist. Indessen tun sie es und glauben Politik über Recht setzen zu müssen58 – mit immer gewagteren Begründungen, denen das Bundesverfassungsgericht anfänglich allzu bereitwillig Glauben schenkte59. Nicht überraschend kommt daher der Ruf, zu den „Bahnen des Rechts“ zurückzukehren60. Darauf scheint jetzt auch das Bundesverfassungsgericht zu pochen61. Köln brachte mir mit dem auf Initiative von Hans Brack, Justiziar, Finanz- und Verwaltungsdirektor des Westdeutschen Rundfunks sowie Honorarprofessor an der Universität, Heinz Hübner, Dietrich Oehler und mir 1967 gegründeten Institut für Rundfunkrecht an der Universität, getragen von einer Stiftung, ein neues Betätigungsfeld62 : Die Kölner Rechtswissenschaftliche Fakultät erwies sich als sehr progressiv, dieses Institut unter ihre Fittiche zu nehmen, wiewohl mancherseits Bedenken geäußert wurden, ob denn die Materie „Rundfunkrecht“ ihrem Inhalt nach ausreiche, um die Arbeit eines Instituts ausfüllen zu können. Das wurde allerdings von der Praxis schnell widerlegt. Bald zweifelte niemand mehr daran, dass dieses Gebiet im Schnittpunkt von öffentlichem und privatem Recht eine Fülle von Rechts56
Auf dem 68. Deutschen Juristentag (2010) wurde es trotz thematischen Bezugs substantiell nicht mehr erwähnt. 57 Gutachten E zum 47. Deutschen Juristentag, 1968, S. E 10. 58 In einem Leitartikel der FAZ vom 24. 12. 2011 von Holger Steltzner fi nden sich folgende Sätze (S. 11): „Einig sind sich alle Rettungseuropäer nur darin, sich von den Buchstaben und dem Geist völkerrechtlicher Verträge nicht auf halten zu lassen. . . Rechtsleugnung gehört längst zur Routine der ‚Euro-Rettung‘“. 59 Vgl. zuletzt BVerfG vom 7. 9. 2011, EuGRZ 2011, 525 – Währungsunion – Finanzstabilitätsgesetz und Euro-Stabilitätsmechanismus-Gesetz. S. auch BVerfG vom 27. 10. 2011, EuGRZ 2011, 668. Grundsatz-Entscheidungen waren das „Maastricht-Urteil“, BVerfGE 89, 155, das „Lissabon-Urteil“, BVerfGE 123, 267, und das „Honeywell-Urteil“, BVerfGE 126, 286. 60 Vgl. Hanno Kube / Ekkehart Reimer, Die Sicherung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: Rückkehr in die Bahnen des Rechts, ZG 2011, 332. Weitere Urteile folgten 2012. 61 Im Zeitpunkt der Vollendung des Beitrags ( Juni 2012) sind die jüngsten Verfahren in Sachen „Euro-Rettung“ vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Zu dem Problem s. Albrecht Weber, Die Europäische Union auf dem Wege zur Fiskalunion?, DVBl. 2012, 801 ff.; Sven Hölscheidt / Kristin Rohleder, Vom Anfang und Ende des Fiskalvertrags, DVBl. 2012, 806 ff. 62 Nach dem Tod der Professoren Dietrich Oehler und Heinz Hübner traten die Professoren Hanns Prütting und später Karl-Nikolaus Peifer und Karl-Eberhard Hain in das Direktorium des Instituts ein.
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problemen aufwarf. Meine an Fritz Werners Satz vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ angelehnte Formel „Rundfunkrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht“, angebunden an Art. 5 Abs. 1 GG, durchzieht zwar die Begründungen von neun Verfassungsgerichtsentscheidungen, lässt aber mittlerweile die breite Palette von zahlreichen Gesetzen und Staatsverträgen der Länder außer Betracht, die heute der Materie zusammen mit thematisch nahestehenden Vorschriften aus Medien-, Telekommunikations-, Internet- und Urheberrecht eine Gestalt geben, die wie kaum ein anderes Rechtsgebiet auf Wachstum angelegt ist63. Mehr als 100 Bände der Schriftenreihe des Instituts sowie die alljährlich durchgeführten Veranstaltungen und die unregelmäßig stattfi ndenden round-table-Gespräche des Instituts zeugen von der Vielfalt der Themen64. Die ungeheure Stofffülle aus verfassungsrechtlicher Warte zu durchdringen und in eine allgemeine Medien- und Kommunikationsfreiheit einzuordnen konnte wohl auch mit 150 Seiten in meinem Staatsrecht schwerlich gelingen, aber es musste gewagt werden65. Neben dem Verwaltungsrecht verlor ich niemals das Verfassungsrecht in Forschung und Lehre aus den Augen. Wie könnte es auch anders sein angesichts dessen Bedeutung für die gesamte Rechtsordnung! Deshalb standen die staatsrechtlichen Vorlesungen in Berlin wie in Köln ständig auf meinem Programm. Der Kommentierung des Art. 28 GG im Bonner Kommentar folgte noch in Berlin der Beginn der Untersuchung der maßgeblichen Artikel über die Verfassungsgerichtsbarkeit: Art. 94 und Art. 99 GG 1965. In Köln schlossen sich dann 1967 Art. 100 GG und nach den Amtsjahren als Dekan, Rektor und Prorektor zusammen mit Michael Sachs Art. 93 GG an. Alle Vorschriften haben noch keinen neuen Bearbeiter gefunden, obwohl doch eine reichhaltige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Neubearbeitung gefordert hätte. Für mich kam sie nicht mehr in Frage; denn – wie schon betont – wurde die Idee eines großen Staatsrechtslehrbuchs immer virulenter und ab 1975 in die Tat umgesetzt. Dank eines vorlesungsfreien Jahres nach der Rektoratszeit konnte ich – wie erwähnt – schon 1977 den ersten Band präsentieren. Natürlich glaubte ich, die Schritte zur Vollendung rascher gehen zu können als es tatsächlich geschah. Die Stofffülle machte es unabweislich, später als Mitautoren Michael Sachs und Johannes Dietlein für die Grundrechtsbände zu gewinnen. Sie übernahmen in den Bänden III – Allgemeine Grundrechtslehren – und IV – Die einzelnen Grundrechte – 25 Paragraphen als verantwortliche Autoren und trugen damit wesentlich zur Bewältigung des Gesamtwerkes bei. Es dürfte niemanden verwundern, wenn ich bekenne, dass es mehr als dreißig Jahre härtester Arbeit gewesen ist, ca. 13.000 Seiten zu Papier zu bringen. Mehrere 63 Dazu etwa aktuell die ausgreifenden von mir betreuten neuesten Dissertationen von Andreas Hamacher, Der Rundfunkbegriff im Wandel unter besonderer Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben, und Stephanie Eggerath, Verfassungsrechtliche Grundprobleme des Rundfunkbeitrags nach dem Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag. 64 Vgl. K. Stern, Vierzig Jahre Institut für Rundfunkrecht – Rückblick und Ausblick, in: Karl-Nikolaus Peifer (Hrsg.), Vierzig Jahre Institut für Rundfunkrecht – Rückblick und Perspektiven, Bd. 99 der Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht, 2007, S. 13 ff. 65 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, Vorbemerkung vor § 109 und § 110. Ebenda auch Angaben zur stetig wachsenden Literatur. Auch Frank Fechner interpretiert jetzt Art. 5 Abs. 1 GG im Lichte eines „Grundrechts der Medienfreiheit“, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 5 Rn. 122.
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Assistenten – heute allesamt selbst Professoren oder wohlbestallte Richter, Verwaltungsbeamte und Rechtsanwälte – und studentische Hilfskräfte haben mir mit großem Engagement geholfen; den Dank für diese Unterstützung möchte ich auch an dieser Stelle zum Ausdruck bringen. Nicht vergessen werden dürfen auch die Sekretärinnen des Instituts für öffentliches Recht und Verwaltungslehre, des Rechtszentrums für europäische und internationale Zusammenarbeit und des Instituts für Rundfunkrecht, Frau Irmtrud Bethge, Frau Hiltrud Koschinski, Frau Marianne Becker, Frau Gabriele Billigen-Koenen und Frau Irmtraud Hofauer, die bereitwilligst und unermüdlich meine handschriftlichen Manuskripte zuerst in die Schreibmaschine und dann in den Computer übertragen haben. Meine Frau, die mich allzu oft nur am Schreibtisch erlebte, half, wann immer Not am Mann war, und erarbeitete eigenständig vor allen Dingen ein viel bewundertes Sachregister, das insgesamt fast 500 Seiten umfasst. Die Arbeit am Staatsrecht, vor allem bei den Grundrechtsbänden, lenkte die Aufmerksamkeit immer stärker auf das Recht der Europäischen Gemeinschaft, heute der Europäischen Union, und den mit ihr geschaffenen Staatenverbund, der auch ein Verfassungsverbund, ja trotz des Scheiterns des Verfassungsvertrags vielleicht schon eine Verfassungsrechtsgemeinschaft ist. Zwar hatte ich bereits in der 1. Auflage von Band I 1977 „die supranationale Option des Grundgesetzes“ (§ 15) in Art. 24 GG als Teil der Grundlagen unseres reorganisierten deutschen Staates und seiner Verfassung herausgestellt – angesichts der Öffnung der deutschen Staatlichkeit und der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes Selbstverständlichkeiten –, aber die dezidierte Hinwendung zum europäischen und internationalen Recht erfolgte erst in den Grundrechtsbänden mit den Abschnittstiteln „Internationaler Grundrechtskonstitutionalismus“ (Bd. IV/1 § 62) und „Nationale und internationale Menschenrechte“ (Bd. III/2 § 94) sowie bei den einzelnen Grundrechten in Band IV, bei denen ich durchweg Parallelen zum internationalen und zum europäischen Recht sowie zu anderen Staatsverfassungen gezogen habe. Gefestigt wurde die Europäisierung der Grundrechte frühzeitig durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 und in jüngerer Zeit durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der Fassung des Lissaboner Vertrages vom 12. 12. 2007, der diese den Europäischen Verträgen gleichrangig zur Seite stellt (Art. 6 Abs. 1 EUV). Aus dieser Hinwendung zum europäischen Grundrechtskonstitutionalismus ist der „Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta“ entstanden, den ich zusammen mit Peter J. Tettinger 2006 im Verlag C. H. Beck herausgegeben habe, dem mehrere internationale Konferenzen mit zahlreichen deutschen und ausländischen kommentierenden Autoren vorausgegangen waren66. Auf diesen Konferenzen lernte ich auch die Problematik der Interpretation mehrsprachiger Texte, wie sie alle Verträge (und sonstige Rechtsdokumente) der Europäischen Union durchzieht, genauer kennen. Dieses Charakteristikum des Unionsrechts, das der Eu-
66 Vgl. Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005; sowie Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006.
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ropäischen Kommission erst relativ spät zum Bewusstsein gekommen ist67, hat eine Analyse von Frau Prof. Dr. Isolde Burr, Philosophische Fakultät der Universität zu Köln, auf bereitet und in ihrer Problematik an Hand von Beispielen eindrucksvoll aufgezeigt68. Eng mit der Arbeit am Staatsrecht verbunden waren auch meine Beiträge für das von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebene Handbuch des Staatsrechts (HStR) und für das von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier herausgegebene Handbuch der Grundrechte (HGR) in der Nachfolge des „alten“ Grundrechtshandbuchs von Karl August Bettermann, Franz Neumann, Hans Carl Nipperdey und Ulrich Scheuner. Alle im HStR und im HGR publizierten Beiträge kreisten um die Grundlagen und die Universalität der Menschen- und Grundrechte, deren Geschichte, Idee, Wirkkraft und System mich seit Jahren beschäftigt haben, weil diese Rechte nach ihrer Missachtung durch diktatorische Regime für mich als „natural and fundamental rights“ jedes Menschen unentbehrlich sind, um Freiheit und Gleichheit aller Individuen zu sichern sowie der Staatsgewalt Grenzen zu setzen. In diesem Lichte trugen meine Beiträge die Titel „Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte“69, „Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte“70, „Die Idee der Menschen- und Grundrechte“71 und „Menschenrechte als universales Leitprinzip“72 – Themen, die ich in mehreren Festschriften vertiefte73. Zuletzt war es dann die Einleitung „Die Hauptprinzipien des Grundrechtssystems des Grundgesetzes“ zu dem von mir und Florian Becker herausgegebenen Grundrechte-Kommentar im Kölner Carl Heymanns Verlag, in dem ich eine Quintessenz moderner Grundrechtekataloge einschließlich ihrer supranationalen Verortung zu ziehen unternahm74.
67 Vgl. die erste fundierte Mitteilung der Kommission zum Thema Mehrsprachigkeit vom 22. 11. 2005; zu dem Amts- und Arbeitssprachen der Union s. VO Nr. 1/58 (ABl. 17/1958, S. 385) i. d. F. von 1994 (ABl. C 241/1994, S. 1), sowie 2003 (ABl. Nr. L 236/33, S. 791) und 2006 (ABl. 2006 Nr. L 363/1); näher zur Problematik Friedrich Müller / Isolde Burr (Hrsg.), Rechtssprache Europas. Reflexionen der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht, 2004; zum Sprachenregime der Union insgesamt Thomas Oppermann / Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 5 Rn. 8 ff. Die normative Basis in Art. 342 AEUV ist außerordentlich dürftig. 68 I. Burr, in: Tettinger/Stern, ebda. (Fn. 66), S. 187 ff. 69 In: HStR, Bd. V, 1. Aufl. 1992, § 1, jetzt Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 184. 70 In: HStR, Bd. V, 1. Aufl. 1992, § 2, jetzt Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 185. 71 In: HGR, Bd. I, 1. Aufl. 2004, § 1. 72 In: HGR, Bd. IV, 1. Aufl. 2009, § 185. 73 Vgl. etwa K. Stern, Zur Universalität der Menschenrechte, in: Festschrift für Hans F. Zacher, 1992, S. 1063; ders., Die Grundrechte und ihre Schranken, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 1; ders., Probleme der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, in: Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 133; ders., Entwicklungslinien eines weltweiten Grundrechtsschutzes, in: Festschrift Sigmar-Jürgen Samwer, 2008, S. 35; ders., Entwicklungslinien der Grundrechte in Deutschland, in: Prawo w słuz˙bie pañstwu i społeczeñstwu, Festschrift für Kazimierz Działocha, 2012, S. 345 ff. 74 K. Stern, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Einleitung: Die Hauptprinzipien des Grundrechtssystems des Grundgesetzes.
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IV. Resümee In beinahe jedem Leben eines Menschen gibt es Momente, in denen es gilt, eine schöpferische Pause zu machen, um herauszufinden, was getan worden ist und was noch zu tun ist. Eigentlich hätte dieser Moment die Emeritierung und die Dedizierung der ersten Festschrift 1997 sein können. Doch damals war mir klar, dass das Staatsrecht noch vollendet werden musste. Dieses Ziel war Ende 2010 mit dem Erscheinen des letzten Bandes erreicht75. Doch auch danach spürte ich, der Wissenschaft und ihrer Weitergabe in Lehre und Vorträgen noch nicht valet sagen zu sollen. Es bleiben noch wichtige Aufgaben: das Institut für Rundfunkrecht, die seit 1966 von mir betreute Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Düsseldorf, die Management-Akademie der Sparkassen-Finanzgruppe in Bonn, die Symposien der Fritz Thyssen Stiftung mit den japanischen, südkoreanischen, taiwanesischen und chinesischen Kolleginnen und Kollegen, der spanisch-deutsche Gesprächskreis zum öffentlichen Recht und viele andere Auslandskontakte, nicht zuletzt die Elisabeth Mann Stiftung in persönlichem Gedenken an die seit dem Elternhaus vertraute Stifterin. Geblieben sind auch die schönen Obliegenheiten, in Festschriftenbeiträgen geschätzten Kollegen zu ihren Festtagen zu gedenken. Aber es gilt unverbrüchlich, was ich meiner Frau bei der Präsentation des letzten Staatsrechtsbandes versprochen habe: Nicht alles anzunehmen, was mir angetragen wird, vor allem keine Neuauflage des Staatsrechts in Angriff zu nehmen. Es sei zur Feier meines 80. Geburtstags, an dem ich diese Memorabilia beendet habe, bestätigt, zugleich auch mit Dankesbekundungen an alle, die mir die Ehre erwiesen haben, in der zu diesem Anlass dedizierten Festgabe geschrieben zu haben, den ich dank eines gütigen Schicksals in guter Gesundheit verbringen konnte76.
75 Die Laudationes von Udo Steiner und Herbert Schambeck zu diesem Anlass sind in dem Eigendruck „Präsentationsfeier zur Vollendung des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ festgehalten, gleichermaßen die Grußworte von Seiten des Verlags C. H. Beck durch Rolf-Georg Müller und meine Dankesworte. 76 M. Sachs / H. Siekmann (Hrsg. in Verbindung mit H.-J. Blanke, J. Dietlein, M. Nierhaus, G. Püttner), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Klaus Stern, 2012.
Berichte Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum
Europäische Verfassungsreformen: Einsichten und Aussichten der Türkei von
Prof. Dr. Jörg Luther, Università del Piemonte Orientale, Alessandria, Italia 1. Der türkische Verfassungsreformprozeß heute Die heutige Verfassung der Türkei von 1982 ist – wie ihre Vorgängerin von 1961 – das durch ein Referendum bestätigte Werk einer verfassunggebenden Versammlung, die von einer Miltärjunta eingesetzt worden und aus der auch größere Parteien durch Verbot ausgeschlossen worden waren. Nach einigen kleineren Reformen hatte das als EU-Beitrittskandidat anerkannte Land im Jahre 2001 37 Artikel der Verfassung einer Revision unterzogen und ein neues Zivilgesetzbuch erhalten.1 Nach der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen (2005) 2 wurde sie erneut mit Volksreferenden 2007 und zuletzt 2010 – zum dreißigsten Jahrestag des Staatsstreichs – reformiert, um einerseits durch die Einführung der Direktwahl des Präsidenten den Übergang zu einer präsidialen Regierungsform zu ermöglichen, andererseits durch eine Umbildung des Verfassungsgerichtshofs und
1 Levint Gönenç, The 2001 Amendments to the 1982 Constitution of Turkey, Ankara Law Review 2004, 89 ff.; Esin Örücü, The Turkish Constitution Revamped? European Public Law 2002, 201 ff.; Silvia Tellenbach, Zur Änderung der türkischen Verfassung durch das Gesetz Nr. 4709 vom 3. Oktober 2001, VRÜ 35 (2002), 532 ff. Zur Rolle von EMRK Hellmuth Goerlich / F. Böllmann (Hg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Rechtsentwicklung und Verfassungsreform in der Türkei, Leipzig 2003. Zum Demokratiedefi zit Mehmet F. Bilgin, Constitution, Legitimacy and Democracy in Turkey, in: Said Amir Arjomand, ed., Constitutional Politics in the Middle East, Oxford, 2008, 123 ff. Zur Verfassungsentwicklung allgemein Christian Rumpf / Udo Steinbach, Das politische System der Türkei, in: Wolfgang Ismayr (Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 3. Aufl., Wiesbaden, 2010, 1053 ff. 2 Vgl. Kemal Dervis / Michael Emerson / Daniel Gros / Sinan Ülgen (eds.), The European Transformation of Modern Turkey, Bruxelles/Istanbul 2004; Meltem Müftüler-Bac, Turkey’s Political Reforms and the Impact of the European Union, South European Society & Politics 2005, 16 ff.; Lucie Tunkrova, Democratization and EU conditionality: A barking dog that does (not) bite?, in dies. / Pavel Saladin (eds.), The Politics of EU Accession: Turkish Challenges and European Experiences, London 2010, 34 ff.; Meltem Müftüler-Bac, The European Union and Turkey, OSLO 2011 (RECON Online Working Paper 2011/20).
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des obersten Richterrats mehrheitlich wahrgenommene Demokratiedefizite der dritten Gewalt zu verringern.3 Das Verfassungsgericht erklärte 2008 die Verfassungsänderung hinsichtlich der Lockerung des Kopftuchverbots für teilweise verfassungswidrig. Ein Verbotsantrag gegen die EU-beitrittsfreundliche und weitergehende Reformpläne vertretende Regierungspartei „AKP“ fand dagegen nicht die erforderliche qualifizierte Mehrheit.4 Darauf hin urteilte ein Gutachten der Venedig-Kommission, die Bestimmungen der Verfassung über die Parteien (Art. 68 und 69) seien nicht mehr mit Art. 11 EMRK vereinbar: „Any reform to the Turkish rules on party closure will require constitutional amendment. This can be done either as a separate process, confined to changing the relevant provisions of the Constitution, or as part of a more comprehensive constitutional reform. The Parliamentary Assembly of the Council of Europe (PACE) in Resolution 1622 (2008) advocated the latter approach, referring to the fact that the 1982 Constitution still bears the marks of the 1980 military coup d’état.“ 5
Die „European Union Strategy for Turkeys’ Accession Process“ der Regierung (2010) verspricht „politische Reformen“ mit dem Ziel: „. . . to ensure that its citizens are guaranteed the highest standards of democracy and freedoms, human rights and the rule of law. With these reforms, the Turkey of today is, and will continue to be, more liberal, democratic, stable, prosperous, transparent and prestigious. (. . .) In case a consensus is reached among the political parties, even „constitutional packages“ may be submitted to the TGNA“ (Turkish Grand National Assembly).6
Im Frühjahr 2011 nahm die AKP in ihr Wahlprogramm die Forderung nach einer weitergehenden Verfassungsreform auf. Gleichzeitig wurde dem Kongreß der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften im Europarat eine Verfassungsreformempfehlung vorgelegt: „It is recommended that Turkey continues constitutional reforms towards decentralisation, notably by removing administrative tutelage and allowing the use of languages other than Turkish in the provision of public services.“7
Die mit der Columbia University zusammenarbeitende Stiftung „Türkiye Ekonomik ve Sosyal Etüdler Vakf “ (TESEV) empfahl, die Grundprinzipien der Verfassung als „Staatsideologie“ aufzuheben, auf Klauseln zur ethnischen und kulturellen Iden-
3 Ece Göztepe, Eine Analyse der Verfassungsänderungen in der Türkei vom 7. Mai 2010: ein Schritt in Richtung mehr Demokratie?, EuGRZ 2010, 685 ff.; Sule Özsoy, What Does Turkey’s New Choice of Popular Presidential Election Mean?, European Public Law 16, n. 1 (2010), 139 ff. Kritisch Andrew Arato, The Constitutional Reform Proposal of the Turkish Government: The Return of Majority Imposition, Constellations 2010, 345 ff.; Democratic Constitution-making and unfreezing the Turkish process, Philosophy & Social Criticism 2010, 473 ff. 4 Vgl. hierzu die Expertise von Christian Rumpf für das Europaparlament, EXPO/B/DROI/2008/ 43 PE 406.976, in: www.tuerkei-recht.de. Zuletzt Osman Can, Parteiverbote in der Türkei: Instrument einer wehrhaften Demokratie? JöR 59, 2011, 635 ff. 5 CDL-AD(2009)006. 6 http://www.abgs.gov.tr/fi les/strateji/yabs_en1.pdf. 7 Report „Local and regional democracy in Turkey“, 1. 3. 2011, CG 20(6).
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tität zu verzichten, Laizität durch religiöse Neutralität zu ersetzen und den Staat weiter zu zivilisieren.8 Im Mai veranstaltete schließlich die traditionell besonders regierungsnahe Universität Istanbul zusammen mit der neueren Istanbul Kültür Üniversitesi einen „internationalen Kongreß zum Verfassungsrecht“. In einem durch Demonstrationen und Verhaftungen von Journalisten sehr beunruhigten Klima machten sich kurz vor den Parlamentswahlen ca.150 türkische und 50 ausländische Verfassungs- und Strafrechtler aus 18 Ländern (USA, Kanada, Südkorea, Japan, Deutschland, Frankreich, Belgien, Vereinigtes Königreich, Irland, Italien, Mazedonien, Ägypten, Iran, Libyen, Arabische Emirate u. a.) mit Verfassungspolitikern der Parteien, Vertretern von N. G. O.’s, dem Vorsitzenden des Anwaltsverbandes und dem Präsidenten des Kassationsgerichtshof in Kurzreferaten Gedanken über ein umfangreiches Themenprogramm. Dabei ging es um Reformthemen wie, die 10% -Klausel im Wahlrecht, den Abbau bestehender Wählbarkeitsrestriktionen, die Parteienverbotsregelungen, e-democracy, Grundrechtsmißbrauchsregeln, Recht auf Sicherheit, Menschrechtsklauseln, Gender-Gleichheit, Schleierverbote, Organisation des Verfassungsgerichts, Verfassungsbeschwerde, inzidente Normenkontrolle, Präsidialregierung, konstruktives Mißtrauensvotum, parlamentarische Immunitäten, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, konkrete Rechtsstaatsprinzipien, Militärgerichtsbarkeit, Laienbeteiligung an der Gerichtsbarkeit, Staatsangehörigkeit, Sprachminderheiten, Laizität, Religionsfreiheit, änderungsfeste Verfassungsartikel. In einer eigenen Sitzung wurden zahlreiche verfassungsrechtliche Fragen des Strafrecht- und Strafverfahrensrechts auf die Tagesordnung der Verfassungsreform gesetzt. Die Rolle der Verfassungsvergleichung zu hinterfragen gestattete das dem Verfahren der Verfassunggebung gewidmete Thema der einleitenden Sitzung: „A Participative Constitution and the Problem of Methodology“. Die nachfolgenden Erwägungen versuchen hierzu aus der Perspektive einer durch Sprachunkenntnis beschränkten Außenansicht auf die türkische Verfassungsentwicklung die Beteiligung internationaler Öffentlichkeit als Voraussetzung der bisherigen Rezeptionsprozesse zu rekonstruieren und als methodologisches Problem auszuloten. Dazu soll zunächst ein Rückblick auf die Verfassungsgeschichte geworfen werden und ein Vergleich mit einigen Erfahrungen der neueren europäischen Verfassunggebung und -reform skizziert werden, um sodann speziell aus der Sicht der romanischen Verfassungskulturen einige Fragen des Verfahrens der Verfassunggebung aufzugreifen. Die Aussichten der Verfassunggebung in der Türkei hängen nicht zuletzt auch von ihren Ansichten zu diesen europäischen Verfahren ab.
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http://ircpl.org/2011/event/comparative-perspectives-on-constitution-making-political-transi tions-and-secularism-turkey-united-states-and-india/. Vgl auch die Seminare mit A. Arato und U. Preuß der Stiftung TEPA in Ankara http://www.tepav.org.tr/en/etiket/s/311/Constitution%20Making. Schon im Vorfeld der letzten Reform: Serap Yazici (ed.), A Judicial Conundrum: Opinions and Recommendations on Constitutional Reform in Turkey, Istanbul July 2010; Dilek Kurban / Yylmaz Ensarodlu, Toward a Solution to the Kurdish Question: Constitutional and Legal Recommendations, Istanbul September 2010 (www.tesev.org.tr). Vgl. auch Cemal Karakas, Demokratieförderung zwischen Interessen und Werten. US-amerikanische und deutsche Reaktionen auf den politischen Islam in der Türkei, HSFK-Report Nr. 12/2010, Frankfurt M. http://www.hsf k.de/fi leadmin/downloads/report1210.pdf.
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2. Formen und Grenzen der Internationalisierung und Kosmopolitisierung von Verfassungsgebung Die Beteiligung ausländischer Wissenschaftler und internationaler Einrichtungen an einem Verfahren der Verfassunggebung scheint auf den ersten Blick nicht unbedingt eine europäische Tradition zu sein. Die Geschichte der Verfassungsschreibung lehrt, daß es in den ersten Verfahren der Verfassunggebung von Philadelphia, Paris und Warschau zwar schon eine von Montesquieu geprägte vergleichende Auf klärung über Verfassungen, aber noch keine eigene Wissenschaft des Verfassungsrechts gab, zu der erst 1833 Pellegrino Rossi in Paris einen „Cours de droit constitutionnel“ hielt. Das von Jefferson in Virginia durchgesetzte politische Bürgerrecht auf demokratische Verfassunggebung durch selbst gewählte Repräsentanten emanzipierte die Kolonie, ohne die Dialoge zur Erneuerung der Union des Empires bzw. zur späteren Konföderation auszuschließen.9 Napoleon betrieb erste Verfassungsexporte in die Schwesterrepubliken, an denen er französische und einheimische „jurisconsulti“ beteiligte, wie es auch in den Institutionen der konsultativen Monarchie üblich wurde. Auf dem Wiener Kongreß sprachen Fürsten und Diplomaten über die „landständischen“ Verfassungen, während nach dem Vorbild der Carbonari die von Giuseppe Mazzini gegründete Giovine Italia und Giovine Europa, die später wohl auch die Jön Türkler inspirierten, nach verfassungsgebenden Versammlungen und Bündnissen riefen. Die verfassunggebenden Versammlungen in Frankfurt 1848, Weimar 1919 und Wien 1920 waren Gegenstand internationaler Beobachtung und Öffentlichkeit. Sie machten zunehmend Gebrauch von ausländischen Verfassungstexten und -ideen, organisierten freilich den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik nur auf nationaler Ebene. Verfasser der Verfassung waren nun auch teils gewählte, teils beauftragte Wissenschaftler des Staats- und Verfassungsrechts mit mehr oder weniger vertieften rechtsvergleichenden Kenntnissen, im deutschsprachigen Raum z. B. Robert Mohl, Hugo Preuß und Hans Kelsen. Die Verfassungen des 19. Jh. waren andererseits noch mit Garantieversprechen der Nachbarn und mit Ingerenzrechten der Heiligen Allianz belastet.10 Das TanzimatEdikt von 1839 vermied den Namen Verfassung, versprach aber eine Modernisierung der Verwaltung des ottomanischen Reichs und stellte in der Sache einige konstitutionelle Grundsätze auf, die europäische Vorbilder variierten und die weitere Verfassungsentwicklung bis heute prägen. Die Gesetzgebung habe „Leben, Ehre und Eigentum“, ein geregeltes Steuersystem und ein gleichheitsgerecht geregeltes System der Wehrpfl icht zu sichern.11 Die schließlich 1876 nach belgischem und deutschem 9
Vgl. Thomas Jefferson, A Summary View of the Rights of British America, Williamsburg 1774, in: Max Beloff (ed.), The Debate on the American Revolution, London 1960, 159 ff. 10 Hierzu Jörg Luther, Per un „diritto alla Costituzione“, Riv. Dir. Pub. Comp. Eur. 2009, 1017 ff. 11 „Thus, full of confidence in the help of the Most High and certain of the support of our Prophet, we deem it necessary and important from now on to introduce new legislation to achieve effective administration of the Ottoman Government and Provinces. Thus the principles of the requisite legislation are three: 1. The guarantees promising to our subjects perfect security for life, honor, and property. 2. A regular system of assessing taxes. 3. An equally regular system for the conscription of requisite troops and the duration of their service.
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Modell konzedierte osmanische Reichsverfassung blieb freilich nach der Verbannung des Vorsitzenden der Verfassungskommission, Mithat Pasa, unwirksam, worauf im Londoner Protokoll vom 31. 2. 1877 die europäischen Großmächte unzureichende Garantien der Freiheit der christlichen Minderheiten und der Bosnien und Bulgarien versprochenen Provinzialautonomien rügten.12 Am Ende des ersten Weltkriegs bescheinigte Woodrow Wilson’s vergleichende Regierungslehre der Türkei noch, sie sei wie Rußland trotz ihrer „constitutional arrangements“ eine absolute Monarchie geblieben.13 Das gegen Ende des ersten Weltkriegs schließlich anerkannte Recht auf Selbstbestimmung der Völker schloß auch Selbstbestimmung durch Verfassunggebung ein, weshalb die kurze türkische Verfassung von 1921 entgegen den Bestimmungen des Friedensvertrags von Sèvres (1920) die Souveränität der Nation für „uneingeschränkt und bedingungslos“ erklärte.14 Im Vertrag von Lausanne von 1923 wurde vereinbart, es sollten eine Reihe von Menschen- und Minderheitenrechten, speziell Religionsfreiheiten, als „fundamental laws“ anerkannt werden und Vorrang vor allen anderen Rechtsakten erhalten.15 Yas¸ar Kemal, genannt Atatürk, der „Vater der Türken“, und seine „Volkspartei“ ließen darauf hin das Sultanat durch einfache Gesetze abschaffen und die Änderung der Staatsform durch ein „Gesetz betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes“ absichern. Nach der Abschaffung des Kalifats wurde die von einem Verfassungsausschuß im Parlament nach europäischen Modellen (Frankreich, Weimar, Polen, Finnland) erarbeitete republikanische Verfassung von 1924 mit einem eigenen Gundrechteteil versehen. Die weitere Laizisierung der Verfassung führte dann 1928 zur Auf hebung der Staatsreligionsklausel und 1937, vor Atatürks Ableben, zur Inkorporierung der Grundprinzipien der regierenden republikanischen Volkspartei.16 Nach dem zweiten Weltkrieg versuchte sich das Ein- zu einem Zweiparteiensystem zu entwickeln, in dem erstmals 1950 ein friedlicher Regierungswechsel durch 12 Protocol Relative to the affaire of Turkey, Signed at London, March 31, 1877: „(. . .) if the condition of the Christian subjects should not be improved in a manner to prevent the return of complications which periodically disturb the peace of the East.“ 13 Vgl. War Adress 2. 4. 1917: „(. . .) the peace of the world is involved and the freedom of its peoples, and the menace to that peace and freedom lies in the existence of autocratic governments backed by organized force which is controlled wholly by their will-not by the will of their people.“ 14-PunkteErklärung vom 8. 1. 1918: „12. The Turkish portion of the present Ottoman Empire should be assured a secure sovereignty, but the other nationalities which are now under Turkish rule should be assured an undoubted security of life and an absolutely unmolested opportunity of autonomous development, and the Dardanelles should be permanently opened as a free passage to the ships and commerce of all nations under international guarantees.“ 14 Art. 1: „Sovereignty is vested in the nation without condition.“ 1923 wurde hinzugefügt: „The governmental system is based on the principle of self-determination and government by the people.“ 15 Art. 37: „Turkey undertakes that the stipulations contained in Articles 38 to 44 shall be recognised as fundamental laws, and that no law, no regulation, nor official action shall confl ict or interfere with these stipulations, nor shall any law, regulation, nor official action prevail over them.“ 16 Art. 2 Verf 1924: „Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär.“ Dagegen Art. 2 Verf 1961: „Die türkische Republik ist eine auf den Menschenrechten und den in der Präambel festgesetzten Grundprinzipien begründeter nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“ Vgl. Yavuz Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, JöR (n. F.) 9, 1960, 353 ff.; Amedeo Giannini, La costituzione turca, Roma, 1925.
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Wahlen herbeigeführt wurde. Der Beitritt der Türkei zum Europarat (1949) und zur NATO (1952) verhinderten freilich nicht die Staatsstreiche von 1961 und 1980, mit denen die militärische Gewalt unter Berufung auf die kemalistische Tradition und das Widerstandsrecht die jeweilige Regierung absetzte und verfassunggebende Versammlungen zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit einsetzte. Deren Werk mußte das Volk dann durch Referendum bestätigen, um die jeweilige Diktatur zu beenden. Diese durch unfreie Plebiszite oktroyierten Verfassungen und die durch ein Memorandum der Militärs erzwungene Verfassungsreform von 1971 bauten eine Verfassungsgerichtsbarkeit und Elemente wehrhafter Demokratie ein und stärkten die Stellung des Präsidenten.17 Europa reagierte 1963 mit dem Assoziierungsabkommen der EWG, das nach Walter Hallstein einen Prozeß der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Annäherung und Konstitutionalisierung einleiten sollte: „Die Türkei gehört zu Europa: das heißt nach heute gültigen Maßstäben, daß sie ein verfassungsmäßiges Verhältnis zu der Europäischen Gemeinschaft herstellt. Wie diese Gemeinschaft selbst, so ist auch jenes Verhältnis von dem Gedanken der Evolution bestimmt.“18
1973 folgte ein Zusatzprotokoll. Im Mai 1981 beschloß die Parlamentarische Versammlung des Europarats dagegen, die Mandate der Mitglieder der türkischen Delegation nicht zu verlängern, während sich der Ministerrat über das Verfahren der Verfassunggebung zur Wiederherstellung der Demokratie detailliert informieren ließ. Das Dringen des Europarats auf eine Einbeziehung der durch den Staatsstreich ausgeschalteten Parteipolitiker entsprach damals bereits einer Tendenz zur Betonung der Inklusivität der Verfassunggebung, die schon im Rahmen der beginnenden Dekolonisierung speziell im Commonwealth zu internationalen Verfassungskonferenzen geführt hatte, z. B. zu der Indian Roundtable Conference 1930/1931 in der Royal Gallery der House of Lords, an der auch Mahatma Gandhi teilgenommen hatte. Die im besetzten Deutschland und Japan, anfänglich auch in Italien praktizierte internationale Kontrolle über die Verfassunggebung förderte rechtsvergleichende Arbeiten, lehrte jedoch ebenso Zurückhaltung wie die Erfahrung der unter maßgeblicher deutscher Beteiligung erfolgten Verfassunggebung in Zypern. Nach 1989 hat sich ausgehend von Polen in Osteuropa, mit der Ausnahme Rußlands unter Boris Jeltzin, das Modell der „round table“-Verfahren in der Verfassunggebung durchgesetzt. Der Europarat nahm vor allem durch die Venedig-Kommission aktiv an den Verfassungsberatungen verschiedener postsozialistischer Mitgliederstaaten, später auch an den Streitigkeiten um die Verfassungsgebung z. B. in Liechtenstein und Ungarn teil. Zuletzt hat die Kommission einen allgemeinen „Report“ zu den Verfahren von Verfassungsänderungen erstellt und im Falle der Ukraine Fragen der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung behandelt.19 17 Ergun Özbudun, Die Parteien und das Parteiensystem in der Türkei, KAS-AI 5/2002, 46 ff.; Metin Heper / Ahmed Evim, State, Democracy and Military: Turkey in 1980’s, Berlin 1988. 18 Zit. nach Metin Aksoy (Hg.), Die türkisch-europäischen Beziehungen, Frankfurt 2010, 10. 19 Vgl. Yavuz Abadan, Die türkische Verfassung von 1961, JöR 13, 1960, 325 ff.; Bassam Tibi, Die Verfassungsänderung in der Türkei und ihr gesellschaftlicher Kontext, VRÜ 1972, 447 ff.; Ernst Hirsch, Verfassungswidrige Verfassungsänderung, AöR 98 1973, 53 ff.; Kurt Rabl, Nochmals die türkische Verfassungsreform von 1971, VRÜ 1973, 219 ff.; Ernst Hirsch, Die Änderungen der türkischen Verfassung,
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Auch mit den Themen der türkischen Verfassungsreform hat sich die VenedigKommission des Europarats wie eingangs dargestellt bereits mehrfach befaßt. Die Europäische Union hat ihrerseits zumindest als „mittelbarer Verfassunggeber“20 durch die Kopenhagener Kriterien Erwartungen an die Verfassungskultur ihrer Mitgliedstaaten gestellt, mit der Sicherung derartiger Erwartungen im Fall Haider/Austria freilich unglückliche Erfahrungen gemacht. Das Verfahren zur Erarbeitung eines Verfassungsvertrags für die Europäische Union hat neue Möglichkeiten einer transnationalen Öffentlichkeitsbeteiligung aufgezeigt und eine Synthese verschiedener Verfassunggebungsverfahren unter dem Motto „Demokratisierung durch Verfassunggebung“ versucht.21 Letzlich hat auch der Einfluß der Vereinten Nationen auf die Verfassunggebung zugenommen, wie u. a. die Probleme in Bosnien-Herzegovina und Kosovo zeigen. Nach der neuen „Guidance Note“ des UN-Generalsekretariats geht es dabei nicht nur um Friedenssicherung, sondern auch um „compliance with international norms and standards“, Erhaltung einer „national ownership“ und Entwicklungshife in Sachen Demokratie: „support inclusivity, participation and transparency“.22 Soweit supra- und internationale Gemeinschaften die Inklusivität der Demokratie, deliberative Partizipation und Transparenz durch Öffentlichkeit zu fördern beanspruchen, können sie für ausländische Journalisten, Politiker und Wissenschaftler Grenzen öffnen und eine mehr oder weniger partielle „Internationalisierung“ bzw. Kosmopolitisierung der Verfassunggebung bewirken. Dies kann die Legitimität einer nationalen Verfassung und das Ansehen der Nation erhöhen, ohne dadurch die Souveränität des Volkes preiszugeben, das letztlich erst im Dialog mit anderen Kulturen und Geschichten seine eigene Identität durch mehr oder weniger wertende Komparation national selbst- und international mitbestimmt. Die außenpolitischen Interessen der Länder der EU und der NATO am Prozeß der Neubildung der Verfassungsidentität der Türkei sind auch über die Zypernfrage und die Sicherheit Israels hinaus vielfältig.23 Gerade auch aus diesem Grund darf die wissenschaftliche Verfassungsvergleichung, in Italien 1946 noch in einem eigenen Ministerium für Verfassunggebung organisiert, nicht aus nationalem Interesse einseitig den Export bzw. die Rezeption bestimmter Modelle und Institutionen empfehlen,24 JöR 23, 1974, 336 ff.; idem, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. November 1982, JöR 32, 1983, 508 ff.; Fatih Öztürk, Turkish Military: Interventions and Building Constitutions: the Bulwarks of an Unstable Democracy, in: Constitutional Law Readings for Turkey, Istanbul 2008, 156 ff. 20 Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden, 7. Aufl. 2011, 191. 21 Zuletzt etwa John E. Fossum / Agustin J. Menendez, The Constitution’s Gift, Plymouth 2011; Andreas Fischer-Lescano et al. (eds.), Europäische Gesellschaftsverfassung. Zur Konstitutionalisierung sozialer Demokratie in Europa, Baden-Baden, 2009. 22 „Guidance Note on United Nations Assistance to Constitution-making Processes“, April 2009, http://www.unrol.org/fi les/Guidance_Note_United_Nations_Assistance_to_Constitution-making_ Processes_FINAL.pdf. Vgl. Andrew Arato, Constitution making under occupation : the politics of imposed revolution in Iraq, New York, 2009; Philipp Dann / Al-Ali Zaid, The Internationalized Pouvoir Constituant: Constitution- Making Under External Influence in Iraq, Sudan and East Timor, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law, 2006, 423–463; Vijayashri Sripati, UN Constitutional Assistance: An Emergent Policy Institution, http://ssrn.com/abstract=1483265. 23 Vgl. Graham Fuller, The New Turkish Republik. Turkey as a pivotal State in the Muslim World, Washnigton 2008; Marco Ansaldo, Chi ha perso la Turchia, Torino 2011. 24 Günther Frankenberg, Constitutional transfer: The IKEA theory revisited, IJCL 8, 2010, 563 ff. Zur
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sondern muß aus teilnehmender Beobachtung bereits vorhandene Rezeptionserfahrungen und Entwicklungstendenzen ermitteln. Die Türkei ist insofern ein „extraordinary place“ für die Vergleichung, als sich hier nicht nur „European Constitutionalism“ und „Asian Constitutionalism“, „Legal Occidentalism“ und „Legal Orientalism“ treffen.25 Die neueren osteuropäischen Verfassungreformerfahrungen sind hier ebenso wie die aufregenden neuesten arabischen Verfassungsreformen ein besonderer Kontext. Aus einer „geokulturellen“ Sicht scheint der Türkei allerdings besonders die mediterrane Verfassungskultur nahezu liegen, nicht zuletzt auch als Alternative zur russischen Verfassungsskepsis.26
3. Die Unübersichtlichkeit der europäischen Verfassungsreformen seit 1989 Seit 1989 ist die europäische Welt der Verfassungen in eine besondere Bewegung gekommen. In den heutigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Europarats haben zahlreiche mehr oder weniger tiefgreifende Reformen der „verfassungsmäßigen Strukturen“ (Art. 6 EUV) stattgefunden, zu denen die wissenschaftliche Verfassungsvergleichung bisher trotz zahlreicher Einzelbeiträge mangels hinreichender Vernetzung der nationalen Wissenschaftsgemeinschaften kaum hinreichende Übersichtlichkeit herzustellen vermag. Neue Verfassungen und in nicht geringem Umfang auch neue Staaten entstanden bekanntlich vor allem im postsozialistischen Osteuropa. Zur künftigen europäischen Union strebten früh Kroatien (1990), Bulgarien (1991), Rumänien (1991), Slowenien (1991) 27, Slowakei (1992), Tschechien (1993), Estland (1992), Litauen (1992), Latvia/Lettland (1994), die Reformen auch in Rußland (1993) und anderen Staaten des Europarats anstießen.28 Zu einer neuen Verfassung im Sinne einer nachholenden Verfassunggebung fanden schließlich auch nach ersten Teilreformen die größeren und politisch eher fragmentierten Staaten Polen (1997) 29 und Ungarn (2011), letzteres freilich mit nicht nur von der Venedigkommission30 kritisieren Verfahren und Methodendebatte zuletzt Christoph Schönberger, Verfassungsvergleichung heute: Der schwierige Abschied vom ptolemäischen Weltbild, VRÜ 2010, 6. ff. 25 Erin Örücü, Comparatists and Extraordinary Places, in: P. Legrand / R. Munday (eds.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, Cambridge 2003, 437 ff.; Ergun Özsunay, Turkish National Report, in: Jorge A. Sánchez Cordero (ed.), Legal Culture And Legal Transplants, Reports to the XVIIIth International Congress of Comparative Law, Washington, D. C. 2010, Isaidat Law Review 2010, n. 2: http://isaidat.di.unito.it/index.php/isaidat; Mario Losano, La Turchia tra Europa ed Asia: un secolo tra laicismo e Islam (Memorie della Accademia delle Scienze di Torino, V, 33) Torino 2009. 26 Dazu C. von Gall, Auf der Suche nach einer neuen Ideologie – Ein Beitrag zur russischen Verfassungstheorie, Ostrecht 2010, 272 ff. 27 Zu den anschließenden Änderungen von 1997, 2000, 2003, 2004 und 2006, C. Ribicˇ icˇ, Strengthening Constitutional Democracy, http://www.venice.coe.int/WCCJ/Papers/SLO_Ribicic_E.pdf. 28 Belarus (1994), Moldawien (1994), Bosnien-Herzegovina (1995), Armenien (1995), Georgien (1995), Ukraine (1996), Albanien (1998), Mazedonien (2001), Serbien (2006), Montenegro (2007) und Kosovo (2008). 29 Verfassungsreformen zur Einführung des Euro sind in Vorbereitung. 30 CDL-AD(2011)001: „15. The Venice Commission notes that, while initially associated to this process in the framework of the Ad-hoc Committee for Drafting the Constitution, the opposition
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Ergebnissen31. Die postsozialistische Verfassunggebung beruhte auf einem gemeinsamen Grunddissens zur aufzuhebenden Staatsform und vollzog sich überwiegend nicht in einer ausschließlich verfassunggebenden Versammlung, sondern nach den Revisionsregeln der aufzuhebenden Verfassung oder einer Übergangsverfassung mit mehr oder weniger starken Elementen informaler Konsensbildung an „runden Tischen“.32 Der Übergang zur Markwirtschaft war der Verfassungsgebung vorgegeben, die Entwicklung von öffentlicher Demokratie und Rechtsstaat aufgegeben.33 Besondere unionsbedingte Verfassungsänderungen fanden in Slowenien, Rumänien und Bulgarien statt, weitergehende Reformen der Regierungs- und Staatsform in der Slowakei, Kroatien und Mazedonien. Auch die aktuelle rumänische Verfassungsreforces were for several months not participating in the elaboration of the draft and that there was no longer a dialogue between the majority and the opposition in this regard. It understands that the opposition’s decision to withdraw from the process was in particular linked to the limitation of the powers of the Constitutional Court with regard to the constitutionality of Acts and Bills on state budget and taxes, adopted by the Hungarian parliament in November 2010. 16. Moreover, concerns have been raised within the civil society over the lack of transparency of the process and the inadequate consultation of the Hungarian society on the main constitutional challenges to be addressed in this context. Since the draft was only submitted to the Parliament on 14 March 2011, only limited public debate could take place on the changes and novelties that the future Constitution might introduce. 17. The tight schedule established for its adoption is also a serious source of concern and has been raised by most of the interlocutors of the Commission. 18. The Commission would like to recall that transparency, openness and inclusiveness, adequate timeframe and conditions allowing pluralism of views and proper debate of controversial issues, are key requirements of a democratic Constitution-making process. 19. In its opinion, a wide and substantive debate involving the various political forces, nongovernment organisations and citizens associations, the academia and the media is an important prerequisite for adopting a sustainable text, acceptable for the whole of the society and in line with democratic standards. Too rigid time constraints should be avoided and the calendar of the adoption of the new Constitution should follow the progress made in its debate.“ 31 Vgl. Andrew Arato http://www.comparativeconstitutions.org/2011/04/arato-on-constitutionmaking-in-hungary.html: „The worst thing about the current constitution making process in Hungary led by the FIDESZ government is the process itself: under an opposition boycott, and involving an absurd process of popular consultation through sketchy and deficient mail in citizen questionnaires, it lacks all genuine aspects of participation and inclusion.“ Der von Arato vertretenen Auffassung, die neue Verfassung sei „illegal“, weil sie das Quorum für eine Verfassungsänderung von einer 4/5 Mehrheit in eine 2/3-Mehrheit verwandelt (art. R), ließe sich für die Formulierung eines Minimalstandards demokratischer Verfassunggebung jedoch nur dann verwenden, wenn die Wahlreform zu einer grundsätzlichen Abkehr vom Verhältnismäßigkeitswahlrecht führen würde. 32 In Estland wurde eine Versammlung von einem Wahlkörper gewählt, der nur ca. 70% der Bevölkerung entsprach, weshalb auch der Text dann mit dem bestehenden Parlament ausgehandelt wurde. In Rumänien und in Bulgarien erteilte sich das Parlament ein zusätzliches Mandat zur Verfassungsgebung. 33 Vgl. nur Peter Häberle, Verfassungsentwicklungen in Osteuropa – aus der Sicht der Rechtsphilosophie und Verfassungslehre, in: Europäische Rechtskultur, Frankfurt 1997, 101 ff.; Sergio Bartole, Riforme costituzionali nell’Europa centro-orientale, Bologna 1993; Jon Elster, Rebuilding the boat in the open sea: Constitution-making in Eastern Europe“, Public Administration 71 (1993), 169 ff.; Gianmaria Ajani, Il modello post-socialista, Torino 1996; Levent Gönenç, Prospects for Constitutionalism in PostComunist Countries, The Hague 2002, 111 ff.; zuletzt Astrid Lorenz, Der konstitutionelle Rahmen: Verfassungsgebung und Verfassungsentwicklung, in: Florian Grotz / Ferdinand Müller-Rommel (eds.), Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa, Wiesbaden 2011, 51 ff.; dies., Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien, Wiesbaden 2008.
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form dürfte von besonderem Interesse auch für die Türkei sein, zumal sie auch Gegenstand mehrerer verfassungsgerichtlicher Verfahrens wurde.34 Auch in den meisten westeuropäischen Staaten wurden nach dem Mauerfall einige neue Verfassungen gegeben bzw. zahl- und umfangreiche Verfassungsreformen vorgenommen.35 So wurden in Österreich 54, in Deutschland und Luxemburgs je 23, in Frankreich 19, in Italien 15, in Irland 14, in Malta und Schweden36 je 13 und in den Niederlanden 8 Verfahren der Verfassungsänderung erfolgreich abgeschlossen. In Andorra (1993), Belgien (1994/2008), Finnland (2000/2007),37 Schweiz (2000/2009), Città del Vaticano (2000) und San Marino (2002)38 wurden die Verfassungen grundlegend formell oder inhaltlich erneuert. Belgien scheint die Umwandlung in einen Bundesstaat trotz 28 weiterer Verfassungsänderungen nicht so gut bekommen zu sein wie der Schweiz ihre auf langen Vorarbeiten beruhende „nachführende“ Totalrevision. Daß auch Teilreformen eine Verfassung insgesamt erneuern können, zeigt die Reform der alten Verfassung von Liechtenstein 1921 im Jahre 2002, die die VenedigKommission in ihrem Gutachten zu einer Warnung veranlaßte: „Even if there is no generally accepted standard of democracy, not even in Europe, both the Council of Europe and the European Union do not allow the „acquis européen“ to be diminished.“39
Der durch das Verfahren der EU-Verfassunggebung inspirierte Österreich-Konvent (2003–2005), dessen Arbeit durch eine Expertenkommission fortgesetzt wurde, leitete dagegen vor allem eine Bereinigung des hypertrophen Bundesverfassungsrechts ein. Und in Italien führten umfangreiche Reformpläne letzlich nur zur Erneuerung des dem Regionalismus gewidmeten Kapitels der Staatsform, nicht auch der Regierungsform. Der Reformdrang scheint vor allem in Nordeuropa ungebrochen. Sogar im Vereinigten Königreich sind die Verfassungsstrukturen durch neue Statutory Instruments, speziell die von der „Scottish Constitutional Convention“ initiierte und durch Referendum bestätigte Devolution, den Human Rights Act 1998 und die Reform der House of Lords 1999 umgestaltet worden. Es wurden eigene Constitutional Reform Acts (2005 und 2010) geschrieben. Die geplante Wahlrechtsreform scheiterte jedoch
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Vgl. die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs vom 17. 6. 2011, Nr. 799. Nur in Dänemark gilt das Grundgesetz seit 1953 unverändert. 36 Nur auf das erste Fundamentalgesetz bezogen. 37 Das Parlament hat am 16. 2. 2011 eine erneute Verfassungsreform verabschiedet, deren Bestätigung durch das neugewählte Parlament noch aussteht. 38 Legge costituzionale 26.2. 2002, Nr. 36. 39 „. . . the present proposal from the Princely House would present a decisive shift with respect to the present Constitution. It would not only prevent the further development of constitutional practice in Liechtenstein towards a fully-fledged constitutional monarchy as in other European countries, but even constitute a serious step backward. Its basic logic is not based on a monarch representing the state or nation and thereby being removed from political affi liations or controversies but on a monarch exercising personal discretionary power.“ CDL-AD (2002) 32. Die französische Version sprach gar von einer „nouvelle Constitution“. Kritisch Günther Winkler, Die Verfassungsreform in Liechtenstein, Wien 2003; Der Europarat und die Verfassungsautonomie seiner Mitgliedstaaten, Wien 2005. 35
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jüngst im Referendum.40 In Schweden hat im Jahre 2008 ein parteienübergreifendes Gremium umfassende Änderungen der vier Grundgesetze vorgeschlagen.41 In den Niederlanden legte eine „Staatliche Grundgesetzkommission“ Ende 2010 ein Gutachten zur Schaffung einer Präambel, einer Ergänzung des Grundrechtskatalogs und zur Regelung des Verhältnisses der Verfassung zu Europa- und Völkerrecht vor.42 Besondere Aufmerksamkeit verdient heute Island, wo 2010 eine 25köpfige Versammlung mit dem Auftrag gewählt wurde, auf der Grundlage einer Anhörung von 1000 ausgelosten Bürgern dem Althing einen Verfassungs-entwurf vorzulegen. Die Wahl wurde zwar vom obersten Gerichtshof wegen Formfehlern annulliert, die Gewählten jedoch vom Parlament selbst in einen neu kreierten Verfassungsbeirat berufen, der am 27. 7. 2011 einstimmig einen Entwurf verabschiedete. Besondere Beachtung aus türkischer Sicht verdienen auch die weniger häufigen und eher gebündelten Änderungen in den postautoritären südeuropäischen Verfassungen der siebziger Jahre, speziell in Portugal (6), Griechenland (2) und Spanien (1). Ein Grund hierfür dürfte in der schwierigen Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer autoritären Institutionen liegen, die die gemeinsamen europäischen Pfade des Konstitutionalismus verlassen hatten. Die portugiesische Verfassung wurde entideologisiert und von ihrem revolutionären Pathos befreit. In die griechische Verfassung wurde 2001 ein Verfassungsgerichtshof eingebaut. In Spanien fand dagegen nur eine einzige kleinere Verfassungsreform statt, weshalb sich das verfassungspolitische Interesse vor allem auf die Reformen der Regionalstatute konzentriert bzw. verschoben hat. Die Vielzahl, der Themenreichtum und die Dialektik dieser Reformprozesse, insbesondere auch ihre Interdependenz mit der Entwicklung der Verfassungsstrukturen der Europäischen Union legen den Schluß nahe, daß sich nationale Verfassungsidentität kaum noch statisch defi nieren läßt. Die europäischen Verfassungsmodelle lassen sich weder isoliert betrachten, noch kurz- oder mittelfristig vereinheitlichen. Sie zirkulieren und kommunizieren untereinander zunehmend und bilden eine die alten „Rechtskreise“ überlappende Gruppe, deren Dynamiken für die außereuropäischen Nachbarn, Partner und Konkurrenten eher unübersichtlich bleiben. Eine Gesamtbewertung aller Erfahrungen, die die europäischen Länder seit 1989 mit Verfassungsreformen und -gebung gemacht haben, übersteigt bisher das Urteilsvermögen des einzelnen Wissenschaftlers. Den Schatz zu heben bedarf es neuer, vor allem dialogischer und interdisziplinärer Verfahren der Vergleichung. Eine Eingrenzung der Vergleichsländer könnte weiterhelfen.
40 Vgl. aktuell House of Lords, The Select Committee on the Constitution, Fifteenth Report: The Process of Constitutional Change, 6. 7. 2011. 41 En Reformerad Grundlag. http://www.sweden.gov.se/sb/d/10025/a/117744. 42 www.staatscommissiegrondwet.nl/userfi les/fi les/KB%20Instellingsbesluit%20staatscommissie %20Grondwet.pdf.
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3. Italien und Frankreich als „More Proximate European Systems“ für die Türkei Aus türkischer Sicht besondere Aufmerksamkeit dürfen bisher die Erfahrungen der traditionell privilegierten Migrationsländer Deutschland und USA, mit gebührendem Abstand auch die Nachfolgestaaten des Ottomanischen Reichs bzw. die nächsten Nachbarstaaten in Europa und Asien genießen. Eine geographische und historiographische Erweiterung des Sichtfeldes hat darüber hinaus einerseits Rußland, andererseits die mediterranen Verfassungskulturen stärker in den Vordergrund zu rücken. Hinsichtlich der Verfahrensfragen und der Themen der Verfassungsreformen gilt das vor allem für Frankreich und Italien, deren eng verflochtenen Nachkriegsverfassungen (1946, 1947, 1958) nach 1989 anders als die alte Verfassung der neuen Welt und das Grundgesetz durch den Ruf nach neuen Republiken43 unter einem nicht unerheblichen Revisionsdruck stehen. In der ersten italienischen Republik hatte nach langjährigen Debatten bereits 1991 der Präsident in einer Botschaft an das Parlament erklärt, anstelle des ordentlichen Verfahrens der Verfassungs-revision könne auch dem nächsten Parlament ein Mandat zur Verfassunggebung eingeräumt oder eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden. In jedem Fall solle den Bürgern ein stärkerer Einfluß durch neue Referenden eingeräumt werden. Durch Referendum wurde dann der Übergang zu einem Mehrheitswahlrecht erzwungen, der zusammen mit einer Aktivierung der Justiz gegen die sog. „tangentopoli“ die gesamte Parteinlandschaft neu gestaltete. Dagegen scheiterten mehrere Versuche, eine umfassende, nur den Grundrechteteil aussparende Verfassungsreform im Parlament durch Einführung eines speziellen Änderungsverfahrens zu katalysieren. Um die schließlich erfolgten Verwaltungsreformen verfassungsrechtlich abzusichern, wurde 2001 im ordentlichen Verfahren das Regionalismuskapitel der Verfassung mit knappen Mehrheiten in Parlament und Volksabstimmung reformiert. Im Jahre 2006 unterlag dann die entgegengesetzte Regierungsmehrheit in der Volksabstimmung mit dem Versuch, eine im Wahlprogramm angekündigte umfassende Verfassungsreform zur Stärkung des Premierministers, zur Abschwächung des Bikameralismus und zur Neuordnung der Judikative und des Verfassungsgerichts durchzusetzen. In einem erneuten Anlauf hat die Regierung nun im April 2011 beschlossen, dem Parlament einen Entwurf zur Änderung des Justizkapitels der Verfassung vorzulegen, dem ein weiterer Anlauf zur Verkleinerung des Parlaments und zur Bildung eines föderalen Senats folgen sollte, aber aufgrund der Finanzkrise allenfalls eine Reform zu Einführung einer Schuldenbremse, zur Abschaffung der Provinzen und evt. zur Verringerung der Abgeordnetenzahl folgen dürfte.44 In Frankreich hatte schon die Verfassungsreform von 2000 versucht, das semi-präsidentielle Regierungssystem durch eine Synchronisierung der Wahlen („Quinquennat“) zu rationalisieren. Das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags erforderte dann eine Reform zur Absicherung des Lissabonvertrags. Der Staatspräsident setzte ein 43
Vgl. nur Olivier Duhamel, Vive la VIe République, Paris, 2002. XVI. Legislatura, Atti della Camera dei Deputati n. 4275 „Riforma del Titolo IV della Parte II della Costituzione“ (7. 4. 2011). 44
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von E. Balladur geleitetes „Comité de réflexion et de proposition sur la modernisation et le rééquilibrage des institutions de la Ve République“ ein, das das Parlament zur Erneuerung von mehr als der Hälfte der Verfassungsbestimmungen inspirierte. Die im Stile einer Rationalisierung der Regierungsform konzipierte Reform des Jahres 2008 versuchte die Rolle des Parlaments zu stärken und die Obstruktionsfreiheit der Opposition zu beschränken. Die Befugnisse des Staatspräsidenten wurden beschränkt und eine zweite Wiederwahl wurde ausgeschlossen. Dafür darf er nun vor dem Parlament reden, ohne ihm Rede und Antwort stehen zu müssen. Das Volk kann sich auf die Seite einer Parlamentsminderheit stellen, um ein Referendum zu veranlassen. Der Conseil constitutionnel wird nach italienischen Vorbild mit inzidenten Normenkontrollen, nicht aber mit Verfassungsbeschwerden befaßt. Ob diese Reform die fünfte Republik stabilisieren und einer weiteren Präsidialisierung der Regierungsform und Personalisierung der Politik gegensteuern kann, bezweifeln ihre Kritiker.45 Die Verfassungen Italien’s und Frankreich’s bieten der türkischen Verfassungsreform zahlreiche strukturelle und funktionelle Anknüpfungspunkte. Unbeschadet einer weitergehenden Vergleichung der Problemlagen, vor allem auch im Hinblick auf die Medienfreiheit, gilt dies zunächst speziell für folgende wesentliche Prinzipien und Institutionen der Staats- und Regierungsform, die als Themen in die Reformagenda aufgenommen werden können: 1) Die Staat und Kirche trennende Laizität, in Italien durch die verfassungsrechtliche Absicherung historischer Privilegien einer Konfession beschränkt, die anderen kooperierenden Religionen nicht vorenthalten werden dürfen und geringerer verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegen (z. B. Kruzifi x), 2) der Vorrang der Volkssouveränität mit Elementen direkter Demokratie und einem demokratischen Pluralismus, der auf besondere Parteiverbotsverfahren zugunsten flexibler Koalitions- und Konventionalregeln verzichtet, die die Integrationschancen von nicht an der Verfassungsgebung beteiligten Parteien beeinflussen, 3) die in Frankreich durch die Präambel und in Italien durch einen Grundsatz materieller Gleichheit verstärkte Anerkennung sozialer Grundrechte bzw. Grundpfl ichten unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle der entsprechenden Gesetzgebung, 4) das Abgehen vom Verhältnismäßigkeitswahlrecht zugunsten eines zweiphasigen Mehrheitswahlrechts bzw. zugunsten von Mehrheitsprämien, 5) die einheitliche Dezentralisierung bzw. der differenzierte Regionalismus, der kulturelle Minderheiten entweder ignoriert oder ihnen einen besonderen territorial beschränkten, ggf. auch asymmetrisch differenzierten Schutz gewährt, 6) die Demokratisierung der in die NATO eingebundenen und internationale Friedensmissionen ausführenden Streitkräfte, in Frankreich im Rahmen der die Regierungsverantwortung garantierenden Kompetenzordnung, in Italien auch im Grundrechte- und Grundpfl ichtenteil,
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Vgl. nur Anne Levade, Les nouveaux équilibres de la Ve République, RFDC 2010, 227 ff.; zur Problematik der Zählung Christophe Chabrot, Ce n’est pas une Ve République, RFDC 2010, 257 ff.; aus italienischer Sicht Massimo Cavino / Alfonso Di Giovine / Enrico Grosso, La quinta repubblica francese dopo la riforma costituzionale del 2008, Torino 2010.
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7) die unterschiedlich ausgeprägten Tendenzen zur Rationalisierung des Parlamentarismus und zur Präsidialisierung der Regierungsform, mit besonderen Formen gubernativer Rechtsetzung, 8) die nicht spannungsfreie Trennung von Politik und Justiz, mit besonderen Garantien zugunsten von Kassationsgerichtshof, Staatsrat und hohen Richterrat und Verfassungskonfl ikten, die weder im Wege der Verfassungsgesetzgebung noch der Verfassungsgerichtsbarkeit immer beizulegen sind; 9) den vor allem abstrakt-präventive und inzident-sukzessive Normenkontrollen, nicht Verfassungsbeschwerden beurteilende Verfassungsgerichtshof, 10) das Verfahren der Verfassungsänderung mit eventueller Volksabstimmung und ihre weitgefaßten Grenzen, ohne unabänderliche Artikel. Diese nur aus einer ersten Lektüre und Außenansicht der türkischen Verfassung gebildeten Vergleichspunkte rücken beide Länder vielleicht noch näher als das traditionell besonders beachtete Deutschland oder das näherliegende Ungarn und ließen sich von daher als „More Proximate European Systems“ beschreiben. Die Klärung der konkreten Reformbedürfnisse und Rezeptionsoptionen erfordert jedoch eine detaillierte Mikrovergleichung unter Einbeziehung auch der Rechtsprechung, Staatspraxis und Lehre.
4. Die Verfassung ändern oder eine neue Verfassung geben? Die Beurteilung der Ursachen und Folgen der neueren europäischen Verfassungsreformen und ihre Verarbeitung zu Erfahrungen verlangt Hilfe der Politik-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften46 und erfordert eine Vertiefung der Verfassungstheorie, die letztlich auch der Wissenschaft des Verfassungsrechts obliegt.47 Das gilt schon für die Grundfrage nach dem Innovationsbedarf von Verfassungen, die nach traditioneller politikwissenschaftlichen Betrachtung auf die Unterscheidung „rupture“ oder „reform“48 bzw. auf die Suche nach einer historischen „Zäsur“ als Bedingung gelungener Verfassung(ent)würfe verweist.49 Im internationalen Begriff des „constitution making“ werden Verfassunggebung und -reform freilich enger miteinander verknüpft: „For the United Nations, constitution-making is a broad concept that covers the process of drafting and substance of a new constitution, or reforms of an existing constitution.“50
Mit zunehmender Internationalisierung wird nun die Differenzierung der Verfahren der Verfassunggebung und der Verfassungsänderung zwar relativiert, aber nicht hinfällig. Die traditionelle theoretische Unterscheidung von „pouvoir constituant“ 46 Vgl. Bernd Hayo / Stefan Voigt, Determinants of Constitutional Change: Why do Countries Change their Form of Government? Cesifo Working Paper No. 3087, June 2010, www.ssrn.com. 47 Wegweisend zuletzt Christian Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung: Zur Theorie der Verfassung und der Verfassungsrechtserzeugung, Tübingen 2007. 48 Juan Linz, Transition to Democracy, The Washington Quaterly 1990, 143 ff. 49 Vgl. R. Wahl, Verfassunggebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, Berlin 2006, 34 ff. m. w. N. 50 Guidance note zit.
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bzw. „originaire“ und „pouvoir constitué“ bzw. „dérivé“ mag zwar dazu dienen, grundlegende Entscheidungen zur Staats- und Regierungsform dem „pouvoir constituant“ vorzubehalten, darf jedoch den notwendig repräsentativen Charakters beider nicht verwischen und hat zudem die Frage nach dem rechtlichem Fortbestehen der verfassunggebenden Gewalt nicht gelöst, die nach dem Inkrafttreten der Verfassung entweder erlöschen oder sich selbst suspendieren oder sich in eine konstituierte Gewalt umwandeln will oder soll.51 Unbestritten und in zunehmendem Masse justiziabel sind heute die rechtlichen Bindungen der verfassungsändernden Gewalt, die bei der verfassunggebenden Gewalt dagegen trotz der guten südafrikanischen Erfahrung und der zunehmenden Bindungskraft der Menschenrechte und des Völkerrechts bislang noch nicht allgemein anerkannt und ohne eine besondere Kompetenznorm kaum justiziabel sind.52 Aus türkischer Sicht ist hierzu die jüngste Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts53 zu beachten, die entgegen einer scheinbar restriktiven Kompetenznorm54 im Anschluß an das Kopftuchurteil aus dem Jahre 2008 auch eine inhaltliche Überprüfung verfassungsändernder Gesetze an der Unabänderlichkeitsklausel des Art. 4 der türkischen Verfassung55 bejaht, dem Gesetzgeber freilich einen weiten Ermessensspielraum zugesteht. Inwieweit dadurch auch eine die Grundprinzipien reinterpretierende Neuformulierung der Präambel verboten ist, auf dessen Grundprinzipien die unabänderliche Vorschrift des Art. 3 verweist, könnte noch weiterer verfassungsgerichtlicher Klärung bedürfen. Will man jedoch gerade derartig strenge Revisionssperrklauseln in Verfassungstexten ändern, auf heben oder auch nur von ihnen abweichen, so ist schon im technischen Interesse der Sicherheit des Verfassungsrechts eine Verfassungsgebung angezeigt. Die Wahl dieses Verfahrens kann dann freilich nicht nur dazu dienen, eine unbequeme verfassungsgerichtliche Kontrolle zu vermeiden, sondern auch einen Verfassungskern so zu enthärten, daß eine „Dekonstitutionalisierung“ betrieben bzw. einem „Scheinkonstitutionalismus“ Vorschub geleistet wird. Die praktische Unterscheidung von Verfassunggebung und -änderung bereitet zusätzliche Schwierigkeiten, die auch in der neuen Studie der Venedig-Kommission behandelt werden: 51 Vgl. nur Mario Dogliani, Potere costituente, Torino 1986; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, Frankfurt 1986; Peter Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 1987, 85 ff.; Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, Paderborn 1995; Claude Klein, Théorie et pratique du pouvoir constituant, Paris, 1996, Christoph Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in Armin von Bogdandy / Jürgen Bast (eds), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin, 2006, 1 ff. 52 Rechtsvergleichend Enrico Grosso / Jörg Luther, Revisione e giustizia costituzionale, in: Roberto Bin et al. (eds.), Effettività e seguito delle tecniche decisorie della Corte costituzionale, Napoli 2006, 273 ff. 53 Urteil vom 7. 7. 2010 E. 2010/49, K. 2010/87, zit. nach Ece Göztepe, Eine Analyse der Verfassungsänderungen in der Türkei vom 7. 5. 2010, EuGRZ 2010, 685 ff. 54 Art. 148 (Aufgaben und Kompetenzen des Verfassungsgerichts): „Die Verfassungsänderungen untersucht und überprüft es nur im Hinblick auf die Form.“ 55 „Die Vorschrift über die Republik als Staatsform sowie die Vorschriften über die Prinzipien der Republik in Artikel 2 und diejenigen des Artikel 3 sind unabänderlich, das Einbringen eines Änderungsvorschlags ist unzulässig.“
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„From a formal standpoint the distinction is readily identifiable, depending on whether the existing amendment procedures have been applied. From a more substantive standpoint the distinction is less clear. First, there is the possibility that limited constitutional reforms may be proposed in the form of a totally new constitution. Second, there are many examples of new political orders, which are in effect entirely new constitutions, have been introduced by way of constitutional continuity, respecting the amendment provisions in the old constitutions.“56
Zum ersten Fall rechnet die Kommission den Übergang von der vierten zur fünften französischen Republik, zum zweiten einige osteuropäischen Transformationsverfassungen, die eine formelle Legitimation im bestehenden Verfassungssystem beanspruchten, um die Anforderungen und Erwartungen an die Legitimation durch das Verfahren der Verfassunggebung zu reduzieren. In seinem neuesten Votum zur Ukraine hat die Venedig-Kommission dagegen betont, im Falle eines Versagens der von der alten Verfassung eingesetzten Institutionen („serious deterioration in the operation of an existing constitution“) könne eine neue Verfassunggebung vorzugswürdig sein: „The comparative experiences in other countries suggest that the use of special bodies such as constitutional assemblies or conventions, holds a strong potential for providing a more open and participatory process of constitutional reform and thus stronger legitimacy of the new constitution.“57
Dabei schwingt nicht zuletzt wohl auch die Erwartung mit, daß die verfassunggebende Versammlung nach den Grundsätzen einer Verhältniswahl gebildet und um so mehr rationale Legitimität erzeugt, als sie inkludierende Verhandlungen erfordert. Ob diese Empfehlung auch für den Umgang mit den alten Eliten der Türkei und mit dem ottomanischen bzw. kemalistischen Erbe angenommen wird oder nicht lediglich das neue Parlament mit Regierungsmehrheit sich selbst zur verfassunggebenden Versammlung erhebt, bleibt abzuwarten. Um einen sofortigen Bruch der bestehenden Verfassung und die delegitimierende Wirkung eines zu langen Aushandelns der neuen Verfassung zu vermeiden, wird als mehrdeutiger Mittelweg nicht selten auch eine Versammlung mit zunächst nur beratender Funktion einberufen und ihre Arbeit den Entscheidungen der Parlamente und Staatspräsidenten im anschließenden ordentlichen Verfahren der Verfassungsänderung vorgeschaltet. Auch wenn man einmal von dem im Lissabon-Vertrag nun festgeschriebenen Konventsverfahren absieht, dürfte der westeuropäische Trend langfristig eher hin zu ähnlich angereicherten Änderungsverfahren gehen, da auch in den Einzelstaaten der USA das reine Konventsverfahren keine Anwendung mehr zu fi nden scheint.58 56
CDL-AD(2010)001. CDL-AD(2011)002: „9. The concept of a ‚constitutional assembly‘ (or ‚convention‘) is normally used to describe assemblies that are created specifically for the purpose of preparing either a new constitution or broad constitutional reform. (. . .). 10. Comparative constitutional law shows that special constitutional assemblies have mostly been used in two types of historical circumstances. First, when established in the aftermath of a significant break from the past such as a revolution, civil war or major disruption of this kind. Second, in the establishment of federations or confederations where a group of independent or separate states or former colonies have come together in a new union.“ 58 Im 19. Jh. erarbeiteten noch 144 Conventions 94 neue Verfassungen, im 20. Jh. waren es nur noch 84 Conventions und 23 neue Verfassungen, seit 1984 keine mehr. 57
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Für ein Verfahren der Verfassunggebung spricht schließlich die größere Freiheit bzw. geringere Selbstbindung gegenüber einem als ideologisch zementiert empfundenen kemalistischen Verfassungskern, dessen Komponente der „Laizität“ durch Wertbegriffe einer islamischen Demokratie wie z. B. hurriyet (Freiheit), adalet (Gerechtigkeit) und mesveret (Beratung) erneuert werden könnte. Hinzu tritt auch die Erwägung, daß auf diesem Weg die verfassunggebende Gewalt sich selbst neu definieren könnte. Bekanntlich identifizieren viele Verfassungen heute zumeist in der Präambel die verfassungserzeugende Gewalt mit dem Volk („we the people“), einer verfassunggebenden Versammlung oder einem Parlament als Repräsentanten des Volkes, der Nation oder der Staatsform.59 In Schweizer Verfassungen fi ndet sich auch noch eine Repräsentationsformel, die das Volk und die Kantone „im Namen Gott des Allmächtigen“ die Verfassung hat geben lassen, die freilich eher als ein Hinweis auf die Säkularisierung als auf ein göttliches Mandat zur Verfassunggebung gelesen wird. Die 1982 von dem Verfassungsrechtslehrer Professor Aldikaçti vorbereitete, vom Nationalen Sicherheitsrat beschlossene und durch Volksreferendum ratifizierte Verfassung bezeichnet in ihrer Präambel die „Türkische Nation“ als das Subjekt, das sie selbst „der Liebe der der Demokratie innig verbundenen Kinder zu Vaterland und Volk übergeben und anvertraut“ habe.60 Nicht schon das Volk, sondern die Nation ist danach der bisherige Träger der verfassunggebenden Gewalt, wie einst bei Emer de Vattel und Emmanuel Sieyès und noch heute explizit z. B. in der Verfassung von Litauen (1992) oder implizit in der französischen Formel der „souveraineté nationale“ (1958), die wohl auch als Vorlage für die pan-türkische Nationalismusdoktrin des Kemalismus diente. Eine Entideologisierung der Verfassung könnte daher auch an die Stelle der Nation als Trägerin der verfassunggebenden Gewalt z. B. eine „citizenship of Turkiye“ zu setzen beanspruchen.61 Der teilweise als unrechtlich abqualifizierte Begriff der „Nation“ hat freilich noch tiefergehende mediterrane Wurzeln und wird in der Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts zur Teilverfassungswidrigkeit des katalonischen Regionalstatuts62 von dem der „Nationalität“ geschieden. Im heutigen europäischen Kontext ermöglicht er internationale Beziehungen politischer und kultureller Art, verweist auf Völkerrecht als „Internationales Recht“ und ermöglicht supra- bzw. transnationale Organisation, indem er den Staat kuturell relativiert. Innerstaatlich wird Nation teilweise nur als Synonym von Staatsvolk verwandt, verknüpft jedoch auch eine kulturelle Identität mit einem politischen Willen. Nation weist insofern über das jeweilige Wahlvolk und die Summe der lebenden Staatsbürger hinaus, als sie die vergangenen und die zukünftigen Generationen einschließt. Dieser objektive mit subjektiven Komponenten verknüpfende Begriff mag in den europäischen und außereuropäischen Staaten in unterschiedlichem Umfang gebraucht werden und ist gegen paternalistischen bzw. populistischen Mißbrauch gewiß nicht gefeit. Aber „national“ ver59
Albrecht Weber, Verfassungsvergleichung, München 2010, 41 ff. In der Übersetzung von Christoph Rumpf. Zum Verfahren Ernst Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. 11. 1982, JöR 23, 1982, 515. 61 So zuletzt Mustafa Sahin, Islam, Ottoman Legacy and Politics in Turkey: An Axis Shift?, The Washington Review of Turkish & Eurasian Affairs, www.thewashingtonreview.org, Januar 2011. 62 Tribunal Constitucional, Urteil vom 28. 6. 2010, STC 31/2010. 60
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antwortete Verfassunggebung ermöglicht auch im Falle einer „invocatio“ oder „evocatio dei“ eine republikanische Identität durch demokratische Repräsentation herzustellen. Diese Identität läßt sich jedenfalls im europäischen Kontext nicht mehr auf ethnische Faktoren reduzieren und bleibt notwendigerweise offen für eine Weiterentwicklung der Bindungen an das Recht der internationalen Gemeinschaft, der Kriterien der Staatsangehörigkeit, der Aufarbeitung der Vergangenheit usf.
5. Demokratisierung der Verfahren: Verfassungsinitiative und Verfassungsreferendum Selbst wenn die Verfassunggebung ein von der Verfassungsänderung zu unterscheidendes Verfahren ist, so ist damit doch nicht ausgeschlossen, daß die Grundprinzipien der Verfahren der Verfassungsänderung auch Anwendung auf das Verfahren der Verfassunggebung fi nden können. Wenn schon die Verfahrensentscheidungen als input, z. B. demokratisch-selbstbestimmte oder autokratisch-fremdbestimmte Bestellung der Verfassunggeber, parlamentarische Methode, präsidentielle Regie oder Allparteienregierung, die Verfassungsentscheidungen als output konditionieren63, ist eine rechtliche Bindung des Mandates zur Verfassunggebung an diese Regeln oder an von innen und außen vorab anerkannte gemeinsame Grundsätze – jedenfalls heute, anders als in den ersten Verfassungsrevolutionen – nicht mehr auszuschließen. Rechtlich läßt sich das Mandat zur Verfassung deshalb auch als Inhalt einer kleinen „Übergangsverfassung“ darstellen. Wenn nun aber die Demokratie eine anthropologische Konsequenz und prozedurale Garantie von Menschenwürde ist64, dienen demokratische Verfahren der Verfassunggebung und -reform letztlich vorrangig der Verwirklichung der politischen Rechte des Menschen als Bürger. Die Bürger dürfen nicht zum Objekt der verfassunggebenden Gewalt degradiert werden, sondern sind nur als Subjekte von Verfassunggebung zu denken. Die Verfassung gehört nur ihnen und ermöglicht ihre Souveränität als Volk, wenn sie selbst die Verfassunggebung nicht bloß „erleben“ dürfen, sondern auch Teilnahmerechte ausüben können. Dies gilt vor allem für den Beginn und für den Abschluß des Verfahrens der Verfassunggebung. In einem demokratischen Verfahren ist zunächst die Freiheit von Verfassungspetitionen zu gewährleisten und mit Verfassungstreuepfl ichten der Staatsdiener und Parteien zu vereinbaren. Eine Übergangsverfassung könnte auch kollektive Verfassungsinitiativen privilegieren. Wird die Verfassungsinitiative dagegen Staatsorganen vorbehalten, sind besondere Anforderungen an Transparenz und Partizipation der Öffentlichkeit zu stellen. Wenn Inhalte von Verfassungsreformen zentrale Themen im Regierungsprogramm und Regierungsgeschäft und Aufgabenbereiche z. B. eines Ministers für Verfassungsreform werden, wird damit zwar der Transparenz und Kontrolle Rechnung 63 So zuletzt z. B. Zachary Elkin / Tom Ginsburg / Justin Blount, Does the Process of Constitution-Making Matter? Annual Review of Law and Social Science, 2009, 201 ff. 64 Peter Häberle, Verfassungslehre cit., 127.
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getragen, aber mit den Wahlen indirekt auch über die Verfassung abgestimmt. Die Verfassung droht in diesem Fall als bloßes „Instrument of Government“ der jeweiligen Mehrheit verstanden zu werden, ohne Herrschaftslimitierung und Sozialintegration zu dienen. Ein Ausschluß von Initiativrechtrechten der Regierung bzw. ihre Nichtausübung könnte dem vorbeugen, nicht aber ihre Beteiligung an europäischen und internationalen Einwirkungen z. B. auf die Gestaltung der Finanzverfassung verhindern. Eine völlige Trennung der Tagespolitik von der Verfassungspolitik hat sich ohnehin – jedenfalls in Italien – als praktisch undurchführbar erwiesen. Die Verfassungsorganpfl icht der Regierungsmitglieder schließt nicht politische Informationen und Werbung mit Reformoptionen und Werten auch im Wahlkampf aus, dürfte es aber in der Regel verbieten, eine umfassendere Verfassungsreform zur Hauptsache des Regierungsgeschäfts zu machen und mit der Annahme einer Regierungsvorlage zur Verfassungsreform die Vertrauensfrage zu verbinden. Demokratische Verfassungen haben sowohl „regierungsmehrheitsfest“ (countermajoritarian rigidity) als auch ausreichend anpassungsfähig zu sein, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, der sie dienen (historical flexibility). Je weniger proportional nun die sie beschließenden Organe die Gesellschaft repräsentieren, um so höher sind die Anforderungen an den Konsens zu stellen, den sie aushandeln und erzielen müssen, um die Legitimität der Verfassung zu erzeugen. Bei der Erringung der Demokratie können Verfahren und Organe der Verfassungsreform anders gestaltet werden als bei ihrer Konsolidierung und Instandhaltung. Die Gefahr eines Mißbrauchs demokratischer Formen zu nicht demokratischen Zwecken wächst dann allerdings. Dies gilt in besonderem Maße für die Gefahr einer Manipulation des Volkswillens bei Verfassungsreferenden, die besser am Ende als am Anfang einer Verfassungsreform stehen und am besten auf einer frühzeitigen Einigung der Parteien beruhen, das Volk gewissermaßen als Schiedsrichter zwischen Tradition und Innovation anzurufen.65 Jedenfalls aus italienischer Sicht besonders weise und praktisch zum Schutz gegen „Mogelpackungen“, die der Allgemeinheit nutzbringende Regelungen mit partikulären Privilegien verknüpfen, erscheint die Regelung von Art. 175 Abs. 8 der türkischen Verfassung, nach der bei umfassenden Reformpakten auch eine Abstimmung über einzelne Regelungen ermöglicht werden soll. Auch hierauf könnten Volksinitiativen gerichtet werden.
6. Maßvolle Verfassungserwartungen In jede Verfassunggebung und -reform fl ießen Ideen vom Sinn und von den Aufgaben einer guten Verfassung als Erwartungen ein, an denen sich das Textwerk und die Realität des Verfassungslebens messen lassen. Die europäischen Erfahrungen lehren, daß die internen und externen Erwartungen an die Erneuerung einer Verfassung seit 1989 gewachsen sind, aber nicht überspannt werden dürfen. 65 Rechtsvergleichend Giuseppe de Vergottini, Referendum e revisione costituzionale: una analisi comparativa, Giurisprudenza costituzionale 1994, 1339 ff.
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Das gilt zunächst für die externen Erwartungen, die Verfassungsreform könne einen EU-Beitritt der wirtschaftsstarken Türkei erleichtern und fördern, der Chancen für eine Lösung der Zypernfrage und geo-politische bzw. geo-ökonomische Vorteile im Wettbewerb mit Asien bietet, allein schon wegen der demographischen Bedeutung der Türkei freilich auch die deutsch-französische Vorrangstellung in der Union gefährdet. Besondere EU-Beitrittsklauseln stehen bisher ebenso wenig auf der Reformagenda wie Vorgaben für die zukünftige Rolle der Nachfolgerin des osmanischen Reichs in der internationalen Gemeinschaft. Art. 8 TUE könnte zumindest zu einem Bekenntnis zu verstärkter Zusammenarbeit mit der EU einladen. Übertriebene Erwartungen sollten auch nicht in die Perspektiven der Verfassungsreform gesetzt werden, die türkische Demokratie und den türkischen Rechtsstaat zu konsolidieren. Die neueren europäischen Verfassungsreformverfahren lehren hierzu, daß „constitution-making“ nicht einfach Gesetzgebung, sondern auch ein Sich-miteinander-vertragen sein-soll, in dem Demokratie auf Inklusivität ausgerichtet wird. Die Garantien der Opposition und der Minderheiten weiterzuentwickeln ist jedoch dann eine schwierige Aufgabe, wenn sie eher den alten als den neuen Eliten zu nützen scheinen. Die Mahnungen des Europarats, Pluralismus durch eine Reform der Parteiverbotsregeln und durch Garantien von Minderheitssprachen zu sichern, stärken von außen grundsätzlich maßvolle und erfüllbare interne Verfassungserwartungen. Eine andere nicht weniger schwierige Aufgabe wird es sein, die Laizität so weit zu bewahren, daß sich die Demokratie dem Islam als einer Religion der Mehrheit öffnen kann, ohne eine Tyrannei eben dieser Mehrheit zu stiften. Säkularisierung und Laizität sind keine irreversible Errungenschaft der demokratischen Kultur und auch ein expliziter Gottesbezug – wie z. B. in der griechischen oder polnischen Verfassung – muß ihre Offenheit und ihren Anspruch auf Dialog und Toleranz nicht preisgeben. Die Laizität kann jedenfalls als Verfassungsprinzip ihren Wert leichter bewahren, wenn sie nicht in einem festen Kanon ritueller Regeln festgeschrieben bleibt. Umgekehrt kann auch ein Gottesbezug mit einem gleichzeitigen Bekenntnis zu Menschenrechten, die die Gewissensfreiheit beinhalten, den Wert haben, den Streit um die Symbole dem heißen Kern der Verfassungsidentität zu entziehen, ohne die Entscheidung an eine religiöse Mehrheit zu delegieren.66 Auch die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz von der Politik und der Presse von beiden bleibt eine von der Verfassung allenfalls in Ansätzen lösbare Aufgabe. Ob der Direktwahl des Präsidenten der Wechsel zu einer präsidialen Regierungsform folgen wird, bleibt angesichts der Entscheidung des Wahlvolks, der Regierungsmehrheit keine Verfassunggebungsmehrheit zu verleihen, eher ungewiß. In einem demokratischen Kontext kann paradoxerweise eine Reform der Regierungsform um so unwahrscheinlicher werden, als sie zur Herstellung von Entscheidungen notwendig und wünschenswert erscheint.67 Umgekehrt dürfen aber auch die Befürchtungen nicht überspannt werden. Demokratie verlangt ein Vertrauen des Volkes in sich selbst, besonders als Verfassunggeber 66
Vgl. Helmut Goerlich / Wolfgang Huber / Karl Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Leipzig 2004. Gustavo Zagrebelsky, Modifiche ed adeguamenti della Costituzione, Scritti Vezio Crisafulli, Padova 1985, 915 ff. 67
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und -nehmer. Bei demokratischen Verfassungsreformen ist gewiß immer auch ein gesundes Mißtrauen angezeigt, aber verlangt wird eben keine Angst vor dem Staatsstreich, sondern Geduld und Zuversicht in das Volk und in den „genius loci“, speziell von Istanbul. Das demokratische Vertrauen kann aus europäischer Sicht freilich nur mit den Mitteln der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit hergestellt werden, ohne die der „Schleier des Nichtwissens“ das zynische Gegenteil des Verfassungsstaates würde. Diese Freiheiten sind möglich, denn „constitution is a civil process of education“. Mit dieser republikanischen Einsicht und Hoffnung könnte heute selbst Kemal Atatürk einer flexibleren, ideologisch weniger anspruchsvollen, aber voll justiziablen und den Bürgern eigenen Verfassung der Türkei zustimmen.
Abstract The Turkish Constitution-Making process is crucial not only for Turkey and therefore participated by other European and Asian countries, international organisations and cosmopolitan society. Constitutional comparativism can be useful, but needs to remember fi rst of all its own heritage. A practical problem is that European constitutional reforms since 1989 are complex and difficult to survey. The paper argues that France and Italy could be more proximate European systems. The choice between a totally revised old and a completely new Constitution seems less relevant, but could be influenced by the interpretation of the revision clauses given by the Constitutional Court and should need a clear idea of the new national „pouvoir constituant“, no paternalism and no populism. The democratisation of the constitution making procedure has to avoid a dominant role of the government and bad practices of constitutional referendum. All expectations need moderation.
Laizität und Religionsfreiheit Zur Verfassungsreform in der Türkei am Beispiel der Religionsfreiheit in der Perspektive ihrer internationalen und europäischen Gewährleistungen1 von
Professor Dr. Helmut Goerlich, Universität Leipzig I. Einleitung und These Die Türkei ist heute nach ihrem Selbstverständnis ein laizistischer Verfassungsstaat. Welchen Charakter die damit behauptete „Laizität“ besitzt, kann dahinstehen. Jedenfalls ist zentrale These der folgenden Ausführungen: 1 Korrigierte und ergänzte Fassung des am 13. Mai 2011 auf dem Internationalen Kongress über Verfassungsrecht in Istanbul gehaltenen Vortrags. Der Kongress vom 11. bis 14. Mai 2011 wurde ausgerichtet von der Istanbul-Universität und der Kültür-Universität, beide Istanbul, und zwar im Lichte einer in Aussicht genommenen Verfassungsreform in der Türkei. Die Kongressveranstalter haben den Beitrag in einer älteren Fassung in türkischer Übersetzung im dritten Tagungsband des Kongresses veröffentlicht; beide Versionen des Beitrags versuchen aufgrund ihrer verfassungspolitischen, d. h. vor allem auch praktischen Absicht in Erfüllung der normativen Anforderungen der einschlägigen menschenrechtlichen Garantien nicht, die im engeren Sinne sozialwissenschaftliche Debatte zu Läizität, Säkularität und Säkularismus aufzugreifen, dazu M. Wohlrab-Sahr / M. Burchardt, Vielfältige Säkularitäten, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 7 (2011), S. 53 ff., sowie J. Maclure / C. Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Berlin 2011. Ebenso wenig versucht der Beitrag, die verfassungsrechtliche Debatte um Säkularität als rechtliches Strukturprinzip aufzunehmen und fortzuführen, dazu etwa A. Reuter, Säkularität und Religionsfreiheit, in: Leviathan 32 (2007), S. 178 ff., sowie H. Goerlich, Säkularität – Religiosität – Egalität etc., in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 7 (2011), S. 33 ff. Normativ wie empirisch fi nden sich sehr unterschiedliche Gemengelagen: So ist etwa die indische Gesellschaft keineswegs säkular, ihre Verfassung aber erhebt Säkularität zum unabänderlichen Strukturprinzip, nämlich als Teil der „basic structure“ – sozusagen ihrer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ –, die in der Präambel der Bundesverfassung unabänderlich und verbindlich niedergelegt ist, vgl. dazu unten bei und in Anm. 5. Für weitere tastende Voruntersuchungen zu dem Feld vgl. H. Goerlich, Säkularität und freie geistige Auseinandersetzung der Bürger etc., in einem Tagungsband zu Tagungen der Ernst-Reuter-Initiative, hrsgg. v. G. Plagemann beim Berliner Wissenschafts-Verlag, i. E.; älter die weiterführenden Ausführungen in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, in dem es keine Staatskirche gibt, es aber lange noch ein Staatskirchenrecht gab und gibt, obwohl es nach dieser normativen Aussage nur ein Religionsverfassungsrecht geben kann, von P. Häberle, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, in: Die öffentliche Verwaltung 1976, S. 73 ff., und ders., Geburtstagsansprache, in: J. Krüper u. a. (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, Tübingen 2010, S. 155 ff. (158); eine
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Die Türkei wird auch nach einer Verfassungsreform ein säkularer, gegenüber verschiedenen Religionen und deren Bekenntnis neutraler, d. h. diese alle gleich und frei von Diskriminierung behandelnder Staat sein müssen. Dabei ist anzumerken, dass alle Staaten, die ein derartiges Verfassungsregime aufweisen, diesem Gleichbehandlungsgebot bis heute nur eingeschränkt genügen, obwohl nur hinreichende sachliche Gründe ein gewisses Maß an Ungleichbehandlung rechtfertigen können. Auch die Türkei wird zukünftig den Anspruch des Gleichbehandlungsgebots in dem Maße erfüllen können, wie ihr Staat einer modernen Gesellschaft dient, deren weitere, nicht nur zivile, sondern auch religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Entfaltung die Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen zunehmend erzwingt. Die soeben formulierte These ergibt sich aus Folgendem: Die Verfassung der Türkei muss aus Rechtsgründen jedenfalls säkular bleiben, da allein ein säkularer Charakter ihres Rechts den Anforderungen einzelner Garantien der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 in der heute geltenden Fassung 2 entspricht, die die Türkei ratifiziert hat. Zudem ist der heutige moderne Staat ein Produkt des menschlichen Geistes; ihn haben Menschen geschaffen. Dieser Staat kann deswegen nun nicht mehr in dem älteren, auch im Westen bekannten Gewand religiöser Legitimation und ihrer Ordnungen auftreten. Es kommt hinzu, dass die moderne Gesellschaft allenthalben nach der Auf klärung – also jener Bewegung des Geistes im 17. und 18. Jahrhundert, die Glauben und Wissen deutlicher als vordem unterschied – nur noch eine nach dem aufgeklärten Verständnis rationale Legitimation des Staates hinnimmt.
II. Laizität, Säkularität und religiöse Neutralität Die „Laizität“ der Verfassung der Türkei ist umstritten: Zunächst ist auszuführen, welche Folgen es hätte, wenn die „Laizität“ als charakteristisches Merkmal aus einer künftigen Verfassung entfernt würde. 1. Art. 2 der gegenwärtigen türkischen Verfassung ist unabänderlich. Das ergibt sich aus Art. 4 dieser Verfassung.3 Art. 2 statuiert u. a., dass die Türkei ein „laizistischer Rechtsstaat“ ist. Solche „Ewigkeitsklauseln“ kennen auch andere Verfassungen. Hier weltweite Übersicht nun bei J. Temperman, State-Religion Relationships and Human Rights Law. Towards a Right to Religiously Neutral Governance, Leiden und Boston 2010, bes. S. 149 ff. dazu, dass Religionsfreiheit und Diskriminierungsschutz Distanz und Gleichbehandlung zwischen Staat und Religion zunehmend erzwingen; s. auch C. Walter, Religiöse Symbole in der öffentlichen Schule etc., in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2011, S. 673 ff. mit weiteren Hinweisen zum Fall Lautsi ./. Italien nach dessen abschließender Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, vgl. a.a.O., S. 677 ff. 2 V. 4. November 1950 – in deutscher Fassung – i. d. F. d. Bek. v. 17. Mai 2002 (BGBl. II S. 1054). 3 Eine weitere Unabänderlichkeitsanordnung enthält Art. 174 der türkischen Verfassung, der einige, mit einfacher Mehrheit beschlossene und in diesem Sinne „einfache“ Gesetze durch ein Interpretationsverbot unabänderlich macht. Näher zu untersuchen wäre, ob es sich nicht empfiehlt, diese Erweiterung der Unabänderlichkeitsanordnungen aufzugeben oder sie jedenfalls durch die Regel zu ersetzen, dass diese Gesetze mit einer die Verfassung ändernden Mehrheit anders interpretiert, verändert oder
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bleibt offen, unter welchen Voraussetzungen solche Ewigkeitsklauseln von einem souveränen Volk beseitigt oder verändert werden können. Auch kann hier kein Bericht über die Verwirklichung der Verfassung der Türkei oder der dort garantierten Religionsfreiheit gegeben werden.4 Die Verfassungsentwicklung anderer Verfassungsstaaten hat eher dazu geführt, den „säkularen“ Charakter ihrer Ordnung zu betonen. So erklärt die insoweit heute als unabänderlich interpretierte Verfassung der größten Demokratie der Welt, nämlich die Verfassung Indiens, Indien zur „secular [. . .] republic“.5 Im deutschen und im schweizerischen Verfassungsrecht stößt man zwar nicht auf Begriffe wie „Laizität“ und „Säkularität“.6 Aber es besteht keine Staatskirche, in Deutschland kraft nationalen Verfassungsrechts, in der Schweiz kraft kantonalen, aber auch kraft Bundesverfassungsrechts; allerdings erlaubt die Bundesverfassung der Schweiz (BV) ihren Kantonen, sich in gewissem Maße staatskirchenrechtlich zu binden. Indes wird auch in der Schweiz aus den Garantien der Gewissens- und der Religionsfreiheit abgeleitet, dass ein weltanschaulich und religiös neutraler Rechtsstaat entfaltet werden muss, der mithin keine exklusiv privilegierte Staatskirche haben kann, die andere diskriminiert. Daraus folgt endlich die Gleichbehandlung der Religionen und Weltanschauungen, auch wenn geschichtlich eine bestimmte Religion und ihre Bekenntnisse – das Christentum – privilegiert waren und es davon im Recht noch sehr viele Spuren gibt. An die Stelle von „Laizität“ oder „Säkularität“ tritt hier also „Neutralität“. Diese Neutralität schlägt sich im Religionsverfassungsrecht auch als „Parität“, d. h. Gleichbehandlung(sgebot) nieder. Demgemäß sind alle gleich zu behandeln. Aber dies nur am Rande. Wird die Laizität aus der türkischen Verfassung gestrichen, gilt nach diesen Vorbemerkungen und der hier zugrundegelegten These allerdings: auch dann wird die Türkei alle Religionen – und ihre verschiedenen Bekenntnisse oder Denominatiaufgehoben werden können, d. h. dass insoweit auch ändernde Interpretationsanordnungen im Wege einer solchen Gesetzgebung möglich sind. 4 Dazu etwa P. R. Schnabel, Die Entwicklung der Religionsfreiheit in der Türkei, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 53 (2008), S. 187 ff.; zu Religionsfreiheit und säkularer staatlicher Verfassung in internationaler Perspektive M. Kotzur, Religionsfreiheit im religiös neutralen Verfassungsstaat. Ein universelles Projekt, in: G. Gornig u. a. (Hrsg.), Iustitia et Pax. Gedächtnisschrift für D. Blumenwitz, Berlin 2008, S. 143 ff. 5 Diese Aussage fi ndet sich in der heutigen Fassung der Präambel der indischen Verfassung aus dem Jahre 1950, wobei dort die Präambel normativ verbindlich ist und den unabänderlichen Teil der Verfassung, d. h. ihre Grundordnung – dort „basic structure“ genannt – enthält, vgl. M. P. Singh, V. N. Shukla’s Constitutional Law of India, 11. Aufl., Lucknow 2008, S. A 67 ff.; zur Sache a.a.O., S. A 27 ff. und passim, sowie G. J. Jacobsohn, The Wheel of Law. India’s Secularism in Comparative Constitutional Context, Princeton 2003, S. 145 ff., 189 ff.; R. Kapur, Faith in Law, 3 Jindal Global Law Review 1–20 (2011). Das Konzept unveränderlichen Verfassungsrechts, hier der „basic structure“, geht zurück auf das deutsche Verfassungsrecht. Die Präambel der deutschen Verfassung ist nicht rechtsverbindlich, also nicht normativer Bestandteil. Dennoch spricht i. Ü. sehr viel gegen die Aufnahme eines Bezugs auf „Gott“ in Verfassungen; dazu H. Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: ders. / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, Leipzig 2004, S. 7 ff. (18 f.). 6 Zu letzter m. N. H. Goerlich, Säkularität und freie geistige Auseinandersetzung (Anm. 1). Laizität ist in sehr unterschiedlichen Varianten realisiert in den USA, Frankreich und der Türkei; für die deutsche Diskussion S. Bitter, Laizismus, in: W. Heun u. a. (Hrsg.), Ev. Staatslexikon, Stuttgart 2006, Sp. 1377 ff.
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onen – in Zukunft auf Dauer gleichbehandeln müssen. Dies gebietet das insoweit maßgebliche Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK. Dieses menschenrechtliche Gebot gilt unabhängig davon, wie die künftige Verfassung der Türkei die Erfüllung ihrer Verpfl ichtungen aus der EMRK gestaltet, d. h. auch unabhängig davon, ob der letzte Satz des Art. 90 der geltenden Verfassung der Türkei fortbesteht, gestrichen oder künftig anders gefasst wird.7 Denn der dort statuierte Vorrang der Normen bestimmter, nämlich Menschenrechte garantierender internationaler Verträge mag einschränkend auszulegen sein oder gar entfallen. Trotzdem gilt kraft der dem modernen Verfassungsstaat eigenen Säkularität: Der moderne Verfassungsstaat, der überhaupt Religionsfreiheit gewährt, muss alle Religionen und Weltanschauungen gleichbehandeln. Im Übrigen ergibt sich das soeben angesprochene Diskriminierungsverbot auch aus dem Konzept eines umfassenden, einheitlichen und republikanischen Staatsbürgerrechts. Diese Staatsbürgerschaft ist nicht nur gegenüber der ethnischen Herkunft, sondern auch gegenüber der religiösen Zuordnung ihrer Bürger blind. Sie macht keinen Unterschied nach Maßstäben der Religion, eines religiös von manchen Religionen oder innerhalb einer Religion von manchen Bekenntnissen untersagten Religionswechsels oder anderer, insoweit diskriminierender Wertungen.8 2. Auch wenn die „Laizität“ gemäß Art. 2 der jetzigen türkischen Verfassung nach dem Inhalt einer künftigen Verfassung weiterhin und unabänderlich gilt, ändert das nichts daran, dass die Türkei der EMRK verpfl ichtet bleibt. Aus der EMRK und ihren Zusatzprotokollen ergeben sich – wie gesagt auch unabhängig vom letzten Satz des Art. 90 der gegenwärtigen Verfassung der Türkei – dafür die Maßstäbe. Dies folgt aus den Freiheiten des Art. 9 Abs. 1 der EMRK. Sie ergeben ebenso materielle Maßstäbe wie die heute in der Türkei verfassungsrechtlich niedergelegte Religionsfreiheit. Diese Maßstäbe setzen sich – unabhängig von der heute dort niedergelegten Kollisionsregel – gegen abweichende Formulierungen jedenfalls im Gesetzesrecht der Türkei durch. Zwar scheint zum letzten Satz des Art. 90 der gegenwärtigen türkischen Verfassung auch vertreten zu werden, dass sich das Konventionsrecht gegen abweichende Formulierungen selbst im Verfassungstext durchsetzen kann. Letzteres ist offenbar umstritten. Daher empfiehlt sich für eine künftige Verfassung der Türkei auf den ersten Blick insbesondere eine klarstellende Harmonisierung des Verfassungs- und des Konventionstextes. Am französischen Beispiel wurde übrigens folgende Frage geklärt: Die dort geltende, einen etwas anderen Laizismus als unverrückbaren Grundsatz gewährleistende Verfassung ergibt, dass Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbote im Sinne der Gleichbehandlung von Religionen mit der dort geltenden „Laizität“ vereinbar sind. „Laizität“ – und übrigens auch in einem gewissen Maße „Säkularität“ – mag zwar der Religionsfreiheit Grenzen setzen, sie schließt sie aber nicht aus.9 In die Zuord7
Der letzte Absatz von Art. 90 der türkischen Verfassung ist unten im Anhang abgedruckt. Dieser Ansatz ist angeführt bei K. Raiser, Religion. Politik. Macht. Auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Weltordnung, Frankfurt/Main 2010, S. 142 ff. (145). 9 Dazu A. Reuter, Säkularität (Anm. 1), S. 179 ff.; H. Goerlich, Säkularität – Religiosität etc. (Anm. 1), S. 33 ff. (40 f.). 8
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nung von Freiheit und Grundsatz ist nach allem in Frankreich etwas Bewegung geraten. Für die Türkei gilt: Sie hat zwar in Fragen des Laizismus im Anschluss an Art. 136 ihrer Verfassung in der Praxis im Wege des Erlasses einfachgesetzlicher – also nicht kraft verfassungsrechtlicher – Bestimmungen den sunnitischen Islam nahezu zur Staatsreligion erhoben und dadurch alle anderen Religionen demgegenüber zurückgesetzt. Auch hat sie damit einen sehr steinigen und starren Weg eingeschlagen. Aber nach den Neuigkeiten aus Frankreich zu dieser Frage spricht heute alles dafür, auch die türkische Situation beweglicher zu verstehen. Die Annahme, dass eine Verfassung in dieser Frage weiterhin ein sozusagen versteinertes, jeder Fortbildung widerstreitendes und mithin dem Wandel der Zeiten gänzlich unzugängliches Prinzip des Laizismus gewährleistet, erscheint überholt. Diese Entwicklung ermöglicht eine Entscheidung des französischen Conseil Constitutionnel vom 19. November 2004, die dieser aus Anlass der Prüfung des Entwurfes des Verfassungsvertrags der Europäischen Union, also des bekanntlich gescheiterten Vorläufers des dann in Kraft getretenen und insoweit nicht anders gestalteten Vertrags von Lissabon, auch zum Verhältnis von Laizismus und Religionsfreiheit getroffen hat. Das Gericht hat darin ausgeführt, dass ein konstitutionell bedingter nationaler Laizismus und internationale Gewährleistungen der Religionsfreiheit – wie sie auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union10 verankert sind – miteinander vereinbar sind. Dies gilt nach der Entscheidung des Conseil Constitutionnel jedenfalls dann, wenn die Schranken, die in Art. 9 Abs. 2 EMRK niedergelegt sind, gelten, wie dies im Rahmen der EMRK der Fall ist.11 Anlass dieser Prüfung war der Umstand, dass die Religionsfreiheit, wie sie in der eben erwähnten Charta enthalten ist, auf den ersten Blick nicht von diesen Schranken erfasst wird. Allerdings nur auf den ersten Blick, weil am Ende der Charta mehrere, hier in ihren Einzelheiten nicht interessierende Bestimmungen zu finden sind, die die Handhabung der Rechte der Charta und derjenigen der EMRK aufeinander abstimmen und ergeben, dass auch nach der Charta religionsbezogene Rechte in keinem Falle ohne jede Beschränkung ihrer Ausübung gewährt sind.12 10 Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000, mit Änderungen in Kraft getreten am 1. Dezember 2009 (ABl. EU Nr. C 83/389 vom 30. 3. 2010). 11 Vgl. Conseil Constitutionnel, Entscheidung vom 19. November 2004, Nr. 2004–505, Erwägung Nr. 18. Eine deutsche Fassung ist über die EU im Internet erhältlich und abgedruckt in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2005, S. 45 ff. S. auch J.-M. Woehrling, Entwicklung des Religionsrechts in Frankreich, in: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Religionsfreiheit im Verfassungsstaat, Zürich u. a. 2011, S. 179 ff., der auch von der Entscheidung des Conseil d’État vom 16. März 2005 berichtet (No. 265560 – in französischer Sprache im Internet), die die staatliche Subventionierung der Wiedererrichtung eines Pfarrhauses der Église évangélique de Polynésie française nach einem Sturm zulässt, wenn damit zugleich ein öffentlicher Zweck erfüllt wird – in diesem Fall die zahlreichen, allgemein zugänglichen sozio-edukatorischen Aktivitäten, die in dem Gebäude bisher stattfanden und wieder stattfi nden sollen. Zur erstgenannten Entscheidung C. Walter, Der französische Verfassungsrat und das Recht der EU, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2005, S. 77 ff. 12 Zu dem Verhältnis von EMRK und Charta früher H. Goerlich, Europäische Rechteerklärungen und ihre Wirkungen, in: ders./F. Böllmann (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention. Rechtsentwicklung und Verfassungsreform in der Türkei, Leipzig 2003, S. 9 ff.; heute etwa V. Skouris, Nationale Grundrechte und europäisches Gemeinschaftsrecht, in: D. Merten / H.-J. Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, Heidelberg 2009, § 171, Rn. 24 ff.; E. Klein, Das
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Im Wortlaut sagt der Conseil Constitutionnel an den einschlägigen Stellen, nämlich in den Erwägungen Nr. 18 und 21 seiner Entscheidung vom 19. November 2004: „18. Insbesondere in der Erwägung, dass, auch wenn Art. II-70 Abs. 1 jedem das Recht zuerkennt, einzeln oder gemeinsam mit anderen seine Religion durch Bräuche öffentlich zu bekennen, die Ausführungen des Präsidiums [scil. des Verfassungskonvents der Europäischen Union; d. Verf.] klarstellen, dass das durch diesen Artikel gewährte Recht den gleichen Zweck und die gleiche Reichweite hat, wie dasjenige, welches in Art. 9 Abs. 1 der EMRK garantiert ist; dass es den gleichen Beschränkungen unterliegt, die sich insbesondere aus der öffentlichen Sicherheit, dem Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der öffentlichen Moral sowie dem Schutz der Rechte anderer ergeben; dass Art. 9 der EMRK vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stets in Übereinstimmung mit der Verfassungstradition jedes Mitgliedstaats angewendet wurde, zuletzt in seiner oben genannten Entscheidung [scil. EGMR, Urt. vom 29. 6. 2004, Nr. 44774/98 – Leyla Sahin gegen Türkei – abgedruckt in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2005, S. 31 ff.; d. Verf.]; dass der Gerichtshof so den Wert des Grundsatzes des Laizismus zur Kenntnis genommen hat, der in mehreren Verfassungstraditionen anerkannt ist, und dass er den Staaten einen breiten Einschätzungsspielraum belässt, innerhalb dessen diese unter Wahrung ihrer nationalen Traditionen die am besten geeigneten Maßnahmen treffen können, um die Religionsfreiheit und den Laizismus miteinander in Ausgleich zu bringen [Hervorhebung nur hier; d. Verf.]; dass unter diesen Umständen die Vorschriften des Art. 1 der [scil. Französischen; d. Verf.] Verfassung beachtet sind, die bestimmen, dass ‚Frankreich eine laizistische Republik ist‘ und die es jedermann untersagen, sich auf seine religiösen Überzeugungen zu berufen, um sich den allgemeinen Regeln für das Verhältnis zwischen öffentlichen Einrichtungen und dem einzelnen zu entziehen;“ „21. Viertens in der Erwägung, dass die allgemeine Schrankenregelung in Art. II-112 Abs. 1 lautet: ‚Unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen‘; dass die Erläuterungen des Präsidiums [scil. des Verfassungskonvents; d. Verf.] klarstellen, dass unter den ‚von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen‘ insbesondere die in Art. I-5 Abs. 1 geschützten Interessen zu verstehen sind, nach denen die Union ‚die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit‘ achtet;“13
Die türkische Verfassung enthält schon heute wohl – soweit ich das beurteilen kann – noch weitergehende Möglichkeiten der Beschränkung der Religionsfreiheit; insofern sind von dieser Seite her keine Schwierigkeiten zu befürchten. Auch wenn der volle Schutz der Garantien der Religionsfreiheit gewährleistet wird, ist daher nicht anzunehmen, dass die Prinzipien des Laizismus im Sinne der türkischen Verfassung dadurch in Frage gestellt würden. Ich gehe daher auf die Problematik der Beschränkbarkeit der Rechte, die sich aus der Religionsfreiheit ergeben, nicht weiter ein. Vielmehr nehme ich mit guten Gründen an, dass die Schranken des Art. 9 Abs. 2 EMRK für die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit und – was die kollektive Seite der Religionsfreiheit angeht – teilweise auch die Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ebd., Bd. VI/1, Heidelberg 2010, § 167, Rn. 52 ff. 13 Vgl. dazu den in Anm. 11 genannten deutschen Abdruck der Entscheidung, dort S. 46 und 47.
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Schranken des Art. 11 Abs. 2 EMRK für die Garantie der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit ausreichen und insoweit keine anderen Veränderungen geboten sind als eben die, sich auf nationaler Ebene diesen Schranken anzupassen. Dass wir in Deutschland eine etwas andere Tradition der Fassung von Schrankenformeln besitzen, mag dahinstehen, da wir durch eine angemessene Auslegung die Probleme der abstrakten Beschränkbarkeit und der konkreten Beschränkung lösen können, ohne der jeweils betroffenen Freiheit durch Beschränkungen zu viel von ihrem Gehalt zu nehmen.14 Daher nun also zu den Rechten, die sich aus der Religionsfreiheit ergeben oder von ihr vorausgesetzt sind. Im Übrigen wäre es durchaus empfehlenswert, die Diskriminierungsverbote des Art. 14 EMRK mit gleichem Wortlaut in eine neue türkische Verfassung aufzunehmen. Darauf ist noch näher einzugehen.
III. Religions- und Weltanschauungsfreiheit Zunächst zu Art. 9 Abs. 1 EMRK: Systematisch überzeugend gewährleistet die EMRK in dieser Reihenfolge die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Das bedeutet, dass primärer Schutz dem Individuum gewährt wird, insbesondere seinem forum internum, d. h. – wie Immanuel Kant es nennen würde – dem inneren Gerichtshof des Einzelnen. Dann folgt die Gewissensfreiheit, die typischerweise nach außen betätigt werden kann. Das betrifft dann schon die Äußerungsfreiheit, also das forum externum. Erst dann folgt umfassend die Gewährleistung der Religionsfreiheit, der im folgenden Satz – auch nach außen gerichtet – die Freiheit der Weltanschauung angefügt wird, um Weltanschauungen jeder Art gleichzustellen. Daher empfiehlt sich für künftige nationale Fassungen dieser Freiheiten eine Gewährleistung in der der EMRK entsprechenden Reihenfolge. Ebenso wie im einschlägigen Menschenrechtspakt der UN ist ausdrücklich der Wechsel der Religion oder der Weltanschauung gewährleistet. Dies mag Schwierigkeiten bereiten; es versteht sich aber heute in Europa und weltweit, dass ein solcher Wechsel im Sinne einer Aufgabe oder des Verlassens einer bisherigen Weltanschauung oder Religion nicht nur erlaubt, sondern auch menschenrechtlich gewährleistet ist. Das musste auch der christliche Katholizismus hinnehmen, sodass diese Religion aufgegeben oder verlassen werden kann, obwohl sie einen „Austritt“ nicht kennt. Die Religion mag es nach ihrem Recht so halten; das weltlich-staatliche Recht der Verfassungen ebenso wie der Menschenrechte gewährleistet das Gegenteil dank seines laizistisch-säkularen Charakters. Das religiöse Recht mag für sich an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalten; es hat indes die weltlichen Regeln hinzunehmen. Ähnlich muss in einem säkularen und laizistischen Verfassungsstaat sichergestellt sein, dass – selbst wenn die dominante religiöse Tradition ihn nicht zulässt, sondern herkömmlich mit aller Schärfe sanktioniert – der Religionswechsel, also die 14 Das gilt auch für solche Grundrechte, denen keine Schrankenformel angefügt worden ist, da die Praxis Freiheit nur in der Verfassung gewährleistet sieht, d. h. soweit die Verfassung Rechtsgüter und Grundsätze schützt, erweist sich bei näherer Betrachtung die zunächst scheinbar schrankenlos gewährte Freiheit als umhegt und begrenzt von eben diesen Gütern und Grundsätzen und nur in diesem Rahmen gewährt.
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Aufgabe einer Religion zugunsten einer anderen, Teil der von der Religionsfreiheit geschützten Handlungen ist. Eine weitere Frage ist dann nur, welche Vorkehrungen der betreffende Staat zu treffen hat, um „Apostaten“ vor Sanktionen ihrer bisherigen Religionsgemeinschaft zu schützen. Diese Frage kann allerdings eine Verfassung nur teilweise, also etwa – wie unten noch näher gezeigt wird – durch die Verankerung einer Schutzpfl icht, nicht aber durch die Umschreibung denkbarer konkreter Maßnahmen lösen. Eine solche Friedenssicherungspfl icht enthält etwa Art. 72 Abs. 2 BV der Schweiz aus dem Jahre 1999, worauf zurückzukommen ist.
IV. Weltanschauungsfreiheit und türkische Verfassung Es fällt auf, dass die türkische Verfassung bisher die Freiheit der Weltanschauung nicht gewährleistet. Übrigens: „Weltanschauung“ ist natürlich ein schwieriger deutscher Terminus. Teilweise wird er schlicht mit „belief “ oder mit „philosophical convictions“ (auch „philosophical creed“) ins Englische übersetzt. So findet man ihn auch in den Texten, die ich vorgelegt habe15, insbesondere in Art. 9 Abs. 1 Satz 2 EMRK. Ich bleibe natürlich bei „Weltanschauung“, was aber im Türkischen noch schwieriger auszudrücken sein mag. Jüngere Verfassungstexte, etwa die Bundesverfassung der Schweiz, und ältere, wie das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland von 1949, benutzen ebenfalls diesen Ausdruck. Zwar kann man durch Interpretation des gegenwärtigen türkischen Verfassungstextes erreichen, dass diese Freiheit von der geltenden Formulierung des Verfassungsrechts erfasst wird; besser wäre aber eine ausdrückliche Klarstellung. Den Terminus und den Schutzbereich „Weltanschauung“ in geeigneter Form in die Religionsfreiheit einzubeziehen, ist auch deshalb veranlasst, weil es Schwierigkeiten bereitet, mit Mitteln säkularen Rechts „Religion“ und „Glaube“ abschließend zu defi nieren. Es lässt sich durchaus die Auffassung vertreten, dass der säkular-laizistische Staat etwa in der Rechtspraxis seiner Gerichte davon absehen sollte, dies abschließend zu versuchen. Die daraus folgenden Probleme lassen sich aber bewältigen, wenn neben der Religionsfreiheit auch die Weltanschauungsfreiheit ausdrücklich geschützt wird. Denn dann können staatliche Stellen eine abschließende Defi nition vermeiden. Zugleich sind die Schutzbereiche dann weit genug gefasst.
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Für den Abdruck im Tagungsband hatte ich einen Anhang zu dieser Stellungnahme eingereicht, der als Auszüge die einschlägigen, im Mai 2011 geltenden Bestimmungen der Verfassung der Türkei, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie ihres ersten Zusatzprotokolls, des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Bundesverfassung der Schweiz, des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sowie der Weimarer Reichsverfassung von 1919 in ihren vom Grundgesetz übernommenen Teilen enthielt. Belassen wurden hier die relevanten Vorschriften der gegenwärtigen türkischen Verfassung, da sie weniger zugänglich sein dürften.
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V. Grundrechtskombinationen? Art. 9 Abs. 1 Satz 2 EMRK gewährleistet auch kollektive Religionsfreiheit oder Freiheit der gemeinsamen Ausübung von Religion. Varianten korporativen Schutzes für die Religionsfreiheit enthalten nationale Verfassungen oft ausdrücklich; dieser Schutz ist also gesondert geregelt. Das ist aber heute nicht mehr unerlässlich. Meist ergibt sich der korporative Schutz schon aus der schlichten Gewähr der Religionsfreiheit. Eine jeweils spezifische Distanz zum Staat ist allen Ausgestaltungen der korporativen Freiheit gemeinsam. Kollektive Gewährleistungen werden notwendig, weil jedenfalls jenseits der Gedanken- und Gewissensfreiheit die Gewährleistungen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit kommunikative Rechte erfordern und enthalten. Das ist oft auch in nationalen Verfassungen der Fall. Insbesondere die Buchreligionen sind auf schriftliche Mitteilungen ihrer Anliegen angelegt. Deshalb überlappen sich die Schutzbereiche dieser Grundrechte mit denen der Meinungsäußerungs-, der Presse-, der darüber hinausgehenden Medienfreiheit, aber auch der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Es sind ja diese Rechte ebenfalls zu kommunikativen Zwecken beansprucht worden, allerdings in der Regel nicht bezogen auf religiöse oder weltanschauliche Gehalte.16 Diese „Grundrechtskombinationen“ zeigen, dass hier eine sozusagen verstärkte Wirkung des gebotenen Freiheitsschutzes zu beobachten ist. Dies wird sich jedenfalls in der Verfassungsinterpretation niederschlagen, wenn nicht sogar in den Formulierungen der einschlägigen Verfassungstexte. Allerdings verschwimmen dabei die Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte und sie erscheinen von daher gefährdet, sodass diese „Verstärkung“ sehr fragwürdig erscheint. In Deutschland war dies etwa zu beobachten zugunsten des muslimischen Schlachtbetriebs, der Kundschaft besitzt, die nicht nur kein Schweinefleisch, sondern darüber hinaus nur geschächtetes Fleisch abnimmt. Allerdings ging es hier um eine Kombination von Berufs- bzw. Gewerbefreiheit und Religionsfreiheit.17 Solche Kombinationen sind sehr fragwürdig, denn – an diesem Beispiel dargestellt – dem Schlachtbetrieb wird es ganz gleich sein, ob geschächtetes oder anderes Fleisch hergestellt wird. Insoweit greifen nur die Garantien für Gewerbe und Beruf. Hingegen wird die Religionsfreiheit immer nur dann ins Spiel kommen, wenn es um den Verzehr von nach einer Religion oder Weltanschauung fragwürdigen Fleisches geht. Daher erscheint jene Kombinatorik als eine Methode, die auf einen Holzweg, d. h. in eine überflüssige Sackgasse, führt. Man sollte die Sachverhalte genauer analysieren und ihre Bestandteile jeweils dem einschlägigen Grund- oder Menschenrecht zuweisen. Besonders zu beachten ist auch,
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In welchem Maße historisch Säkularität und Äußerungsfreiheiten religiöser wie auch säkularer Art die freie geistige Auseinandersetzung erst ermöglichten, dazu H. Goerlich, Säkularität und freie geistige Auseinandersetzung (Anm. 1). 17 Vgl. BVerfGE 104, 337 (345 f.); dazu aus der Literatur zuerst T. M. Spranger, Die Figur der „Schutzbereichsverstärkung“, in: Neue Juristische Wochenschrift 2002, S. 2074 ff., und zuletzt E. Hoffmann, Grundrechtskonkurrenz oder Schutzbereichsverstärkung?, in: Archiv des öffentlichen Rechts 133 (2008), S. 525 ff.; zu anderen benachbarten und fragwürdigen Kombinationen etwa M. Meinke, Die Verbindung von Grundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Juristische Arbeitsblätter 2009, S. 6 ff.
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dass sehr gute Gründe dafür sprechen, den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts spezifisch zu ermitteln, präzise zu fassen und so von anderen zu unterscheiden.18
VI. Organisationsstrukturen Art. 136 der geltenden türkischen Verfassung errichtet das Präsidium für Religionsangelegenheiten. Diese Bestimmung sichert heute – entgegen ihrem Wortlaut und nach der durch einfaches Gesetzesrecht erfolgten Auslegung – in privilegierender Weise den Bestand, die Organisation und die Verbreitung des sunnitischen Islams und erhält zum Beispiel die dafür notwendigen Moscheen dieser Denomination. Andere Verfassungen gewähren – wie gesagt – nicht nur dem Einzelnen personal-individuelle, sondern zugleich auch der Gesamtheit der Anhänger einer Religion oder einer Weltanschauung korporative Rechte19 als Teil der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit. Das ergibt Garantien, die den Bedürfnissen des religiösen Lebens vom Bekenntnis über das gemeinsame Gebet bis zur Präsenz im öffentlichen Raum adäquat sind. Andere Religionen benötigen dafür auch die Anerkennung der Rechtspersönlichkeit für Religionsgemeinschaften. Dies ist bisher in der Türkei in der Praxis kaum möglich.20 Auch die EMRK verzichtet darauf, sie ausdrücklich zu gewähren. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat sie indes entwickelt. Ausdrücklich gewährleistet wird insbesondere die für das religiöse Leben erforderliche Sicherung der Autonomie von Religionsgesellschaften. Sie ergibt sich aus der Entfaltung von Religion oder Weltanschauung schon durch den Einzelnen. Daraus folgt kraft der Menschenrechte, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten des Europarats jedenfalls vorzusorgen haben, diese Rechtsausübung wirklich werden zu lassen. Sie müssen also dafür taugliche oder zumindest notwendige rechtliche Instrumente vorhalten. Ob diese dem Versammlungsrecht, dem Vereinsrecht, dem Schulrecht oder Teilen des Liegenschaftsrechts zu entnehmen sind, darauf kommt es nicht an.21 Der künftige Inhalt dieser Gesetze ist 18
Dazu insbesondere überzeugend B. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt. Eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung, Tübingen 2009. 19 Dazu, die Rechtsprechung des EGMR zusammenfassend, H. de Wall, Von der individuellen zur korporativen Religionsfreiheit – die Rechtsprechung zu Art. 9 EMRK, in: J. Renzikowski (Hrsg.), Die EMRK im Privat-, Straf- und öffentlichen Recht, Baden-Baden u. a. 2004, S. 237 ff.; H. Weber, Die Rechtsprechung des EGMR zur religiösen Vereinigungsfreiheit und der Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften in Deutschland, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, S. 503 ff.; systematisierende Übersicht bei K.-H. Kästner, in: R. Dolzer u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Drittbearbeitung 2010, Art. 140, Rn. 161 ff. 20 Vgl. dazu mit Nachweisen P. R. Schnabel, (Anm. 4), S. 194 ff. 21 Wenige Jahre zurück war in Straßburg ein Verfahren um die Rechte einer christlichen Religionsgemeinschaft an einem Grundstück anhängig. Die Türkei war gut beraten, dafür zu sorgen, dass dieses Verfahren durch einen Vergleich beendet wurde; sie hätte nämlich angesichts der Diskriminierung von Religionsgemeinschaften im Grundstücks- und Vermögensrecht dieses Verfahren nur verlieren können. Es ist folgerichtig, dass der türkische Ministerpräsident 2011 angekündigt hat, den Religionsgemeinschaften ihr, ihnen in den 1930er-Jahren genommenes Eigentum zurückzugeben sowie – soweit dies unmöglich ist – sie angemessen zu entschädigen; es steht zu hoffen, dass diese Richtlinie alsbald umgesetzt wird.
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nicht Gegenstand der Änderung des Verfassungsrechts. Die Entwicklung kann hier aber eine neue Verfassung ermöglichen; sie sollte dafür Wege offen halten. Daher schlage ich auch nicht vor, abstrakt korporative Rechte zugunsten von Religion oder Weltanschauung in die Verfassungsreform einzubeziehen. Wie sich allerdings unter VIII. noch zeigen wird, kann ein gebotener Diskriminierungsschutz veranlassen, diese kollektiv-korporative Seite der Religions- und Weltanschauungsfreiheit verstärkt sicherzustellen. Dies mag wiederum nicht zu bestimmten rechtlichen Formen zwingen. Aber es kann und wird Anpassungen in der Anwendung des Rechts erfordern.22
VII. Schutz, Neutralität und Säkularität Die Rechtsprechung des EGMR hat auch Schutzpfl ichten des Staates für die religiösen Minderheiten und für Konfl ikte zwischen Religionen entwickelt.23 Diese Schutzpfl ichten ergeben implizit auch eine gewisse Neutralität des Staates gegenüber den Religionen, die einem laizistischen Staat wie der Türkei Schwierigkeiten nicht bereiten sollte. Denn mit der Laizität ist auch eine Variante von „Säkularität“ des Staates garantiert, aus der – wie eingangs schon angedeutet – „Neutralität“ des staatlichen Verhaltens und Handelns, aber auch Gleichbehandlung Aller – in Deutschland „Parität“ genannt – folgen können. Allerdings fi ndet man in der Rechtsprechung in diesem Kontext auch den Begriff der „Toleranz“24. Er ist indes rechtlich zu verstehen, also nicht als eine rückholbare, gnädige Gewähr einer autoritären öffentlichen Macht, sondern als Rechtsgewährleistung.25 In diesem Sinne kann „Toleranz“ an die Stelle von „Neutraltiät“ treten, zumal etwa in Entscheidungen des EGMR häufig von Toleranz die Rede ist, der Gerichtshof aber nicht insgesamt zum System des Verhältnisses von Staat und Religion in den Mitgliedstaaten des Europarates Stellung nimmt. Schließlich gibt es in diesen Konventionsstaaten die unterschiedlichsten Systeme – von der Staatskirche bis zur Laizität französischer oder türkischer Art. Künftig mag sich allerdings aus globalen, aber auch aus regionalen völkerrechtlichen Instrumenten, die sich sozusagen konstitutionalisieren, ergeben, dass die Religionsfreiheit und der ihr zugeordnete
22 Vgl. BVerfGE 83, 341 (353 ff.), für eine angepasste Anwendung des deutschen Vereinsrechts zugunsten einer religiös-weltanschaulichen Vereinigung. 23 Zu diesen Pfl ichten konventionsrechtlich L. Jaeckel, Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, Baden-Baden 2001, S. 103 ff.; und national dies., Die Simulation des Urknalls vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2011, S. 13 ff. (14 ff.). 24 Siehe etwa die Begründung bei EGMR (Große Kammer), Urt. v. 10. 11. 2005, Nr. 44774/98 – Leyla Sahin ./. Türkei, abgedruckt in: Deutsches Verwaltungsblatt 2006, S. 167 ff., mit einer Anmerkung von A. Weber, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, S. 1389 ff. 25 Dazu, dass allenfalls als Erziehungsziel Toleranz eine nicht völlig verrechtlichte Kategorie ist, rechtlich eingehend F. Rottmann, Toleranz als Verfassungsprinzip?, in: Mitglieder der Juristenfakultät (Hrsg.), Festschrift zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, Berlin 2009, S. 551 ff. (568 ff.); philosophisch J. Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte (2004), in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 2009, S. 258 ff.
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Diskriminierungsschutz stärker als bisher eine rechtlich strenge Neutralität und in diesem Sinne verbindliche Toleranz einfordern.26 Bereits jetzt verlangt der EGMR „Toleranz“, was im Zusammenhang steht mit jener Schutzpfl icht der Konventionsstaaten, die ich schon erwähnt habe. Das kann veranlassen, eine Regelung in die Verfassung aufzunehmen, die dies ausdrückt. Sie müsste dann aber Rechtspfl ichten konkretisieren. Das kann durchaus ergänzt werden – wie in der Schweiz Art. 72 Abs. 2 BV – um eine Verpfl ichtung, den öffentlichen Frieden zwischen Angehörigen von Religionsgemeinschaften sowie den verschiedenen Religionen zu wahren. Regelmäßig geschieht das durch eine strafrechtliche Norm; es kann aber auch den Einsatz polizeirechtlicher Mittel erfordern. Hier mögen nicht nur Individuen, sondern ebenso juristische Personen oder Personengemeinschaften unter Sanktionen gestellt werden – was allerdings wiederum strikt rechtsstaatliche Verfahren voraussetzt.
VIII. Diskriminierungsschutz Zunehmend und zupackend greift der Diskriminierungsschutz des Art. 14 EMRK schon jetzt ein, auch bezogen auf die Religionszugehörigkeit sowie auf die Gleichbehandlung von verschiedenen Religionsgemeinschaften. Das zeigt die Rechtsprechung zu Art. 14 EMRK in Verbindung mit anderen Rechten, etwa der religiösen Kindererziehung gemäß Art. 2 Satz 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK vom 20. März 1952, in Kraft getreten am 18. Mai 195427, aber auch darüber hinaus28. Entsprechend strikt ist der Schutz vor Diskriminierung im Übrigen auch in der Europäischen Union ausgestaltet und wird dort so praktiziert. Hier gibt es unter der EMRK gewiss in vielen Konventionsstaaten ein ganz erhebliches Fallpotenzial. In Fragen der Religion und der Weltanschauung ist das besonders in den Staaten der Fall, die infolge der geschichtlichen Entwicklung als homogen von einer Religion geprägt erscheinen, aber doch in erheblichem Maße Minderheiten aufweisen. Zugleich fi ndet man es in den Staaten, in deren Verfassungstradition man dazu neigt, in Minderheiten generell, insbesondere aber in religiösen Minderheiten ein Gefährdungspotenzial zu sehen. Dies ist nicht nur mit dem älteren völkerrechtlichen Minderheitenschutz, sondern auch mit jedem Regime der Menschenrechte unvereinbar. 26
Vgl. J. Temperman, (Anm. 1), S. 149 ff. Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 29. 6. 2007, Nr. 15472/02 – Folgero ./. Norwegen, abgedruckt in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2008, S. 1217 ff., zum Religionsunterricht; dazu auch EGMR, Urt. v. 9. 10. 2007, Nr. 1448/04 – Hasan und Eylem Zengin ./. Türkei, abgedruckt in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2008, S. 1327 ff., zur Öffnung für den alevitischen Islam, vgl. dazu nach geltendem Recht Art. 24 Absätze 3, 4 und 5 der türkischen Verfassung. 28 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 20. 1. 2009, Nr. 3976/05 – Serife Yigit ./. Türkei, abgedruckt in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2009, S. 468 ff., mit kritischer Anm. v. F. Brosius-Gersdorf, Ungleichbehandlung von Imam-Ehe und Zivilehe bei der Gewährung von Sozialversicherungsleistungen in der Türkei aus völkerrechtlicher Sicht, ebd., S. 454 ff.; EGMR, Urt. v. 13. 11. 2007, Nr. 57325/00 – D. H. u. a. ./. Tschechien, abgedruckt in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2009, S. 90 ff.; dazu kritisch K. Heyden / A. v. Ungern-Sternberg, Ein Diskriminierungsverbot ist kein Fördergebot – wider die neuere Rechtsprechung des EGMR zu Art. 14 EMRK, ebd., S. 81 ff.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 31. 7. 2008, Nr. 40825/98 – Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ./. Österreich, abgedruckt in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, S. 509 ff. 27
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Daher sollten Diskriminierungsverbote umfassend und effektiv in den Verfassungen Platz fi nden – etwa dadurch, dass ein besonderer Verfahrensschutz – vor allem im Zugang zu einem Verfassungsgericht – vorgesehen wird. Jenseits manifester Diskriminierungen, etwa dem Ausschluss einiger Religionsgemeinschaften von Grundbesitz und Vermögen, erkennt die Rechtsprechung auch im Verhältnis von Staat und Religion einen gewissen „Beurteilungsspielraum“ – margin of appreciation – zugunsten der Konventionsstaaten an, sodass diese verschiedene Ausgestaltungen dieses Verhältnisses vornehmen können.29 Die „margin of appreciation“ überspielt aber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht. Auch kann sie so fundamentale Rechte wie die Religionsfreiheit und den zugehörigen Diskriminierungsschutz nicht aushebeln. Verfassungspolitisch könnte diese Stärke der Normativität von fundamentalen persönlichen Rechten im Verhältnis zum Beurteilungsspielraum der Staaten – margin of appreciation – durch eine Klausel erfasst werden, die untersagt, den Kerngehalt von Rechtsgewährleistungen anzutasten oder in ihn einzugreifen. So formuliert Art. 36 Abs. 4 BV in der Schweiz. Die entsprechende Klausel in Deutschland spricht vom „Wesensgehalt“ der Grundrechte, Kerngehalt ist aber deutlicher. Das heißt: Keine Beschränkung von Grundrechten darf so weit gehen, dass diese Rechte zum Verschwinden gebracht würden. Es muss immer genug Raum bleiben, sie persönlich oder in Gemeinschaft auszuüben und über die dafür nötigen sächlichen und personellen Mittel verfügen zu können. Im Übrigen sind natürlich offensichtliche Diskriminierungen, wie etwa das durch ein Referendum nun in die Schweizerische Bundesverfassung eingefügte Minarettverbot, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar.30 Auch wenn man nur den Kerngehalt der Religionsfreiheit als unantastbar im Sinne der Schweizerischen Bundesverfassung gewährleistet versteht, so ergibt sich: Muslime mögen nach ihrer Tradition für das Gebet nicht auf ein Minarett als Teil eines Moscheebaus angewiesen sein, ja nicht einmal auf eine Moschee, weil sie das Gebet nach den Lehren des Koran auch unter freiem Himmel verrichten können. Wenn man aber anderen Religionen Bauten mit Türmen erlaubt, so ist es ein Gebot der Gleichbehandlung, dies auch dem Islam zu gestatten. Anders liegt es nur, wenn der konkrete religiöse Friede in einer bestimmten Gemeinde oder auf konkret bezeichneten Grundstücken nicht anders zu gewährleisten ist als durch ein Verbot des Minerettbaus, wie Art. 72 Abs. 2 BV zeigt. Danach dürfen Bund und Kantone Maßnahmen zur Sicherung dieses Friedens ergreifen. Dabei handelt es sich indes um konkret-individuelle Maßnahmen. Ein abstrakt-generelles Verbot des Minarettbaus, wie es nun in Art. 72 Abs. 3 dieser Verfassung zu fi nden ist, schränkt die Religionsfreiheit aber in diskriminierender, weil abstraktgenerell gefasster und damit den Kerngehalt des Rechts antastender Weise unverhältnismäßig ein. 29 Zur „margin of appreciation“ z. B. auf anderem Gebiet U. Perpeluh, Die Entwicklung der Margin of Appreciation-Doktrin im Hinblick auf die Pressefreiheit, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 61 (2001), S. 771 ff.; und jetzt insbes. der Fall Lautsi ./. Italien, s. dazu bereits Anm. 1. 30 Dazu R. Zimmermann, Zur Minarettverbotsinitiative in der Schweiz, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 69 (2009), S. 858 ff.; H. Goerlich, Religious Equality: The German Perspective and European Experiences, in: S. Deva (Hrsg.), Law and (In)Equalities, Festschrift in honour of M. P. Singh, Lucknow u. a. 2010, S. 187 ff.
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IX. Künftige Aufgaben der türkischen Religionsbehörde In Ausdehnung des Art. 136 der geltenden türkischen Verfassung könnten die Funktionen der Religionsbehörde gegenüber dem sunnitischen Islam parallel auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften wirksam gemacht werden; das könnte durch einen weiteren Satz geschehen, der die Religionsbehörde verpfl ichtet, Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln. Das entspräche einer Religionspolitik strikter Gleichbehandlung aller Religionen. Aufgehoben werden müsste dann wohl das bisher geltende einfache Recht, das die Privilegierung des sunnitischen Islam enthält. Diese gesetzlichen Regelungen erwiesen sich auch nach geltendem Verfassungsrecht als sehr problematisch, würde dem Gehalt etwa von Art. 9 Abs. 1 EMRK schon kraft der eigenen Verfassung größeres Gewicht beigemessen. Art. 136 der türkischen Verfassung selbst erwähnt nicht einmal den Islam, könnte also auch angesichts anderer als muslimischer Gemeinschaften bleiben, wie er ist. Eine Ergänzung, wonach die Anwendung der Bestimmung im Wege der Schaffung einfachen Rechts und administrativer Regeln keine Religion diskriminieren soll, hätte aber klarstellende Funktion. Bei näherer Betrachtung erscheint sie unerlässlich. Zugleich gilt aber auch: Wird die organisatorisch-institutionelle Gleichstellung der Religionen in der Türkei verwirklicht, muss sich auch eine strikte Unterscheidung zwischen den zulässigen stützenden Maßnahmen des Staates und den inneren, ureigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften herausbilden. In diesen eigenen Angelegenheiten haben die Religionsgemeinschaften selbst und alleine zu entscheiden. Das wäre ein Schritt hin zu einer Entwicklung analog der älteren Situation vor 1918 in Deutschland. Damals gewährleisteten zwar der Staat und die Kommunen oft die Gehälter und die Baulichkeiten der Religionsgemeinschaften finanziell; es galt aber schon ein striktes Gebot der Beachtung der eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften. Der EGMR hat mehrere Fälle, vor allem aus Süd- und Südosteuropa, entschieden, in denen der betreffende Konventionsstaat den gebotenen rechtlichen Respekt vor der Autonomie der Religionsgemeinschaften hat vermissen lassen.31 Es waren vor allem Fälle aus dem Bereich der christlich-orthodoxen Tradition, in der der Staat herkömmlich auch über die Kirche verfügt. Die Grundsätze dieser Rechtsprechung müssen indes auch von der Türkei beachtet werden. Zur Sicherung der Verbandsfreiheit der Religionsgemeinschaften in eigener Sache empfiehlt sich etwa eine Formulierung ähnlich des Art. 137 Abs. 3 der Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 – der sog. Weimarer Reichsverfassung (WRV) –, die insoweit heute gemäß Art. 140 GG noch gilt. Danach ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre eigenen Angelegenheiten selbst und zwar „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“32. Demgemäß verleihen diese Gesellschaft 31 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 26. 10. 2000, Nr. 30985/96 – Hasan und Chaush ./. Bulgarien, Z. 78 d. U.; EGMR, Urt. v. 16. 12. 2004, Nr. 39023/97 – Supreme Holy Council of the Muslim Community ./. Bulgarien, Z. 81 ff. d. U.; Übersicht und Hintergrund liefert K. Sahlfeld, Aspekte der Religionsfreiheit im Lichte der Rechtsprechung der EMRK-Organe, des UN-Menschenrechtsausschusses und der nationalen Gerichte, Zürich u. a. 2004, S. 178 ff.; K.-H. Kästner, (Anm. 19), Art. 140, Rn. 162 ff. 32 Diese klassische deutsche Schrankenformel soll hier nur stehen für die Beschränkungsmöglichkeiten und -voraussetzungen, die auch die EMRK kennt. Die Formel geht zurück u. a. auf John Locke
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– wie andere Vereinigungen auch – ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Das würde eine staatliche Prüfung aber keineswegs ausschließen, soll der Bedienstete der Religionsgesellschaft zugleich in den Genuss einer staatlichen oder staatsnahen Stellung kommen, wie sie heute der sunnitische Religionsdiener in der Türkei innehat. Ein solches doppeltes Plazet – also eine doppelte Prüfung, einerseits eine religiöse und andererseits eine staatliche, auf Eignung usw. – besteht heute in Deutschland für Ämter, die im staatlichen Bereich wahrgenommen werden, aber zugleich eine religiöse Bindung erfordern – z. B. für Religionslehrer an Schulen, Universitätsprofessoren der Theologie und für Militärpfarrer. Diese Struktur bereitet in aller Regel keine Schwierigkeiten. Sie wird in Deutschland künftig auch für islamische Amtsträger entsprechend anzuwenden sein.
X. Regelungstechnik Am Schluss ist vielleicht etwas zur Regelungstechnik und der Sprache von Verfassungen zu sagen. Je einfacher und klarer die Sprache einer Verfassung gehalten ist, desto dauerhafter und durchsetzungsstärker ist sie. Verfassungen sollen „kurz und dunkel“ sein, wie Napoleon Bonaparte gesagt haben soll. Das hat insoweit einen richtigen Kern, als dadurch künftigen Generationen ermöglicht wird, den Text auf der Grundlage eigener Deutungen immer wieder neu zu verstehen. Dabei hellt dann regelmäßig eine solide Praxis der Verfassungsfortbildung jene Dunkelheit auf, schafft neuen Sinn, der wiederum offen ist für Neues, also auf Dauer erlaubt, beim bisherigen sprachlichen Stand der Verfassung zu bleiben. Muster für diesen Grundzug ist in jüngerer Zeit die Schweizerische Bundesverfassung von 1999. Dies gilt gerade auch für die Religionsfreiheit und die Beschränkungen von Grundrechten. Dass sie zur korporativen Seite der Religionsfreiheit nicht mehr sagt als Art. 72 Abs. 1, liegt am föderativen Auf bau der Schweiz. Für die korporative Seite kann man sich allerdings mit den Formulierungen der auch heute – wiewohl unter gewissen Modifi kationen infolge der Rechtsfortbildung und durch die Auslegung seitens der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – weiter geltenden Kernbestimmungen der WRV aus Deutschland behelfen, obwohl der Staat schon zur Weimarer Zeit föderativ aufgebaut war, wie das auch heute noch der Fall ist. Der Grund für die zentrale Regelung liegt in seit 1918 wiederkehrenden Ängsten vor Fehlentwicklungen in den Ländern – etwas, was in der Türkei als zentralistisch aufgebautem Gemeinwesen keine Rolle spielt. Ihrer Kürze und Klarheit wegen sind also die Bestimmungen der Schweizer Bundesverfassung und der Weimarer Reichsverfassung zu empfehlen. Sie können als Muster dienen. Sollte der Fortgang der verfassungspolitischen Diskussion in der Türkei die ausdrückliche Formulierung korporativ orientierter Religionsgarantien nicht – die in der zweiten Abhandlung über die Regierung eingeführten „civic laws“, die allen gemein sind und in diesem Sinne für alle gelten – und meint die anerkannten Güter und Grundsätze der Verfassung, in deren Rahmen jede verfassungsrechtlich statuierte Freiheit gewährt ist – wie oben (am Ende von I. und in sowie bei Anm. 14) schon ausgeführt.
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oder noch nicht gestatten, etwa weil der Laizismus der Republik noch herkömmlich ausgelegt wird, so sollte man gleichwohl die Formulierungen der EMRK in die Verfassung im Interesse einer offenen Zukunft aufnehmen.
XI. Zusammenfassung Zwischen Staat und Religionen besteht im von Menschenrechten geprägten Staat unvermeidlich eine rechtlich gefasste Distanz. Dies folgt aus den Garantien der Religions- und der Weltanschauungsfreiheit. Der Staat ist dadurch vor dem Risiko sicher, von einer Religion oder Weltanschauung beansprucht, gesteuert oder in Gänze von Ansprüchen – bis hin zu einem Totalitätsanspruch – der jeweiligen Religion oder Weltanschauung überzogen zu werden. Alle Bürger genießen dank dieser Distanz in gesicherter Weise und ungefährdet Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dabei ist allerdings anzumerken, dass Freiheit auch immer nur soweit besteht, wie die ihr entsprechenden Rechte von den Menschen tatsächlich gelebt, d. h. beansprucht und ausgeübt werden. Die Religionsfreiheit erfordert im Verfassungsstaat weiterhin, dass der Staat alle Religionen gleichbehandelt. Hat er historisch und bis heute eine Religion oder eine Ausrichtung einer bestimmten Religion privilegiert, so hat er die anderen Religionen gleichzustellen und zwar in allen Lebensbereichen, die für die Religionen von Bedeutung sind. Die Alternative ist, die Privilegierung Schritt für Schritt und in rechtsstaatlicher Weise abzubauen und auf diese Weise allen Religionen gleichen Raum zu gewähren. Auf diesen beiden Wegen lassen sich menschenrechtswidrige Diskriminierungen allmählich vermeiden. Zudem ist kraft der Religionsfreiheit als kommunikativem Menschenrecht allen Religionen ein Mindestmaß an Autonomie zu gewähren. Dies gehört zu den Konsequenzen sowohl der im Laufe der Entfaltung der Religionsfreiheit unvermeidlich zu gewährenden korporativen als auch der von der Sache her an erster Stelle stehenden individuellen Gedanken-, Gewissens-, Glaubens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, wie sie die EMRK enthält.
XII. Annex Auszüge aus der Verfassung der Republik Türkei (Stand: 1. 1. 2011; Übersetzung von C. Rumpf) Präambel
[. . .] und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates werden vermischt werden, [. . .]
Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.
Artikel 2
Artikel 4
Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen
Die Vorschrift des Artikels 1 der Verfassung über die Republik als Staatsform sowie
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die Vorschriften über die Prinzipien der Republik in Artikel 2 und diejenigen des Artikels 3 sind unabänderlich, das Einbringen eines Änderungsvorschlages ist unzulässig. Artikel 24
(1) Jedermann genießt die Freiheit des Gewissens, der religiösen Anschauung und Überzeugung. (2) Soweit nicht gegen die Vorschriften des Artikels 14 verstoßen wird, sind Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern frei. (3) Niemand darf gezwungen werden, an Gottesdiensten, religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen, seine religiöse Anschauung und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren; niemand darf wegen seiner religiösen Anschauungen und Überzeugungen gerügt oder einem Schuldvorwurf ausgesetzt werden. (4) Die Religions- und Sittenerziehung und -lehre wird unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates durchgeführt. Religiöse Kultur und Sittenlehre gehören in den Primar- und Sekundarschulanstalten zu den Pfl ichtfächern. Darüber hinaus ist religiöse Erziehung und Lehre vom eigenen Wunsch der Bürger, bei Minderjährigen vom Verlangen der gesetzlichen Vertreter abhängig. (5) Niemand darf, um die soziale, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Ordnung des Staates auch nur zum Teil auf religiöse Regeln zu stützen oder politischen oder persönlichen Gewinn oder Nutzen zu erzielen, in welcher Weise auch immer, Religion oder religiöse Gefühle oder einer Religion als heilig geltende Gegenstände ausnutzen oder missbrauchen.
Artikel 90
[. . .] (4) Die verfahrensgemäß in Kraft gesetzten völkerrechtlichen Verträge haben Gesetzeskraft. Gegen sie kann das Verfassungsgericht mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit nicht angerufen werden. Soweit Grundrechte und -freiheiten regelnde Vorschriften verfahrensgemäß in Kraft gesetzter völkerrechtlicher Verträge mit nationalen Bestimmungen mit gleichem Regelungsgehalt nicht übereinstimmen, fi nden die Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge vorrangig Anwendung. Artikel 136
Das Präsidium für Religionsangelegenheiten erfüllt als Bestandteil der allgemeinen Verwaltung im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie gerichtet auf die nationale Solidarität und Integration die in einem besonderen Gesetz vorgesehenen Aufgaben. Artikel 174
Keine Vorschrift der Verfassung darf in der Weise verstanden und ausgelegt werden, dass die am Tage der Annahme der Verfassung durch Volksabstimmung in Kraft befi ndlichen Vorschriften der nachstehenden Reformgesetze, welche das Ziel haben, die türkische Gesellschaft über den modernen Zivilisationsstandard hinauszuheben und den laizistischen Charakter der Republik zu schützen, verfassungswidrig seien: [. . .]
Die Rolle der zivilen, bürokratischen und militärischen Herrschaftselite in der Staatspolitik der Türkei und ihr Verhältnis zum Staat von
Asst. Prof. Dr. Hüseyin Yildiz, Turgut Özal Universität, Ankara 1. Einleitung Im folgenden Aufsatz möchte sich der Autor mit der herkömmlichen überragenden Rolle des bürokratischen, militärischen und zivilen Establishments im staatspolitischen System der Türkei auseinandersetzen. Trotz der etablierten Machtstellung dieser Kräfte fi nden seit geraumer Zeit zivilgesellschaftlich-liberal-demokratische Ideen – insbesondere seit den 1990er Jahren – in der Bevölkerung mehr und mehr Anerkennung. Die Bürger drängen die Herrschaftselite1 zugunsten einer freiheitlichen Rechts- und Staatsordnung zu Reformen, die jedoch von der verharschten staatstragenden Elite mit Skepsis betrachtet werden, weil sie die Erneuerungen als Unterminierung der eigenen althergebrachten Machtstellung wahrnimmt. Ihrer Meinung nach würde die Liberalisierung des obrigkeitlich-etatistischen Staatsmodells Kräfte der ländlich-bürgerlichen Peripherie freisetzen, die in der Lage wären, ein Prozess der Entideologisierung der säkular-positivistischen Herrschaftsform des Zentrums in Gang zu bringen und einen Zerfall des laizistischen Systems heraufzubeschwören. Schon seit der Gründung der Republik im Jahre 1923 besteht eine antagonistische Konfl iktlinie zwischen dem elitären Establishment und der großen Mehrheit der Bevölkerung. Man kann sogar von einer Furcht der staatsbürokratischen Elite vor dem eigenen Volk sprechen 2. Die starke Stellung der etatistischen Führungselite als Repräsentant des politischen Gemeinwesens gegenüber der Bevöl1
Im engeren Sinne besteht die türkische Herrschaftselite, die sich auch als die eigentlichen offi ziellen Träger der Staatsmacht betrachten, aus der administrativen, akademischen und judikativen Bürokratie sowie dem Militär. Im weiteren Sinne können die säkularistisch-nationalistisch orientierten Intellektuellen und Großunternehmen – insbesondere ein großer Teil der Medienkonzerne – der Staatselite hinzugefügt werden. Um dem Leser ein besseres Bild von der türkischen Staatsidee zu vermitteln, werden die Letzteren auch zu den Inhabern der Staatsmacht gezählt, aber sie werden im Gegensatz zu den Ersteren nicht als primäre, sondern sekundäre Träger der Staatsmacht eingestuft. 2 Kücükömer, I˙dris: Batılılas¸ma: Düzenin Yabancılas¸ması (Verwestlichung: Die Entfremdung des Regimes), 2. Aufl., Istanbul 2001, S. 86 ff.
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kerung führt nicht selten dazu, dass sie die Rolle eines Präzeptors übernimmt und die Bürger politisch entmündigt und staatlich bevormundet. Im ersten Teil der Arbeit wird im Rahmen des abendländischen staatstheoretischen Konzeptes das türkische Staatsmodell erklärt. Der zweite Abschnitt befasst sich mit den diversen elitären bürokratisch-“ernannten“ Kräften, die als Träger der Staatsmacht bei der Lenkung der Geschicke des Landes ein bedeutendes Gewicht haben. In einem weiteren Schritt wird der Frage nachgegangen, welche Rolle die politischen Parteien im Vergleich zum Militär und zur Bürokratie in der Führung des Landes spielen. Letztlich soll mit einer zusammenfassenden Betrachtung die Abhandlung abgeschlossen werden.
2. Das Staatsmodell der Türkei In den modernen staatstheoretischen Diskussionen des Westens werden die Staaten allgemein in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar in das etatistische und politische Modell.3 Nach der etatistischen Auffassung ist der Staat eine überhöhte Größe, die man von der Gesellschaft trennt und ihr aufgrund der „hoheitlichen Amtsautorität“ des politischen Gemeinwesens überordnet. Der Staat hat bei der politischen Bildung der Gesellschaft eine dominante Stellung. Er wird als eine abstrakte öffentlich-rechtliche Institution mit einer ausgeprägten Souveränität wahrgenommen. Es besteht hier die Neigung, den politischen Herrschaftsverband zu „mystifi zieren“. Die Legitimation seiner herrschaftlichen Autorität ist nicht zur Disposition zu stellen. Als Beispiel zu diesem Modell kann das Deutsche Kaiserreich mutatis mutandis angeführt werden. In der politischen (liberalen) Staatsauffassung wird hingegen der Herrschaftsverband weder von den Bürgern getrennt, noch ihnen übergeordnet; man nimmt ihn als ein Teil der Gesellschaft wahr. Eine Definition des Staates als eine abstrakte öffentlich-rechtliche Herrschaftsanstalt ist den Individuen fremd. Das politische Ordnungsgefüge besitzt eine personalisiert strukturierte Organisationsform. Die „staatliche Amtsautorität“ wird nicht in der Funktion einer abstrakten von den politischen Einrichtungen losgelösten Herrschaftsmacht, sondern als Kompetenz der konkreten politischen Organe aufgefasst. Großbritannien kann im Großen und Ganzen ein Exempel für dieses Staatskonzept liefern. Dies ist jedoch nur eine idealtypische, theoretische Abgrenzung; in der Praxis kommen diese Typen nicht absolut rein vor. Im Gegenteil, die konkreten Fälle weisen gewisse Berührungspunkte oder Überlagerungen zwischen diesen beiden Modellen auf. Trotzdem haben die theoretischen Ansätze feste Konturen, die uns ein bestimmtes Erklärungsmuster zur Verfügung stellen, mit dessen Hilfe man konkrete politische Herrschaftsverbände je nach ihren Grunderscheinungen zu dem einen oder anderen Staatskonzept in der Regel einzuordnen vermag. 3
Johnson, Nevil: Das britische Staatsverständnis. Ein europäischer Sonderweg, in: M. Hättich (Hrsg.), Akademie für politische Bildung. Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 166 ff.; Benz, Arthur: Der moderne Staat, München 2001, S. 32 ff.; Dyson, Kenneth: The State Tradition in Western Europe, Oxford 1980, S. 51 f.
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Nach diesem idealtypischen Schema kann das türkische Staatsverständnis in das etatistische Modell zugeordnet werden. Seit der Gründung der Republik kommt dem Staat ein großes Gewicht zu. Er ist der Gesellschaft übergeordnet und wird im Sinne eines abstrakt-körperschaftlichen sowie überhöhten Gebildes definiert. Obwohl zwischen der neuen Republik und dem Osmanischen Reich hinsichtlich der Rechts- und Gesellschaftsvorstellung große Unterschiede bestehen, haben die Gründer der Türkei das überhöhte Staatsverständnis des Osmanischen Reiches übernommen4. Dies ging einerseits als Reaktion aus den vielen territorialen Verlusten hervor, welche die osmanisch-türkische Gesellschaft insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinnehmen musste. Auf der anderen Seite wollten die Stifter des neuen Staates ein von Grund auf neues soziales, rechtliches und staatspolitisches System mit einer positivistisch-säkularen Werteordnung „von oben“ in einem sehr kurzen Zeitraum ins Leben rufen. Dafür brauchten sie einen mächtigen zentralistischen Staat mit einer „bürokratisch“ ausgeprägten, den neu eingeführten Reformen gegenüber loyalen Administration. Denn nur so konnte das westlich-säkulare Wertesystem in der muslimisch-traditionell ausgerichteten Gesellschaft durchgesetzt werden. Die Konzentration des staatspolitischen und administrativen Entscheidungsprozesses im Zentrum des Herrschaftssystems zog in den 1930 Jahren mithilfe der Republikanischen Volkspartei RVP einen potenten zentralistischen Staatsapparat, sprich Einparteienstaat nach sich.5 Die gegenwärtige Verfassung der Dritten Republik von 1982 ist ein „Manifest“ des beschriebenen obrigkeitlich-etatistisch-überhöhten Staates. Schon in der Präambel sticht die Hervorhebung und Überbetonung des politischen Herrschaftsverbandes im Gegensatz zu dem Individuum und der Gesellschaft als eine institutionell-abstrakte Herrschaftsanstalt ins Auge, flankiert von einer laizistisch-nationalistischen Staatsideologie.6 Im ersten Paragraf der Präambel bezeichnet der Verfassungsgeber die Republik Türkei in einer mystifizierenden Art und Weise als „erhaben“. Dadurch bekommt der Staat eine unantastbare von der Gesellschaft abgehobene Stellung zugewiesen.7 Ähnlich legt Paragraf 5 der Präambel unmissverständlich fest, dass keinerlei Aktivitäten vor den türkischen Interessen, der türkischen Existenz, dem Prinzip der Unteilbarkeit des Landes und des Staates, der Geschichte und den ideellen Wer4 Die Osmanen maßen dem Reich eine gewichtige Rolle bei, weil sie es als Garant der Gemeinschaft sowie der viel geschätzten „friedlichen Weltordnung“ (Gesellschaftsfrieden) oder Gerechtigkeit betrachteten. Der Sultan und sämtliche Würdenträger des politischen und administrativen Kaders konnten ihre Posten nur dann legitimieren und sichern, solange sie in der Lage waren, die „Weltordnung des Reiches“ vor inneren und äußeren Kräften zu schützen und aufrechtzuerhalten. Um dies zu verwirklichen, war die Existenz eines mächtigen politischen Herrschaftsverbandes notwendig. Folglich überwog die Reichsräson allen anderen Interessen; jeder war ihr untergeordnet – einschließlich des Sultans sowie der politischen und administrativen Herrschaftselite. Türköne, Mümtaz’er: Milli Devlet – Laiklik – Demokrasi (Nationalismus – Laizismus – Demokratie), in: E. Kalaylıogˇlu u. A. Y. Sarıbay (Hrsg.), Türkiye’de Politik Degˇis¸im ve Modernles¸me (Politische Wandlung und Modernisierung in der Türkei), Istanbul 2000, S. 326. 5 Ahmad, Feroz: Modern Türkiye’nin Olus¸umu (Die Gründung der modernen Türkei), 2. Aufl., Istanbul 1999, S. 80 ff. 6 Die Staatsideologie besteht aus den sechs kemalistischen Prinzipien, und zwar dem Laizismus, Nationalismus, Republikanismus, Etatismus, Populismus und Reformismus oder Revolutionismus. 7 Dem schließt sich auch Erdogˇan an: Erdogˇ an, Mustafa: Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), 6. Aufl., Ankara 2011, S. 174.
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ten des Türkentums, dem Nationalismusverständnis, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus von Atatürk . . . Schutz genießen. Des Weiteren unterstreicht die Konstitution in Paragraf 7 des Geleitworts die kollektivistische Einheitsidee der Nation erneut, die mit der übermäßigen Betonung des Gemeinschaftsgeistes den liberal-pluralistischen Auf bau eines gesellschaftlichen und politischen Systems stark in Mitleidenschaft zieht. Wie schon angedeutet bilden die kemalistischen Prinzipien (seit den 1930er Jahren) die Staatsdoktrin der Republik Türkei. Sie können ohne weitere als das Fundament und die Legitimitätsgrundlage der staatlichen, politischen und rechtlichen Ordnung angesehen werden und stellen daher vielleicht das wichtigste Merkmal des Staatsmodells der Republik Türkei dar. Dies kommt auch in dem durch die Sperrklausel des Art. 4 der Türkischen Verfassung (TVerf ) für als unabänderlich deklarierten Art. 2 TVerf zum Ausdruck. Hier werden die kemalistischen Prinzipien zu den Eigenschaften der Republik Türkei, sprich des Staates erklärt. Durch diese enge Verzahnung des politischen Gemeinwesens mit den Grundsätzen des Kemalismus wirkt jede Kritik an den Letzteren als ein Angriff gegen den Staat und die Staatlichkeit. Aus diesem Grund bildet das politische Gemeinwesen mit der offi ziellen Ideologie einen unantastbaren vorverfassungsrechtlichen und vormenschenrechtlichen Status. Dies führt dazu, dass die Menschenrechte im Rahmen der türkischen Verfassungsordnung keinen vorideologischen und vorstaatlichen Vorrang genießen. Infolgedessen entstehen im Verfassungssystem ideologisch-staatliche Enklaven, die gegenüber dem Prinzip der demokratischen Rechtstaatlichkeit Immunität genießen. In diesem Kontext kann von einem liberalen oder limitierten Staat nicht die Rede sein. Die Konstitution gewährt der Staatsräson und -ideologie eine Priorität vor dem Grundsatz des Rechtsstaatsprinzips, der Demokratie und der Menschenrechte.8 Die TVerf kreiert somit ein etatistisch-zentralistisch-ideologisches Modell des politischen Gemeinwesens, dessen Staatlichkeit die Ebenen der Gesellschaft in solch einem Maße umfasst, dass dadurch die privat-zivile Sphäre der Bürger nicht selten in Mitleidenschaft gezogen wird (eingeschränkter „staatsfreier Bereich“ der Individuen). Die Überhöhung des politischen Herrschaftsverbandes ins Mystische wirkt sich natürlich auch auf die Staatssouveränität aus. Sie genießt eine Superiorität, sodass die Volkssouveränität ihr gegenüber eine nachrangigere Tragweite aufweist, was zu einer obrigkeitsstaatlichen Bevormundung der Individuen führt. Das politische Gemeinwesen wird als das „ruhende Pol“ wahrgenommen und wacht in Gestalt einer höchsten übergesellschaftlichen Instanz über den verschiedenen divergierenden bürgerlichen Partikularinteressen, um die Einheit der Nation und des Landes sowie die Geltung der Staatsdoktrin zu gewährleisten. Infolge dieser bevormundenden etatis8
Ergun Özbudun vertritt ebenfalls die These, dass die gegenwärtige Verfassung der Republik Türkei zum Nachteil der Freiheiten die Macht des Staates gestärkt hat; Özbudun, Ergun: Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), 11. Aufl., Ankara 2010, S. 62 f. Siehe auch dazu: Tanör, B./Yüzbas¸iogˇ lu, Necmi: 1982 Anayasasy’na Göre Türk Anayasa Hukuku (Nach der Verfassung von 1982 das türkische Verfassungsrecht), 8. Aufl., Istanbul 2006, S. 98 ff. Das türkische Verfassungsgericht schließt sich dieser Meinung an und betrachtet den Vorrang der Staaträson und der gemeinschaftlichen Belange des Kollektivs vor den individuellen Freiheiten der Bürger als Verfassungskonform; das türkische Verfassungsgericht E. 1984/14, K. 1985/7, 13. 06. 1985: http://www.anayasa.gov.tr/index.php?l= manage_karar&ref =show &action=karar&id=709&content= (Abruf: 11. 10. 2011).
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tischen Tradition haben die politischen Kräfte und die Zivilgesellschaft im Gegensatz zum Staat nur einen eingeschränkten Einfluss auf die Bestimmung des Gemeinwohls. Das Allgemeinwohl wird somit nicht in erster Linie a posteriori als das Ergebnis eines offenen Prozesses der Gesellschaft akzeptiert, sondern vielmehr als vom politischen Herrschaftsverband a priori festgelegte Größe wahrgenommen. In diesem durch die Verfassung legitimierten paternalistisch-obrigkeitlich-ideologischen Staatsverständnis kann kaum von einem „anthropozentrischen (auf den Menschen bezogenen) Staat“9 die Rede sein. Zusammenfassend ist zu bemerken, dass die gegenwärtige TVerf eine überhöhte, transpersonale, obrigkeitliche und teilweise ins mystische erhobene Staatsauffassung vertritt.
3. Träger der Staatsmacht In diesem Teil der Abhandlung wird auf die wichtigen Träger der Staatsmacht einzeln eingegangen. Sie bestehen vor allem aus den Bürokraten sowie dem Militär und sind aufgrund ihrer überkommenen, dominanten Stellung in der Staatspolitik die primären Machtträger der Staatsmacht. Obwohl das Handeln dieser Kräfte nicht vom Volk direkt durch die rückwirkende demokratisch-bürgerliche Legitimationskette gerechtfertigt ist, üben sie seit der Gründungsphase der Republik einen großen Einfluss auf die Tagespolitik aus. Sie sind mit der neuen säkularen Staatsordnung und der -ideologie eng verbunden. Die Absicht der türkischen Staatselite war in erster Linie die Gründung einer neuen Nation auf dem Fundament eines säkular-nationalistisch-positivistischen Weltbildes.10 Im Laufe der Zeit fühlten sich die Bürokraten und das Militär „berufen“, die Einheit und Existenz der neu etablierten säkularen Nation, die Republik und zumal das kemalistisch-laizistische Weltbild zu behüten und dafür zu sorgen, dass das Letztere als Wertesystem im staatspolitischen, rechtlichen und soziokulturellen Leben der Gesellschaft Wirksamkeit erlangt.11 Diese Rolle verlieh ihnen eine apriorische Legitimitätsgrundlage; sie konnten oder können ohne sich auf die direkte demokratische Legitimationskette zu beziehen, aus eigener Initiative in die Tagespolitik eingreifen und politische Entscheidungen der unmittelbar vom Volk legitimierten Organe beeinflussen, ja bis zu einem gewissen Grad einschränken. Infolge des Fehlens einer starken gesellschaftlichen Basis war die laizistisch-nationalistische Staatsführung gezwungen, mit den Bürokraten und dem Militär zusammenzuarbeiten. Somit entwickelte sich allmählich eine Symbiose zwischen dem Kemalismus und den bürokratisch-militärischen Eliten. Bei den grundsätzlichen institutionellen staatspolitischen Entscheidungen wirken diese Kräfte trotz der positiven 9
Hufen, Friedhelm: Staatrecht II: Grundrechte, 2. Aufl age, München 2009, S. 5. Timur, Taner: Türk Devrimi ve Sonrasy (Die türkische Revolution und was danach kam), 4. Aufl., Ankara 1997, S. 99 ff. 11 Heper, Metin: Türkiye’de Devlet Gelenegˇi (Staatstradition in der Türkei), Ankara 2006, S. 131 ff.; Mardin, S¸erif: Türkiye’de Toplum ve Siyaset (Gesellschaft und Politik in der Türkei), Istanbul 1999, S. 55 ff. 10
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liberal-zivilgesellschaftlichen Entwicklungen seit den 1990er Jahren sowohl formell als auch informell im Wesentlichen noch mit.12 Die enge Kooperation der Beamten und Militärs mit der offiziellen kemalistischen Ideologie führte dazu, dass sie sich als Vertreter des staatlich-administrativen Zentrums von der gesellschaftlichen Peripherie Schritt für Schritt entfremdeten. Sie betrachten auch heute noch die regional-ländlichen Kreise als eine Gefahr für die laizistisch-nationalistische Staatsordnung, weil die peripheren Kräfte nach wie vor kritisch gegenüber den eingeführten kemalistisch-positivistischen etatistisch-antiliberalen Reformen mehr oder minder eingestellt sind. Die „säkularistische Zwangswesternisierung der Peripherie“ durch die etatistisch-bürokratischen Zentralorgane13 führte ein antagonistisches Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Staat herbei.
a) Die primären Träger der Staatsmacht14 aa) Die Verwaltungsbürokratie Sie besteht aus der eigentlichen Staatsverwaltung, die mit Hoheitsaufgaben betraut ist und den Auftrag hat, die Gesetze, Verordnungen oder sonstige allgemeinverbindliche staatspolitische Entscheidungen auszuführen. Die Verwaltungsbürokratie bildet mit der Regierung die vollziehende Gewalt und ist das Rückgrat der türkischen Administration. Sie ist stark hierarchisch aufgebaut und besteht aus der Zentral- und Lokalverwaltung. Je höher der Dienstgrad, desto loyaler sind im Großen und Ganzen die Beamten gegenüber der Staatsideologie. Es wird beim Aufstieg der Beamten in die Führungspositionen der Zentralorgane weniger nach Befähigung als vielmehr auf die Treue zum offiziellen Weltbild und zu den Vorgesetzten entschieden.15 Neben den Richtern, Staatsanwälten und Lehrern sind sie seit der Gründung der Republik ebenfalls wichtige Vertreter und Verteidiger des laizistisch-nationalistischen Wertesystems in der ländlichen Peripherie.16 Sie haben sich von jeher als Repräsentanten der Staatsmacht, sprich des etatistisch-bürokratischen Zentrums betrachtet. Die Ver12 Das Verfassungspaket, das im September 2010 in Kraft trat und auf das noch ausführlicher in den folgenden Abschnitten eingegangen wird, kann in dieser Hinsicht einen Machtschwund der bürokratisch-militärischen Führungselite zugunsten einer zivilgesellschaftlich-liberalen Politikentwicklung herbeiführen. 13 Küc¸ükömer, I˙dris: Batılılas¸ma: Düzenin Yabancılas¸ması (Verwestlichung: Entfremdung der Regimes), 2. Aufl., Istanbul 2001, S. 100. 14 Im Bewusstsein einer Abweichung von der administrativen Verwaltungstradition Deutschlands wird der Verfasser in dieser Abhandlung die Hochschullehrer und die Richter entsprechend des türkischen Bedienstetenbrauchs als „Bürokraten“ bezeichnen. 15 Seit den 1990er Jahren lässt sich ein Elitenwandel beobachten, der insbesondere von der seit 2002 amtierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (PGA) – Adalet ve Kalkynma Partisi – gefördert wird. Die herkömmliche kastenähnliche Struktur des bürokratischen Kaders wird – wenn auch in bescheidenem Maße – durch die Rotation der Eliten im Sinne von W. Pareto Schritt für Schritt aufgebrochen. Von den „peripheren“ Schichten steigen neue Anwerter auf die hierarchich höhere Stufe der „verharschten und verfi lzten“ Elite auf, was jedoch bei dem etablierten Establishment zu Argwohn und Aversion führt. Siehe auch: Eryilmaz, Bilal: Bürokrasi ve Siyaset (Bürokratie und Politik), 2. Aufl., Istanbul 2004, S. 150. 16 A. a. O., S. 137.
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waltungsbürokratie besitzt ein obrigkeitliches Denken und beansprucht die Rolle eines bevormundenden Präzeptors, dessen Aufgabe es ist, das politisch „unmündige“ periphere Volk zu erziehen, ja zu „zivilisieren“. Dieser ideologisch-weltanschauliche Auftrag wurde während der Einparteienherrschaft (1923–1946) zum Hauptanliegen der Verwaltungsbürokratie erklärt.17 Die von den Staatsgründern den Beamten übertragene offizielle Aufgabe der Vermittlung und Aufrechterhaltung der Staatsideologie stärkte ihre Machstellung und verlieh ihnen innerhalb der Staatsordnung fast rechtlich unantastbare Privilegien. Erst mit der Machtübernahme der Demokratischen Partei im Jahre 1950 konnte eine Wende in Bezug auf die Aversion des Beamtentums gegenüber der Bevölkerung in Gang gesetzt werden. Die Partei führte einen neuen Führungsstil ein, indem sie die Interessen und Wünsche der Peripherie wohlwollend aufnahm und zur Implentierung an die Staatsführung weiterleitete. Die Empörung und Frust der Bevölkerung gegen die Bürokratie fand bei der Demokratischen Partei Gehör. Sie schränkte die Machstellung der Beamten im Herrschaftssystem ein, indem die staatspolitischen Aufgaben sukzessive von ihr selbst übernommen und der Tätigkeitsbereich der Bürokratie von der Regierungspolitik auf ihr eigentliches administratives Aufgabenfeld verschoben wurde. Mit anderen Worten, man ersetzte die „Beamtenherrschaft“ der etablierten etatistisch-administrativen Elite durch das „parteipolitische Regieren“ der von den Bürgern mittels Wahlen legitimierten Demokratischen Partei.18 Diese demokratischen Maßnahmen ermöglichten zum ersten Mal in der Politik des Landes eine bürgerlich-periphere Kontrolle der Beamtenschaft durch den politischen Willensbildungsprozess der Gesellschaft, was zu einem Nimbus- und Herrschaftsverlust der Bürokraten führte. Die Nähe zum Volk und die Distanz zu den verharschten etatistisch-bürokratischen Schichten war einer der wichtigsten Gründe für die Entmachtung der Demokratischen Partei durch einen Staatsstreich der Armee im Jahre 1960, bei dem die Bürokraten das Militär unterstützt hatten.19 Nach dem Umsturz wurde im Jahre 1961 eine neue Verfassung verabschiedet. Ein Verfassungskonvent erarbeitete den Entwurf, der jedoch zum größten Teil aus Sympathisanten der Republikanischen Volkspartei bestand, die den Putschisten nahestanden. Somit schloss die Militärjunta bei der Erarbeitung der Verfassung einen großen Teil der Vertreter des Volkes aus, nämlich die Anhänger der Demokratischen Partei. Es wurde eine Verfassung ausgearbeitet, die zwar den Bürgern Freiheiten zusicherte, dafür aber ein großes Misstrauen gegenüber den politischen Parteien und der Volkswahl aufwies.20 Die Umstürzler betrachteten nicht das gewählte Parlament des Volkes als den wirklichen Vertreter der Volkssouveränität, sondern das nichtgewählte bürokratische Establishment und die dem Staatssystem nahe stehenden Eli17
A. a. O., S. 139. A. a. O., S. 144. 19 Das etablierte militärisch-bürokratische Establishment wollte nach dem Putsch mit der Exekution des Ministerpräsidenten Adnan Menderes, des Außenministers Fatin Rüs¸tü Zorlu und des Finanzministers Hasan Polatkan den künftigen poltischen Parteien ein Exempel statuieren, damit die peripheren Kräfte es in der Zukunft nicht noch einmal wagen sollten, die etablierte Herrschaftsmacht des Zentrums durch gesellschaftlichen Einfluss und parteipolitische Politik der Peripherie (der demokratische Weg eingeschlossen) in Frage zu stellen. 20 Erdogˇan, Mustafa: Anyasa Hukuku (Verfassungsrecht), 5. Aufl., Ankara 2009, S. 143. 18
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ten.21 Deswegen erarbeitete die Verfassungsversammlung eine Konstitution, die durch diverse neu gegründete administrative Institutionen, die Mehrheit des Parlaments und den „politischen Flügel“ der Exekutive leerlaufen lassen konnte. In anderen Worten, die Putschisten, die sich aus dem Militär, den Bürokraten, der Republikanischen Volkspartei und den laizistischen Intellektuellen zusammensetzten, waren sich dessen bewusst, dass bei einer erneuten Einführung der Demokratie die Bürger ihnen kein Vertrauen schenken und sie daher im Parlament nicht in der Lage sein werden, eine Mehrheitsregierung zu bilden. Sie versuchten daher das vom Volk direkt legitimierte Parlament und den politische Teil der Exekutive durch die Ernannten, sprich Bürokraten und Militär zu schwächen.22 Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war das Umdenken hinsichtlich des Volkssouveränitätsverständnisses. Die Verfassung von 1961 stellte die Souveränität nicht wie die Konstitution von 1924 uneingeschränkt -zumindest verfassungstheoretisch – zur Disposition des Volkes, sondern konstatierte, dass es sie durch bestimmte Verfassungsorgane ausüben soll. Innerhalb dieser Einrichtungen waren jedoch auch administrative Organisationen, welche die Volkssouveränität im Namen des Volkes ausführten, ohne dabei jedoch durch die demokratische Rückkoppelung genügend legitimiert worden zu sein. Ferner legte man die Verwaltung im strukturellen Auf bau nicht als ein untergeordnetes Teil des Kabinetts fest, sondern gliederte sie als eine von den politischen Entscheidungsträgern unabhängige „Gewalt“, um der Beamtenschaft der Politik gegenüber eine breitere autonome Stellung zu gewähren.23 Unter den erwähnten neu gegründeten administrativen Verfassungsorganen, die mehr oder minder die politischen Entscheidungsträger an die Kandare nehmen sollten, kann hier z. B. das Gremium für die staatliche Planung und der Nationale Sicherheitsrat angeführt werden.24 Des Weiteren wurde eine zweite Kammer (Senat) ins Leben gerufen, der auch nicht Gewählte ernannt werden konnten.25 Im Gegensatz zur ersten Kammer vermochten z. B. nur Hochschulabsolventen über 40 Jahre zum Senat zu kandidieren. Dadurch schuf man eine eher etatistisch-bürokratische Elitenkammer, die das Ziel verfolgte im Namen des Zentrums ein Gegengewicht zur peripher-bürgerlichen Nationalversammlung zu bilden.26 Mithilfe dieses konstitutionellen bürokratisch-militärischen Kontrollmechanismus war das Zentrum in der Lage seine Machtstellung gegenüber der politischen Peripherie auch dann zu behaupten, wenn die Republikanische Volkspartei, die damals unbestritten den politischen Flügel des etatistisch-bürokratischen Zentrums bildete, im Parlament die Mehrheit 21 Parla, Taha: Türkiye’nin Siyasal Rejimi 1980–1989 (Das politische System der Türkei 1980–1989), 2. Aufl., Istanbul 1993, S. 76. 22 A. a. O., S. 30 f. 23 Das Kabinett wird unter dem Buchstaben (B) angeführt. Man hat das Amt des Generalstabschefs und den Nationalen Sicherheitsrat diesem Teil subsumiert. In einem separaten Abschnitt dann, unter dem Buchstaben (C), wird die Verwaltung mit ihren diversen Institutionen aufgelistet. 24 Auf dieses Komitee wird weiter unten näher eingegangen. 25 Nach Artikel 70 der Verfassung von 1961 hatte der Staatspräsident das Recht, 15 Mitglieder selbst zu Senatoren zu ernennen. Darüber hinaus waren die Mitglieder des Kommitees der Junta und ehemalige Staatspräsidenten (die meisten von ihnen waren ehemalige Generäle) „natürliche Mitglider“ des Senats. 26 Erdogˇan, Mustafa: Türkiye’de Anayasalar ve Siyaset (Verfassung und Politik in der Türkei), 6. Aufl., Ankara 2009, S. 116.
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nicht erringen sollte. Dann nämlich wären die Beamten und das Militär dank der neu errichteten Verfassungsorgane als Argus in der Lage die bürgernahen politischen Parteien in der Nationalversammlung und Regierung zu zähmen und falls notwendig sie in ihre Schranken zu verweisen.27 Nach der Militärintervention im Jahre 1980 haben die Putschisten das probürokratische und proetatistische Fundament der Verfassung von 1960 als Ausgangspunkt für die Vorbereitung einer neuen Konstitution genommen. Anders als die alte ging die neue Verfassung über die Skepsis und das Misstrauen gegenüber dem Parlament und den politischen Parteien, ja gegenüber dem „Politischen“ an und für sich in überheblichem Maße hinaus. Infolgedessen wurden die politischen und freiheitlichen Grundrechte der Bürger zugunsten des militärisch-bürokratischen Herrschaftsanspruchs der Ernannten stark eingeschränkt, was zur etatistisch-administrativen Bevormundung der Gesellschaft und Beeinträchtigung des demokratisch-zivilgesellschaftlichen Lebens der Citoyen führte. Die Verwaltungsbürokratie nutzt auch in der Gegenwart jede Gelegenheit, um ihre Machstellung zu bewahren oder zu stärken. Als vor den Parlamentswahlen im Jahre 2007 die Vertreter des Zentrums ihre Anhänger gegen die PGA als Repräsentantin der Peripherie auf Kundgebungen mobilisierten, haben die Bürokraten den Protesten Beistand geleistet28. Auch bei dem Referendum über das Verfassungsänderungspaket im Jahre 2010 gaben sie der Republikanischen Volkspartei Unterstützung, um die Novelle zu kippen; weil die Änderung liberal-politische Reformen eingeleitet hat, die den bürokratisch-(halb)militaristischen Status quo zugunsten einer freiheitlichen Demokratie revidieren. Trotz eingeleiteter Liberalisierungsreformen und des gesellschaftlichen Umwandlungsprozesses der letzten Dekaden haben sich an der elitistisch-etatistischen Machstellung29 der Verwaltungs- und Ministerialbürokratie zugunsten zivilgesellschaftlicher und demokratischer Entwicklungen nur relative Änderungen an den Tag gelegt. Aber die durch den Volksentscheid von der Mehrheit der Bevölkerung angenommene Verfassungsänderung im Herbst 2010 lässt Hoffnungen auf keimen. Mit der Revision ist zumindest verfassungsrechtlich der Weg zur (politischen) Entmachtung der Verwaltung und Entbürokratisierung des Herrschaftssystems geebnet worden.
b) Die akademischen Bürokraten (Hochschullehrer) Diese Gruppe wird als die hohe Elite des türkischen Beamtenkaders betrachtet. Sie besitzt im Gegensatz zu der Verwaltungsbürokratie weniger öffentlich-administrative Hoheitsaufgaben. Sie weist zwar eine geistige Machtstellung und einen großen 27 Parla, Taha: Türkiye’nin Siyasal Rejimi 1980–1989 (Das politische System der Türkei 1980–1989), 2. Aufl., Istanbul 1993, S. 31. 28 Yayla, Atilla: Kemalizm. Liberal bir Bakıs¸ (Kemalismus. Eine liberale Betrachtung), Ankara 2008, S. 71. 29 Dies bekam schon Celal Bayar zu spüren, als er am Ende der 1930er Jahre zum Ministerpräsident ernannt wurde und sich zum Ziel gesetzt hatte die Macht der Bürokratie einzudämmen. Ihre Machtposition war im Staatssystem so stark ausgeprägt, dass er mit seinem Vorhaben scheiterte. Ahmad, Feroz: Modern Türkiye’nin Olus¸umu (Die Gründung der modernen Türkei), 2. Aufl., Istanbul 1999, S. 88.
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„überpolitischen“ Einfluss aufgrund ihrer Rolle als Repräsentantin der Universitäten im staatspolitischen System vor, wird jedoch vom Volk mit Skepsis betrachtet, weil sie nicht selten zugunsten des nationalistisch-etatistisch-positivistischen Werte- und Herrschaftssystems mit den anderen staatstragenden Kräften kooperiert und in die Regierungspolitik direkt oder indirekt interveniert hat. Bei dem Putsch vom 27. Mai 1960 nahmen die Hochschullehrer an den Diskussionen vor der Militärintervention über die Medien zugunsten der kemalistisch-etatistischen Kräfte teil und bemühten sich dann im Nachhinein die bürokratisch-militärische Machtübernahme zu rechtfertigen. Ihr eigentliches Gewicht kam bei der Vorbereitung der neuen Türkischen Verfassung von 1961 zur Geltung.30 Wie schon angedeutet, konzipierten sie eine neue Verfassung, in der die Machtverhältnisse zum Vorteil der administrativen vollziehenden Gewalt verlagert und die demokratisch gewählten politischen Kräfte geschwächt wurden.31 Dies war eine absichtliche Machtverschiebung von den politischdemokratisch bestellten Vertretern des Volkes auf den administrativ ernannten Beamtenkader. Auch in der als „postmodernen Putsch“ bezeichneten indirekten Militärintervention im Jahre 1997, bei der die damalige Regierung von Necmeddin Erbakan zum Rücktritt gezwungen wurde, waren sie mehr oder minder involviert. Ferner steht das Gros des akademischen Establishments der antietatstischen, antibürokratischen und antielitären Politik der als moderat-islamisch geltenden und seit 2002 die Regierungsverantwortung tragenden PGA kritisch gegenüber. Ihre missbilligende Haltung gegenüber der PGA nahm im Frühjahr 2007 bei den Wahlen für das Amt des Staatspräsidenten und bei den diesbezüglich organisierten prolaizistischen und pronationalistischen Kundgebungen ihren Höhepunkt. Der akademische Beamtenkader hat sich bis jetzt mithilfe machtpolitischer Mittel in Kooperation mit den anderen staatsmachttragenden Kräften für die Erhaltung des etatistisch-bürokratischen Status quo eingesetzt. Die Akademiker werden in der staatsrechtlichen Ordnung durch den mächtigen Hochschulrat vertreten, der im Laufe der Zeit eine Monopolstellung über die Universitäten und ihr Personal errichtet hat. Jedoch haben zwei Ereignisse die Machtstellung des etablierten Akademikerkaders in gewisser Hinsicht zugunsten der zivilgesellschaftlich-peripheren Kräfte geschwächt. Die erste positive Entwicklung ist die Eröffnung vieler neuer Universitäten in den letzten Jahren. Insbesondere in den ländlichen Gebieten, die als Regionen der Peripherie betrachtet wurden, hat die PGA neue Hochschulen gegründet, die nun eine akademische Lauf bahn auch den peripheren Gesellschaftsschichten ermöglichen. Des Weiteren haben eine nicht mindere Anzahl von Akademikern, die aus dem Ausland kamen und eine liberal-demokratische Sichtweise vertreten sowie der etatistisch-elitären Haltung der ehemaligen Akademiker eine Absage erteilen, an den neuen Universitäten eine Tätigkeit aufgenommen. Die Elitenzirkulation wird die Landschaft der Hochschullehrer zugunsten eines pluralen Gesellschafts- und Politikverständnisses ändern. Es ist zu erwarten, dass die neuen Akademiker aufgrund ihrer 30 Ahmad, Feroz: Modern Türkiye’nin Olus¸umu, (Die Gründung der modernen Türkei), 2. Aufl., Istanbul 1999, S. 153 ff.; Can, Osman: Darbe Yargısının Sonu: Karargah Yargısından Halkın Yargısına (Das Ende der Putschjustiz: Von der Quartiersjustiz zur bürgerlichen Justiz), Istanbul 2010, S. 62 f. 31 Parla, Taha: Türkiye’nin Siyasal Rejimi (Das politische System der Türkei), 2. Aufl., Istanbul 1993, S. 30 f.
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Aufgeschlossenheit gegenüber den Menschenrechten, zivilgesellschaftlichen Strukturen und der Rechtsstaatlichkeit sowie ihrer Distanz zum Etatismus und zur herkömmlichen staatspolitischen sowie geistigen Bevormundung der Gesellschaft durch das Establishment die demokratisch-liberale Entwicklung langfristig positiv beeinflussen werden. Dieser Prozess kann die gestörte Beziehung zwischen Volk und Akademikern in der Zukunft verbessern. Der zweite Vorfall, der die Machtposition der etablierten Akademiker in Mitleidenschaft zog waren Festnahmen von Hochschullehrern im Rahmen der ErgenekonUntersuchung durch die Staatsanwaltschaft.32 Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei wurden Persönlichkeiten festgenommen, die eigentlich zum Establishment des staatlichen Herrschaftssystems gehören und bis dann eine gewisse „informelle“ privilegierte (rechtliche) Immunität genossen. Unter diesen Prominenten befanden sich auch Akademiker (ehemalige Rektoren eingeschlossen), die der Mitgliedschaft einer Terrororganisation bezichtigt wurden. Mit ihrer Verhaftung hat sich ihre „überrechtliche“ Unantastbarkeit relativiert und brachte sie in den Augen der Öffentlichkeit in Misskredit. Welche Folgen das für sie in der Zukunft haben wird, kann man aus heutiger Sicht nicht genau festgelegen, aber von ihrer alten Machtposition werden sie bestimmt einiges einbüßen. Zumindest haben die Festnahmen den konventionellen Akademikern nahe gelegt, dass sie in einem Rechtsstaat wie die Bürger ebenfalls an Recht und Gesetz gebunden sind und sie keine rechtlichen, politischen oder administrativen Privilegien besitzen.
c) Die judikativen Bürokraten Sie bestehen aus den Richtern und Staatsanwälten der rechtssprechenden Gewalt und verfügen seit der Gründung der Republik über eine große Machtposition innerhalb der herrschenden Beamtenschicht. Ihre Dominanz beeinträchtigt das Prinzip des „check and balances“ zwischen den Gewalten, weil sie nicht selten ihre Komepetenzen zum Nachteil der anderen Staatsorgane, insbesondere des Parlaments, überschreiten. Die hohen Gerichte, allen voran das Verfassungsgericht, weiten ihre richterliche Nachprüfung des Öfteren auch auf genuin politische Entschlüsse, wenn es die Interessen des bürokratisch-etatistischen Establishments Status quo erfordern. Ihre Haltung rechtfertigen sie mit ihrer Mission als Hüter der Staatsideologie, zumal des Laizismus. Dies übt einen negativen Einfluss auf die demokratische, menschenrechtliche und rechtsstaatliche Entwicklung des Landes aus. Wichtiger scheint hier für die hohen Gerichte nicht die Fortbildung und Konkretisierung des Verfassungsrechts im Rahmen der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaates, sondern die Bewahrung des etatistisch-ideologisch-nationalistischen Herrschaftssystems vor den Einflüssen der gesellschaftlichen Peripherie zu sein. Die richterliche Kontrolle der Legislative und Exekutive wird nicht selten als Instrument für den Erhalt des 32 Nach der vom 13. Großen Strafgericht Istanbul angenommenen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft im Sommer des Jahres 2008 ist „Ergenekon“ eine Terrororganisation, der eine ganze Reihe von Straftaten wie Mord, Attentate, Planung eines Staatsstreiches oder ideologische Beeinflussung der Sicherheitskräfte und der Armee, Stiftung von Unruhe und Zwietracht zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen vorgeworfen wird.
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Status quo zweckentfremdet. Die rechtsprechende Gewalt, insbesondere das türkische Verfassungsgericht, kann aufgrund ihrer „selbstangenommenen missionarisch-ideologischen Rolle“ nicht im Vergleich zu der deutschen als ein bedeutender Förderer der Menschenrechte, der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft gelten. Das hohe Gericht zieht z. B. die kemalistischen Prinzipien, zumal den Laizismus, bei der Kontrolle der allgemeinen Rechtsnormen auf ihre Vereinbarkeit mit den höheren Normen den Menschenrechten vor.33 Der Laizismus wird somit als Staatsideologie den Grundrechten und dem Rechtsstaat übergeordnet, was zu einer Ideologisierung des Rechts führt. Jeden zivilgesellschaftlich-politischen Versuch die Gerichtshöfe effektiv in eine „verfasste“ demokratisch-rechtsstaatliche Staatsordnung zu integrieren, was einer Beschränkung ihrer Machtstellung gleichkäme, wehren sie mit der Begründung ab, die Initiative ziele auf Schwächung des laizistischen Fundaments der Staatordnung oder kippe das Gleichgewicht der Gewalten zuungunsten der Judikative durch die Einmischung der Politik in die Rechtsprechung. Diese Behauptungen entbehren oft jeder Grundlage; es geht hauptsächlich um den Erhalt ihrer Machtposition gegenüber der Legislative und Exekutive. Durch die Gewaltenteilung soll ja eigentlich verhindert werden, dass keine von den Staatorganen die Macht bei sich konzentriert. Jedoch tendiert die Dritte Gewalt dazu, die auf Gleichgewicht und Überwachung gegründete gewaltenteilende Konstellation zu ihrem Vorteil zu unterlaufen. Dies hat das türkische Verfassungsgericht in seinem Urteil über die Verfassungsänderung in Bezug auf die Erweiterung des Bildungsrechts für Frauen mit bedecktem Haupt an den Hochschulen im Jahre 2008 zutage gelegt. Es hat die Verfassungsnovelle in Bezug auf den Artikels 10 (Gleichheit vor dem Gesetz) und Artikel 42 (Recht und Pfl icht zur Erziehung und Bildung) TVerf als „verfassungswidrig“ erklärt, weil die Änderung der erwähnten Bestimmungen eine Verletzung der Unabänderlichkeit der ersten drei Artikel der Türkischen Verfassung von 1982 dargestellt habe. Somit hätte das Parlament auf Umwegen das laizistische Prinzip, das in der Präambel und in Artikel 1 und 2 TVerf (indirekt) unter Schutz steht, verletzt. Wenn man jedoch das Urteil des hohen Gerichts etwas näher betrachtet, dann stellt sich heraus, dass es selbst mit seiner Prüfungsart die Verfassung verletz hat. Denn nach dem klaren Wortlaut des Artikel 14834 TVerf können Konstitutionsnovellen nur auf ihre Übereinstimmung mit den Quorums- und Verfahrensregeln (formelle Kontrolle), nicht aber auf ihren Inhalt hin kontrolliert werden35. Indessen hat 33 Erdogˇan, Mustafa: Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), 6. Aufl., Ankara 2011, S. 182. Auch Ergun Özbudun kritisiert diese Haltung des Türkischen Verfassungsgerichts. Dadurch erhebe das hohe Gericht die kemalistischen Prinzipien in den Rang einer Staatsideologie, was jedoch mit den liberal-demokratischen Grundsätzen einer Staatsordnung nicht übereinstimme. Özbudun, Ergun: Anyasa Hukuku (Verfassungsrecht), 11. Aufl., Ankara 2010, S. 414. 34 In Artikel 148 heißt es in Bezug auf die Verfassungsänderungen: Das Verfassungsgericht . . . prüft und kontrolliert Verfassungsrevisionen nur auf ihre Form hin . . . Die formelle Prüfung der Gesetze besteht darin, ob die letzte Abstimmung mit der vorgesehenen Mehrheit durchgeführt worden ist oder nicht; die der Verfassungsrevision demgegenüber ist mit der Frage begrenzt, ob der Vorschlag und die Abstimmung mit der erforderlichen Mehrheit erfolgt ist und ob die Bedingung eingehalten worden ist, dass nicht im Eilverfahren im Plenum verhandelt werden darf. 35 Auch Ergun Özbudun ist der Auffassung, dass das Verfassungsgericht gemäß Artikel 148 TVerf nicht befugt ist, Verfassungsrevisionen inhaltlich auf ihre Vereinbarkeit mit den in Art. 2 TVerf festge-
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das türkische Verfassungsgericht dieser Vorschrift zum Trotz die Verfassungsänderung einer materiell-inhaltlichen Prüfung unterzogen und dabei seine Kompetenz überschritten.36 Auch Verfassungspräsident Has¸im Kılıç und Richter Sacit Adaly kritisierten in ihren Sondervoten jene Vorgehensweise der Mehrheit. Sie warfen der Majorität der Richter vor, aufgrund der inhaltlichen Prüfung der Verfassungsrevision ihre verfassungsrechtliche Zuständigkeit überschritten zu haben. Mit dieser Entscheidung hat das hohe Gericht das vom Volk demokratisch direkt legitimierte Parlament unter die Vormundschaft der Dritten Gewalt genommen und wieder einmal ein Zeichen der Machtfülle des (bürokratischen) Zentrums gegenüber der (politischen) Peripherie an den Tag gelegt. Bei dem Widerstand der Mehrheit der rechtsprechenden Gewalt gegen das Verfassungsänderungspaket, das die Regierungspartei PGA in April 2010 im Parlament zur Verabschiedung vorgelegt hatte, ging es erneut in erster Linie um den Erhalt ihrer Machtposition. Trotz der Gegenwehr der Oppositionsparteien konnte die Verfassungsnovelle außer einem Artikel, der das Verbot von Parteien erschweren sollte, schließlich Anfang Mai 2010 in der Nationalversammlung durchgesetzt werden. Das letzte Wort über die Verfassungsänderung sollte jedoch das Volk bei einem Referendum im September 2010 sprechen. In der Volksabstimmung sprach sich 58% der Bevölkerung für die Novelle aus. Die Änderung modifizierte 23 Artikel und eine Übergangsvorschrift der Türkischen Verfassung vom Jahre 1982. Von großer Bedeutung sind die Änderungen in Artikel 146, 147, 148, 149 und 159 TVerf. Die ersten vier Bestimmungen legen die Organisation und Wahlpraktiken der Mitglieder des türkischen Verfassungsgerichts und die letzte Vorschrift die des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte fest. Nach den neuen Regelungen wird insbesondere die Mitgliedszahl beider Organe erhöht. Die Zahl der Angehörigen des hohen Gerichts sind von elf ordentlichen und vier Ersatz- auf siebzehn ordentliche und die des Hohen Rates von sieben ordentlichen und fünf Ersatz- auf zweiundzwanzig ordentliche und zwölf Ersatzmitglieder erhöht worden. Mit der Verfassungsrevision soll erstens die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und des türkischen Justizverwaltungsrates die gesellschaftliche Vielfalt besser widerspiegeln. Zweitens erhofft man, dass die neuen Vorschriften, beide justizielle Gremien, die in der Türkei bisher dem Volk gegenüber als eine geschlossene berufsständige Interessenvertretung fungierten, dazu bewegen werden, sich der Gesellschaft mehr oder minder zu öffnen (Herbeiführung einer Elitenzirkulation durch Erhöhung der Anzahl der Mitglieder beider Organe). Drittens möchte man die demokratische Legitimation dieser zwei wichtigen Verfassungsorgane effektiver gewährleisten. Schließlich soll ihre Arbeitslast zumal des Verfassungsgerichts verringert werden. Die Zusammensetzung des Justizverwaltungsrats, dessen ordentliche Mitgliederzahl wie erwähnt auf zweiundzwanzig und Ersatzmitgliederzahl auf zwölf erhöht legten Grundsätzen der Republik zu überprüfen. Im Rahmen dieser Vorschriften sei das Unabänderungsgebot hinsichtlich der Bestimmungen in Art. 1, 2 und 3 der TVerf nur ein moralischer Apel an das Parlament. Özbudun, Ergun: Türk Anayasa Hukuku (Türkisches Verfassungsrecht), 8. Aufl., Ankara 2005, S. 163 f. 36 Urteil des türkischen Verfassungsgerichts: E. 2008/16, K. 2008/116, 05. 06. 2008: www.anayasa. gov.tr/index.php?l=manage_karar&ref=show&action=karar&id=2608&content= (Abruf: 17. 10. 2011).
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wurde, wird künftig wie folgt festgelegt: die Angehörigen des Kassationshofes wählen drei ordentliche und drei Ersatzmitglieder aus den eigenen Reihen; zwei ordentliche und zwei Ersatzmitglieder wählen die Vertreter des Verwaltungsgerichtshofes aus ihrer Mitte; ein ordentliches und ein Ersatzmitglied bestimmt die Türkische Justizakademie aus ihren Mitgliedern; sieben ordentliche und vier Ersatzmitglieder wählen die Richter und Staatsanwälte der Zivilgerichte aus ihren Kolleginnen und Kollegen; drei ordentliche und zwei Ersatzmitglieder suchen die Richter der Verwaltungsgerichte aus ihren Amtskollegen aus. Schließlich ernennt der Staatspräsident selbst vier ordentliche Mitglieder aus juristischen Hochschullehrern und Rechtsanwälten.37 Die Wahl der 1738 Mitglieder des Verfassungsgerichts obliegt nach der Novelle dem Parlament und dem Staatspräsidenten. Das Parlament wählt 2 Mitglieder aus 6 Anwärtern des Rechnungshofes, die er selbst unter seinen Mitgliedern zur Auswahl stellt und 1 Mitglied aus drei Bewerbern von Rechtsanwälten, die die Präsidenten der Rechtsanwaltskammern nominieren. Demgegenüber ernennt der Staatspräsident aus neun Kandidaten, die der Kassationshof aufstellt, drei; aus 6 Aspiranten, die der Verwaltungsgerichtshof nominiert, 2; aus drei Bewerbern, die der Hohe Militärverwaltungsgericht empfehlt, 1; aus drei Kandidaten, die der Militärkassationshof vorschlägt, 1; aus 9 Anwärtern, die der Hochschulrat unter den Hochschullehrern vorschlägt – mindestens zwei müssen eine juristische Lauf bahn eingeschlagen haben –, drei zum Verfassungsrichter. Schließlich beruft der Staatspräsident 4 Personen aus 37 In der vom Parlament verabschiedeten Verfassungsnovelle hatte man dem Präsidenten der Republik die Option zur Verfügung gestellt unter den 4 Anwärtern auch Nichtjuristen in den Justizverwaltungsrat zu berufen, was jedoch vom türkischen Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurde. Näheres dazu wird weiter unten in einem Exkurs zum Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vom 7. 7. 2010 über das Verfassungsänderungspaket angegeben. 38 In der ersten Vorlage der Verfassungsnovelle der Regierung bestand das Verfassungsgericht nicht aus 17, sondern 19 Mitgliedern. Zwei Kandidaten sollte der Präsident der Republik aus dem Volk wählen dürfen. Diese Regelung war eigentlich eine erweiterte Anwendung der von Peter Häberle ins Leben gerufene Theorie der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Häberle, Peter: Die Verfassung des Pluralismus: Studien zur Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, Kögnigstein 1980, S. 79 ff.; Häberle, Peter: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 117 ff.). Laut dieser Theorie soll eine Beziehung zwischen den Bürgern als Interpreten der Verfassung im erweiterten Sinne und den Juristen als Fachinterpreten eine interaktive Beziehung hergestellt werden. Da die Adressaten der Verfassungsinterpretation die Bürger seien, müssen auch die Entscheidungen der Verfassungsrichter so weit wie möglich demokratisch Legitimiert werden. Je stärker die öffentliche Meinung in den Prozess der konstitutionellen Auslegung eingebunden werde, umso größer sei der Rechtfertigungsfaktor des Urteils gegenüber der Bevölkerung. Die Einbeziehung der Bürger in die Auslegung der Verfassung bezeichnet Häberle als „pluralistische Verfassungsinterpretation“ (A. a. O., S. 121). Die erwähnte Novelle der TVerf hätte die Möglichkeit geboten, dass die Wünsche und Forderungen der breiten Massen im Verfassungsgericht effektiver Gehör fi nden. In der Türkei herrscht nämlich zwischen der Mehrheit der Bürger und dem Gros der Juristen bis heute ein eher gestörtes Verhältnis, was sich nicht selten in den Entscheidungen der hohen Gerichte auch bemerkbar macht. Die geplante Verfassungsreform sollte die vorhandene antagonistische Kluft zwischen der „geschlossenen“ juristischen Fachauslegung der Verfassungsrichter und der gelebten „offenen“ gesellschaftlichen Interpretation der Bürger verringert werden. Leider wurde dieses Vorhaben nicht in die Praxis umgesetzt; die harsche Kritik der etablierten Staatselite – insbesondere der Juristokratie – gegen die Öffnung der geschlossenen Verfassungsgerichtsbarkeit zugunsten einer „pluralistischen Verfassungsinterpretation“ hat die Regierung zum Einlenken bewegt.
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Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten oder Referenten des Verfassungsgerichts direkt zu Mitgliedern des hohen Gerichts. Unter dem Establishment der Justiz rief insbesondere die oben dargelegten Verfassungsnovellen ein Sturm der Empörung hervor, mit der Begründung die Politik wolle die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt zugunsten der Exekutive unterminieren. Mit den neuen Regelungen würden die Justizorgane, zumal das Verfassungsgericht und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte, politisiert und dem Einfluss der politischen Kräfte preisgegeben.39 Wenn man jedoch die geplanten Verfassungsänderungen in Bezug auf die Organisation der rechtsprechenden Gewalt und die Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte mit denen der europäischen Staaten und diesbezüglich den Empfehlungen des Europa Rates vergleicht, dann sind die neuen Regelungen im Vergleich zu den Standards in Europa – außer einigen wenigen Bestimmungen geringeren Ranges – auf gleichem Niveau. Mit anderen Worten, von einer Beeinträchtigung der Autonomie der judikativen Gewalt durch die Exekutive kann nicht die Rede sein. Erstens wird für die Einstellung, Auswahl, Ernennung und Beförderung oder Diensterhebung der Richter und Staatsanwälte weiterhin ohne Beteiligung der Exekutive und Legislative der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte zuständig sein wie das Ministerkomitee des Europarates in seiner Empfehlung über die Unabhängigkeit, Effizienz und Rolle der Richter im Jahre 1994 festlegt. Der oberste Justizrat der Türkei bekommt seine eigene Verwaltungsstruktur und wird somit auch organisatorisch vom Justizministerium getrennt. Der Justizminister behält zwar seine Stellung als Präsident des Hohen Rates bei, aber er nimmt an den Versammlungen und Arbeit der Senate nicht teil, um die Unabhängigkeit der Judikative zu gewährleisten; jedoch ist es in diesem Zusammenhang nicht angebracht, dass der Staatssekretär des Justizministeriums als (natürlicher) Mitglied in einem der Gremien anwesend sein darf. Aber da es drei Senate geben wird und der beamtete Staatssekretär nur in einem dieser Räte an den Versammlungen teilnehmen darf, wird sein Gewicht innerhalb des Justizverwaltungsrates relativiert. Ferner beanstanden Vertreter der hohen Gerichte die Zusammensetzung und den Wahlmodus des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte. Es wird moniert, dass auch Nichtrichter in das Gremium gewählt werden. Jedoch gibt es diesbezüglich keine Divergenzen mit den Regelungen der EU-Staaten und der Stellungnahme (Nr. 10, Jahr 2007) des Beirates der Europäischen Richter (CCJE) über die Struktur und Rolle des Justizverwaltungsrats. Als die Hauptoppositionspartei die Republikanische Volkspartei die Verfassungsnovelle mit einer Klage Mitte Mai 2010 vor das türkische Verfassungsgericht brachte, schloss sich das Verfassungsgericht dem juristischen Establishment an und annullierte einige Stellen der Verfassungsänderung, was auch die Kreierung einer gemischten Zusammenstellung des Justizverwaltungsrates aus Richtern und Nichtrichtern bzw. Nichtjuristen betraf. Mit der Außerkraftset39 In dieser Sache meldeten sich die damaligen führenden Persönlichkeiten der hohen Gerichte wie der stellvertrende Vorsitzende des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte Kadir Özbek, der Generalstaatsanwalt des Kassationshofes Abdurrahman Yalçınkaya, der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes Mustafa Birden sowie der Präsident des Kassationshofes Hasan Gerçeker in den Medien zu Wort und nahmen die Verfassungsänderung unisono unter Beschuss.
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zung der geplanten Regelung müssen von nun an die vier Kandidaten, die der Präsident der Republik direkt ernennen darf, nur noch aus Juristen bestehen. Eine andere Kritik an der Zusammensetzung ist die Einschaltung der Exekutive, sprich des Staatspräsidenten bei der Wahl der Mitglieder des Justizverwaltungsrates. Damit würde die Unabhängigkeit der Judikative in Mitleidenschaft gezogen. Der Präsident der Republik ernennt indes nur 4 Personen direkt aus eigener Initiative. Der Rest wird von der Jurisdiktion selbst gewählt. Zwar empfehlt der CCJE, dass die außerrichterlichen Mitglieder nicht von der Exekutive bestellt werden sollen, aber auch in anderen europäischen Ländern ist die Wahl einiger Richter oder Nichtrichter durch die Exekutive nicht unüblich, wie z. B. in Portugal durch den Präsidenten der Republik, in Irland und Dänemark durch den Justizminister. Die Verfassungsänderung zog eine weitere relative Verbesserung nach sich, und zwar besteht die Möglichkeit eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte, wenn ein Richter oder Staatsanwalt seines Amtes entkleidet wird. Allerdings kann gegen die anderen Beschlüsse des Hohen Rates kein Rechtsbehelf eingelegt werden, was indessen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit darstellt. Die Monierung (zumal durch die Dritte Gewalt) des Wahlmodus der Mitglieder des türkischen Verfassungsgerichts ist unbegründet, das dies auch den Erfordernissen des demokratischen Verfassungsstaates entspricht. Die Anzahl der Angehörigen wurde erhöht, damit das hohe Gericht die gesellschaftliche Vielfalt angemessener widerspiegeln kann. Mit den neuen Regelungen werden die Richter zum Verfassungsgericht – wie bisher – nicht nur vom Staatspräsidenten gewählt; einen Teil der Mitglieder bestimmt künftig die Nationalversammlung. Zwar ist die Anzahl der Anwärter, die das Parlament zum Verfassungsrichter auswählt, klein – 3 Kandidaten –, dies mindert aber nicht die demokratische Legitimität der vom Präsidenten der Republik zum Verfassungsrichter ernannten Mitglieder – 14 Kandidaten –, weil er in der Türkei mit der Verfassungsänderung im Jahre 2007 von nun an direkt vom Volk gewählt wird. Ferner ernennt der Staatspräsident ohne Vorschlag anderer Staatsorgane nur 4 Mitglieder direkt zu Verfassungsrichtern, die anderen werden jeweils von bestimmten staatlichen Institutionen ihm empfohlen (die erwähnten Organe wählen für jede freie Stelle drei Anwärter, von denen der Präsident der Republik einen zum Richter des Verfassungsgerichts verpfl ichtet). In Europa werden ebenfalls – wie z. B. in Italien – ein Teil der Verfassungsrichter vom Staatspräsidenten gewählt. Hier kann die Frage erhoben werden, warum die Elite der Judikative die vorgenommenen Verfassungsänderungen heftig kritisiert, obwohl diese Reformen in Einklang mit (westlichen) demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften sind. Die neuen Vorschriften beeinträchtigen die Gewaltentrennung nicht, sie reden auch nicht der Fremdbestimmung der Judikative durch die Exekutive das Wort. Auch ist es weit hergeholt zu behaupten, dass mit der Novelle eine schleichende Vormundschaft der Richter und Staatsanwälte durch die Politik, sprich Parlament und Regierung ins Werk gesetzt wird. Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist die Sorge um den Verlust der Machtstellung der etablierten Juristokratie, insbesondere der hohen Gerichte. Die etablierte richterliche Gewalt hegt einen Widerwillen gegen die eingeführten neuen Vorschriften, mit denen man das Ziel verfolgt, die geschlossen-ver-
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krustete (hohe) gerichtliche Organisation zugunsten eines offenen pluralistischen Systems zu ändern. Die Widerspiegelung diverser gesellschaftlicher Kräfte in den hohen Positionen der rechtsprechenden Gewalt können eigentlich mit der Verfassungsnovelle effizienter gewährleistet werden. Die obrigkeitlichen etatistisch-bürokratischen Strukturformen, die auf die Interessen des Establishments zugeschnitten waren40 und größtenteils noch sind, sollen nun so gestaltet werden, dass sie einem demokratischen Wahlmodus und einer liberal-offenen Organisationsform den Weg ebnen. Die geplanten Änderungen können die Zirkulation der Eliten innerhalb der Judikative vorantreiben und somit die Voraussetzung für die Entstehung einer der Gesellschaft und den internationalen Entwicklungen gegenüber offenen Rechtsprechung schaffen, die sich in erster Linie als juristisches und nicht ideologisches Korrektiv versteht.
Exkurs: Das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vom 7. 7. 2010 über das Verfassungsänderungspaket Wie oben kurz erwähnt brachte die größte Oppositionspartei die Republikanische Volkspartei das Verfassungsänderungspaket Mitte Mai 2010 vor das türkische Verfassungsgericht, damit es die Novelle außer Kraft setzen sollte mit der Begründung, manche Artikel der Änderung tangierten die unantastbaren Verfassungsprinzipien (Art. 1, 2, 3 und die Grundsätze der Präambel TVerf ). Das Verfassungsgericht nahm die Klage an und verkündete im Juli 2010 sein Urteil. Obwohl die Türkische Konstitution dem Verfassungsgericht in Artikel 148 TVerf nur eine formale und keine inhaltlich Prüfung zulässt, weitete es seine Kontrolle erneut – wie im Jahre 2008 – auf den materiellen Gehalt des Pakets aus und erklärte den Wahlmodus der Mitglieder des Justizverwaltungsrates und des Verfassungsgerichts sowie die Möglichkeit, Hochschullehrer aus der ökonomischen und politikwissenschaftlichen Fakultät sowie führende Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Dienst in den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte zu wählen, für ungültig. Laut der Mehrheit der Verfassungsrichter seien diese Vorschriften mit dem Prinzip des „demokratischen Rechtsstaates“, das durch Artikel 4 TVerf zur unabänderlichen Norm erklärt worden ist, nicht vereinbar. Vier Verfassungsrichter (der Präsident Has¸ im Kılıç, Engin Yıldırım, Nuri Necipog˘ lu und Serruh Kaleli) haben durch ihre Sondervoten die inhaltlich-materielle Prüfung der Verfassungsänderung als eine Kompetenzüberschreitung und somit als „verfassungswidrig“ bezeichnet.41 Has¸ im Kılıç redet in seiner Gegenstimme von der „juristischen Bevormundung des politischen Handelns“; Engin Yıldırım kritisiert die Mehrheitsentscheidung mit der Begründung, den Verfassungsstaat zu einem „Staat des Verfassungsgerichts“ und das Prinzip des Vorranges der Verfassung zu einem „Primat des Verfassungsrichters“ transformiert zu haben; Nuri Necipog˘ lu beanstandet das Urteil der Majorität damit, dass das Verfassungsgericht sich eine Zu40 Siehe auch: Can, Osman: Darbe Yargısının Sonu. Karargah Yargısından Halkın Yargısına (Das Ende der Putschjustiz. Von der Quartiersjustiz zur bürgerlichen Justiz), Istanbul 2010, S. 139 ff. 41 Siehe dazu: Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts; E.2010/ 49, K.2010/87, 7. 7. 2010, http://www.anayasa.gov.tr/index.php?l=manage_karar&ref=show&action=karar&id=2866&content=Anayasa, (Abruf: 17. 10. 2011).
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ständigkeit angemaßt habe, mit der es nun selbst bestimmen kann, was künftig in der Verfassung geändert werden darf oder nicht. Dies widerspreche dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Nach Ansicht von Serruh Kaleli sollten Verfassungsänderungen einer materiellen Prüfung im Zusammenhang mit Art. 148 und der Unantastbarkeitsvorschrift des Art. 4 TVerf nur beschränkt unterzogen werden. Konkret käme eine inhaltliche Kontrolle nur dann in Frage, wenn gravierende Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip oder die Grundrechte oder die Unverletzlichkeit der Menschenwürde oder die Maxime der Gleichheit vorlägen. Da aber bei der durchgeführten Verfassungsänderung solche Zuwiderhandlungen nicht gegeben seien, stünde eine materielle Prüfung nicht im Zuständigkeitsbereich des Verfassungsgerichts. Trotz des Sondervotums haben jedoch die erwähnten vier Richter bei der Prüfung der geänderten Vorschriften manche Bestimmungen als verfassungswidrig bezeichnet, was in gewisser Hinsicht ein Widerspruch in sich selbst darstellt. Sie haben mit der Mehrheit – wie oben schon dargelegt – die Änderung in Bezug auf den Wahlmodus für die Mitglieder des Verfassungsgerichts und des Justizverwaltungsrates sowie die Ernennung von Nichtjuristen in den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte für ungültig erklärt. Wie auch Mustafa Erdodan unterstreicht, fallen die vorgeführten Argumente der Richter in dieser Hinsicht nicht schlagend ins Gewicht.42 Erstens war der Wahlmodus, den die verfassungsändernde Gewalt einbringen wollte, eigentlich demokratieund pluralismusfreundlicher als die Praxis, die das Verfassungsgericht mit seiner Annullierung erneut eingeführt hat. Nach der geplanten Novelle sollten die Wähler nur eine Stimme für die Kandidaten abgeben, damit auch kleinere Gruppen die Chance erlangten, einen Aspiranten aufstellen zu können. Ziel dieser Vorschrift war die Gewährleistung einer effektiveren Widerspiegelung verschiedener Meinungsströmungen der Gesellschaft innerhalb des Justizverwaltungsrates und des Verfassungsgerichts. Mit dem durch die Annullierung erneut eingeführten Wahlmodus hat jeder Wähler für jeden Kandidaten eine Stimme; laut des Verfassungsgerichts sei diese Vorgehensweise demokratischer als der von der Regierung geplante Weg. Jedoch haben mit jenem Verfahren Minderheiten kaum eine Chance von ihren Reihen einen Kandidaten zu wählen. Die Majorität kann en bloc bei jedem Wahlgang für den eigenen Aspiranten mehrheitlich zuungunsten der Minorität ihre Stimme abgeben. Da das Gros der Juristen der herkömmlichen etatistisch-positivistisch-nationalistischen Staatselite angehört, haben sie mit diesem Wahlmodus ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie ihre etablierte Machtposition ohne weiteres aufrechterhalten können. Dies kommt unter den Juristen einer Kooptation gleich, was zur Bildung einer geschlossenen berufsständischen Herrschaft der Juristokratie führt. Das Wahlverfahren, das mit der Novelle hätte eingeführt werden sollen, entsprach den Anforderungen der pluralistischen Demokratietheorie mehr als das vom Verfassungsgericht wieder eingeführte Auswahlprozedere. Darüber hinaus ist es nicht Sache und Aufgabe des Verfassungsgerichts zu bewerten, was für ein Wahlmodus in der Demokratie angewendet wird. Dies steht eben nach dem Prinzip der Gewaltenteilung im Zuständigkeitsbereich der verfassungsändernden Gewalt. 42 www.stargazete.com/gazete/yazar/mustafa-erdogan/anayasa-mahkemesi-bildiginiz-gibi-27653 2.htm (Abruf: 17. 10. 2011).
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Zweitens ist die Annullierung der Wahl von Nichtjuristen in den Justizverwaltungsrat verfassungsrechtlich ebenfalls sehr fraglich. Das türkische Verfassungsgericht begründete seine Meinung damit, dass die Ernennung von Nichtjuristen in den Hohen Rat aufgrund ihrer mangelnden Kenntnisse über die Rechtsprechung nicht mit der Unabhängigkeit der Richter oder Rechtsprechung, folglich nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren sei. Jedoch ist dieses Argument weit hergeholt. Hier sollte zwar um der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt willen die Mehrheit der Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte aus Juristen bestehen, aber auf jeden Fall ist eine diversifizierte Form aus Juristen (Richter) und Nichtjuristen zu bevorzugen. Dies befürwortete auch der Beirat der Europäischen Richter (CCJE) im Jahre 2007 in seiner Stellungnahme Nr. 10 (Paragraph 18 und 19): eine Mischform des Justizverwaltungsrates sei zu präferieren, solange der Rat eine substanzielle Mehrheit an Richtern gewährleiste – dies war auch in der Verfassungsnovelle der Fall gewesen: unter den 22 (da der Justizminister an den Gremien des Justizverwaltungsrates nicht teilnehmen darf und somit kein Stimmrecht hat, ist seine Stellung als Nichtjurist irrelevant) Mitgliedern hätten nur einige wenige, die keinen Richter- oder Staatsanwaltsstatus besitzen, Angerhörige des Justizverwaltungsrates werden können. Eine Mischform hindert zum einen die Bildung einer geschlossen-zunftmäßigen Interessenvertretung, zum anderen kommt sie der demokratischen Forderung hinsichtlich einer gerechten Repräsentation diverser gesellschaftlicher Meinungsströmungen in den Staatsorganen besser nach. Ferner liegt es nicht in dem Kompetenzbereich eines Verfassungsgerichts zu entscheiden, ob der Justizverwaltungsrat mehrheitlich aus Richtern bestehen muss oder nur gänzlich aus Richtern. Dies ist kein juristisches, sondern ein politisch-zweckmäßiges Anliegen, das in erster Linie zum Aufgabenbereich der vom Volk demokratisch legitimierten politischen Instanzen gehört.43 Sowohl die Wahl einer bestimmten Anzahl von Nichtjuristen in den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte als auch das Auswahlverfahren der Kandidaten zum Justizverwaltungsrat und Verfassungsgericht kann nicht als Verletzung des Prinzips des demokratischen Rechtsstaates eingestuft werden. Außerdem gibt es in Europa Länder, die ebenfalls Nichtjuristen in den Justizverwaltungsrat wählen (Polen, Schweden). Ferner gibt es in den europäischen Staaten keinen einheitlichen Modus für die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts und des Justizverwaltungsrates. Solche Entscheidungen sind den vom Volk (direkt oder indirekt) gewählten Organen der Exekutive und Legislative überlassen worden, weil dadurch die notwendige demokratische Legitimität der Dritten Gewalt gewährleistet wird.
43 Das Verfassungsgericht hätte anstatt der Ablehnung der gemischten Zusammensetzung des Justizverwaltungsrates in Anlehnung an die Empfehlungen der CCJE einen moderateren Weg einschlagen können. In seinem Statement schlägt nämlich der Beirat bei der Gründung einer Mischform des Gremiums ein ausschließlich aus Richtern komponiertes Ratskollegium vor, das dann nur mit bestimmten Aufgaben des Justizverwaltungsrates betraut sein soll (Paragraph 20 der Stellungnahme). Somit hätte man einerseits von den Vorteilen einer gemischten Komposition des Rates profitieren, andererseits die rechtsstaatlichen Bedenken hinsichtlich seiner Zusammensetzung zerstreuen können.
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d) Das Militär Die Armee ist trotz der Liberalisierungs- und Entmilitarisierungsreformen seit den 1990er Jahren immer noch eine wichtige staatstragende Institution des Landes, deren Machtstellung innerhalb der türkischen Staatspolitik nicht zu unterschätzen ist. Sie hat sich mit der Gründung der Republik (1923) zumindest informell in das politischöffentliche System fest verankert. Mit dem In-Kraft-Treten der Verfassung der Zweiten Republik (1961) erlangte sie, insbesondere durch den Nationalen Sicherheitsrat, auch eine verfassungsrechtlich-formelle Basis für die Rechtfertigung ihrer Intervention in die Tagespolitik. Diesen Status hat die gegenwärtige Verfassung von 1982 nur noch gestärkt. Mit der Verfassungsänderung oder Gesetzesreform im Jahre 2001 bzw. 2003 ist die formell-verfassungsrechtliche Einflussmöglichkeit der Armee in die Regierungsangelegenheiten mittels des Nationalen Sicherheitsrates durch die Erhöhung der Anzahl der Zivilisten im Ausschuss und durch die Reduzierung der Entscheidungen des Gremiums auf das Niveau nichtverbindlicher Beratungsbeschlüsse eingeschränkt worden; aber aufgrund des informellen machtpolitischen Gewichts der Armee können die Politiker bei wichtigen Entscheidungen sie (immer noch) nicht gänzlich außer Betracht lassen. Diese hohe Machtstellung der Streitkräfte ist eine Folge der Tatsache, dass die gegenwärtige Türkei infolge eines Unabhängigkeitskrieges entstanden ist und viele prominente Persönlichkeiten der Republikgründer an diesem Freiheitskampf als Offiziere der osmanischen Armee selbst teilgenommen haben; deshalb betrachtet sich das Militär als Erbe des ideologisch-geistigen Vermächtnisses von M. Kemal Atatürk, der ebenfalls ein hoher Bediensteter des osmanischen Heeres war. Die Armee definiert ihre Rolle innerhalb des politischen Systems als Hüter der Einheit der Nation, des Staates und seiner offiziellen säkularen Ideologie vor „inneren“ und äußeren Feinden; darüber hinaus sieht sie sich als eine „überpolitische“ und stabilitätsstiftende Organisation zwischen den interessengeleiteten parteipolitischen Kräften und interveniert deshalb wie eine Lenk- und Kontrollinstanz, wenn die Staatsräson es erfordert, in das politische Geschehen des Landes.44 Dies war in den Jahren 1960, 1971 und 1980 beim direkten und 1997 indirekten Militäreingriff der Fall gewesen. Das Heer als Träger der Staatsmacht scheut sich nicht davor zurück, auch mit informellen Mitteln in die Tagespolitik einzuschreiten, sobald sie die nationalistisch-laizistische Herrschafts- und Werteordnung durch periphere Einflüsse einer Gefahr ausgesetzt sieht. Dabei versuchen sie mithilfe der Medienkonzerne, der Bürokraten und der kemalistischen Intellektuellen die Bevölkerung gegen die Regierung zu mobilisieren.45 Mit solchen Interventionsmaßnahmen nimmt die Armeeführung auch die Beeinträchtigung der liberal-bürgerlichen Regierungsform des Landes in Kauf. Denn für sie haben die Staatsbelange und die -ideologie Vorrang vor allen anderen Interessen. Auch während der Wahl für das Amt des Staatspräsidenten vor den Neuwahlen im April 2007 hat die Militärführung mit einer scharfen Warnung, die unverkennbar 44 Ahmad, Feroz: Modern Türkiye’nin Olus¸umu (Die Gründung der modernen Türkei), 2. Aufl., Istanbul 1999, S. 27; Heper, Metin: Türkiye’de Devlet Gelenegˇ i (Staatstradition in der Türkei), Ankara 2006, S. 150 f. 45 Siehe dazu: Cemal, Hasan: Türkiye’nin Asker Sorunu: Ey Asker Siyasete Karys¸ma! (Das Militärproblem der Türkei: Soldat, interverniere nicht in die Politik!), Istanbul 2010.
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an die regierende PGA gerichtet war, versucht, das Prozedere indirekt zu beeinflussen. In einer Presserklärung auf seiner Homepage am 27. April 2007 hat das Oberkommando der Streitkräfte der PGA unverhohlen zur Kenntnis gebracht, dass aufgrund besorgniserregender Angriffe auf die Grundwerte der Republik, vor allem den Säkularismus, die Streitkräfte als Hüter der laizistischen Ordnung bereit seien, offen Position zu beziehen, wenn die Sachlage es erfordere. Damit wollte man die Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten verhindern, weil er wegen seiner bedeckten Frau und konservativ-islamischer Herkunft als Repräsentant der Peripherie nicht für den wichtigsten Posten des bürokratisch-etatistischen Zentrums salonfähig zu sein schien.46 Jedoch haben sich insbesondere seit der Regierungsübernahme der PGA die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zum Nachteil der Machtstellung der Armee in einem nicht zu unterschätzten Maß geändert. Die PGA hat im Gegensatz zu den anderen bisherigen Parteien (in gewisser Hinsicht kann die Mutterlandspartei unter dem Vorsitz von Turgut Özal zwischen 1983–1989 davon ausgeschlossen werden) die liberalen und zivilgesellschaftlichen Forderungen der Peripherie in ihrer Regierungszeit dem militärisch-bürokratischen Widerstand zum Trotz verfassungsrechtlich entschieden durchzusetzen versucht. In diesem Zusammenhang wurde die Verfassung im Jahre 2010 weitreichend geändert, die eine gewisse Entmilitarisierung der Politik und der Gerichte in die Wege leitete. Dadurch hat man die Interventionsmöglichkeiten der Armee in die Tagespolitik und die militärische Bevormundung der durch das Volk legitimierten legislativen sowie exekutiven Kräfte erschwert. Ferner hat der oben erwähnte Ergenekon-Prozess auch vor den Militärs nicht Halt gemacht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei haben Staatsanwälte gegen Generäle Ermittlungen eingeführt und dabei auch Verhaftungen vorgenommen. Die Festnahmen haben dem Ruf der Armee einen großen Schaden zugefügt, von der sie sich nicht so leicht erholen wird. Gegen aktive und pensionierte Militärs wird wegen Verdacht auf Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, die unter anderem einen Putsch gegen die Regierung geplant haben soll, ermittelt. Des Weiteren werden die Offiziere zurzeit nicht wie bisher vor Militärgerichten, sondern vor Zivilgerichten angeklagt. In dieser Hinsicht gab es große Diskussionen darüber, ob Armeeangehörige nach den gültigen Rechtsnormen vor Zivilgerichten verklagt werden können oder nicht. Zumal die elitären Vertreter des Status quo beanstandeten die juristische Vorgehensweise gegen aktive Offiziere vor Zivilgerichten und bezeichneten sie als rechtswidrig. Um diesen Behauptungen eine Ende zu setzen, hat die PGA-Regierung Mitte 2009 eine Änderung im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung eingeleitet, wonach auch Mitglieder der Armee in zivilen Gerichten angeklagt werden konnten, wenn sie in Friedenszeiten Verfassungsbruch oder politische Delikte gegen das Parlament oder die Regierung begehen würden. Die Republikanische Volkspartei hielt die Novelle für Verfassungswidrig und brachte das Gesetz vor das 46 Nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der PGA im Juli 2007 konnte die Partei dieses Mal aufgrund der breiten Zustimmung der Bevölkerung – fast 50% des Volkes wählte die PGA – und der Unterstützung der Nationalen Bewegungspartei sowie der Demokratischen Partei der Türkei im Parlament ihren Kandidaten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wählen. Die Reaktion des Militärs beschränkte sich wegen des unerwarteten hohen Wahlsieges der Regierungspartei nur auf protokollarische Missmutsgebärden.
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Verfassungsgericht. Die Mehrheit der Richter teilte mit ihr dieselbe Meinung und annullierte die Änderung am 21. 01. 2010.47 Jedoch hat die PGA mit dem Verfassungsänderungspaket auch Art. 145 TVerf, der die Militärgerichtsbarkeit regelt, revidiert, sodass sich künftig Militärangehörige sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten vor Zivilgerichte verantworten müssen, wenn sie sich ein Vergehen gegen die Verfassungsordnung zuschulden kommen lassen. Darüber hinaus können Zivilisten nur in Kriegszeiten bei Militärgerichten verklagt werden. Eine weitere verhältnismäßig positive Entwicklung, welche die Verfassungsnovelle einleitete, ist die Eröffnung des Rechtsweges für Akte des Hohen Militärrates bei Entlassung von Armeeangehörigen aus dem Dienst. Die anderen Beschlüsse des Gremiums können jedoch nicht vor Gericht gebracht werden. Der Ergenekon-Prozess einerseits und das Verfassungsänderungspaket andererseits haben den Ruf der Armee und ihre Machstellung nicht minder beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang wird es der zivilen Regierung künftig leichter fallen, über das Heer de jure (mehr oder minder) Kontrolle zu üben. Eine weitere positive Entwicklung in Sachen Einschränkung der Machtposition der Armee durch zivil-politische Kräfte war der Widerstand der PGA und des Staatspräsidenten Abdullah Gül gegen die Personalentscheidung des Hohen Militärrates in August 2010, den man in der politischen Geschichte der Türkei nur sehr selten vorfi ndet.48 Nach zähen Verhandlungen haben sich die Zivilisten bei der Personalentscheidung im Großen und Ganzen durchgesetzt und manche Beförderungen von Befehlshabern verhindern können, von denen die meisten im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens wegen Beteiligung an einem Putschplan gegen die Regierung unter Verdacht standen. Das Aufbegehren der PGA gegen die Militärs entsprach den türkischen verfassungsrechtlichen Normen. Denn nach der Verfassung und den Gesetzen (Gesetz über das Hohe Militärrat und Gesetz über das Personal der türkischen Streitkräfte) liegt die eigentliche Entscheidungsmacht hinsichtlich der Ernennung der Militärs bei der Exekutive – im Rahmen einer Ernennungsverordnung des Verteidigungsministers, Premierministers und Staatspräsidenten. Aber aufgrund der bisherigen gewichtigen (formellen und informellen) Machtstellung der Armee im politischen System des Landes hatte sich ein Usus etabliert, wonach die Generäle im Hohen Militärrat selbständig die Personalentscheidungen trafen und sie nur zum Absegnen der durch das Volk demokratisch legitimierten Regierung vorlegten. Somit hatten die Offiziere einen militärisch-bürokratischen außerrechtlichen Brauch ins Leben gerufen, der einen höheren Rang als die Rechtsnormen hatte. Diese formelle Gegenwehr der zivil-politischen Kräfte der Peripherie gegen den informellen Personalentscheidungsbrauch des Hohen Militärrates als Repräsentant der Herrschaftselite des Zentrums ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Normalisierung der Armee-Zivilisten-Beziehung. Auch als im Juli 2011 der Generalstabschef und die Befehlshaber der Bodentruppen, Luftwaffe und Marine kurz vor dem Zusammentreffen des Hohen Militärrates im August desselben Jahres aus Protest wegen Inhaftierung von Offizieren im 47 Urteil des türkischen Verfassungsgerichts: 21. 01. 2010, E. 2009/52, K. 2010/16, http://www. anayasa.gov.tr/index.php?l=manage_karar&ref=show&action=karar&id=2902&content= (Abruf: 17. 10. 2011). 48 Vorher hatte es schon einmal der ehemalige Ministerpräsident Turgut Özal gewagt, sich mit Erfolg gegen die Entscheidung des Hohen Militärrates zu widersetzen.
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Rahmen des Ergenekon-Verfahrens und Verweigerung der Regierung Militärs zu befördern, die hinsichtlich des Staatsstreichverdachts in Untersuchungshaft sitzen, zurücktraten, um die politische Führung des Landes unter Druck zu setzen, zeigten die zivilen Regierungsvertreter im Großen und Ganze Willensstärke. Sie ernannte in die vakanten Posten der Armeeführung neue Offiziere. Jedoch wollte die Regierung mit dem Militär nicht gänzlich zum Zerwürfnis kommen und frierte als Kompromiss die Beförderung der Beschuldigten für ein Jahr ein. Trotz der Konzession der politischen Führerschaft gegenüber dem Heer lässt diese zivilgesellschaftliche Entwicklung – wenn man namentlich die Verfassungsänderung mit einbezieht – Hoffnungen in Bezug auf den demokratisch-liberalen Fortschritt im Gegensatz zu den gängigen halbmilitaristischen Herrschaftszügen innerhalb des türkischen politischen Systems auf keimen.
b) Die Großkonzerne und die kemalistischen Intellektuellen als die sekundären Träger der Staatsmacht und ihre Rolle bei der Wahrung der offiziellen etablierten Staatsordnung Die bürokratische kemalistische Elite hat schon mit der Gründung der Republik versucht einen Schulterschluss mit den damaligen Handels- und Wirtschaftskreisen einzugehen. Das Fundament dieser Zusammenarbeit wurde in dem Wirtschaftskongress von Izmir im Jahre 1923 gelegt. Diese Kooperation zwischen der türkischen Bürokratie und der Wirtschaftsschicht divergiert von dem traditionellen soziowirtschaftlichen Beziehungsmuster im Osmanischen Reich, weil damals die Händler und Kaufleute gegen den herrschenden sultanischen Beamtenkader und zugunsten des Volkes mit den Gelehrten und der Heereselite Janitscharen kooperierten.49 In der heutigen Türkei besteht dieses Gleichgewicht zwischen den diversen Machtträgern an der Spitze des politischen Herrschaftsverbandes nicht mehr. Die Bürokraten, das Militär und die Finanz- sowie Wirtschaftsvertreter haben sich im (elitären) Zentrum gegen das periphere Volk zusammengeschlossen. Die türkische Wirtschaftswelt, an dessen Spitze heute der mächtige TÜSIAD (Verband Türkischer Industrieller und Unternehmer) befi ndet, hat sich Schritt für Schritt mit der militärisch-administrativlaizistischen Herrschaftselite eng verbündet, so dass sie mit ihr im Großen und Ganzen dieselben Interessen teilt. Deshalb sind die Großkonzerne auf die Bewahrung des elitären etatistisch-bürokratischen Status quo sehr bedacht. Unter den Großunternehmen fallen insbesondere die Medienkonzerne auf, die nach dem Putsch von 1980 und vor allem seit den 1990er Jahren mehr und mehr an Einfluss gewonnen haben. Die Konzentration der Massenmedien bei einer kleinen Schicht, schafft ihnen eine multiplikatorische Beeinflussungs- und Lenkungsmacht über die Bevölkerung zum Vorteil der Führungselite. Die Machtposition der Medienkonzerne hatte sich sowohl in den vorausgehenden Diskussionen und Ereignissen der direkten Machtübernahme der Armee von 1960 als auch bei der indirekten Militärintervention im
49 Yildiz, Hüseyin: Ein Staatsverständnisvergleich zwischen Deutschland, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und der Türkei, Berlin 2007, S. 153 ff.
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Jahre 199750 und im April 2007 äußerst bemerkbar gemacht. Durch Verzerrung der Informationen über die Geschehnisse nutzten sie ihr Gewicht, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die militärischen Einmischungen gerechtfertigt gewesen waren. Seit einer Dekade gibt es jedoch in der Medienwelt ebenfalls eine sukzessiv positive Entwicklung, weil das Machtmonopol der herrschenden kleinen Anzahl von Medienbaronen durch Gründung neuer Medienunternehmen zugunsten pluralistischen Meinungsdiskurses Schritt für Schritt begrenzt wird. Zu dem elitären bürokratisch-wirtschaftlichen Interessenblock können auch die laizistisch-nationalistischen Intellektuellen hinzugefügt werden. Anders als im Osmanischen Reich bildet die heutige türkische Intelligenzia keinen kooperativen Block mit der Peripherie gegen das Zentrum. Dies was im Osmanischen Reich umgekehrt, zumindest bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte zumal die niedere Schicht der Gelehrten mit dem Volk eine Interessengemeinschaft gegen die Zentralregierung in Istanbul dar.51 Seit der Gründung der Republik entfremdete sich diese westlich-säkularistisch orientierte geistige Schicht immer mehr von den peripheren Bevölkerungsschichten und unterstützte die radikalen laizistisch-etatistischen Reformen des Zentrums. Die Verfassung der Zweiten Republik erhob im Jahre 1961 die Intelligenzia de jure zu den Mitträgern der Staatssouveränität.52 Diese „Machtdelegation“ war ein Entgegenkommen des Militärs gegenüber den Intellektuellen, da sie die Armee bei dem Staatsstreich im Jahre 1960 nicht minder unterstützt hatten.53 Unter der erwähnten geistigen Elite spielen die Kolumnisten eine wichtige Rolle. Sowohl die Letzteren als auch der Rest der säkularistisch-westlich orientierten Intellektuellen haben gute Beziehung zu den Militärs und Bürokraten. Sie vertreten eine obrigkeitsstaatliche Haltung und befürworten einen etatistisch-machtpolitischen Führungskurs, um die zentralistisch-bürokratisch-laizistische Herrschaftsform zu bewahren. Sie haben bis jetzt bei den militärischen Interventionen vorwiegend mitgewirkt. Einer Liberalisierung und Dezentralisierung der verkrusteten etatistischen Staatsordnung stehen sie kritisch gegenüber, weil dies ihrer Meinung nach ein Aufweichen des Machtmonopols der elitär-säkularistischen Herrschaftselite herbeiführen könnte. Auch bei der Volksabstimmung über das Verfassungsänderungspaket im Jahre 2010 sind die Medienbarone sowie die intellektuellen Vertreter des laizistischnationalistisch-etatistischen Status quo mit aller Kraft gegen die Novelle zu Felde gezogen, um das Vorhaben zu kippen. Der TÜSIAD blieb Neutral und weigerte sich, seine wahre Meinung über das Referendum kundzugeben. Trotz des bedeutenden Gewichtes des etablierten wirtschaftlichen und intellektuellen Machtblocks hat sich seit den 1990er Jahren aus der Peripherie eine gewisse alternative Elite zum Zentrum entwickelt, die sich bemühen einerseits das ökonomische andererseits das geistige Monopol des Establishments aufzubrechen.54 Im Gegensatz zu den her50 Cemal, Hasan: Türkiye’nin Asker Sorunu. Ey Asker Siyasete Karıs¸ma! (Das Militärproblem der Türkei. Soldat, interverniere nicht in die Politik!), Istanbul 2010, S. 239 ff. 51 Mardin, S¸erif: Türkiye’de Toplum ve Siyaset (Politik und Gesellschaft in der Türkei), 7. Aufl., Istanbul 1999, S. 24 ff. 52 A. a. O., S. 73. 53 Can, Osman: Darbe Yargısının Sonu. Karargah Yargısından Halkın Yargısına (Das Ende der Putschjustiz. Von der Quartiersjustiz zur bürgerlichen Justiz), Istanbul 2010, S. 62 f. 54 Dieser Prozess hat sich insbesondere in der letzten Dekade zusehends beschleunigt.
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kömmlichen etatistisch-bürokratischen Kräften vertreten sie eine eher liberal-demokratische Haltung und sind somit wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Änderungen gegenüber offen.
4. Die eingeschränkte Rolle der Politik bei der Kontrolle und Führung des Staates In der Türkei sind die Parteien nicht die alleinige ausschlaggebende Kraft des staatspolitischen Entscheidungsprozesses, welche die grundsätzlich-strukturellen Rahmenbedingungen der Regierungspolitik festlegen. Darüber hinaus müssen noch zwei weitere mit staatspolitischer Macht autorisierte Instanzen, nämlich die Bürokratie und das Militär, in das Verfahren eingeschlossen werden, damit die politischen Entscheidungen letztendlich Legitimität erlangen. Denn nur mit einer demokratischen Legitimation, ohne die Einbeziehung und Billigung der bürokratisch-militärischen Staatselite, können die parteipolitischen Beschlüsse keine ausreichende normative Rechtfertigung innerhalb des politischen Systems erreichen. Mit anderen Worten, nur der Volkswille genügt für die Legitimierung der Herrschaftsausübung nicht aus, daneben müssen sich die Entscheidungen der politischen Organe (zumal) gegenüber der kemalistischen Staatsideologie rechtfertigen. Da die Militärs und Bürokraten sich als die eigentlichen Erben und Beschützer des Kemalismus verstehen und eine bedeutendes Gewicht im Staatsleben der Türkei besitzen, müssen die Politiker bei ihren Entschlüssen die Interessen dieser elitär-administrativen Kreise mitberücksichtigen. Infolge der obrigkeitsstaatlichen Herrschaftsform haben die Parteien im Gegensatz zu einem liberal-parlamentarischen Regierungssystem einen beschränkten Einfluss auf die wichtigen staatspolitischen Entschlüsse. Das zentralstaatlich-bürokratische Ordnungsgefüge überlässt den Parteien einen limitierten politikgestaltenden Raum für ihre politischen Entscheidungen. Die kemalistische Herrschaftselite steht im Allgemeinen der Politik und dem Parlament mit Skepsis gegenüber, weil sie im Laufe der Zeit gesehen hat, dass dieser Bereich mit der Liberalisierung und Demokratisierung des etatistisch-bürokratisch-(halb)militaristischen Systems sukzessive unter den direkten Einfluss der Peripherie gerät. Ein politisch-zivilgesellschaftliches Politikverständnis mit Parteien und zivil organisierten Zusammenschlüssen als Akteure bedeutet für sie ein Machtverlust. Die Verfassung der Zweiten Republik von 1961 widerspiegelt dieses Misstrauen des türkischen Establishments par excellence, das ja selbst bei der Erarbeitung der Konstitution eine gewichtige Rolle übernahm.55 Die Neigung der Herrschaftselite zu einem etatistisch-bürokratisch-quasiautoritären Staatsmodell kommt auch unmissverständlich bei ihrer politischen Orientierung in Form einer antidemokratischen und antiliberalen Haltung zum Ausdruck.56
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Parla, Taha: Türkiye’nin Siyasal Rejimi 1980–1989 (Das politische System der Türkei 1980–1989), 2. Aufl., Istanbul 1993, S. 22 ff. 56 Can, Osman: Darbe Yargısının Sonu. Karargah Yargısından Halkın Yargısına (Das Ende der Putschjustiz. Von der Quartiersjustiz zur bürgerlichen Justiz), Istanbul 2010, S. 61 ff.
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Seit den 1990er Jahren haben in der Türkei die Entbürokratisierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen an Intensität gewonnen. Der türkische „Verwaltungs-Leviathan“ bemüht sich zwar mit aller Härte entgegen dieser Entwicklung das fest gegründete administrativ-militärische Ordnungssystem aufrechtzuerhalten, aber es wird ihnen unter den neuen poltisch-gesellschaftlichen Umständen nicht mehr leicht fallen ihre Machtstellung weiterhin unangefochten zu behaupten. Insbesondere weckt das Verfassungsänderungspaket in Mai 2010 in diesem Zusammenhang Hoffnungen für eine demokratisch-liberale Umstrukturierung des bürokratisch verharschten staatspolitischen Systems der Türkei. Mit den neuen Regelungen hat man die starke Einflussnahme des etatistischen Establishments auf die Regierungspolitik mehr oder minder eingeschränkt; die Chance einer Konterkarierung des politischen Entscheidungsprozesses durch die Staatselite wird künftig geringer werden. Unter den Parteien besitzt die Republikanische Volkspartei in der Geschichte des Landes eine besondere Stellung. Sie wurde von Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1923 gegründet und hat bei der Umsetzung des eingeführten laizistisch-nationalistischen Werte- und Ordnungssystems eine markante Rolle gespielt. Die Partei wurde zum politischen Instrument und Sammelbecken der kemalistischen Bewegung. Von 1923 bis 1946 bzw. 1950 lenkte sie als alleinige parteipolitische Kraft die Geschicke der Republik und war bei der Rekrutierung der Politiker sowie der bürokratischen wie militärischen Führungselite die dominierende politische Organisation der Nation.57 Im Rahmen der Auswahl der künftigen Führungsriege war sie sehr selektiv. Nur die der säkularen Staats- und Parteiideologie gegenüber treuen Anwärter wurden in die berufl iche Lauf bahn zugelassen. Mit der Zeit hat sich zwischen der Republikanischen Volkspartei und der bürokratisch-militärischen Herrschaftsschicht eine Symbiose entwickelt.58 Sie vertreten dieselben Interessen, was die Wahrung der laizistisch-nationalistischen Staatsordnung betrifft. Folglich betrachtet sich die RVP in der Funktion einer Hüterin des etablierten Herrschaftssystems und kann deswegen in gewisser Hinsicht als eine bürokratische Weltanschauungspartei bezeichnet werden, die von Anfang an für die Idee eines eher halbautoritär-zentralistischen statt eines liberal-dezentralen Staatsmodels plädierte. Um das fest gefügte säkular-nationalistisch-etatistische System gegen die aufgeschlossene bürgerliche Peripherie aufrechtzuerhalten, ist in ihren Augen ein mächtiger Staat notwendig.59 Deshalb beobachtet sie die seit den 1990er Jahren eingeführten Liberalisierungs- und Entbürokratisierungsbemühungen der überkommenen Staatsordnung mit einem kritischen Standpunkt. Sowohl während der „modernen“ und „postmodernen“ Militärintervention im Jahre 1960 und 1997 als auch bei dem Konfl ikt um die Präsidentschaftswahl im April 200760 hat die RVP mit den 57
In diesem Zeitraum kann ohne weiteres von einem Einparteienstaat in der Türkei die Rede sein. Wie Karpart treffl ich festlegt, besteht in diesem Zusammenhang unter dem Schirm der Republikanischen Volkspartei eine Koalition zwischen dem Militär, der Intelligenzia, Universität und Presse (Karpart, Kemal: Elites and Religion: From Ottoman Empire to Turkish Republic, 2. Aufl., Istanbul 2010, S. 109). Hier sollte die Juristokratie noch mit einbezogen werden. Die Republikanische Volkspartei repräsentiert sozusagen den „zivil-politischen“ Flügel dieses Bündnisses. 59 Die türkischen liberalen Kräfte kritisieren dieses Staatsverständnis der türkischen Herrschaftselite und bezeichnen es als den „tiefen Staat“. 60 Cemal, Hasan: Türkiye’nin Asker Sorunu. Ey Asker Siyasete Karıs¸ma! (Das Militärproblem der Türkei. Soldat, interverniere nicht in die Politik!), Istanbul 2010, S. 37 f. 58
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Bürokraten und der Armeeführung gemeinsame Sache gemacht. Wie schon erwähnt, hat sie zusammen mit der Herrschaftselite auch gegen die am Anfang des Jahres 2010 eingeleiteten Verfassungsänderungen und das im Nachhinein dafür durchgeführte Referendum Front gemacht. Der Grund für ihre Haltung lag darin, dass sie sich gegen die Aufweichung des halbmilitaristisch-bürokratisch aufgebauten Herrschaftssystems widerstrebte. Als Gründer der verharschten laizistisch-etatistischen Herrschaftsordnung erträgt sie keine Kritik am etablierten System, geschweige denn Veränderungen61, wenn diese auch den Weg für liberal-demokratische Reformen ebnen würden. Trotz der programmatischen Änderungsbemühungen in den 1970er Jahren richtet sich ihre Politik weniger an „zivilgesellschaftlich-politischen“ Maßstäben als an etatistisch-ideologischen. In diesem Sinne ist sie immer noch eine „Staatspartei“ des Zentrums.62 Jene Haltung schlägt sich auch in ihr Programm nieder. Im Abschnitt über die Staatsleitung legt die Republikanische Volkspartei ihr Verständnis wie folgt fest: „Die Republikanische Volkspartei macht in Verbundenheit an die Verfassung und die Gesetze keine Konzessionen von den Prinzipien und der Revolution von Atatürk, der laizistischen Republik und den Modernisierungsgrundsätzen. Sie ist der eigentümlichen Nationalstaats-, Einheitsstaats- und laizistischen Staatsform und der eigenen nationalen Unabhängigkeit und dem unvergleichlichen Türkeimodel bedingungslos treu ergeben. Sie respektiert im Rahmen des Rechtsstaates die universell geltenden freiheitlichen Menschenrechte.“63 Auf einem Satz gebracht, die Partei macht keine Konzessionen von der offiziellen Staatsideologie, ist bedingungslos dem politischen Herrschaftsverband und seiner strukturellen Organisation treu ergeben; aber wenn es um die Menschenrechte geht, dann respektiert man sie „nur“. Mit anderen Worten, in Bezug auf den Staat und seiner Staatsideologie nimmt die Partei eine unmissverständlich klare Position ein; jedoch bei der politischen Haltung gegenüber den Menschenrechten bezieht sie nicht die gleiche entschlossene Stellung, sondern vertretet einen eher moderaten Standpunkt. Den Vorzug gibt sie der Staatsräson und der offi ziellen Ideologie. Dies bedeutet, dass für sie die Menschenrechte eben nicht „vorstaatlich und vorideologisch“ sind. Die Republikanische Volkspartei war zwar aufgrund der Kooperation mit der kemalistischen administrativen Herrschaftselite lange Zeit in der Lage, ihren Machteinfluss in der Staatsführung nicht nur auf dem parteipolitisch-parlamentarischen, sondern auch auf dem bürokratisch-etatistischen Weg zu bewahren, aber dafür hat sie sich mehr und mehr von den Volksmassen entfremdet. Sie versucht jetzt dem entgegenzuwirken. Ob sie dies mit ihrem neuen Parteivorsitzenden Kemal Kiliçtarog- lu, der seit 2010 an der Macht ist, verwirklichen kann, lässt sich aus heutiger Sicht schwer vorhersagen. Ihr Parteiprogramm hat sie z. B. noch nicht geändert. Darüber hinaus vertreten auch die neuen Mitglieder des Führungsstabs weiterhin ein (radikal)laizistisches-obrigkeitsstaatliches-(halb)militaristisches Politikverständnis. 61 Can, Osman: Darbe Yargısının Sonu. Karargah Yargısından Halkın Yargısına (Das Ende der Putschjustiz. Von der Quartiersjustiz zur bürgerlichen Justiz), Istanbul 2010, S. 116. 62 Türköne, Mümtaz’er: Chp Nasıl Kurtulur? (Wie kann man die Republikanische Volkspartei retten?, in: liberal düs¸ünce 9 (2004), 36, S. 67–70. 63 http://www.chp.org.tr/Files/chpprogram.pdf, S. 81 (Abruf: 17. 10. 2011).
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Gänzlich im Sinne dieses Standpunktes hatte sich der neue Parteikader gegen die Verfassungsnovellen im Jahre 2010 stark gemacht, obwohl sie im Großen und Ganzen eine Liberalisierung und Demokratisierung des verharschten etablierten Herrschaftssystems in Gang setzen können. Dieses elitäres-etatistisches Politikverständnis wird die RVP der Mehrheit der Bevölkerung noch mehr entfremden. Denn die Gesellschaft wird von ihrer Forderung nach einer Stärkung des bürgerlichen Mitspracherechts gegenüber dem Establishment im politischen Willensbildungsprozess und der staatspolitischen Entscheidungsfi ndung nicht abgehen, bis der bürokratisch-militärischen Entmündigung des Volkes ein Ende gesetzt wird. Die breiten Massen der Peripherie sind nicht mehr bereit, sich von bürokratisch-etatistischen Instanzen politisch bevormunden zu lassen, die nicht einmal durch Wahlen demokratisch legitimiert worden sind.
5. Zusammenfassende Betrachtung Die Gründer der laizistisch-nationalistischen Republik haben im Bereich der politischen Ethik einen radikalen Bruch mit dem soziopolitischen Weltbild der vorrepublikanischen osmanisch-türkischen Gesellschaft eingeleitet, aber sie haben die obrigkeitsstaatliche Politiktradition des Osmanischen Reiches übernommen. Infolgedessen etablierte sich ein etatistisches obrigkeitliches Staatsverständnis, was der kemalistischen Bewegung zugutekam, weil sie mithilfe des Staatsapparates ihre Reformen unter dem Volk effektiver durchsetzen konnte. Die Bürokraten, das Militär und die kemalistischen Intellektuellen haben sich stets für ein überhöht-ideelles Staatsmodell eingesetzt, das im soziopolitischen Leben der Bürger seine Stellung in Gestalt einer übergesellschaftlichen körperschaftlich-abstrakten Herrschaftsanstalt einnahm. Das Establishment, das sich als oberster Behüter des etatistisch-laizistischnationalistischen Werte- und Ordnungssystems betrachtet, nimmt den Staat als einen „kategorischen Imperativ“ oder um mit Hegel zu sprechen als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ wahr. Deswegen kommt eine Kritik an dem politischen Herrschaftsverband, seiner Form als nationalem säkular-republikanischem Einheitsstaat und der offiziellen Ideologie für sie einem „Sakrileg“ gleich. Durch die Ernennung der kemalistischen Prinzipien zur Staatideologie bekam die Herrschaftsanstalt einen weiteren „sublimierend-legitimierenden“ Charakter. Das etatistisch-bürokratische Establishment spielt oft diesen kemalistisch-weltbildlichen Status quo des politischen Herrschaftsverbandes an, um seine Machtstellung zu verteidigen. Als Hüter des Staates und seiner Ideologie beansprucht es Mitwirkungsansprüche beim politischen Entscheidungsprozess. Ferner widersetzt es sich gegen die Forderungen nach Liberalisierung und Demokratisierung des überkommenen bürokratisch-(halb)militaristisch-etatistischen Herrschaftssystems, die seit den 1990er Jahren sukzessive immer lauter werden. Dieser zivilgesellschaftlich-politischer Druck der Peripherie „von unten“ hat sich diesmal während des Referendums im September 2010 mit der Unterstützung der regierenden PGA trotz des Widerstandes des Zentrums in Gestalt der Verfassungsänderungen durchgesetzt. Die Verfassungsnovellen sind ein Meilenstein auf dem Weg der Entmachtung der etablierten Staatelite. Sie legen – zumindest ver-
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fassungsrechtlich – die Weichen für die Gründung einer zivilgesellschaftlich-liberalen Politik- und Rechtsordnung. Wenn der administrative (die Armee und die Bürokraten), politische (insbesondere die RVP) und zivile Flügel (die kemalistischen Intellektuellen und Medienkonzerne) der nationalistisch-bürokratischen Führungselite weiterhin an seiner selektivelitären Machtposition festhalten wird, dann kann das in der Gesellschaft zu weiteren Konfl ikten und Spannungen führen. Man denke an das Kurdenproblem, an die Forderungen der Alewiten und anderer Gruppen nach mehr Glaubensfreiheit. Diese und andere Probleme rühren hauptsächlich von demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Mängeln der überkommenen Staats- bzw. Verfassungsordnung her; um sie zu beheben sollte eine neue Konstitution, zumindest eine gründliche Verfassungsnovelle, wie das oben dargestellte Änderungspaket von 2010, ausgearbeitet werden. Dazu muss sich aber auch die RVP als politische Repräsentantin des Zentrums bereit erklären und sich von ihrem überkommenen bürokratisch(halb)militaristisch-etatistischen Politik- sowie Staatsverständnis distanzieren und sich ein Parteiprogramm auf die Fahne schreiben, das eine zivilgesellschaftliche-politische Ausrichtung beinhaltet. Bisher hatte eine Regierung, die im Parlament die Mehrheit besaß, jedoch nicht von der bürokratisch-militärischen-etatistischen Herrschaftselite akzeptiert wurde, kaum eine Chance gehabt, eine politikgestaltende und machtausübende Rolle in ihrer Amtsführung zu übernehmen. Jedoch haben die elitären Vertreter des Zentrums, insbesondere mit dem Ergenokon-Prozess und der Niederlage im Referendum über das Verfassungsänderungspaket im September 2010, einen gewissen Machtverlust erleiden müssen. Auch die Gesellschaft nimmt den Status quo nicht mehr hin, wie es einst der Fall war. Seit der Machtübernahme der PGA bekommt nun die Peripherie die Möglichkeit, mehr oder minder in das Establishment aufzusteigen. Die Medienlandschaft hat sich z. B. in dieser Hinsicht geändert. Das Monopol der den kemalistisch-etatistisch-militärischen Kräften nahestehenden Medienkonzerne, die im Namen der Herrschaftsschicht als Meinungsmacher fungierten, ist in gewisser Hinsicht gebrochen. Jener Zustand hat sich auch während des Referendums über die Verfassungsänderung bemerkbar gemacht. Trotz einer großen Kampagne der RVP und einer umfangreichen Unterstützung der erwähnten Medienkonzerne des Zentrums konnte die Novelle mit 58% der Stimmen der Bevölkerung in Kraft treten.
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika
Forswearing Allegiance* by
Professor Dr. Gerhard Casper, Stanford University My subject is the requirement that new citizens abjure prior allegiances. It was introduced into federal naturalization law in 1795 and it is still the law of the land.1 A seemingly small historical topic, it provides cause to reflect about changes in the concept of citizenship that have taken place over time, especially in recent decades. The 1795 “Act to establish a uniform rule of Naturalization”2 provided that an alien, in order to become a citizen, had to have been a resident of the United States for at least five years and had to declare, in court, three years before his admission, on oath or affi rmation, that “it was bona fide his intention to become a citizen of the United States3, and to renounce forever all allegiance and fidelity to any foreign prince, potentate, state or sovereignty whatever, and particularly, by name, the prince, potentate, state or sovereignty whereof such alien may, at the time, be a citizen or subject.” The actual forswearance of allegiance took place at the time of naturalization and was to be recorded by the clerk of the court that admitted the applicant to citizenship. At that occasion, it had to appear to the satisfaction of the court that the candidate had behaved “as a man of good moral character, attached to the principles of the constitution of the United States, and well disposed to the good order and happiness of the same.” On oath or affi rmation, the applicant had to declare his willingness to support the constitution of the United States and that he did “absolutely and entirely renounce and abjure all allegiance and fidelity to every foreign prince, potentate, state or sovereignty whatever, and particularly by name, the prince, potentate, state or sovereignty, whereof he was before a citizen or subject.” (my emphases) These are strong words. The dictionary defi nes “to renounce” in terms of “giving up in a complete and formal manner,” to abandon, cast off, repudiate.4 “Absolutely * Maurice and Muriel Fulton Lecture in Legal History, The University of Chicago Law School, May 1, 2008. 1 8 U. S. C. 1448. 2 2 Stat. 414. 3 The requirement to fi le a declaration of intent was eliminated as recently as 1952. 4 Oxford English Dictionary: “renounce.”
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and entirely to renounce and abjure” has almost the connotations of the expression “to renounce the world” – and that, in a way, was what was involved: the juror was asked to renounce the old monarchical world in favor of a new order. The 1795 legislation became a substitute for the 1790 naturalization act, the first of its kind at the federal level, that had required only two years of residence, “good character” (not “good moral” character) and a simple oath to support the constitution of the United States.5 James Madison, the sponsor of the revisions that were introduced in December 1794,6 thought that the 1790 law had not duly guarded against “intrusions and evasions” 7 and that “the progress of things in Europe” was exposing the United States to “very serious inconveniences.”8 While we cannot be sure what precisely Madison had in mind when he made these observations, the likeliest explanation is his fear that laws favoring citizens could be subverted by easy naturalization of foreign, especially British, subjects. Earlier in the year, Madison had been engaged in a major, if unsuccessful, effort to promote restrictions on British shipping and trade through sweeping duties on tonnage and imports9. Within three years, the new naturalization act also became the subject of revisions because the progress of “things in Europe” had deteriorated further. In spite of the Jay Treaty of 1794 relations with Great Britain remained tense. The French Directory, relying on a (not even 30-year-old) general named Napoleon Bonaparte, had won the War of the First Coalition in 1797, had taken hundreds of American trading vessels in the Caribbean and the Atlantic and, adding insult to injury, had refused to negotiate with President Adams’ peace envoys.10 In light of the “distracted state of the world,” Samuel Sewall, the Federalist representative from Massachusetts, in May of 1798, called for remedying what he characterized as the “imprudent liberality” of the 1795 legislation.11 A year earlier, Federalists had already made an attempt to limit naturalizations by levying a $20 stamp tax on certificates of naturalization.12 At that occasion, Harrison Otis, the Federalist lawyer from Boston and later overseer of Harvard University, gave the notorious speech in which he said that he did not wish “to invite hordes of wild Irishmen, nor the turbulent and disorderly of all parts of the world, to come here with a view to disturb our tranquility, after having succeeded in the overthrow of their own Governments.” He also expressed his disapproval of the “revolution of manners,” the “subversion of all sound principle and social order” and a “system of profl igacy” sweeping Europe.13 Otis took a skeptical view of what the naturalization oath could accomplish: “A Frenchman is a Frenchman everywhere. . . . [T]hough he may take his naturalization oath in this country, it does not alter his character.”14 5
1 Stat. 103. See Madison, 153. (Editorial Note). 7 Madison, 438. 8 Id., 440. 9 Elkins and McKitrick, 376. 10 McCullough, 495. 11 Annals 8: 1778. 12 The duty eventually adopted was $5; 1 Stat. 527. 13 Annals 7: 429–30. 14 Annals 8: 2064–65. 6
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In 1798, as the country was supposedly swarming with spies and seditious persons, with both Jacobins and French aristocrats, with vagabonds and those wild Irishmen who were reliably voting for the Jeffersonian Republicans,15 Congress extended the residency requirement for naturalization to 14 years and demanded a formal application 5 years before admission to citizenship.16 The naturalization legislation of 1798 was part of the package that has become known as the Alien and Sedition Acts.17 The act supplementing and amending the 1795 Naturalization Act also introduced a system of registering aliens arriving and residing in the United States that, with varying degrees of intensity and reach, has been with us ever since. 1798 introduced, as it were, the concept of a “documented alien.” However, in 1802, following the “revolution of 1800”, the residence requirements were restored to the length originally set in 1795.18 The five-year residency is still the law. The way the political establishment perceived immigration issues in the 1790s must have been greatly influenced by the fact that the seat of the national government, Philadelphia, was also the leading port of the United States.19 40% of all transatlantic passages ended in Philadelphia,20 with arrivals concentrated in the May-October sailing season.21 The city of Philadelphia, in the decade from 1790–99, saw an influx of about 23,000 immigrants. Almost half of these came from Ireland, about 15% each from Great Britain and German-speaking countries, about 22% from the Caribbean, and 2% from France proper.22 In part as a result of the slave rebellion in the French colony of Santo Domingo, the French Consul at Philadelphia, in 1797, estimated that there were over 20,000 French refugees in the United States23 – a good number of them in Philadelphia. As a contributor to overall population growth, European emigration to the United States, however, was not a major factor in the 1790s. While the American population, at the time, expanded considerably, this was primarily due to an extraordinarily high fertility rate and, by comparison to Europe, relatively benign mortality conditions.24 At the time of the Revolution, the population of the United States was approximately 2.5 million (not counting Indians), of whom about half a million came from Africa. By 1790, it had increased to almost 4 million (about three quarters of a million blacks), by 1800, to 5.3 million (with about 1 million blacks).25 15
Cf. Carter, 180. 1 Stat. 566. 17 See Smith, 22–34; also Stone, 25–78. 18 2 Stat. 153. 19 See Zolberg, 63. At the beginning of the decade Philadelphia’s population was about 42,000. Aristide Zolberg’s excellent book on immigration policy from the beginnings to the present has served as a general background reference for me. 20 Grabbe, 192. 21 Zolberg, 63. 22 Grabbe, 192, and correction in Errata, 589. 23 Palmer, 514. 24 Haines, 143–44; also see Benjamin Franklin’s classic paper on the causes and consequences of population growth. 25 Haines, Table 4.1. 16
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In the decade between 1790 and 1799, European emigration to the United States “only” amounted to about 100,000 arrivals, of whom approximately 75% came from the British Isles (and 80% of these, i.e., 60,000, were Irish, most of them Protestants). Germans and Dutch were 5% of the total number of immigrants, the French from France were barely 2%, though the 13% of immigrants, from the Caribbean, many of them refugees, did include a substantial number of French citizens.26 How homogeneous was the white population of the United States in the 1790s? A decisive majority of Americans were of British origin, especially in the Northeast. New York and New Jersey had sizable Dutch populations. Pennsylvania was one third German,27 but, of course, also had significant English, Scottish, and Irish stock. In Georgia, 18% were Scots-Irish.28 The number of Catholics, while in the tens of thousands, was nevertheless tiny as a percentage of the total population. In spite of his notorious misgivings about Catholics, John Jay, in The Federalist No. 2, described Americans optimistically as homogenous, as “one united people, a people descended from the same ancestors, speaking the same language, professing the same religion, attached to the same principles of government.”29 Others, like Thomas Jefferson or, for that matter, Jefferson’s nemesis Alexander Hamilton, were considerably less confident. The Jefferson of the Notes on the State of Virginia took a dim view of the prospect of integrating immigrants from continental Europe, though what he had to say, while strident, was said in “doubting the expediency of inviting them by extraordinary encouragements”: “If they come of themselves they are entitled to all the rights of citizenship . . . .”30 Every species of government has its specific principles. Ours perhaps are more peculiar than those of any other in the universe. It is a composition of the freest principles of the English constitution, with others derived from natural right and natural reason. To these nothing can be more opposed than the maxims of absolute monarchies. Yet, from such, we are to expect the greatest number of emigrants. They will bring with them the principles of the government they leave, imbibed in their early youth; or, if able to throw them off, it will be in exchange for an unbounded licentiousness, passing, as is usual, from one extreme to another. It would be a miracle were they to stop precisely at the point of temperate liberty. These principles, with their language, they will transmit to their children. In proportion to their numbers, they will share with us the legislation. They will infuse into it their spirit, warp and bias its directions, and render it a heterogeneous, incoherent, distracted mass.31
Alexander Hamilton, attacking Jefferson in 1802 for proposing liberalization of the 1798 naturalization act, not only referred to what Jefferson had said in the Notes on Virginia but expressed similar sentiments: the influx of foreigners must “tend to produce a heterogeneous compound; to change and corrupt the national spirit; to complicate and confound public opinion; to introduce foreign propensities.”32 26 27 28 29 30 31 32
Grabbe, 194; Gemery estimates 132,000 immigrants; Gemery, 126. On the Germans in southeastern Pennsylvania, see Elkins and McKitrick, 695. Hodges, 36. Jay, 9. Jefferson, 212. Jefferson, 211. These were also the views of Benjamin Franklin, see Zolberg, 54. Hamilton, 496. On Hamilton’s critique of Jefferson, see Frank George Franklin, 97–105.
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Thomas Paine, by contrast, while not denying heterogeneity, presented an assessment of the situation that reflected his optimism about the workings of American government. He saw America as made up “of people from different nations, accustomed to different forms and habits of government, speaking different languages,” but, “by the simple operation of constructing government on the principles of society and the Rights of Man, every difficulty retires and all the parts are brought into cordial unison.”33 The dynamics of American democracy would, as it were, take care of the disruptive potential of heterogeneity. The question of how to deal with the prospect of heterogeneity was not easily answered along partisan lines, though partisan politics clearly played a role not only in 1798 but also in 1802, as can be seen in Jefferson’s support for a liberalization of naturalization rules that benefited his party.34 Aristide Zolberg summarizes: “American leaders varied considerably in their assessment of whether the political community was still safely homogeneous or verged on unsafe diversity, and this indeterminacy meant that the matter was open to debate and could spawn divergent policies.”35 Underlying the debate was the question of what it means to belong to a people, how allegiance is constituted. Before independence, at the most basic level, the matter was fairly straightforward and nonideological. As summarized by Lord Coke in Calvin’s Case,36 every subject, as soon as he was born and as a matter of natural law (considered to be part of the laws of England) owed perpetual allegiance and obedience to his sovereign as the sovereign owed a reciprocal duty to protect.37 This duty to protect “was meant to fulfi ll the most immediate needs of ordinary people: minimal security against conquest, civil war, anarchy, and private violence.”38 The duty of perpetual allegiance followed from a fact, the accident of birth within the realm, not an act, such as a fealty oath. Subjecthood was mostly an involuntary personal characteristic. William Blackstone’s account, published only 11 years before the Declaration of Independence, follows Coke’s dicta but with an important twist. Natural allegiance is such as is due from all men born within the king’s dominions immediately upon their birth. For, immediately upon their birth, they are under the king’s protection; . . . Natural allegiance is therefore a debt of gratitude; which cannot be forfeited, cancelled or altered by any change of time, place or circumstance, nor by anything but the united concurrence of the legislature. . . . For it is a principle of universal law that the natural born subject of one prince cannot by any act of his own, no, not by swearing allegiance to another, put off or discharge his natural allegiance to the former: for this natural allegiance was intrinsic, and primitive, and antecedent to the other; and cannot be divested without the concurrent act of that prince to whom it was fi rst due.39 (my emphasis)
The twist is, of course, the reference to the power of the legislature to alter allegiance – to that, rather limited, extent Lockean notions of consent had influenced 33 34 35 36 37 38 39
Paine, 22. Jefferson, 508. Zolberg, 82. Calvin’s Case 7 Coke Report 1a, 77 ER 377. For a detailed discussion, see Kettner, 16–28; also Schuck and Smith, 12–22. Shklar, 391. Blackstone, 357–58.
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Blackstone’s concept of allegiance.40 It did, however, not occur to Blackstone that allegiance was a matter of an individual’s consent. The passage that I just quoted is preceded by another one in which Blackstone discussed express engagements in feudal law and on the part of office holders. He then continued: But, besides these express engagements the law also holds that there is an implied, original, and virtual allegiance, owing from every subject to his sovereign, antecedently to any express promise; and although the subject never swore any faith or allegiance in form. For as the king, by the very descent of the crown, is fully invested with all the rights and bound to all the duties of sovereignty, before his coronation; so the subject is bound to the prince by an intrinsic allegiance, before the superinduction of those outward bounds of oath, homage, and fealty; which were only instituted to remind the subject of this his previous duty, and for the better securing his performance. . . . The sanction of an oath, it is true, in case of violation of duty, makes the guilt still more accumulated, by superadding perjury to treason; but it does not increase the civil obligation to loyalty; it only strengthens the social tie by uniting it with that of religion.41
Oaths of supremacy, allegiance, and abjuration in British constitutional history42 are pertinent in the American context because the British oaths provided Americans with models once they came to consider them necessary or desirable. A typical example is the oath of supremacy that dates back to the first year of the reign of Elizabeth I43 and the taking of which was initially required of ecclesiastical persons as well as office holders and then, by an act of 1562,44 also of persons with a university education, lawyers, and the like. The point of the oath of supremacy in the era of the Reformation and ultramontane challenges was the acknowledgment of the Queen’s supremacy in all matters temporal and ecclesiastical and therefore the denial of papal and other authority in her realm. Its language stressed lack of jurisdiction on the part of any “foreign prince, person, prelate, state or potentate.” The juror “renounced and forsook” “all foreign jurisdictions, powers, superiorities, and authorities” and pledged “faith and true allegiance” to the queen, her heirs, and lawful successors. In 1606, the Oath of Allegiance demanded recognition of James I as “lawful and rightful King” and acknowledgment that the pope had no power to depose him. The underlying politics were expressed in the further requirement to abjure “the damnable doctrine” that excommunicated princes may be deposed or murdered.45 A 1703 statute required an Oath of Abjuration to abjure any allegiance to the pretended Prince of Wales ( James Stuart).46 At the outset of the American revolution, to quote the preeminent historian of American citizenship, James Kettner, “Americans repudiated the authority of Great Britain not as individuals, but as organized societies.”47 Following the measures of the 40 41 42 43 44 45 46 47
See Kettner, 55. Blackstone, 356–57. See Maitland, 364. 1 Eliz. c.1 (1558). 5 Eliz. c.1 (1562). 3&4 Jac. I c.4. 2 Ann c.6 (1703). Kettner, 175.
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various colonies, independence was declared collectively by the “representatives of the United States in general Congress assembled.” After the many “whereases” of the Declaration of Independence (among them one that accused George III of having obstructed the laws of naturalization of foreigners and refusing to pass others to encourage migration to the colonies), its operative terms “solemnly published and declared” “That these United Colonies are, and of Right ought to be Free and Independent States” and “that they are absolved from all Allegiance to the British Crown.”48 Immediately the question arose how to deal with individuals who did not want to be part of the new allegiances. It had been one of the features of British oath legislation that individuals who were suspected of being dissidents could be “tendered” the oath, that is they could be asked to take the oath for the purpose of clearing themselves. The same mechanism was employed in former colonies with respect to loyalists. For instance, in 1777, South Carolina passed an “Act Establishing an Oath of Abjuration and Allegiance” for office holders and persons suspected “of holding principles injurious to the rights of this State.” The oath asked the juror to “renounce, refuse and abjure” any allegiance or obedience” to George III and to bear “Faith and true Allegiance” to South Carolina. Those who refused the oath were to be sent off to Europe or the West Indies at the public expense unless they were able to pay their own way.49 As far as I know, this is the first American statute providing for deportation at public expense. Pennsylvania, dominated by Scots-Irish Presbyterians and their Calvinist allies, was particularly extreme in initially conditioning a whole range of pursuits – such as voting, the exercise of various occupations, use of the courts, and so on – on the taking of a loyalty oath. All white male inhabitants had to renounce their former oaths to George III and pledge allegiance to the new state of Pennsylvania.50 One German, as if he had read Blackstone, refused on the ground that, given his oath of allegiance to George III at the time of his naturalization, he might be deemed a perjurer, if he renounced it; “moreover,” he added (not unreasonably, in view of the occupation of Philadelphia by the British), “it is very uncertain upon which side the victory will fall therefore I can’t do it for the present time.”51 In New York, we have the case of Peter Van Schaack who was accused of having maintained an “equivocal neutrality in the present struggles” and who refused to take the oath of allegiance tendered him. When he was ordered to depart for Boston,52 Van Schaack appealed this decision to the New York Provincial Convention in a fairly lofty letter in which he individualized the issue of allegiance by arguing (after in-depth study of Locke, Vattel, Montesquieu, Grotius, Beccaria, and Pufendorf ) 53 that the Declaration of Independence had returned Americans to a state of nature and that every individual, before he surrenders any part of his natural liberty, “has a right 48 Declaration of Independence. Allegiance was widely perceived as going to the crown, not the realm; LaCroix, 17. 49 Cooper, 136. 50 See Ireland. 51 Quoted by Williamson, 120. 52 Van Schaack, 70–71. 53 Id., 57–58.
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to know what security he will have for the enjoyment of the residue and ‘men being by nature free, equal, and independent’, the subjection of any one to the political power of a State, can arise only from ‘his own consent’.54 Van Schaack claimed the right to an individual decision only as to the formation of society, for “once the society is formed, the majority of its members undoubtedly conclude the rest.”55 However, the idea of volitional allegiance could not easily be contained. I quote Kettner: The founders of the new republican states were aware of the inconsistency between advocating a doctrine of consent and requiring individuals to subject themselves to regimes that they condemned. Yet if allegiance was volitional as well as contractual, then difficult questions ensued with vaguely threatening implications for the stability and continuity of political obligation. Not until well after the Revolution would Americans follow those implications to the logical conclusion that individual men might legitimately choose to change their allegiance even after they had elected membership in and enjoyed the protection of an established society.56
Notions of volitional allegiance aside, the most significant aspect of the transformation of subjecthood to citizenship in the new United States was the fact that the latter was ordinarily acquired the same way the former had been, i.e., not by choice, but by birth within the territory.57 With the exception of the immediate revolutionary period and its need to sort out the differences between patriots and loyalists through a right to elect one’s allegiance,58 most citizens came by their citizenship and their allegiance due to the mere fact of having been born on American territory: if they were white, they were “natural-born” or “birthright” citizens; if the children of slaves, they were slaves; if Indians, they were quasi foreigners.59 The terms “natural-born” and “birthright” generally referred to citizenship on account of territorial birth (the so-called ius soli) but the denotations of these terms, and defi nitely their connotations, also could cover citizenship by descent or parentage (ius sanguinis). A statute from the reign of Queen Anne provided that the children of natural-born subjects born “out of the Ligeance of Her Majesty” shall be deemed to be natural-born subjects to all intents and purposes whatsoever.60 The 1790 Naturalization Act introduced an equivalent rule for the United States.61 In general, citizenship continued to be mostly an involuntary personal characteristic. Lockean views about consent-based allegiance acquired operational significance primarily in the context of naturalization, otherwise Humean empiricism prevailed.62 The Constitution maintained silence on birthright citizenship until, after the aboli54 Id., 73. Van Schaack was especially concerned about insufficient separation of powers in the arrangement of governmental institutions; id., 72. After having removed himself to fi rst Boston and then England, Van Schaack, a lawyer, in 1785, returned to New York and, eventually, became an avid Federalist. 55 Ibid. 56 Kettner, 189. 57 Cf. Schuck and Smith, 50. 58 Kettner, 193. 59 See Kettner, 287. 60 7 Ann c.5 (1708). 61 1 Stat. 103. 62 Hume, 462.
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tion of slavery by the Thirteenth Amendment and following the 1866 Civil Rights Act,63 the Fourteenth Amendment, with very limited exceptions, codified the ius soli.64 The very term naturalization, as used in British law, suggests that it places an alien in the same state as a natural-born subject: “an imitation of nature, presumably, in which consent replaces the accident of birth.”65 In Great Britain, genuine naturalization (as distinguished from the lesser, royally conferred, status of “denizen” that granted fewer rights) could ordinarily be accomplished only by an act of Parliament and even then ineligibilities, such as for Parliament, remained.66 In the colonies, various approaches, often disputed by London, were used in the effort to turn foreigners into members of the community.67 While the Declaration of Independence made reference to the prohibition of local naturalization acts (by an Order-in-Council in 1773), Parliament, in 1740, had actually opened an attractive and relatively liberal avenue to naturalization at least for Protestants and Jews: after seven years of residence in America and an oath of allegiance in open court, such foreigners were, Blackstone said, “as if they had been born in this kingdom.”68 It is hardly surprising that the newly independent states followed their own and British precedents as they contemplated the need to provide for naturalization. The solutions varied but, restricted to free white persons, had in common a residence and good character requirement, and the taking of an oath of allegiance.69 Pennsylvania was generally perceived as the most liberal state when it came to receiving foreigners as citizens.70 Sect. 42 of the Pennsylvania Frame of Government of 1776 provided that any foreigner of good character who had fi rst taken an oath or affi rmation of allegiance may own real estate and after one year’s residence “shall be deemed a free denizen thereof, and entitled to all the rights of a natural born subject of this state,” however, he had to be a resident for two years in order to be elected a representative.71 The New York Constitution of 1776 left it to the discretion of the legislature to naturalize all such persons, and in such manner, as they thought proper. However, there was one constitutional proviso: All such . . . persons . . . as being born in parts beyond sea, and out of the United States of America, shall come to settle in and become subjects of this State, shall take an oath of alle-
63
14 Stat. 27 (1866). Spiro 2008, 12. In 1898, the Supreme Court in the case of United States v. Wong Kim Ark, 169 U. S. 649, applied ius soli to the United States-born son of Chinese citizens who had returned to China. 65 Shklar, 391. 66 The number of parliamentary naturalizations was small: 24 a year on the average between 1660 and 1759; Fahrmeir, 12. 67 See Kettner, 65 ff. 68 Blackstone, 363. Between 1740 and 1773, almost 7,000 people were naturalized under the 1740 legislation, 6400 in Pennsylvania alone; Fahrmeir, 14. 69 Kettner, 218. 70 See James Winthrop’s famous anti-Pennsylvania comment from 1787 in Bailyn, 628. 71 Thorpe, 3091. 64
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giance to this state and abjure and renounce all allegiance and subjection to all and every foreign king, prince, potentate and State in all matters, ecclesiastical as well as civil.72
This requirement probably originated with John Jay, one of the framers of the New York Constitution. In a letter to Robert Livingston and Gouverneur Morris, dated April 29, 1777, Jay complained that the constitutional convention had failed to adopt an identical abjuration oath for office holders.73 The reference of the oath to ecclesiastical matters suggests an anti-Catholic end of the kind that was pursued by the supremacy oath under Elizabeth I. Also, that supremacy oath may have provided the model for the foreign authorities that New York lists for purposes of abjuration – foreign kings, princes, potentates, and States.74 As the newly independent states created new state citizens, the potential of confl ict due to different standards led the Constitution to provide for a congressional power “To establish an uniform Rule of Naturalization . . . .” 75 Congress made use of this power within its fi rst year. The main provisions of the 1790 Naturalization Act were straightforward, if starkly discriminatory: an alien who was a free white person and had resided in the United States for two years (for one year in the state where he applied) could petition any common law court of record to become a citizen, making proof that he was of good character and taking an oath to support the constitution of the United States.76 (my emphasis) The 1790 Naturalization Act required “taking the oath or affirmation prescribed by law.” 77 While it was not explained what the act meant by “prescribed by law,” the most plausible interpretation is to see this as a reference to the first piece of legislation ever enacted by Congress, the Oaths of Office Act, which very simply provided, in execution of Art. VI of the Constitution: “I, A. B., do solemnly swear or affi rm (as the case may be) that I will support the Constitution of the United States.” 78 The nature of the oath that new citizens had to take was noncontroversial in the First Congress. The question that was debated was whether “the bare oath” provided enough security for fidelity and allegiance as concerns the participation of new citizens in governance, but also in relation to preferences for American commerce. The significance of citizenship in the early years was not too clear.79 Voting rights were controlled by the states and often a function of owning property or of taxpayer status rather than citizenship. The right to run for state office was, of course, a matter 72
Art. 42; Thorpe, 2637–8. The Papers of John Jay. Jay Papers ID: 2819. 74 The term “potentate” makes its appearance in English by the end of the 15th century, derived from post-classical Latin and French. Traceable to the same time period, the Italian “potentato” signifies a powerful government or state, a ruler, or powerful person in general. Oxford English Dictionary: “potentate.” 75 Constitution of the United States, Art. 1, Sect. 8, cl. 4. 76 1 Stat. 104. For a while, several states continued to naturalize aliens under their own laws; Kettner, 249–50. 77 1 Stat. 104. 78 1 Stat. 23. 79 Nor, for that matter was it on the European continent where a hodge-podge of regulations determined subjecthood or citizenship status. In the 19th century, many American immigrants from German states technically would not have had to forswear allegiance, as they had lost their citizenship upon emigration. See Fahrmeir, 64. 73
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of state constitutional law, while the federal constitution imposed not insubstantial waiting periods before new citizens could get elected to the House or Senate (seven and nine years, respectively) and barred naturalized citizens from becoming president. There were, however, various privileges granted citizens by protectionist federal legislation that played a significant role in the 1790 and 1795 debates concerning naturalization. A 1789 act that imposed duties on imports granted a ten percent tariff reduction for goods imported in American built and owned vessels.80 Under the act concerning duties on tonnage rates were five to eight times higher for foreign vessels than for American built and owned ships.81 In the House of Representatives, Thomas Hartley, of Pennsylvania, addressed participation in the governance of the country. “[A]n actual residence of such a length of time as would give a man an opportunity of esteeming the Government from knowing its intrinsic value” was necessary beyond “the bare oath” to assure that a man would become a good citizen.82 What lapse of time could achieve this goal of acculturation by osmosis continued to be a subject of debate over many decades. But the method remained primarily osmosis. Since a knowledge of English was not required until 1906, many new citizens continued to live in the monolingual environments that had been Jefferson’s nightmare.83 James Madison had no doubt that a period of residence should be made a prerequisite of citizenship, but the reasons he gave were primarily of a commercial nature and were expressed in opposition to a proposal that would have eliminated any residency term for citizenship. “[T]hey shall take nothing more than an oath of fidelity, and declare their intention to reside in the United States. Under such terms . . . aliens might acquire the right of citizenship, and return to the country from which they came, and evade the laws intended to encourage the commerce and industry of the real citizens and inhabitants of America, enjoying at the same time all the advantages of citizens and aliens.”84 The abjuration oath of 1795 was, in part, meant to deal with this issue of continuing concern to Madison. No committee records are preserved in the National Archives, however, indirect evidence suggests that the New York style abjuration oath was already in the bill when it was submitted in December by a committee consisting of Madison, Samuel Dexter, of Massachusetts, and Thomas Carnes, of Georgia.85 As for the legislative motives for the 1795 abjuration oath, one can distinguish among ideological, commercial, and legal ones. The ideological motive for the oath may be seen in the insistence on more complete Americanization that it represented. Ideology was equally involved in the question what length “apprenticeship” might qualify foreigners “to assume the character and discharge the duties of American
80 81 82 83 84 85
1 Stat. 24; on constitutional issues, see Currie, 57. 1 Stat. 27; see Currie, 58. Annals 1: 1147–48. On the Pennsylvania Germans, see Elkins and McKitrick, 695. Annals 1: 1150. See also Annals 1: 1147 (White); Annals 1: 1151–52 (Hartley). Annals 4: 968. On the oath in the original bill, see Annals 4: 1029 (Murray).
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citizens.”86 There was a consensus that a longer time period was necessary than that required by the 1790 act.87 Indeed, Dexter, wanted to go beyond the mere lapse of time as an indicator of acculturation and moved that no alien should be admitted to citizenship but on the oath of two credible witnesses that, in their opinion, he was of good moral character and attached to the welfare of this country.88 The motion was seconded by Theodore Sedgwick, also of Massachusetts, one of the more rhetorical members of the House who argued that the European war (“the most cruel and dreadful which had been known for centuries”) had unleashed fierce and unrelenting passions that would bring the confl icts of Europe to America: Could (he asked) any reasonable man believe that men who, actuated by such passions, had fought on grounds so opposite, almost equally distant form the happy mean we had chosen, would here mingle in social affections with each other, or with us? That their passions and prejudices would subside as soon as they should set foot in America? Or, that possessing those passions and prejudices, they were qualified to make or to be made the governors of Americans? 89
Further proposals that the witnesses additionally swear to the applicant’s attachment to a “republican form of government,” attachment to “the constitution of the United States,” or attachment to “the principles of the government of the United States,” as well as the original motion, were, however, defeated in favor of what was eventually enacted: that it appear to the satisfaction of the court admitting the applicant for citizenship that “he has behaved as a man of good moral character, attached to the principles of the constitution of the United States and well disposed to the good order and happiness of the same.”90 Ideologically, by 1795, many members of Congress were committed to a concept of American citizenship that stressed the unique nature of American government and therefore assumed a need for immigrants to make a choice, to start anew politically and sever all previous allegiances, even identities, in addition to getting acculturated. If the United States stood for a novus ordo seclorum, a new order for the ages, then new Americans in particular needed to break with the old order.91 The Virginian William Giles, generally a man of passionate views,92 successfully proposed an amendment to the 1795 naturalization bill that aliens who bore titles of nobility should renounce such titles “before they can enjoy any right of citizenship.”93 Madison supported Giles since nothing, he thought, could be more reasonable than forcing “titled characters to renounce everything contrary to the spirit of the Constitution,” while Sedgwick agued, in opposition, that the oath of citizenship was itself the radical break: “By taking an oath of citizenship, the individual not only renounces, but solemnly abjures nobility. The title is destroyed when the allegiance is broken 86 87 88 89 90 91 92 93
Annals 4: 1009 (Sedgwick). See Frank George Franklin, 49. Annals 4: 1004. Annals 4: 1008. 2 Stat. 414. Cf. Zolberg, 79. Cf. Elkins and McKitrick, 295. Annals 4: 1030.
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by his oath taken to this Government. This abjuration has destroyed all connexion with the old Government. Why then provide for it for a second time?”94 After some lengthy diversion concerning the analogies between the European world of lords and vassals and the relationship of master and slave in the South, Giles’ motion carried 59 to 32.95 The requirement to renounce titles of nobility is still part of the law of naturalization.96 As prominent as these ideological concerns were, abjuration also and importantly had commercial motives. Dexter who, as mentioned, had been a member of the select committee of three that had been charged with drafting the changes to the 1790 Naturalization Act, referred to the ease with which foreign agents could take the old oath in order to save tonnage charges.97 Dexter proposed a remedy for this “evil” and “a proviso that those who renounced all foreign allegiance forever, and declared on oath their intention of becoming citizens should pay no more tonnage dues than they would if fully naturalized.”98 While in the end this particular motion was withdrawn at Madison’s insistence, it makes clear that the abjuration oath was viewed as a more formidable, more demanding barrier to evasion than the mere oath to support the constitution. Madison, who had been on an anti-British rampage all year and who had worked himself into a frenzy concerning alleged British infi ltration of American commerce, stressed the protectionist aspect of barriers to naturalization. [T]here was no class of emigrants from whom so much was to be apprehended as those who should obtain property in shipping. . . . If he were disposed to make any distinction of one class of emigrants more than another as to the length of time before they should be admitted citizens, it would be as to the mercantile people – as these people may, by possessing themselves of American shipping and seamen, be enabled clandestinely to favor such particular nations in the way of trade as they may think proper.99
These remarks were a more abstract version of specific, almost paranoid allegations he had made a year earlier. The body of merchants who carry on the American commerce is well known to be composed of so great a proportion of individuals who are either British subjects, or trading on British capital, or enjoying the profits of British consignments, that the mercantile opinion here, might not be an American opinion; nay, it might be the opinion of the very country of which, in the present instance at least, we ought not to take counsel.100
Finally, in addition to ideological and commercial considerations in favor of the abjuration requirement, there were legal ones. A motion by James Hillhouse, a law94 Annals 4: 1035. To which Giles responded: “[B]y admitting a thing to have been once done, it was admitted that it might be done again. If it had been right to do it once, there could be no harm in repeating it.” Ibid. 95 See Frank George Franklin, 54. 96 See also the Constitution, Art. I, Sec. 9 and 10. 97 Frank George Franklin, 50. 98 Ibid. 99 Annals 4: 1033. 100 Annals 4: 390. See Elkins and McKitrick, 387. For relevant statistics on tonnage and shipping, see id., 382. “Fraudulent usurpation of our fl ag” is mentioned as something to guard against in Jefferson’s First Annual Message; Jefferson, 508.
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yer and the Treasurer of Yale College, that an American citizen who became the citizen of another country should not afterwards be readmitted as an American citizen, led to a lengthy analysis of expatriation by William Murray, a lawyer from Maryland who had received his legal education at the Inns of Court in London. Murray touched on a number of issues, including the role of the abjuration oath in confi rming the right of subjects and citizens to expatriate, or, put differently, the position that there was no such thing as perpetual allegiance. If [the Government] accepts the allegiance of an alien, it presupposes that the alien has the right to tender his allegiance; and one clause of the bill expressly requires of the alien an abjuration of his former allegiance, which is certainly proper. In doing this, the bill admits, unequivocally, the right of subjects and citizens to expatriate. [my emphasis] The British Government, by want of conformity between their fi rst principle, as laid down in their law books, and the practice of Parliament, have shown us a singular mixture of old principles which the nation have outgrown. It is a maxim with them, that allegiance cannot be dissolved by any change of time or place, nor by the oath of a subject to a foreign Power; yet they naturalize by act of Parliament. They accept what they declare by their theory of civil law cannot be rightfull offered; nay, for one century the throne of England has presented Monarchs who were foreigners.101
Murray’s argument had a double thrust. First, he emphatically took the position that there was a unilateral right to abjure one’s allegiance. This was of importance also to the ongoing impressment controversy between the United States and Great Britain in which Britain, on the basis of the doctrine of perpetual allegiance, claimed the right to impress those American seamen who had been British subjects before their naturalization. The controversy became a major contributor to the War of 1812.102 Second, Murray agreed with Hillhouse that, as an alien, an expatriated American citizen had no right of readmission to the United States. However, for Murray, all that meant was that the country could choose whether he should enjoy the privileges of citizenship again.103 With respect to those citizens who were naturalized Americans, John Locke’s view loomed in the background. In The Second Treatise, Locke had, without further explanation, postulated that he who by actual agreement and express declaration has given his consent “to be of any commonwealth” is “perpetually and indispensably obliged to be and remain unalterably a subject to it.”104 I assume that underlying this “once and for all” proposition was Locke’s view that express consent meant an explicit promise to obey a government.105 Once one had made such a promise, Locke did not allow further room for unilateral action. The House of Representatives saw it differently. It not only defeated the Hillhouse motion, but struck from the bill the requirement that aliens should foreswear their allegiance to other states forever.106 It was Elias Boudinot, of New Jersey, who moved 101 102 103 104 105 106
Annals 4: 1029. See Kettner, 269–70. Annals 4: 1028. Locke, sec. 121. Cf. Wolin, 311. Annals 4: 1061. While “forever” does not appear in the abjuration oath, for unknown reasons it
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that the word be deleted, telling the story of “a very respectable emigrant” whose large fortune would very likely be of much use to the country but who had assured Boudinot “that, rather than swallow such an oath, he would return to his own country.”107 Boudinot, of Hugenot stock, used the occasion to throw cold water on the very idea of an oath of allegiance. [H]e had always considered oaths of allegiance as an imposition. They might keep away men who had scruples, because they had principles; others would swear, and break off, when it suited them. The word forever implied that these people were not at liberty to return home, and reassume the allegiance to their own country. What if the United States were to become a tyrannical Government? Were people not to have the liberty of leaving it?108
The most stringent attack on oaths of abjuration had come, about eight years earlier, from the pen of the person who, in many ways, was the very incarnation of Americanism, Noah Webster. In his famous essay On Test Laws, Oaths of Allegiance and Abjuration, and Partial Exclusion from Offi ce,109 he impatiently declared them to be a relic of the era where despots found the solemnity of oaths to have an excellent effect on “poor superstitious soldiers” and other subjects securing the obedience of men to tyrants. In Humean fashion, Webster argued that when a man steps his foot into a state, he becomes subject to its general laws and is under allegiance to that government. “Ten thousand oaths” do not increase the obligation upon him. Abjuration! a badge of folly, borrowed from the dark ages of bigotry. If the government of Pennsylvania is better than that of Great Britain, the subjects will prefer it, and abjuration is perfectly nugatory. If not, the subject will have his partialities in spite of any solemn renunciation of a foreign power. . . . I pray God to enlighten the minds of the Americans. I wish they would shake off every badge of tyranny. Americans! – The best way to make men honest, is to let them enjoy equal rights and privileges; never suspect a set of men will be rogues, and make laws proclaiming that suspicion. Leave force to govern the wretched vassals of European nabobs and reconcile subjects to your own constitutions by their excellent nature and beneficial effects. No man will commence enemy to a government which givs him as many privileges as his neighbors enjoy.110
Noah Webster, Boudinot, and others stated their vision of a country that would generate loyalty through what it had to offer, that is, apart from land, free and equal republican institutions. They were, as it were, followers of Frederick Jackson Turner before his time.111 On the other hand, Madison, and also many Federalists, were driven more by a nationalist perspective that considered it important to draw a distinct and sharp line between the United States and other countries. The language employed by the 1795 abjuration oath can hardly be viewed as tolerating fuzziness on the subject of citizenship. was retained in the oath to be sworn at the time an applicant declared his intention to become a citizen. See supra at note 2. 107 Anecdotal evidence suggests that this attitude can still be found today. However, instead of returning to “their own country,” people forego citizenship while staying on as “resident aliens.” 108 Ibid. 109 Webster, 151. 110 Webster, 153. 111 Turner, 26.
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While the 1795 act had, in the form of a duty, unambiguously embraced an alien’s right to forswear allegiance to a foreign government, judges of the Supreme Court, that very year, expressed strong reservations about an unfettered right on the part of American citizens to expatriate. This occurred in the 1795 admiralty case of Talbot v. Jensen.112 The decision involved an American privateer who supposedly had renounced his allegiance and become a French citizen for the purpose of capturing prizes under a French commission. After having indulged various dicta that indicated doubts concerning a right of expatriation, the court, however, found it unnecessary to pass on the matter.113 A few years later, likewise in a privateering case, Chief Justice Oliver Ellsworth, a staunch Federalist114 sitting in the Circuit Court for the Connecticut District, confronted the issue in a criminal case. He postulated that the United States had adopted the common law115 and that the common law had remained the same as it was before the revolution. For him, this included the concept of perpetual allegiance, but with a non-monarchical twist. Ellsworth declared it to be a “great principle” that all members of the civic community are bound to each other by a compact that one of the parties cannot dissolve by his own act. Rather casually, Ellsworth distinguished American naturalization of foreigners by suggesting that we do not inquire what a foreigner’s relation to his own country is: “[I]f he embarrasses himself by contracting contradictory obligations, the fault and folly are his own.”116 In light of the 1795 Naturalization Act, this was cavalier, to say the least. Ellsworth’s opinion caused an uproar in the press and among Republicans who accused him of reviving “the antiquated, opprobrious system of feudal vassalage.”117 As it turns out, ambiguities concerning the right to expatriation were not finally resolved until the Fourteenth Amendment put citizenship clearly on a national basis and Congress, in 1868, legislated its views on expatriation.118 Though the 1868 statute dealt with the rights of naturalized American citizens abroad, it was seen as having a wider application.119 The preamble to the “Act concerning the Rights of American Citizens in foreign States”120 used the most sweeping language. It found the right of expatriation to be “a natural and inherent right of all people, indispensable to the enjoyment of the rights of life, liberty, and the pursuit of happiness.” Equally sweepingly, the statute declared as “inconsistent with the fundamental principles of this government” “any declaration, instruction, opinion, order, or decision of any officers of this government which denies, restricts, or questions the right of expatriation.” (my emphasis). 112
3 U. S. 133. The case also raised the unresolved matter of the relationship between state and federal citizenship. See Kettner, 279–81. 114 See Warren, 140. 115 On Ellsworth and federal common law, see Presser, 97. 116 The Case of Isaac Williams, Kurland and Lerner, 580. Cf. Goebel, 631. 117 Warren, 160–61. 118 See Kettner, 343. 119 In the 1860s, the United States also negotiated a series of treaties (the so-called Bancroft treaties) that recognized naturalization as extinguishing original nationality, except in the case of return to the home country; Spiro 2008, 64. 120 15 Stat. 223 (1868). 113
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Little wonder that, in 1873, Attorney General George H. Williams issued an opinion that found the statute applicable to acts of expatriation by American citizens and then explicated: Congress has made no provision for the formal renunciation of citizenship by a citizen of the United States while he remains in this country; but if such citizen emigrates to a foreign country, and there, in a mode provided by its laws, or in any other solemn and public manner, renounces his United States citizenship, and makes a voluntary submission to its authorities with a bona fide intent of becoming a citizen or subject there, I think that the Government of the United States should not regard this procedure otherwise than an act of expatriation.121
It is subsequent developments in the law of expatriation as it pertains to American citizens that raise fundamental questions about allegiance more generally. Permit me to fast-forward. Following a wide variety of legal provisions and changes in naturalization and expatriation laws, that began in earnest in 1906,122 Congress, in 1940, further amended and codified then existing law.123 One of its goals at the time was to reduce the incidence of dual citizenship. The ideal, shared by many other countries, was that every person should have one nationality only.124 The entry on dual citizenship in the 1931 Encyclopedia of the Social Sciences included the assertion that dual nationality is essentially an incongruity.125 Or, as Peter Spiro puts it: “Dual citizenship was once thought an offense against nature, . . . an immoral status akin to bigamy. One might be a dual citizen by virtue of the interplay of different citizenship regimes, but one could not openly maintain allegiance to more than one nation.”126 The 1940 Nationality Act contained a long list of events triggering expatriation. Inter alia, they included taking an oath of allegiance to a foreign state, holding office in a foreign government, voting in a foreign election, staying abroad during wartime to evade military service, and, in the case of naturalized citizens, residing for three years in one’s state of birth or for five years in any other foreign state.127 After initially, in the 1958 case of Perez v. Brownell, upholding Congress’ power to expatriate as an exercise of its power to regulate relations with foreign countries under the “necessary and proper clause,”128 the Court, less than ten years later, overruled Perez and held, 5–4, in Afroyim v. Rusk129 that under the Constitution Congress had no power to divest a citizen of his citizenship absent voluntary renunciation. Providing the citizenship clause of the Fourteenth Amendment with particular significance, Justice Black wrote:
121
14 Op.Att.Gen. 296 (1873). In 1907, Congress regulated the matter by statute; 34 Stat. 1228. 34 Stat. 596 (1906). 123 A good short summary of legal developments can be found in Justice Frankfurter’s majority opinion in Perez v. Brownell, 356 U. S. 44, 49–56 (1958). 124 Aleinikoff, 137. 125 Flournoy, 258. 126 Spiro 2008, 59. 127 54 Stat. 1137, 1168–1170. Present law is codified in the Immigration and Nationality Act of 1952; 66 Stat. 163. 128 Perez, supra note 121. 129 387 U. S. 253 (1967). 122
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Citizenship is no light trifle to be jeopardized any moment Congress decides to do so under the name of one of its general or implied grants of power. In some instances, loss of citizenship can mean that a man is left without the protection of citizenship in any country in the world – as a man without a country. Citizenship in this Nation is a part of a cooperative affair. Its citizenry is the country, and the country is its citizenry. The very nature of our free government makes it completely incongruous to have a rule of law under which a group of citizens temporarily in office can deprive another group of citizens of their citizenship. We hold that the Fourteenth Amendment was designed to, and does, protect every citizen of this Nation against a congressional forcible destruction of his citizenship, whatever his creed, color or race. Our holding does no more than to give to this citizen that which is his own, a constitutional right to remain a citizen in a free country unless he voluntarily relinquishes that citizenship.130
Afroyim v. Rusk was one of the Warren Court’s more consequential, if poorly reasoned, landmarks. First of all, it made subjective intent to relinquish citizenship the core issue. As Spiro puts it: “Today there is no activity (including office holding and military service) that will by itself result in expatriation.”131 Secondly, the decision, in conjunction with an ever spreading acceptance of dual citizenship on the part of other countries, had the effect of providing individuals with choices that they had not previously enjoyed to such a full extent.132 Perez and Afroyim had voted in foreign elections. In a 1970s draft avoidance case, Terrazas, a dual citizen of the United States and Mexico by interplay of ius soli and ius sanguinis, had taken out a Mexican certificate of nationality, swearing allegiance to Mexico and forswearing allegiance to the United States, “expressly renouncing United States citizenship, as well as any obedience and loyalty to any foreign government, especially to that of the United States of America.”133 The case that reached the Supreme Court was mostly about standards of proof, but the Court left no doubt that, to be consistent with Afroyim, the trier of fact must conclude that the citizen not only voluntarily committed the expatriating act prescribed in the statute, but also intended to relinquish his citizenship.134 In short, if the doctrine of perpetual allegiance once stood for the proposition that an individual cannot unilaterally break the ties to a given society, the Supreme Court made perpetual allegiance to mean that the United States cannot, unilaterally, terminate citizenship. An “expatriating act” without the intent to relinquish citizenship does not expatriate. In administrative law135, as expressed in an advisory about possible loss of citizenship on the State Department’s web site, this reads as follows: The Department has a uniform administrative standard of evidence based on the premise that U. S. citizens intend to retain United States citizenship when they obtain naturalization in a foreign state, subscribe to a declaration of allegiance to a foreign state, serve in the armed 130
Id. at 267. Spiro 2008, 69. 132 Cf. Fahrmeir, 177. 133 Vance v. Terrazas, 444 U. S. 252, 255 (1980). 134 Id. at 261. Under a preponderance of the evidence standard, Terrazas, on remand, lost his claim that he had not intended to relinquish U. S. citizenship; Terrazas v. Haig, 653 F.2nd 285 (1981). 135 See 22 CFR § 50.40. 131
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forces of a foreign state not engaged in hostilities with the United States, or accept non-policy level employment with a foreign government. . . . In light of [this] administrative premise, a person who: 1. is naturalized in a foreign country; 2. takes a routine oath of allegiance to a foreign state; 3. serves in the armed forces of a foreign state not engaged in hostilities with the United Sates; or 4. accepts non-policy level employment with a foreign government, and in so doing wishes to retain U. S. citizenship need not submit prior to the commission of a potentially expatriating act a statement or evidence of his or her intent to retain U. S. citizenship since such an intent will be presumed. When, as the result of an individual’s inquiry or an individual’s application for registration or a passport it comes to the attention of a U. S. consular officer that a U. S. citizen has performed an act made potentially expatriating. . . ., the consular officer will simply ask the applicant if there was intent to relinquish U. S. citizenship when performing the act. If the answer is no, the consular officer will certify that it was not the person’s intent to relinquish U. S. citizenship and, consequently, fi nd that the person has retained U. S. citizenship.136 (emphasis in the original)
The concept of “volitional allegiance” has acquired a meaning that until quite recently would have been unimaginable. The way the State Department web site deals with dual citizenship is simply to say: “U. S. law does not mention dual nationality or require a person to choose one citizenship or another.”137 The State Department lawyers wisely do not pause to explain the meaning of “to renounce” in the abjuration oath. Anecdotal evidence would show, citizens need not restrict themselves to “dual” citizenship. As people go about diversifying their citizenship portfolios,138 they easily may end up with multiple citizenships. The notion of a “cosmopolitan citizen” has acquired a self-interested reality.139 The development is a worldwide one. Many countries have come to accept dual citizenship,140 in some instances, such as Ireland and Mexico, they have actively embraced it for political reasons.141 In a mostly conscription-free age, individuals are not so much concerned with what Chief Justice Ellsworth called “the folly” of contracting contradictory obligations, but with maximizing rights, including economic ones. It is not so much allegiance that is on their minds, but the benefits conferred by a foreign passport. For instance, an American who is a dual citizen of any one of the 27 member states of the European Union, will benefit from the freedoms and the nondiscrimination rules of the EU in its entire territory. These privileges, in turn, have created an EU “citizenship” that is of increasing importance to the EU’s population of almost 500 million.142 136
U. S. Department of State: Advice about Possible Loss of U. S. Citizenship and Dual Nationali-
ty. 137
U. S. Department of State: Dual Nationality. The formulation is that of my Stanford colleague James Sheehan. 139 Lawrence Summers recently even referred to the development of “stateless elites” whose allegiance is to global economic success and their own propserity. 140 Cf. Spiro 2008, 59. 141 Aleinikoff, 140–47. 142 On these and related matters in British law, see Lord Goldsmith, 27–31. 138
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More generally, human rights law worldwide has come to occupy a status that makes citizenship less important in asserting rights that are viewed as human and that can be invoked against governments by citizens and noncitizens alike (as is most prominently the case with the European Convention on Human Rights that extends to more than 50 countries). While national boundaries are still far from being viewed as morally arbitrary,143 globalization is undercutting their significance.144 In a report for the British government, Lord Goldsmith has recently referred to the “blurring of citizenship,” emphasizing in particular that social and economic rights are not closely tied to citizenship status.145 Developments in American constitutional and statutory law have made many, though by no means, all entitlements independent of citizenship. An almost unanimous Supreme Court, in the 1971 Pennsylvania welfare law case of Graham v. Richardson,146 declared alienage to be an inherently suspect classification, though, since then, the degree of suspicion the Supreme Court musters in alien cases has more waned than waxed. Also, when the government acts against aliens under general laws hallowed principles of American law, such as due process, can easily seem hollow as, for instance, when the federal government, after September 11, rounded up hundreds of aliens on immigration charges and as “material witnesses,” to hold them incommunicado, and proceed against them in closed, essentially secret hearings.147 Not infrequently, treatment of immigrants whose status is disputed, shocks the conscience.148 On the whole, however, the status of aliens in American law, especially resident aliens, has clearly improved since the World War II detention of more than one hundred thousand Japanese nationals and Japanese-Americans. Incidentally, in the Japanese detention camps, both aliens and citizens were given a questionnaire that asked whether they would “swear unqualified allegiance to the United States of America and faithfully defend the United States from any or all attack by foreign or domestic forces, and forswear any form of allegiance or obedience to the Japanese emperor, or any other foreign government, power or organization.”149 This presented American citizens of Japanese descent with the dilemma of forswearing an allegiance they had never had, and Japanese citizens, if they answered “yes,” with the dilemma of performing an act (forswearing allegiance to the Japanese emperor) that would leave them stateless without the possibility of becoming Americans, as American law at the time did not allow the naturalization of Japanese.150 I return to the present. The naturalization oath that is required by Sec. 337 of the Immigration and Nationality Act now reads as follows: I hereby declare, on oath, that I absolutely and entirely renounce and abjure all allegiance and fidelity to any foreign prince, potentate, state, or sovereignty of whom or which I have 143
The position advocated by Nussbaum, 14. Spiro 2008, 6. Generally, see also Wriston, passim. 145 Lord Goldsmith, supra note 139, 13. 146 403 U. S. 365. On Graham, see Schuck and Smith, 107. 147 A Review of the Treatment of Aliens, Inspector General of the United States Department of Justice. 148 See Casper, 158–60. 149 As quoted in Hatamiya, 20. 150 Id. at 20–21. 144
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heretofore been a subject or citizen; that I will support and defend the Constitution and laws of the United States of America against all enemies, foreign and domestic; that I will bear true faith and allegiance to the same; that I will bear arms on behalf of the United States when required by the law; that I will perform noncombatant service in the Armed Forces of the United States when required by the law; that I will perform work of national importance under civilian direction when required by the law; and that I take this obligation freely without any mental reservation or purpose of evasion; so help me God.151
Is this, to quote the peculiar State Department term, a “routine” oath of allegiance?152 Or, should we think of a person who, the day after having taken the abjuration oath, goes to the consulate of his or her country of origin to obtain a new passport, as a documented, but somewhat illegal citizen, perhaps a perjurer? To this day, the state of California continues to demand of all state employees a loyalty oath that dates back to the McCarthy era. A person who, while taking the oath, states any material matter as true which he knows to be false, is guilty of perjury.153 The abjuration oath does not have a perjury penalty attached to it and in practice the government does not enforce it, instead it is winking and so are many of the jurors. On the one hand, there is a duty “absolutely and entirely” to renounce all prior allegiances. On the other hand, there is a constitutionally derived, if grudgingly granted, confl icting liberty to hold several citizenships simultaneously.154 If one takes, with Oliver Wendell Holmes, “the view of our friend the bad man,”155 there is no antinomy since the courts and, indeed, the legal system as a whole will do nothing about violations of the abjuration oath. A problem exists only for those potential citizens who conscientiously will rather forego naturalization than forswear allegiance. Given this unattractive situation, should the unenforced abjuration oath simply be abolished?156 To the extent to which the underlying issue is one of potentially confl icting loyalties and commitments, another version of the bad man might argue that it makes little difference in the real world whether American citizens retain the citizenship of their country of origin, since, in some instances, the naturalized Americans (and their descendants) might be inclined to favor that country through political activities regardless of whether they are formally its citizen. Arguably, this has been the case throughout American history. In any event, what really matters is the obligation to obey the law and for it citizenship is mostly irrelevant. As Noah Webster had put it: “When a man steps his foot into a State, he becomes subject to its general laws.”157 Nevertheless, whenever possible, government should not send confusing signals,158 confl icting messages. It should speak clearly and forthrightly. Government should also never be found in the proximity of what might be misunderstood as subornation 151 152 153 154 155 156 157 158
8 U. S. C. 1448. Supra at note 126. Sec. 3108 California Government Code. Somewhat of a Hohfeldian antinomy; see Hohfeld, 30 Holmes, 173. This is advocated by Aleinikoff and Klusmeyer, 38; also Spiro 1997, 1453. Webster, 152. Aleinikoff and Klusmeyer, 38.
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of perjury or, for that matter, of its own allegiance. All of this suggests to me that we would be well advised to eliminate the abjuration element from the oath of allegiance as reflecting old principles which the nation has outgrown. Yet, given our incapacity to develop sensible, honest and efficient immigration policies in general, it may be impossible to add the symbol-laden question of dual citizenship to the agenda, especially, since, except for a few scholars and polemicists, there has been almost no public discussion of the topic. The fact that the topic especially involves our immediate neighbors, Mexico and Canada, both of which now allow dual citizenship, does not make debate any easier. Assuming that nothing will be done, let me employ a heuristic device of my invention that takes a common-sensical view of the abjuration requirement against the background of present American policies. Since neither law nor the meaning of legal terms are immutable, we would be well served to remember Justice Holmes’ elegant formulation: “A word is not a crystal, transparent and unchanged, it is the skin of a living thought, and may vary greatly in color and content according to the circumstances and the time in which it is used.”159 Suppose I were a federal judge officiating at a naturalization ceremony. In addition to whatever else serious and uplifting there is to be said at such occasions, I might go on to state the following: You are about to take an oath of allegiance that makes you renounce allegiance to other countries of which you are a citizen. This requirement is almost as old as the Constitution of the United States. At the time of its adoption, the world was mostly made up of princely regimes. Republican governments were few, democracies hardly existed. The potential for, indeed, the reality of, confl ict over which person “belonged” to which country was widespread. The framers of the abjuration oath wanted to minimize that confl ict. However, they also wanted to make sure that those who, like you, entered into an agreement with the people of the United States, would sincerely attach themselves to the principles of the constitution of the United States, and would be well disposed to its good order and happiness, as the law then said. The desire and the need of the United States for this commitment, this allegiance, has not changed since the 18th century. What has changed is that our country, in recent decades, has recognized a right on the part of individual citizens to maintain more than one citizenship. Some would prefer it, if you had only the citizenship of the United States. However, if for sentimental or other reasons, you decide to carry another passport, you are doing nothing illegal. The forswearance of allegiances that the oath still demands, nowadays means to indicate to you that the obligations you take on are a very serious matter, as is your commitment to participate in the governance of our country, to become one of “the people.” For purposes of governance, you cannot and you should not serve two masters.
What I have been trying to accomplish with this little discourse, is to adapt the venerable oath to the present constitutional context by preserving as much of the commitments of its framers as possible. The abjuration requirement may be viewed as emphasizing that admission to citizenship, in particular the right to participate in legislative deliberations, the right to vote, the right to become a legislator in the broadest sense of the word, involves a choice. Looked at this way, what matters in 159
Towne v. Eisner, 245 U. S. 418, 425 (1918).
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forswearance is not the denotative meaning of the act, but the connotations it signifies about the importance of what John Locke called “the legislative.” I quote: Civil society being a state of peace amongst those who are of it, from whom the state of war is excluded by the umpirage which they have provided in their legislative for the ending of all differences that may arise amongst any of them, it is in their legislative that the members of the commonwealth are united and combined together into one coherent living body. This is the soul that gives form, life and unity to the commonwealth; from hence the several members have their mutual influence, sympathy, and connection; . . .160
Of course, none of these sentiments have been or will be subject to enforcement. We are dealing here with virtue, with voluntary observance of standards of right conduct. What can be and will be enforced are the laws promulgated by the “legislative.” That enforcement will in any event take place regardless of abjuration. Furthermore, if the government of the United States, to adapt Noah Webster, is no better than that of his or her home country, the naturalized citizen will be influenced by partialities in spite of any solemn renunciation of a foreign power.161 To my mind, John Page, a member of the First Congress and later governor of Virginia, had it right when he expressed the view that good citizenship was a function of having good laws. Page shall have the last word: “It is nothing to us, whether Jews or Roman Catholics settle amongst us; whether subjects of Kings, or citizens of free States wish to reside in the United States, they will fi nd it their interest to be good citizens, and neither their religion nor political opinions can injure us, if we have good laws, well executed.”162
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Der Einfluss des Völkerrechts auf die US-amerikanische Verfassung von
Prof. Dr. Udo Fink und Ass. iur. Ines Gillich1 I. Einleitung Das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zum Völkerrecht hat sich seit der Staatsgründung im Jahr 1776 dramatisch verändert. Die US-amerikanische Rechtsordnung lehnte sich zunächst eng an das britische common law an. Dessen Geltung im innerstaatlichen Recht wird darauf zurückgeführt, dass bei der Gründung der USA alle US-Bundesstaaten mit Ausnahme von Louisiana sogenannte reception statutes erlassen haben, die das britische common law insoweit inkorporierten, als es nicht im Widerspruch zur eigenen Verfassung stand. Diese reception statutes wurden dabei teilweise durch die Rechtsprechung, durch einfaches Gesetz oder – wie im Falle des Bundesstaates New York 2 – durch Verweis in der Landesverfassung implementiert. Das britische common law folgte im 18. Jahrhundert noch eindeutig der monistischen Vorstellung vom Verhältnis des innerstaatlichen Rechts zum Völkerrecht. So erklärte etwa Lord Talbot in Buvot v Barbuit (1737): „The law of nations in its full extent (is) part of the law of England“.3 Als Teil des britischen common law ging damit also auch das Völkerrecht durch Rezeption in die amerikanische Rechtsordnung ein.4 Die bereits so im US-amerikanischen Recht angelegte Völkerrechts1 Prof. Dr. Udo Fink ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Ines Gillich ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin. 2 Art. XXXV der Verfassung von New York vom 20. April 1777 lautet: „And this convention doth further, in the name and by the authority of the good people of this State, ordain, determine, and declare that such parts of the common law of England, and of the statute law of England and Great Britain, and of the acts of the legislature of the colony of New York, as together did form the law of the said colony on the 19th day of April, in the year of our Lord one thousand seven hundred and seventy-five, shall be and continue the law of this State, subject to such alterations and provisions as the legislature of this State shall, from time to time, make concerning the same (. . .).“ 3 Buvot v Barbuit (1737) Cas Temp Talbot 281; bestätigt in Triquet v Bath (1764) 3 Burr 1478. 4 Dies hat der US Supreme Court in Talbot v. Jansen, 3 U. S. (3 Dall.) 133 (1795) durch die Anwendung des internationalen Seerechts auf den zu entscheidenden Fall bestätigt. Vgl. auch: Restatement of
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freundlichkeit kommt deutlich in der Supreme Court-Entscheidung Murray v. Schooner Charming Betsy (1804) zum Ausdruck, in welcher der Supreme Court den Auslegungsgrundsatz prägte: „(An) act of Congress ought never to be construed to violate the law of nations if any other possible construction remains“.5 Dieser allgemein als Charming Betsy Canon bezeichnete Auslegungsgrundsatz wurde in der Folgezeit häufig vom Supreme Court und den unteren Bundesgerichten herangezogen.6 Darüber hinaus wird er auch heute noch in dem vom American Law Institute herausgegebenen Restatement (Third) Foreign Relations Law of the United States aufgeführt.7 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben Rechtsprechung und Schrifttum jedoch schrittweise den Einfluss des Völkerrechts auf das US-amerikanische Recht abgebaut.8 Durch die Ereignisse des 11. September 2001 ist diese Entwicklung noch einmal deutlich verstärkt worden. Dies gilt nicht nur außenpolitisch für den unter der Bush Administration gepflegten Unilateralismus, der zu einer Marginalisierung des UN-Sicherheitsrates im Irak Krieg und zumindest anfangs auch im Krieg mit Afghanistan führte.9 Auch die Implentierung völkerrechtlicher Regelungen in das inneramerikanische Recht sieht sich zunehmend Widerständen aus Politik, Justiz und Gesellschaft ausgesetzt. Vertreter des sog. American Exceptionalism10 wollen die amerikanische Rechts- und Werteordnung frei von jeglicher Fremdbestimmung durch ausländisches Recht und Völkerrecht halten.11 So sind zwischen 2010 und 2011 in mehreren US-Bundesstaaten Gesetzentwürfe entstanden, die darauf abzielen, die Verwendung von Völkerrecht und ausländischem nationalen Recht im US-amerikanischen Recht zu unterbinden.12 Beginnend mit the Law Third – The Foreign Relations Law of the United States, Vol. 1, The American Law Institute, Washington, D. C. 1986, S. 40 f. 5 Murray v. The Charming Betsy, 6 U. S. (2 Cranch) 64 (1804), S. 118. 6 Vgl. dazu: Bradley, The Charming Betsy Canon and Separation of Powers: Rethinking the Interpretative Role of International Law, 86 The Georgetown Law Journal 479 (1998). 7 „Where fairly possible, a United States statute is to be construed so as not to confl ict with international law or with an international agreement of the United States.“ Restatement of the Law Third – Foreign Relations Law of the United States (1986), § 114. Das 1923 gegründete American Law Institute, das aus Akademikern und Praktikern besteht, hat die Aufgabe, das US-amerikanische common law in sog. Restatements zu systematisieren. Diese Restatements werden von den Gerichten häufig als persuasive authority bei ihrer Entscheidungsfi ndung herangezogen. Die Aufgabe des American Law Institutes wird allgemein so beschrieben: „The ALI’s aim is to distill the „black letter law“ from cases, to indicate a trend in common law, and, occasionally, to recommend what a rule of law should be. In essence, they restate existing common law into a series of principles or rules.“ Vgl. die Übersicht der Harvard Law School Library unter: http://libguides.law.harvard.edu/secondary. 8 Vgl. dazu Dubinsky, International Law in the Legal System of the United States, 58 American Journal of Comparative Law Supp. 455 (2010) m.w.Nw. 9 Vgl. dazu Falk, What Future for the UN Charter System of War Prevention?, 97 American Journal of International Law 590 (2003); Frowein, Ist das Völkerrecht tot?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 7. 2003, S. 6. 10 Die Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten eine besondere Rolle in der Staatengemeinschaft spielen, wird von Alexis de Toqueville in seinem 1840 erschienenen Werk „Democracy in America“ eindrücklich beschrieben. 11 Vgl. dazu David/Grondin, Hegemony or Empire?: The Redefi nition of US Power under George W. Bush (2006). 12 Vgl. dazu: Fellmeth, International Law and Foreign Laws in the U. S. State Legislatures, ASIL Insights Vol. 15, Issue 13 (May 26, 2011).
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Iowa13, Utah14 und New Jersey15 haben bislang mehr als 20 Bundesstaaten Gesetzentwürfe aufgelegt, welche ihren Gerichten untersagen, sich auf ausländisches Recht oder ausländische Gerichtsentscheidungen zu berufen, wenn dadurch Rechte aus der Verfassung des Bundesstaates berührt würden. Unter ausländischem Recht werden dabei nicht nur fremde Rechtsordnungen, sondern auch Akte internationaler Organisationen, internationaler Gerichte und das Recht der Sharia verstanden.16 In Arizona wurde im Februar 2011 sogar ein Gesetzentwurf eingebracht, der vorsah, dass Richter, die sich in ihren Entscheidungen auf religiöses Recht oder auf das Recht anderer Staaten oder eine außerhalb der Vereinigten Staaten angesiedelte Gerichtsbarkeit berufen, ihres Amtes enthoben werden sollen.17 Die meisten dieser Verfahren sind im Sande verlaufen. In Louisiana aber wurde ein entsprechender Gesetzentwurf bereits geltendes Recht.18 Auch der Senat von Indiana hat einstimmig einen vergleichbaren Gesetzentwurf gebilligt, der zur weiteren Beratung an die zweite Kammer verwiesen wurde.19 Ein weiteres eindruckvolles Beispiel für die völkerrechtsfeindliche Stimmung in den USA ist auch eine in Oklahoma vom Senat und dem Repräsentantenhaus 2010 verabschiedete Resolution mit dem Titel „Save our State Amendment“ zur Ergänzung der Verfassung, die in einem anschließenden Volksentscheid im November 2011 mit über 70% der Stimmen angenommen wurde.20 Die Implementierung des Volksentscheids wurde jedoch durch den Federal District Court und in zweiter Instanz durch den Court of Appeal gestoppt. Auf eine Klage eines amerikanischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens hin urteilten die Gerichte, dass die vorgesehene Verfassungsänderung gegen das in den Bill of Rights enthaltene Verbot der Diskrimierung auf Grund des Glaubens verstößt.21 Bemerkenswert ist, dass dabei sowohl in der Justiz als auch in der amerikanischen Öffentlichkeit lediglich das Verbot der Berücksichtigung von Sharia-Recht viel Aufmerksamkeit erregt hat, während das Verbot der Berücksichtigung von ausländischem Recht und Völkerrecht durch die Gerichte nur wenig Kritik hervorgerufen hat.22 13
H. F. 2313 (Iowa 2010). H. B. 296 1st Sub. (Utah 2010). 15 A. B. 3496, § 3.b, 214th Leg. (N. J. 2010). 16 Fellmeth, International Law and Foreign Laws in the U. S. State Legislatures, ASIL Insights Vol. 15, Issue 13 (May 26, 2011). 17 H. B. 2582 (Ariz. 2011). 18 La. Act No. 886 (approved June 29, 2010; effective Aug. 15, 2010), codified at La. R. S. 9:6000. 19 IN Senate Bill 520–2011 1st Regular Session, zu fi nden unter: http://e-lobbyist.com/gaits/IN/ SB0520. 20 Darin heißt es: „The Courts [. . .] when exercising their judicial authority, shall uphold and adhere to the law as provided in the United States Constitution, the Oklahoma Constitution, the United States Code, federal regulations promulgated pursuant thereto, established common law, the Oklahoma Statutes and rules promulgated pursuant thereto, and if necessary the law of another state of the United States provided the law of the other state does not include Sharia Law, in making judicial decisions. The courts shall not look to the legal precepts of other nations or cultures. Specifically, the courts shall not consider international law or Sharia Law.“ Vgl. „House Joint Resolution 1056“ des Oklahoma House of Representatives und des Senates, zu fi nden unter: https://www.sos.ok.gov/documents/questions/755. pdf. 21 Awad v. Ziriax, 754 F. Supp. 2d 1298, 1308 (W. D. Okla. 2010); Awad v. Ziriax, 10th Cir. Case No. 10-6273, Urteil vom 10. 1. 2012. 22 Anders aber ein Gutachten der New York City Bar Association über die Verfassungsmäßigkeit des Oklahoma „Save our States“ Amendments, das darin auch Art. VI US-Verfassung als verletzt ansieht. 14
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II. Die US-amerikanische Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit Die US-amerikanische Verfassung von 1787 ist die erste Verfassung, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im modernen Sinne kodifiziert. Sie ist zum Vorbild vieler Verfassungen weltweit geworden 23 und hat mit ihren Ideen auch unmittelbaren Einfluss auf die Entstehung des Grundgesetzes genommen.24 Sie gründet sich ideengeschichtlich auf die Philosphie der Auf klärung.25 Politisch ist sie das Produkt der erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen der amerikanischen Kolonien von der englischen Krone. Dementsprechend bilden individuelle Freiheit, Demokratie und Naturrecht die drei Hauptelemente, die sich sowohl in der Unabhängigkeitserklärung als auch in der Präambel der US-Verfassung wiederfinden.26 Im Vergleich zu anderen modernen Verfassungen, wie etwa dem Grundgesetz oder der französischen Verfassung, ist die US-Verfassung sehr kurz und sprachlich allgemein gehalten.27 Wesentlicher Teil der amerikanischen Verfassung ist ein Grundrechtekatalog, der im September 1791 der Verfassung hinzugefügt wurde. Diese Ten Amendments gehen auf die Virginia Declaration of Rights von 1776 zurück und sichern allen Bürgern bestimmte unveräußerliche Grundrechte zu.28 Staatsorganisatorisch ist die US-Verfassung an den Prinzipien der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung ausgerichtet. Dabei gilt der Grundsatz der Zuständigkeit der Gliedstaaten, soweit nicht eine ausdrückliche Kompetenz dem Bund zugewiesen wird. Fußend auf der in Art. 1 § 8 Cl. 18 enthaltenen necessary and proper clause 29 stehen dem Bund aber auch ungeschriebene Kompetenzen zu, wenn diese zur Verwirklichung der ausdrücklich in der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten notwendig sind. Der U. S. Supreme Court hat dies erstmals in McCulloch v. State of The Unconstitutionality of Oklahoma Referendum 755 – The „Save Our State Amendment“, Committee on Foreign & Comparative Law, New York City Bar Association (December 2010), zu finden unter: http://www.nycbar.org/pdf/report/uploads/20072027-UnconstitutionalityofOklahomaReferendum755.pdf. 23 Vgl. Henkin/Rosenthal, Constitutionalism and Rights – The influence of the United States Constitution Abroad (1990). 24 Vgl. dazu Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes (1999). 25 Insbesondere John Locke hat mit seinen staatsphilosophischen Schriften einen erheblichen Einfluss auf die Gründungsväger der Vereinigten Staaten gehabt. 26 Vgl. dazu Brugger, Demokratie, Freiheit, Gleichheit – Studien zum Verfassungsrecht der USA (2002), S. 22 f. 27 Diesen Umstand begründete Chief Justice John Marshall so: „A constitution, to contain an accurate detail of all the subdivisions of which its great powers will admit, and of all the means by which they may be carried into execution, would partake of the prolixity of a legal code, and could scarcely be understood by the public. Its nature, therfore, requires, that only its great outlines should be marked, its important objects designated, and the minor ingredients which compose those objects, be deduced from the nature of the objects themselves (. . .) we must never forget that it is a constitution we are expounding.“ McCulloch v. State of Maryland, 17 U. S. (4 Wheat.) 316 (1819), S. 406. 28 James Madison, einer der geistigen Väter der Ten Amendments, war bereits an der Ausarbeitung der Virginia Declaration of Rights beteiligt. 29 Art. 1 § 8 Cl. 18 US-Verfassung lautet: „The Congress shall have the Power (. . .) To make all Laws which shall be necessary and proper for carrying into Execution the foregoing Powers, and all other Powers vested by this Constitution in the Government of the United States, or in any Department or Officer thereof “.
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Maryland (1819) festgestellt, wobei er zur Begründung auf den normativen Vorrang der Bundesverfassung und der Bundesgesetze vor dem Recht der Gliedstaaten abhob.30 Das amerikanische Gerichtswesen gliedert sich in die Bundesgerichtsbarkeit sowie in die von der Bundesebene institutionell unabhängige einzelstaatliche Gerichtsbarkeit.31 Der Supreme Court, das einzige unmittelbar durch die Verfassung eingerichtete Bundesgericht 32, hat im US-amerikanischen Rechtssystem eine besondere Rolle. Er ist nicht nur höchste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit 33, sondern, wie in der die Verfassungsgerichtsbarkeit weltweit prägenden Supreme Court-Entscheidung Marbury v. Madison von 1803 festgestellt, zugleich auch Verfassungsgericht mit der Kompetenz, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen.34 Damit hat der Supreme Court für sich das Recht in Anspruch genommen, letztverbindlich über die Auslegung der US-amerikanischen Bundesverfassung zu entscheiden.35
30 „The constitution, therefore, declares, that the constitution itself, and the laws passed in pursuance of its provisions, shall be the supreme law of the land, and shall control all state legislation and state constitutions, which may be incompatible therewith (. . .). Nothing can be plainer than that, if the law of congress (. . .) must have its full and complete effects. Its operation cannot be either defeated or impeded by acts of state legislation. To hold otherwise, would be to declare, that congress can only exercise its constitutional powers, subject to the controlling discretion, and under the sufferance, of the state governments. (. . .) If congress has power to do a particular act, no state can impede, retard or burden it.“ McCulloch v. State of Maryland 17 U. S. (4 Wheat.) 316 (1819), S. 406. 31 I.d.R. ist auf gliedstaatlicher Ebene ein 4-stufiger Gerichtsauf bau vorzufi nden, wobei auf der höchsten Ebene die Landesverfassungsgerichte (Supreme Courts) stehen. 32 Vgl. Art. III § 1 US-Verfassung. Die übrigen Bundesgerichte sind vom Kongress durch den Judiciary Act eingerichtet worden. Die Bundesgerichtsbarkeit besteht aus drei Instanzen, den erstinstanzlichen District Courts, den Court of Appeals und dem Supreme Court an der Spitze. Neben diesen sog. „constitutional courts“ existieren weitere Bundesgerichte mit spezieller Zuständigkeit, sog. „legislative courts“. Die Zuständigkeit der Bundesgerichte ist gemäß Art. III § 2 Verfassung auf „cases“ und „controversies“ beschränkt. Damit existiert im US-Verfassungssystem keine Jurisdiktion für eine abstrakte Normenkontrolle oder eine Gutachtenkompetenz. Die Bindung der Rechtsprechungsorgane an die Verfassung ergibt sich auch aus Art. III § 2 Verfassung und wird durch den Eid nach Art. VI Cl. 2 bekräftigt. 33 Als ordentliches Gericht kann er erstinstanzlich oder als Berufungsinstanz tätig werden und eine Maßnahme am Maßstab einfachen Bundes- oder Landesrechts prüfen. 34 „So, if a law be in opposition to the Constitution, if both the law and the Constitution apply to a particular case, so that the Court must either decide that case conformably to the law, disregarding the Constitution, or conformably to the Constitution, disregarding the law, the Court must determine which of these confl icting rules governs the case. This is of the very essence of judicial duty. If, then, the Courts are to regard the Constitution, and the Constitution is superior to any ordinary act of the Legislature, the Constitution, and not such ordinary act, must govern the case to which they both apply. Those, then, who controvert the principle that the Constitution is to be considered in court as a paramount law are reduced to the necessity of maintaining that courts must close their eyes on the Constitution, and see only the law.“ Marbury v. Madison 1 Cr. (5 U. S.) 137 (1803), S. 702. 35 Vgl. dazu auch die Worte von Justice Charles E. Hughes: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is.“ Charles E. Hughes, Speech, Elmira, New York, May 3, 1907. Der Supreme Court verzichtet auf seine verfassungsgerichtliche Kontrolle jedoch dann, wenn es sich um eine „political question“ handelt, bei der es etwa um die Vermeidung politischer Kompetenz- oder Zielkonfl ikte zwischen den einzelnen Verfassungsorganen geht. Der Supreme Court wendet die political question doctrine eher flexibel an. Vgl. dazu Brugger, Demokratie, Freiheit, Gleichheit – Studien zum Verfasungsrecht der USA (2002), S. 94 ff.
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Der Supreme Court ist mit 9 Richtern besetzt, deren Amtszeit zeitlich nicht begrenzt ist. Gemäß Art. II Abschnitt 2 UA 2 US-Verfassung hat der Präsident das Recht, die Kandidaten für das Amt des Supreme Court-Richters dem Senat vorzuschlagen. In der Praxis führt dies dazu, dass regelmäßig solche Kandidaten vorgeschlagen werden, die dem Präsidenten politisch und ideologisch nahe stehen. Nach öffentlicher Anhörung vor einem Senatsausschuss, hat der Senat anschließend sein „advice and consent“ zu geben.36 Bei einer Zustimmung des Senats wird der Vorgeschlagene vom Präsidenten ernannt. Dieses Verfahren zeigt, dass die Besetzung des Gerichts in hohem Maße dem Einfluss der anderen Staatsorgane und damit politischen Nützlichkeitserwägungen unterliegt.37
III. Das us-amerikanische common law und die Bedeutung der Rechtsvergleichung mit ausländischem Recht und ausländischen Gerichtsentscheidungen in der jüngeren Rechtsprechung des Supreme Court Wie bereits eingangs geschildert basiert das US-amerikanische Rechtssystem auf der englischen Rechtstradition des common law, das neben dem Verfassungsrecht, den Gesetzen und dem Verwaltungshandeln die vierte Rechtsquelle bildet. Nach dem Prinzip des stare decisis sind die untergeordnenten Gerichte an die Entscheidungen eines im Instanzenzug übergeordneten Gerichts als sog. binding precedents gebunden. Der Umfang der Bindungswirkung der Entscheidung ergibt sich dabei aus den tragenden Gründen. Auf diesem Wege werden durch die Rechtsprechung höherer Gerichte für die unteren Instanzen bindende Präjudizien und damit allgemein anwendbares Richterrecht geschaffen. Von der binding bzw. mandatory authority abzugrenzen ist die nicht bindende persuasive authority. Darunter fallen etwa Entscheidungen gleichgeordneter und unterer Gerichte, Ausführungen anderer Gerichte in obiter dicta, eine sog. dissenting opinion oder auch die rechtswissenschaftliche Literatur.38 Darüber hinaus nehmen amerikanische Gerichte auch ausländisches nationales Recht, Völkerrecht sowie Entscheidungen ausländischer oder internationaler Ge36
In der Praxis hängt die Entscheidung des Senats stark davon ab, wie sich die politischen Mehrheitsverhältnisse im Senat darstellen. Gehört die Mehrheit des Senats zur Partei des Präsidenten, so wird dem Vorschlag des Präsidenten i. d. R. zugestimmt. Andernfalls wird der Senat den Kandidaten als „too extreme“ oder als „outside of the mainstream of the American people“ ablehnen, wobei der Senat dann seine Abweichung vom Vorschlag des Präsidenten nachvollziehbar begründen muss. 37 Zur wechselnden ideologischen Ausrichtung des Supreme Courts vgl. Brugger, Vom Rehnquist Court zum Roberts und Alito Court. Ein konservativer Wendepunkt im U. S. Supreme Court?, ZaöRV 66, 415 (2006), S. 421 ff. Von den Richtern des Supreme Courts ist besonders die Rolle des Chief Justice hervorzuheben. Dieser ist nicht nur die administrative Spitze der gesamten Bundesgerichtsbarkeit, sondern stellt auch das öffentliche Gesicht des Supreme Courts dar. Entscheidungen des Supreme Courts werden daher stets mit dem Namen des Chief Justice in Zusammenhang gebracht. Vgl. dazu: Brugger, aaO, S. 417 f. 38 Zur Unterscheidung zwischen persuasive authority und mandatory authority: Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht (2003), S. 10 ff.
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richte in den Blick.39 Welche Bedeutung diesem nicht originär der amerikanischen Rechtsordnung entspringenden Recht für die Interpretation des innerstaatlichen Rechts zukommt, ist jedoch bisher nicht geklärt. Innerhalb des Supreme Courts ist darüber seit einigen Jahren ein fundamentaler Streit entbrannt.40 In Lawrence v. Texas (2003) 41 erklärte der Supreme Court ein texanisches Gesetz, das gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakt unter Strafe stellte, wegen Verstoßes gegen die due process clause des 14. Amendmends für verfassungswidrig. Dabei distanzierte sich der Supreme Court ausdrücklich von seiner früheren Entscheidung Bowers v. Hardwick (1986) 42, in welcher er noch mehrheitlich die Auffassung vertrat, dass in den westlichen Zivilisationen homosexuelle Beziehungen seit jeher unmoralisch gewesen seien. In Lawrence v. Texas entschied die Merheit der Richter nunmehr gegen die Verfassungsmäßigkeit der texanischen Regelung. Justice Kennedy, der die Mehrheistmeinung begründete, hielt dabei auch die Entscheidung des EGMR in Dudgeon v. UK für bedeutend.43 Dort hatte der Straßburger Gerichtshof ein ähnliches Gesetz des Vereinigten Königreichs als Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK bewertet. Worin der Supreme Court genau die Bedeutung dieses EGMR-Urteils für die Auslegung des 14. Amendments sah, blieb jedoch unklar.44 Dieser Verweis auf die Rechtslage im Ausland wurde von Justice Scalia als „meaningless dicta“, ja sogar als „dangerous dicta“ bezeichnet.45 Für Scalia waren nur genuin amerikanische Wert- und Moralvorstellungen über Homosexualität entscheidend. Die Diskussionen innerhalb des Supreme Court in Lawrence v. Texas zeigen deutlich, dass die liberale Mehrheit im Supreme Court ausländische und internatio39 So etwa in: Trop v. Dulles, 356 U. S. 86 (1958) bezüglich der Frage, ob das 8. Amendment den Entzug der Staatsangehörigkeit als Strafe für begangenes Unrecht verbietet: „The civilized nations of the world are in virtual unanimity that statelessness is not to be imposed as punishment for crime. It is true that several countries prescribe expatriation in the event that their nationals engage in conduct in derogation of native allegiance. (. . .) But use of denationalization as punishment for crime is an entirely different matter. The United Nations’ survey of the nationality laws of 84 nations of the world reveals that only two countries, the Philippines and Turkey, impose denationalization as a penalty for desertion.“ Ähnlich: Coker v. Georgia, 433 U. S. 584 (1977) hinsichtlich der Festsstellung, dass die Todesstrafe als Sanktion für eine Vergewaltigung gegen das 8. Amendment verstößt: „It is thus not irrelevant here that, out of 60 major nations in the world surveyed in 1965, only 3 retained the death penalty for rape where death did not ensue. United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Capital Punishment 40, 86 (1968)“. Siehe auch: Enmund v. Florida, 458 U. S. 782 (1982): „[T]he climate of international opinion concerning the acceptability of a particular punishment is an additional consideration which is ‚not irrelevant.‘“ 40 Exemplarisch ist auf den Diskurs zwischen Justice Scalia und Justice Breyer hinzuweisen: A conversation between U. S. Supreme Court justices – The relevance of foreign legal materials in U. S. constitutional cases: A conversation between Justice Antonin Scalia and Justice Stephen Breyer, in: 3 International Journal of Constitutional Law 519 (2005). 41 Lawrence v. Texas, 539 U. S. 598 (2003). 42 Bowers v. Hardwick, 478 U. S. 186 (1986). 43 ECHR, Dudgeon v. United Kingdom, Series A, No. 45 (Urteil vom 22. 10. 1981). 44 Der Supreme Court äußerte sich dazu äußerst knapp: „Of even more importance, almost five years before Bowers was decided the European Court of Human Rights considered a case with parallels to Bowers and to today’s case“, Lawrence v. Texas, 539 U. S. 598 (2003), S. 573. 45 „The Court’s discussion of these foreign views (. . .) is therefore meaningless dicta. Dangerous dicta, however, since this Court (. . .) should not impose foreign moods, fads, or fashions on Americans.“ Lawrence v. Texas, 539 U. S., 598 (2003), Justice Scalia joined by The Chief Justice and Justice Thomas Dissenting, S. 598.
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nale Tendenzen nutzt, um eine dynamische Auslegung des 14. Amendements zu begründen, während die Gegenseite eine allein auf das innerstaatliche Recht fokussierte, historische Auslegung zur Zementierung der überkommenen Rechtsauffassung favorisiert. Der Konfl ikt um den dynamischen und international offenen Auslegungsansatz wird bezüglich der Auslegung des Verbots des „cruel und unusal punishment“ nach dem 8. Amendment noch deutlicher.46 Hier wird die Auseinandersetzung um die Berücksichtung von ausländischem Recht und Völkerrecht im Rahmen der Formel der „civilized standards of decency“ geführt. In Thompson v. Oklahoma (1988) 47 wird das Ergebnis, dass die Verhängung der Todesstrafe an unter 16-Jährigen die „civilized standards of decency“ verletzt, auch auf den Vergleich mit der Rechtslage im Vereinigten Königreich, in Australien, Neuseeland, Deutschland, Frankreich, Portugal, den Niederlanden und in den skandinavischen Länder gestützt.48 Fortgesetzt wird der Streit in der Entscheidung Atkins v. Virginia (2002) 49, in der es um die Todesstrafe für geistig behinderte Menschen geht. Der Streit kulminiert schließlich in der Entscheidung Roper v. Simmons (2005) 50. Dort weicht die Mehrheit der Richter unter Verweis auf die „evolving standards auf decency“ von der früheren Entscheidung Stanford v. Kentucky (1989) 51 ab, in welcher die Todesstrafe für unter 18-Jährige noch für verfassungsgemäß gehalten wurde. In seiner Begründung des Merheitsvotums verwies Justice Kennedy in breitem Umfang auf die ausländische und internationale Rechtslage. Auch in dieser Entscheidung wird allerdings keine zwingende rechtliche Relevanz dieser Praxis unterstellt, wohl aber könne – nach Ansicht der Mehrheit der Supreme Court-Richter – dadurch ein in den USA erkannter Auffassungswandel bestätigt werden.52 Eine hervorgehobene Bedeutung soll dabei der Rechtslage im Vereinigten Königreich zukommen, nicht nur aufgrund der historischen Verbindungen der beiden Staaten, sondern auch im Hinblick auf die Ursprünge des 8. Amendments, das der Declaration of Rights von 1689 nachempfunden sei. Das Vereinigte Königreicht hatte aber bereits im Jahr 1933 durch Gesetz den Vollzug der Todesstrafe an Minderjährigen untersagt.53 46 Vgl. dazu: Glensy, The use of International Law in U. S. constitutional adjudication, 25 Emory International Law Review 197 (2011), S. 237 ff. 47 Thompson v. Oklahoma, 487 U. S. 815 (1988). 48 „The conclusion that it would offend civilized standards of decency to execute a person who was less than 16 years old at the time of his or her offense is consistent with the views that have been expressed by respected professional organizations, by other nations that share our Anglo-American heritage, and by the leading members of the Western European community.“ Thompson v. Oklahoma, 487 U. S. 815 (1988), S. 830. Weitere Entscheidungen über das 8. Amendment, in denen auf die Ansichten der internationalen Gemeinschaft verwiesen wird, sind: Trop v. Dulles, 356 U. S. 86 (1958), Coker v. Georgia, 433 U. S., 584 (1977) und Enmund v. Florida, 458 U. S. 782 (1982). 49 Atkins v. Virginia, 536 U. S. 304 (2002). 50 Roper v. Simmons, 543 U. S. 551 (2005). 51 Stanford v. Kentucky, 492 U. S. 361 (1989). 52 „The opinion of the world community, while not controlling our outcome, does provide respected and significant confi rmation for our own conclusions.“ Roper v. Simmons, 543 U. S. 551 (2005), S. 24. 53 Children and Young Person’s Act, 23 Goe. 5, ch. 12.
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Justice Kennedy bezog sich zudem auf verschiedene völkerrechtliche Verträge, darunter die UN Kinderrechtskonvention, den internationalen Pakt über bürgerliche und politsche Rechte, die amerikanische Menschenrechtskonvention sowie die Afrikanische Charta der Rechte des Kindes, die allesamt die Todesstrafe an Minderjährigen verbieten. Dabei spielte es für seine Argumentation jedoch keine Rolle, dass die USA von all diesen Verträgen lediglich den internationalen Pakt über bürgerliche und politsche Rechte im Jahre 1992 ratifiziert hatten, wobei sie bezogen auf die relevante Klausel des Art. 6 Abs. 5 IPbpR zudem einen Vorbehalt erklärt hatten.54 Für seine Argumentation reichte es aus, dass die USA mit ihrer Praxis innerhalb der Weltgemeinschaft isoliert dastehe: „In sum, it is fair to say that the United States stands alone in a world that has turned its face against the juvenile death penalty“.55 Die dissentierenden Richter hatten unterschiedliche Vorstellungen von der Bedeutung des internationalen und ausländischen Rechts für die Auslegung des 8. Amendments. Justice O’Connor wollte dem internationalen Recht dann Beachtung schenken, wenn es ein durch die Auslegung nationalen Rechts gefundes Ergebnis unterstütze.56 Zugleich betonte sie aber die Einzigartigkeit des amerikanischen Rechts und damit den Vorrang einer Auslegung an innerstaatlichen Maßstäben.57 Dagegen lehnte Justice Scalia, dem sich Justice Thomas und Chief Justice Rehnquist inhaltlich anschlossen, die Einwirkung ausländischen und internationalen Rechts strikt ab.58 Bezogen auf die von Justice Kennedy angeführten völkerrechtlichen Verträge betonte Scalia, dass die bewusste Entscheidung des Präsidenten und des Kongresses, diesen Verträgen nicht beizutreten bzw. bezogen auf die Todesstrafe für Minderjährige einen Vorbehalt zu erklären, nicht durch den Supreme Court überspielt werden dürfe. Auch das Recht des Vereinigten Königreichs habe keine Bedeutung mehr, da sich beide Rechtssysteme seit der Unabhängigkeit der USA getrennt voneinander weiterentwickelt hätten.59
54 Die USA erklärten bei Ratifi kation zu Art. 6 Abs. 5 IPbpR, dass sie weiterhin das Recht hätten, „die Todesstrafe für Verbrechen zu verhängen, die von Personen begangen werden, die unter 18 Jahre alt sind.“ Elf andere Vertragsstaaten des IPbpR sowie der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen halten diesen Vorbehalt wegen Verstoßes gegen Ziel und Zweck des Paktes für unzulässig. Vgl. Concluding Observations of the Human Rights Committee: United States of America, U. N. Doc. CCPR/C/79/Add.50, A/50/40 (1995). 55 Roper v. Simmons, 543 U. S. 551 (2005), S. 23. 56 „At least, the existence of an international consensus of this nature can serve to confi rm the reasonableness of a consonant and genunine American consensus“, Roper v. Simmons, 543 U. S. 551 (2005), Justice O’Connor dissenting, S. 19. 57 „Obviously, American Law is distinctive in many respects, not least where the specific provisions of our Constitution and the history of its exposition so dictate“, Roper v. Simmons, 543 U. S. 19 (2005), Justice O’Connor dissenting, S. 19. 58 „More fundamentally, however, the basic premise of the Court’s argument – that American law should be conform to the laws of the rest of the world – ougt to be rejected out of hand“, Roper v. Simmons, 543 U. S. 551 (2005), Justice Scalia dissenting, S. 18. 59 Roper v. Simmons, 543 U. S. 551 (2005), Justice Scalia dissenting, S. 19 ff.
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IV. Die Geltung völkerrechtlicher Verträge im US-amerikanischen Recht Lässt man diese Entscheidungen Revue passieren, fallt auf, dass der Supreme Court bei der Inbezugnahme fremden Rechts keinen Unterschied zwischen ausländischem nationalem Recht einerseits und Völkerrecht andererseits macht. Ausländisches Recht wird mit Ausnahme des britischen common law an keiner Stelle ausdrücklich im amerikanischen Recht rezipiert. Es kann deshalb auch nur als unverbindliche persuasive authority Bedeutung haben. Für völkerrechtliche Verträge gibt es jedoch eine ausdrückliche Regelung in der US-amerikanischen Bundesverfassung. In Art. VI US-Verfassung heißt es: „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or which shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding.“ Diese Formulierung spricht auf den ersten Blick dafür, dass völkerrechtliche Verträge als innerstaatliches Recht gelten und so auch eine rechtliche Bindungswirkung für die Gerichte auslösen. Analysiert man die Norm näher, kann man zunächst feststellen, dass völkerrechtliche Verträge ipso iure „supreme law of the land“, also Bundesrecht mit Vorrang vor dem Recht der Einzelstaaten, werden sollen. Art. VI selbst sagt aber nichts über die Stellung völkerrechtlicher Verträge innerhalb des Bundesrechts aus. Insbesondere lässt sich aus dem Wortlaut des Art. VI kein Vorbehalt der materiellen Verfassungsmäßigkeit herleiten, der Voraussetzung für die Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge im innerstaatlichen Recht wäre. Als Bedingung für die Gültigkeit wird nur verlangt, dass sie „under the Authority of the United States“ zustande gekommen sind, womit die in Art. II US-Verfassung dem Präsidenten im Zusammenwirken mit dem Senat zugeschriebene Kompetenz zum Abschluss der Verträge als Teil der formellen Verfassungsmäßigkeit gemeint ist. Eine ausdrückliche Bindung an das materielle Verfassungsrecht besteht nur für Gesetze: „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof “. Hätte man eine vergleichbare Bindung der völkerrechtlichen Verträge an die gesamte Verfassung gewollt, dann würde die eigene Schranke „under the authority“ keinen Sinn machen. Der Supreme Court verhält sich hinsichtlich dieses textlichen Befundes, der deutlich für eine Differenzierung zwischen völkerrechtlichen Verträge und dem sonstigen Bundesrecht unterscheidet, jedoch nicht eindeutig. Während er in Missouri v. Holland (1920) noch erklärte: „Acts of Congress are the supreme law of the land only when made in pursuance of the Constitution, while treaties are declared to be so when made under the authority of the United States“60, stellte er hingegen in Reid v. Covert (1957) fest: „This Court has regularly and uniformly recognized the supremacy of the Constitution over a treaty.“61 Hier behandelt
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Missouri v. Holland, 252 U. S. 416 (1920), S. 433. Reid v. Covert, 354 U. S. 1 (1957), S. 17. Der Supreme Court verweist dabei ausdrücklich auf die Entscheidung Geofroy v. Riggs, 133 U. S. 258 (1890). 61
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er also völkerrechtliche Verträge und Bundesgesetze, bezogen auf die Bindung an die Verfassung, absolut gleich.62 Der Supreme Court hat aber schon frühzeitig deutlich gemacht, dass für das Verhältnis völkerrechtlicher Verträge zu US-amerikanischem Bundesrecht die lex posterior-Regel gilt. Nachdem der Supreme Court bereits im Head Money Case (1884) 63, wo völkerrechtliche Verträge mit einem Parlamentsgesetz kollidierten, im Ergebnis dem jeweils späteren Akt den Vorrang einräumte, formulierte er in der Entscheidung Whitney v. Robertson (1888) die lex posterior-Regel zum ersten mal ausdrücklich.64 Diese Regel gilt aber nicht im Verhältnis von völkerrechtlichen Verträgen zum Recht der Gliedstaaten. Dies hat der US Supreme Court in der vielbeachteten und kontovers diskutierten Entscheidung Missouri v. Holland (1920) klar gestellt.65
V. Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge Art. VI sagt zudem nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen ein im innerstaatlichen Recht gültiger völkerrechtlicher Vertrag unmittelbar anwendbar ist mit der Folge, dass daraus konkrete Rechte abgeleitet werden können. In der Leitentscheidung Foster & Elam v. Neilson aus dem Jahre 1829 stellte der Supreme Court fest, dass völkerrechtliche Verträge gemäß Art. VI US-Verfassung zwar ipso iure Bundesrecht werden, wobei der vorliegende Vertrag sich aber nicht unmittelbar an die Gerichte sondern nur an die politischen Organe wende, welche ihn ausführen müssten.66 In dieser Entscheidung ging es um den „Florida Purchase Treaty“ von 1819. Darin war vereinbart, dass „all the grants of land made before the 24th of January, 1818, by His Catholic Majesty, or by his lawful authorities (. . .) shall be ratified and confi rmed 62 Vgl. ebenso die Aussage: „This Court has also repeatedly taken the position that an Act of Congress, which must comply with the Constitution, is on a full parity with a treaty, and that, when a statute which is subsequent in time is inconsistent with a treaty, the statute to the extent of confl ict renders the treaty null. It would be completely anomalous to say that a treaty need not comply with the Constitution when such an agreement can be overridden by a statute that must conform to that instrument.“ Reid v. Covert, 354 U. S. 1 (1957), S. 18. 63 Head Money Cases, 112 U. S. 580 (1884). 64 „It follows, therefore, that when a law is clear in its provisions, its validity cannot be assailed before the courts for want of conformity to stipulations of a previous treaty not already executed. Considerations of that character belong to another department of the government. The duty of the courts is to construe and give effect to the latest expression of the sovereign will.“ Whitney v. Robertson, 124 U. S. 190 (1888), S. 195. 65 „(B)y Article II, § 2, the power to make treaties is delegated expressly, and by Article VI treaties made under the authority of the United States, along with the Constitution and laws of the United States made in pursuance thereof, are declared the supreme law of the land. If the treaty is valid, there can be no dispute about the validity of the statute under Article I, § 8, as a necessary and proper means to execute the powers of the Government.“ State of Missouri v. Holland, 252 U. S. 416 (1920), S. 432. 66 „Our Constitution declares a treaty to be the law of the land. It is consequently to be regarded in courts of justice as equivalent to an act of the legislature whenever it operates of itself, without the aid of any legislative provision. (. . .) But when the terms of the stipulation import a contract, when either of the parties engages to perform a particular act, the treaty addresses itself to the political, not the Judicial, Department, and the Legislature must execute the contract before it can become a rule for the Court.“ Foster & Elam v. Neilson, 27 U. S. 253 (1829), S. 314.
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to the persons in possession of the land“. Schon von seinem Wortlaut her war der Vertrag also nicht auf eine unmittelbare Anwendbarkeit ausgerichtet. Interessanter wurde die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit im Zusammenhang mit den internationalen Menschenrechtsstandards, die nach der Gründung der UNO zunehmend geltendes Völkervertragsrecht wurden. Angefacht wurde die Debatte durch die Supreme Court Entscheidung Oyama v. State of California aus dem Jahre 1948. Hierin erklärte der Supreme Court ein kalifornisches Gesetz, das Eigentumsverhältnisse von Ausländern regelte, wegen Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes des 14. Amendments für verfassungswidrig. Dabei berief sich Justice Black in einer concurring opinion ergänzend auch auf Art. 55 und 56 UN-Charta.67 Zwar verwarf der Supreme Court of California in seiner Entscheidung Fuji v. California (1950) 68 diesen Gedanken wieder und erklärte die Art. 55 und 56 UN-Charta ausdrücklich für non self-executing. Die Debatte wurde jedoch in der Folgezeit intensiv weitergeführt.69 Als die Vereinigten Staaten den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifizierten, erklärten sie ausdrücklich, dass die darin enthaltenen Menschenrechte nicht unmittelbar im US-amerikanischen Recht anwendbar sein sollen.70 Eine solche Erklärung macht aber nur vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendung Sinn. Bezogen auf das humanitäre Völkerrecht, wie es in den vier Genfer Konventionen und dem Haager Recht vereinbart wurde, hat der Supreme Court bei einigen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 mit Mehrheit angenommen, dass diese Regeln durch Transformation Teil des US-amerikanischen Rechts geworden sind. In Hamdi v. Rumsfeld (2004) 71 kam dies zwar noch nicht so klar zum Ausdruck. Der Antragsteller Hamdi, ein amerikanischer Staatsbürger, war von amerikanischen Streitkräften in Afghanistan festgenommen und als sog. enemy combatant auf einer Militärbasis innerhalb der USA inhaftiert worden. Rechtsgrundlage für die Verhaftung war eine gemeinsame Erklärung beider Häuser des Kon67 „There are additional reasons now why that law stands as an obstacle to the free accomplishment of our policy in the international field. One of these reasons is that we recently pledged ourselves to cooperate with the United Nations to „promote (. . .) universal respect for, and observance of, human rights and fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language or religion“. How can this nation be faithful to this international pledge if state laws which bar land ownership and occupancy by aliens on account of race are permitted to be enforced?“ Oyama v. California, 332 U. S. 633 (1948), S. 332. 68 Sei Fuji v. State of California, 38 Cal.2d 718 (1952). 69 Die nationalistisch-konservative Grundhaltung großer Teile der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit zu dieser Frage gipfelte in einem Vorschlag des republikanischen Senators Bricker für eine Verfassungsänderung (bekannt als Bricker-Amendment), in der u. a. die Geltung aller völkerrechtlichen Verträge unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Verfassung stehen sollten. Zwar konnte sich das Bricker-Amendment politisch nicht durchsetzen, dennoch nährte es in der Folgezeit weiter nationalistische Befürchtungen vor einer Fremdbestimmung der USA von außen. Vgl. dazu: Henkin, U. S. Ratification of Human Rights Conventions: The Ghost of Senator Bricker, 89 American Journal of International Law 341 (1995). 70 „That the United States declares that the provisions of articles 1 through 27 of the Covenant are not self-executing.“ United States Reservations, Understandings and Declarations, International Covenant on Civil and Political Rights, 138 Cong. Rec. S4781–01 (daily ed., April 2, 1992). 71 Hamdi v. Rumsfeld, 542 U. S. 507 (2004).
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gresses über die „Authorization for Use of Military Force“.72 Die Mehrheit im Supreme Court entschied, dass dieser Akt es nicht gestattet, einen Gefangenen unbegrenzt zu inhaftieren. Dieses Auslegungsergebnis stützte Justice O’Connor ohne nähere Begründung auf den aus der 3. Genfer Konvention und dem Haager Recht abgeleiteten kriegsrechtlichen Grundsatz, wonach eine Inhaftierung nicht über den Zeitraum der aktiven Feindseligkeiten hinaus andauern darf.73 Allerdings nahm Justice O’Connor bei ihrerer Argumentation Bezug auf die Entscheidung Ex parte Qurin aus der Zeit des 2. Weltkrieges. Dort hatte der Supreme Court das Kriegsrecht mit der Begründung angewendet, es sei durch das US-amerikanische common law in innerstaatliches Recht inkorporiert worden.74 Diese Auffassung hat der Supreme Court in Hamdan v. Rumsfeld (2006) 75 bestätigt, nachdem bei den Unteregerichten immer noch Unsicherheit über die Wirksamkeit der völkerrechtlichen Regelungen bestand. In der Eingangsinstanz hatte der District Court den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen für unmittelbar anwendbar erklärt.76 Der Court of Appeals for the District of Columbia Circuit hob dieses Urteil auf und wies die Argumentation der Vorinstanz, wonach Art. 3 der Genfer Konventionen unmittelbar anwendbar sei, zurück.77 Der Supreme Court stellte noch einmal unter Bezugnahme auf Hamdi v. Rumsfeld klar, dass die Norm durch Transformation Teil des US-amerikanischen Kriegsrechts geworden ist.78 Fehlt eine solche innerstaatliche Anknüpfung, dann neigt der Supreme Court dazu, aus dem Vertrag keine subjektiven Rechte abzuleiten. Exemplarisch dafür ist die Entscheidung United States v. Alvarez-Machain (1992)79, in der es um die Rechtmäßigkeit der gewaltsamen Entführung eines mexikanischen Staatsangehörigen aus 72
Public Law 107–40, 115 STAT. 224 (2001). „It is a clearly established principle of the law of war that detention may last no longer than active hostilities. See Article 118 of the Geneva Convention (III) Relative to the Treatment of Prisoners of War, (. . .) (Prisoners of war shall be released and repatriated without delay after the cessation of active hostilities). See also Article 20 of the Hague Convention (II) on Laws and Customs of War on Land, (. . .) (as soon as possible after conclusion of peace); Hague Convention (IV), (. . .) (conclusion of peace (Art. 20)); Geneva Convention, (. . .) (repatriation should be accomplished with the least possible delay after conclusion of peace (Art. 75))“ Hamdi v. Rumsfeld, 542 U. S. 507 (2004), S. 12 ff. 74 „Congress has incorporated by reference, as within the jurisdiction of military commissions, all offenses which are defi ned as such by the law of war (compare Dynes v. Hoover, 20 How. 65, 82), and which may constitutionally be included within that jurisdiction. Congress had the choice of crystallizing in permanent form and in minute detail every offense against the law of war, or of adopting the system of common law applied by military tribunals so far as it should be recognized and deemed applicable by the courts. It chose the latter course.“ Ex Parte Quirin, 317 U. S. 1 (1942), S. 30. 75 Hamdan v. Rumsfeld, 548 U. S. 557 (2006). 76 344 F. Supp. 2d 152 (2004), S. 158 ff. 77 415 F. 3d 33 (D. C. Cir., 2005), S. 38. 78 „We may assume that „the obvious scheme“ of the 1949 Conventions is identical in all relevant respects to that of the 1929 Geneva Convention, and even that that scheme would, absent some other provision of law, preclude Hamdan’s invocation of the Convention’s provisions as an independent source of law binding the Government’s actions and furnishing petitioner with any enforceable right. For, regardless of the nature of the rights conferred on Hamdan, (. . .) they are, as the Government does not dispute, part of the law of war. (. . .) And compliance with the law of war is the condition upon which the authority set forth in Article 21 (of the Uniform Code of Military Justice, Anm. d. Verf.) is granted.“ Hamdan v. Rumsfeld, 548 U. S. 557 (2006), S. 626 f. 79 U. S. v. Alvarez-Machain, 504 U. S. 655 (1992). 73
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seinem Heimatland in die USA ging, um ihn dort vor Gericht stellen zu können. Zwischen den USA und Mexiko besteht ein Auslieferungsvertrag, der Mexiko das Recht einräumt, eigene Staatsbürger zum Zwecke der Strafverfolgung nicht an die USA auszuliefern. Der Antragsteller machte geltend, dass diese Regel durch seine gewaltsame Entführung in die USA verletzt worden sei und dass darin ein Prozesshindernis liege. Während der District Court80 und der Court of Appeals81 dieser Argumentation folgten und den Auslieferungsvertrag als verletzt ansahen, entschied der Supreme Court gegen den Antragsteller. Die Mehrheit der Supreme Court Richter vertrat die Auffassung, dass der Auslieferungsvertrag keine Regelung bezüglich einer gewaltsamen Entführung enthalte und deshalb nicht anwendbar sei. Sie bezogen sich auf die Entscheidungen Ker v. Illinois (1886) 82 und United States v. Rauscher (1886) 83. In letzterem Fall war Rauscher auf der Grundlage eines Auslieferungsvetrages in die USA überstellt worden. Der Supreme Court leitete aus dem Vertrag das Verbot ab, Rauscher wegen anderer Taten zu verfolgen, als denjenigen, die Gegenstand des Auslieferungsbegehrens waren. Für sein Ergebnis war aber nicht alleine der Vertrag und dessen völkerrechtskonforme Auslegung sondern auch der Umstand maßgeblich, dass der US-amerikanische Bundesgesetzgeber diese Frage entsprechend geregelt hatte.84 In Ker v. Illinois dagegen war der Antragsteller wie im zu entscheidenden Fall gewaltsam in die USA verschleppt worden. Hier waren die auf den Auslieferungsvertrag Bezug nehmenden Bundesgesetze nicht anwendbar und der Supreme Court verweigerte dem Vertrag die Relevanz für das anhängige Strafverfahren.85 Die Mehrheit der Richter ging jedoch weder in diesem Fall noch im Fall Alvarez Machain darauf ein, dass die gewaltsame Verschleppung eines Menschen aus fremdem Staatsgebiet eine offensichtliche Verletzung des Völkerrechts darstellt und deshalb die gefundene Auslegung des Vertrages gelinde gesagt grob völkerrechtswidrig ist.86 Der Supreme Court interessiert sich auch dann nicht für eine völkerrechtskonforme Auslegung, wenn diese durch internationale Gerichte, namentlich den IGH, vorgenommen wird und die USA sogar als Partei an die Entscheidung gebunden sind. So hatte der Supreme Court in Sanchez-Llamas v. Oregon (2006) 87 über zwei verschiedene Anträge zu entscheiden, die beide die Verletzung von Art. 36 der Wiener Konsularrechtskonvention (WKK) zum Gegenstand hatten. Der zweite Antrag betraf die Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 36 WKK die Rechtskraft eines strafge80
United States v. Caro-Quintero, 745 F. Supp. 599, 614 (C. D. Cal. 1990). United States v. Alvarez-Machain, 946 F.3d 1466 (9th Cir. 1991). 82 Ker v. Illinois, 119 U. S. 436 (1886). 83 United States v. Rauscher, 119 U. S. 407 (1886). 84 United States v. Rauscher, 119 U. S. 407 (1886) S. 423. 85 Ker v. Illinois, 119 U. S. 436 (1886), S. 442 f. 86 Diesen Aspekt kritisierte Justice Stevens in seiner dissenting opinion scharf: „It is shocking, that a party to an extradition treaty might believe that it has secretly reserved the right to make seizures of citizens in the other party’s territory. (. . .) I suspect most courts throughout the civilized world – will be deeply disturbed by the „monstruous“ decision the Court announces today. For every Nation that has an interest in preserving the Rule of Law is affected, directly or indirectly, by a decision of this character.“ U. S. v. Alvarez-Machain, 504 U. S. 655 (1992), S. 678 ff., Justice Stevens with Justice Blackmun and O’Connor dissenting. 87 Sanchez-Llamas v. Oregon, 548 U. S. 331 (2006). 81
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richtlichen Urteils durchbrechen kann. Der Supreme Court hatte diese Frage bereits zuvor in Breard v. Greene (1998) 88 negativ entschieden.89 Der Antragsteller berief sich jedoch darauf, dass seit dieser Entscheidung zwei Urteile des Internationalen Gerichtshofes in den Fällen LaGrand (2001) 90 und Avena (2004) 91 ergangen waren, in denen der IGH zu dem Ergebnis kam, dass die Heilung einer Verletzung von Art. 36 WKK nicht durch einen Einwendungsausschluss nach Rechtskraft des strafgerichtlichen Urteils unmöglich gemacht werden dürfe. Der Supreme Court wies dieses Vorbringen zurück, in dem er betonte, dass die Auslegung amerikanischen Rechts allein amerikanischen Gerichten zustehe. Den IGH-Urteilen LaGrand und Avena könne, obwohl sie jeweils gegen die USA ergangen waren und diese gemäß Art. 94 UN-Charta zur Befolgung verpfl ichtet sind, allenfalls eine „respectful consideration“ zukommen.92 Diese Auffassung hat er in der Entscheidung Medellín v. Texas (2008) 93 noch einmal bestätigt, obwohl Präsident Bush nach der Entscheidung Avena des IGH ein Memorandum erlassen hattte, in dem er die amerikanischen Gerichte aufforderte, dem Urteil des IGH Folge zu leisten.94 Mit diesen Entscheidungen setzte sich der Supreme Court bewusst in Widerspruch nicht nur zum IGH sondern auch zu den Empfehlungen der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte, die in einer Individualbeschwerde gegen die USA95 die Amerikanische Deklaration der Rechte und Pfl ichten des Menschen, welche sie im Lichte von Art. 36 WKK auslegte und die nach Ansicht der Kommission für alle OAS-Mitgliedstaaten rechtlich bindend ist, als verletzt ansah.96 88
Breard v. Greene, 523 U. S. 371 (1998). Der Supreme Court nahm in dieser Entscheidung auch keine Notiz von dem zuvor vom InterAmerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte erstellten Advisory Opinion OC-16/99 betreffend das Recht auf konsularischen Beistand. vgl. I/A Court H. R., The Right to Information on Consular Assistance. In the Framework of the Guarantees of the due Process of Law, Advisory Opinion OC16/99, October 1, 1999, Series A No. 16. Die Inter-Amerikanische Kommission und der Inter-Amerikanische Gerichtshof vertreten die Ansicht, dass für die OAS-Mitgliedstaaten aus der OAS-Charta bindende Menschenrechtsverpfl ichtungen, die in der Amerikanischen Deklaration der Rechte und Pfl ichten der Menschen konkretisiert sind, bestehen, vgl. etwa: I/A Court H. R., Interpretation of the American Declaration of the Rights and Duties of Man within the Framework of Article 64 of the American Convention on Human Rights, Advisory Opinion OC-10/89, July 14, 1989, Series A No. 10. 90 LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment of June 27, 2001, I. C. J. Rep. 2001, 466 ff. 91 Case Concerning Avena and other Mexican Nationals (Mexico v. United States of America), Judgement of March 31, 2004, I. C. J. Rep. 2004, 12 ff. 92 „Although the ICJ’s interpretation deserves respectful consideration, (..) we conclude that it does not compel us to reconsider our understanding of the Convention in Breard.“ Sanchez-Llamas v. Oregon, 548 U. S. 331 (2006), S. 18. 93 Medellín v. Texas, 552 U. S. 491 (2008). 94 „I have determined, pursuant to the authority vested in me as President by the Constitution and the laws of the United States of America, that the United States will discharge its international obligations under the decision of the International Court of Justice [in Avena], by having State courts give effect to the decision in accordance with general principles of comity in cases fi led by the 51 Mexican nationals addressed in that decision“, Brief for the United States as Amicus Curiae Supporting Respondent in Medellin v. Dretke, U. S. Supreme Court Docket no. 04–5928. 95 IACHR, Case 11.753, Ramon Martinez Villareal v. United States, Report No. 52/02 (2002), Besprechung: Israel de Jesus Butler, The US and Brazil before the Inter-American Commission on Human Rights: Recent Cases, Human Rights Law Review, Vol. 4, No. 2, 2004, S. 295 ff. 96 „With regard to the State’s assertion that the American Declaration constitutes no more than a 89
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VI. Die Geltung und Wirkung des Völkergewohnheitsrechts im US-amerikanischen Recht Wie breits eingangs geschildert, ist in der US-amerikanischen Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass das bis zur Gründung der USA als unabhängigen Staat existierende Völkergewohnheitsrecht („law of nations“), welches als Teil des englischen common law auch Bestandteil des Rechts der amerikanischen Kolonien war, mit der Gründung der USA und ihrer 13 Bundesstaaten in das Recht der einzelnen Bundesstaaten eingegangen ist.97 Umstritten ist aber die Frage, ob auch das nach der Gründung der USA entstandene Völkergewohnheitsrecht in die US-amerikanische Rechtsordnung Eingang findet und damit auch Teil des „law of the land“ ist. Eine dem Art. 25 GG vergleichbare ausdrückliche Geltungsanordnung für Völkergewohnheitsrecht fehlt in der amerikanischen Verfassung. Ebenso fehlt eine dem Art. 100 Abs. 2 GG vergleichbare Vorschrift, die einem Gericht die Kompetenz verleiht, verbindlich festzustellen, ob und mit welchem Inhalt eine völkergewohnheitsrechtliche Regel Bestandteil des innerstaatlichen Rechts geworden ist. Wie gezeigt, bestimmt Art. VI US-Verfassung nur, dass völkerrechtliche Verträge Teil des „supreme law of the land“ sind. Einzig Art. I § 8 Cl. 10 US-Verfassung nimmt Bezug auf Völkergewohnheitsrecht, in dem er die Kompetenz des Kongresses regelt „to define and punish (. . .) offenses against the Law of Nations.“ Gleichwohl hat der Supreme Court in der grundlegenden Entscheidung The Paquete Habana aus dem Jahre 190098 festgestellt: „International Law is part of our Law, and must be ascertained and administered by the courts of justice of appropriate jurisdiction, as often as questions of right depending upon it are duly presented for their determination. For this purpose, where there is no treaty, and no controlling executive or legislative act or judicial decision, resort must be had to the customs and usages of civilized nations; and, as evidence of these, to the works of jurists and commentators, who by years of labor, research and experience, have made themselves peculiarly well acquainted with the subjects of which they treat.“99 Der Supreme Court geht demnach davon aus, dass Völkerrecht, also auch Völkergewohnheitsrecht, Bestandteil des US-Rechts ist. Dieses muss von den zuständigen amerikanischen Gerichten festgestellt und angewandt werden, soweit kein Vertrag, Exekutivakt, Legislativakt oder eine gerichtliche Entscheidung vorliegt.100 Der vom Supreme recommendation to OAS member states, the Commission reiterates the well-established precept, articulated in the admissibility report in this matter, that the American Declaration is a source of international obligations for the United States and other OAS member states that are not parties to the American Convention on Human Rights.“ IACHR, Case 11.753, Ramon Martinez Villareal v. United States, Report No. 52/02 (2002), Rn. 96. 97 Restatement of the Law Third: The Foreign Relations Law of the United States, S. 40. 98 The Paquete Habana, 175 U. S. 677 (1900). In dieser Entscheidung musste der Supreme Court in Ausübung seiner Kompetenz über die Seegerichtsbarkeit gemäß Art. Art. III § 2 sec. 1 Verfassung über die Rechtmäßigkeit einer Prise und der Verpfl ichtung zur Leistung von Schadensersatz an den Schiffseigentümer urteilen. Da die Frage der Rechtmäßigkeit der Prise nicht ausdrücklich geregelt war, griff der Supreme Court auf die „customs and usages of civilized nations“ zurück. 99 The Paquete Habana, 175 U. S. 677 (1900), S. 700. 100 Die Nachrangigkeit von Völkergewohnheitsrecht gegenüber Akten der drei Staatsgewalten ha-
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Court in The Paquete Habana postulierte Grundsatz „International law is part of our law“ legt nahe, von einem monistischen Verhältnis zwischen Völkerrecht und amerikanischem Recht auszugehen.101 Danach wäre Völkergewohnheitsrecht automatisch Bestandteil der amerikanischen Rechtsordnung, ohne dass es eines innerstaatlichen Umsetzungs- bzw. Transformationsaktes bedürfte. Dafür könnte auch die Intention der Gründungsväter der US-Verfassung sprechen, die die USA als gleichberechtigten Staat in der Völkerrechtsgemeinschaft eingliedern wollten.102 Darüber hinaus haben zahlreiche Entscheidungen des Supreme Court und anderer Bundesgerichte aus dem 18. und 19. Jhrd. regelmäßig festgestellt, dass das „law of nations“ Teil des Rechts der USA ist.103 Die monistische Deutung des Verhältnisses des amerikanischen Rechts zum Völkerrecht wurde im Laufe der Zeit jedoch durch Rechtsprechung und Literatur aufgegeben. Zwar ist auch heute noch allgemein anerkannt, dass die amerikanische Rechtsordnung dem Völkergewohnheitsrecht grds. zugänglich ist.104 Allerdings wird eine automatische Inkorporation des Völkergewohnheitsrechts als Ganzes ins amerikanische Recht abgelehnt. Völkergewohnheitsrecht ist nicht per se Teil der „laws of the United States“, sondern erst dann, wenn es durch amerikanische Gerichte durch ihre Rechtsprechung aufgegriffen und auf diesem Wege ins common law transformiert wird. Da der in The Paquete Habana postulierte Grundsatz, dass Völkergewohnheitsrecht Teil des US-amerikanischen Rechts ist und von den Gerichten im Falle der Lückenhaftigkeit des amerikanischen Rechts berücksichtigt werden muss, bislang vom Supreme noch nicht aufgehoben worden ist, besitzt er bis heute Gültigkeit und bindet ben untere Gerichte mehrfach bestätigt: vgl. etwa: Committee of U. S. Citizens Living in Nicaragua v. Reagan, 859 F.2d 929 (D. C. Cir. 1988), 938 f: „Statutes inconsistent with principles of customary international law may well lead to international law violations. But within the domestic legal realm, that inconsistent statute simply modifies or supersedes customary international law to the extent of the inconsistency. (. . .) the law in this court remains clear: no enactment of Congress can be challenged on the ground that it violates customary international law.“; siehe auch: Garcia-Mir v. Meese, 788 F.2d 1446 (11th Cir. 1986), 1455, cert. denied, 479 U. S. 889 (1986): „Thus we hold that the executive acts here evident constitute a sufficient basis for affi rming the trail court’s fi nding that international law does not control. Even if we were to accept, arguendo, the appellees’ interpretation of „controlling executive act“, The Paquete Habana also provides that the reach of international law will be interdicted by a controlling judicial decision.“ 101 So auch: Dubinski, International Law in the Legal System of the United States, 58 American Journal of Comparative Law Supp. 455 (2010), S. 464. 102 Die Intentionen der Gründungsväter der US-Verfassung kommen deutlich in den Federalist Papers zum Ausdruck, eine Serie von 85 Aufsätzen und Essays von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay, The Federalist Nos. 1–85 (Alexander Hamilton, John Jay & James Madison), reprinted in: A Commentary on the Constitution of the United States (Edward Mead ed., Random House 1937). 103 Skinner, When Customary Law Violations are under the Laws of the United States, 36 Brooklyn Journal of International Law 205 (2010–2011), S. 213. So. auch: The Nereide, 13 U. S. (9 Cranch) 388, (1815), S. 423: „[T]he Court is bound by the law of nations which is part of the law of the land.“ Vgl. auch die Aussagen von Attorney Generals aus dem 19 Jhrds: 11 Op. Att’y Gen. 297, 299 (1865): „That the laws of the nations constitute a part of the laws of the land is established from the face of the Constitution, upon principle and authority.“; ähnlich: 1 Op. Att’y Gen. 566 (1822), S. 570 f.; 7 Op. Att’y Gen. 495, (1855), S. 503: „The laws of the United States [include] the Constitution, treaties, acts of Congress (. . .) and the law of nations, public and private, as administered by the Supreme Court, and Circuit and District Courts of the United States“. 104 Vgl. Restatement of the Law Third: The Foreign Relations Law of the United States, S. 41.
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somit als common law-Grundsatz alle unter dem Supreme Court stehenden Bundesund Landesgerichte als mandatory authority.105 Dieser Grundsatz kann daher als Anknüpfungspunkt für eine grundsätzliche innerstaatliche Geltung von Völkergewohnheitsrecht und eine daraus folgende Bindung der Judikative an das Völkergewohnheitsrecht gesehen werden. Diese durch The Paquete Habana begründete Geltungsanordnung für Völkergewohnheitsrecht im Bereich des common law beschränkt sich mangels gegenteiliger Rechtsprechung nicht nur auf den Vollzug unmittelbar anwendbarer Regeln des Völkergewohnheitsrechts, sondern umfasst die gesamten Regeln des Völkergewohnheitsrechts, die dann mittelbar als Auslegungshilfe für andere innerstaatliche Normen herangezogen werden müssen. Die Judikative hat somit in geeigneten Fällen subsidiär Völkergewohnheitsrecht anzuwenden. Durch die Rechtsprechung der Gerichte wird dann eine Transformation des Völkergewohnheitsrechts im Einzelfall in amerikanisches Recht bewirkt.106 Bedingt durch die Dogmatik des amerikanischen common law, das mit dem stark ausgeprägten amerikanischen Föderalismus eng verknüpft ist, wird in der amerikanischen Literatur darüber gestritten, welche Gerichte (Landes- oder Bundesgerichte) zur Feststellung und Anwendung von Völkergewohnheitsrecht befugt sind. Im amerikanischen Rechtssystem wird insoweit zwischen dem common law auf Landesebene sowie dem sog. federal common law auf Bundesebene unterschieden. Da das amerikanische common law an die britische Rechtstradition des common law anknüpft, und dieses bei der Unabhängigkeit der Kolonien in das Landesrecht der US Bundesstaaten inkorporiert wurde, fällt die Bildung von common law grds. in die Kompetenz der Landesgerichte.107 Das federal common law hat sich erst im Laufe der Zeit fallweise entwickelt.108 Der Supreme Court hat in Erie R. R. Co. v. Tompkins (1938) 109 festgestellt, dass die Bundesgerichte grds. an das einzelstaatliche Recht, auch an das von den einzelstaatlichen Gerichten erschaffene common law, gebunden seien und dieses grds. nicht durch eigenes federal common law ersetzen könnten. Gleichwohl hat der Supreme Court in Erie die Möglichkeit offen gelassen, dass common law in bestimmten Enklaven auch von den Bundesgerichten erzeugt werden und dann als sog. federal common law die Landesgerichte bindet. Federal common law existiert zum einen dann, wenn der Kongress den Bundesgerichten die Kompetenz zur Schaffung von common law ausdrücklich zugewiesen hat.110 Darüber hinaus hat der Supreme Court im Fall Clearfield Trust Co. v. United States (1943) 111 anerkannt, dass Bundesgerichte common law in den Fällen erschaffen dürfen, in denen eine bundesgerichtliche Entscheidungsregel notwendig ist, um ausschließliche föderale Interes105 So auch: Kane, The Trial Judge’s Vantage Point, 35 Denver Journal of International Law & Policy 379 (2007), S. 381. 106 Für eine Transformation: Skinner, Customary International Law, Federal Common Law, and Federal Court Jurisdiction, 44 Valparaiso University Law Review 825. 107 Tribe, Constitutional Law (1999), S. 157. 108 Dazu: Skinner, When Customary Law Violations are under the Laws of the United States, 36 Brooklyn Journal of International Law 205 (2010–2011), S. 223 ff. 109 Erie R. R. Co. V. Tompkins, 304 U. S. 64, 58 S. Ct. 817, 82 L.Ed. 1188 (1938). Dadurch „overruled“: Swift v. Tyson (41 U. S. (16 Pet.) 1, 10 L.Ed. 865 (1842). 110 Dies ist etwa in den Bereichen des admiralty law, antitrust law, bankruptcy law, interstate commerce und der civil rights erfolgt. 111 Clearfi eld Trust Co. v. United States, 318 U. S. 363 (1943).
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sen oder verfassungsrechtliche Interessen zu schützen, wenn der Kongress keine Regelung dazu erlassen hat und die Anwendung von Landesrecht unakzeptable Konsequenzen im Sinne einer Rechtszersplitterung oder Rechtsunsicherheit erzeugen würde. Zusammengefasst besteht eine Kompetenz der Bundesgerichte zur Bildung von federal common law also dann, wenn eine Gesetzeslücke vorliegt, eine grundsätzliche (implizite) Regelungszuständigkeit des Bundes besteht sowie ein Bedürfnis zur Schaffung einer bundeseinheitlichen Rechtslage gegeben ist.112 An diese Grundsätze des common law im föderalen System angelehnt wird die Rangstufe des Völkergewohnheitsrechts im innerstaatlichen Recht kontrovers diskutiert. Dabei stehen sich in der amerikanischen Rechtswissenschaft zwei Schulen gegenüber, die als revisionists und als modernists bezeichnet werden. Die revisionists lehnen die Existenz des Völkergewohnheitsrechts auf der Stufe des Bundesrechts ab. Vielmehr könne Völkergewohnheitsrecht nur auf der Stufe des Rechts der einzelnen Bundesstaaten existieren. Demnach seien Bundesgerichte nicht dazu befugt, Völkergewohnheitsrecht als federal common law zu bestimmen.113 Demgegenüber sehen die modernists das Völkergewohnheitsrecht auf der gleichen Stufe wie Bundesrecht.114 Der Supreme Court sah sich bis ins frühe 20. Jahrhundert nicht als befugt an, die Feststellung einer Regel des Völkergewohnheitsrecht durch ein Landesgericht zu überprüfen.115 Auch nachdem der Kongress durch den Judiciary Act von 1875 den unteren Bundesgerichten „federal question“ Jurisdiktion gab, betrachteten die Bundesgerichte Fragen des Völkergewohnheitsrechts, im Unterschied zu Völkervertragsrecht, nicht als federal questions. Diese Auffassung hat sich jedoch verändert. Heutzutage betrachten Bundesgerichte Fragen des Völkergewohnheitsrechts als einen Bereich, für den die Schaffung von federal common law grds. zulässig ist. Dafür spricht, dass die Regelung der auswärtigen Beziehungen in die ausschließliche Bundeskompetenz fällt und sich daraus die Notwendigkeit einer einheitlichen gesamtstaatlichen Regelung in diesem Bereich ergibt. Um zu verhindern, dass Landesgerichte für sich eigenständig eine Regel des Völkergewohnheitsrechts interpretieren und es so zu einer Rechtszersplitterung kommt, muss notwendigerweise auch eine Kompetenz der Bundesgerichte zur verbindlichen Feststellung von Völkergewohnheitsrecht bestehen.116 Dafür spricht auch die Argumentation des Supreme Court in der Entschei112 The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States (1992), Stichwort „Federal Common Law“. Field, Sources of Law: The Scope of Federal Common Law, 99 Harvard Law Review 881 (1986), S. 886. 113 Diese Auffassung vertreten etwa: Bradley/Goldsmith, Customary International Law as Federal Common Law: A Critique of the Modern Postition, 110 Harvard Law Review 815 (1997). 114 So etwa: Koh, Is International Law really State Law, 111 Harvard Law Review 1824. 115 Restatement of the Law Third: The Foreign Relations Law of the United States, S. 41. 116 Vgl. die Aussage von Justice Sutherland in United States v. Belmont, 301 U. S. 324, 331, 57 S. Ct. 758, 761, 81 L.Ed. 1134 (1937): „Plainly, the external powers of the United States are to be exercised without regard to state laws or policies. (. . .) And while this rule in respect of treaties is established by the express language of cl. 2, Art. VI, of the Constitution, the same rule would result in the case of all international compacts and agreements from the very fact that complete power over international affairs is in the national government and is not and cannot be subject to any curtailment or interference on the part of the several states. (. . .) In respect of all international negotiations and compacts, and in respect or our foreign relations generally, state lines disappear.“ In diesem Sinne auch Jessup, The Doctrine of Erie Railroad v. Tompkins Applied to International Law, 33 American Journal of International Law 740
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dung Banco Nacional de Cuba Sabbatino (1964) 117 hinsichtlich der act of state doctrine: „We are constrained to make it clear that an issue concerned with a basic choice regarding the competence and function of the Judiciary and the National Executive in ordering our relationships with other members of the international community must be treated exclusively as an aspect of federal law.“118 Zwar sprach der Supreme Court hier nicht explizit Völkergewohnheitsrecht an, dennoch gab er damit implizit zu erkennen, dass er für sich die Kompetenz in Anspruch nimmt, in einem Bereich federal common law zu entwickeln, in dem die auswärtigen Beziehungen der USA berührt sind. In ähnlicher Weise argumentierte der Supreme Court in dem Fall Texas Industries, Inc. v. Radcliff Materials, Inc. (1981): „(A)bsent some congressional authorization to formulate substantive rules of decision, federal common law exists only in such narrow areas as those concerned with the rights and obligations of the United States, interstate and international disputes implicating the confl icting rights of States or our relations with foreign nations and admiralty cases. In these instances, our federal system does not permit the controversy to be resolved under state law, either because the authority and duties of the United States as sovereign are intimately involved or because the interstate or international nature of the controversy makes it inappropriate for state law to control.“119 Damit hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass Völkergewohnheitsrecht im USamerikanischen Recht wie federal common law behandelt wird und eine bundesgerichtliche Zuständigkeit für die selbständige Feststellung einer Regel des Völkergewohnheitsrechts besteht.120 Diese Feststellungen der Bundesgerichte sind dann als federal common law für alle unteren Gerichte, auch Landesgerichte, bindend.
VII. Fazit Die gegenwärtig in vielen US-Bundestaaten vorzufi ndenden Tendenzen, durch Gesetz oder Verfassungs-Amendment amerikanischen Gerichten zu untersagen, bei ihrer Entscheidungsfi ndung Völkerrecht zu berücksichtigen, verstoßen gegen die amerikanische Verfassung. Im Falle von völkerrechtlichen Verträgen liegt ein klarer Verstoß gegen Art. VI US-Verfassung vor, der nicht nur eine Geltungsanordnung für völkerrechtliche Verträge im US-amerikanischen Recht beinhaltet, sondern darüber hinaus eine unmittelbare Bindung der innerstaatlichen Gerichte an völkerrechtliche Verträge vorschreibt, die in der Rechtsprechung jedenfalls als objektives Recht berücksichtigt werden müssen. Aber auch für Völkergewohnheitsrecht verstößt ein Berücksichtigungs- und Zitierverbot gegen die amerikanische Verfassung. Zwar (1939): „It would be unsound as it would be unwise to make our state courts our ultimate authority for pronouncing the rules of international law.“ 117 Banco Nacional de Cuba v. Sabbatino, 376 U. S. 398 (1964). Darin ging es um die Klage eines amerikanischen Unternehmens gegen Kuba, das durch Verstaatlichung der kubanischen Zuckerindustrie im Zuge der kubanischen Revolution entschädigungslos enteignet wurde. Der Supreme Court erklärte sich für unzuständig nach der act of state doctrine, wonach Hoheitsakte fremder Staaten nicht vor amerikanischen Gerichten angreif bar sind. 118 Banco Nacional de Cuba v. Sabbatino, 376 U. S. 398 (1964), S. 425. 119 Texas Industries, Inc. v. Radcliff Materials, Inc., 451 U. S. 630 (1981), S. 641. 120 Restatement of the Law Third: The Foreign Relations Law of the United States, S. 42.
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schweigt der Verfassungstext hinsichtlich des Einflusses von Völkergewohnheitsrecht auf das innerstaatliche Recht, jedoch ergibt sich unter Berücksichtung der Intention der Verfassungsväter, verfassungsdogmatischer Aspekte sowie der frühen Rechtsprechung des Supreme Courts, dass amerikanische Gerichte Völkergewohnheitsrecht dann als „persuasive authority“ berücksichtigen dürfen, ja sogar müssen, wenn das amerikanische Recht entweder darauf selbst verweist oder wenn es lückenhaft ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die jüngere Rechtsprechung des Supreme Courts inkonsequent und lässt eine klare Dogmatik hinsichtlich der Einwirkung des Völkerrechts auf das innerstaatliche Recht vermissen. Die teils von heftigen Wortgefechten begleiteten Diskussionen innerhalb des Supreme Courts über die Zitierung nicht amerikanischen Rechts belegen, dass die Argumentation einzelner Richter mehr von emotionalen Motiven und von persönlichen Grundhaltungen bestimmt ist als von diskursiven Auseinadersetzungen auf der Basis rechtlicher Normen und juristischer Methodik. Dies ist aus zweierlei Gründen bedauerlich: Zum einen ist eine völkerrechtsskeptische bzw. völkerrechtsfeindliche Grundhaltung für die Fortentwicklung des nationalen Rechts äußerst abträglich, da diese durch die Abschottung von jeglichem internationalen Einfluss in innerstaatliche Rechts- und Moralvorstellungen gleichsam „versteinert“ wird. Zum anderen ist die Abkehr vom Völkerrecht auch aus Sicht der internationalen Staatengemeinschaft bedauerlich. Der Supreme Court versäumt es, einen Beitrag für die Fortentwicklung des Völkerrechts zu liefern und so im Kreise der nationalstaatlichen obersten Gerichte eine Vorreiter- und Vorbildfunktion einzunehmen.
II. Afrika
Kenya’s 2010 Constitution by
Christina Murray* On 27 August 2010, to domestic and international acclaim, President Kibaki of Kenya formally promulgated a new Kenyan constitution at a public ceremony in Nairobi attended by thousands of people. It is ambitious in every sense and many Kenyans see it as the basis of a complete transformation of law, economics and politics in Kenya. It imposes checks on the executive, which has up to now had enormous, unfettered power; it sets out principles of leadership and integrity that apply to all officers of the state; it introduces a system of devolved government with a new ‘territorial’ second chamber that resembles the Bundesrat in some ways; and it provides a framework for dealing with land, which has been a deeply contentious issue since independence. A new top court and a newly constituted judicial service commission are to contribute to the reform of the judiciary; all sitting judges are to be ‘vetted’ for their suitability to continue to serve; and an expansive Bill of Rights secures both civil and political and social and economic rights. This constitution is the culmination of a long and troubled constitution-making process. Kenya was engaged in constitutional reform in one way or another from 1991 when the notorious provision declaring Kenya a one-party state was removed from the Constitution. In 2005, after a massive and costly process, a totally revised constitution was rejected at a referendum. President Kibaki responded by reconstituting his Cabinet to exclude members who had campaigned against the constitution, thereby increasing political tension. Despite the strong recommendation by a Committee of Eminent Persons1 that the process of constitutional review should be restarted, nothing was done and attention soon turned to the 2007 elections. As is well known, when the Electoral Commission announced that Kibaki had won these elections, unprecedented violence broke out in which over 1 300 people lost their lives and 100 000s were displaced. Only after international intervention was calm restored, with a fragile ‘Grand Coalition’ government that placed Kibaki in the presi* Christina Murray is Professor of Constitutional and Human Rights Law at the University of Cape Town and Jennings Randolph Senior Fellow at the United States Institute for Peace, Washington DC. She was a member of the Committee of Experts that prepared the new Kenyan Constitution. 1 “Report of the Committee of Eminent Persons (Kiplagat Report)” (Republic of Kenya, May 30, 2006).
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dency and gave his main rival, Raila Odinga, the position of Prime Minister. Included in the Accord was an agreement that the constitutional review process would be revived. To the surprise of many, and despite considerable resistance in a variety of sectors, the new process was successful. The Constitution has been highly praised.2 Its thoughtful Bill of Rights sets new standards in the region and more widely and the chapter on leadership and integrity is a serious attempt to provide standards for public life that are practically enforceable. Most importantly, it sets out values for a new stage in Kenyan political life. It ambitiously provides an ethnical framework within which the State must operate and seeks to describe an inclusive nation. More than anything else in the Constitution, these provisions reflect the concerns and aspirations of the many Kenyans who participated in the constitution-making process over the past 15 years. But, the political context in which the constitution must be implemented remains very unstable. Many of the issues identified in the Accord as contributing to the post-electoral violence have not been fi nally resolved. Most important here for the political process are the International Criminal Court indictments of four senior Kenyan politicians for their involvement in the violence. In particular, one of those indicted, Uhuru Kenyata, is the presidential candidate supported by many Kikuyus who view his indictment as unfair. So, there are many questions: Will the political elite, which has accepted the constitution with some reluctance, respect it? Will the renewed judiciary be able to resist the inevitable pressure from groups whose vested interests are threatened by the new order? What impact will the Constitution have on the highly politicized ethnic divisions in Kenyan society? Can the Constitution (indeed can any constitution) be the catalyst for the social and political changes many Kenyans demand? It is premature speculate on these questions, and this article does not attempt to do so. Instead it seeks to provide a background to Kenya’s new constitutional order by sketching the twenty-year long story of constitutional review in Kenya and describing the central provisions of the new constitution.
1. The constitution-making process 1.1 The background Kenya’s independence constitution of 1963 was, in the words of Ghai and McAuslan, ‘based on two important principles – parliamentary government and minority protection’.3 The question of minority protection – for Europeans, Asians and certain indigenous groups – was particularly controversial. After difficult negotiations between the leaders of the two main Kenyan parties, it was dealt with by inserting various safeguards for minorities in the Constitution (provisions on citizenship; protection of a system of Khadi’s courts; a Bill of Rights; etc) and by establishing a sys2
The Constitution of Kenya 2010 (http://www.kenyalaw.org/kenyalaw/klr_home/). Y. P. Ghai and J. P. W. B. McAuslan, Public Law and Political Change in Kenya: A Study of the Legal Framework of Government from Colonial Times to the Present (Oxford University Press, 1970), 180. 3
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tem of regional government.4 This agreement, which satisfied none of the Kenyan parties to the settlement, was short lived. In 1964, on the birthday of independence, a constitutional amendment made the independence Prime Minister, Jomo Kenyatta, the country’s first President. A succession of constitutional amendments followed, ending regionalism, abolishing the Senate and strengthening the presidency. As Makau Mutua notes: ‘It took just six years to dismantle the 1963 Lancaster House Constitution (the Independence Constitution), a process that indigenized executive despotism and tore down the constitutional order imposed on the postcolonial state by the British.’5 Under President Kenyatta’s successor, Daniel Arap Moi, rule became increasingly centralized, intolerant and corrupt and, in 1982, what had become a de facto oneparty state was converted into a de jure one-party state by yet another constitutional amendment.6 However, as pro-democracy movements elsewhere developed momentum, opposition in Kenya to Moi’s government increased, and, particularly after the fall of the Berlin wall, international pressure increased as well. In 1991, the constitutional provision decreeing that Kenya was a one-party state was repealed, paving the way for multi-party elections in 1992. This change was important but the Constitution still gave the government virtually unrestrained power, including broad powers to curtail human rights. Ethnic persecution, widely believed to be orchestrated by the government, attacks on the media and opposition parties, and other human rights abuses continued7 and civil society and opposition parties persisted in demands for fundamental constitutional reform.8 Minor reforms were enacted in 1997 and the fi rst Constitution of Kenya Review Act was adopted, but only after another three years of intense political struggle was the Act revised sufficiently to meet the major demands of civil society and opposition parties. In June 2001, the Constitution of Kenya Review Commission (CKRC), headed by Yash Pal Ghai, started work.9 The Review Act established a three-stage process of constitutional review.10 First, the CKRC was to prepare a draft constitution; second, a National Constitutional Conference consisting of politicians from national and district level and representatives of other interest groups was to meet to consider the draft and agree to a new constitution;11 fi nally, Parliament was to adopt the constitution approved by the Con4
“Report of the Committee of Eminent Persons (Kiplagat Report),” para. 28. Makau Mutua, Kenya’s Quest for Democracy: Taming Leviathan (L. Rienner Publishers, 2008), 64. 6 1963 Constitution of Kenya Article 2A. 7 See Human Rights Watch, “Kenya Old Habits Die Hard: Rights Abuses Follow Renewed Foreign Aid Commitments”, July 1995, http://www.hrw.org/legacy/reports/1995/Kenya.htm. 8 Mutua, Kenya’s Quest for Democracy, 99. 9 This does not do justice to the extraordinary process of civil society and opposition mobilization that forced constitutional change onto the political agenda. See Willy Mutunga, Constitution-making from the Middle: Civil Society and Transition Politics in Kenya, 1992–1997 (MWENGO, 1999) and Mutua, Kenya’s Quest for Democracy at 117 ff. for a description of the complex political struggles from 1990 and that surrounded the development of the law and the appointment of commissioners. 10 Constitution of Kenya Review Act, 1997 as amended by Act 6 of 1998, Act 5 of 2000 and Act 2 of 2001. 11 Under s 27(2) of the Review Act, the Conference consisted of 628 members in total, the 29 members of the CKRC, all the members of the National Assembly (223), three representatives from each district (210), one representative from every registered political party (41), representatives of religious 5
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ference and the President was to sign it into law. Under the ‘guiding principles’ of the Act, the process was to ‘be accountable to the people of Kenya’ and to provide the public with a proper opportunity to participate. The outcome was to reflect ‘the wishes of the people of Kenya’.12 No stage of the process ran smoothly. The CKRC remained contentious, particularly in the eyes of those who expected it to live up to the expectations of the Review Act, which anticipated an impartial body. Nonetheless, its work was impressive. As required by the Act, it presented a formidable programme of public education and held hearings in each of Kenya’s 210 electoral districts with an overwhelming response.13 The CKRC published a draft constitution in September 2002. The National Constitutional Conference (NCC) was intended to follow immediately but it was delayed by the 2002 elections. These elections, which brought the first change of government since independence, saw Mwai Kibaki elected as president. As a result, the NCC, colloquially referred to as the ‘Bomas’ after the name of its venue, convened in May 2003 in a completely changed political landscape. Most significantly, a new constitution was no longer needed to dislodge President Moi. Instead, for some, constitutional reform had become a way of securing satisfactory power arrangements and positions for a new political elite. On two key issues, the system of government and devolution of power, agreement eluded the conference, and these differences precipitated the withdrawal of President Kibaki’s supporters (and thus a substantial segment of the government) from entire process.14 Still quorate, the NCC concluded its work and adopted a draft constitution on 23 March 2004, but the Conference’s robust devolution proposals and its creation of what was in essence a parliamentary system, with an elected President with limited powers and a strong prime minister, did not secure the support of a significant section of the governing elite. The absence of political consensus was fatal to the process. Parliament took over a year to make a decision and fi nally, on 21 July 2005, agreed to a fundamentally different draft to that approved by the Bomas. Two changes were particularly significant in the draft that became known as the ‘Wako’ draft, after the Attorney-General who introduced it in Parliament. First, executive arrangements were fundamentally altered with the Bomas proposal replaced by provisions which concentrated power in a President and which, in essence, created a hyper-presidential system. In addition, the draft had been meticulously edited to remove many of the checks on executive power that it had introduced. Second, the multilevel system of government supported by a Senate that was proposed by the Bomas draft, and that promised to disperse power and grant some autonomy to communities outside Nairobi, was largely undone. In the ‘Proposed New Constitution’ the Senate was removed and the powers of districts subject to national law.
organizations, professional bodies, women’s organizations, trade unions, NGOs and other interest groups as determined by the Commission (125). See Final Report of the Constitution of Kenya Review Commission (2005) p 362 and 581 ff. 12 Section 5. 13 Jill Cottrell and Yash Ghai, “Constitution Making and Democratization in Kenya (2000–2005),” Democratization 14, no. 1 (2007): 9. 14 Michael Chege, “Kenya: Back From the Brink?,” Journal of Democracy 19, no. 4 (2008): 125–139.
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In the meantime, a decision of the Kenyan High Court had changed the process in a major way: Timothy Njoya & Others v CKRC and the National Constitutional Conference15 held that the Kenyan Constitution could not be replaced without a referendum because, among other things, Section 47 of the Constitution allowed for the amendment of parts of the existing Constitution and their repeal, but not its complete replacement. The judicially required referendum was held on 21 November 2005. With an unusually strong turnout (52%) the Constitution was rejected by 57% of the voters. Although many provisions of the draft were contentious, substantively the major political divide was on the system of government and devolution. The referendum was preceded by campaigns that, in Matua’s words, were ‘waged on outright lies, misuse of state power, and nativist appeals to tribal hysteria’16 and that were sometimes violent. Although Kibaki and Odinga, respective leaders of the Yes and No campaigns, were members of the same Cabinet, they rejected any form of compromise. Political disagreements evident in the Bomas Conference deepened during the campaigning and Kenyans were mobilized to vote along ethnic lines.17 President Kibaki did not dispute the referendum results but the political consequences were immediate. He reshuffled the Cabinet, excluding members who had campaigned against the Constitution, and prorogued Parliament, not to reconvene it until March 2006. The December 2007 elections intervened before any changes to the existing Constitution were considered. The 2007 general elections took place in the shadow of the failed constitutionmaking process and deep disappointment in Kibaki.18 They were hotly contested and both major parties played on ethnic fears. Polls suggested that the race between the two main presidential candidates, the incumbent, Kibaki, and Raila Odinga, was very close. But the true results of the presidential election were never to be known. Amid controversy about the conduct of the elections, the Electoral Commission of Kenya announced Kibaki the winner of the presidential election with, it said, 47% of the vote to Odinga’s 44%.19 Kibaki was sworn in within an hour. Violence broke out immediately. The Peace Accord brokered by Kofi Annan as head of a group of eminent Africans20 provided for a Grand Coalition Government, with Kibaki as President and 15
Njoya and others v Attorney-General and others [2004] LLR 4788 (HCK) p 17. Mutua, Kenya’s Quest for Democracy, 228. 17 See, for instance, Bård Anders Andreassen and Arne Tostensen, “Of Oranges and Bananas: The 2005 Kenya Referendum on the Constitution” (Chr Michelsen Institute Working Paper WP?: 13, 2006), 6, http://www.cmi.no/publications/publication/?2368=of-oranges-and-bananas. 18 For instance, the Kibaki government failed to act on a number of huge corruption scandals had rocked Kenya. See Daniel Branch, Kenya: Between Hope and Despair, 1963–2011 (Yale University Press, 2011) and Michela Wrong, It’s Our Turn to Eat: The Story of a Kenyan Whistle-Blower, Reprint. (Harper Perennial, 2010). 19 In the parliamentary election, Odinga’s Orange Democratic Movement (ODM) party won securing 99 of 197 elected seats and, accordingly, 6 of 12 nominated seats. Kibaki’s Party of National Unity (PNU) came second with 43 elected seats and three nominated ones. The rest were shared among smaller parties. 20 For discussions of this process see Jeremy Horowitz, Power-sharing in Kenya: Power-sharing Agreements, Negotiations and Peace Processes (Oslo: Centre for the Study of Civil War, 2008); Roger Cohen, “How Kofi Annan Rescued Kenya,” New York Review of Books, August 14, 2008, http://www.nybooks. 16
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Odinga in the new position of Prime Minister and included constitutional review on the long term agenda.21 Most strikingly, although the agreement on constitutional review demanded popular support for a new constitution to be demonstrated in a referendum and required the people of Kenya to ‘be consulted appropriately at all key stages’, it clearly departed from the ‘people driven’ process that had been demanded for over a decade. It provided for a draft prepared by ‘stakeholders’ but Parliament was to have a decisive role in approving (or rejecting) the draft. 22
1.2 Resuming the constitutional review process The members of the Grand Coalition proved to be reluctant partners and the new government dragged its feet on its commitments under the Accord. As a result, only in December 2008 were the constitutional amendment necessary for the complete replacement of the constitution without a break in legal continuity and a new Constitution of Kenya Review Act adopted. The amendment responded to the Njoya decision by a provision which asserted that ‘the sovereign right to replace this Constitution with a new Constitution vests collectively in the people of Kenya and shall be exercisable by the people of Kenya through a referendum, in accordance with this section’.23 Second, it set out the process the National Assembly was to follow to replace the Constitution.24 Third, it established the Interim Independent Constitutional Dispute Resolution Court ‘which shall have exclusive original jurisdiction to hear and determine all and only matters arising from the Constitutional review process’. Three of the nine judges on the Court were to be non-citizens.25 The Constitution of Kenya Review Act of 2008 fleshed out the process. It identified four ‘organs’ for the review of the Constitution: a committee of experts; a multiparty parliamentary committee; the National Assembly; and a referendum. Each of these organs had a specific role in a tightly timetabled process and, in different ways, each acted as a check on the other. In essence, the new constitution was to be batted back and forth between the experts and the politicians and, if it survived this process, the people would have the fi nal say in a referendum. In addition to setting out a distinct role for each player, the Review Act attempted to constrain the substance of com/articles/archives/2008/aug/14/how-kofi-annan-rescued-kenya/?pagination=false; Monica Kathina Juma, “African Mediation of the Kenyan Post-2007 Election Crisis,” Journal of Contemporary African Studies 27, no. 3 (2009): 407–430 and Martin Griffiths, The Prisoner of Peace: An Interview with Kofi A Annan (Kofi Annan Foundation and Centre for Humanitarian Dialogue, 2009). 21 For the agreements see “The Kenya National Dialogue and Reconciliation”, n.d., http://www. dialoguekenya.org/agreements.aspx. 22 ‘Kenya National Dialogue and Reconciliation: Longer term issues and solutions: Constitutional review’. 23 Constitution of Kenya s 47A (2)(a). 24 Art 47. 25 Art 60A (1) and (2) Constitution of Kenya. This extraordinary provision reflected the complete lack of confidence that Kenyans had in the judiciary. The parties to the Accord presumably anticipated a repeat of the persistent litigation that was brought in attempts to derail the fi rst process and were not prepared to leave these decisions in the hands of the existing judges.
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review process. Like its 1997 predecessor, it stipulated aims and goals of the process, but it also put a more concrete limit on the ambit of the process. The new process was to be geared to resolving the contentious issues that had caused the previous process to fail. All that had been agreed – and the received wisdom was that there was agreement among the previous drafts (the CKRC, Bomas and Wako drafts) on all but about 5% of their content – was to be retained and only issues identified as contentious were open for discussion. Most significantly, the use of a small group of experts and the emphasis on political decision making, together with an implicit deadlockbreaking mechanism provided in the constitutional amendment, were intended to secure the political agreement that had eluded Kenya in the earlier process. The Committee of Experts (CoE) was established in February 2009.26 Following the programme set out in the Review Act, it first identified the ‘contentious’ issues: the system of government; the form devolution should take; and how to implement a new constitution (the transitional issues relating to the life of the existing Parliament and the executive, the judiciary and other constitutional offices).27 It then prepared a ‘harmonized draft Constitution’ in which, in the words of the Act, ‘the issues that are not contentious [were] identified as agreed and closed and the issues that are contentious [were] identified as outstanding’.28 To do this, as the Review Act required, the CoE drew on the considerable archive of the CKRC’s public participation process, consulted a ‘Reference Group’ of representatives of civil society29 and collected public views more generally. Overall the public engagement suggested that Kenyans were no closer to consensus than they had been in 2005. The Draft proposed a resolution for each of the contentious issues, drawing heavily from the Bomas draft. So, it proposed a parliamentary system with a directly elected President and a Prime Minister drawn from Parliament who, with his or her Cabinet, would be dependent on retaining the confidence of the National Assembly. The President was to have more power than heads of state in the traditional Westminster parliamentary model, something along the lines of the Indian President, but practically executive authority lay with the Prime Minister and Cabinet.30 The electoral system was linked to the question of the system of government and the Draft supplemented a system of single-member constituencies with a complex arrangement of special seats. On the criteria for delineating constituencies, the Draft required ‘approximate equality of constituency population’, departing from the post-Accord 26
It was composed of nine voting members, six Kenyans and three foreigners, chosen by the Parliamentary Select Committee on the Review of the Constitution, and two members without voting rights, the Attorney-General (a member of Cabinet) and the Director of the Secretariat of the Committee. 27 Committee of Experts on Constitutional Review, “Final Report of the Committee of Experts on Constitutional Review” (Nairobi, Kenya, October 11, 2010), 45. 28 Review Act section 30(2). 29 Review Act section 31 and Schedule 4. 30 The departures from a Westminster style parliamentary system in this model, particularly the direct election of the President and the allocation of some powers to that office, led many people (and the CoE’s Reports) to classify it as a hybrid system. However, as the President was to have no substantial administrative powers that could be exercised without consent of the Cabinet and, as the executive was required to retain the confidence of Parliament, the proposal is better understood as a parliamentary system.
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2008 constitutional amendment that asserted the principle of equality of vote.31 On devolution the Draft proposed three levels of government intended to work together in a cooperative way. Seventy-four county governments would manage matters listed in a schedule. The middle, regional level would coordinate the counties. The national level retained significant power over the devolved governments through provisions that secured concurrent legislative power for the national government on all matters and imposed a difficult test for subnational laws to meet to prevail over confl icting national laws, and through the power to suspend regional or county governments ‘in exceptional circumstances’. Presumably to compensate for the national government’s legislative power over the subnational levels, a Senate with members selected by county assemblies acting as electoral colleges gave the subnational levels a voice at the centre.32 Overall, the Harmonized Draft sought a system in which power would be dispersed and in which ethnic divisions and marginalization would be addressed primarily by rights provisions and a weak form of devolution. Transitional arrangements were set out in a schedule. To accommodate the interests of the current politicians without whose support the constitution would not adopted in Parliament, the Draft proposed a staggered political transition with existing political arrangements, including the Grand Coalition government and Parliament, remaining in place until the next scheduled elections with the new devolved governments to be established only after those elections. More controversially, all sitting judges were to be ‘vetted’ for their fitness to hold office by a six-member commission consisting of two foreign judges and four Kenyans. Each of the CoE’s proposals on the contentious matters was changed substantially before the Constitution was finally adopted. The process of ‘harmonizing’ the earlier drafts demanded decisions on other matters as well. Most significantly, the earlier drafts differed in relation to citizenship rights, the electoral system and the number of independent institutions that should be included in the constitution. By now it was also clear that the issues that had been formally designated ‘contentious’ were not to be the only contentious issues. In particular, the right to life and, specifically, abortion, sexual orientation, land rights (and a belief that the constitution would prescribe minimum and maximum land holdings) and the Khadis courts33 received considerable public attention. On each of these matters and many others, of necessity the Harmonized Draft took a position. The CoE published the Harmonized Draft Constitution for public comment in November 200934 and, within the prescribed month, received over 26 000 submis31
See further in 2.2.1 below. The design resembled the South African National Council of Provinces in many ways. In turn, the design of the South African National Council of Provinces was based on the Bundesrat. See Christina Murray ‘NCOP: Stepchild of the Bundesrat’ 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent ‘Zur Struktur des deutschen Foderalismus’ (herausgegeben vom Bundesrat 1999) 262–278. 33 For a discussion of the issue see Committee of Experts on Constitutional Review, “Final Report of the Committee of Experts on Constitutional Review,” 61. 34 Committee of Experts on Constitutional Review, “Harmonized Draft Constitution of Kenya Published on 17th November, 2009 by the Committee of Experts on Constitutional Review Pursuant to Section 32(1)(a)(i) of the Constitution of Kenya Review Act, 2008.”, n.d., http://www.fankenya. org/downloads/Harmonisedconstitution.pdf. 32
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sions.35 It then undertook a major revision of the Draft. The arrangements relating to the executive and legislature remained substantially unchanged but three fundamental changes were made to the provisions on devolution of power. First, the three levels of government of the Harmonized Draft were replaced by two with fewer (47) counties. Secondly, indirect election of senators was replaced by direct election. Thirdly, the fiscal arrangements for the subnational units were revised, in particular by limiting the taxing power of counties and clarifying the process by which they would be granted an ‘equitable share’ of revenue raised nationally. The proposal on vetting judges remained unchanged.36 On 8 January 2010, 21 days after the close of the period of public hearings, the CoE handed a revised draft 37 to the second organ of review, the multiparty Parliamentary Select Committee on Constitutional Review (PSC). The PSC included senior members the major parties represented in Parliament. At the end of the statutory 21-day period for this step in the process, agreement on the major issues was declared and the Draft, as amended by the Parliamentary Committee, was handed back to the CoE.38 In terms of the Review Act, the CoE was now to revise it ‘taking into account the achieved consensus’.39 The crux of the political settlement was agreement on a presidential system ‘on the US model’. On the second formally contentious issue, devolution, the CoE’s proposal of two levels of government with 47 counties making up the second level stood. But changes were made to provisions concerning the Senate and the Commission on Revenue Allocation was deleted. On the Transitional Arrangements the controversial proposal to ‘vet’ the judges and other judicial officers was deleted. Predictably, the PSC did not restrict its attention to the provisions formally identified as contentious. It made liberal changes to most of the draft, deleting large parts. Some of these changes were significant: in what was apparently a deal addressed the distorted size of many constituencies, it expanded the National Assembly, adding 80 constituency seats, and changed the formula for delineating constituencies; it resolved the rankling problem of the existence of two police forces by introducing a Inspector-General with command over both forces; and it deleted troubling provisions that established a separate constitutional bench (referred to as a Constitutional Court) at the level of the High Court.40 Other changes introduced by the PSC were 35 Committee of Experts on Constitutional Review, “Final Report of the Committee of Experts on Constitutional Review,” 46. 36 A substantial number of submissions (63%) raised concerns about the vetting procedure proposed for the judiciary Ibid., 87. 37 “Revised Harmonised Draft Constitution of Kenya As Reviewed by the Committee of Experts on Constitutional Review, Pursuant to Section 32(1)(c) of the Constitution of Kenya Review Act, 2008 and Presented to the Parliamentary Select Committee on Constitutional Review on 8th January 2010”, n.d., http://www.uraia.or.ke. 38 The agreement in the parliamentary committee met a mixed response. See “Draft Law: How ‘miracle’ deal was struck” Daily Nation 29 Jan 2010 http://www.nation.co.ke/News/politics//1064/852318/-/wrt4cgz/-/index.html; “Draft: Good job, but some areas need revisiting” Daily Na tion 29 Jan 2010 http://www.nation.co.ke/oped/Editorial/-/440804/852292/-/ofw7ifz/-/index.html; “Fury As PSC ‘Mutilates’ Draft Law” Nairobi Star 21 January 2010 http://allafrica.com/stories/ 201001210030.html 39 Section 33(1) Review Act. 40 This proposal, introduced by the CoE to ensure that there would be a specialized bench to deal
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more controversial: for instance, it deleted entirely provisions relating to culture, language and the regulation of campaign fi nance; it introduced two provisions into the right to life clause stipulating, first, that ‘life begins at conception’ and, second, that ‘abortion is not permitted unless in the opinion of a registered medical practitioner the life of the mother is in danger’; it deleted provisions setting out the mandate of the National Land Commission, leaving an empty shell and deleted the Ethics and Anti-Corruption Commission entirely; and it replaced the provision for the right to access to information with the statement that it should be dealt with in legislation. The CoE received the amended draft from the PSC with a warning that the changes made by the politicians were ‘deals’, reached only after tough negotiations and closely interlinked. There was to be no meddling; the CoE was merely to ensure that the presidential system of government was incorporated in a way that secured accountability and that the entire draft was technically sound. Views in the media on this matter differed widely. Earlier, as rumours of the decisions taken by the politicians emerged from Naivasha, opinion writers argued that they had exceeded their brief which was limited to the contentious matters. Now the debate was about the legitimate role of the CoE: was it bound only by decisions on the three contentious areas? Whatever the formal legal position, it was clear that the CoE could not disregard every change made by the politicians outside the contentious issues. The Draft needed the support of the politicians. The question was where to draw the line. Which revisions were essential to keeping the all the political parties committed to the process and which could be adjusted to retain the integrity of the constitution and better reflect the outcome of the popular consultations which had started in 2001? The CoE generally sought to accommodate the changes proposed by the PSC while ensuring that the draft Constitution remained true to the Act. The draft that the CoE submitted to Parliament three weeks later was much leaner than its predecessors, something many people had hoped. But, the removal or editing of provisions that had a ‘constitutive’ function, such as those dealing with culture, changed the character of the Constitution removing from it the sense of urgency and hope that Kenyans at the Bomas Conference had captured in the text. Now the existing Constitution gave the National Assembly just 30 days to consider the draft. Moreover, as noted above, any changes to the draft submitted to the Assembly required the support of 65 per cent of all members. Over 150 amendments were proposed but none was passed. Accordingly, on 1 April, 2010, the new Proposed Constitution of Kenya was adopted by the Assembly and on 6 May, published by the Attorney-General. Three months later, on 4 August, it was approved by over 67 per cent of the votes cast in the referendum.41 As in 2005, campaigning was intense. Most controversy was generated not by the longstanding contentious issues (structure of government and devolution) but by religious and moral issues: the right with constitutional matters, was objected to partly for the number of additional judges it would mean, partly for a lack of clarity about its jurisdiction and partly, it appeared, because some people, including most judges, believed that the existing system was satisfactory. 41 Independent Electoral and Boundaries Commission, “Final Referendum Results Are Gazetted, August 2010”, n.d., http://www.iiec.or.ke/index.php/August-2010/fi nal-referendum-results-are-gaze tted.html.
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to life and abortion; sexual orientation; freedom of religion; and Muslim courts dominated the debate.42 In addition, fears about the redistribution of land drew No voters. As in 2005, the campaigns on each side paid frequently misrepresented the proposed constitution. The critical difference from 2005 was that President Kibaki and Raila Odinga campaigned together in support of the new constitution. Although party structures were weak – the No campaign was led by a senior member of Odinga’s Orange Democratic Party and there were many credible rumours that support for the Constitution from some of Kibaki’s PNU colleagues was lukewarm at best, Kibaki and Odinga’s joint campaign drew in four of the five major ethnic groups and secured victory for the Yes vote.
2. The new Kenyan Constitution Kenya now has a new constitution that is significantly different both from its immediate predecessor and from the Kenyan Constitution as it was adopted at independence. By 2010, the often amended independence constitution was uninspiring. It was a purely legal document establishing institutions and listing rules. It had no preamble and, although in 1997 a clause asserting the principle of multiparty democracy was inserted in the fi rst Article, it quickly moved on to elaborate, technical provisions about the executive and the structure of government. In a revision, the (heavily qualified) Bill of Rights had been moved from the beginning (it was initially chapter 2) to much further back, to appear only after wordy chapters on the executive, legislature and judiciary. The message was clear: Rights were out of sight and the executive was in control. The new Constitution does the formal work a constitution is usually expected to do, establishing institutions, determining their mandates and their relationships, and prescribing the limits of their powers. But, in stark contrast to the old Constitution, these provisions are set in an explicit normative framework which commits Kenya to constitutionalism and the rule of law and which asserts social justice and inclusiveness as national values: ‘This Constitution is the supreme law of the Republic and binds all persons and all State organs. . . . Any law . . . that is inconsistent with this Constitution is void . . . and any act or omission in contravention of this Constitution is invalid’43 and ‘The national values and principles of justice include . . . participation of the people, . . . human dignity, equity, social justice, inclusiveness, equality . . .’.44 It is a constitution which seeks to reconstitute the nation in an inclusive political framework that recognizes Kenyans as active citizens and values their diversity. The basic values that it embraces in both statements of principle scattered through the text and the Bill of Rights are essentially those developed by the CKRC and the Bomas Conference between 2001 and 2004. The statements of principle were clipped by the politicians in the PSC but their general sense is retained and, together with other 42 Joel D. Barkan and Makau Mutua, “Turning the Corner in Kenya,” Foreign Affairs, August 10, 2010, http://www.foreignaffairs.com/articles/66510/joel-d-barkan-and-makau-mutua/turning-thecorner-in-kenya. 43 Article 2(1) and (4). 44 Article 10(2).
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parts of the Constitution, they seek to provide the basis for the kind of democracy described in the Preamble: one in which, among other things, people are ‘proud of [their] ethnic, cultural and religious diversity . . . and [aspire to] a government based on the essential values of human rights, equality, freedom, democracy, social justice and the rule of law’. The elements of the Constitution setting out values and aspirations have the support of ordinary Kenyans. However, the structure of the Kenyan State established in the Constitution does not command universal support. As the preceding part of this article describes, the presidential system and two levels of devolved government were agreed as part of an uneasy political settlement reached in a hurry with limited consideration of its full implications. This has consequences both for the effectiveness of the design (is it workable?) and for the way it is implemented (will reluctant bureaucrats and politicians implement it properly?). Below, in an introductory description of certain key provisions, I elaborate on the multiple goals of the constitution and introduce some of the challenges that it faces. To do this I divide the discussion into four parts. I fi rst discuss the framework of values including the Bill of Rights and the remarkable chapter on leadership and integrity. Second, in section 2.2, I describe the arrangement fi nally agreed upon for the system of government. Section 2.3 discusses the devolved state. Finally, I outline provisions dealing with the transition from existing constitutional structures to the new order.
2.1 Values, aspirations and rights, including principles governing land 2.1.1 Framing values The Preamble introduces the Constitution as framework for a democratic system of government that adheres to the rule of law, values diversity, and respects human rights. Article 10(2) sets out the ‘national values and principles of governance’: ‘(a) patriotism, national unity, sharing and devolution of power, the rule of law, democracy and participation of the people; (b) human dignity, equity, social justice, inclusiveness, equality, human rights, non-discrimination and protection of the marginalised; (c) good governance, integrity, transparency and accountability; and (d) sustainable development.’
Most of these values are not likely to be directly enforceable. Instead, they indicate the way in which the Constitution should be implemented by politicians, policy makers and courts. Some, like equality and non-discrimination are reiterated and elaborated on in the Bill of Rights and so they will be enforced through the Bill of Rights. But the assertion of the principle of the rule of law in Article 10 imports a concrete legal principle into the constitutional order and, one anticipates that, as in South Africa, it will be directly used as a source of the principle of legality.45 45 See for example Fedsure Life Assurance Ltd and Others v Greater Johannesburg Transitional Metropolitan Council and Others 1999 (1) SA 374 (CC) at para 57–8.
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These values are reasserted in many places in the Constitution. As already noted, the strong Bill of Rights gives concrete meaning to many; the Chapter on land opens with a statement of principles that emphasizes equity and transparency; 46 the principles underpinning the electoral system again underscore inclusiveness and transparency;47 Parliament is expressly describes as ‘manifesting the diversity of the nation’ and an attempt is made to ensure its composition is diverse; 48 accountable government and recognition and protection of diversity are central in the list of the objects of devolution; 49 and public finance is to be managed in a way that is fair and equitable.50 This sustained, consistent commitment to values of good governance and inclusiveness does not only provide democrats with useful political tools, but, in the hands of thoughtful judges, it will also provide the basis of a principled jurisprudence that does indeed secure the rule of law.
2.1.2 The Bill of Rights The Bill of Rights is expansive, encompassing all the traditional civil and political rights as well as social, economic and cultural rights and environmental rights. It is consistent with international human rights law and draws inspiration from other recent Bills of Rights, most obviously South Africa’s. Although its overall conceptual structure is now familiar – a general limitation clause governs all the rights – the detailed attention it pays to some issues (like equality and freedom of expression) and the way in which it attempts to direct the application of certain rights (such as its provisions concerning the implementation of the social and economic rights) distinguishes it from other Bills of Rights.
Operational provisions A set of ‘operational’ provisions frames the Bill. The opening Article asserts the centrality of the Bill of Rights in Kenya’s new constitutional order (‘The Bill of Rights is an integral part of Kenya’s democratic state and is the framework for social, economic and cultural policies’),51 and, echoing Article 10, puts dignity and social justice at the centre of the new rights dispensation stating: ‘The purpose of recognising and protecting human rights and fundamental freedoms is to preserve the dignity of individuals and communities and to promote social justice and the realisation of the potential of all human beings.’52
46 47 48 49 50 51 52
Article 60(1). Article 81. Articles 94(2), 97, 98 and 100. Article 174. Article 201. Art 19(1). Art 19(2) and see Art 20(4)(a).
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Meticulous provisions which deal with the implementation of the Bill of Rights build on this, maintaining the emphasis on dignity and social justice both expressly and implicitly. Here the key provisions are Article 20 on the application of rights which gives rights horizontal application (they bind ‘all persons’), and Article 24, the limitation clause. The language and structure of these provisions suggests that they were informed by sections 8 and 36 of the South African Constitution but in both cases there are departures from the South African model. On the application of rights, although Article 20 resembles the South African application provision in some ways, unlike its South African counterpart,53 it appears to embrace direct horizontality: 54 Article 20(1) asserts that the Bill of Rights ‘binds . . . all persons’. On its face, this suggests that even the social and economic rights protected in the Bill of Rights (such as the rights to water, housing and to be free from hunger) could be asserted against private people. Whether this reading will be maintained by the courts waits to be seen and it may be that Article 20(5)’s specific instructions concerning the role of the state in relation to social and economic rights will be read to limit direct horizontality. Nonetheless, the insistence that the Bill binds ‘all persons’ will surely receive attention from rights activists seeking ways of implementing those rights. Article 20(1) is matched by an equally strong statement on the obligations of courts in interpreting law: Article 20(3) says: ‘[I]n applying a provision of the Bill of Rights, a court shall develop the law to the extent that it does not give effect to the right’. It is not immediately clear how the direct horizontal application of the rights and this strong form of indirect horizontal application will work together. However, if the courts do take the language of the Constitution seriously, this provision at least seems to demand that courts are less modest than usual in ‘developing’ the law. Compare, for instance, section 39(2) of the South African Constitution which states: ‘When interpreting any legislation, and when developing the common law or customary law, every court, tribunal or forum must promote the spirit, purport and objects of the Bill of Rights.’ On limiting rights, the Kenyan clause establishes a general test which applies to all but four of the rights in the Bill. The four exceptions – (i) freedom from torture and cruel and inhuman or degrading treatment or punishment; (ii) freedom from slavery or servitude; (iii) fair trial; and (iv) the right to an order of habeas corpus – may not be limited. The language of the general limitation clause is drawn from the South African provision which, in turn, was drawn from the Canadian Charter.55 Accord53
South African Constitution, section 8. See, for a useful discussion of the terminology, Stephen Gardbaum, “The ‘Horizontal Effect’ of Constitutional Rights,” Michigan Law Review 102, no. 3 (December 2003): 387. 55 Article 24(1) states: “A right or fundamental freedom in the Bill of Rights shall not be limited except by law, and then only to the extent that the limitation is reasonable and justifiable in an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom, taking into account all relevant factors, including – (a) the nature of the right or fundamental freedom; (b) the importance of the purpose of the limitation; (c) the nature and extent of the limitation; (d) the need to ensure that the enjoyment of rights and fundamental freedoms by any individual does not prejudice the rights and fundamental freedoms of others; and 54
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ingly, it is likely that the Kenyan courts will apply the principle of proportionality. However, the Kenyan limitation clause deviates from its parent provisions. On the one hand, it curtails limitations in two ways. First, it requires legislation that limits rights to do so expressly. The limitation will not be valid unless ‘the legislation specifically expresses the intention to limit that right or fundamental freedom, and the nature and extent of the limitation’. Secondly, like the German Basic Law, it protects the ‘essence’ of all rights stating that no limitation may ‘limit the right or fundamental freedom so far as to derogate from its core or essential content’.56 But, on the other hand, Article 26 also curtails rights. Clause (4) immunizes aspects of Muslim law from the full application of the Bill of Rights: ‘The provisions of this Chapter on equality shall be qualified to the extent strictly necessary for the application of Muslim law before the Kadhis’ courts, to persons who profess the Muslim religion, in matters relating to personal status, marriage, divorce and inheritance.’
This provision was included in the CKRC Draft and retained in all later drafts, apparently at the request of Muslim women for whom Kadhis’ courts ‘had become an important site for resisting the oppression experienced in marriage and in domestic circumstances in a traditionally patriarchal and male-dominated society’57 and for whom recognizing and protecting the religious and cultural aspects of Islam was important. Its insistence that qualifications be ‘strictly necessary’ might be read to permit no greater invasion of the right to equality than is in any event permitted by clause (1) which allows reasonable limitations that are proportionate to their goals and its specific reference to the Kadhis’ Courts raises the question what happens when cases are appealed from those courts. Nonetheless, despite the assertion that it was consonant with what Muslim women requested and the fact that Kadhis’ courts have jurisdiction only if both parties agree, it strikes a jarring chord in the Constitution which, otherwise, is meticulous in its even-handed protection of dignity and equality. Clause (5) is another jarring note. In essence, it seeks to remove a list of rights (privacy, association, assembly, labour relations, the economic and social rights, and rights on arrest) from members of the security forces: ‘Despite clause (1) [the limitation clause] and (2) [the elaboration of how limitations may be made], a provision in legislation may limit the application of the rights of fundamental freedoms . . . to persons in the Kenya Defence Forces or the National Police Service.’ This clause was introduced by the parliamentary committee, apparently at the insistence of the military. An imaginative reading would state both that it is redundant because clauses (1) and (2) in fact permit limitations of the listed rights and that it does not effectively trump the many provisions of the Constitution that emphasize the binding nature of (e) the relation between the limitation and its purpose and whether there are less restrictive means to achieve the purpose.” Paragraphs (a) to (e) are very close to the list in section 36 of the South African Constitution. In compiling the list of factors, South African constitution makers drew on the early Canadian Charter case: R v Oakes [1986] 1 SCR, 26 DLR (4th) 200. 56 Art 26(2)(c). 57 Constitution of Kenya Review Commission, “The Final Report of the Constitution of Kenya Review Commission”, 2005, para. 13.5.5; Ghai, Yash Pal and Cottrell Ghai, Jill, Kenya’s Constitution: An Instrument for Change (Nairobi, Kenya: Katiba Institute, 2011), 55.
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the Bill of Rights. But, its presence in the Bill clearly also provides a basis for a more formalistic argument along the lines that it is intended to reduce the scrutiny given to limitations on the rights of members of the forces. The two key operational provisions for the Bill of Rights, dealing with its application and limitation, are supplemented by a number of other provisions. Thus, Article 20(4) sets out general principles for interpreting the Bill of Rights: ‘(4) In interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or other authority shall promote – (a) the values that underlie an open and democratic society based on human dignity, equality, equity and freedom; and (b) the spirit, purport and objects of the Bill of Rights.’
The Constitution then turns its attention to the implementation of the social and economic rights protected in Article 43 and which include ‘the highest attainable standard of health’; housing; to be free from hunger; and clean and safe water; etc.58 Article 21(2) is the starting point. It both underlines the enforceability of these rights by spelling out the State’s obligations and limits their scope by introducing the concept of progressive realization (drawn from the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights): ‘The State shall take legislative, policy and other measures, including the setting of standards, to achieve the progressive realization of the rights guaranteed under Article 43’. This, of course, raises questions: Are these rights that bind only the State? Is the right to access to emergency medical treatment subject to the progressive realization limitation and is it enforceable against the State alone? Is the State bound to provide at least a ‘minimum core’ of the Article 43 rights as articulated by the United Nations Committee on Social, Economic and Cultural Rights? 59 Article 20(5) addresses a perennial problem in enforcing social and economic rights: an argument by the State that is has insufficient resources. Under ordinary circumstances, claimants would have to demonstrate that resources are available. Clause (5) avoids this problem by spelling out the responsibility of the State in more detail. It says: ‘In applying any right under Article 43, if the State claims that it does not have the resources to implement the right, a court, tribunal or other authority shall be guided by the following principles – (a) it is the responsibility of the State to show that the resources are not available; (b) in allocating resources, the State shall give priority to ensuring the widest possible enjoyment of the right or fundamental freedom having regard to prevailing circumstances, including the vulnerability of particular groups or individuals; and (c) the court, tribunal or other authority may not interfere with a decision by a State organ concerning the allocation of available resources, solely on the basis that it would have reached a different conclusion.’
58 Japhet Biegon and Godfrey M Musila, eds., Social Enforcement of Socio-Economic Rights Under the New Constitution: Challenges and Opportunities for Kenya (Nairobi, Kenya: Kenyan Section of the International Commission of Jurists, 2012). 59 United Nations Committee on Social, Economic and Cultural Rights General Comment No 3 (5th session 1990) UN doc E/1991/23 para 10.
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By demanding that the State prioritise the socio-economic rights and by shifting the burden of proof concerning resources to the State, clause (5) relieves claimants of a major evidentiary burden. It also authorizes courts to scrutinize the way in which the government spends. The well-known problems concerning a court’s ability to address budget issues remain, of course. But, even if courts remain cautious, the very process of requiring the State to justify its spending decision in the context of the Bill of Rights will both promote more open government and impose some pressure on government to take the Bill of Rights into account in all budgeting decisions. Moreover, although paragraphs (a) and (b) are drafted in terms that direct the State, they also suggest that, in crafting remedies for the infringement of the Article 43 rights, courts themselves must focus on the ‘widest possible enjoyment of the right’ and not simply on individual claimants.60 The operational provisions of the Bill of Rights are completed by (i) a generous provision on standing that permits cases to be brought by individuals in their own interest, in the interests of another person, or a class or group of people or in the public interest; 61 (ii) a provision securing the jurisdiction of the High Court to hear cases arising under the Bill of Rights, permitting Parliament to enact legislation that allows lower courts to hear Bill of Rights matters, and giving courts the jurisdiction to grant ‘appropriate relief ’; 62 and (iii) provisions carefully spelling out the obligations of the State in the implementation of rights, including obligations to protect vulnerable groups and to fulfi ll international human rights obligations.63
Substantive rights As already noted, the Bill of Rights is comprehensive and richly informed by international and comparative experience. But, in its emphases and through language and clauses that speak to the country’s history, it is completely Kenyan. The cluster of equality provisions provide an example of the way in which the Bill of Rights both does a legal job (securing the right to equality) and reinforces a sense of the Kenyan nation that embraces all the diverse groups that make up its people. Thus, the main equality provision, Article 27, guarantees equality before the law and every person’s ‘right to equal protection and the equal benefit of the law’. It then elaborates on what equality means: both direct and indirect discrimination by the State or individuals are outlawed; an open-ended list of grounds of forbidden discrimination includes race, sex, pregnancy, health status (a response to HIV Aids i.a.), age, religion, dress etc; and affi rmative action is mandated as a way of achieving equality. Less conventionally, there is a limit on ‘measures designed to redress . . . 60 Waruguru Kaguongo, “Reflections on the Complexities in Adjudicating Socio-economic Rights from the Perspective of Resource Allocation and Budgetary Issues,” in Social Enforcement of Socio-Economic Rights Under the New Constitution: Challenges and Opportunities for Kenya, ed. Japhet Biegon and Godfrey M Musila (Nairobi, Kenya: Kenyan Section of the International Commission of Jurists, n.d.), 31. 61 Art 22(1) and (2). This clause is drawn from the South African Constitution section 22. 62 Article 23. 63 Article 21.
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disadvantage’: any benefits must be based on need. In other words, rather than giving legislators and courts a free hand to use affirmative action to secure substantive equality, the Constitution seeks to direct its use. One assumes that the provision is a response to the widespread phenomenon of the ‘creamy layer’, a problem common to affi rmative action programmes but particularly evident in India where a small elite in disadvantaged groups is believed to reap most of the benefits.64 The question is whether a reference to need is the appropriate corrective to these problems of affi rmative action. It is, for instance, unclear whose or what need it refers to. At fi rst blush it may be taken to mean that individuals who are not personally disadvantaged should not benefit from affi rmative action. Thus children of wealthy members of a disadvantaged group should not be eligible for special consideration in university admissions. Another reading, however, would simply require affi rmative active to be genuinely required (needed). This reading would turn the provision into a form of necessity clause, heightening the bar for special programmes but it would, for instance, allow an affi rmative action programme that gave access to the bench to individuals from minority groups who are not themselves ‘needy’ in the usual social and economic sense but whose presence on the bench would fi ll a social need for a representative judiciary. Many drafters would consider these neutrally cast equality provisions adequate. However, where groups have been systematically excluded from meaningful participation in the life of the nation, an abstract assertion of equality does little to contribute to constituting an inclusive State. Accordingly, the Bill of Rights supplements the general right to equality. First, two clauses in Article 27 itself deal specifically with gender, making the implicit commitment to gender equality explicit: Clause (2) elaborates on the meaning of equality for women stating ‘Women and men have the right to equal treatment, including the right to equal opportunities in political, economic, cultural and social spheres’ and Clause (6) stipulates that ‘the State shall take . . . measures to implement the principle that not more than two-thirds of the members of elective or appointive bodies shall be of the same gender’. Secondly, Article 27 which is in the main part of the Bill of Rights is supplemented by the provisions of Part 3 of the Bill which is entitled ‘Specific Application of Rights’. Here, as the opening provision states, certain rights are elaborated ‘to ensure greater certainty as to [their] application to certain groups of people’. Following this are Articles dealing specifically with children, persons with disabilities, youth, minorities and marginalized groups, and older members of society, each a group which has been disadvantaged in the past. Although they implicate other rights, these Articles are in essence an articulation of what substantial equality means. They movingly capture the experience of many members of the groups to which they refer. Thus, Article 54 entitles people with disabilities to be ‘addressed and referred to in a manner that is not demeaning’. Article 57 requires the State, among other things, to take measures to ensure older people are able to ‘live in dignity and respect and be free from abuse’ and to ‘receive reasonable care and assistance from their family and the 64 For a discussion of the ‘creamy layer’ issue in India see Ashwini Deshpande, “Does Caste Still Defi ne Disparity? A Look at Inequality in Kerala, India,” The American Economic Review 90, no. 2 (May 1, 2000): 322 ff.
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State’. Article 55 requires youth to have ‘access to relevant education and training’ and to be ‘protected from harmful cultural practices and exploitation’ and so on. From a strictly legal perspective, each of these provisions may be redundant, but through them the Constitution expressly embraces the whole nation. Like the equality provisions, provisions relating to religion, culture and freedom of conscience and belief in the Bill of Rights work both formally to structure and constrain State power and the behaviour of individuals, and more imaginatively to construct the new constitutional vision of the Kenyan nation. They provide strong protection for freedom of conscience, religion, thought, belief and opinion which extends to practice, teaching and observance of a day of worship. Similarly rights of individuals to ‘use the language, and to participate in the cultural life of [their] choice’ are protected,65 reinforcing the obligations on the State to promote the diversity of languages in Kenya and ‘recognize culture as the foundation of the nation’ found in Chapter 2.66 In addition, the State is expected to recognize traditional and religious marriages and systems of personal law provided that they do not confl ict with the Constitution. Thus, not only are religious marriages permitted, but they are to be given State sanction.67 None of these provisions on culture and religion is unique to Kenya. However, Kenya’s political and social context gives them a particular resonance. As described above, religion was divisive during the process of constitution-making and in the lead up to the referendum. Culture, in so far as it is a proxy for tribe or ethnicity, is a marker of the most dangerous divides in Kenya. However, the inclusion of these rights in the Constitution was not contested in any way. The question is whether they can become the basis of a real tolerance of diversity and contribute to diverting Kenyans from identity based political competition and the destructive processes it has engendered. There are, of course, other rights in the Bill of Rights that respond directly to Kenya’s particular political, economic and social history. Of them, a number should be particularly noted. First, both the right to access to information, which extends to information held by individuals if that information is required to protect rights,68 and the right to fair administrative action69 give people a concrete way of insisting on transparency and good governance and of translating the general principle, expressed in Article 10, that government should be transparent and accountable, into practice. Secondly, the Constitution supplements the right to freedom of expression with an elaborate provision protecting the ‘freedom and independence of the electronic, print and all other types of media’. This is perhaps the strongest example of a right that 65
Article 44. Articles 7 and 11. 67 The marriage of children would not be permitted but most current Muslim practices in Kenya are likely to be consistent with the Constitution, particularly taking into account Article 24(4)’s special protection of Muslim law. 68 Article 35(1). This is taken from the South African Constitution section 32 but the Kenyan right adds two provisions: “Every person has the right to the correction of deletion of untrue or misleading information that affects the person” (clause (2) reflecting a history of malicious allegations against individuals in the media) and “The State shall publish and publicise any important information affecting the nation” (clause (3)). 69 Article 47. 66
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directly reflects and rejects Kenya’s authoritarian political history. It stipulates that the ‘State shall not exercise control over or interfere with any person engaged in broadcasting’ etc; broadcasting and other electronic media have freedom of establishment, subject only to limited licensing procedures that ‘are necessary to regulate the airwaves and other forms of signal distribution; and are independent of control by government, political interests or commercial interests’; and the State-owned media is to be free, impartial and to present divergent opinions. It also requires a body, ‘independent of control by government, political interests or commercial interests’ to set standards for the media. Thirdly, however, are rights that are particular to Kenya’s context but that are not progressive examples of rights that build tolerance and respect diversity of views, culture and belief. As noted above, in perhaps the most controversial provision of the Constitution, the right to life refers expressly to abortion stipulating that ‘The life of a person beings at conception’ and that ‘Abortion is not permitted unless, in the opinion of a trained health professional, there is need for emergency treatment, or the life or health of the mother is in danger, or if permitted by any other written law’. The controversy at the time of the referendum lay in the words ‘or if permitted by any other written law’. Somewhat disingenuously, those supporting the draft answered the anti-abortion lobby by claiming empathically that the Constitution permitted abortion only if the life of the mother was endangered. This provision awaits judicial interpretation. A provision concerning marriage provoked responses very similar to those on abortion on the basis of the perception that it legalizes gay marriage. It states ‘Every adult has the right to marry a person of the opposite sex, based on the free consent of the parties’. Of course, like the abortion provision, it is ambiguous and it does not rule out gay marriage. But, the public debate did not touch on this point. Instead, on the basis of rumour, some claimed that the Constitution protected gay marriage. Others opposed the Constitution for its failure to do so. Finally, there are provisions in this Bill of Rights that may set precedents for constitutions in countries that share Kenya’s history. So, the right to freedom and security of the person states expressly that corporal punishment is prohibited;70 in response to State suppression of NGOs and other organs of civil society, the right to freedom of association expressly applies principles of fair administrative action to laws that require the registration of associations, stipulating that such legislation should provide that registration should not be withheld unfairly and that associations should have a right to a hearing before registration is cancelled;71 the provision on access to justice adds that ‘if any fee is required it shall be reasonable and shall not impede access to justice’;72 and the right protecting people from the retrospective application of criminal law permits prosecution if an action was a crime under international law at the time it was committed even if it was not a crime in Kenya.73
70 71 72 73
Article 29(e). Article 36(3). Article 48. Article 50(2)(n).
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2.1.3 Leadership and integrity Chapter 6 of the Kenya Constitution is entitled ‘Leadership and Integrity’. It sets out the responsibilities of leadership and what are perhaps best described as rules that apply to State officers (people holding elected office and other constitutional officers such as judges, Cabinet Secretaries, members of independent commissions, the defence force chief etc). The Chapter opens with a set of principles. For example, ‘Authority assigned to a State officer is a public trust to be exercised in a manner that is consistent with the purposes and objects of this Constitution . . .’;74 and leadership and integrity include ‘objectivity and impartiality in decision making . . .; selfless service based solely on the public interest’75 and ‘discipline and commitment in service to the people’.76 It is unsurprising that these statements should appeal to Kenyans who had grown to mistrust politicians and bureaucrats deeply and equally unsurprising that this Chapter suffered particularly badly in the hands of the PSC which deleted substantial parts including a requirement that State officers submit regular declarations of assets to an anti-corruption commission.77 Nonetheless, it is not limited to general statements of principle. For instance, behavior that causes a confl ict of interests subjects State officers to disciplinary procedures, they are not permitted to hold bank accounts outside Kenya except as authorized by Parliament, and may not hold other jobs. Further implementing provisions are found in other parts of the Constitution, including one disqualifying people from standing for political office if they have contravened any provision of chapter 6.78 In some cases proper implementation of this Chapter depends on legislation, in others it will depend on honest courts. However, the attention that it is receiving from civil society means that it will be difficult for Parliament to pass laws that implement it in a half-hearted way or for dishonest officials to escape attention. It is also likely that the very broad standing provision in Article 258 of the Constitution which gives anyone acting in the public interest the ‘right to institute court proceedings claiming that [the] Constitution has been contravened or is threatened with contravention’ will be used by citizens determined to see the Chapter enforced.79 It has already been put to use80 and its importance to Kenyans is reflected in the fact that writing in 2011, not a year after the Constitution was brought into force, Ghai and Cottrell could already refer to the ‘now well-known Chapter 6’.81
74
Article 73(1)(a)(i). Article 73(2)(b) and (c). 76 Article 73(2)(e). 77 See “Revised Harmonized Draft.” Art 97. Among others, the Ghanaian Constitution (Chapter 24) and the Ugandan Constitution (Article 233) impose such a requirement on officers of the state. 78 For instance, Article 99 uses it as a basis for disqualifying people from standing for Parliament and, through Article 137, the presidency. 79 The question of course is whether it will be used by people with political interests to disable opponents and whether the requirement of “public interest” is adequate to avoid this. 80 Kenfrey Kiberenge, “Chapter Six of the Constitution Has Left a Trail of Casualties,” The Standard, February 5, 2012, http://www.standardmedia.co.ke/politics/InsidePage.php?id=2000051461&cid =4. 81 Ghai, Yash Pal and Cottrell Ghai, Jill, Kenya’s Constitution: An Instrument for Change, 141. 75
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2.1.4 Land ‘Undertaking land reform’ was listed in the Accord as one of the long term issues needing attention for good reason. Colonial dispossession had been followed by postindependence resettlement projects that were resented by many ethnic groups. Accordingly, grievances concerning access to and ownership of land fuelled political tensions for decades and, some have argued, constitute ‘the major structural factor underlying ethnically driven electoral and political violence in Kenya’.82 The CKRC and Bomas Conference paid considerable attention to the question of land and the provisions prepared in that process were left substantially unchanged in the Constitution presented to the referendum in 2005. But, unsurprisingly, the provisions were not unanimously accepted and land was at the centre of the No campaign with leaders asserting, among other things, that the Constitution would allow ‘mass evictions’ of people by those claiming to be the original inhabitants of certain parts of the country.83 The provisions on land are relatively detailed and open up opportunities to end corruption in the system of land distribution and registration and the use of land as a political tool. In addition to the right to property, protected in the Bill of Rights,84 Chapter 5 is dedicated to Land and Environment. The property right entitles people to own property and protects them from arbitrary deprivation of property. It stipulates that expropriation by the State must be carried out in accordance with the provisions of Chapter 5 or be for a public purpose. In the latter case, prompt payment of just compensation is required. Chapter 5 opens with a provision that requires land to be ‘held, used and managed in a manner that is equitable, efficient, productive and sustainable’ and sets out seven principles that apply to the State and individuals alike in their use of land. These include ‘equitable access to land;’ ‘sustainable and productive management of land resources;’ and ‘elimination of gender discrimination in law, customs and practices related to land’.85 Chapter 5 continues, in deceptively simple terms, to categorize land as public, private or communal; to prohibit possession of land by foreigners for anything greater than a 99-year lease; 86 and to establish an independent land commission to, among other things, manage public land, deal with historical injustice concerning land, assess taxes on land and do research. Although these arrangements require attention to be paid to historical abuses as well as an overhaul of the system of land management, they are complicated by a 82 Peter Kagwanja and Roger Southall, “Introduction: Kenya – A Democracy in Retreat?,” Journal of Contemporary African Studies 27, no. 3 (2009): 268 citing Marcel Rutten and Sam Owuor, “Weapons of Mass Destruction: Land, Ethnicity and the 2007 Elections in Kenya,” Journal of Contemporary African Studies 27, no. 3 ( July 2009): 305–324; Karuti Kanyinga, “The Legacy of the White Highlands: Land Rights, Ethnicity and the Post-2007 Election Violence in Kenya,” Journal of Contemporary African Studies 27, no. 3 ( July 2009): 325–344 and Prisca Mbura Kamungi, “The Politics of Displacement in Multiparty Kenya,” Journal of Contemporary African Studies 27, no. 3 (2009): 345–364. 83 See, for example, Lucas Barasa, “No Group Threatens to Evict Communities,” Daily Nation On the Web (Nairobi, Kenya, June 10, 2010), http://allafrica.com.ezproxy.uct.ac.za/stories/201006101139. html. 84 Art 40. 85 Art 60. 86 Art 65.
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number of things. For instance, public land is divided into 14 categories. Public land in certain categories is vested in the counties to be ‘held . . .in trust for the people resident in the county’ by the relevant county. The rest is vested in the national government, to be held in trust for the people of Kenya. But public land may not be ‘disposed of or otherwise used’ except in accordance with an Act of Parliament.87 In other words, although certain public land is formally identified as falling under county control, counties have no legislative power over it. In fact, they may not even determine its use. Similarly, the provision restricting ownership of land to Kenyan citizens is not unusual but its insistence that a body corporate is a citizen only if its entire shareholding is by Kenyans may have unintended consequences on the flow of investment into the country, transparency in share holdings and the valuation of companies.88 The implications of giving the Land Commission the massive role that is has are also unclear.89 The decision to remove management of land from government was presumably a response to the tendency of Presidents Kenyatta and Moi to treat public land as personal property and other forms of corruption. However, inevitably an independent body is less accountable than a government and there is no guarantee that, for instance, corruption in the deeds office, allocation of land to family and friends and other abuses of power will be eliminated by giving a Commission control over land. The provision requiring the Land Commission to investigate historical injustices relating to land is particularly important. This essential but immense task has been on the agenda for some time. The 2007 National Land Policy commits the government to establishing ‘suitable mechanisms for restitution, reparation and compensation of historical injustices and claims’ and provides some more detail for dealing with specific problems such as those related to pastoral land and vulnerable groups.90 But, neither the Constitution nor the Land Policy provide any concrete guidance about what the process will be.
2.2 The national government 2.2.1 The electoral system When the members of the CoE sat down in 2009 to reconsider the earlier proposals concerning the electoral system, the violence of the last elections was at the forefront of their minds. The new system had to provide a framework for a better electoral process. The ineffectiveness (or corruption) of the Kenyan Electoral Commission; the prevalence of fraud; and general ‘electoral lawlessness,’ to use the words of
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Art 62(4). Art 65(3). 89 The Land Commission may have been modeled on the Ugandan Commission (Constitution of Uganda, 1995, article 238) but in the case of Uganda, “district land” is managed by district land boards (art 240) that are not subject to the control of the national Land Commission so the mandate of the national Commission is rather narrow. 90 Ministry of Lands, National Land Policy (Nairobi, Kenya, May 2007), para. 363 ff. 88
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the Independent Review Commission on the Elections,91 had to be ended. Moreover, although it was clear that the real problems lay deep in Kenyan political, economic and social life, the unfairness of the electoral system itself, reflected in gross disparities in the size of constituencies, the failure of the system to provide representation in Parliament for many groups in Kenyan society (there were only 22 women in the Kenyan Parliament elected in 200792 ), and the ability of a President to secure election with a small percentage of the vote all contributed to the problems that the new Constitution was expected to address. Not unexpectedly, then, fairly detailed constitutional provisions set out a framework for running elections. They require Kenya to meet generally accepted standards for free and fair elections emphasizing openness and accountability and stipulating, among other things, that elections must be by secret ballot, free from violence and intimidation and administered in an impartial way;93 that an Independent Electoral and Boundaries Commission (IEBC) determines constituency boundaries for national and county elections and manages elections;94 and that all candidates and parties must comply with a code of conduct.95 As in other parts of the Constitution, further provisions respond directly to specific problems Kenya has encountered in the past. Thus, Article 86 states expressly that votes must be counted and announced at each polling station, Article 88 requires the IEBC to regulate the process by which parties nominate candidates, and independents are permitted to stand provided that they have not been members of a party within three months of the election.96 Capture of the IEBC by the President is intended to be avoided by an appointment process that allows legislation to prescribe how members should be identified and requires approval of nominees by the National Assembly.97 On the electoral system itself, the CKRC reported that people were dissatisfied with a system that allowed the President to be elected on a plurality of the vote and so proposed that to win, a presidential candidate should receive a majority of the vote with a run-off if necessary. It also proposed retaining the requirement that the President receive 25 per cent of the vote in five of the eight provinces.98 The new Constitution follows these proposals but, as provinces are no longer formally recognized, a presidential candidate must secure 25 per cent of the vote in more than half the counties.99
91
Report of the Review Commission on the General Elections Held in Kenya on 27th December, 2007 (Kriegler Commission) (Nairobi, Kenya, September 17, 2008) p. 10. 92 Kenyan Women’s Parliamentary Association http://www.kewopa.org/members.php. 93 Art 81. 94 Art 88. 95 Art 84. 96 Art 85. 97 Art 250. Some electoral commissions deliberately include party representatives but the Kenyan Electoral Commission does not. It may not include anyone who has been a member of Parliament or a county assembly or an office holder in a political party within the past five years. For the procedure for appointing commissioners see the Independent Electoral and Boundaries Commission Act 9 of 2011 First Schedule. 98 Article 5(3)(f ) Constitution of Kenya 1963. 99 Art 138(4).
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Decisions about the electoral system for Parliament and the county assemblies were more difficult. Kenya has had a system of single-member constituencies since before independence and MPs play a prominent (if not always constructive) role in public life. Working under another system was inconceivable to most Kenyans. Accordingly, the electoral system for the national Parliament is primarily a single-member constituency system. The 350-member National Assembly is composed of 290 ‘general’ members; 47 women elected in single-member constituencies (the 47 counties constitute the constituencies for the seats reserved for women); 12 members representing ‘special interests’ including ‘the youth, persons with disabilities and workers’ nominated by parties in proportion to the seats won in the election; and a Speaker. The pattern in the 68-member Senate is similar. Here 47 directly elected members are complemented by 20 members nominated by parties and a Speaker. Of the 20 nominated members, 16 are to be women and two are to represent the youth (a man and a woman) and two to represent people with disabilities (again one man and one woman). The most controversial part of this arrangement was not the special seats or the failure to embrace some elements of proportional representation (as had been proposed by the CKRC).100 It was the increase of the number of constituency seats in the National Assembly from 210 to 290, which was viewed by the public as a shameless exercise by politicians to secure their positions and those of their friends. But, this was one part of a political deal concluded in response to the gross level of constituency boundary manipulation of the past.101 The formal inequality of vote in the system was exacerbated by the fact that opposition parties were based in the most populous electoral districts.102 The substance of the deal was to introduce a commitment to equality of vote under which constituencies would have equal numbers of inhabitants103 – the IEBC is instructed to work towards this ‘progressively’.104 Seen in 100 Constitution of Kenya Review Commission, “Constitution of the Republic of Kenya 2002 (Draft)”, September 27, 2002. See also Constitution of Kenya Review Commission, The People’s Choice: The Report of the Constitution of Kenya Review Commission (Short Version) (Nairobi, Kenya, September 18, 2002), 39 ff. 101 Joel D. Barkan and Robert E Henderson, Toward Credible and Legitimate Elections in Kenya: Part II IFES Assessment Report, May 1997, 17 and Joel D. Barkan, Paul J. Densham, and Gerard Rushton, “Space Matters: Designing Better Electoral Systems for Emerging Democracies,” American Journal of Political Science 50, no. 4 (October 1, 2006): 926–939. In “Space Matters”, Barkan et al report that in 1997 the least populous Kenyan constituency had just 3 635 inhabitants and the most populous 301,538 (Figure 2 p. 932). 102 Barkan et al “Space Matters” p. 932. 103 The issue was fi rst dealt with in the Accord in 2008 and then the 1963 Constitution was amended to introduce the concept of equality of vote. Article 42(3) of the 1963 Constitution had stated: “All constituencies shall contain as nearly equal numbers of inhabitants as appears to the Commission to be reasonably practicable, but the Commission may depart from this principle to the extent that it considers expedient in order to take account of – (a) the density of population, and in particular the need to ensure adequate representation of urban and sparsely-populated rural areas; (b) population trends; (c) the means of communication; (d) geographical features; (e) community of interest; and (f ) the boundaries of existing administrative areas . . . .”
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this context, the increase in the number of seats was a device to secure the support of MPs for the change by reducing (or eliminating) the danger that entire constituencies would be eliminated in a process of equalization. (To drive this point home, the PSC inserted a clause in the Schedule of transitional arrangements stating that the ‘fi rst review of constituencies . . . shall not result in the loss of a constituency’.105) However, the commitment to equality of vote itself is significantly watered down by a provision allowing a deviation from the quota of 40 per cent each way in sparsely populated areas and cities and 30 per cent elsewhere. In other words, under the Constitution, the population of some city constituencies may be 80 per cent higher than that in some rural constituencies. Although the disparity in constituency size was a major concern for certain blocks of MPs, many civil society groups were focused on the failure of the system to ensure that diverse groups in Kenya were properly represented. The special seats are intended to begin to address this. As noted above, at the moment there are only 22 women in the Kenyan Parliament. The new Constitution sets out to change this – in provisions that are at best ambiguous and, at worst, contradictory. First, as already noted, it stipulates that of 350 members of the National Assembly, 47 will be women. In addition, the party lists from which the 12 special members of the National Assembly are to be chosen are to alternate between men and woman. In the Senate, there will be 18 women. But, second, Article 81 of the Constitution, setting out the ‘general principles for the electoral system’ states that ‘not more than two-thirds of the members of elective public bodies shall be of the same gender’. Under the provisions allocating seats, the Senate is close to this target (22 women are required) but the National Assembly is far from the 116 women members required to reach a target of one-third and it is extremely unlikely that the difference will be made up by women elected in single-member constituency seats. The current proposal is to amend the Constitution to provide for additional seats, fi lled by parties in proportion to the seats won in the election, to make up the gender quota.106 The proposed amendment is controversial for two reasons: fi rst, many people are resistant to any amendment whatsoever, as they feel it will simply open the door to the kind of selfinterested constitutional amendments that politicians supported in the past; second, there is a general concern that it will lead to a bloated Parliament. The other special seats (for youth, persons with disabilities and workers) are also in the hands of parties, also to be fi lled from lists in proportion to seats won and, as there are very few of them, these seats are weighed heavily in favour of larger parties. But, what is most striking about the arrangements is that they do not provide for ‘ethnic representation’. The only provisions concerning the representation of ethnic minorities are ‘soft’: Article 100 requires Parliament to enact legislation promoting the 104
The 2008 amendment, incorporated as Article 41C, replaced the chapeau with a provision that required delimitation of constituencies to be on the basis of equality of votes. The list of factors was retained. The Bomas Draft had steered a middle course, using the (rather vague) words ‘approximate equality of constituency population’. Disregarding the 2008 settlement, the CoE followed the Bomas language but the PSC reverted to the 2008 wording. 104 Art 89(5) – (7). 105 Sixth Schedule section 27(4). 106 Constitution of Kenya (Amendment) Bill, 2011.
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representation of ‘ethnic and other minorities; and marginalized communities’ along with women, persons with disabilities and youth and Article 90(2) requires the IEBC to ensure that party lists for fi lling the small number of special seats ‘reflect the regional and ethnic diversity of . . . Kenya’. Clearly, any requirement that special seats be set aside for minority ethnic groups would be difficult to implement from both a political and an administrative perspective and would constitutionalize ethnic politics. Nonetheless, this arrangement is a shift from the original CKRC proposal of a mixed system with 90 of 300 seats to be elected on lists which were to ‘take into account the need for representation of . . . minorities’ and to ‘reflect the national character’.107 These provisions on the electoral systems and conduct of elections are supplemented by a set of ‘requirements’ for political parties. Of these the most important – and most difficult to implement – stipulate that every political party should have a ‘national character’108 and should not be founded on ‘a religious, linguistic, racial, ethnic, gender or regional basis’. Similar provisions are found in many African constitutions but their effect is difficult to assess. As Bogaards, Basedau and Hartmann put it,109 on the one hand they are a serious attempt to respond to a real problem and make competitive politics work; on the other hand, they can clearly be misused, both by governments and individuals seeking to eliminate competition. The new Kenyan Political Parties Act deals with the constitutional requirement of ‘national character’ by requiring that, for registration, a party must have recruited at least 1 000 members from each of more than half the counties, that these members must reflect ‘regional and ethnic diversity, gender balance and representation of minorities and marginalized groups’ and that similar diversity must be reflected in the party’s governing body.110 This clearly favours larger parties but it is not clear what its implications will be for the development of party politics in counties in which there is not an ethnically diverse population. The importance of the electoral arrangements – both the electoral system and process – is obvious. If elections are not fair and perceived to be fair, the new constitutional dispensation will fail at the starting posts. For this, the newly-constituted IEBC carries enormous responsibility but much also depends on whether or not the other political arrangements introduced by the Constitution are successful in dispersing power, thus distributing political prizes more broadly, and are accepted by the powerful elites that dominate Kenyan public life. This is the subject of the next section.
2.2.2 The executive and legislature: balancing and controlling power As the earlier discussion of the constitution-making process shows, decisions about the design of the three principal components of the national government, the execu107
Art 107(5) CKRC Draft. Art 91(1)(a) and (2)(a). 109 Matthijs Bogaards, Matthias Basedau, and Christof Hartmann, “Ethnic Party Bans in Africa: An Introduction,” Democratization 17, no. 4 (2010): 613. 110 Act 11 of 2011 section 7(2). 108
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tive, legislature and judiciary, proved the most intractable of all. The debate focused on the executive but the institutions are clearly closely interlocked and each branch was controversial. The 1963 Constitution had been amended over the years to centralize power in the executive. Some of the most egregious provisions had been repealed in the early 1990s, but Parliament and the courts remained weak and the President retained enormous power.111 Although the President was limited to two five-year terms (the provision which had forced President Moi to step down in 2002), he appointed all members of the electoral commission which demarcated electoral districts, registered voters and ran elections.112 Similarly, he had control over the judiciary with the independent power to appoint the Chief Justice; the power to identify all members of the Judicial Service Commission which selected other judges; and the power to set up and appoint members to a tribunal to remove judges from office. Virtually all other significant appointments – including that of the Attorney-General, the Commissioner of Police, and, of course, members of Cabinet – were in the gift of the President. Reflecting the parliamentary origins of the constitutional arrangements, Cabinet members were to be drawn from Parliament. This simply served to secure the President’s power over MPs who aspired to Cabinet positions. And the President held the power to dissolve and prorogue Parliament.113 Moreover, an extremely broad interpretation of what a money bill was in effect gave the President full control over virtually all legislation.114 Together with a powerful system of patronage and weak political parties, until very recently these provisions made Parliament readily subservient to the President. Overall, the Constitution provides a framework for governance within which ethnic politics could be fostered and corruption flourished. The parliamentary system proposed by the CKRC, the Bomas Conference and the CoE was intended to disperse power and, by bringing an end to presidential elections, to remove the most dangerous, winner-takes-all aspect of democratic politics in Kenya. In these proposals, the salience of ethnicity in politics was addressed through provisions requiring ethnic inclusiveness in the executive, including Cabinet and the bureaucracy. The provisions seeking to secure the representation of all ethnic groups in public administration were retained in the fi nal Constitution, but as recounted above, the PSC rejected a parliamentary form of government and chose instead a presidential system with, it hastened to emphasize, proper checks and balances on the US model. The new Constitution secures such a system of limited government to some extent115 in lengthy provisions on the national executive and legislature. However, in accordance with the transitional arrangements that permit the current President and Parliament to complete their terms, implementation of
111 See Constitution of Kenya Review Commission, “Final Report,” 27 for an excellent outline of the amendments to the Constitution between 1963 and 1990. 112 Art 41(1) 113 Arts 58 and 59. The power to dissolve Parliament was constrained by the fact that dissolution of Parliament led to presidential elections. 114 Article 48 of the former Constitution was interpreted to require the President to approve any Bill that anticipated spending. 115 See generally, Chapter 9.
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these provisions was delayed until after the fi rst elections under the new Constitution.116 A number of provisions clearly limit the power of the President. First, on the classic model of presidential systems, the President and Parliament have fi xed terms – the President may not prorogue Parliament. Second, the President no longer has a free hand in the most significant government appointments. Cabinet Secretaries (ministers), the Attorney-General and Chief Justice, the Electoral and Judicial Service Commissions, the Inspector-General of the National Police Service etc are nominated by the President but their appointment must be confi rmed by the National Assembly or Parliament. Third, presidential candidates must announce their proposed Vice President (running mate) before the election, thus avoiding the situation in which, in order to garner support, presidential hopefuls promised many people from different sectors and tribes the Vice Presidency. Fourth, the size of the Cabinet is restricted to 25,117 limiting the ability of the President to extend patronage and quell opposition by drawing many people into a huge cabinet. Moreover, Cabinet members may not be MPs. Fifth, executive/presidential control over the budget is removed. And, finally, the two-term rule is retained. At the same time, Parliament is strengthened so that it can provide a check on the executive. Consistent with the US model of presidentialism chosen by the PSC (and in stark contrast to the past), Bills must be introduced by members of Parliament (thus members of the executive need to fi nd sponsors for legislation they want to put through);118 the executive is to be consulted on money Bills but cannot block their passage;119 Parliament’s budget is dealt with separately from that of the executive;120 and, to ensure Parliament retains its law making authority, delegation of law making is constrained (the enabling statute must ‘expressly specify the purpose and objectives for which that authority is conferred, the limits of the authority, the nature and scope of the law that may be made, and the principles and standards applicable to the law made under the authority’).121 But, these classic arrangements for checking power offer little reassurance to many Kenyans for whom, as Yash Ghai has eloquently explained, ‘the key operators and, one may say, the beneficiaries of democracy, politicians and political parties, are . . . the most dangerous enemies of democracy’.122 Indeed, the history of the Kenyan Parliament is not distinguished. Accordingly, following a pattern increasingly seen in newer African constitutions and in Asia, in addition to strengthening the court system, the Constitution seeks to defi ne the roles of various constitutional office holders more clearly; secure the independence of certain offices; establish independent institutions to, in the language of the South African Constitution, ‘support constitu116 117
Sixth Schedule section 2. Article 152(1). The total of 25 includes the President, Deputy President and the Attorney-Gen-
eral. 118
Article 109. Articles 109 and 114. 120 Articles 127(6) and 221. 121 Article 94(6). 122 Yash Ghai, “Journey Around Constitutions: Reflections on Contemporary Constitutions,” South African Law Journal 122 (2005): 815. 119
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tional democracy’; ensure fair representation of all sectors of Kenyan society in public office; and provide opportunities for the public to hold government to account between elections. Prosecutions are no longer directly under the control of the President through his Attorney-General. Again, Yash Ghai explains the problem well. In the past, he says, the Attorney-General ‘triumphed over the separation of powers’.123 On the Westminster model, the Kenyan Attorney-General was a member of Cabinet, the heart of partisan politics, and, among other things, controlled all prosecutions. This model has been the subject of controversy in many places.124 In Kenya, successive Attorneys-General have for decades shielded people implicated in corruption scandals as well as police and others suspected of human rights abuses from prosecution. In 2006 this led the US Ambassador, Mark Bellamy, to report to the State Department that ‘Wako [the Attorney-General] is the main obstacle to successful prosecutions of any kind in Kenya’.125 Under the new Constitution responsibility for prosecution is vested in a separate Director of Public Prosecutions whose appointment must be approved by Parliament, who serves for a fi xed term and may be removed from office on limited grounds only, and who ‘shall not be under the direction or control of any person or authority’.126 The Attorney-General continues as ‘principal legal adviser to the Government’ and as a member of the Cabinet.127 Secondly, independent institutions are used to curtail the executive’s control over the (vast) public service: a Public Service Commission controls the establishment of offices in the public service and appointments, and the Teachers Service Commission and newly established National Land Commission have roles in managing and overseeing the administration of education and land. The independence of each of these commissions from government interference is intended to be secured by provisions that control the appointment and tenure of commissioners, assure them adequate budgets and give them the power to conduct investigations on their own initiative. An independent Salaries and Remuneration Commission is also to deal with the habit of Kenyan politicians of increasing their own salaries (the salaries of Kenyan MPs are among the highest in the world in relation to the country’s GDP per person).128 It will set the salaries of all State officers, including MPs and judges. Thirdly, other independent offices and commissions including the Office of the Auditor-General and the Kenya National Human Rights and Equality Commission have oversight roles. Each of these institutions, as well as the IEBC, is protected by the general provisions governing commissions mentioned above. Currently, because 123 Yash Ghai “Victory for the People: Let us abolish the Attorney General!” Nairobi Star (date unknown). 124 See for a discussion of prosecuting authorities in Africa in a comparative context, Philip Stenning, “Prosecutions, Politics and the Law: The Way Things Are,” in Accountable Government in Africa: Perspectives from Public Law and Political Studies, ed. Danwood Chirwa and Lia Nijzink (Cape Town, South Africa: University of Cape Town Press, 2012), 104. 125 Branch, Kenya, 225. Wrong, It’s Our Turn to Eat. 126 Article 157. 127 Article 156. 128 Art 230. See also “Kenyan MPs Vote to Give Themselves £2,000 Monthly Pay Rise,” The Guardian, July 1, 2010, sec. World news, http://www.guardian.co.uk/world/2010/jul/01/kenyanmps-pay-rise.
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Parliament is divided, its control of appointments to all these institutions ensures that those appointed are drawn from a relatively wide spectrum of Kenyan society. Although, predictably and as elsewhere, it appears that some form of political deal is struck in determining to whom positions should be given, appointments are also protected by the intense public scrutiny to which they are subjected129 and so it is likely that the independent institutions will increase accountability in government. The formal institutional arrangements described above are primarily geared to constraining the power of the presidency and introducing accountability. They are complemented by provisions on the legislature, executive and public service that seek to prevent power being exercised in a manner that excludes all but those of the President’s tribe and other tribes in the governing alliance from public positions. Now, in addition to the requirement that political parties may not be organized along ethnic lines and must have a ‘national character’, the composition of the cabinet must ‘reflect the regional and ethnic diversity of the people of Kenya’;130 the public service and security services must offer equal opportunities to people of all ethnic groups;131 and the composition of the independent commissions and offices ‘taken as a whole’ must reflect the ‘regional and ethnic diversity of Kenya’.132 Finally, the Constitution relies on an active citizenry and provides multiple opportunities for the public to hold the government to account. The rights to vote, free speech, free media and access to information constitute the foundation. These are complemented by the Constitution’s commitment to transparency and accountable government which is first asserted in the statement of principles in Article 10 and then reiterated in relation to the management of land, running elections, the administration of the judicial system and public finance.133 The broad standing provision discussed above gives civil society access to the courts if it is feared that the Constitution will be or has been breached. The public may also lay complaints with the independent commissions134 and the Constitution requires provision to be made for the recall of MPs.135 In the context of the Kenyan government’s secretive and unaccountable past, each of these provisions is important and each signifies a step towards substantive democracy. Nonetheless, their primary function is to provide an opportunity for Kenyans to react to abuses. At least as important are provisions that open up opportunities for citizens to engage in government and the process of policy making.136 Of these the most important may be Article 118(1) which states:
129 Peter Opiyo, “Speaker Rules MPs Didn’t Approve Matemu, Just Rejected Report,” The Standard (Nairobi, Kenya, February 22, 2012), http://www.standardmedia.co.ke/InsidePage.php?id=20000487 51&catid=4&a=1. A particularly intense debate surrounded the appointment of the Director of Public Prosecutions. See the contribution by Yash Pal Ghai, “Keriako Tobiko ‘Not Fit for DPP’s Post’,” Kenya Stockholm Blog, May 19, 2011, http://kenyastockholm.com/2011/05/19/keriako-tobiko-not-fit-fordpp-post/. 130 Art 130. 131 Arts 232(1)(i) 238(2)(d), 241(4), and 246(4). 132 Art 250(4). 133 Arts 60(1)(d), 81, 172(1) and 201. 134 Art 252(2). 135 Art 104. 136 For instance, in reviewing constituency boundaries, the IEBC must consult all interested parties
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‘Parliament shall – (a) conduct its business in an open manner, and its sittings and those of its committees shall be in public; and (b) facilitate public participation and involvement in the legislative and other business of Parliament and its committees.’
This provision is drawn from the South African Constitution.137 The requirement that parliamentary committees be open to the public has the potential to change fundamentally the way in which the Kenyan Parliament operates. Currently, leaked information fuels political debate in Kenya, often in counter-productive ways. When these provisions come into force, this practice should lose its grip and Kenya’s vibrant press and civil society are likely to follow committee proceedings avidly and to pay particular attention to the way politicians carry out their oversight role.138 But, politicians may fi nd paragraph (b) even more demanding. In South Africa, the Constitutional Court has interpreted it as imposing a justiciable obligation on each house of Parliament to engage with the public on each Bill an appropriate way depending on the context. The South African Parliament has considerable leeway in determining both what sectors of society have an interest in a particular piece legislation and the best way involve the public. But, nonetheless, in South Africa, a failure to ‘facilitate public participation’ has led to laws being declared unconstitutional on procedural grounds.139 To the surprise of many South Africans, this provision, unnoticed when the Constitution was first adopted, has changed the way Parliament behaves. Committee hearings are held on many Bills all over the country giving civil society a constructive way of engaging with laws when they are adopted. Article 118 of the Kenyan Constitution has not come into force yet because, like other provisions relating to the legislature and executive it is suspended until after the next elections. When it does, there is a strong chance that, as in South Africa, the Kenyan law making process will become more accountable.
2.3 Courts The slogan ‘Why hire a lawyer if you can buy a judge?’ may not have been coined in Kenya but it captures the state of the Kenya judiciary over the past thirty years or
(Art 89(7) and in determining the division of revenue among counties, the Senate must invite submissions from the public (Art 217(2)(d)). 137 Section 59. 138 The Speaker may exclude the public in ‘exceptional circumstances’ if ‘ justifi able reasons’ for the exclusion exist (Art 118(2)). 139 Doctors for Life International v Speaker of the National Assembly and Other 2006 (6) SA 416 (CC) (overturning laws on basis that National Council of Provinces had failed to consult the public properly). See also Matatiele Municipality and Others v President of the Republic of South Africa and Others 2007 (6) SA 477 (CC); Merafong Demarcation Forum and 10 Others v President of the Republic of South Africa and 15 Others 2008 (5) SA 171 (CC) (upholding constitutional amended on grounds that consultation by provincial legislature was adreqaute); Poverty Alleviation Network and Others v President of the Republic of South Africa and Others 2010 (6) BCLR 520 (CC) (upholding constitutional amendment on grounds that consultation by both provincial and national legislatures had been adequate).
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so. The problems in the judiciary are well documented.140 In 2003, a committee established by the newly-appointed Chief Justice, attempted to quantify the level of corruption in the judiciary and estimated that 50 per cent of judges and 30 per cent of magistrates were implicated in corruption.141 Many reports seek to identify the causes of the high levels of corruption. Clearly their fi ndings are speculative but there seems to have been agreement in Kenya that, although a substantial part of the problem lay in the President’s manipulation of judicial appointments and control over the judiciary and the sheer dishonesty of judicial officers, issues relating to the poor terms of service, overload and bad management of the courts contributed to the problem.142 Constitution-makers were thus concerned with securing a relationship between the judiciary and the other branches of government that controlled executive influence over the judiciary, ensured that corruption in the judiciary could be tackled and allowed institutional arrangements to be put in place that would strengthen the ability of courts to operate properly. Under the new Constitution, judicial independence is protected143 and judges (that is judicial officers serving on a superior court) are to be selected by an 11-member, independent Judicial Service Commission ( JSC). The Chief Justice chairs the JSC and four other judges are elected to membership of the JSC by their peers. Other members include the Attorney-General, two lawyers chosen by the association of lawyers, a person nominated by the Public Service Commission and two members of the public, nominated by the President and confi rmed by the National Assembly.144 The JSC’s choice of Chief Justice and Deputy Chief Justice is subject to confirmation by the National Assembly but in all other cases its choice is final. Judicial tenure is secure until retirement at 70 years of age and a procedure involving the JSC and a tribunal must be followed before a judge may be removed.145 These provisions end the direct control of the executive over judicial appointments.146 But the executive also exercised control over the judiciary more indirectly. The many problems related to the operation of the judiciary (bad management, low salaries etc) reflected decades of what seemed to be deliberate underfunding. Thus, the Advisory Panel of Commonwealth Judicial Experts commissioned by the CKRC recommended that the judiciary be able to draw up its own budget and engage directly with the relevant government officials on it. The Constitution implements this recommendation and establishes a Judiciary Fund which is managed by the Chief Registrar of the Judiciary (also a constitutional position). The annual budget for the judiciary is not incorporated into the national budget prepared by the executive but 140 See, for example, Report of the Advisory Panel of Eminent Commonwealth Judicial Experts (Nairobi, 2002: Constitution of Kenya Review Commission, May 17, 2002) and many reports of the Commission of Jurists, Kenya branch (‘ICJ-K’). Jan van Zyl Smit, “The Kenyan Judiciary, Corruption, Vetting and Reform: History and Present Challenges”, 2011, provides a good synopsis of the problems facing the judiciary. 141 Report of the Integrity and Anti-corruption Committee of the Judiciary of Kenya (Nairobi, Kenya, September 2003), 31, http://www.marsgroupkenya.org/Reports/Government/Ringera_Report.pdf. 142 Ibid., 13. 143 Art 159. 144 Art 171 and see Judicial Service Act 1 of 2011. 145 Arts 166, 167 and 168. 146 For previous situation see Constitution of Kenya, 1963, Articles 61 and 65(5).
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submitted directly to the National Assembly147 and, as already noted, the Salaries and Remuneration Commission determines judicial salaries. Although this does not allow the judiciary to determine its budget on its own as some members of civil society demanded, it does bring transparency to the process of budgeting and, with a determined and legitimate bench, should lead to significant changes.148 These new constitutional arrangements bring Kenya into line with international standards concerning the independence of the judiciary but they do not address the existing corruption in the judicial system. So-called ‘radical surgery’ carried out in 2003 after President Kibaki’s election purged the judiciary but it was widely (and validly) criticized on many grounds including for flouting principles of due process and providing inadequate opportunity for participation by people outside the judiciary and executive.149 Nonetheless, despite the problems surrounding the 2003 process and the PSC’s resistance, the new Constitution requires Parliament to establish a process to ‘vet’ all judges and magistrates for their ‘suitability’.150 After much debate, Parliament fi nally settled on a process run by a tribunal on the model of those set up under the Accord, consisting of six Kenyans (three of whom must be lawyers) and three foreign, Commonwealth judges.151 Section 5 of the Vetting of Judges and Magistrates Act requires the tribunal to ‘be guided by the principles and standards of judicial independence, natural justice and international best practice’. Clearly, the process will not be easy and the tribunal will face both political pressure and legal challenges.152 There is limited international experience to guide it and it faces difficult questions such as the adequacy of evidence against judges and the standard to be applied. Although the vetting process is protected by an constitutional provision that expressly exempts it from the constraints of the provisions on the independence of the judiciary and the protection of the tenure of judges, it is obviously important that due process is scrupulously adhered to, not only because the Constitution and the Act require it but also because, as a process that will be central to the founding of the judiciary under the new constitutional order, it needs to provide an example of how justice should be done. As noted, provisions requiring judges to be vetted were met with political resistance but they generally secured popular support. On the other hand, the continued inclusion of the Kadhis’ Courts in the Constitution was not of particular concern to 147
Art 173. Changes are already apparent. See Irene Ndungu, “Cautious Optimism Over Judicial Reforms,” allAfrica, February 21, 2012, http://allafrica.com/stories/201202211501.html. 149 Jan van Zyl Smit, “The Kenyan Judiciary, Corruption, Vetting and Reform: History and Present Challenges,” (unpublished paper, March 2011) 9 citing International Commission of Jurists, Kenya: Judicial Independence, Corruption and Reform (April 2005), https://www.icj.org/dwn/database/Kenya-JudicialIndpCorruption&reform-April2005report.pdf. 150 Sixth Schedule section 23(1). 151 Vetting of Judges and Magistrates Act 2 of 2011 sections 7 and 9. 152 The fi rst legal challenge to the process (arguing, among other things, that the entire process was unconstitutional for violating internationally recognized principles) was launched before the tribunal was constituted (Dennis Mogambi Mong’are v Attorney General & 3 Others [2011] eKLR). The vetting was initially suspended but the ban was lifted in February 2012. See “Appeal Court Lifts Ban on Judges Vetting,” The Standard (Nairobi, Kenya, February 21, 2012), http://www.standardmedia.co.ke/InsidePage.php?id=2000052571&cid=4&. 148
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the politicians but it was one of a handful of issues around which the No campaign rallied and which provoked intense public debate. Among other things, the institutionalization of religious courts was argued to be in direct confl ict with the description of Kenya as a secular state and some groups protested that, if Kadhis’ courts were to be included, Christian courts should also be recognized. The underlying interests of the leaders of the No campaign were always unclear but it was clear that Kadhis’ Courts provided a way to draw support by playing on ethnic and religious prejudice – made easier by the regional and international climate at the time. This itself was one of the reasons that it was important to retain the Courts in the Constitution. Like provisions dealing expressly with children, the youth and other disadvantaged groups, the continued protection of the Kadhis’ Courts had a symbolic as well as formal legal role. Provision had been made for the Courts in the 1963 Constitution. Politicially, to remove constitutional protection from them would have heightened the sense of victimization and exclusion many Kenyan Muslims feel and added impetus to the secessionist movement in the coast region.153 Legally, to remove the Kadhis’ courts from the Constitution would have been to go back on an undertaking given at independence by the Kenyan government to the Sultan of Zanzibar to protect them in exchange for control over the coastal strip of Kenya.154 Accordingly, Chapter 10 of the Constitution lists the Kadhis’ Courts presided over by Muslims, as subordinate courts with jurisdiction limited to Muslims who submit to their jurisdiction.
2.3 Devolution: Diffusing power; recognizing diversity As noted in the introduction, the system of regionalism introduced at independence was intended to diffuse power but it was rapidly dismantled and, instead, the colonial system of provincial and district administration was retained, giving the President control over the entire country through loyal administrators deployed from Nairobi. By 2000 many Kenyans were dissatisfied. Yash Ghai describes the experience of the CKRC: ‘Wherever the CKRC went, it noted widespread feeling among the people of alienation from central government because of the concentration of power in the national government, and to a remarkable extent, in the president. They felt marginalised and neglected, deprived of their resources; and victimised for their political or ethnic affi liations. They considered that their problems arose from government policies over which they had no control. Deci153 Hassan Omar Hassan, “Kenya: Rights Abuses Mobilised Muslim Support for New Laws,” Daily Nation, August 26, 2010, http://allafrica.com/stories/201008270374.html. And see for a discussion of the secessionist movement Rasna Warah, “Pambazuka – It Might Be More Useful to Engage with Secessionists”, February 2, 2012, http://www.pambazuka.org/en/category/features/80353. 154 Kadhis’ courts have been part of Kenya society since at least the time the Sultan of Zanzibar agreed that the ‘10 mile coastal strip’ could be administered by the British as part of the Kenyan Protectorate in the late 19th century. That agreement included an agreement that the Kadhis’ courts would continue to exist. When Kenya received independence from Britain in 1963, a further agreement was concluded, now by the British government, the new Kenyan government and the Sultan of Zanzibar, in which the Kenyan government undertook to preserve the jurisdiction of the Khadis. See Committee of Experts on Constitutional Review, “Final Report of the Committee of Experts on Constitutional Review,” 61 ff.
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sions were made at places far away from them. These decisions did not reflect the reality under which they lived, the constraints and privations under which they suffered. . . . As their poverty deepened, they could see the affluence of others: politicians, senior civil servants, cronies of the regime. They felt that under both presidential regimes, certain ethnic groups had been favoured, and others discriminated against.’ 155
In this context, devolution seemed to promise Kenya’s many communities more control over their own affairs and it would possibility reduce the salience of ethnicity at the national level.156 The new Constitution establishes 47 counties. The boundaries are those of administrative districts established under the 1992 Districts and Provinces Act although, since then, the number of districts had increased to over 250.157 The choice of 47 counties creates units with less capacity than usually associated with regions that form a second tier of government but that are larger than most local governments – they often include a number of towns. The institutional arrangements for counties mirror those at the national level. Each county is to have a county assembly and a directly elected Governor who will govern with an executive committee. Neither the Governor nor the members of the executive committee may be members of the county assembly or, for that matter, of the national Parliament. The Governor and assemblies have fi xed terms and elections will be held every five years on the same day as national elections. The division of powers and institutional arrangements regulating the relationship between the national government and the new counties reflect the persistence of fears, fi rst articulated at independence, that regionalism would divide the country. A fully-fledged federal system was not ever contemplated. Instead, drawing on the South African model (which in turn drew heavily from the German system), the Constitution establishes an integrated, cooperative model of devolution that gives relatively little autonomy to the counties and requires ongoing collaboration among governments rather than competition: The national and county governments must respect each others’ ‘functional and institutional integrity, . . . constitutional status and institutions of government’; they must ‘assist, support and consult’ each other; and must liaise to exchange information, coordinate policies and information, and enhance capacity.158 The constitutional commitment to interdependent rather than divided government is equally clear in the way in which powers are allocated. Following a traditional pattern, Schedule 4 sets out the distribution of functions between the national and county governments in two separate lists. But the matters on the county list give counties relatively limited powers. They include matters usually allocated to local governments, such as animal control, primary health care, the licensing of businesses, water and sanitation services etc as well as certain matters more often associated with a middle tier of government such as roads, county planning and agriculture. But, the authority of counties over the more significant matters in the county list is circum155 Yash Ghai, “Devolution: Restructuring the Kenyan State,” Journal of Eastern African Studies 2, no. 2 (2008): 215. 156 Ibid., 9. 157 Act 5 of 1992. 158 Art 189(1).
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scribed by the fact that, in many instances, the national list gives the national government control over policy. Thus, while county health services are a county matter, health policy is a national matter. Similarly, agriculture and housing are allocated to counties, but agricultural policy and housing policy are national matters. Moreover, with one exception, the national government is given legislative authority over all matters. The exception is the counties’ power to tax. In other words, the only exclusive county power is their very limited power to impose taxes, discussed below. All other county powers are concurrent.159 The national legislative power is constrained in two ways: Article 189 (Cooperation between the national and county governments) demands that each level of government respects the integrity of the other; and Article 191 (Confl ict of laws) states that when a county and national law confl ict, the county law prevails unless the national law fulfi ls certain conditions set out in the Article (for example setting uniform national standards, necessary for national security, economic unity etc). When a county law prevails over national legislation, the national legislation will remain in force in counties where there is not a confl ict and would ‘revive’ if the county law were repealed. These arrangements mean that the system may be one (like South Africa) under which much (if not most) legislation emanates from the national Parliament and the main role of counties will be to implement national laws. As in Germany and South Africa, compensation for the likely dominance of national laws in the counties is provided by giving the counties a collective role in the national Parliament. However, unlike Germany and South Africa, it is not county executives or legislatures that are represented in the Senate. Instead, on the modern American model, one Senator is directly elected by the voters in each county. The direct elections are intended to avoid the corruption that Kenyans believe inevitable in a process through which county governments chose their representatives to the Senate but this arrangement makes the link between the county governments and the national government very weak and it is not clear what incentives Senators will have to advance the interests of county governments, to facilitate cooperation between county governments and the national level or to ensure that county interests are reflected in the national laws that they will be required to implement. The Senate’s role is largely limited to county matters. It considers only amendments to the Constitution160 and Bills that ‘concern county government’161 (these are Bills on matters listed in the county list in Schedule 4, county fi nancial matters and county elections).162 Usually, if the two Houses disagree on a Bill, it goes to a mediation committee which is mandated to propose a version that will satisfy both Houses. If agreement cannot be reached, the Bill lapses.163 Two types of Bill are treated dif159
Art 186. The taxing power of counties is in Art 209(3). Art 256. 161 Art 109. 162 As occurred in South Africa in the mid-1990s, there is likely to be contestation about what Bills concern counties. See for a very wide interpretation Task Force on Devolved Government, Final Report of the Task Force on Devolved Government (Office of the Deputy Prime Minister and Ministry of Local Government, Nairobi, Kenya, 2011), 18. 163 Art 113. 160
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ferently: Bills concerning county elections and the annual Bill dividing the county share of national revenue among the counties. Once approved by the Senate, the National Assembly requires a two-thirds majority to amend or veto such a Bill.164 Despite the control the Senate has over electoral laws and the division of revenue among the counties, the national government clearly has considerable legislative power over counties. The dominant position of the national government extends into the fi nancial arena as well. The revenue raising power of counties is limited to property taxes (rates on property), entertainment taxes,165 the imposition of user charges for services,166 and certain licensing powers (for trading, liquor and food).167 In essence, the national government has a virtual monopoly of revenue raising power and county interests are protected by a constitutional entitlement to a share of the national revenue through a system of fiscal equalization: there is a single pool of revenue from which the national government and counties are entitled to an ‘equitable share’; collectively the counties are entitled to at least 15 per cent ‘of all revenue collected by the national government’.168 The distribution – both horizontally between the two levels of government and vertically among the 47 counties – must take into account a wide variety of criteria, including the national interest and the needs of the national government, the ability of the provinces to perform their tasks, and the need to combat economic disparities. The independent Commission on Revenue Allocation (CRA) makes recommendations on the distribution of revenue169 and both the National Assembly and the Senate must approve the Bill dividing the revenue between the two levels of government. The division of the counties’ share of the revenue among the counties is in the hands of the Senate, as mentioned above, but, the decision is usually to be made only every five years when the Senate, determines ‘the basis’ for allocating the share allocated to the county level among the counties.170 Overall, then, the formal powers of the new counties are relatively limited. Nonetheless, expectations are high that devolution will serve to curb the excesses of centralized executive power of the past, ease ethnic tensions and correct Kenya’s distorted distribution of wealth, bringing development to undeveloped parts of the country.171 The political attention that is being paid to the legislation necessary to establish the new system and the interest that many politicians have shown in standing for the position of governor indicate that the goal of dispersing power might be realized. The likely impact of devolution on ethnic politics is more difficult to gauge. The county system promises to reconfigure politics, both by offering new arenas of political contestation and by breaking up the regionally-based ethnic powerbases. However, inevitably the territorial divisions raise new challenges. For instance, many 164
Arts 110 and 111. Art 209(3). 166 Art 209. 167 Schedule 4. 168 Art 202 and 203. 169 Art 216. 170 Art 217. 171 See, for example, Task Force on Devolved Government, Final Report of the Task Force on Devolved Government, 14. 165
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counties are composed of a dominant tribal group and some smaller groups, a matter of considerable concern to the smaller groups.172 Attempting to address this concern at county level, the Constitution expects county assemblies to represent all members of the county. Art 197(2) says: ‘Parliament shall enact legislation to . . . ensure that the community and cultural diversity of a county is reflected in its country assembly and county executive committee’. But minority representation in an assembly is unlikely to allay the concerns of tribes or subtribes that feel vulnerable, especially if they live in an area with district status in the past. The formal constitutional answer to these concerns lies in the Bill of Rights which is enforced by the nationally run court system. The practical answer is for the national government to ensure that resources and services are indeed fairly distributed using the considerable legislative and executive powers that the Constitution gives it over county government. How quickly devolution can lead to a better distribution of resources and development is not clear. The World Bank’s December 2011 Kenya Economic Update movingly cites Kenyans who believe that the Constitution, in general, and devolution, in particular, will change their lives, bringing development and a more equitable distribution of wealth.173 But, the Bank also describes considerable challenges that Kenya faces in implementing the system. In addition to the concerns mentioned above, the Bank notes that corruption will not necessarily be reduced under governments elected more locally and that the management of national priorities will become more difficult. Secondly, Kenya’s particular constitutional arrangements raise challenges: devolution is being undertaken at speed – the first elections for the new county governments are to coincide with the national elections which will be held in March 2013; it involves both the devolution of national functions to the counties and the consolidation of functions of many smaller local governments in the new county governments; many new counties have very limited capacity; and so on. Thirdly, the national politicians and bureaucrats who are responsible for putting the system in place have some fundamental disagreements about how it should be done, most of which are a complex mix of genuine administrative concerns and more self-interested or historically-based political concerns. Transitional provisions in the Constitution anticipated some of the short-term problems of implementing the system. It requires the process of devolution to be managed under an Act of Parliament and to be ‘phased’, based on the capacity of the new governments. It also assumes an asymmetrical devolution of functions. But, in yet another reflection of mistrust of the executive, two special bodies are set up to monitor the transition. They are discussed below.
172 See, for instance, AhmednasirAbdullahi, “Do Not Turn Counties into Incubators of National Hatred,” Nairobi Law Monthly, October 2011, http://www.nairobilawmonthly.com/index/cms/modules/frontpage/php/fullview_content.php?mode=0&multi=0&type=0&pos=0&limit=0&id=118&. 173 World Bank, Navigating the Storm, Delivering the Promise with a Special Focus on Kenya’s Momentous Devolution, Kenya Economic Update, December 2011, 22, http://siteresources.worldbank.org/KENYAEXTN/Resources/KEU-Dec_2011_Full_Report.pdf.
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2.4 Transitional provisions: the beginning of the really difficult part The third contentious issue identified by the CoE under the Review Act was the way in which the transition to a new constitutional order would be managed. This had two aspects: the political transition, in other words the change of government and legislature, and the reform of the judiciary, both of which are discussed above. But, clearly, transitional arrangements in a constitution like the new Kenyan Constitution are important in other ways too. They must provide a legal bridge from the old constitutional order to the new, and must usually preserve existing law and institutions. When new laws are needed, new institutions established and new expectations placed on existing institutions and offices, transitional provisions must provide for the way in which, and when, the new takes over from the old. These arrangements are found in Chapter 18 and Schedules 5 and 6 of the new Kenyan Constitution. Article 261 answers the difficult question ‘How can Parliament’s constitutional obligation to pass laws be enforced?’ Its answer is that, ultimately, the Chief Justice can require Parliament to be dissolved if the laws are not passed. Schedules 5 and 6 set out more detailed arrangements for the transition. Schedule 5 provides a time table for the enactment of laws necessary for the full implementation of the Constitution and, in addition to formal provisions ensuring legal continuity, Schedule 6 sets up institutions and procedures for implementing the Constitution and deals with the technical matters related to establishing new institutions and so on. However, despite the apparently technical nature of much of Schedule 6, the process of implementation raises many political and policy questions. As discussed below, nowhere is this clearer than in the process of putting the new system of devolved government in place. Reflecting continuing distrust in elected politicians and the bureaucracy, two bodies are allocated the function of overseeing the implementation of the Constitution: a select committee of the National Assembly (the Constitutional Implementation Oversight Committee (CIOC)) and an independent Commission for the Implementation of the Constitution (CIC).174 The nine-member CIC has a difficult job, compounded by a lack of clarity in the relationships between it and other institutions involved in the transition (the government, Parliament, the CIOC, the AttorneyGeneral and the Law Reform Commission, among others), the tight timelines within which the new order must be established and the fact that often there is underlying political disagreement about the new constitutional arrangements.175 The starkest examples of the latter are a dispute about the date of the first elections under the new Constitution176 and the process of establishing the county governments. In the case of devolution, longstanding differences on what degree of devolution is appropriate and how much responsibility the national government can exercise over the new counties are central to the implementation disputes and the divided nature of the 174
Sixth Schedule sections 4 and 5. For the CIC’s discussion of the challenges see Commission for the Implementation of the Constitution, 4th Quarterly Report (Nairobi, Kenya, January 2012) Chapter 3 “One Year On: Lessons Learnt, Emerging Issues, Challenges And Impediments” p. 49 ff. 176 John Harun Mwau v Attorney General [2012] eKLR. 175
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coalition government makes it difficult to reach agreement within government.177 Discussion about devolution is frequently acrimonious with accusations by the CIC that the government is by-passing it and is deliberately blocking change178 and a dispute between the Attorney-General and the CIC that became so intense that Parliament intervened to settle it.179 Nonetheless, an enormous amount was achieved in a short time. The 4th Quarterly Report of the CIC, compiled just 15 months after the Constitution was promulgated, states that 19 Acts had been adopted and a further 23 were in the pipeline.180 A number of the completed Acts were relatively straightforward but a number, like the Urban Areas and Cities Act,181 were technically difficult and politically contentious.
3. Conclusion The Constitution promulgated on 27 August 2010 is not anyone’s perfect document. For those who had struggled against Moi’s regime, it changes too little. For the governing elite and its supporters, it changes too much. It also leaves considerable space for institutions and their relationships with one another to develop. The courts might be cautious or ambitious; the executive may or may not respect them; Parliament may develop its oversight role energetically or MPs may act opportunistically; the counties might assert authority or be subordinated to the national government, they may be honest and drive development or simply an exercise in decentralizing the problems currently experienced at the national level and so on. More likely, the new system will be a bit of all these things. The Constitution is being implemented in an environment of uncertainty and change. The political landscape has been changed fundamentally by the new political configuration created by the establishment of county governments and by the International Criminal Court proceedings against four prominent Kenyans. But, there is little indication that the salience of ethnicity in politics has been reduced. Indeed the ICC indictments may further strengthen ethnically based loyalties. The economic climate is uncertain too. After a spurt of strong growth after Kibaki’s election in 2002, Kenya experienced a serious devaluation of the Kenyan shilling and high inflation, compounding the effects of rising economic inequality. More recently, the se177
The lines are fairly clear: The Ministry of Finance, headed by Uhuru Kenyatta, a member of President Kibaki’s Party of National Unity, is at best cautious about devolution. The Ministry of Local Government, headed by Musalia Mudavadi, a member of Prime Minister Odinga’s Orange Democratic Movement, is much more enthusiastic. 178 See, for example, Alphonce Shiundu, “House and Executive Clash over County Law,” Daily Nation (Nairobi, Kenya, February 28, 2012) and Goeffrey Irungu, “CIC Faults Plan to Alter Deadline for Enacting Key Bills,” Daily Nation (Nairobi, Kenya, February 23, 2012), http://allafrica.com.ezproxy. uct.ac.za/stories/201202240049.html. 179 See, for example, Maxwell Masava, “Don’t Supervise Me, Githu Tells Nyachae,” Nairobi Star (Nairobi, Kenya, December 24, 2011), http://allafrica.com.ezproxy.uct.ac.za/stories/201112270191. html and George Murage, “Githu, Nyachae Agree to End War of Words,” Nairobi Star (Nairobi, Kenya, January 2012), http://allafrica.com.ezproxy.uct.ac.za/stories/201201130272.html. 180 Commission for the Implementation of the Constitution, 4th Quarterly Report, 62. 181 Act 13 of 2011.
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curity situation deteriorated and the Kenyan army was deployed to Somalia in an attempt to contain the terrorist group, Al Shabaab, stretching the country’s resources and deepening people’s sense of insecurity. But the tale of the determination of Kenyans in pursuing constitutional change may give some indications of the future. It is a tale of the astonishing persistence and commitment of democrats in Kenya and the energy with which Kenyans have monitored the implementation of the Constitution in the fi rst year after its promulgation suggests that that determination has not abated and that many Kenyans will use the Constitution as a basis on which to build a strong democratic order.
Die neue Verfassung von Kenia (2010) * von
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Zueignung Dieser Beitrag ist einem Staatsrechtslehrer gewidmet, der für sich in Anspruch nehmen kann, „europäischer Jurist“ zu sein. Seine Lehrbücher und Monographien strahlen weit über Portugal hinaus nach ganz Europa, sie verarbeiten Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, auch Literatur deutscher Autoren wie eines K. Hesse, den der Jubilar vor Jahrzehnten in Freiburg besucht hatte. Zugleich ist J. J. Gomes Canotilho ein Brückenbauer nicht nur nach Brasilien, sondern auch nach Afrika. So begrenzt letztlich die Staatsrechtslehre als Wissenschaft in ihren Möglichkeiten gegenüber der Politik bleibt, gute juristische „wissenschaftliche Vorratspolitik“ für den Typus Verfassungsstaat zu leisten, so groß dürfte gerade heute der teils unmittelbare, teils mittelbare Einfluss großer Staatsrechtslehrer auf neu entstehende Verfassungen sein: Sie werden zum indirekten Verfassunggeber, denn neue Verfassungen verarbeiten vergleichend die Trias von Texten, von Judikaten und wissenschaftlicher Literatur – dies oft parallel zu den klassischen vier Interpretationsmethoden seit F. C. von Savigny (1840), jetzt um die Gestaltungsmacht des Verfassungsvergleiches als „fünfter“ Methode ergänzt1. Mögen zahlreiche Hoffnungen unmittelbar nach dem „annus mirabilis 1989“, der Weltstunde des Verfassungsstaates vor allem heute schwinden, angesichts der globalen Konfl ikte, des Terrorismus, der Christenverfolgungen und der vielen großen und kleinen Kriege: Auch nach dem Auf bruch vieler Verfassunggeber nach 1989, vor allem aber in Osteuropa und auf dem Balkan (aber auch in Südafrika), kommt es in manchen Teilen der Welt selbst in unseren Tagen zu im Ganzen geglückten neuen Verfassungstexten, so etwa im Kosovo2, und jüngst eben in Kenia. Gewiss, es wird Jahre brauchen, bis aus gut geschriebenen Verfassungstexten kongeniale Verfassungswirklichkeit wird, bis schöne Semantik zu authentischer Realität reift. Doch muss die *
J. J. G. Canotilho zum 70. Geburtstag. Nachweise für die Entstehungsgeschichte des GG jetzt in: JöR Neuausgabe von Bd. 1, 2. Aufl. 2010, S. VI–XXVI. 2 Dazu mein Beitrag in FS Miranda, 2011, im Erscheinen. 1
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Wissenschaft das Ihre tun, um einer jungen Verfassung zu helfen, ihre Versprechen und Hoffnungen einzulösen und zur „lebenden und gelebten Verfassung“ zu werden. Die normative Kraft der Verfassung (K. Hesse) Wirklichkeit werden zu lassen – hierzu kann selbst ein einzelner Wissenschaftler beitragen, zumal wenn er das Format eines J. J. G. Canotilho besitzt. Dem Verfasser sind die offiziellen Beratungsgremien beim Entstehungsprozess der Verfassung Kenias nicht bekannt – dem Vernehmen nach soll es sich um Fachleute aus Südafrika und Kanada handeln. Indes: Sind deren Texte einmal in der Welt, lösen sie sich von dem subjektiven Willen der Schöpfer, so dass sie einer „objektiven“ wissenschaftlichen Betrachtung Unbeteiligter zugänglich werden. So kann es mittelfristig dazu kommen, dass Verfassungen „klüger“ sind als die Verfassunggeber, um ein von G. Radbruch für den Gesetzgeber und Gesetze geschaffenes Zitat zu variieren. Nur deshalb erlaubt sich der Verfasser dieses Geburtstagsblattes einen zeitlich so frühen Kommentar.
Ein erster Blick auf wichtige Textensembles (Auswahl) 1. Die Präambel Die meisten neueren Verfassungen beginnen mit einer Präambel. Kulturwissenschaftlich betrachtet, sind sie Prologen, Ouvertüren oder Präludien vergleichbar: Sie wollen auf den nachstehenden Text in feierlicher und bürgernaher Sprache buchstäblich „einstimmen“, verdichten die folgenden Verfassungstexte zu einem Konzentrat, indem sie die wichtigsten Werte normieren, verarbeiten Geschichte und entwerfen die erhoffte Zukunft des Landes. Die Präambel Kenias liefert geradezu ein Musterstück für den Idealtypus einer Präambel des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe: In kurzen prägnanten Worten mit suggestiver Kraft, bürgernah und verständlich, schafft sie einen Text, der das Folgende, in manchen Teilen leider zu weitschweifig, formuliert, skizziert. So beginnt die Präambel von Kenia mit dem aus den werdenden USA stammenden „We, the People“, um sogleich einen ersten Gottesbezug in den Worten herzustellen: „Acknowledging the supremacy of the Allmighty God of all creation“. Wenn der Schlusssatz der Präambel lautet: „God bless Kenya“ – ein den USA geläufiges Dictum –, so zeigt sich hier, wie der Verfassunggeber dieses Landes buchstäblich seine Präambel in zwei Gottesklauseln einrahmt und damit einen Basistext des Religionsverfassungsrechts schafft. Weltweit ist dies wohl ein Unikat und der Versuch, die Volkssouveränität in der Transzendenz Gottes im Hegel’schen Sinne „aufzuheben“. Die übrigen Präambelelemente entsprechen dem durch Verfassungsvergleich gewonnenen Idealtypus: Verwiesen wird auf den historischen Kampf, der „Freiheit und Gerechtigkeit“ in unser Land brachte. Mit Stolz wird von der „ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt“, dem Friedenswillen, aber auch der „Unteilbarkeit der souveränen Nation“ gesprochen, der Respekt vor der Umwelt bekundet und als Erbe und zum Segen für künftige Generationen ausgewiesen. Ferner wird das Wohlergehen des Individuums, der Familie, der Gemeinschaft und der Nation dem Schutz des Staates aufgegeben. Schließlich ist ein Grundwerte-Kanon als Baustein für die
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Regierung festgeschrieben: „essential values of human rights, equality, freedom, democracy, social justice and the rule of law“. Zuletzt beschwört die Präambel die Partizipation des Volkes beim Prozess der Verfassunggebung und beteuert, dass das Volk diese Verfassung sich selbst und seinen zukünftigen Generationen gegeben hat (im August 2010 wurde die Verfassung mit großer Mehrheit vom Volk angenommen). Die Werkstücke dieser vorbildlichen Präambel sind nach unterschiedlichen Vorbildern geschnitzt: US-amerikanische Ideen finden sich neben französischen und angloamerikanischen (wie die rule of law). Überdies stehen sie neben weltweit anerkannten Ideen des Umweltschutzes bzw. der Sorge für die künftigen Generationen. Ein vergleichsweise neues Element fi ndet sich in der Wendung von der „Vielfalt in ethnischer, kultureller und religiöser Hinsicht“ – diese Formulierung lässt an jüngere regionale und föderale Texte aus dem konstitutionellen Material Europas denken.
2. Grundwerte- und Selbstverständnis-Klauseln In Kapitel Eins und Zwei, also unmittelbar nach der ersten, dichten Grundlegung in der Präambel formuliert Kenia einen ausführlichen Kanon von konstitutionalen Grundwerten und Elementen seines Selbstverständnisses – noch vor der „Bill of Rights“. Kapitel Eins ist überschrieben: „Sovereignty of the People and Supremacy of this Constitution“. Hier ist die Volkssouveranität herausgestellt (Art. 1), wird die Verfassung als „supreme law of the Republic“ charakterisiert und sogar jeder Person die Verpfl ichtung auferlegt, diese Verfassung zu verteidigen (Art. 2) – eine meines Erachtens zu weit gehende Grundpfl icht. Kapitel Zwei gilt der „Republik“ (Art. 4– 11). Schon diese Systematik mit vielen grundsätzlichen Aussagen zu Buchstaben und Geist der Verfassung besticht durch die Anreicherung des Verständnisses von „Republik“ durch eine Fülle von Grundwerten und Aussagen zum eigenen Selbstverständnis Kenias. Im weltweiten Vergleich betrachtet, ist diese materielle Aufwertung des Republikbegriffes wohl einzigartig und zugleich vorbildlich. Die noch dem Klassiker G. Jellinek eigene, nur „negative“ Defi nition der Republik als „Nichtmonarchie“ wird damit von einem Verfassunggeber aus Afrika gekonnt widerlegt. In Deutschland wurde seit langem ein materiales Republikverständnis angemahnt3. Im Einzelnen: Die Republik Kenia wird als „Vielparteiensystem“ defi niert, das auf die nationalen Werte und die „principles of governance“ ausgerichtet ist (Art. 4 beziehungsweise Art. 10). Die „devolution“ („counties“) ist selbst als Strukturprinzip ausgewiesen (Art. 6). Art. 7 formuliert einen Sprachen-Artikel, der nicht nur ein Bekenntnis zur Förderung der Sprachenvielfalt enthält, sondern, wohl ganz neu, neben der Verpfl ichtung zur Entwicklung der Eingeborenensprachen auch die Blindensprache „Braille“ und andere Kommunikationsformen für Behinderte nennt. Art. 8 dekretiert „no State religion“ und legt damit – trotz der beiden religionsverfassungsrechtlichen Gottesklauseln – die Trennung von Staat und Religion fest. 3 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, (hrsgg. von A. Peisl u. A. Mohler), 1983, S. 289 (328 ff.).
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Die erstaunlichsten Aussagen finden sich in Art. 9–11. Fast lehrbuchartig und höchst konzentriert behandeln sie Themen, die den kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Verfassungslehre illustrieren. Art. 9 zählt die nationalen Symbole (wie Flaggen, Hymnen und öffentliches Siegel) und die Nationaltage auf. Das „Second Schedule“ schreibt den Text der Nationalhymne vor, die ein Beispiel für eine intrakonstitutionelle Nationalhymne ist4, denn die Rede ist vom Schöpfergott, von der Gerechtigkeit, von Frieden und Freiheit – alles Werte, die der Verfassungstext selbst vorweg und zentral fi xiert hat. Art. 10 listet die „national values and principles of governance“ auf: hier fi nden sich Patriotismus, nationale Einheit, „devolution“, rule of law, Demokratie, Partizipation des Volkes, sodann Menschenwürde, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Nichtdiskriminierung und Schutz von gesellschaftlichen Randgruppen, auch „good governance“, Transparenz und nachhaltige Entwicklung. Man mag einwenden, dies sei des Guten zuviel. Gleichwohl kann diese „Sammlung“ auch der Verfassungspädagogik dienen (Stichwort: Verfassung als Erziehungsziel), und es wird Aufgabe der Wissenschaft in Kenia, aber auch der weltweit arbeitenden vergleichenden Verfassungslehre sein, diese etwas unvermittelt klingende Ansammlung, mitunter auch großer Grundsätze, wie der normativen Kraft des Republikprinzips im Einzelnen aufzuschlüsseln. Die vielleicht eindrucksvollste Leistung des Verfassunggebers in Kenia fi ndet sich in Art. 11: „Kultur“. Denn hier geht es nicht nur um das typische Kulturverfassungsrecht, sondern um eine weit ausgreifende tiefe Aussage zur „Verfassung als Kultur“, wie sie ein einzelner Staatsrechtslehrer nicht besser formulieren könnte. Abs. 1 lautet: „This Constitution recognises culture as the foundation of the nation and as the cumulative civilization of the Kenyan people and nation“. Abs. 2 zählt vorbildlich viele vom Staat zu fördernde Erscheinungsformen von Kultur auf (etwa Literatur, Künste, traditionelle Feste, Wissenschaften, Kommunikation und Information, Massenmedien, Veröffentlichungen, Bibliotheken und „other cultural heritage“). Diese durch viele Beispiele bereicherte kulturelle Erbesklausel ist vorbildlich, zumal auch „Techniken“ der Eingeborenen und die Förderung des geistigen Eigentums einbezogen sind. Dem Parlament werden weitere Aufgaben, etwa der Entschädigung für den Gebrauch von Gegenständen des kulturellen Erbes, auch im Blick auf das Eigentum der Eingeborenen zur Pfl icht gemacht. So wie die Nationalflagge auch Elemente der Urbevölkerung zum Ausdruck bringt (vgl. Schedule 2 zu Art. 9 Abs. 2) 5, so ist hier der Respekt vor der Eingeborenenkultur bezeugt.
3. Die Bill of Rights (Kapitel vier) Der Verfassunggeber Kenias hat sie als selbstständiges Kapitel ausgestaltet, ähnlich Südafrika (1996). In Sachen Menschenrechte, d. h. Freiheits- und Gleichheitsrechte, beobachten wir heute eine weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft. Thematisch wirken die allgemeinen und speziellen UN-Erklärungen und Pakte, die 4 Dazu meine Monographie: Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, S. 111 f. 5 Vgl. für afrikanische Staaten: P. Häberle, Nationalfl aggen, 2008, S. 73 ff.
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regionalen Menschenrechtspakte wie die EMRK von 1950, die Afrikanische Erklärung von 1982, aber auch Urteile nationaler Verfassungsgerichte sowie Klassikertexte von großen Autoren. Personal sind nicht nur Staaten und ihre Repräsentanten sondern auch UN-Organisationen wie der Menschenrechtsausschuss in Genf und die NGOs an diesem globalen Diskurs beteiligt. Multinational zusammengesetzte Beratergremien arbeiten den nationalen Verfassunggebern zu, indem sie rechtsvergleichend vorgehen und dabei sich von der bereits erwähnten Trias von Texten, Judikaten und Theorien inspirieren lassen. Im Folgenden können nur besonders wichtige Texte, eventuelle Neuerungen und besondere rechtskulturelle Errungenschaften behandelt werden, etwa in Sachen Themen, Schrankenregelungen und Interpretationsmaximen. Vorweg werden in und für Kenia allgemeine Regelungen normiert, etwa der Satz, die Bill of Rights sei das „Rahmenwerk für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Politiken“ (Art. 19 Abs. 1). Art. 20 normiert eine Art Optimierungsgebot für die Interpreten – alle staatlichen und sonstigen Interpreten (Abs. 3 lit. b ) – und verweist diese auf die Werte, die eine „offene und demokratische Gesellschaft“ grundieren, welche auf der Würde, der Gleichheit und Freiheit beruhen. Ganz neu ist den Interpreten, etwa einem Gericht oder einer anderen Autorität, zur Pfl icht gemacht: „the spirit, purport and objects of the Bill of Rights“ zu fördern (Abs. 4 lit. b). Diese Art von Geist-Klausel ist eine bemerkenswerte Innovation. Die Implementationsklausel von Art. 21 – ebenfalls textlich wie inhaltlich eine Innovation – sorgt sich um die Nöte von „vulnerable groups“, etwa Frauen, Alte, Kinder, Behinderte und Mitglieder von gesellschaftlichen Randgruppen. Art. 22 („Enforcement of Bill of Rights“) befasst sich mit der Durchsetzung der Rechte vor Gericht. Hier sind nicht nur die ebenso klassischen wie neuen „rules of natural justice“ als Maßstab genannt, auch wird die Idee des „amicus curiae“ („as a friend of the court“) institutionalisiert – Ausdruck der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975). In den detallierten allgemeinen Schrankenregelungen (Art. 24) fi ndet sich sowohl die aus der EMRK bekannte Wendung von der „offenen und demokratischen Gesellschaft“ (Abs. 1 Satz 1) mit genauen Ausformungen des Übermaßverbotes, hinzugefügt wird sogar eine grundrechtliche Wesensgehaltklausel (Abs. 2 lit. c: „essential content“) als absolute Schranke. Damit setzt sich der fast weltweite Siegeszug der deutschen Wesensgehaltsgarantie des Abs. 19 Abs. 2 GG fort6. Schließlich zählt Art. 25 die Rechte und Freiheiten auf, die nicht beschränkt werden dürfen, etwa die Freiheit von Folter, Sklaverei und das Recht auf einen fairen Prozess sowie den „habeas corpus“. Im Ganzen schafft wohl keine neuere Verfassung ein solches Kompendium von allgemeinen Regeln zur Interpretation, Implementation, Durchsetzung und Beschränkung bzw. Nichtbeschränkbarkeit von Grundrechten. Bei der Aufzählung der Einzelgrundrechte geht Kenia keine gleichermaßen spektakulär neuen Wege: Wohl alle klassischen, aber auch wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind geschützt, etwa die Privatheit, die Medienfreiheit (mit einer Verpfl ichtung der staatseigenen Medien auf Unparteilichkeit und Pluralismus: „divergent views and dissenting opinions“, Art. 34 Abs. 4 lit. c). An den freien Zugang 6 Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff. sowie ders., Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 3 GG, 3. Aufl. 1983, S. 257 ff.
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zu Informationen gegenüber dem Staat (Art. 35) ist ebenso gedacht wie an die kulturelle Teilhabe von jedermann (Art. 44) und das Recht auf gute Verwaltung (Art. 47 – kongenial Art. 41 der EU-Grundrechte-Charta) oder an Kinder, Behinderte, Randgruppen und Alte (Art. 53–57). Zuletzt wird sogar noch eine „Kenya National Human Rights und Equality Comission“ eingerichtet (Art. 59) – eine Erscheinungsform des vom Verfasser seit 1971 konzipierten „status activus processualis“ von der staatlich-organisatorischen Seite her. Im Ganzen überlastet wohl die Verf. Kenias ihren Grundrechts-Teil mit viel zu vielen Detailregelungen. Ob sie wirklich mittelfristig greifen, wird die Zukunft zeigen, doch können diese Texte, vor allem der allgemeine Grundrechts-Teil, vielleicht manchen anderen Verfassunggeber in Zukunft inspirieren bzw. die Interpretation in anderen Ländern anleiten. Für die Wissenschaft vom vergleichenden Verfassungsrecht bilden sie eine „Fundgrube“.
4. Besondere Innovationen Wenigstens in Auswahl seien – aus Raumgründen leider nur summarisch – über das Bisherige hinaus einige Textensembles aufgezählt, die von innovativer Kraft zeugen und dem wissenschaftlichen Verfassungsvergleich in aller Welt dienlich sein können. (1) Kontextorientierte Verfassungsinterpretation. Was die Wissenschaft seit 1979 vorgeschlagen hat7, nämlich die kontextkonforme Verfassungsauslegung ist jetzt zu einer Textstufe geronnen bzw. verdichtet. An drei Stellen arbeitet die Verfassung Kenias wörtlich mit dem „Kontext“ als Argument: zweimal in Art. 259 Abs. 4 und prominent in Art. 260, hier unter dem Stichwort „interpretation, unless the context requires otherwise . . .“. (2) Muslimische Gerichte, muslimisches Recht. In dem aufwendigen Kapitel Zehn zum Gerichtssystem sieht die Verfassung „Khadis’ Courts“ vor, sie verlangt von den Richtern muslimisches Bekenntnis und muslimische Rechtskenntnisse (Art. 169 und 170). Soweit ersichtlich, ist damit zum ersten Mal in einer nichtislamischen verfassungsstaatlichen Verfassung auf eine Textstufe gebracht, was derzeit im Westen (z. B. in Deutschland) zum Problem geworden ist: Wann und wie lässt sich muslimisches Recht anwenden? Um so mehr ist zu rühmen, dass sich Kenia durchweg zum „Vorrang der Verfassung“ (Art. 2), nicht der Scharia bekennt! (3) Die Normierung des Trustgedankens (Art. 73 Abs. 1 lit. a) lautet: „Authority assigned a State officer is a public trust . . .“. Der Klassikertext von J. Locke ist damit Verfassungstext geworden. (4) Die Institutionalisierung einer eigenen Ethik- und Antikorruptions-Kommission (Art. 79), auch einer nationalen Menschenrechtskommission (Art. 59). (5) Das Postulat der „Promotion of representation of marginalised groups“ (Art. 100), deren sich die Verfassung in den verschiedensten Kontexten annimmt
7 P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff. sowie ders., Europäische Verfassungslehre, seit der 1. Aufl. 2001/2002, S. 9 ff., zuletzt 7. Aufl. 2011, S. 10 ff.
Die neue Verfassung von Kenia (2010)
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(z. B. Art. 21 Abs. 3, Art. 56 („affi rmative action“) und Art. 174 lit. e sowie schon Art. 10 Abs. 2 lit. b). (6) Die hochrangige Platzierung des Gedankens der „Devolution“ in Kap. Elf, siehe auch Art. 10 Abs. 2 lit. a; sie scheint horizontal und vertikal an die Stelle der herkömmlichen Gewaltenteilung zu treten (dazu nur Art. 175 lit. a). (7) Die Eröffnung des Weges einer Verfassungsänderung durch Volksinitiative (Art. 257), mit klugen prozessualen Hürden. (8) Die Festlegung eines Kanons von Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation (Art. 259) 8, wobei das Verhältnis zu den schon erwähnten Methoden der Grundrechtsinterpretation nicht leicht zu ergründen ist (Art. 20 bis 22). (9) Die vielfältige Bezugnahme auf ethische Standards (z. B. Art. 159 Abs. 3 lit. b, Art. 232 Abs. 1 lit. a) sowie „good governance“ (Art. 10 Abs. 1 lit. c, Art. 91 Abs. 1 lit. d, Art. 259 Abs. 1 lit. d). (10) Die Sorgfalt der Regelung des Themas „land and environment“ in Kap. Fünf. Eine Landreform soll durch eine Kommission mit weitreichenden Kompetenzen durchgeführt werden um die „Ungerechtigkeiten“ bei der Landverteilung zu korrigieren. Es gilt eine Obergrenze für privaten Landbesitz. Ausländer sollen Land nur noch auf maximal 99 Jahre pachten dürfen9. Die Legitimität der neuen Verfassung Kenias, die am 4. August 2010 in einem Referendum gebilligt worden war, ist freilich noch nicht gesichert. Jüngst gab es viele Rücktritte von Politikern, auch hat das Komitee, das fünfzig neue Gesetze zur Verfassung erarbeiten soll, bislang noch nicht getagt10.
Ausblick Der Verfassung Kenias ist im Ganzen eine gute Balance zwischen Tradition und Innovation gelungen, so sehr man sich fragen muss, ob nicht dem Bürger gelegentlich zuviel des Guten versprochen wird. In manchen Partien ist sie zu detalliert und breit geraten (264 Artikel mit zum Teil inhaltsreichen Anhängen, z. B. zur Kompetenzverteilung). Dem Bürger ist wohl vor allem die Präambel und die Bill of Rights eingängig. Für die im weltweiten Vergleich arbeitende Staatsrechtslehre ist sie indes eine wahre Fundgrube. Kenia hat Verfassungstexte geformt, die andernorts rezipiert werden können: Das gilt etwa für manche allgemeine Interpretationsmaximen, insbesondere die wohl erstmalige Textstufe in Sachen „Kontexte“, für die materiale Anreicherung des Republikbegriffs und für einige der erwähnten Kommissionen, auch für die stetige Sorge um Randgruppen. Einmal mehr zeigt sich, wie überholt jede Form von „Eurozentrismus“ ist und wie sehr es beim Verfassungsvergleich keine Einbahnstraßen geben darf. Der Westen und Norden kann von diesem Land im Herzen Afrikas manches lernen, auch wenn Pessimisten sofort mit dem Einwand der „Semantik“ kommen mögen. Kenia ist wirtschaftlich heute ein Entwicklungsland, 8 Dazu schon klassisch H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1983), S. 53 ff. sowie K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 20 ff. 9 Zit. nach http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungsreferendum_in_Kenia_2010. 10 Dazu FAZ vom 6. Januar 2011, S. 5.
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in seiner neuen Verfassung aber erweist es sich als hoch entwickelter Verfassungsstaat mit eigener Partitur, eigener Stimme, eigenem Programm. Es ist ihm zu wünschen, dass in den nächsten Jahrzehnten möglichst viele der Texte zur Verfassungswirklichkeit werden und dass sie Europa zur Kenntnis nimmt. Dies kann nicht zuletzt über das Medium eines Geburtstagsblattes für einen europäischen Juristen wie J. J. G. Canotilho gelingen11.
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Vgl. seinen eindrucksvollen Sammelband Admiras os outros, 2010.
Verfassungsgebung in Afrika – dargestellt am Beispiel Äthiopiens – von
Professor Dr. jur. Dr. h.c. Heinrich Scholler, Universität München I. Einleitung Nach dem Sieg über den linksradikalen äthiopischen Gewaltherrscher Mengistu Haile Mariam im Jahr 1991 haben sich die siegreichen Kräfte, die aus dem Norden Äthiopiens und Eritreas kamen, in London über Grundsätze geeinigt, welche Grundlage der neuen äthiopischen Verfassung sein sollten. 1991 proklamierte die aus der Revolte gegen Mengistu Haile Mariam hervorgegangene äthiopische Regierung die „Transitional Period Charter of Ethiopia“. Innerhalb von dreieinhalb Jahren wurde dann die neue äthiopische Verfassung entworfen und angenommen. Dieser Annahme ging eine umfangreiche Diskussion in der „Constitutional Commission“, die zur Ausarbeitung der Verfassung berufen worden war und in der gesamten Öffentlichkeit diskutiert wurde, voran. Im letzten Teil der Präambel der Verfassung stehen folgende Sätze: „Convinced of the necessity of building a single economic community so as to promote our common rights, freedom, and interest, (. . .) Determined to ensure the maintenance of the peace and democracy we have achieved through our struggle and sacrifice (. . .) Now, therefore, in order to consolidate these aims and beliefs, we do hereby adopt this constitution through our representatives in the Constitutional Assembly on the 8th of December 1994.“
Nach dem Zusammenbruch des marxistischen Gewaltregimes belebte sich auch das religiöse Leben in Äthiopien wieder, was sich an der stärkeren Aktivität der äthiopisch-orthodoxen Kirche zeigte und auch gleichzeitig dem Wunsch der äthiopischen Christen entsprach. Allerdings wäre es ein Irrtum, wenn man der Meinung wäre, die alten Sitten und Gebräuche hätten zurückkehren können. Pankhurst schildert in seiner Geschichte des sozialen Wandels sehr eindringlich die von der äthiopischen Kirche missbilligten Gewohnheiten des Rauchens, ja sogar des Kaffeetrinkens, und so ist es zu verstehen, dass auch nach dem Sturze Mengistus die religiöse Enthaltsamkeit
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der Bevölkerung wieder sehr verbreitet war.1 Dennoch konnte dies nicht dazu führen, die untergegangene Diktatur zu bedauern oder gar zurück zu wünschen. Aus diesem Grund soll auch hier in der Darstellung der neuen äthiopischen Verfassung von 1994/95 nicht versucht werden, eine Fortsetzung überholter Gewohnheiten und Gebräuche darzustellen. Eine entscheidende Entwicklung der Modernisierung brachte die Wandlung der Gesellschaft durch das Auftreten neuer sozialer Eliten. Maßgeblich hierfür war die Übernahme westlicher Bildungs- und Kulturgüter.2 Die juristischen Fachgelehrten Afrikas haben zu dem neuen äthiopischen Verfassungsentwurf aus ihrer Erfahrung verschiedene Stellungnahmen abgegeben, die in dem Preliminary Report (Symposium on The Making of the New Ethiopian Constitution) veröffentlicht wurden.3 Im Nachstehenden sollen einige Stellungnahmen in gekürzter Form wiedergegeben werden, die von Interesse sind für die Beurteilung der Qualität der gefundenen verfassungsrechtlichen Lösungen. Erik Mose: „International human rights legislation is extensive. In this context it would seem useful to focus on what has often been called the International Bill of Rights, i.e. the Universal Declaration of Human Rights (1948) and in particular the two UN Covenants (1966), i.e. the Covenant on Civil and Political Rights (CCPR) and the Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR), which have been ratified by a great number of States.“4 Yonas Admassu: „The paper shall discuss [. . .] the extent of the freedom to disseminate ideas in written (as well as oral) form the constitution allows, and, conversely, the limits it necessarily places upon the very freedom it purportedly guarantees.“5 Herbert S. Lewis: „This talk will focus on a number of aspects of Oromo history, culture, and political outlook in an attempt to indicate some of the distinctive characteristics, problems and potentialities of this very large and widespread group. As the largest single group in Ethiopia, occupying a central geographical position, it is obvious they will have to play an important role in any new political arrangements in order for these to be successful and long-lasting.“6 Elaine Scarry: „In The Rights of Man (1791) Tom Paine wrote that the American and French Revolutions had caused a way of thinking about governments that could never be undone; democracy would spread from country to country, he argued, and 1
Richard Pankhurst, A Social History of Ethiopia, Institute of Ethiopian Studies Addis Ababa University, Addis Abeba 1990, S. 312 ff. Zur allgemeinen Entwicklung der äthiopischen politischen und gesellschaftlichen Kultur siehe: Harold G. Marcus, A History of Ethiopia, University of California Press, Los Angeles/London 1994. 2 Scholler, „Ethiopian Constitutional Development“, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 25, Mohr (Paul Siebeck) Verlag, Tübingen 1976, S. 525. 3 The InterAfrica Group (Hrsg.), A Preliminary Report – Symposium on The Making of the New Ethiopian Constitution, Addis Abeba 1993. 4 Erik Mose, „Making International Human Rights Legislation Part of Domestic Law“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 29. 5 Yonas Admassu, „Constitutional Protection of Media and Publications“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 31. 6 Herbert S. Lewis, „The OROMO and the New Ethiopian Constitution“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 31 f.
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undo monarchy and aristocracy. For Paine, the American Constitution provided the essential primer: ‚The American constitutions were to liberty what a grammar is to language: they defi ne its parts of speech, and practically construct them into a syntax.‘“7 Christopher Clapham: „This paper briefly surveys the origins, provisions and outcomes of the four written constitutions that have to date applied to Ethiopia: the Constitution of 1931, the Eritrean Constitution of 1952, the Revised Constitution of 1955, and the Constitution of the People’s Democratic Republic of Ethiopia of 1987. All of these constitutions closely reflect the particular circumstances under which they were drawn up, both within Ethiopia and externally.“8 Theodore M. Vestal: „Writing a constitution is dependent on variables that are interrelated in a complex fashion. In establishing a government, the institutions and processes to make public policy, choices made in one area affect others. Thus, before electoral laws can be meaningfully addressed, certain other constitutional matters must be established, e.g., Will the state be unitary or federal? Will the system be presidential or parliamentary?“9 Irving Leonard Markovitz: „A constitution by itself, no matter how ingeniously designed, no matter how universally admired will not create democracy or limit authoritarian rule. Constitutions and the institutions that they provision are important. But they will not create miracles. To be effective, constitutions must relate organically to a society’s realities; they must accommodate, even as they guide a country’s basic interests.“10 Goran Hyden: „Constitutional engineering and reform is difficult in any society, but particularly so in plural societies. There are essentially two options: one is to delegate authority to specific territorial entities; the second is to credit an electoral system that promotes integration and mutual respect among contending groups.“11 Victor L. Sheinis: „In the late 80’s the national problem in the USSR and in Russia drastically deteriorated. Dozens of national movements emerged at the political scene. Disintegration trends started gaining momentum. Old and newly-born elites of the titled nations came to power in most of the former Soviet Republics and now are getting use of the popular slogan ‚right of a nation for self-determination‘ in order to establish their own power. In Russia, the battle against a unitarian-totalitarian regime took place under a democratic, but not a national banner. However, the chain reaction of the state disintegration raised complicated national problems here as well. In March 1992 the central Government of Russia and the Republics, regions, districts and autonomous areas, making up the Federalism, signed, correspondingly, 7
Elaine Scarry, „The Distribution of Military Authority“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 32. Christopher Clapham, „Constitutions and Governance in Ethiopian Political History“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 34. 9 Theodore M. Vestal, „Democratic Electoral Processes: Fairness for Whom? Representation of What?“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 36. 10 Irving Leonard Markovitz, „Constitutions, Civil Society and the Federalist Papers“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 37. 11 Goran Hyden, „Proportional Representation in Plural Societies“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 38. 8
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three treaties on the defi nition of the powers of central and local authorities (a socalled Federal Treaty). The democratic forces in Russia regarded the Treaty as a tool for transition from a nominal to an authentically democratic Federation. In reality, the Federal Treaty has only averted a dangerous escalation of an open and all-round confl ict and converted it into local and lasting forms.“12 Diese verschiedenen Äußerungen sollten wegweisend sein für Äthiopien, doch erschöpfen sich die Zitate aus den Abstracts immer wieder in allgemeinen Überlegungen, ohne die wirklichen Probleme Äthiopiens zu treffen. Auch bei unseren Referaten vor dem Plenum der Nationalversammlung musste ich immer wieder feststellen, dass die meisten Experten die eigentlichen äthiopischen Probleme nicht kannten, denn zu sehr waren sie durch die amerikanischen, aber auch englischen Vorbilder in eine wenig fruchtbare Richtung ihrer Gedanken gedrängt worden.13 Der Verfasser, der seit 1972 intensiv mit der äthiopischen Rechts- und Verfassungsentwicklung sich beschäftigt hatte, war nach einer mehrjährigen Lehrtätigkeit in Addis Abeba erneut von einer deutschen politischen Stiftung beauftragt worden, den Wandel in Äthiopien von der Diktatur zur Demokratie zu begleiten und durch Workshops und Seminare vor allem Politiker, aber auch hochstehende Beamte, zu schulen und schließlich an der Verfassungsberatung teilzunehmen. Ich danke Frau Dr. Petra Zimmermann-Steinhart für die Überlassung einiger ihrer Texte sowie für ihre Anmerkungen zu meinem Manuskript.
II. Die Beratung des Verfassungsentwurfs 1994/95 – ein persönlicher Erfahrungsbericht14 1. Seminare und PR-Arbeit zur Vorbereitung Die neue äthiopische Verfassung vom 08. Dezember 1994 wird bald den zehnten Jahrestag ihres Bestehens feiern können. In der Präambel heißt es: „We, the Nations, Nationalities and Peoples of Ethiopia: Strongly committed, in full and free exercise of our right to self-determination to building a political community founded on the rule of law and capable of ensuring a lasting peace, guaranteeing a democratic order, and advancing our economic and social development; Firmly convinced that the fulfi lment of this objective requires full respect of individual and people’s fundamental freedom and rights, to live together on the basis of equality and without any sexual, religious or cultural discrimination; Further convinced by continuing to live with our rich and proud cultural legacies in territories we have long inhabited have, through continuous interaction on various levels and 12 Victor L. Sheinis, „Challenges of the Multinational Society and the Constitutional Reform in the Russian Federation“, in: Preliminary Report (s. Fn. 3), S. 38 f. 13 Andererseits könnte eine adäquat entwickelte äthiopische Verfassung ein hervorragendes Modell für andere afrikanische Verfassungsordnungen werden. Scholler, „Die Äthiopische Verfassung – Ein modernes Modell für eine traditionelle Kultur in Afrika“, in: ders. (Hrsg.), Recht und Politik in Äthiopien, LIT-Verlag, Berlin 2008, S. 191 ff. 14 Scholler, „Die Beratung der neuen äthiopischen Verfassung von 1994 – Ein persönlicher Erfahrungsbericht“, in: ders. (Hrsg.), Recht und Politik in Äthiopien, LIT-Verlag, Berlin 2008, S. 211 ff.
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forms of life, built up common interests and have also contributed to the emergence of a common outlook; Fully cognizant that our common destiny can best be served by rectifying historically unjust relationships and by further promoting our shared interests; Convinced that to live as one economic community is necessary in order to create sustainable and mutually supportive conditions for ensuring respect for our rights and freedoms and for the collective promotion of our interests; Determined to consolidate, as a lasting legacy, the peace and the prospect of a democratic order which our struggles and sacrifices have brought about; Have therefore adopted, on 8 December 1994 this Constitution through representatives we have duly elected for this purpose as an instrument that binds us in a mutual commitment to fulfi l the objectives and the principles set forth above.“
Nachfolgend soll die Unterstützung bei der Beratung dieser Verfassung dargestellt werden, die ich im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Zeit von 1992 bis 1994 in Addis Abeba und außerhalb der Hauptstadt durchgeführt habe. Ergänzend soll auch über die Verfassungsberatung für die Verfassungen der Gliedstaaten (Regionen) in der Region 1 (Tigray) berichtet werden. Nach dem Sturz des Diktators und des Staatspräsidenten Mengistu Haile Mariam15 im Mai 1991 und der Londoner Konferenz im Juli 1991 musste sich die neue äthiopische Regierung unter ihrem Präsidenten und späteren Premierminister Meles Zenawi an die mühevolle Arbeit machen, die durch einen 30-jährigen Bürgerkrieg und einen Krieg gegen Somalia verwüsteten Lande neu aufzubauen. Schon bald war eine Übergangsverfassung (Transitional Period Charter16) geschaffen, die in knappen 12 Artikeln die Grundprinzipien festlegte: Achtung der Menschenrechte, Garantie des Rechtsstaates, föderativer Auf bau des Staates und Recht der Selbstbestimmung bis hin zur Sezession. Dass an die Stelle dieser sehr knappen Urkunde bald eine echte Verfassung treten sollte, war schnell klar. Doch es war unsicher und blieb umstritten, ob man sich einem amerikanischen oder einem europäischen Modell anschließen oder eventuell sogar bestimmte Prinzipien marxistischer Staatslehre, wie z. B. das Staatseigentum an Grund und Boden, fortbestehen sollten. Die meisten Mitglieder der neuen äthiopischen Regierungselite, Frauen und Männer, die noch vor kurzem mit der Waffe in der Hand über viele Jahre hinweg einen kriegerischen Aufstand geführt hatten, die meist ihre Universitätsausbildung als Studenten abbrachen, um sich dem Aufstand anzuschließen, hatten allenfalls eine Schulung in marxistischer Rechts- und Staatstheorie. Die FriedrichEbert-Stiftung, die kurz nach dem Sturz Mengistus ihre Arbeit in Äthiopien aufnahm, war von der äthiopischen Regierung gefragt worden, ob sie die Beratungen 15 Geboren 1937, Staatsoberhaupt nach der Beseitigung des Kaisers Haile Selassie von 1977–1991. Bürgerkrieg mit Eritrea und in Tigray. Wurde von der Sowjetunion intensiv unterstützt. Sein Ziel war die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft. Der „Rote Terror“ unter seiner Herrschaft kostete mehr als 100.000 Menschen das Leben. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes war rückläufi g; aus noch ungeklärten Gründen verließ Mengistu mit Hunderten von Genossen Äthiopien und erhielt in Simbabwe von Robert Gabriel Mugabe Asyl. Erstaunlich war, dass der zweite oder dritte Mann des äthiopischen Staates, Fiseha Desta, nicht fl iehen konnte und von einem dem Nürnberger Gericht nachgebildeten Strafgerichtshof Äthiopiens abgeurteilt wurde. 16 Fasil Nahum, Constitution for a Nation of Nations – The Ethiopian Prospect, The Red Sea Press, Lawrenceville/Asmara 1997, S. 33 ff.
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der Verfassung durch Experten begleiten wolle. Als die Anfrage über Axel Schmidt, den damaligen Projektleiter der FES, zu mir kam, habe ich dieser Aufforderung als Experte sofort zugestimmt, da ich nicht nur in den zweieinhalb Jahren meiner Lehrtätigkeit in Addis Abeba an der Law Faculty der Universität 1972 bis 1975 mich mit Verfassungsfragen befasst hatte, sondern weil ich auch seitdem sowohl bei Vorträgen in Äthiopien und außerhalb als auch durch Veröffentlichung von wissenschaftlichen Beiträgen mich den aktuellen Fragen gewidmet hatte. Die FES hatte aber nicht nur im Sinn, eine punktuell ausgerichtete Verfassungsberatung durchzuführen, sondern war sich bewusst, dass man eine allgemeine Kampagne über die Grundprinzipien von Rechtsstaat und Demokratie durchführen müsse. Zielgruppe entsprechender Auf klärungsvorträge und Seminare, die der eigentlichen Verfassungsberatung vorausgingen, waren die obersten Staatsbeamten und die Richter des Landes. Immerhin war zwischen dem Sturz des Kaisers (1974) und Mengistus (1991) viel Zeit vergangen, in der eine neue Generation von Juristen und Politikern herangewachsen war, die nur wenig Kenntnis von demokratischen Regeln, Dezentralisierung und Fragen des Menschenrechtsschutzes hatte. Deshalb wurden vor den eigentlichen Verfassungsberatungen in Addis Abeba, aber auch in den Hauptstädten der neuen Gliedstaaten, Workshops durchgeführt. Vor Eröffnung der verschiedenen Foren hatte der spätere Premierminister Meles Zenawi den Projektleiter der FES und mich zu einem interessanten und informativen Gespräch eingeladen. Dabei hatten wir den Eindruck, dass es der neuen Regierung mit dem Versuch, der Verbreiterung ihrer Legitimation durch eine moderne Verfassung, ernst war.17 Im Folgenden soll zunächst auf zwei in der Region 4 durchgeführte Workshops eingegangen werden. Im Anschluss werden ein weiterer Workshop in der Region 14 und die eigentliche Beratung der Verfassungskommission geschildert. Meine Mitarbeiter bei diesen Veranstaltungen waren meine griechische Schülerin, Frau Prof. Maria Stylianoudi18, und Dr. Mandefro Eshete. Außerdem wurde von der FES bei vielen Workshops auch Menbere Tsehay, der Vizepräsident des Federal Supreme Court, eingesetzt. Die Workshops fanden im Juni 1993 in Addis Abeba und anschließend in den Hauptstädten der Regionen statt. Darüber hinaus wurde in Addis Abeba noch ein Workshop für Journalisten zum Thema „Demokratie, Rechtsstaat und die Garantie der Pressefreiheit“ durchgeführt. Bei dem Workshop in Addis Abeba hatte ich 19 Teilnehmer aus dem Bereich Verwaltung und Gerichtsbarkeit und eine fast gleiche Anzahl von Journalisten im Presse-Workshop. Hauptgegenstand der Referate und der Diskussionen waren die Grundrechte im Allgemeinen, aber auch das Wahlrecht. Man hatte sich bereits für das amerikanische Wahlrecht entschieden, was natürlich weniger Probleme bei der 17 In den folgenden Wochen nahm ich an Seminaren und Workshops in folgenden Gliedstaaten/ Regionen teil: Region 1 Tigray, Region 3 Amhara, Region 4 Oromiya, Region 6 und Region 14 (Southern Region). Die Seminare dauerten drei bis fünf Tage. Hierzu über „Sub-national Constitutions“ siehe: Yonas Birmeta (Hrsg.), Some Observations on Sub-national Constitutions in Ethiopia, Ethiopian Constitutional Law Series Vol. IV, AAU Printing Press, Addis Abeba 2011. Und hier besonders: Yared Legesse, „Sub-national (Semi-)Constitutionalism in Ethiopia: A Case Study of Benishangul-Gumuz, Gambella and Harari“, a.a.O., S. 188 ff. 18 Promotion an der juristischen Fakultät der Universität Paris I Panthéon-Sorbonne zum Thema der historischen Entwicklung des äthiopischen Rechtes: Maria-Georgia Stylianoudi, Droit et Société en Ethiopie médiévale, 2 Bände, Paris 1984.
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Auszählung macht (wenn man von dem Fall Florida bei der Wahl Präsident Bushs absieht). Häufiger Diskussionsgegenstand war auch die Habeas-Corpus-Garantie und die Frage der persönlichen Freiheit, die offenbar immer wieder sehr willkürlich gehandhabt wurde. Häufig wurde auch gefragt, ob das Recht auf Arbeit ein Grundrecht sei, weil offenbar durch die Reprivatisierung viele öffentliche Angestellte in den staatlichen Betrieben ihren Job schon verloren hatten oder zu verlieren drohten. Hinsichtlich des Schutzes der Grundrechte wurde auch die Frage aufgeworfen, ob durch eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit und einen Ombudsmann ein solcher Schutz in Äthiopien verstärkt werden könne. Von den Journalisten wurde vor allem gefragt, ob man nicht eine Dezentralisierung von Funk- und Fernsehen nach deutschem Vorbild anstreben solle, um größere Meinungsvielfalt und größere Vielfalt der ethnischen Äußerungen zuzulassen. Der Wunsch nach einer unabhängigen Kontrolle der Medien wurde geäußert. Ein wichtiger Diskussionspunkt war bei allen Seminaren die Frage, ob Äthiopien auf der Grundlage der Konföderation oder einer Föderation neu entstehen solle. Ich habe hier und auch später in der Verfassungskommission die Meinung vertreten, dass die Konföderation nur ein Übergangsstadium auf dem Wege zum Föderalismus oder zur Auflösung sein könne.19 Der Workshop in der Region 4 (Oromiya) zeigte deutlich, dass diese Ethnie damals entweder eine Konföderation anstrebte oder gleich auf Lostrennung vom Staat ausgehen wollte. Demgegenüber war der Wunsch nach Einheit in der Region 14, die aus 42 verschiedenen Ethnien und Sprachgruppen besteht, wesentlich stärker. Dieser Region würde nämlich bei einer rein ethnisch ausgerichteten Dezentralisierung drohen, dass die einzelnen Gruppierungen völlig auseinander fielen. In dieser Region spielte auch die Frage von Gleichheit von Mann und Frau eine besondere Rolle, wobei man mir die Frage stellte, ob die Frauen weiterhin den von der Feldarbeit heimkehrenden Männern die Füße waschen sollen (Symbol der Untertänigkeit bzw. Annäherung). Man kann daraus ersehen, wie schwierig es war, in den verschiedenen Regionen die richtige Vorstellung von moderner Demokratie und Rechtsstaat vorzutragen. Der Presse-Workshop wurde von dem damaligem Kultusminister Negasu Gidada, dem späteren Staatspräsidenten, eröffnet. Negasu Gidada hatte in Frankfurt am Frobenius-Institut auf dem Gebiet der Ethnologie unter Prof. Eike Haberland promoviert. Unterstützt wurde die Aktivität durch Rundfunkinterviews und durch einen längeren Artikel, den die Zeitung Ethiopia Tribune abdruckte. Außerdem war ich von der Region 1 (Tigray) gebeten worden, einen Verfassungsentwurf für Tigray oder auch für andere Gliedstaaten auszuarbeiten. Allerdings ist man meinen Vorschlägen nicht gefolgt, sondern hat sich bei den Verfassungen der Gliedstaaten stark an die Zentralverfassung gehalten. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden mehrere Gespräche mit einflussreichen Mitgliedern des Parlamentes und der Exekutive geführt, so mit dem damaligen Parlamentspräsidenten Tesfay Habiso und auch dem Vorsitzenden der Verfassungskommission Kifle Wedajo. Diese Workshops und Seminare, die parallel zur unmittelbaren Beratung der Verfassung liefen, hatten folgendes Ziel: 19 Siehe hierzu neuerdings die überzeugende Darstellung: Christophe Van der Beken, Unity in Diversity – Federalism as a Mechanism to Accommodate Ethnic Diversity: The Case of Ethiopia, LIT-Verlag, Berlin 2012.
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eine Vorbereitung für die Beratung in der Kommission, aber auch eine Public-Relation-Arbeit für das Verständnis der großen nationalen Probleme und der Bedeutung einer neuen Verfassung zur Sicherung von Frieden, Demokratie und Freiheit.
2. Die Verfassungsberatung für die Regionen In einem Bundesstaat gibt es Verfassungen auf der zentralen Ebene und auf der Ebene der Gliedstaaten. Auch die Gliedstaaten und vorweg vor allem Region 1 (Tigray) mussten sich eine Verfassung zulegen. Tigray hatte auch im Bürgerkrieg und in der Niederringung Mengistus eine führende Rolle gespielt und diese übernahmen sie nun auch bei der Entwicklung der Regionalverfassung als Modell für andere Regionen. Die Verfassungsberatung vollzog sich deshalb eben auch auf den beiden Ebenen, der Ebene der Regionen und der Ebene des Zentralstaates. An dem Beratungsseminar20 in Tigray nahmen 31 Teilnehmer, zwei amerikanische Gäste (ein Rechtsanwalt und eine Anthropologin) und eine englische Mitarbeiterin eines Relief-Programmes teil. Dadurch wurde die Diskussion plastischer und es konnte vor allem auch das amerikanische Modell stärker konturiert werden. Auf der Seite der Organisatoren der Region 1 (Tigray) waren vor allem Kidane-Mariam Hagos, Präsident des Supreme Courts der Region 1, sowie Fitsum G. Kristos, der Chef des Justizministeriums und spätere Justizminister und Tesfaye Teklehaimanot, Anwalt und Verbindungsmann zur Zentralregierung (ein ehemaliger Schüler von mir) beteiligt. Methodisch wurde zur Durchführung des Seminars ein Weg eingeschlagen, der sich bewährt hat. Die Referate wurden durch gezielte Fragen und Informationssammlungen sowie Diskussionen aufgelockert. Außerdem erfolgte die Verteilung von Kurzdarstellungen zu zentralen Problemen. Über spezielle Erfahrungen hat Prof. Maria Stylianoudi21 jeweils aus Griechenland berichtet bzw. in einzelnen Punkten wie zur Demokratie und Fragen zur Gewaltenteilung durch eigene Beiträge den Unterricht erweitert. Ziel der Veranstaltung war es, die über 30 hochqualifizierten Verwaltungsbeamten und Richter Tigrays in die Lage zu versetzen, als Multiplikatoren außerhalb der Hauptstadt Mekele die gegenwärtigen Fragen der neuen Rechtsordnung, der föderativen Zentralverfassung Äthiopiens und der Regionalverfassung Tigrays zu diskutieren. Im Wesentlichen wurde das Seminar in englischer Sprache durchgeführt, doch erwies sich die gelegentliche Übersetzung von Teilaspekten und Teildarstellungen von Fragen als sehr hilfreich.22 Das Seminar begann ich mit einer Darstellung des Rechts als eine Emanation der Gesellschaft, wobei vor allem auf vier Funktionen Wert gelegt wurde: Relationsbe20 Das Seminar trug den Titel „Constitution and Basic Elements of Democracy“ und fand vom 25. bis 30. April 1993 im Auftrag der Friedrich Ebert-Stiftung in Tigray statt. 21 Siehe Fn. 18. 22 Ausführlich werden diese Fragen im Kommentar von Fasil Nahum behandelt: Fasil Nahum, Constitution for a Nation of Nations – The Ethiopian Prospect, The Red Sea Press, Lawrenceville/Asmara 1997, S. 52 (Parliamentary Democracy), 57 (Fundamental Rights and Freedoms).
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stimmung, Gewaltausschluss, Schaffung von Zuständigkeiten und Autorität sowie von Revisibilität des Rechtes. Es schlossen sich dann Ausführungen über die Situation Äthiopiens und Tigrays in einem gemischten Rechtssystem an. Von den Teilnehmern wurde hervorgehoben, dass Äthiopien das Recht meist als ein fremdes Klassenrecht oder ein fremdländisches Recht erfahren hatte. Die Äthiopier hätten keine sehr guten Erfahrungen mit einem bodenständig gewachsenen, demokratisch-legitimierten Recht gehabt. Den Ausführungen zu den Human Rights folgte eine allgemeine Darstellung der Entwicklung der Menschenrechte in der europäischen Geschichte (Stylianoudi). Es wurde dann eine Vertiefung anhand von Einzelproblemen versucht: – Einbettung der Grenzen von Grundrechten durch die sozio-kulturellen Verhältnisse am Beispiel des Züchtigungsrechtes gegenüber Kindern und Ehefrauen – Menschenwürde und Persönlichkeitsentfaltung als zentrale Anliegen postdiktatorischer Grundrechtskataloge – Existenz sogenannter absoluter Grundrechte und Konfl iktlösung durch Abwägungsvorgänge, dargestellt am Beispiel des Eigentums – Eigentumsentwicklung in Äthiopien unter Berücksichtigung der Frage einer Rückgabe von Eigentum und der Entschädigung und der Schadensteilung unter Heranziehung äthiopischer bzw. tigrayischer Entscheidungen über Rückgabe von enteigneten Grundstücken Anschließend wurden das Problem der Pressefreiheit und der Zensur erörtert. Auch die Garantie der Parteienfreiheit fand eine ausführliche Erörterung, die der Entwicklung eines äthiopischen Parteiengesetzes dienen sollte. Dabei versuchte ich mich etwas am deutschen Parteienrecht zu orientieren. Einen wichtigen Diskussionspunkt bildete die Frage, inwieweit alle Parteien einen gleichen Zugang zu Massenmedien haben Es folgte eine ausführliche Diskussion des Wahlrechts als Staatsbürgerrecht, woran sich dann Erörterungen über die Demonstrationsfreiheit anhand deutscher und äthiopischer Erfahrungen anschlossen. Dies geschah vor allem im Hinblick auf die Studentendemonstrationen im Januar 1993, bei denen es sieben Todesfälle gab. Die Diskussion über das Habeas-Corpus-Recht betraf die Freilassung zu Unrecht Inhaftierter bzw. die Freiheit der Person und ihre Beschränkungen aufgrund von Gesetz und richterlichen Anordnungen anhand von aktuellen Fällen in Tigray. Diskutiert wurde hier auch die Frage, ob die Zuständigkeit für eine Habeas-CorpusEntscheidung in die Kompetenz eines Bundesgerichtes des Zentralstaates oder der Regionalgerichte (Region 1 – Tigray) falle. Besonders auffällig war, dass viele der Teilnehmer bei dem Begriff Staat automatisch Polizeigewalt assoziierten. Durch die Realisierung der Grundrechte über die Verfassung und die Gerichtsbarkeit könnte sicher ein neues, die Rechte des Einzelnen achtendes, Staatsbild entstehen.23
23 Aberra Jembere, An Introduction to the Legal History of Ethiopia 1434–1974, LIT-Verlag, Münster 2000; Jembere/Woldemelak, An Introduction to the Legal History of Ethiopia 1974–2009, Shama Books, Addis Abeba 2011, S. 206 ff.
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Anschließend wurde der Begriff Demokratie erörtert nach Darlegung von Prof. Stylianoudi. Bei grundsätzlichen Demokratiefragen habe ich vor allem die speziellen afrikanischen Aspekte herausgehoben. Dabei wurde betont, dass die größere Unfreiheit Afrikas ein Produkt der Kolonialzeit, aber auch der nach der Endkolonisierung entstandenen Zwänge gewesen sei. Es wurde der Demokratisierungsprozess der letzten vier Jahrzehnte, der nun auch Äthiopien erfasst hatte, dargestellt und erörtert. Dabei wurde besonders die Notwendigkeit der Entdeckung der Demokratie von unten nach oben und der Einführung des Subsidiaritätsprinzips betont. Demokratie wurde vorgestellt als Legitimation der Herrschaft durch wachsende und sich erweiternde Partizipation.24 Im Zusammenhang mit der Diskussion der Justizgrundrechte wurde von seiten der Juristen Tigrays betont, dass nicht genügend Richter zur Verfügung stünden, um föderale Streitigkeiten bzw. solche Streitigkeiten vor Gericht zu bringen, für die föderale Gerichte zuständig seien. Dies galt für höhere Streitwerte wie für die Habeas-Corpus-Streitigkeiten. Weiterhin wurde besprochen, welche Regierungsform die beste für die Region Tigray wäre. Hier wurden die vier grundsätzlichen Staatsformen des Westens dargestellt: Präsidentialismus (USA), Westminster-Modell (UK), Neopräsidentialismus (Frankreich und frankophone Afrikastaaten) sowie Kanzlerdemokratie (Deutschland). Im Zusammenhang mit den vorgestellten Organisationstypen wurde auf die Auseinandersetzung in Russland hingewiesen, in welcher es um die Einführung der neopräsidentiellen Regierungsform oder der parlamentarischen Regierungsform ging. Auch in Äthiopien war diese Frage Gegenstand intensiver Erörterung, wobei man sich klar war, dass in einem afrikanischen Staat das Westminster-Modell und wohl auch die Kanzlerdemokratie keine erfolgsversprechenden Modelle sein konnten. Die unmittelbare Wahl des Präsidenten wäre aber in Äthiopien auch nicht durchführbar, weil dazu die erforderliche Wahlkampagne nicht sachgerecht und gleichmäßig durchgeführt werden könnte. Es wurde hier eine Wahl durch ein Wahlkollegium nach US-Modell oder nach dem deutschen Modell der Bundesversammlung25 diskutiert. Im Rahmen der Föderalismusdiskussion wurde sehr ausführlich die Frage der Vertretung der äthiopischen Regionen in einer Zweiten Kammer erörtert. Hierzu wurden das deutsche und das amerikanische Modell analysiert, wobei die gleichberechtigte Vertretung aller Staaten ohne Rücksicht auf die zahlenmäßige Größe und die wirtschaftliche Stärke in der zweiten Kammer dem deutschen Modell gegenübergestellt wurde, bei welchem die Länder nach ihrer Bevölkerungszahl unterschiedlich behandelt werden. Aus der Tatsache, dass der deutsche Bundesrat (Senat) nicht nur an der Gesetzgebung, sondern auch an der Verwaltung mitwirkt und dass durch den horizontalen Finanzausgleich die reicheren Länder für die Verwaltung der schwächeren erheblich 24 Hier darf ich auf eine Darstellung hinweisen, die ich zusammen mit anderen Autoren in der Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover, gemacht habe: Demokratie in Afrika, Hannover 1982. 25 Nach Artikel 54 des deutschen Grundgesetzes wird der deutsche Bundespräsident von der Bundesversammlung gewählt. Sie setzt sich zusammen aus allen Bundestagsabgeordneten und einer gleichen Anzahl von Vertretern, die von den Landesparlamenten zu diesem Zweck gewählt wurden.
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beitragen müssen, ist die Stufung der Beteiligung verständlich. Auf der anderen Seite verlangte gerade in einem Land mit so vielen Verdächtigungen und Zweifeln wie Äthiopien der Minderheitenschutz der kleineren Ethnien besondere Beachtung. Das amerikanische duale System der Gerichtsbarkeit – die Verwaltung ist noch nicht so weit organisiert wie die Gerichtsbarkeit – wurde ausführlich diskutiert, zumal Äthiopien bereits auf der Ebene der Zentralgesetzgebung das amerikanische duale System eingeführt hatte. Gegen dieses System, wonach eine dreistufige Bundesgerichtsbarkeit und eine dreistufige Landesgerichtsbarkeit nebeneinander stehen, brachte ich erhebliche Bedenken vor. Die Teilnehmer bestätigten, dass hierfür eine ausreichende Zahl von Richtern gar nicht zur Verfügung stünde. Auch galt es zu bedenken, dass eine solche doppelte Gerichtsbarkeit und doppelte Verwaltungshierarchie die Länder (Regionen) schwächen und zu einer unnötigen Verkomplizierung der Rechtsfragen führen würden. Das deutsche System des sogenannten exekutiven Föderalismus26 fand dann allgemein Zustimmung, sobald es möglich war, dieses an und für sich viel einfachere System plastisch darzustellen, zumal es die Regionen stärken würde und das befürchtete Eindringen der Bundesverwaltung in die Regionen ausschließen könnte. Das amerikanische System, das auf der Ebene der Regionen, der Zonen und der Woredas Bundesverwaltungen zuließ, hatte zwar die größere Flexibilität für sich, verlangte aber, dass sowohl der private Sektor als auch der öffentliche Haushalt durch großzügige Finanzausstattung außerordentlich flexibilisiert werden könnten. Dies war in einer armen Entwicklungsregion wie Tigray ausgeschlossen. Der Mangel an ausgebildeten Juristen, die Schwäche des privaten Sektors und die Gefahr der Einflussnahme der Bundesverwaltung unter Zurückdrängung der Regionen waren dagegen unübersehbar. Es wurden sowohl die unterschiedliche Realisierung des exekutiven Föderalismus durch den regulären Landesvollzug von Bundesgesetzen als auch die Auftragsverwaltung und die Aufsicht erörtert. Dabei wurde auch herausgestellt, dass der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit in einem solchen System eine besondere Rolle zukomme. Besondere Beachtung fanden in diesem Zusammenhang die neu gegründeten Verfassungsgerichte in Polen, Ungarn und Russland.27 Mit den Diskussionen über Föderalismus und Gewaltenteilung wurde erkennbar, dass die Teilnehmer am Seminar mit mehr Selbstvertrauen und vertieften Sachkenntnissen viel eher bereit waren, entscheidende Probleme und Grundfragen der Verrechtsstaatlichung der Verwaltung zu diskutieren. Die Aussprache zum Ende der Tagung wurde intensiver und vielschichtiger. Hervorzuheben ist hier auch das ernsthafte und deutlich hervorgetragene Interesse an einer Stärkung der rechtsstaatlichen demokratischen Verwaltung der Region Tigray, die sich durch die Geschichte zurückgesetzt und vernachlässigt fühlte. 26 Im exekutiven Föderalismus spielen die Vertretungen der Länder im Bundesrat einen größere Rolle als die Landesparlamente. Die Föderalismusreform aus dem Jahr 2006 hat keine entscheidende Veränderung gebracht. Siehe zum Exekutivföderalismus auch: Heinz Laufer / Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, Vs Verlag, Juli 2006. 27 Siehe dazu die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa: Scholler, „Die Reform des öffentlichen Rechts in der Mongolei“, in: Bernreuther u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Spellenberg, sellier. european law publishers, München 2010, S. 651 ff.
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Im Rahmen der Ausführungen wurde Bezug genommen auf die vorläufige, schon beschlossene Verfassung Tigrays. Es sollte mir die Übersetzung dieser Verfassung möglichst bald zur Verfügung gestellt werden, da mir von Seiten des Ratspräsidenten der Region 1 (Gebru Asrat) der Wunsch vorgetragen wurde, ich möge die endgültige tigrayische Verfassung, die im Zusammenhang mit der Bundesverfassung Äthiopiens erarbeitet werden müsse, als Entwurf ausarbeiten und mit den lokalen Organen Tigrays erörtern. Dabei kam nachfolgendem Umstand besondere Bedeutung zu: Die Verfassung der Region 1 (Tigray) sollte als vorläufige Verfassung nach einem Modell erarbeitet werden. Ihre Umwandlung in eine endgültige Verfassung würde Einfluss haben auf die Verfassungen aller Regionen, da Tigray im Augenblick die Führungsrolle auf der Ebene der Regionen hatte. Außerdem konnte der Entwurf der Region 1 (Tigray) nicht ohne Sicht auf die Entwicklung der zentralen Bundesverfassung erfolgen. Über die Entwicklung der Landesverfassung Tigrays konnte also Einfluss auf die Bundesverfassung Äthiopiens genommen werden. Da letztere spätestens im September als erster Entwurf vorliegen sollte, müsste die Bearbeitung sofort beginnen. Über die Bedeutung der Einflussnahme durch einen Entwurf ist kaum etwas hinzuzufügen. Die Erfahrungen der Bundesrepublik mit einem föderativen Auf bau von Rechtsstaat und Demokratie könnten in einem Lande wie Äthiopien in besonderem Maße zur Wirkung kommen. Leider haben damals weder die deutsche Botschaft noch andere deutsche Träger der Entwicklungshilfe die Bedeutung dieser Maßnahme erkannt, so dass der von mir entwickelte Entwurf nicht durch entsprechende Workshops und Diskussionsforen diskutiert werden konnte. Das weitere friedliche Schicksal und die Entwicklung des Landes hingen sehr davon ab, ob es gelingen würde, die widerstrebenden Kräfte in einen demokratischen Rechtsstaat umzusetzen 28.
3. Beratung der Bundesverfassung Äthiopiens Fast parallel zur Beratung der Verfassungen der Regionen vollzog sich die Beratung der zentralstaatlichen Bundesverfassung. Auch hier dienten die vorangegangenen Workshops und Seminare als einführende Vorbereitung. Die Arbeit der Verfassungsberatung setzte schon Ende 1992 ein und wurde vor allem gegenüber einer Kommission durchgeführt, die vom äthiopischen Parlament, dem House of Peoples’ Representatives als Verfassungskommission gewählt worden war. Ihr Vorsitzender war der bekannte amharische Politiker Kifle Wodajo, der nach Abschluss dieser Arbeit auch als künftiger Staatspräsident im Gespräch stand. Die Expertenanhörungen fanden mehrmals im Jahr statt, insbesondere von November 1992 bis März 1993, wozu wir vom Vorsitzenden der Verfassungskommission und seiner Generalsekretärin Meaza Aschenafi eingeladen wurden. Auf einer der ersten Sitzungen, die im Parlament stattfanden, übergab ich ein Exposé in englischer Sprache von ca. 20 Seiten zum Thema „German Federalism“. Von amerikanischer Seite nahm Prof. J. Paul teil, einer der Gründungsväter der Addis Abeba Universität (frü28 Weiter wurde ich mit der Bitte konfrontiert, bei der Errichtung eines Diplomkursus für Juristen in Mekele/Tigray behilfl ich zu sein.
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her Haile Selassie I University) und Dekan der juristischen Fakultät zur Gründerzeit. Es fanden einzelne Gespräche mit bestimmten Kommissionsmitgliedern statt, daneben aber Gespräche in kleinen Gruppen, aber auch Vorträge vor bis zu 60 Mitgliedern des Verfassungsausschusses und weiteren Gästen. Mit Prof. Paul zusammen und später auch mit einem indischen Experten diskutierten wir sehr intensiv die Frage, welches föderative Modell für Äthiopien passend sei: Das amerikanische, das indische oder das deutsche. Dabei war allen Experten klar, dass in Äthiopien eine starke Zentralgewalt notwendig war, die mit einer ausbalancierten Dezentralisierung in den Regionen oder Gliedstaaten verbunden sein müsste. Das amerikanische Modell hielt ich deshalb für unzweckmäßig, weil es zu einer Parallelität der Bundes- und der Landesgerichtsbarkeit und -verwaltung kommen müsse, wofür sich die äthiopische Situation überhaupt nicht eignete. Hier war das deutsche Modell, der sog. exekutive Föderalismus, von größerem Vorteil, weil die Regionen (Länder) in ihren Verwaltungen und Gerichtsbarkeiten gemäß Art. 30 und 83 GG das Bundesrecht als eigene Angelegenheit auszuführen haben. In einem anderen Punkt waren wir jedoch gleicher Meinung, wenn wir einen zu starken ethnischen Föderalismus ablehnten und versuchten den neuen äthiopischen föderativen Staat mehr auf Länder und Regionen aufzubauen und weniger auf geschlossene ethnische Gruppen. Es sollte sich ja auch später im Konfl ikt mit Eritrea 29 (1998 bis 2000) zeigen, dass selbst zwischen den befreundeten Widerstandskämpfern Äthiopiens und Eritreas ein blutiger und erbitterter Krieg selbst nach der friedlichen Trennung ausbrechen konnte. Wir hielten auch Vorträge vor mehr als 400 Studenten der Rechtsfakultät, wobei ich zwei Themen vortrug und diskutierte: Verfassungsprobleme in einer nachmarxistischen Staatsordnung und Fragen des Verwaltungsrechts im Übergang von der Plan- zur sozialen Marktwirtschaft. Auch hier zeigte sich in der Diskussion, dass im Wesentlichen drei Strömungen in Bezug auf die Bundesstaatlichkeit vertreten waren: Starke zentrale Machtposition mit schwachen Kompetenzen auf der regionalen Ebene, starke bundesstaatliche Dezentralisierung nach amerikanischem Vorbild und Überbetonung der dezentralisierten Staatsordnung mit allgemeinem Recht auf Sezession, wie es dann auch im Artikel 39 der Verfassung verankert wurde. Im März 1993 bei einer anschließenden größeren Beratungstätigkeit gegenüber der Verfassungskommission wurde ich auch von Tesfay Harbiso, einem früheren Schüler von mir, gebeten alternative Entwürfe zu formulieren. Insbesondere sollte ich auch ein Referat über den exekutiven Föderalismus ausarbeiten. Bei diesem dritten Beratungsgespräch wurde die amerikanische Seite von Prof. Murphy, New York, vertreten mit einem Einführungsreferat über die rechtstheoretischen Voraussetzungen demokratischer Staatsverfassungen. Ich hatte den Auftrag dieses Referat zu eröffnen und die Diskussion in der Kommission zu moderieren. Auch hier waren neben den 29 Mitgliedern der Kommission sehr viele Experten und Wissenschaftler aus den Kreisen der äthiopischen Kollegen, aber auch Vertreter der ausländischen Botschaften, anwesend, so dass sich die Ge29 Siehe Encyclopaedia Aethiopica, Stichwort „Eritrea“, Band II, S. 355 ff. Siehe dazu auch: Scholler, „Vom vorkolonialen zum modernen afrikanischen Staat“, in: Verfassung und Recht in Übersee, 16. Jahrgang, 1983, S. 103 ff.
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samtteilnehmerzahl auf über 70 belief. Während Frankreich und die Schweiz durch Botschafter vertreten waren und auch England einen ranghohen Beamten entsandte, ließ sich die deutsche Botschaft entschuldigen. Am Nachmittag dieses Tages referierte ich selbst über die Regierungsform des Parlamentarismus und die Präsidentialverfassung unter besonderer Berücksichtigung der Vereinigten Staaten und Frankreichs. Bei der Diskussion wurden vor allem Fragen der Gewaltenteilung, des Rechtsstaates und der möglichen Formen, das politische Misstrauen auszusprechen, erörtert. Anschließend sprach noch Prof. Stylianoudi über die Bedeutung traditioneller äthiopischer Rechtsvorstellungen für die Gegenwart. Die Referentin hatte in Paris unter meiner Cobetreuung zu Fragen der mittelalterlichen äthiopischen Rechtsverfassung promoviert. Leider ist ihre hervorragende Arbeit nicht veröffentlicht worden. Ein weiterer wichtiger Beratungsgegenstand war die Frage, inwieweit soziale Grundrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollten, oder ob man sich mit einer allg. Sozialstaatsklausel begnügen sollte. Dabei war den Experten natürlich klar, dass der Menschenrechtsteil der äthiopischen Verfassung nicht mit unerfüllbaren Proklamationen angefüllt werden sollte. Ich selber nahm eine vermittelnde Stellung ein. Es folgten sehr intensive Einzelgespräche auch mit dem Vorsitzenden der Kommission Kifle Wodajo sowie dem Berater des Premierminister Meles Zenawi30 und dem Generalsekretär des Parlamentes. Dabei wurde der Eindruck immer stärker, dass auch außerhalb der Verfassungskommission bereits durch einen Experten, David Johannes, ein Verfassungsentwurf erarbeitet werde oder bereits erarbeitet worden sei, den wir aber nicht zu Gesicht bekommen hatten. Die Referate von deutscher Seite konnten anscheinend die Kommissionsmitglieder mehr überzeugen, was mir von dem Chef berater des Ministers Prof. Fasil Nahum 31 bestätigt wurde. Übrigens wurden die Referate und Diskussionen vor der Kommission vom Funk und vom Fernsehen Äthiopiens aufgezeichnet und ausgestrahlt. Daran konnte man die Bedeutung ermessen, die diesen Maßnahmen in der Öffentlichkeit, aber auch im Staatsapparat, zugemessen wurde. Sowohl in den begleitenden Seminaren für die Beamten- und Richterelite als auch im Verfassungsausschuss wurde über die Reform der Gerichtsbarkeit ausführlich gesprochen. Insbesondere wurde über die Gerichtsbarkeit im Zentralstaat und den Regionen intensiv diskutiert. Die Schwierigkeit der rechtssprechenden Gewalt wird dadurch deutlich, dass man 40% der Richter entfernen musste, entweder weil sie rein politische Mandate hatten oder weil sie nicht die Voraussetzungen für das Richteramt erfüllten. Um dem Mangel an geeigneten Richterpersönlichkeiten abzuhelfen, hat die FES in allen Regionen spezielle Seminare in Zusammenarbeit mit den Richtern des Supreme Court durchgeführt, an welchen ich ebenfalls als Referent teil30 Meles Zenawi ist später die führende Figur der Verfassungsentwicklung und der neuen äthiopischen Verfassung vom Dezember 1994 geworden. 31 Fasil Nahum umreißt die gegenwärtige Situation im Vorwort seines bekannten Kommentars wie folgt: „Ethiopia is an ancient state with a new constitution and a new beginning. The feudal monarchy that has been ist distinctive feature since pre-Christian times has been swept aside. The short fl irtation with communism and the civil war it ushered in is also over. A new reality has emerged, symbolized by and reflected in the Constitution of 1994. A federal system of government has been installed and a democratic process is unfolding, propelling Ethiopia towards the mainstream of world civilization.“ Fasil Nahum, Constitution for a Nation of Nations – The Ethiopian Prospect, The Red Sea Press, Lawrenceville/Asmara 1997, Vorwort, S. XV.
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nahm. Auch wurde von der FES in umfangreicher Weise ein Nachdruck der sechs großen Gesetzgebungswerke Äthiopiens veranlasst, um sie dann gratis an die Richter verteilen zu können.32 Wenn man nach fast zwanzig Jahren die Aufzeichnungen und Berichte durchsieht, die damals über unsere Gespräche und Diskussionen erstellt wurden, dann fallen folgende Schwerpunkte rückblickend besonders auf, weil sie Zentralprobleme darstellten: So wurde die Frage aufgeworfen, ob Wirklichkeit und Verfassungsnorm gerade im Falle Äthiopiens im Widerspruch sich befinden, so wie man feststellen konnte, dass zwischen den herrschenden Eliten und den breiten Volksschichten immer eine ganz große Kluft bestand, ja dass man von einem Krieg von mehreren Jahrzehnten zwischen dem Volk und seiner Regierung sprach? Gerade dieser Widerspruch im Vielvölkerstaat habe doch wohl dazu geführt, dass die Regierung zur Geheimpolitik und Geheimniskrämerei gegriffen habe, dass Armee und Polizei überdimensional verstärkt wurden, während die Durchsetzungskraft des Staatsapparates immer schwächer geworden sei? 33 Die Verfassung könne auch nicht als eine Dauerlösung angesehen werden, sondern müsse als Anfang eines permanenten Prozesses verstanden werden. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die Garantie des Minderheitenschutzes oder der Selbstverwirklichung bis hin zur Herauslösung aus dem Staat richtiger sei. Immer wieder wurde auch die Frage nach den Schutzmechanismen gestellt, insbesondere um die Stellung der Minderheiten gegenüber der Zentralautorität zu stärken. Verfassungsgerichtsbarkeit und föderatives Regierungssystem waren hier die Antworten, die natürlich bis in Detailfragen hinein durchdiskutiert wurden. Auch beim Institut der Verfassungsgerichtsbarkeit, das später durch die Einführung eines Council of Constitutional Inquiry (Art. 82 bis 84 der Verfassung von 1994) eingeführt wurde, wollte man sich von dem amerikanischen System der Übertragung dieser Kompetenz auf den Supreme Court lösen. Hinsichtlich des Problems des Föderalismus versuchte ich den Zweiflern gegenüber darauf hinzuweisen, dass Äthiopien bis zur italienischen Okkupation ein föderatives oder sogar konföderatives System gewesen sei und dass man deshalb hier nicht ein völlig fremdes Ordnungssystem dem Lande aufzwinge. Immer wieder kreisten die Überlegungen über die Modelle der Vereinigten Staaten, Kanadas und Deutschlands, doch wurden gleichzeitig auch ständig die historischen Erfahrungen Äthiopiens als Parameter herangezogen.34 Referate und Diskussionen fanden auf gleich hohen Ebenen juristischer Durchdringung statt und waren völlig frei von jeder Beeinflussung von außen. Natürlich 32 Siehe dazu meinen Bericht „Strengthening and Capacity Building of the Regional Judiciary in Ethiopia“, in: Recht in Afrika, 1999, S. 51–90. 33 Dieser Widerspruch zwischen dem, was gesagt wird und dem, was gemeint ist, wird in der Encyclopaedia u. a. wie folgt umschrieben: „Sämenna wärq (‚wax and gold‘) is the art of ‚concealing‘ what one wants to say with what one really says“ (m. w. N.), Encyclopaedia Aethiopica, Band IV, S. 507. 34 Scholler, „Die Äthiopische Verfassung – Ein modernes Modell für eine traditionelle Kultur in Afrika“, in: Verfassung und Recht in Übersee, Nomos Verlag, 40. Jahrgang, 2007, S. 159 ff. An dieser Stelle war es auch sinnvoll, über die Entwicklung eurozentrischer oder afrozentrischer Modelle des Verfassungsrechts zu diskutieren. Ein Teil der Diskussion wurde auch der Frage der Interpretation von Normen gewidmet: Scholler, Notes On Constitutional Interpretation in Ethiopia, Friedrich-Ebert-Stiftung, Addis Abeba 2003.
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kam den Experten wie J. Paul und mir zu Gute, dass wir seit drei Jahrzehnten mit den Problemen Äthiopiens vertraut waren und dass unter den Mitgliedern der Verfassungskommission und den Zuhörern manche unserer früheren Studenten sich befanden. Die Verfassung wurde später von einer besonders gewählten Constitutional Assembly diskutiert und vom House of Peoples’ Representatives, dem ersten Haus der äthiopischen Volksvertretung, am 8. Dezember 1994 angenommen und trat am 22. August 1995 in Kraft.35 Die Aufgabe dieser Darstellung kann es aus Raumgründen nicht sein, die Verfassung hier vorzustellen, es war vielmehr die Aufgabe, den Prozess zu beschreiben, der von dem Entwurf über die Diskussionen in den verschiedenen Gremien zur Annahme der jetzt geltenden äthiopischen Verfassung, der fünften seit der ersten modernen Verfassung aus dem Jahre 1931, ablief.36 Es werden zwei Strukturen von Grundsätzen unterschieden: die General Provisions und die Fundamental Principles, die im Zusammenhang mit der Präambel gelesen und interpretiert werden müssen. Dazu gehören im Einzelnen Rechtsstaatlichkeit, Ethnizität und Self-Determination, Menschenwürde, Religionsfreiheit und die Souveränität von Nations, Nationalities und Peoples (Art. 1 und 8).37
4. Tigray Mein Verfassungsentwurf für die Verfassung des Bundesstaates Tigray enthielt eine kurze Einleitung und 18 Seiten verfassungsrechtlicher Regelungen. Sie sollen hier erwähnt werden, weil sie auch Teil des gesamten Diskussionsprozesses waren: I. Basic Principles II. Fundamental Rights III. The Parliament IV. The Government V. Legislation VI. Jurisdiction VII. The Executive Power VIII. Finance IX. Education and Church.38 35 Da auch in der ersten Hälfte des Jahres 1995 Wahlen stattfanden, wurden häufig auch die Wahlen als weiterer Legitimationsgrund der am 8. Dezember 1994 beschlossenen Verfassung angesehen. Siehe auch: Aman Ayalew, „Mass turn out for constituent assembly elections“, in: Ethiopian Herald vom 31. 8. 1994. 36 Weitere Ausführungen dazu in meinen Beiträgen: „Die neue äthiopische Verfassung und ihre Auswirkungen auf die Rechtsordnung“, in: KAS Auslandsinformationen 12/1996, S. 85 ff.; „Die neue äthiopische Verfassung und der Schutz der Menschenrechte“, in: VRÜ 30/1997, S. 166 ff.; „La nouvelle Constitution éthiopienne et ses effets sur l’ordre juridique [La réception du droit occidental en Ethiopie (2)]“, in: Verfassung und Recht in Übersee – Law and Politics in Africa, Asia and Latin America 4/2000, S. 454 ff. 37 Scholler, „Die neue äthiopische Verfassung und ihre Auswirkungen auf die Rechtsordnung“, in: KAS Auslandsinformationen 12/1996, S. 88 f. 38 Den vollen Text habe ich in englischer Sprache an die zuständigen Organe der Region 1 Tigray übermittelt, doch habe ich keine Reaktion von der äthiopischen Seite erhalten, was vielleicht auch an der Unsicherheit der Fortführung des Projektes durch die deutsche Stiftung gelegen haben konnte.
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III. Darstellung der äthiopischen Verfassungsentwicklung aus der Sicht von 1994/9539 1. Allgemeines Afrika steht zu Beginn der 90er Jahre dieses Jahrhunderts vor einer neuen Welle der Verfassungsreform, ja der Verfassungsgebung. Dabei geht es vor allem um Demokratisierung, Dezentralisierung der überwiegend einheits- und zentralstaatlich verfassten neuen afrikanischen Staaten. Sobald der Begriff Afrika oder afrikanische Staaten fällt, assoziieren wir dies mit der Vorstellung des verlorenen schwarzen Kontinents, der Überbevölkerung und zyklisch wiederkehrenden Trockenheiten und Hungersnöten, dem Begriff der LDC Länder – der am wenigsten entwickelten Länder der Erde. Diese Reihe ließe sich fortsetzen, doch gibt es auch positive Assoziationen wie diejenige der Wiege der Menschheit, wenn man an „Lucy“40 denkt, deren Gebeine in Äthiopien gefunden wurden, die man im Museum in Addis Abeba sehen kann und die als die besten Hominidenfunde gelten. Man denkt an den Rassenkonfl ikt in Südafrika und seine glückliche Überwindung vor ganz kurzer Zeit, und man assoziiert diesen Begriff auch mit Spontaneität, Unmittelbarkeit der menschlichen Erlebniswelt und der Geborgenheit der Kollektive, der Familie, Clan und Dorf.
2. Was ist Verfassungsgebung in Afrika? Spricht man von Verfassungsgebung in Afrika, so ist das Thema sicher zu weit und zu ausholend. Selbst wenn man sich auf die Frage beschränkt, welche Verfassungen die afrikanischen Staaten sich seit ihrer Unabhängigkeit zu Beginn der 60er Jahre gegeben haben, ergreift es noch die Verfassung eines ganzen Kontinentes. Geht man vor das Jahrzehnt der Unabhängigkeit zurück, so kann man von einer eigenständigen und ursprünglich afrikanischen Verfassung eigentlich nur bei Äthiopien und Marokko41 sprechen.
3. Verlaufsmodelle in Afrika Betrachtet man die Entwicklung der letzten 35 bis 40 Jahre, so erkennt man in Afrika eine angloamerikanische Verfassungsentwicklung, die in den anglophonen Staaten Afrikas zum Durchbruch gelangt war und die beispielsweise in den Ländern Kenia und Tansania zur Einführung des Westminstermodelles geführt hatte. Daneben steht eine präsidiale Verfassungsentwicklung in den frankophonen Staaten, die 39 Gegenstand meiner Abschiedsvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, gehalten 1995 an der LMU München. 40 Lucy wurde eingeordnet in die Gruppe der sog. Australopithecus afarensis. Spätere Funde bestätigten diese erste erstaunliche Entdeckung. 41 In Marokko herrschten vor der Kontrolle durch Frankreich die Dynastien der Saadier und dann der Alawiden (seit 1664 die herrschende Königsdynastie in Marokko). Wiedererlangung der Souveränität im Jahre 1956.
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ihr Vorbild in der französischen Verfassung der 5. Republik hat.42 Diese Länder waren ursprünglich in ihrer Verfassungsstruktur Abbilder des englischen bzw. des französischen und amerikanischen Modelles. Eine dritte und vierte Verfassungsfamilie erkennt man einmal in den islamischen Staatsordnungen Afrikas, wozu ich erst einmal den Sudan und die Arabischen Emirate zählen möchte. Auf die Bedeutung der wachsenden Islamisierung, ihre Gefahr und ihren Einfluss auf die Verfassung im Allgemeinen kann ich hier nicht näher eingehen. Neben der islamischen Verfassungsordnung, die sich auf die Sharia des Koran zurückführt, steht der nur kurzlebige Versuch in Afrika eine sozialistische Verfassung einzuführen, wofür die Länder Angola und Mozambique, aber auch Äthiopien, standen.
4. Gibt es ein Societal-Script für die Verfassung?43 Gibt es zwischen diesen vier Verfassungstypen eine innere Problemverbindung? Wie stark waren diese vier Modelle in den letzten 35 bis 40 Jahren und wie haben sie sich verwandelt? Diese Fragen müssen noch um die zentrale Frage ergänzt werden: Kann moderne Verfassungsgebung in Afrika sich frei nach einer, wie auch immer verstandenen Grundnorm Kelsens44 entwickeln, oder ist sie an eine Vorgabe an das Societal-Script, die traditionellen Strukturvorgaben der afrikanischen Rechts- und Sittenordnung gebunden? Der Fehlschlag okzidentaler Verfassungsordnungen ist vor allem darin zu erblicken, dass das Societal-Script zu wenig beachtet worden ist, dass hierarchisch vertikale und egalitär horizontale Strukturprinzipien der afrikanischen Sozietäten vernachlässigt wurden. So scheiterte das Westminstermodell schon daran, dass in Afrika das Staatsoberhaupt nicht ein Staatsorgan mit möglichst geringer Kompetenz sein kann. Der erste Mann in einem afrikanischen Staat muss auch kompetenzmäßig der stärkste sein. Umgekehrt muss das französische Verfassungsmodell scheitern, wenn es im frankophonen Afrika keinen Grundrechtskatalog enthält, sondern sich – wie die französischen Verfassungen allgemein – auf die allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus den Augusttagen des Jahres 1789 beruft. Hinsichtlich Äthiopiens ist zu konstatieren, dass die amerikanischen und europäischen Historiker und Politologen die äthiopische Entwicklung unter den vier Reformkaisern – Theodoros II., Johannes IV., Menelik II. und Haile Selassie – zu einseitig und zu ideologisch als Entwicklung zur absoluten Monarchie oder Autokratie interpretiert haben. Die Elemente eines föderativen Regierungssystems, die bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts hineinreichen, die ständig präsente Struktur des politischen Konsenses, die Interaktionen zwischen feudaler Peripherieherrschaft und zentraler Kaisergewalt, die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen der herr42 Der arabische Frühling des Jahres 2011 hat natürlich die gesamte nordafrikanische Welt mit Ausnahme Marokkos in ein neues Licht gestellt und neue Aspekte hervorgebracht. Ob allerdings diese demokratische Entwicklung erfolgreich und stabilisierend sein wird, ist noch nicht zu erkennen. 43 Scholler, „Societal Script und Verfassungsrecht als konkurrierende Grundlagen der Herrschaftsordnung Äthiopiens“, in: ders. (Hrsg.), Recht und Politik in Äthiopien, LIT-Verlag, Berlin 2008, S. 336 ff. 44 Scholler, Buchbesprechung zu: Zai-Wang Yoon, Rechtsgeltung und Anerkennung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Band 98/1, Stuttgart 2012.
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schenden Amharaschicht und den Oromos, wurden vor allem in der öffentlichen Berichterstattung zu wenig gesehen oder als Täuschungsmanöver bezeichnet. Kaum einer meiner äthiopischen, amerikanischen oder europäischen Kollegen in Addis Abeba oder auch an anderen Universitäten, die sich mit äthiopischer Politikgeschichte und Recht beschäftigt haben, kannte die Serata Mangest, die alte Hofs- und Reichsverfassung, die auf das 13. Jahrhundert zurückgeht.45 Eine geschriebene Verfassung aus Äthiopien, eine Verfassung, die älter ist als die Magna Charta, eine Rechtsurkunde, die tatsächlich verdient, den Namen Verfassung zu tragen! Ich selbst habe die Fortwirkung dieser Verfassung unter dem Negus Negest, dem Kaiser Haile Selassie, erlebt. Nach dieser Urkunde gibt es keine Primogenitur, keine automatische Vererbung der monarchischen Gewalt auf den ältesten Sohn. Eine solche Primogeniturregelung nach europäischem, vor allem fränkischem Vorbild hatte zwar die Verfassung Haile Selassies von 1931/1955 einführen wollen, doch erwiesen sich auch hier die traditionellen Vorstellungen als stärker als das moderne Verfassungsrecht. In der alten Serata Mangest steht zu lesen, dass der Nachfolger des Negus auf folgende Weise ermittelt wird: In seiner letztwilligen Erklärung kann er einen Nachfolger aus der Schar seiner Söhne oder seiner Neffen benennen. Dieser wird dann mit Zustimmung der Armee – also der fürstlichen feudalen Potentaten – zum Kaiser erkoren. Hier zeigt sich ein Konsensualprinzip, bei dem Zentrum und Peripherie, Autokrat und feudaler Adel zusammenwirken müssen. Und wirklich hat sich die Nachfolge nach Kaiser Haile Selassie so vollzogen, dass es sich als Anwendung der Regel der Serata Mangest darstellen lässt. Die von ihren Einheiten gewählten Militärs, einschließlich der Polizeivertretungen, auch als Derg46 bekannt, versuchten nach der Absetzung des Kaisers eine vorläufige Regierungsgewalt zu übernehmen (PMAC) und haben in den Proklamationen 1 und 2 einen Dialog mit dem kaiserlichen Haus über die mögliche Nachfolge bzw. Umwandlung der Monarchie eröffnet.
IV. Abschnitte der äthiopischen Verfassung von 1994/95 1. Die Präambel Die Präambel in der Fassung vom 8. Dezember 1994 hat Prinzipien und Ziele des neuen äthiopischen obersten Rechts festgelegt, wobei wohl der Unterschied zwischen diesen beiden Orientierungen so ausgedeutet werden muss, dass Prinzipien bereits rechtliche Grundstrukturen enthalten, während Ziele erst Maßnahmen sind, die durch politisches Agieren erreicht werden sollen. Zu beiden Kategorien gehören 45
Scholler/Tafl a, „Ser’ata Mangest – An early Ethiopian Constitution“, in: Verfassung und Recht in Übersee, 9. Jahrgang, 1976, S. 487 ff. Zur Serata Mangest siehe auch den Eintrag von Denis Nosnitsin in der Encyclopaedia Aethiopica, Band IV, S. 632 ff. 46 Provisional Military Administrative Council (P. M. A. C.), eine Militär- und Polizeivertretung, die im Jahre 1974 öfters sich umorganisierte und an ihrer Spitze schließlich von den beiden führenden Militärs Major Mengistu Hayle Maryam und Major Atnafu Abbatä vertreten wurde. Es erfolgten verschiedene Hinrichtungen der führenden Funktionäre, die Ermordung des Kaisers und die Durchführung eines marxistischen Wirtschaftsprogramms. Siehe den Beitrag von Stefan Brüne zum Stichwort „P. M. A. C.“ in der Encyclopaedia Aethiopica, Band IV, S. 228 ff.
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insbesondere Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit und dauerhafte Friedensordnung, Achtung der Grundrechte, Zusammenleben in einer wirtschaftlichen, freiheitlichen Gemeinschaft, Sicherung von Frieden und demokratischer Ordnung.
2. Allgemeine Bestimmungen und grundlegende Verfassungsprinzipien 47 Die neue äthiopische Verfassung48 folgte dem Untergang des Mengistu-Regimes49 nicht unmittelbar. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Experiments im Mai 1991 erfolgte auf der Londoner Konferenz die Annahme der Interimsverfassung unter dem Titel „Transitional Period Charter“50. Diese Interimsverfassung, denn als solche darf man und muss man sie bezeichnen, enthält schon ganz wichtige Elemente, die dann in der Verfassung von 1994/95 aufgenommen und zum endgültigen neuen äthiopischen Verfassungsrecht erhoben wurden. Zu diesen zentralen Elementen gehört die föderative Ausgestaltung Äthiopiens, das Selbstbestimmungsrecht der äthiopischen Nationen und Nationalitäten51, das Bekenntnis zu Menschenrechten52, insbesondere zu den internationalen Menschenrechtsvereinbarungen, sowie zur rechtsstaatlichen Demokratie. Seit dem Inkrafttreten der „Transitional Period Charter“ bis zur Annahme der neuen äthiopischen Vollverfassung vom Dezember 1994 sind knapp dreieinhalb Jahre vergangen, in welchen der äthiopische Gesetzgeber nicht untätig blieb. Die Gesetzgebungsakte dieser Periode sowie die Gesetze unter Mengistu bzw. auch jene unter dem PMAC und dem Kaiser müssen nunmehr an der neuen äthiopischen Verfassung gemessen werden, die als oberstes Recht (Su47 Scholler, „Die neue äthiopische Verfassung und ihre Auswirkungen auf die Rechtsordnung“, in: ders. (Hrsg.), Recht und Politik in Äthiopien, LIT-Verlag, Berlin 2008, S. 171 ff. 48 Zum Entwurf der am 8. 12. 1994 angenommenen Verfassung haben sich im Vorstadium: Paul Brietzke, „Ethiopia’s ‚Leap in the Dark‘: ‚private‘ Federalism and Self-Determination in the New Constitution“, in: E. Grande (Hrsg.), Transplants Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa, L’Harmattan, Turin 1995, S. 65 ff. und Scholler, „Jural Postulates in the New Ethiopian Law: A New Approach to Law and Legal Education in Ethiopia“, in: Harold G. Marucs (Hrsg.), New Trends in Ethiopian Studies, Vol. II, The Red Sea Press, Lawrenceville, NJ, 1994, S. 998 ff. geäußert. 49 Siehe hierzu insbesondere: Andargachew Tirune, The Ethiopian Revolution 1974–1987, Cambridge University Press, 1993 sowie Paul Brietzke, Law, Development and the Ethiopian Revolution, Ph.D. in Law, London 1979. 50 Die Bedeutung der „Transitional Period Charter“ vom 5. 7. 1991 wurde immer wieder hervorgehoben. Abbera Jembere hat dies ebenfalls mit großer Betonung dargetan: „This period in Ethiopian history was the most dynamic period of the student movement if ever there was one! The sixties and the seventies could be characterized as the heyday of the student movement in most parts of the globe.“ Jembere/Woldemelak, An Introduction to the Legal History of Ethiopia 1974–2009, Shama Books, Addis Abeba 2011, S. 125. 51 Gem. Art. 9 Abs. 1 und 2 der Äthiopischen Verfassung müssen nicht nur die Gesetze aus der Mengistu-Zeit, sondern auch die zwischen 1991 und 1994 – also die vor dem 8. 12. 1994 erlassenen Gesetze – auf die Übereinstimmung mit der Verfassung nachprüf bar sein. Ob das der Einzelrichter tun kann, oder nur das Council of Consitutional Inquiry, soll später noch untersucht werden. 52 Die folgenden internationalen Menschenrechtsübereinkommen wurden von Äthiopien anerkannt: Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (1984), Convention on the Rights of the Child (1989), International Convenant on Civil and Political Rights (1966), International Convenant on Economic, Social and Cultural Rights (1966), wobei die Verträge größten Teils nicht in der Neggarite Gazette veröffentlicht wurden.
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preme Law, Art. 9) gilt. Zur Vorbereitung der äthiopischen Verfassung wurde eine Kommission im Rahmen des äthiopischen Parlamentes eingesetzt, die „Constitutional Commission“, die Experten anhörte. Auch die Öffentlichkeit nahm an dem Verfassungsdialog, vor allem über die Presse, Anteil. Der von der „Constitutional Commission“ ausgearbeitete Entwurf wurde dann von der „National Assembly“ diskutiert und mit Wirkung vom 8. Dezember 1994 angenommen. Die neue äthiopische Verfassung enthält in ihren elf Abschnitten vier zentrale Bereiche, die für das Verfassungsrecht und die gesamte Rechtsordnung von Bedeutung sind: Die allgemeinen Prinzipien, die Menschenrechte, die Vorschriften über die bundesstaatliche Ordnung und die Normen über die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Es ist evident, dass alle vier Bereiche sich unmittelbar auswirken auf die bestehende Rechtsordnung. Prinzipien wie Gewaltenteilung, supremative Verfassung, Trennung von Staat und Religion haben genauso unmittelbare Bedeutung wie die Kompetenzverteilung zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten in Bezug auf das Zivilrecht, wie auch die Menschenrechte mit ihrer Regelung der Rechte der Inhaftierten oder Verurteilten. Auch die Vorschriften über die Unabhängigkeit der Rechtspflege wirken sich direkt auf die Stellung des Bürgers vor Gericht aus. Daneben bestehen selbstverständlich noch andere interessante Bestimmungen. Erwähnt sei nur die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf die allerdings wegen des engen Zusammenhangs mit den Menschenrechten eingegangen werden muss. Außer Betracht bleiben müssen auch die inzwischen als Übergangsverfassungen erlassenen Regionalverfassungen53, doch wird hier und dort auf sie Bezug genommen werden können.
3. Menschenrechte a) Ein Katalog der Menschenrechte Im 3. Kapitel, das die Art. 13 bis 44 der Verfassung umfasst, sind die Menschenrechtsregelungen enthalten, die sich nach verschiedenen Gesichtspunkten hin klassifizieren lassen: aa) Die Verfassung enthält klassische traditionelle Freiheits- und Gleichheitsrechte auf der einen Seite, z. B. Art. 16, 17 und 27 (das Recht auf Leben, Freiheit und Freiheit der Religion), aber auch moderne klassische Freiheitsrechte wie z. B. Art. 36 (das Recht des Kindes). Neben den klassischen Gleichheitsrechten wie Gleichheit der bürgerlichen Rechte (Art. 25) stehen sehr moderne Gleichheitsrechte wie Gleichheit von Männern und Frauen, aber auch das Recht auf positive Diskriminierung (affi rmative action) der bisher benachteiligten Frauen nach Art. 35 Abs. 3. bb) Neben den liberalen Freiheits- und Gleichheitsrechten werden auch sogenannte demokratische Rechte gewährt, wozu die Meinungs- und Gedankenfreiheit nach Art. 29, die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit nach Art. 30, die Bewe-
53 Die Regionalverfassung von Oromia (Region 4) ist am weitesten ausgearbeitet. Nach der Annahme der Zentralverfassung von 1994/95 müssen sich die Regionen endgültige Verfassungen geben.
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gungsfreiheit nach Art. 32, aber auch die Gleichheitsrechte nach Art. 34 und 35 gehören. cc) Auch positive Grundrechte und solche der dritten und vierten Generation werden gewährleistet, so z. B. ökonomische, soziale und kulturelle Rechte nach Art. 41, das Recht auf Arbeit nach Art. 42, das Recht auf Entwicklung nach Art. 43 und das Recht auf Umwelt nach Art. 44. dd) Eine wichtige Rolle spielen die justiziellen Grundrechte: Vorweg soll Art. 37 mit der Garantie des Zugangsrechtes zu den Gerichten (Right of Access to Justice) erwähnt werden, das der Rechtswege-Garantie nach Art. 19 Abs. 4 GG entspricht. Die justiziellen Grundrechte des Angeklagten, des Strafgefangenen und des Verurteilten werden ausführlich in den Artikeln 17 bis 21 statuiert. Hinzu tritt das Recht auf humane Behandlung (Art. 18) und die Regeln der Konvention gegen Folter, die von Äthiopien angenommen wurde und gemäß Art. 13 Abs. 2 anzuwenden ist. Garantiert ist der nulla poena sine lege-Grundsatz in Art. 22 und das nebis in idem Prinzip in Art. 23. Eine besondere Rolle in der gegenwärtigen Situation in Äthiopien spielt Art. 28 mit der Überschrift „Crimes against Humanity“. Der in Addis Abeba im Dezember 1994 eröffnete Kriegsverbrecher-Prozess gegen Mengistu und ca. 1.300 seiner Gefolgsleute hat hier seinen Niederschlag gefunden. Art. 28 Abs. 2 schränkt das Gnadenrecht des Präsidenten der Republik insofern ein, als in diesen Kriegsverbrecher-Prozessen die Todesstrafe nur in lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt werden darf.
b) Die Einbeziehung der internationalen Menschenrechtserklärungen In den allgemeinen Rechtsprinzipien wird die Würde oder das Würdeprinzip als Grundlage der Menschenrechte angesprochen. Darüber hinaus sagt Art. 9 Abs. 4 der Verfassung, dass die internationalen Menschenrechtspakte, denen Äthiopien beigetreten ist, Teil des „Law of the Land“ sind, also Bundesstaatsrecht mit Rang unter der Verfassung. Ob eine dem deutschen Recht gemäß Art. 25 GG entsprechende Vorranglösung gewollt ist, bleibt offen. Dabei ist auf Art. 13 Abs. 2 der Verfassung hinzuweisen, wonach die internationalen Menschenrechtspakte und das internationale humanitäre Recht als Auslegungsmaßstab für die nationalen Grundrechtsgarantien heranzuziehen sind. Graphisch kann man diese beiden Grundprinzipien in Art. 9 Abs. 4 und 13 Abs. 2 so darstellen. Die Intention dieser Regelung ist klar: Es soll vermieden werden, dass zwischen der Interpretation des nationalen Menschenrechtskataloges und den internationalen Paktmenschenrechten eine Diskrepanz entsteht, die dann zu politischen Differenzen Anlass geben könnte, seien es außenpolitische oder innenpolitische Spannungen und Vorwürfe.
c) Gleichheit und Affirmative Action Von besonderer Bedeutung sind die Garantien der Gleichheitsrechte in Art. 34 und 35 sowie im Rahmen der arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Grundrechte. Die besondere Betonung der Gleichheit von Mann und Frau lässt es wohl nicht zu,
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auch im äthiopischen Recht den deutschrechtlichen Grundsatz von der Präponderanz der Freiheit über die Gleichheit zu betonen. Im Rahmen der Garantie der Gleichheit von Mann und Frau in Art. 35 wird auch die „Affi rmative Action“ eingeführt, wonach Frauen einen Anspruch auf Förderung zur Wiederherstellung ihrer gleichberechtigten Rolle in Staat und Gesellschaft haben.54 Zurückkommend auf den Mangel einer Prädominanzregelung zugunsten der Freiheitsrechte wird man im Konfl iktfall zwischen Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der Frau kein Übergewicht der religiösen Freiheit annehmen können. Allerdings dürfte die Durchsetzung solcher Rechte gegen die Familie oder den Clan schwierig sein.
d) Sind die Grundrechte Self-Executive? Es ist leicht erkennbar, dass es der Gesetzgebung bedarf, um die modernen Freiheits- und Gleichheitsrechte zu realisieren. Dies ist in Bezug auf die Meinungs- und Pressefreiheit geschehen. Auf die entsprechende Pressefreiheitsproklamation darf hingewiesen werden. Allerdings beklagen sich die sich in Addis Abeba sehr rasch entwickelnden privaten Presseerzeugnisse immer wieder darüber, dass es zu viele bürokratische Hindernisse gibt. Auf der anderen Seite ist aber auch erkennbar, dass eine große Reihe dieser Grundrechte „Self-Executive“ ist, so dass es nicht einer Umsetzung durch Rechtsvorschriften bedarf. Hier können die Gerichte vielmehr selbst entgegenstehende Bestimmungen des bisher geltenden Rechtes für ungültig erklären, wobei allerdings die Schranken zu beachten sind, die in Art. 83 und 84 aufgestellt wurden. Beim Civil Code, der ja selbst auch eine Reihe von Grund- und Menschenrechten in privatrechtlicher Einkleidung kennt, liegt sicher ein vorkonstitutionelles Recht vor, das von den Gerichten unmittelbar überprüft werden kann. So sind bestimmte Regelungen des Familienrechtes nicht mehr vereinbar mit den Artikeln 34 und 35 der Verfassung, insbesondere die Rechte der Eltern zur Verheiratung ihrer oft minderjährigen Kinder. Auch die Schlechterstellung des nichtehelichen Kindes gegenüber den ehelichen Kindern durch den Civil Code dürfte durch das neue Verfassungsrecht, insbesondere Art. 36, außer Kraft gesetzt sein.55 Das äthiopische Gewohnheitsrecht kannte ja eine solche Schlechterstellung nicht, die im Civil Code darin bestand, dass das nichteheliche Kind nur dann gleiches Erbrecht mit dem ehelichen hatte, wenn die Vaterschaft schriftlich anerkannt war. In einem Lande mit sehr stark entwickelter Oralität kann eine solche Vorschrift nur sinnvoll für die großen Bevölkerungsagglomerationsgebiete sein, während sie auf dem Land ihren Zweck verfehlt. 54 Fasil Nahum bezeichnet die Affi rmative Action, die auch in der äthiopischen Verfassung garantiert ist, als „imperative sanctioned by the Constitution“. Er verweist dabei auf die Entwicklung dieses Grundsatzes in Indien und als Mittel gegen die Entwicklung des Kastensystems und in den USA als Öffnung des Zugangs zu den öffentlichen Schulen. Fasil Nahum, Constitution for a Nation of Nations – The Ethiopian Prospect, The Red Sea Press, Lawrenceville/Asmara 1997, S. 142. 55 Der Kommentar von Fasil Nahum zählt fünf wichtige Kinder-Grundrechte auf, die von dem Grundrecht auf Leben des Kindes angeführt werden: Fasil Nahum, Constitution for a Nation of Nations – The Ethiopian Prospect, The Red Sea Press, Lawrenceville/Asmara 1997, S. 144.
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Im ersten Kapitel werden vor allem allgemeine Bestimmungen, z. B. über Sprachen oder Staatsbürgerschaft, niedergelegt, deren grundsätzliche Bedeutung es erforderlich macht, sie besonders hervorzuheben, auch wenn sie in diesem Zusammenhang am Ende der Grundrechtsbetrachtungen stehen. Wie schon ihre Vorgängerinnen hebt auch die neue Verfassung die besondere Position des Amharischen im Gesamtstaat hervor, relativiert aber diese von jeher umstrittene Position, indem sie Amharisch nicht als Staats- oder offizielle Sprache, sondern als Arbeitssprache bezeichnet und es den Teilstaaten freistellt, ihre eigenen Arbeitssprachen festzulegen.56
e) Die Bedeutung des internationalen Pakts der bürgerlichen und politischen Rechte Von besonderem Interesse ist der Umstand, dass der nationale Menschenrechtskatalog sehr viel mehr Ähnlichkeit mit den Menschenrechten hat, die im internationalen Pakt der bürgerlichen und politischen Rechte garantiert sind, als mit der African Charter57. Es zeigt wiederum die stärkere Westorientierung und den Mangel an typisch afrikanischen Grundrechtsvorstellungen, wenn man nicht die Selbstbestimmung in Art. 39 und die Eigentumsgarantie in Art. 40 als Ausprägung sowohl sozialistischen als auch traditionellen Gedankengutes sieht.
V. Exekutivgewalt – Präsident und Regierung in der Verfassung von 1994/9558 Die äthiopische Verfassung von 1994 hat weitreichende Veränderungen auch in der Struktur der Exekutiv- oder ausführenden Gewalt gebracht. Die umfassenden Exekutivgewalten der früheren äthiopischen Verfassungen wurden durch mehr symbolische Funktionen in der neuen Verfassung ersetzt. Der Premierminister wurde demgegenüber durch eine umfassende Exekutivbefugnis ausgestattet. Darüber hinaus wurde das überkommene System der Zentralisierung der Gewalt auch durch eine weitgehend vertikale Dezentralisierung der Gewalt ersetzt. Die Verfassung regelt die Aufgaben des Präsidenten nach der Normierung der Funktionen des Parlaments und der Regierung in Art. 69 ff. Der Präsident wird von beiden parlamentarischen Kammern gewählt gemäß der Verfassungsregelung in Art. 71. Dieser Artikel regelt in den nachfolgenden Abschnitten die Aufgaben des Präsidenten: Eröffnung der gemeinsamen Sitzungen, Verkündung der Gesetze im Gesetzesblatt (Negarit Gazette), die Vertreter ausländischer Staaten zu empfangen, Preise und Medaillen zu verleihen, die Ernennung hoher militärischer Ränge und Begnadigungen nach vorgeschriebenen gesetzlichen Regelungen. Im Gegensatz hierzu verleiht Art. 74 dem Premierminister weitreichende Befugnisse. Er schützt die Verfassung (Art. 74 (13)), er garantiert den 56 Fasil Nahum, Constitution for a Nation of Nations – The Ethiopian Prospect, The Red Sea Press, Lawrenceville/Asmara 1997, S. 55. 57 Die African Charter On Human And Peoples’ Rights trat am 21. Oktober 1986 in Kraft und wurde bisher von 53 Ländern ratifi ziert. 58 Siehe dazu auch: Scholler, Ethiopian Constitutional and Legal Development, Volume I, Rüdiger Köppe Verlag, Köln 2005, S. 149.
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Vollzug der Gesetze (3), er überwacht die Politik des Staates (6) und er sichert den Vollzug der Bundesverwaltung (8).
VI. City Government of Addis Abeba Zwei politische Organisationen haben als sog. City Government eine besondere Aufgabenzuweisung und Organisation im föderativen System Äthiopiens. Dies sind Addis Abeba und Dire Dawa. An dieser Stelle soll nur Addis Abeba City Government behandelt werden als Struktur, die sich aus Provisional Government of Addis Abeba City entwickelt hat. 1998 wurde die Funktion der Provisional Government of Addis Abeba City an die Care Taker City Government und schließlich 2008 an die Addis Abeba City Government abgegeben.59 Die politische Gründung Addis Abebas als Hauptstadt Äthiopiens erfolgte wohl durch Kaiser Menelik II im Zusammenhang mit der Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft. Die Hauptstadt entwickelte sich von einer traditionell-monarchischen über eine kommunistische Organisation zum jetzt bestehenden dezentralisierten demokratischen Ordnungssystem (Art. 49). Von den objektiven Zielen sollen hier erwähnt werden: „good governance“, Verbesserung der Lebensbedingungen und Vermittlung des friedlichen Kulturaustausches, Schutz der Natur und Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Organe der City Government sind: Stadtrat (City Council), Bürgermeister, Cabinet, Gerichtsbarkeit (Mediationsorgan in Streitfällen) und Rechnungshof. Der Stadtrat (City Council) umfasst 183 Personen, verfügt über Immunität und hat legislative Aufgaben. Der Stadtrat ist sowohl den Bürgern als auch der Staatsregierung verantwortlich und soll nach fünf Jahren durch Wahlen erneuert werden. Weitere Strukturelemente und Organteile werden durch lokale Vorschriften auf der Grundlage der Verfassung geregelt.
VII. Das bundesstaatliche Gerichtssystem (Federal Court System) 1. Ein duales oder monolithisches Gerichtssystem? Unmittelbar nach dem obersten Bundesgericht (Federal (central) Supreme Court) besteht ein bundesrechtliches Oberstes Gericht (Federal (central) High Court), wobei diese letztere Gerichtseinheit nur für Addis Abeba und für Dire Dawa vorgesehen ist. Für die anderen Regionen (oder Staaten) sieht die Verfassung auch die Möglichkeit vor, andere Obere Bundesgerichte (Federal High Courts) zu errichten. Daher ist dieses äthiopische Gerichtssystem nicht mit dem deutschen oder dem britischen System der Delegierten-Gerichtsgewalt vergleichbar, sondern eher dem amerikanischen System eines dualen Gerichtssystems (dual court system). Es können auch Oberste 59
Der umfangreiche Aufgabenkatalog, den die Care Taker City Government zu erfüllen hatte, reicht von allen Funktionen der Daseinsvorsorge bis hin zu Ordnungsmaßnahmen. Siehe dazu: Jembere/ Woldemelak, An Introduction to the Legal History of Ethiopia 1974–2009, Shama Books, Addis Abeba 2011, S. 238 f.
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Bundesgerichte und Bundesgerichte erster Instanz errichtet werden. Das Gerichtssystem in den Regionen wurde durch die Proklamation 40/1993 strukturiert und 1994 endgültig in Funktion gesetzt. Das Gerichtssystem des Bundes wurde endgültig durch Proklamation von 1996 in Kraft gesetzt. In den Absätzen 2, 3 und 4 dieser Proklamation sind die Funktionen und Befugnisse der Bundesgerichtsbarkeit festgelegt worden (siehe Art. 3 der Proklamation 25/1996). Die Befugnisse der Bundesgerichtsbarkeit in privatrechtlichen und strafrechtlichen Angelegenheiten korrespondieren mit den Kompetenzen zur Bundesgesetzgebung. Das Oberste Bundesgericht hat auch das Kassationsrecht in Bezug auf die Entscheidungen der Obersten Gerichte der Bundesländer ohne Rücksicht darauf, ob diese regionalen Gerichte als Berufungsgerichte oder als Gerichte erster Instanz entscheiden. Der Präsident und der Vizepräsident des Obersten Bundesgerichts werden vom Premierminister vorgeschlagen und von der ersten Parlamentskammer ernannt. Die anderen Bundesrichter werden von der Bundesrichterkommission ausgewählt und werden dann vom Premierminister der ersten Parlamentskammer zur Ernennung vorgeschlagen. Die Richter des Obersten Landesgerichts und die obersten Richter, die von der Richterkommission ausgewählt worden sind, werden vom Rat des Staates ernannt. Auf der regionalen oder auf der sog. Landesebene sieht die Verfassung eine traditionelle Organisation auf drei Ebenen vor: Das regionale Oberste Gericht, das regionale Hochgericht und das regionale Gericht der ersten Instanz (Woreda Courts) (Art. 78 (3)). Die Region 4 (Oromia) hat die Gerichtsorganisation auf vier Ebenen organisiert, und zwar auf der untersten Ebene noch die Sozialgerichtsbarkeit hinzugefügt. Die Gerichte der Länder (Regional Courts) haben in Ergänzung zu ihren eigenen traditionellen Kompetenzen delegierte Kompetenzen, die ihnen durch die Verfassung übertragen wurden in Angelegenheiten des Strafrechts, des Verwaltungsrechts und des Privatrechts (Art. 80 (2)). Die Obergerichte der Regionen haben die Funktion einer Delegiertengerichtsbarkeit erster Instanz, während sie gleichzeitig als Berufungsgericht in Angelegenheiten des einfachen delegierten Bundesrechtes zuständig sind (Art. 80 (4)). In Ergänzung zu den Gerichten auf Bundes- und auf Landesebene sieht die äthiopische Verfassung noch weitere Gerichtsbarkeiten vor. Zusätzlich kennt die äthiopische Verfassung auch noch besondere Zuständigkeiten und Gerichtsbarkeiten auf dem Gebiet der religiösen und kulturellen Angelegenheiten. Dies ist in Art. 34 (4) geregelt. Mit dieser Bestimmung gestattet die Verfassung die Gesetzgebung und die Errichtung von Maßnahmen zur Durchführung religiöser oder kulturorientierter Gerichtsbarkeit. Natürlich bezieht sich diese Vorschrift vor allem auch auf die Zulässigkeit islamischer Gerichtsbarkeit und der Anwendung islamischen Rechts. Die entsprechenden notwendigen regulativen Vorschriften können aber nicht von staatlichen Einrichtungen, sondern nur von den religiösen oder kulturellen Organismen eingerichtet und geregelt werden. Natürlich ändert diese Regelung nichts an der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Festlegung, dass die Trennung zwischen Staat und Religion auch grundsätzlich für die Anwendung der äthiopischen Verfassung von 1994/95 gilt. Die Sharia-Courts zur Anwendung des islamischen Rechts wurden bereits früher errichtet und ihre Existenz wird nicht als Verletzung der Trennung
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von Staat und Religion angesehen (siehe dazu die Vorschriften in Art. 34 (4 und 5) und Art. 78 (5) der Verfassung von 1995). Erwähnenswert ist noch der Fortbestand der sog. Kebele-Courts, die man auch als Sozialgerichte (Social Courts) bezeichnet und die während der revolutionären Phase errichtet wurden. Die Kompetenz dieser Gerichtsbarkeit war beschränkt auf Angelegenheiten bis zu 500 EB in privatrechtlichen Streitigkeiten und 300 EB in strafrechtlichen Streitigkeiten. Die Vorschriften über die Kebele-Courts galten von 1989 bis 1991 (Proklamation 4/1993). In Addis Abeba gab es 287 Kebele-Courts.
2. Das Council of Constitutional Inquiry als Beratungsorgan der Verfassungsgerichtsbarkeit Von besonderer Bedeutung ist die Einführung der sog. Verfassungsgerichtsbarkeit, die in Äthiopien nicht so bezeichnet wird, die aber doch dem gleichen Zweck zu dienen hat, wie dies die Verfassungsgerichtsbarkeitsregelungen in anderen Ländern tun. Die Einrichtung trägt die Bezeichnung „Council of Constitutional Inquiry“, was man am besten mit „Rat zur Verfassungsüberprüfung“ übersetzen sollte. Es ist eine verfassungsrechtliche Einrichtung, die von dritter Seite angerufen werden kann, wenn in einem Rechtsstreit es fraglich ist, ob eine Rechtsnorm nichtig oder gültig ist oder wenn für eine gültige Rechtsnorm eine besondere Anwendung erforderlich ist. Die Entscheidung hierfür kann das Council alleine nicht treffen, denn es hat nur die Befugnis nachzuprüfen, ob tatsächlich ein Fall der Unklarheit in der Interpretation einer anzuwendenden Rechtsvorschrift vorliegt. Bejaht das Council eine solche Unsicherheit, dann wird die Frage mit der entsprechenden Begründung dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
VIII. Parlament – Die beiden parlamentarischen Vertretungsorgane nach der Verfassung von 1994/95 Das parlamentarische System verfügt über zwei Organe: das Parlament (House of Peoples’ Representatives) und den Senat (House of Federation). Die Mitglieder des Parlaments werden in allgemeiner und direkter Wahl in Einerwahlkreisen gewählt. Da die Wahlkreise auf ethnischer Grundlage gebildet werden, wobei man von der Zahl 100.000 ausgeht, wird durch die Verfassung eine Vertretung von Minderheiten vorgesehen. Diese Vertretung von Minderheiten soll mindestens 20 Sitze betragen. Das Parlament hat die Aufgabe der Gesetzgebung nach Maßgabe der Bestimmungen der Verfassung. Neben dem Gesetzgebungs- und Budgetrecht hat das Parlament gemäß Kapitel VI der Verfassung folgende Aufgaben: Es bestätigt die Ernennung von Bundesrichtern, die Ernennung von Mitglieder des Ministerkabinetts und des Rechnungsprüfers. Art. 56 regelt die politische Rolle der parlamentarischen Mehrheit. Die Befugnisse der zweiten Kammer sind in Kapitel VI Abteilung II geregelt. Sie setzt sich zusammen aus den Vertretern der Nationen, Nationalitäten und Völkerschaften. Die Mitglieder werden von den Landesparlamenten oder direkt gewählt.
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Unter anderem hat die zweite Kammer die Aufgabe der Verfassungsinterpretation. Sie entscheidet auch über die Selbstbestimmung der einzelnen Nationen, Nationalitäten und Völkerschaften einschließlich des Rechts auf Sezession. Die zweite Kammer entscheidet ferner bei Spannungen und Streitigkeiten, die sich evtl. zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten oder einem Mitgliedstaat und der Bundesregierung ergeben könnten. Die zweite Kammer hält mindestens zwei Sitzungen pro Jahr ab; die Amtsdauer beträgt ebenso fünf Jahre wie die der ersten Kammer.
IX. Die wichtigsten Strukturelemente des äthiopischen Föderalismus60 Das äthiopische politische System kann nur auf der Grundlage seiner historischen Entwicklung verstanden werden, die durch Hegemonie des Hochlands und der damit verbundenen Assimilationspolitik Menelik und seines Nachfolgers sowie dem ethnisch organisierten Kampf gegen die von 1974 bis 1991 regierende Militärdiktatur verstanden werden.61 Dieser Abschnitt stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede des äthiopischen Föderalstaates mit anderen Föderationen dar, wobei ein klarer Fokus auf den Besonderheiten des äthiopischen Systems liegt.
1. Gemeinsamkeiten mit anderen Föderationen Das äthiopische föderale System weist eine Reihe von Ähnlichkeiten mit anderen föderalen Systemen auf. Beispiele dafür sind die Verteilung der Befugnisse und Aufgaben auf der Bundesebene und den regionalen Ebenen der Region. Sowohl die föderativen Befugnisse als auch die Reservebefugnisse finden sich auch in vielen anderen föderativen Systemen. So sind z. B. die Befugnisse, die in Art. 51 aufgezählt sind, in ähnlicher Weise auch in anderen bundesstaatlichen Normen zu finden, u. a. hinsichtlich der auswärtigen Politik, der Verteidigung und Finanzangelegenheiten. Die Vermutung, dass Kompetenzen, die nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt sind, in die Zuständigkeit der Regionen fallen, findet sich auch in anderen Verfassungen wieder. Das Gleiche trifft für die Staatsorganisation zu, welche in Art. 50 vorgesehen ist. Obwohl es keine deutliche Normierung gibt, wie man mit der Veränderung von Staatsgrenzen zu verfahren hat, oder auf welche Weise die Hauptstädte zu organisieren sind, so sind doch die Regelungen in Art. 47 bis 49 eine Regelung, die mit anderen ähnlich gelagerten Situationsbewältigungen vergleichbar ist. 60 Ich danke Frau Dr. Petra Zimmermann-Steinhart für die Erlaubnis für diesen Abschnitt auf ihre Arbeiten zurückzugreifen. 61 Siehe hierzu vor allem: Alemseged Abbay, „Diversity and State Building in Ethiopia“, in: African Affairs, 103/413, 2004, S. 593–614; Aregawi Berhe, „The Origins of the Tigray Peoples Liberation Front“, in: African Affairs, 103/413, 2004, S. 569–592; Paul B. Henze, Layers of Time, Shama Books, Addis Ababa 2000; John Markakis / Ayele Nega, Class and Revolution in Ethiopia, Shama Books, Addis Ababa 2006; Merera Gudina, Ethiopia – Competing Ethnic Nationalisms and the Quest for Democracy 1960–2000, Shaker Publishing, Addis Ababa 2003.
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2. Besonderheiten des äthiopischen Föderalismus Die erste Besonderheit des äthiopischen Föderalismus bildet – basierend auf der Geschichte Äthiopiens – die große Bedeutung, die den „Nations, Nationalities and Peoples“, den ethnischen Gruppen, zukommt (Präambel, Art. 42 und Art. 39). Die „Nations, Nationalities and Peoples“ sind als Begründer und Unterzeichner der Verfassung der Souverän im äthiopischen Verfassungsgefüge, nicht wie in anderen Staaten das Parlament oder das Volk im Allgemeinen. Des Weiteren verfügen die „Nations, Nationalities and Peoples“ über ein uneingeschränktes Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung bis hin zur Sezession, dem in Artikel 39 Rechnung getragen wird. Die Bestimmungen des Art. 39 (4) sind sicher die umstrittenste und akademisch meist umkämpfte Regelung der Verfassung. Der Passus wird von einer Reihe von Akademikern, politischen Akteuren und Beobachtern mit der Begründung kritisiert, er bewirke die Auflösung des äthiopischen Staatsgefüges und sei der Anfang vom Ende Äthiopiens.62 Insgesamt lässt sich hierzu jedoch festhalten, dass der Artikel erstens keine Sezession vorschreibt, sondern den Rechtsweg für den Fall, dass eine Ethnie sie für notwendig finden sollte, beschreibt, zweitens wurde seit in Kraft treten der Verfassung im August 1995 kein Gebrauch dieses Artikels gemacht. Es ließe sich auch argumentieren, dass das Recht auf Sezession den nationalen Zusammenhalt eher fördert als behindert, da er alle Beteiligten zur Einhaltung von Minderheitenschutz und Mitbestimmung anhält. Basierend auf der Bedeutung, die den ethnischen Gruppen beigemessen wird, gestaltet sich auch die Kompetenzausstattung und Zusammensetzung der zweiten Kammer des äthiopischen Parlaments, das eine weitere Besonderheit darstellt. Das House of the Federation, die zweite Parlamentskammer, unterscheidet sich von den meisten zweiten Kammern in einer Reihe von gewichtigen Punkten. Das House of Federation setzt sich nicht aus Vertretern der einzelnen Mitglieder der Landesregierungen bzw. von Vertretern dieser Länder zusammen, sondern aus Vertretern der „Nations, Nationalities and Peoples“. Anders als das Senatsprinzip es vorsieht, spielt dabei die Zahl der jeder Ethnie zugehörigen Menschen eine Rolle: jede Ethnie verfügt über mindestens einen Sitz sowie einen weiteren Sitz für jede Million Einwohner. Diese werden entweder durch die Regionalparlamente oder direkt durch die entsprechenden Ethnien gewählt.
62 Zur Diskussion siehe u. a.: Assefa Fiseha, Federalism and the Accommodation of Diversity in Ethiopia, Wolf Legal Publishers, Nijmegen 2006; Merera Gudina, Ethiopia: Competing Ethnic Nationalisms and the Quest for Democracy, 1960–2000, Shaker Publishing, Addis Ababa 2003; B. Praeg, Ethiopia and political renaissance in Africa, Nova Science Publishers, New York 2006; Solomon Negussie, Fiscal Federalism in the Ethiopian Ethnic-based Federal System, Wolf Legal Publishers, Nijmegen 2006; P. Zimmermann-Steinhart, „Constitution: The German and the Ethiopian Constitution – a comparative approach“, in: Yefederation Demets 3(1), 2007, S. 43–50; dies., „Föderalismus in Äthiopien“, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007, S. 497–513; dies., „Main Features and Principles of Federalism in Ethiopia“, in: Yefederation Demets, 4(2), 2009, S. 50–59; dies., „Multi-ethnicity and Federalism: Constitutional Provisions in the Federal Democratic Republic of Ethiopia“, in: R. Saxena (Hrsg.), Varieties of Federal Governance, Foundation books – Cambridge University Press, Delhi 2010, S. 440– 465.
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Nicht nur hinsichtlich der Repräsentation, auch hinsichtlich ihrer Kompetenzen unterscheidet sich die zweite Kammer Äthiopiens maßgeblich von anderen zweiten Kammern. So verfügt sie über so gut wie keine gesetzgeberischen Funktionen, sondern handelt vielmehr als Verfassungsgericht und ist somit letzte Instanz zum Schlichten von Konfl ikten entweder zwischen Landesregierungen, Ethnien oder zwischen Landes- und Bundesregierung. Des weiteren legt die Kammer die Formel für den vertikalen Finanzausgleich fest und überwacht die Einhaltung vergleichbarer Lebensverhältnisse. Zur Erfüllung der Aufgabe der Verfassungsinterpretation enthält die Verfassung eine besondere Bestimmung. Ein Organ wurde geschaffen, das die Bezeichnung Council of Constitutional Inquiry trägt. Diese Verfassungseinrichtung besteht aus 11 Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden, der gleichzeitig der Präsident des Obersten Bundesgerichts ist, und dem Vizepräsidenten des Obersten Bundesgerichts, sechs Juristen, die vom Präsidenten auf Empfehlung der ersten Kammer ernannt werden sowie drei Mitgliedern des House of Federation (Art. 82). Das Council dient dem House of Federation als beratendes Gremium und untersucht diesbezüglich Verfassungsfragen. Weist das Council of Constitutional Inquiry einen Fall zurück, haben die Antragsteller die Möglichkeit, sich direkt an das House of Federation zu wenden, das dann entscheidet, ob eine Beschäftigung mit dem entsprechenden Fall zu erfolgen hat. Auf der Suche nach den Gründen für diese Beauftragung der zweiten Kammer mit der Verfassungsgerichtsbarkeit, stößt man auf eine Reihe von Erklärungen. Erstens war die Gerichtsbarkeit durch ihre Rolle vor und während des Derg stark diskreditiert und hatte keinerlei Erfahrung mit Föderalismus. Der zweite Grund bildet die Stellung dieses Gerichts als Vermittler der Ethnien und verschiedenen Peoples and Nationalities. Da die „Nations, Nationalities and Peoples“ die Verfassung begründen und deren Souverän sind, sind sie auch oberste Instanz der Interpretation, vergleichbar der Referenden über Fragen der Föderalverfassung in der Schweiz. In diesem Zusammenhang ist auch das Mandat der Konfl iktschlichtung zu verstehen. Die Verfassung sieht vor, dass Missverständnisse und Streitfragen, die sich zwischen den regionalen Staaten entwickeln sollten, an das House of Federation überwiesen werden können (Art. 62 (6) ETHConst.). Die allgemeine Regelung der Verfassung wird durch die Artikel 23–33 der Proklamation 251/2001 ergänzt und konkretisiert, welche die im Bereich der Konfl iktfälle bestehende Kompetenz erweitert von zwischenstaatlichen Streitfragen bis hin zu Staatsregierungs-Auseinandersetzungen (Art. 23 P251/2001), z. B. Grenzfragen und undefi nierte Problemfälle. In diesem Zusammenhang kann das House of Federation in differenzierter und umfangreicher Weise Maßnahmen ergreifen (z. B. Anordnung gegenüber der Zentralregierung militärische Streitkräfte in Gegenden zu senden, wo Menschenrechte verletzt werden). Auch im Bereich des Finanzausgleichs geht die äthiopische Verfassung einen anderen Weg als vergleichbare andere Staaten. Während in Australien der Ausgleich vertikaler oder horizontaler Finanzprobleme durch die Zentralregierung entschieden wird, Deutschland auf Ausgleichsverhandlungen zwischen der Zentralregierung und den Länderregierungen setzt, kommt in der äthiopischen Verfassung erneut den
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„Nations, Nationalities and Peoples“ eine besondere Rolle zu indem das House of Federation die Formel entscheidet, auf deren Basis Mittel an die Regionalregierungen transferiert werden. Während Einrichtungen staatlicher und konföderativer Art in der Regel auf die Wahrnehmung rechtlicher Interessen beschränkt sind, ist festzustellen, dass das politische Mandat der zweiten Kammer in Äthiopien wesentlich weiter ist. Sie ist ebenfalls verpfl ichtet, die Prinzipien der Verfassung zu stärken und das Bewusstsein der Bürger zu festigen. Dadurch erhält das House of Federation zusätzlich eine politische Bildungsaufgabe. Zusammenfassend kann man feststellen, dass das House of Federation eine umfangreiche Aufgabe der Verfassungsinterpretation hat, aber an der Gesetzgebung selbst nur geringfügig mitwirkt: Die Festlegung des vertikalen Finanzausgleichs hat quasi Gesetzescharakter. Artikel 105 verlangt die Teilnahme hinsichtlich verfassungsrechtlicher Ergänzungen, während Art. 99 dem House of Federation die Befugnis gibt, in einem gemeinsamen Plenum mit der ersten Kammer neue Steuern einzuführen. Schlußendlich schlägt das House of Federation der ersten Kammer Initiativen im zivilrechtlichen Sektor vor (Art. 62 (8)).
3. Geopolitischer Aufbau Die Föderale Demokratische Republik Äthiopien besteht aus neun Regionalstaaten sowie wie zwei Städten unter Selbstverwaltung (Addis Abeba und Dire Dawa). Die Situation Addis Abebas ist insofern besonderer Natur, dass die Bewohner zwar auch über ein Recht auf Selbstverwaltung verfügen, die Regierung Addis Abebas jedoch der Bundesregierung gegenüber verantwortlich ist und den besonderen Interessen Oromias, in dessen Territorium Addis Abeba liegt, Rechnung tragen muss (Art. 49). Die Regionalstaaten (Länder) wurden auf der Basis ethnischer Siedlungsmuster gebildet, sind daher sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer Größe und Bevölkerungsdichte. Während die Verfassung symmetrischer Natur ist, indem sie allen Ländern die gleichen Befugnisse erteilt, besteht eine de-facto Asymmetrie hinsichtlich der Kapazitäten und Entwicklungsgrad der Regionalstaaten. Vier Regionalstaaten, Gambela, Benishangul-Gumuz, Somale und Afar, sind auf Grund besonderer Benachteiligungen in der Vergangenheit weniger weit entwickelt als die anderen Staaten und haben einen Sonderstatus insofern, dass ihnen besondere Hilfe zuteil wird. Ebenfalls asymmetrisch ist die ethnische Zusammensetzung der Länder. Während Tigray, Somale Regional State, Oromia, Harar, Afar und Amhara durch die Existenz einer Mehrheitsethnie geprägt sind, ist dies nicht der Fall in den anderen Ländern. Vor allem die Südregion zeichnet sich durch starke ethnische Vielfalt aus. Hier leben allein 54 der 75 ethnischen Gruppen.
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Heinrich Scholler
X. Schlussbetrachtung Die äthiopische Verfassung vom Dezember 1994, die am 22. August 1995 in Kraft trat, zeigt eine Reihe von neuen rechtlichen Instrumenten zum Schutze der Menschenrechte und der Minderheitenrechte. Während beim Menschenrechtsschutz die Verfassung im Wesentlichen auf der Konvention zum Schutze der bürgerlichen und politischen Rechte beruht und diese auch zum Auslegungsmaßstab macht, gilt Art. 39 als kollektives Recht und stellt ein Recht und ein Verfahren zur Dismembration dar, das von vielen Seiten als problematisch angesehen wird. Gleichzeitig bekennt sich die Verfassung aber zur nationalen Einheit. Eine weitere Spannung, die von der Verfassung nicht aufgelöst ist, zeigt die gleichwertige Erwähnung von „Nations, Nationalities and Peoples“.63 Diese für den westlichen Sprachgebrauch ungewöhnliche Formel soll zwei Dinge zum Ausdruck bringen: Einmal die Wirklichkeit Äthiopiens insofern wiedergeben, als sich auf dem Territorium rund 80 Sprachen und Sprachgruppen oder auch Ethnien auf halten, und zum anderen den Gedanken, dass zwischen ihnen Chancengleichheit bestehen muss, unabhängig davon, ob man sie mit dem modernen Begriff „Nation“ oder „Nationalität“ mehr rechtlich oder mit dem Begriff „Nationalities“ mehr politisch oder politologisch beschreibt. Diese neue Differenzierung und Chancengleichheitsverwirklichung soll zum Ausdruck bringen, dass unabhängig von Sprache, Religion und Kultur und unabhängig von der numerischen Größe der einzelnen Gruppen Gleichheit zwischen ihnen bestehen soll. Dies kommt auch in neueren Veröffentlichungen deutlich zum Ausdruck.64 Hierzu möchte ich weiterhin zwei äthiopische Publikationen zählen, die sich unmittelbar oder mittelbar mit der Frage der Interpretation und Anwendung der neuen äthiopischen Verfassung beschäftigen.65 Die Verfassung hat ihre diplomatische Zustimmung von den Botschaftern der zur EU zählenden Staaten erfahren. Die Wahlen im Mai 1995 wurden allerdings kritisiert, weil sich wesentliche Teile der Oppositionsparteien und damit der Parteien der ethnischen Minderheiten, von den Wahlen ferngehalten hatten. Somit hat die siegreiche Revolutionspartei von 1991, die EPRDE, eine überwältigende Mehrheit der Sitze erlangt. Diese Politik wird also von der Teilnation oder der Nation der Tigray kontrolliert und stand teilweise in einem Spannungsverhältnis zu politischen Parteien, die sich auf ethnischer Grundlage gebildet haben. Die beiden auf der völkischen Oromo-Base begründeten politischen Parteien OPDO und OLF haben sich 63 Die ältere Formel, dieses Problems einen erweiterten Föderalismus zu defi nieren, basierte auf einer abendländischen Interpretation des erweiterten oder größeren Systems als „Greater Ethiopia“ oder auch „Great Britannia“, um ein europäisches Modell hier zu zitieren. Donald N. Levine, Greater Ethiopia – The Evolution of a Multiethnic Society, University of Chicago Press, Chicago 1974. 64 So z. B. in: Alke Dohrmann / Dirk Bustorf / Nicole Poissonnier (Hrsg.), Schweifgebiete – Festschrift für Ulrich Braukämper, LIT-Verlag Berlin 2010; Christophe Van der Beken, Unity in Diversity – Federalism as a Mechanism to Accommodate Ethnic Diversity: The Case of Ethiopia, LIT-Verlag, Berlin 2012; Solomon Negussie Abesha, Fiscal Federalism in the Ethiopian Ethnic-Based Federal System, Dissertation, Utrecht 2006. 65 Yonas Birmeta (Hrsg.), Some Observations on Sub-national Constitutions in Ethiopia, Ethiopian Constitutional Law Series School of Law, Vol. IV, 2011; Murado Abdo (Hrsg.), Land Law and policy in Ethiopia since 1991: continuities and changes, Ethiopian Business Law Series Faculty of Law, Vol. III, 2009.
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nach anfänglicher Ablehnung dann doch im Verlauf der Zeit auf eine föderative Konfl iktlösung festgelegt. Während somit die Verfassung wesentliche und neue Elemente zur Integration und Zusammenarbeit von Minderheiten aufweist, hat die Parteistruktur ein solches Maß an Integration bisher nicht entwickeln können. Zu erwähnen ist weiter die Regionalisierung von Rundfunk und Fernsehen. Hier werden in den lokalen Sprachen nunmehr sehr viele Sendungen ausgestrahlt. Das gleiche gilt auch mit Einschränkungen für die Presse, die unter der neuen Pressefreiheit zu einer Fülle neuer Publikationen geführt hat, die aber häufig sehr kurzlebig waren. Ein wichtiges Anliegen des neuen äthiopischen Föderalismus ist natürlich die Öffnung der als „Nations, Nationalities and Peoples“ garantierten Vielfalt für den Schutz durch „sub-national constitutions“. In der Literatur und in der politischen Diskussion wird diese Frage intensiver zugunsten der gemischten politischen Verbände erörtert, während politisch und national relativ einheitliche Gebilde, wie z. B. Tigray, einer solchen Hilfestellung nicht bedürfen oder wenigstens der Meinung sind, dass sie einen solchen Schutz nicht brauchen. Während der Fertigstellung der äthiopischen nationalen Verfassung war ich gebeten worden, auch für den Gliedstaat Tigray eine „sub-national constitution“ zu erarbeiten. Dieser Aufgabe versuchte ich nachzukommen, konnte aber nach der Beendigung meines Expertenauftrages den Kontakt zwischen den deutschen und europäischen Förderern und den äthiopischen Empfängern nicht mehr aufrecht erhalten. Mitte des Jahres 2012 erreichten die Welt zwei Nachrichten, die möglicherweise die äthiopische Sicherheit infrage stellen könnten. Die erste betraf den plötzlichen Tod des führenden Politikers Meles Zenawi, der in Brüssel († 20. August 2012) verstarb, und die zweite den Tod des obersten äthiopischen Patriarchen Abune Paulos († 16. 08. 2012).
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Textanhang
Textanhang Die Verfassung Äthiopiens I. Zur Verfassungsentwicklung des Landes 1. Einige wesentliche Daten zu Äthiopien Äthiopien, früher Abessinien, liegt in Nordostafrika, umfaßt 1.104.500 km 2 und ist mit Bergregionen über 4000 m über NN das höchstgelegene Land des Kontinents. Die großen Höhenunterschiede bedingen verschiedenartige Zonen mit sehr unterschiedlichen Temperaturen, Niederschlägen, Vegetationen und Tierarten. Äthiopien hat etwas über 60 Millionen Einwohner (1998), die jährliche Bevölkerungszunahme beträgt 3%. Fast die Hälfte der Einwohner sind jünger als 15 Jahre. Äthiopien zeichnet sich durch eine große ethnische Vielfalt der Bevölkerung aus. Die wichtigsten ethnischen Gruppen sind die Oromo (40%), die Amharen (30%), die Tigriner (5%) und die Somali (3%). Nahezu 60% der Bewohner sind koptische Christen, 30% bekennen sich zum Islam. Amtssprache ist Amharisch, Verkehrssprache Englisch. Äthiopien gehört zu den ärmsten Ländern der Welt mit ständig wiederkehrenden Massenhungersnöten. Der größte Teil der Bevölkerung (ca. 75%) ist in der Landwirtschaft (Anbau von Getreide, Hülsenfrüchten, Yams und Kartoffeln) beschäftigt. Wichtiges Exportgut ist Kaffee. Die Industrie (Textilien, Lebensmittel, Lederwaren) ist außerordentlich schwach entwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt belief sich 1998 auf 6 Milliarden US-Dollar. Es wird durch das Dienstleistungsgewerbe (48%), die Landwirtschaft (39%) und die Industrie (13%) erbracht. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung liegt bei 100 US-Dollar. Der Bundesstaat ist in neun Teilstaaten untergliedert. Seine Hauptstadt ist Addis Abeba. Die offizielle Staatsbezeichnung lautet Demokratische Bundesrepublik Äthiopien (Federal Democratic Republic of Ethiopia).
2. Die historischen Wurzeln des Staates Das äthiopische Staatswesen kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Die bis 1974 herrschende Dynastie leitete sich direkt aus der Herrschaft der biblischen Gestalten des Königs Salomo und der Königin von Saba aus dem 10. Jahrhundert v. u. Z. ab. Für diese Zeit sind Geschichte und Mythologie eng miteinander verwoben. Mit der Einwanderung arabischer Stämme im 1. Jahrhundert v. u. Z. ist die Gründung des Reiches Aksum etwa im Jahre 50 v. u. Z. verbunden. Aksum hatte im 4/5. Jahrhundert u. Z. seine Blütezeit und stieg zur herrschenden Macht im südarabischen Raum auf. Das Christentum wurde zur Staatsreligion als sich König Ezana um 350 taufen ließ.
Die Verfassung Äthiopiens
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Im 10. Jahrhundert zerfiel das Reich Aksum und wurde durch die Dynastie der Sagme (972–1270) abgelöst. Danach eroberte die salomonische Dynastie wieder die Macht. Das Reich gelangte in den folgenden zwei Jahrhunderten zu einer neuen Blütezeit. Die vorübergehende Herrschaft arabischer Stämme konnte unter König Gelawdewos (1540–1559) beendet werden. Das Reich entstand neu in Strukturen, die europäischen Königreichen dieser Zeit ähnlich waren (König, Adel, landlose Bauern). Wiederholten arabischen Versuchen der Einflußnahme auf die Herrschaftsverhältnisse in dieser Region konnte durch die engen militärischen Verbindungen mit Portugal (15.–17. Jahrhundert) begegnet werden. Nicht zuletzt aufgrund religiöser Unterschiede (koptisch-orthodoxe gegenüber römisch-katholischer Konfession) kamen diese Beziehungen zwischen den beiden Ländern jedoch zum Erliegen. Im 18. Jahrhundert zerfiel das zentralisierte Reich in unabhängige Provinzen. 1853 konnte Ras Kasa, der 1855 als Tewodros II. den Thron bestieg und bis 1868 herrschte, die Reichseinheit wieder herstellen, aber sein Versuch, Staat und Kirche nach europäischem Beispiel zu formieren, scheiterte. Ende des 19. Jahrhunderts geriet Äthiopien zunehmend in internationale Konfl ikte, wurde in die Auseinandersetzungen im Sudan involviert und ab 1895 durch Italien bedroht, das am Horn von Afrika ein Kolonialreich zu errichten anstrebte. Unter Kaiser Menelik II. (1889–1913) wurde das italienische Expeditionskorps in der Schlacht bei Adua 1896 vernichtend geschlagen. Äthiopien konnte seine Unabhängigkeit bewahren, aber seine Küstengebiete, darunter Eritrea, fielen mit britischer und französischer Unterstützung unter italienische Kolonialherrschaft. Mit Hilfe Englands übernahm 1916 Ras Tafari Makonnen die Regentschaft des Landes. Er ließ sich 1928 zum König krönen und 1930 zum Kaiser Haile Selassi I. proklamieren. Das Land wurde Mitglied des Völkerbundes. Haile Selassi versuchte, Äthiopien zu modernisieren. Das spiegelte sich u. a. 1931 in der Annahme einer Verfassung wider, die allerdings die absolutistische Stellung des Monarchen kaum beschränkte. 1936 begann die Expansion des faschistischen Italien, in deren Folge Äthiopien kurzzeitig unter die Kontrolle Italiens geriet. Äthiopien, Eritrea und Somalia wurden zur Kolonie „Italienisch-Ostafrika“ zusammengefaßt. 1941 befreiten britische Truppen Äthiopien. Haile Selassi kehrte aus dem Exil in London zurück. Unter seiner erneuten Herrschaft wurden die Modernisierungstendenzen durch weitere Zentralisierung der staatlichen Bürokratie, Reformen der Rechtsordnung und Erweiterung des Bildungswesens fortgesetzt. Diese Politik kam auch in der Überarbeitung der Verfassung zum Ausdruck, deren veränderte Fassung am 4. 11. 1955 in Kraft trat.1 Sie führte allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament ein, änderte im übrigen aber weiterhin wenig am Machtmechanismus der Monarchie und an der privilegierten Stellung des Feudaladels. Trotz Anerkennung der Religionsfreiheit blieb das Christentum äthiopisch-orthodoxer Version faktisch Staatsreligion und die Kirche eng mit dem Staat verbunden. Parteien waren nach wie vor nicht zugelassen. 1 Text in: KGA, Bd. 3, 1966, S. 681 ff. (russ.); s. a.: Keussler, K.-M., Die äthiopische Verfassung von 1955. in: VRÜ, 3/1971, Beilage.
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Textanhang
Eritrea, das gemäß UNO-Beschluß von 1952 mit Autonomiestatus wieder in den Staatsverband Äthiopiens eingegliedert worden war, wurde im Laufe des nächsten Jahrzehnts fortschreitend seiner Sonderrechte beraubt und schließlich 1962 als normale Provinz in das äthiopische Staatsterritorium integriert. Dagegen entwickelte sich der militärische Widerstand der Eritreer, wie es auch seitens anderer Ethnien, z. B. der Oromo und der Somali, zu bewaffneten Erhebungen gegen die Zentralregierung kam. Die verkrusteten, wirksame Reformen verhindernden feudal-hierarchischen Strukturen, zunehmende Unterdrückungspolitik, aber auch die wachsende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten führten am 12. 9. 1974 zum Sturz Haile Selassis durch das Militär. Die Macht übernahm ein Provisorischer Militärischer Verwaltungsrat (Provisional Military Administrative Council – PMAC). Mit Proklamation Nr. 27 vom 22. 3. 1975 verkündete der PMAC die Republik.
3. Zur Verfassungsgeschichte des republikanischen Äthiopien Nach heftigen Auseinandersetzungen im heterogen zusammengesetzten Militärrat ging die Macht auf eine radikale, linksnationalistische Gruppierung unter Führung von Mengistu Haile Mariam über. Im April 1976 beschloß der PMAC ein Programm der nationaldemokratischen Revolution Äthiopiens, das Sozialismus und Volksdemokratie als Ziele verkündete. Dementsprechend lehnte sich das Mengistu-Regime nach außen an die Sowjetunion und andere sich als sozialistisch betrachtende Staaten an. Im Zuge der Verwirklichung dieses Programms kam es zur Entmachtung der feudalen Großgrundbesitzer, zur Nationalisierung des Bodens und einer Bodenreform zugunsten der Bauern sowie zur Verstaatlichung von Banken und Großbetrieben. Bauern und Stadtbewohner wurden in traditionellen, basisdemokratischen Formen (Kebele) eingebunden. Nach mehr als einem Jahrzehnt der Militärherrschaft und der durch das Regime von oben bewerkstelligten Gründung einer Arbeiterpartei Äthiopiens (Worker’s Party of Ethiopia – WPE) 1984 verkündete im September 1987 das neu gewählte äthiopische Parlament die Demokratische Volksrepublik Äthiopien und setzte eine Verfassung in Kraft, die bereits im Februar durch Volksentscheid mit 80% Ja-Stimmen angenommen worden war2. Die Verfassung sanktionierte das Einparteisystem und die führende Rolle der WPE und versah die Republik mit einem rechtlichen Instrumentarium, das in den Grundsätzen Verfassungsgedanken der als sozialistisch geltenden Staaten widerspiegelte. Durch Dürren und Hungersnöte verschärfte wirtschaftliche Schwierigkeiten, ständige politische Unruhen und bewaffnete Auseinandersetzungen und aufwendige Versuche, diese zu unterdrücken, destabilisierten das Land. Die Aufstände weiteten sich aus, die Befreiungsbewegungen von Eritrea und Tigre setzten die äthiopische Armee unter zunehmenden Druck. Das alles führte, zusammen mit den weltpolitischen Veränderungen, schließlich zum Zusammenbruch des Mengistu-Regimes im 2 Text in: CA, Vol. II, 1989, pp. 39 suiv. (frz.), pp. 61 suiv. (engl.); s. a.: Scholler, H., Die Verfassungsentwicklung Äthiopiens (1974–1987), in: JöR, Bd. 36, Textanhang.
Die Verfassung Äthiopiens
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Mai 1991. Die Macht übernahm die Revolutionäre Demokratische Front des äthiopischen Volkes (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front – EPRDF), in der die Volksfront zur Befreiung Tigres (Tigray People’s Liberation Front – TPLF) dominierte. Es wurde eine Provisorische Regierung (Transitional Government of Ethiopia) gebildet. Die Partei Mengistus löste sich auf und war an den folgenden Entwicklungen nicht mehr beteiligt. Eine der ersten Maßnahmen der EPRDF in der nunmehr eingeleiteten Übergangsperiode war die Einberufung einer Nationalkonferenz im Juli 1991, an der 24 politische Gruppierungen teilnahmen, die zum größeren Teil einzelne Ethnien repräsentierten. Die Konferenz bildete aus ihren Reihen einen Rat der Volksvertreter (Council of Representatives – CoR). Der Rat ernannte den Führer der EPRDF und der TPLF, Meles Zenawi, zum Übergangspräsidenten und zum Vorsitzenden der Verfassungskommission. Die Nationalkonferenz bestätigte eine bereits auf einer Friedenskonferenz in London beschlossene Charta der Übergangsperiode Äthiopiens (Transitional Period Charter of Ethiopia), die Grundprinzipien der neuen Staatlichkeit festgelegt hatte, darunter ein Mehrparteiensystem und nationales Selbstbestimmungsrecht, und die nun als provisorische Verfassung diente. Außerdem beschloß die Konferenz, das Ergebnis eines zukünftigen Volksentscheids über die Frage der Unabhängigkeit Eritreas anzuerkennen. In diesem Volksentscheid, der dann im April 1993 stattfand, entschied sich die große Mehrheit der eritreischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit. Damit war klar, daß sich die zukünftige staatliche Organisation und Verfassung nicht mehr auf Eritrea erstrecken würden. Im Juni und August 1994 fanden Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung Äthiopiens statt. Von deren 547 Sitzen gewannen EPRDF-Vertreter allein 484, da die wichtigsten Oppositionsparteien diese Wahlen ebenso boykottierten wie schon die vorangegangenen Wahlen zu den Regionalräten 1992. Am 8. 12. 1994 nahm die Versammlung die neue Verfassung3 an, die am 12. 12. 1994 dem Präsidenten übergeben wurde.
4. Die gegenwärtige Verfassung Äthiopiens Die im Dezember 1994 verabschiedete Verfassung greift in ihren Prinzipien auf die bereits erwähnte Transitional Period Charter zurück. Sie sieht föderative Strukturen vor, proklamiert das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten Äthiopiens, fi xiert die Menschenrechte und manifestiert insgesamt die Hinwendung zum Rechtsstaat. Allerdings werden traditionelle Elemente, einschließlich des islamischen Rechts, bis auf Regelungen in der Rechtskultur (Anerkennung eines juristischen Pluralismus im Personen-, Familien- und Erbrecht) und die Anerkennung eines dauerhaften Bodennutzungsrechts für Hirten, außer Acht gelassen. Festlegungen zum Eigentumsrecht (Art. 40), zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (Art. 41), zu Arbeitnehmerrechten (Art. 42), zum Recht auf Entwicklung (Art. 43), 3 Text in: Federal Negarit Gazeta, Addis Ababa, No. 1, 21. 8. 1995; auch: Blaustein/Flanz, Ethiopia, Issued January 1997 (amharisch und englisch), p. 1 ff. (Übersetzung unter II.).
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Textanhang
zu den Umweltrechten (Art. 44) oder die Bestimmungen des Abschnitts über die Direktiven der nationalen Politik (Kapitel X) bringen spezifische Interessen eines Entwicklungslandes zum Ausdruck und überschreiten damit Grenzen, die die Verfassungen der industrialisierten Länder setzen. Die Verfassung umfaßt elf Kapitel mit 106 Artikeln. Das erste Kapitel fi xiert allgemeine Bestimmungen, z. B. über Sprachen oder Staatsbürgerschaft. Wie schon ihre Vorgängerinnen hebt auch die neue Verfassung die besondere Position des Amharischen im Gesamtstaat hervor, relativiert aber diese von jeher umstrittene Position, indem sie Amharisch nicht als Staats- oder offizielle Sprache, sondern als Arbeitssprache bezeichnet und es den Teilstaaten freistellt, ihre eigenen Arbeitssprachen festzulegen. Das zweite Kapitel schickt den Einzelbestimmungen der Verfassung zusammenfassend einige Prinzipien der Staatsgestaltung voraus: Volkssouveränität, Suprematie der Verfassung, Unverletzlichkeit der Menschenrechte, Trennung von Staat und Religion, Verantwortlichkeit von Regierung und Abgeordneten. Da die neue Föderation auf das nationale Selbstbestimmungsrecht gegründet wird, nennt die Verfassung als Subjekt der proklamierten Volkssouveränität nicht das Staatsvolk Gesamtäthiopiens, sondern die Nationen, Nationalitäten und Völker Äthiopiens. Das dritte Kapitel, über Grundrechte und -freiheiten, unterscheidet zwischen Menschenrechten und demokratischen Rechten. Als erstere werden vor allem die persönlichen Schutzrechte geregelt, darunter besonders detailliert die Rechte von Verhafteten und Angeklagten. Bei den demokratischen Rechten erscheinen zunächst die klassischen demokratischen Freiheiten eines pluralistischen politischen Systems. Eine Besonderheit stellt auch hier Art. 39 dar, der sich uneingeschränkt zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Nationalitäten und Völker Äthiopiens bekennt, die Möglichkeit der Sezession ausdrücklich einschließt und dafür sogar einige Verfahrensgrundsätze enthält. Daß dies nicht als Aufforderung zur Sezession gemeint ist, ergibt sich schon aus der Präambel der Verfassung, die in mehreren Absätzen die Einheit der Völker Äthiopiens beschwört. Schließlich enthält dieser Teil des Kapitels ökonomische, soziale und kulturelle Rechte, einschließlich der Rechte der Familie, der Frauen und der Kinder, und formuliert zugleich korrespondierende Verpfl ichtungen des Staates. Die ausführliche Regelung des Rechts auf Eigentum bekräftigt das Eigentum des Staates an Boden und Bodenschätzen, schließt damit Grund und Boden von Kauf und Verkauf aus, bei gleichzeitiger Garantie der Nutzung durch Landwirte, Viehzüchter und private Investoren. Bedeutungsvoll für das ganze Kapitel ist die ausdrückliche Einbeziehung internationaler Rechtsprinzipien in den Bestand der nationalen Rechtsordnung. Kapitel IV regelt die Grundlagen der föderativen Struktur. Obwohl ungewöhnlich für Afrika, entspricht diese Entscheidung für eine Föderation in vieler Hinsicht der historischen Erfahrung eines Vielvölkerstaates, in dem das Verhältnis von Zentralgewalt und regionalen Machtgruppierungen schon immer brisant war. Dabei öffnet die Verfassung den Weg, über den von ihr zunächst festgelegten Bestand von neun Teilstaaten hinauszugehen, indem sie im Prinzip jeder der über 80 Völkerschaften das Recht verleiht, innerhalb des äthiopischen Staatsverbandes einen eigenen Staat zu gründen.
Die Verfassung Äthiopiens
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Die nächsten Kapitel widmen sich der staatlichen Struktur. Kapitel V bestimmt zunächst, daß es auf beiden Ebenen der Föderation gesetzgebende, exekutive und richterliche Gewalt geben wird, die jeweiligen Volksvertretungen die höchsten Organe staatlicher Autorität sind und die Teilstaaten ihre eigenen Verfassungen haben sollen. Im weiteren werden in längeren Listen die Zuständigkeiten der Föderation sowie die konkurrierenden Zuständigkeiten von Föderation und Teilstaaten geregelt, mit der Maßgabe, daß alles andere in die Zuständigkeit der Teilstaaten fällt, womit ein relativ hohes Maß an Dezentralisierung innerhalb der Föderation möglich ist. Kapitel VI regelt die beiden zentralen Räte: den Rat der Volksvertreter und den Föderationsrat. Die Mitglieder des Rates der Volksvertreter werden in allgemeinen, geheimen und direkten Wahlen auf fünf Jahre gewählt. Der Rat ist gesetzgebendes Organ im Rahmen der Föderationszuständigkeiten, die die Verfassung aufl istet. Beim Rat der Volksvertreter liegen Steuerhoheit und Budgetrecht auf Föderationsebene. Bestimmte Ernennungen zu höchsten Staatsämtern bedürfen seiner Zustimmung. Er entscheidet abschließend über die Annahme von Gesetzen, die der Staatspräsident verkündet, dagegen aber kein Vetorecht hat. Der Premierminister kann den Rat der Volksvertreter zwar auflösen, aber nur mit dessen Zustimmung, insbesondere um den Weg für vorgezogene Neuwahlen freizumachen, wenn die Regierung ihre Mehrheit im Parlament verloren hat. Der Föderationsrat setzt sich aus Vertretern der ethnischen Gemeinschaften zusammen, die durch die Vertretungskörperschaften der Teilstaaten bestimmt werden. Abweichend von der üblichen Konstruktion in Föderationen, stellt er nicht eigentlich die zweite Kammer des Parlaments dar, denn er ist nicht am normalen Gesetzgebungsprozeß beteiligt, sondern hat eine Reihe besonderer Aufgaben so z. B. auf dem Gebiet der Verfassungsordnung selbst: Verfassungsinterpretation, Organisierung des Rates für Verfassungsfragen und Bestätigung seiner Entscheidungen, Entscheidung über Ansprüche in bezug auf das Selbstbestimmungsrecht und von Streitigkeiten zwischen den Teilstaaten. Außerdem liegt die in einer Föderation notwendige, aber stets heftig umstrittene Verteilung der staatlichen Einnahmen auf Bund und Länder bei ihm, und er kann gegen jeden Teilstaat, der die Verfassungsordnung verletzt, eine Bundesintervention beschließen. Kapitel VII regelt die Präsidentschaft der Bundesrepublik. Der Präsident wird in einer gemeinsamen Sitzung beider Räte auf sechs Jahre gewählt und darf nur zwei Amtsperioden lang tätig werden. Er ist repräsentatives Staatsoberhaupt mit den entsprechenden Befugnissen. Nach Kapitel VIII liegt die Bundesexekutive beim Premierminister und dem Ministerrat. Der Premierminister wird vom Rat der Volksvertreter gewählt. Er ist der Vorsitzende des Ministerrates und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Den Ministerrat soll eine Partei oder Parteienkoalition bilden, die über eine Mehrheit im Rat der Volksvertreter verfügt; er ist dem Premierminister und dem Rat gegenüber verantwortlich. Kapitel IX hat die Struktur und die Vollmachten der Gerichte sowie die Stellung der Richter zum Gegenstand. Es verkündet die Unabhängigkeit der Richter und sichert sie durch deren prinzipielle Unabsetzbarkeit. Sie werden auf beiden Ebenen der Föderation durch die jeweiligen Volksvertretungen ernannt. Die Verfassung verbietet die Bildung von Sondergerichten, anerkennt aber zugleich die Tätigkeit von religiösen und Gewohnheitsgerichten.
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Faktisch als eine Art von Verfassungsgericht fungiert ein Rat für Verfassungsfragen unter Vorsitz des Obersten Richters der Föderation. Auf Antrag eines Gerichts oder einer Prozeßpartei entscheidet er über die Verfassungskonformität von Gesetzen; seine Entscheidungen bedürfen jedoch der Bestätigung durch den Föderationsrat. Ergänzend zum System der ordentlichen Gerichtsbarkeit sieht die Verfassung die Errichtung einer Menschenrechtskommission und eines Ombudsmanns vor. Von besonderem Interesse dürfte Kapitel X sein, das verbindliche Prinzipien und Ziele der Staatspolitik auf den Gebieten der Außenpolitik, der Verteidigung, der Demokratie, der Wirtschafts-und Sozialpolitik, der Kultur und der Umwelt enthält. Hier werden Staatsziele in den Rang von Verfassungsprinzipien erhoben, ohne damit die Frage der Einklagbarkeit zu beantworten. Das letzte Kapitel enthält Bestimmungen über die Proklamation des Notstandes, die auf beiden Ebenen der Föderation grundsätzlich bei der Exekutive liegt, aber von den jeweiligen Volksvertretungen bestätigt werden muß, ferner detaillierte Bestimmungen über die Steuerhoheit von Bund und Ländern sowie Bestimmungen zu einzelnen weiteren staatlichen Institutionen. Abschließend regelt Art. 105 das Verfahren für Verfassungsänderungen. Ist dafür schon normalerweise eine Zweidrittelmehrheit in einer gemeinsamen Sitzung beider zentralen Räte und die Zustimmung von zwei Dritteln der Staaten notwendig, so ist die Verfassung im Falle des Kapitels III (Grundrechte und -freiheiten) und des Art. 94 (Finanzausgaben des Staates) noch strikter: Hier müssen, nachdem beide Räte in getrennten Abstimmungen mit Zweidrittelmehrheit angenommen haben, die Parlamente aller Staaten zustimmen. Insgesamt bleibt für die Verfassung Äthiopiens von 1994 zu konstatieren, daß sie den Versuch widerspiegelt, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien mit Voraussetzungen und Erfordernissen eines Entwicklungslandes zusammenzuführen. Genau in dieser Widersprüchlichkelt zeigt sich denn auch die Verfassungswirklichkeit. Bereits in der Zeit unmittelbar vor der Verfassungsgebung hatten sich die Konfl ikte zwischen der regierenden EPRDF und der Opposition verschärft und angesichts des ungenügenden Mechanismus der friedlichen Streitbeilegung und des Vorherrschaftsstrebens der EPRDF teilweise zu bewaffneten Auseinandersetzungen geführt. Bei den ersten Parlamentswahlen vom Mai 19954, die wiederum von einem großen Teil der Opposition boykottiert wurden, errang die EPRDF über 480 der vorgesehenen 547 Mandate, sah sich allerdings massiven Vorwürfen der Wahlbehinderung und des Betrugs ausgesetzt. Nach diesen Wahlen wurde der bisherige Präsident, Meles Zenawi, entsprechend der von der Verfassung vorgesehenen parlamentarischen Regierungsform, zum Ministerpräsidenten gewählt. Staatspräsident wurde Negasso Gidada, ein Vertreter der Oromo-Bevölkerung in der EPDRF-Führung. Obwohl bis Ende der 1990er Jahre rund 60 politische Parteien zugelassen wurden, wird nach Aussagen von Oppositionsparteien bis in die Gegenwart hinein deren Tätigkeit durch Behörden und EPRDF eingeschränkt. In diesem Zusammenhang sind auch immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen zu konstatieren. 4 Vgl. dazu: Lyons, T., Closing the Transition: The May 1995 Election in Ethiopia, in: Journal of Modern African Studies 34 (1996) 1, p. 121 ff.
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Auch für die Parlamentswahlen vom 14. 5. 2000 wurden Unregelmäßigkeiten beklagt. Die EPDRF blieb bei sicheren absoluten Mehrheiten. Immerhin sind 17 Parteien im nationalen Parlament und im Föderationsrat vertreten. Die wichtigsten Oppositionsparteien haben 45 Sitze im Rat der Volksvertreter und 120 Mandate im Föderationsrat. Erinnert man sich, daß die Verfassung in ihrem Kapitel über die Prinzipien und Ziele der Staatspolitik den Staat u. a. verpfl ichtet, brüderliche Beziehungen mit den Nachbarstaaten Äthiopiens zu fördern und nach einer friedlichen Lösung internationaler Streitigkeiten zu streben, so kam der Konfl ikt zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit schließlich auch in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Äthiopien und Eritrea zum Ausdruck, der die ohnehin verarmten Länder weiter belastete. Vereinbarungen über die friedliche Beilegung des bewaffneten Konfl ikts konnten erst Ende des Jahres 2000 durch algerische Vermittlungen getroffen werden und bedürfen noch der praktischen Umsetzung. Prof Dr. jur. habil. Gerhard Brehme/ Prof Dr. jur. habil. Helmut Mardek
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II. Verfassung der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien in der Fassung vom 8. 12. 1994 (Übersetzung der inoffiziellen englischen Fassung des amharischen Originals) Präambel Wir, die Nationen, Nationalitäten und Völker Äthiopiens: fest entschlossen, in voller und freier Ausübung unseres Rechtes auf Selbstbestimmung eine politische Gemeinschaft zu schaffen, die auf Rechtsstaatlichkeit beruht, dauerhaften Frieden sichert, eine demokratische Ordnung garantiert und unsere wirtschaftliche und soziale Ordnung weiterentwickelt; in der festen Überzeugung, daß die Erreichung dieses Zieles die umfassende Achtung der Grundrechte und -freiheiten der Menschen und der Völker, auf der Grundlage der Gleichheit und ohne religiöse oder kulturelle Diskriminierung zusammenzuleben, erfordert; weiterhin in der Überzeugung, daß wir durch die Fortführung des Lebens mit unserem reichen und stolzen kulturellen Erbe in den Territorien, die wir seit langem bewohnen, durch kontinuierliche Wechselbeziehungen auf den unterschiedlichsten Ebenen und in verschiedenen Formen des Lebens gemeinsame Interessen entwickelt und zur Herausbildung gemeinsamer Anschauungen beigetragen haben; in dem festen Wissen, daß unserem gemeinsamen Schicksal am besten durch die Korrektur historisch ungerechter Beziehungen und durch die weitere Förderung unserer gemeinsamen Interessen gedient ist; in der Überzeugung, daß es erforderlich ist, als eine wirtschaftliche Gemeinschaft zu leben, um dauerhafte und gegenseitig nützliche Bedingungen für die Sicherung der Achtung unserer Rechte und Freiheiten zu schaffen; entschlossen, den Frieden und die Perspektive einer demokratischen Ordnung, die wir durch unsere Kämpfe und Opfer gesichert haben, als lang andauerndes Erbe zu festigen; haben am 8. Dezember 1994 diese Verfassung durch die rechtmäßig zu diesem Zweck gewählten Vertreter ratifi ziert, als ein Instrument, das uns in der gegenseitigen Verpfl ichtung verbindet, die oben genannten Ziele und Prinzipien zu erfüllen.
Kapitel I: Allgemeine Bestimmungen Artikel 1 Die Staatsbezeichnung Diese Verfassung errichtet eine demokratische, föderale Staatsstruktur. Als Ausdruck dieser Struktur wird der äthiopische Staat als Demokratische Bundesrepublik Äthiopien bezeichnet. Artikel 2 Der territoriale Geltungsbereich Die territoriale Hoheit Äthiopiens erstreckt sich bis zu allen Grenzen, einschließlich der Grenzen aller Mitglieder der Föderation, wie sie in den internationalen Vereinbarungen festgelegt sind. Artikel 3 Die äthiopische Flagge (1) Die äthiopische Flagge besteht aus drei Farben. In der Mitte befi ndet sich das Staatswappen. Die drei Farben sind horizontal in gleicher Breite angeordnet, wobei Grün oben, Gelb in der Mitte und Rot unten liegt. (2) Das Staatswappen widerspiegelt den Wunsch der Nationen, Nationalitäten und Völker Äthiopiens sowie seiner religiösen Gemeinschaften, in Einheit und Gleichheit zusammenzuleben. (3) Die Mitglieder der Föderation können ihre eigenen Flaggen und Wappen haben. Ihre Legislative bestimmt deren Einzelheiten durch Gesetz. Artikel 4 Die Nationalhymne Die Nationalhymne widerspiegelt die Ziele dieser Verfassung und drückt das Einvernehmen der Völker Äthiopiens aus, in einer demokratischen Gesellschaft zusammenzuleben und ein gemeinsames Schicksal zu teilen. Die Einzelheiten werden durch Gesetz geregelt. Artikel 5 Die Sprachen (1) Alle äthiopischen Sprachen genießen die gleiche staatliche Anerkennung.
Die Verfassung Äthiopiens (2) Amharisch ist die Arbeitssprache der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien. (3) Jedes Föderationsmitglied bestimmt seine eigene Arbeitssprache. Artikel 6 Die Staatsbürgerschaft (1 )Jede Frau oder jeder Mann, die/der einen Elternteil mit äthiopischer Staatsbürgerschaft hat, ist äthiopischer Staatsbürger. (2) Ausländer können äthiopische Bürger werden. (3) Spezielle Bedingungen betreffend die Staatsbürgerschaft werden durch Gesetz festgelegt. Artikel 7 Die Bezugnahme auf das Geschlecht Wo die Bestimmungen der Verfassung in der männlichen Form abgefaßt sind, gelten sie gleichermaßen für das weibliche Geschlecht. Kapitel II: Die grundlegenden Verfassungsprinzipien Artikel 8 Die Souveränität des Volkes (1) Alle Staatsgewalt geht von den Nationen, Nationalitäten und Völkern Äthiopiens aus. (2) Diese Verfassung ist Ausdruck ihrer Souveränität. (3) Entsprechend der Verfassung üben sie ihre Souveränität über ihre gewählten Vertreter und durch die direkte demokratische Teilnahme aus. Artikel 9 Der Vorrang der Verfassung (1) Die Verfassung ist das oberste Gesetz des Landes. Alle Gesetze, gewohnheitsrechtlichen Handlungen, Rechtshandlungen von Regierungseinrichtungen oder Regierungsvertretern, die der Verfassung widersprechen, sind ungültig. (2) Alle Bürger, Regierungsbehörden, politischen Parteien und andere Vereinigungen und deren Repräsentanten sind an diese Verfassung gebunden. Sie sind auch verpfl ichtet, deren Einhaltung zu sichern. (3) Die Regierungsmacht kann nur in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Verfassung wahrgenommen und ausgeübt werden. (4) Alle von Äthiopien ratifi zierten internationalen Vereinbarungen sind integraler Bestandteil des Rechts des Landes.
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Artikel 10 Die demokratischen und Menschenrechte (1) Die Menschenrechte und -freiheiten sind unverletzlich und unveräußerlich. Sie sind Teil der Menschenwürde. (2) Die demokratischen und Menschenrechte der äthiopischen Bürger werden geachtet. Artikel 11 Die Trennung von Staat und Religion (1) Staat und Religion sind getrennt. (2) Es gibt keine Staatsreligion. (3) Die Regierung mischt sich nicht in die Ausübung oder die Praktiken jedweder Religion ein. Die Religion mischt sich nicht in Regierungsangelegenheiten ein. Artikel 12 Die Geschäftsführung und die Rechenschaftspfl icht der Regierung (1) Die Führung der Regierungsgeschäfte erfolgt öffentlich und transparent. (2) Jeder Beamte oder gewählte Vertreter ist für die Verletzung der Amtspfl ichten verantwortlich. (3) Ein gewählter Vertreter kann abberufen werden, wenn ihm die Wähler das Vertrauen entziehen. Das Verfahren der Abberufung wird durch Gesetz geregelt. Kapitel III: Die Grundrechte und -freiheiten Artikel 13 Die Anwendung und die Interpretation (1) Alle legislativen, exekutiven und judikativen Staatsorgane auf allen Regierungsebenen sind für die Achtung der Bestimmungen dieses Kapitels verantwortlich und zu ihrer Durchsetzung verpfl ichtet. (2) Die in diesem Kapitel enthaltenen Grundrechte und -freiheiten werden in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte, den internationalen Menschenrechtskonventionen, humanitären Konventionen und den Prinzipien anderer relevanter internationaler, von Äthiopien ratifi zierter oder anerkannter Abkommen interpretiert.
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Textanhang Teil I: Die Menschenrechte
Artikel 14 Das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person Jedermann hat das unverletzbare und unveräußerliche Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Artikel 15 Das Recht auf Leben Niemand darf seines Lebens beraubt werden, ausgenommen bei schweren, durch das Gesetz defi nierten Verbrechen. Artikel 16 Das Recht auf Sicherheit der Person Jedermann hat das Recht auf Schutz vor körperlichen Schäden. Artikel 17 Das Recht auf Freiheit (1) Niemand darf seiner Freiheit beraubt werden, ausgenommen in Übereinstimmung mit gesetzlich festgelegten Verfahrensweisen. (2) Niemand darf willkürlich festgenommen werden und niemand darf ohne Gerichtsverfahren oder Verurteilung inhaftiert werden. Artikel 18 Das Recht auf humane Behandlung (1) Niemand darf der Folter, grausamer, inhumaner oder herabwürdigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt werden. (2) Niemand darf in Sklaverei oder Knechtschaft gehalten werden. Menschenhandel, zu welchem Zweck auch immer, ist verboten. (3) Niemand kann zu Zwangsarbeit verpfl ichtet werden. (4) Zwangsarbeit im Sinne dieses Artikels beinhaltet nicht: a) alle Arbeiten, die gemäß Gesetz während einer regulären Haft zugewiesen werden oder die an eine bedingte Entlassung gebunden sind; b) alle Dienste militärischen Charakters oder bei Verweigerern aus Glaubensgründen alle Wehrersatzdienste; c) alle Dienste im Fall des Notstandes oder einer Katastrophe, wenn das Leben oder das Wohlergehen der Gemeinschaft bedroht sind; d) alle Verpfl ichtungen zu wirtschaftlicher und sozialer Arbeit im Rahmen von freiwilligem Gemeinschaftsdienst.
Artikel 19 Die Rechte verhafteter Personen (1) Jede verhaftete Person hat das Recht, unverzüglich und in einer Sprache, die sie versteht, über die Einzelheiten der Anschuldigung und die Gründe ihrer Verhaftung informiert zu werden. (2) Jede verhaftete Person hat das Recht, unverzüglich und in einer Sprache, die sie versteht, darüber informiert zu werden, daß sie das Recht hat zu schweigen und daß jede Erklärung, die sie abgibt und jeder Beweis, den sie vorlegt, vor Gericht gegen sie verwendet werden kann. (3) Jede verhaftete Person hat das Recht, vor Gericht zu erscheinen und innerhalb von 48 Stunden nach ihrer Verhaftung, abzüglich der Reisezeit vom Ort der Verhaftung zum Gericht, eine vollständige Erklärung ihrer Verhaftungsgrunde zu erhalten. (4) Jedermann hat das Recht, bei Gericht die Überprüfung der Verhaftung zu beantragen. Kein Gericht darf dieses Recht verwehren, wenn der Beamte oder die Behörde, die die Verhaftung angeordnet haben, den Verhafteten nicht vor Gericht bringen und dort die Gründe der Verhaftung darlegen. Soweit die Interessen der Gerechtigkeit es erforderlich machen, kann das Gericht anordnen, daß die verhaftete Person nur so lange in Haft bleibt, wie es für die zur Erlangung von Fakten notwendigen Untersuchungen erforderlich ist. Bei der Festsetzung der notwendigen Zeit berücksichtigt das Gericht, ob die zuständigen Behörden die Untersuchungen zügig durchführen, um das Recht der Person auf eine schnelle Verhandlung zu garantieren. (5) Niemand darf gezwungen werden, Dinge zu gestehen oder zuzugeben, die als Beweis gegen ihn verwendet werden können. Erklärungen, die unter Zwang erlangt wurden, sind als Beweis nicht zulässig. (6) Jede verhaftete Person hat das Recht, gegen Kaution freigelassen zu werden. In gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen darf das Gericht eine Kaution ablehnen oder eine adäquate Garantie für die bedingte Freilassung der verhafteten Person fordern. Artikel 20 Die Rechte angeklagter Personen (1) Jedermann hat das Recht auf eine öffentliche Verhandlung vor einem ordentlichen Gericht innerhalb einer zumutbaren Zeit nach der Anklage. Das Gericht kann zum Schutz des Rechtes auf Privatsphäre der beteiligten Parteien, der öffentlichen Moral und der nationalen Sicherheit Fälle in geschlossener Sitzung verhandeln. (2) Jedermann hat das Recht, ausreichend über
Die Verfassung Äthiopiens die Einzelheiten der Anklage informiert zu werden und die Anklage in schriftlicher Form zu erhalten. (3) Jedermann hat das Recht auf Unschuldsvermutung und darf während der Verhandlung nicht zum Geständnis gezwungen werden. (4) Jedermann hat das Recht auf vollständigen Zugang zu gegen ihn verwandten Beweismitteln, das Recht, die Zeugen, die gegen ihn Zeugnis ablegen, zu prüfen, Beweismaterial zu seiner Verteidigung zu sammeln und das Recht zu verlangen, daß Zeugen, die zu seinen Gunsten aussagen, vor Gericht anwesend sind. (5) Jedermann hat das Recht, von einem Anwalt seiner Wahl vertreten zu werden oder, im Falle völlig mittelloser Angeklagter, einen Rechtsvertreter auf Staatskosten zu erhalten, wenn anderenfalls schwere Ungerechtigkeit die Folge wäre. (6) Jedermann hat das Recht, sich auf dem Wege der Berufung oder der Revision an die zuständigen höheren Gerichte zu wenden. (7) Jedermann hat das Recht, das Verfahren auf Staatskosten gedolmetscht zu bekommen, wenn er die Sprache des Gerichts nicht versteht. Artikel 21 Die Rechte inhaftierter Personen (1) Alle in Verwahrung befi ndlichen Personen, einschließlich verurteilter Häftlinge, haben das Recht auf menschenwürdige Haftbedingungen. (2) Jedermann hat die Möglichkeit, mit seinen Ehepartnern, Partnern, Verwandten und Freunden, religiösen Beratern, Anwälten und Ärzten zu kommunizieren und von ihnen besucht zu werden. Artikel 22 Das Verbot rückwirkenden Strafrechts (1) Niemand darf einer Straftat für eine Handlung für schuldig befunden werden, welche zum Zeitpunkt des Begehens oder Unterlassens keine gesetzlich bestimmte Straftat war. Es darf auch niemand zu einer höheren Strafe verurteilt werden als der zur Zeit des Begehens der Straftat anwendbaren Höchststrafe. (2) Unbeschadet Abs. (1) dieses Artikels wird ein nach dem Begehen der Straftat verabschiedetes Gesetz angewandt, wenn es zugunsten des Angeklagten ist. Artikel 23 Das Verbot der doppelten Verurteilung Niemand darf erneut für eine Straftat vor Gericht gestellt oder bestraft werden, für die er von einem Strafgericht in einem Verfahren endgültig verurteilt oder freigesprochen wurde.
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Artikel 24 Das Recht auf Ehre und Ansehen 1) Jedermann hat das Recht auf Achtung, die dem Menschen gebührt, und den Schutz seines guten Rufes und seiner Ehre. (2) Jedermann hat, im Einklang mit den Rechten anderer Bürger, das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. (3) Jedermann hat das Recht, überall in seinen persönlichen Rechten anerkannt zu werden. Artikel 25 Das Recht auf Gleichheit der Bürger Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich und haben Anspruch auf gleichen Rechtsschutz ohne jegliche Diskriminierung. Das Gesetz garantiert allen Personen gleichen und wirksamen Schutz ohne Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder anderer Meinung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder anderer Stellung. Artikel 26 Das Recht auf Privatsphäre (1) Jedermann hat das Recht auf Privatsphäre. Dieses Recht schließt das Recht ein, keinen Durchsuchungen des Hauses, der Person und des Eigentums oder der Beschlagnahme von persönlichem Eigentum ausgesetzt zu sein. (2) Jedermann hat das Recht auf Unverletzlichkeit seines Brief- und Postverkehrs sowie der Kommunikation über Telefon, Telekommunikation und elektronische Geräte. (3) Öffentliche Angestellte achten und schützen diese Rechte. Sie mischen sich nur unter zwingenden Umständen und in Übereinstimmung mit speziellen Gesetzen zum Schutz der nationalen und öffentlichen Sicherheit, zur Verhinderung von Verbrechen, zum Schutz von Gesundheit, Moral sowie der Rechte und Freiheiten anderer in die Ausübung dieser Rechte ein. Artikel 27 Das Recht auf Religions-, Glaubenund Meinungsfreiheit (1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, eine Religion oder einen Glauben seiner Wahl zu haben oder anzunehmen und allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat an religiösen Gottesdiensten teilzunehmen, religiöse Vorschriften zu befolgen und religiösen Unterricht zu erteilen. (2) Unter Beachtung von Art. 90, Abs. (2) können Gläubige Institutionen zur religiösen Bil-
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dung und Verwaltung schaffen, um ihren Glauben zu propagieren und zu etablieren. (3) Weder darf jemandem ein Glaube verboten werden, noch darf er durch Zwangsmaßnahmen bei der freien Wahl seines Glaubens genötigt werden. (4) Eltern und andere Erziehungsberechtigte haben das Recht, auf der Grundlage ihres Glaubens für die religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. (5) Die Freiheit, seine Religion oder seinen Glauben zu äußern oder zu manifestieren, unterliegt nur den gesetzlich bestimmten und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Erziehung, Moral oder der Grundrechte und -freiheiten anderer notwendigen und zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Regierung von der Religion erforderlichen Beschränkungen. Artikel 28 Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit (1) Bei Anklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in von Äthiopien ratifi zierten internationalen Konventionen und anderen Gesetzen Äthiopiens festgelegt sind, gibt es keine Verjährung. Weder die Legislative noch irgendein anderes Organ hat bei Verbrechen wie inhumane Bestrafung, gewaltsame Entführung, Massenhinrichtungen oder Völkermord eine Vollmacht zu Begnadigung oder Amnestie. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nicht Gegenstand von Gnade oder Amnestie durch einen Regierungserlaß. (2) In Übereinstimmung mit der obigen Bestimmung kann das Staatsoberhaupt die Bestrafung von gemäß Abs. (1) Verurteilten von der Todesstrafe in lebenslängliche Haft umwandeln. Teil II: Die demokratischen Rechte Artikel 29 Das Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit (1) Jedermann hat das Recht, ohne Einmischung Meinungen zu folgen. (2) Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung ohne Einmischung. Dieses Recht umfaßt die Freiheit, ohne Rücksicht auf Grenzen nach Informationen und Gedanken zu suchen, diese zu erhalten und zu vermitteln, sowohl mündlich als auch schriftlich oder gedruckt, in Form von Kunst oder durch ein anderes Medium seiner Wahl.
(3) Die Freiheit der Presse und anderer Medien sowie die Freiheit der künstlerischen Meinung sind garantiert. Die Pressefreiheit beinhaltet insbesondere folgende Elemente: a) Verbot jeglicher Art von Zensur; b) Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse. (4) Im Interesse eines freien Flusses von Informationen, Gedanken und Meinungen, die für das Funktionieren einer demokratischen Ordnung wesentlich sind, genießt die Presse als Institution rechtlichen Schutz zur Sicherung ihrer Autonomie und Vielfalt. (5) Alle durch den Staat fi nanzierten oder von ihm kontrollierten Medien werden so gestaltet, daß sie die Vielfalt der Meinungsäußerung sichern. (6) Diese Rechte können nur durch Gesetze eingeschränkt werden, die von dem Prinzip geleitet sind, daß freie Meinungsäußerung und Information nicht wegen des Inhalts oder der Wirkung der geäußerten Meinung eingeschränkt werden dürfen. Rechtliche Einschränkungen können zum Schutz der Jugend sowie der Ehre und des Ansehen des einzelnen auferlegt werden. Kriegspropaganda sowie öffentliche Meinungsäußerungen, welche die Menschenwürde verletzen, sind gesetzlich verboten. (7) Jeder, der die gesetzlichen Beschränkungen bei der Ausübung dieser Rechte verletzt, kann gemäß Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden. Artikel 30 Das Recht auf Versammlung, Demonstration und Petition (1) Jedermann hat das Recht, sich friedlich und unbewaffnet mit anderen zu versammeln, zu demonstrieren und Petitionen einzureichen. Angemessene Verfahrensweisen können im Interesse der öffentlichen Ordnung hinsichtlich von Treffen unter freiem Himmel und der Demonstrationsroute oder – wenn solche Treffen oder Demonstrationen im Gange sind – zum Schutz der öffentlichen Moral, des Friedens und der demokratischen Rechte vorgeschrieben werden. (2) Dieses Recht schließt nicht die gesetzliche Verantwortung aus, die sich aus dem Schutz des Wohlergehens der Jugend, der Ehre und des Ansehens des einzelnen sowie aus dem gesetzlichen Verbot von Kriegspropaganda und der öffentlichen Äußerung von Meinungen, welche die Menschenwürde verletzen, ergibt.
Die Verfassung Äthiopiens Art. 31 Die Vereinsfreiheit Jedermann hat das Recht auf die Bildung von Vereinigungen zu jedem beliebigen Zweck. Vereinigungen, die ungesetzliche Handlungen begehen, welche die gesetzliche und verfassungsmäßige Ordnung untergraben, sind verboten. Art. 32 Die Freizügigkeit (1) Jeder Bürger Äthiopiens oder jede andere, sich legal in Äthiopien auf haltende Person hat das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des nationalen Territoriums, das Recht, seinen Wohnsitz frei innerhalb dieses Territoriums zu wählen und das Recht, das Land zu verlassen. (2) Jeder äthiopische Bürger hat das Recht, in sein Land zurückzukehren. Artikel 33 Die Staatsbürgerschaftsrechte (1) Keinem Äthiopier darf seine äthiopische Staatsbürgerschaft entzogen werden. Die Heirat eines Äthiopiers oder einer Äthiopierin mit einem Ausländer beendet nicht die äthiopische Staatsbürgerschaft. (2) Jeder Äthiopier hat das Recht, alle gesetzlich festgelegten Rechte der äthiopischen Staatsbürgerschaft in Anspruch zu nehmen und ihre Durchsetzung durch den Staat zu verlangen. (3) Jeder Bürger Äthiopiens hat das Recht, seine Staatsbürgerschaft zu wechseln. (4) Die äthiopische Staatsbürgerschaft kann Ausländern entsprechend dem gesetzlich festgelegten Verfahren verliehen werden, das den Verpfl ichtungen entspricht, die sich für Äthiopien aus von ihm ratifi zierten internationalen Erklärungen und Verträgen ergeben. Artikel 34 Die Ehe-, Personen- und Familienrechte (1) Männer und Frauen, die das gesetzlich festgelegte heiratsfähige Alter erreicht haben, haben das Recht, ohne Einschränkungen nach Rasse, Nationalität oder Religion zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie haben gleiche Rechte bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Scheidung. Es werden Gesetze zum Schutz der Interessen und Rechte der Kinder zur Zeit der Scheidung verabschiedet. (2) Die Ehe wird nur bei freier und vollständiger Übereinstimmung der zukünftigen Ehepartner geschlossen. (3) Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat ein Recht auf Schutz durch Staat und Gesellschaft.
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(4) Es können Gesetze und spezielle Verfahrensregeln erlassen werden, welche die Gültigkeit von Ehen anerkennen, die nach religiösen und kulturellen Gesetzen geschlossen wurden. (5) Die Verfassung schließt die Beilegung von persönlichen oder familiären Streitigkeiten nach religiösen und kulturellen Gesetzen nicht aus, wenn alle beteiligten Parteien damit einverstanden sind. Die Verfahrensweise wird durch das Gesetz bestimmt. Artikel 35 Die Rechte der Frauen (1) Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer hinsichtlich der Inanspruchnahme und des Schutzes von Rechten aus dieser Verfassung. (2) Frauen sind entsprechend dieser Verfassung in der Ehe gegenüber dem Mann gleichberechtigt. (3) In Anerkennung der Geschichte der Ungleichheit und Diskriminierung, welche die Frauen Äthiopiens durchlitten haben, haben Frauen ein Recht auf Wiedergutmachungsmaßnahmen. Der Zweck dieser Maßnahmen besteht darin, Frauen in die Lage zu versetzen, auf der Basis der Gleichheit mit den Männern am politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben teilzunehmen und mit den Männern zu konkurrieren sowie Zugang zu Positionen in öffentlichen und privaten Institutionen zu erlangen. (4) Frauen haben das Recht auf Schutz des Staates gegen schädliche Sitten. Gesetze, Sitten und Praktiken, die Frauen unterdrücken oder ihnen körperlichen oder seelischen Schaden zufügen, sind verboten. (5)(a) Frauen haben das Recht auf Mutterschaftsurlaub bei voller Bezahlung, Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs wird durch Gesetz bestimmt, wobei die Art der Arbeit, die Gesundheit der Mutter und das Wohlergehen des Kindes und der Familie berücksichtigt werden. (b) Mutterschaftsurlaub kann in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen Schwangerschaftsurlaub bei voller Bezahlung einschließen. (6) Frauen haben das Recht, bei der Formulierung der nationalen Entwicklungspolitik und der Ausführung der Projekte mitzuwirken, sowie das Recht zu umfassender Konsultation bei der Vorbereitung der Projekte, besonders bei jenen, welche die Interessen der Frauen berühren. (7) Frauen haben das Recht, Eigentum zu erwerben, zu verwalten, zu kontrollieren, zu übertragen und zu nutzen. Insbesondere haben sie gleiche Rechte wie die Männer bezüglich des Zugangs zu Land sowie seiner Nutzung, Verwal-
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tung und Übertragung. Ebenso haben sie gleiche Rechte bei der Vererbung von Eigentum. (8) Frauen haben das Recht auf Gleichheit bei der Beschäftigung, der Förderung, der Bezahlung und der Vergabe von Pensionsansprüchen. (9) Frauen haben das Recht auf Information und das Recht auf Mittel zur Familienplanung, um Schaden, der sich aus der Geburt eines Kindes ergibt, zu verhindern und ihre Gesundheit zu schützen. Artikel 36 Die Rechte der Kinder (1) Jedes Kind hat das Recht: a) auf Leben; b) auf einen Namen und eine Staatsbürgerschaft; c) seine Eltern oder andere Erziehungsberechtigten zu kennen und von ihnen versorgt zu werden; d) keiner ausbeuterischen Arbeit unterworfen zu werden, weder aufgefordert zu werden, noch gestattet zu bekommen, Arbeiten auszuführen, die seine Erziehung, seine Gesundheit oder sein Wohlbefi nden gefährden; e) frei von körperlicher Züchtigung, grausamer und inhumaner Behandlung in Schulen oder anderen für die Fürsorge für Kinder verantwortlichen Einrichtungen zu sein. (2) Bei allen Maßnahmen im Hinblick auf Kinder, die seitens öffentlicher und privater Einrichtungen der Wohlfahrt, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder legislativen Körperschaften ergriffen werden, gilt die erste Überlegung dem Wohl des Kindes. (3) Jugendliche Straftäter, Jugendliche, die in Besserungs- oder Rehabilitationseinrichtungen aufgenommen sind, oder Jugendliche, die Mündel unter staatlicher Vormundschaft wurden, Jugendliche in öffentlichen und privaten Waisenhäusern sind getrennt von den Erwachsenen unterzubringen. (4) Uneheliche Kinder haben den gleichen Status und die gleichen Rechte wie eheliche Kinder. (5) Der Staat schützt besonders die Waisen und fordert die Bildung von speziellen Einrichtungen, die deren Adoption unterstützen. Er unterstützt auch Einrichtungen, die für deren Wohlergehen, die Erziehung und das Aufziehen sorgen. Artikel 37 Das Recht auf Zugang zur Rechtsprechung (1) Jedermann hat das Recht, Rechtsstreitigkeiten vor Gericht zu bringen und von diesem oder, wo angebracht, von einem anderen Gremi-
um mit juristischer Befugnis eine Entscheidung oder ein Urteil zu erhalten. (2) Die unter Abs. (1) dieses Artikels genannte Entscheidung oder das Urteil kann auch erwirkt werden durch: a) eine Vereinigung, die im Interesse ihrer Mitglieder handelt; b) eine Person, die Mitglied oder Repräsentant einer Personengruppe mit gleichen Interessen ist. Artikel 38 Das Recht zu wählen und gewählt zu werden (1) Jeder Bürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne jegliche Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder anderer Ansichten: a) direkt oder über frei gewählte Vertreter an der Leitung öffentlicher Angelegenheiten teilzunehmen; b) zu wählen und in jedes Amt auf allen Regierungsebenen gewählt zu werden. Wahlen erfolgen durch allgemeines Wahlrecht und geheime Abstimmung, um die freie Willensäußerung der Wähler zu gewährleisten; c) jeder äthiopische Bürger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, hat das gesetzliche Wahlrecht. (2) Die Zugehörigkeit zu politischen Parteien, Gewerkschaften, Handelsvereinigungen, Arbeitgeber- und Berufsvereinigungen ist frei und allen zugänglich, die den allgemeinen und besonderen Anforderungen der Organisation entsprechen. (3) Die Wahlen in Funktionen innerhalb der in Abs. (2) dieses Artikels genannten Organisationen erfolgen in freien und demokratischen Verfahren. (4) Die Bestimmungen der Abs. (2) und (3) dieses Artikels gelten für zivile Organisationen, die das öffentliche Interesse wesentlich berühren. Artikel 39 Die Rechte der Nationen, Nationalitäten und Völker (1) Jede Nation, jede Nationalität und jedes Volk in Äthiopien hat das bedingungslose Recht auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechtes auf Sezession. (2) Jede Nation, jede Nationalität und jedes Volk in Äthiopien hat das Recht, die eigene Sprache zu sprechen, zu schreiben und zu entwickeln, die eigene Kultur auszudrücken und zu fördern und die eigene Geschichte zu bewahren. (3) Jede Nation, jede Nationalität und jedes Volk in Äthiopien hat das Recht auf Selbstregie-
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rung, die das Recht einschließt, Regierungseinrichtungen in dem Territorium einzurichten, welches sie/es bewohnt, sowie das Recht auf gleiche Vertretung in den regionalen und nationalen Regierungen. (4) Die Ausübung der Selbstbestimmung, einschließlich der Sezession, jeder Nation, jeder Nationalität und jedes Volkes in Äthiopien erfolgt im Rahmen des folgenden Verfahrens: a) wenn die Forderung nach Sezession durch eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Legislativräte der Nation, der Nationalität oder des Volkes bestätigt wurde; b) wenn die Bundesregierung einen Volksentscheid organisiert hat, der innerhalb von drei Jahren seit dem Zeitpunkt, zu dem sie die entsprechende Ratsentscheidung zur Sezession erhalten hat, stattfi nden muß; c) wenn die Forderung nach Sezession durch eine Mehrheitsentscheidung im Volksentscheid unterstützt wird; d) wenn die Bundesregierung dem Volk oder seinen Räten ihre Macht übertragen hat; und e) wenn die Teilung der betroffenen Vermögenswerte auf der Grundlage eines diesbezüglichen Gesetzes erfolgt ist. (5) Eine Nation, eine Nationalität oder ein Volk im Sinne dieser Verfassung ist eine Gruppe von Menschen, die eine gemeinsame Kultur oder ähnliche Sitten und ein gegenseitiges Sprachverständnis haben oder in hohem Maße teilen, die an gemeinsame oder verbundene Identitäten glauben und die vorwiegend ein erkennbares und zusammenhängendes Territorium bewohnen.
den Naturressourcen liegt ausschließlich beim Staat und den Völkern Äthiopiens. Land ist Gemeineigentum der Nationen, Nationalitäten und Völker Äthiopiens und kann nicht verkauft oder anderweitig übertragen werden. (4) Jeder Äthiopier, der seinen Lebensunterhalt durch Landwirtschaft verdienen möchte, hat das nicht übertragbare Recht, kostenlos Land zur Nutzung zu erhalten. Die Umsetzung dieser Bestimmung wird durch Gesetz geregelt. (5) Äthiopische Hirten haben das Recht auf freies Land für Weide und Ackerbau sowie das Recht, nicht von ihrem eigenen Land vertrieben zu werden. (6) Unbeschadet des Rechtes der Nationen, Nationalitäten und Völker auf eigenes Land kann die Regierung privaten Investoren auf der Basis von gesetzlich festgelegten Zahlungsvereinbarungen Land zur Nutzung überlassen. (7) Jeder Äthiopier hat das Recht auf die von ihm auf dem Land erbauten Immobilien und die von ihm durch seine Arbeit oder sein Kapital dem Land zuteil gewordenen Werterhöhungen. Dieses Recht schließt das Recht auf Übertragung, Vererbung und, bei Auslaufen des Nutzungsrechts, das Recht auf Zurücknahme seines Eigentums, Übertragung seines Eigentumsrechtes oder den Anspruch auf eine Entschädigung dafür ein. Einzelheiten werden durch Gesetz festgelegt. (8) Die Regierung hat das Recht, privates Eigentum im öffentlichen Interesse zu enteignen. In all diesen Fällen zahlt die Regierung im voraus eine dem Wert des enteigneten Eigentum angemessene Entschädigung.
Artikel 40 Das Recht auf Eigentum (1) Jeder äthiopische Bürger hat das Recht auf Privateigentum. Das Recht beinhaltet das Recht, solches Eigentum zu erwerben, zu nutzen und zu veräußern über Verkauf, Vererbung oder andere Wege der Übertragung unter Beachtung der im öffentlichen Interesse gesetzlich vorgeschriebenen Grenzen und in einer mit den Rechten anderer Bürger verträglichen Weise. (2) Privateigentum im Sinne dieses Artikels sind materielle oder immaterielle Produkte der Arbeit, Schöpferkraft, des Unternehmens oder Kapitals eines einzelnen Bürgers oder einer Vereinigung von Bürgern, die laut Gesetz juristische Personen sind oder unter bestimmten Bedingungen von Gemeinschaften, die durch Gesetz speziell ermächtigt wurden, gemeinsam Eigentum zu besitzen. (3) Das Recht auf Landeigentum in ländlichen und städtischen Gebieten sowie das Eigentum an
Artikel 41 Die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte (1) Jeder äthiopische Bürger hat das Recht auf freie Teilnahme am Wirtschaftsleben und darauf, seinen Lebensunterhalt überall innerhalb des nationalen Territoriums zu erwerben. (2) Jeder äthiopische Bürger hat das Recht, die Mittel seines Lebensunterhaltes, seine Beschäftigung und seinen Beruf frei zu wählen. (3) Jeder äthiopische Bürger hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlich gestützten Sozialleistungen. (4) Der Staat ist verpfl ichtet, zunehmende Mittel für die öffentliche Gesundheit, Bildung und andere Sozialleistungen bereitzustellen. (5) Der Staat stellt im Rahmen der verfügbaren Ressourcen Mittel für die Rehabilitation und die Unterstützung körperlich und geistig Behinderter sowie für Kinder, die ohne Eltern oder andere Erziehungsberechtigte leben, bereit.
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(6) Der Staat verfolgt eine Politik, die auf die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Arbeitslosen und Bedürftigen abzielt und entwickelt dementsprechend öffentliche Arbeitsförderungsprogramme. (7) Der Staat ergreift alle erforderlichen Maßnahmen, um für die Bürger Möglichkeiten einer einträglichen Beschäftigung zu schaffen. (8) Bauern und Hirten haben das Recht, für ihre Produkte faire Preise zu erhalten, die ihre Lebensbedingungen verbessern und sie in die Lage versetzen, angemessenen Anteil an dem von ihnen mitgeschaffenen Nationalreichtum zu nehmen. Von diesem Ziel läßt sich der Staat bei der Formulierung seiner Politik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und bei Projekten leiten. (9) Der Staat hat die Verantwortung, das historische und kulturelle Erbe zu schützen und zu bewahren und zur Förderung von Kunst und Sport beizutragen. Artikel 42 Das Recht auf Arbeit (1) a) Arbeiter in Fabriken und im Dienstleistungsbereich, Bauern, Farmarbeiter, andere Landarbeiter und Regierungsangestellte unterhalb einer bestimmten Verantwortungsebene haben das Recht, Vereinigungen zum Schutz und zur Verbesserung ihrer Bedingungen und ihres wirtschaftlichen Wohlergehens zu bilden. Dieses Recht schließt das Recht auf die Bildung von Gewerkschaften und anderen Vereinigungen ein, um mit den Arbeitgebern oder anderen, ihre Interessen berührenden Organisationen kollektiv zu verhandeln. b) Personen aus den unter Buchst. a dieses Artikels genannten Kategorien haben das Recht, ihre Beschwerden zum Ausdruck zu bringen. Dieses Recht schließt das Recht auf Streik ein. c) Regierungsangestellte, die das unter Buchst. a genannte Recht genießen, werden durch Gesetz bestimmt, d) Frauen haben das Recht auf gleiche Bezahlung für vergleichbare Arbeit. (2) Die Arbeitnehmer haben das Recht auf eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, auf Pausen, Freizeit, regelmäßigen bezahlten Urlaub, bezahlte Feiertage sowie ein gesundes und sicheres Arbeitsumfeld. (3) Unbeschadet der unter Abs. (1) dieses Artikels anerkannten Rechte werden Gesetze über das Verfahren zur Bildung solcher Vereinigungen und Gewerkschaften sowie zur Regelung des Verhandlungsprozesses verabschiedet.
Artikel 43 Das Recht auf Entwicklung (1) Die Gesamtheit der Völker Äthiopiens, jede Nation, jede Nationalität und jedes Volk hat das Recht auf verbesserten Lebensstandard und anhaltende Entwicklung. (2) Jedermann hat das Recht, an der nationalen Entwicklung teilzunehmen und insbesondere im Hinblick auf die Politik und die Projekte, die seine Gemeinschaft betreffen, befragt zu werden. (3) Alle internationalen Vereinbarungen, denen Äthiopien beigetreten ist, und alle Beziehungen, die Äthiopien aufnimmt und mit anderen Ländern unterhält, sollen das Recht des Landes auf anhaltende Entwicklung sichern. (4) Das Ziel der Entwicklungspolitik und -programme besteht in der Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten der Bürger und in der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Artikel 44 Die Umweltrechte (1) Jedermann hat das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt. (2) Jeder, der umgesiedelt wurde oder dessen Lebensumstände im Ergebnis von staatlichen Programmen beeinträchtigt wurden, hat das Recht auf fi nanzielle oder alternative Entschädigung, einschließlich der Neuansiedlung mit angemessener staatlicher Unterstützung. Kapitel IV: Die Struktur des Staates Artikel 45 Die Regierungsform Die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien hat eine parlamentarische Regierungsform. Artikel 46 Die Mitgliedsstaaten der Demokratischen Bundesrepublik (1) Die Demokratische Bundesrepublik besteht aus Staaten. (2) Die Staaten werden auf der Grundlage der Siedlungsräume, der Identität, der Sprache und des Konsens des betroffenen Volkes bestimmt. Artikel 47 Die Mitgliedsstaaten der Demokratischen Bundesrepublik (I) Folgende Staaten sind Mitglieder der Demokratischen Bundesrepublik: 1. Tigrai 2. Afar
Die Verfassung Äthiopiens 3. 4. 5. 6. 7.
Amara Oromia Somali Benshangul/Gumaz Südliche Nationen, Nationalitäten und Völker 8. Völker der Gambela 9. Volk der Harari. (2) Die Nationen, die Nationalitäten und die Völker innerhalb der unter Abs. (1) dieses Artikels genannten Staaten haben das Recht, jederzeit ihre eigenen Staaten zu gründen. (3) Das Recht jeder Nation, jeder Nationalität oder jeden Volkes auf Bildung eines eigenen Staates wird auf folgende Weise ausgeübt: a) wenn die Forderung nach Staatlichkelt von einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Staatsrates gebilligt und dem Rat schriftlich vorgelegt wurde; b) wenn der Rat, der die Forderung erhalten hat, innerhalb eines Jahres einen Volksentscheid bei der Nation, der Nationalität oder dem Volk, welches die Forderung erhoben hat, organisiert hat; c) wenn die Forderung nach Staatlichkeit durch Stimmenmehrheit im Volksentscheid unterstützt wird; d) wenn der Staatsrat seine Vollmachten an die Nation, die Nationalität oder das Volk übergeben hat, welches die Forderung erhoben hat; und e) wenn der neue, durch den Volksentscheid geschaffene Staat ohne weitere Verfahren Mitglied der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien wird. (4) Die Mitgliedsstaaten der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien haben die gleichen Rechte und Pfl ichten. Artikel 48 Die Veränderungen der Staatsgrenze (1) Alle Grenzstreitigkeiten werden durch Vereinbarungen der beteiligten Staaten beigelegt. Wenn die beteiligten Staaten keine Übereinkunft erzielen können, entscheidet der Bundesrat auf der Grundlage der Siedlungsräume der Völker und der Wünsche des beteiligten Volkes oder der beteiligten Völker. (2) Der Bundesrat regelt die ihm unterbreiteten Streitigkeiten gemäß Abs. (1) dieses Artikels innerhalb von zwei Jahren. Artikel 49 Die Hauptstadt (1) Die Hauptstadt der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien ist Addis Abeba. (2) Die Bürger von Addis Abeba verfügen über
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die volle Selbstregierung. Zu diesem Zweck werden Gesetze erlassen. (3) Die Verwaltung von Addis Abeba ist der Bundesregierung gegenüber verantwortlich. (4) Die Einwohner von Addis Abeba sind gemäß der Verfassung im Rat der Volksvertreter vertreten. (5) Die speziellen Interessen Oromias in Addis Abeba werden hinsichtlich der sozialen Dienste, der Nutzung der Naturressourcen und der gemeinsamen Verwaltungsangelegenheiten, die sich aus der Lage Addis Abebas innerhalb des Staates Oromia ergeben, berücksichtigt. Die Einzelheiten werden durch Gesetz bestimmt. Kapitel V: Die Struktur und die Teilung der Gewalten der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien Artikel 50 Die Struktur der Staatsorgane (1) Die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien umfaßt den Bundesstaat und die Mitgliedsstaaten. (2) Der Bundesstaat und die Mitgliedsstaaten haben legislative, exekutive und judikative Vollmachten. (3) Der Rat der Volksvertreter ist das höchste Staatsorgan auf Bundesebene. Der Rat ist dem Volk gegenüber verantwortlich. Der Staatsrat ist das höchste Staatsorgan auf der Ebene der Staaten. Er ist dem Volk gegenüber verantwortlich. (4) Die Staatsregierung wird auf der Grundlage der Zuständigkeiten der Staaten und anderer als notwendig erachteter Kompetenzen aufgebaut. Der Staatsrat kann weitere Ebenen der Rechtshoheit schaffen. Der Staat gewährt der untersten Ebene der Staatsgewalt solche Vollmachten, die das Volk in die Lage versetzen, direkt an der Selbstverwaltung teilzunehmen. (5) Der Staatsrat hat die Legislativgewalt in Fragen, die in die Staatenhoheit fallen. Gemäß den Bestimmungen dieser Verfassung entwirft er eine Staatsverfassung, ratifi ziert und ändert sie. (6) Die Staatsverwaltung ist das höchste Organ der Exekutive. (7) Die judikative Gewalt des Staates wird seinen Gerichten übertragen. (8) Die Befugnisse des Bundes und der Staaten werden durch diese Verfassung bestimmt. Die Staaten respektieren die Befugnisse des Bundesstaates. (9) Der Bundesstaat kann den Staaten Vollmachten und Funktionen übertragen, die ihm
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laut Art. 51 dieser Verfassung zustehen. Die Staaten können dem Bundesstaat ihrerseits Vollmachten und Funktionen übertragen, die ihnen laut Verfassung zustehen. Artikel 51 Die Vollmachten des Bundesstaates (1) Er schützt und verteidigt die Verfassung. (2) Er formuliert die Politik des Landes im Hinblick auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesamtentwicklung; er entwirft Entwicklungspläne und -strategien und setzt sie durch. (3) Er erstellt nationale Standards und Grundkriterien für die Bewertung der Politik in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Wissenschaft, Technik und Kultur sowie zum Schutz und zur Wahrung des historischen Erbes. (4) Er formuliert die Finanz-, Geld- und Auslandsinvestitionspolitik des Landes und setzt sie um. (5) Er schafft Gesetze für die Nutzung und den Schutz von Land sowie der anderen Naturressourcen, historischen Stätten und Objekte. (6) Er baut die nationalen Verteidigungs- und die öffentlichen Sicherheitskräfte sowie die Bundespolizei auf und verwaltet sie. (7) Er verwaltet die Nationalbank, druckt Banknoten, leiht Geld und prägt Münzen, reguliert den Devisentausch und die Geldzirkulation. Er bestimmt durch Gesetz die Bedingungen und Fristen, unter denen der Staat Geldanleihen aus internen Quellen aufnehmen kann. (8) Er formuliert die Außenpolitik und setzt sie um. Er verhandelt und ratifi ziert internationale Abkommen. (9) Er ist für die Entwicklung, Verwaltung und Regulierung der Transporte in der Luft, auf der Schiene, auf Flüssen und zur See, auf den Hauptstraßen, die zwei oder mehr Staaten verbinden, sowie für das Post- und Telekommunikationswesen verantwortlich. (10) Er erhebt Steuern und zieht Abgaben aus Einnahmen ein, die dem Bundesstaat zustehen. Er erarbeitet, bestätigt und verwaltet das Bundesbudget. (11) Er legt die Nutzung des Wassers aus Seen, die zwei oder mehr Staaten verbinden, oder von Flüssen, welche die Grenzen von zwei oder mehr Staaten überqueren, fest. (12) Er reguliert den Handel zwischen den Staaten und den Außenhandel. (13) Er verwaltet und erweitert die Institutionen und Programme, die vom Bund fi nanziert werden und Dienstleistungen für zwei oder mehr Staaten bieten. (14) Er stationiert auf Ersuchen zuständiger
staatlicher Behörden Bundesverteidigungstruppen, um eine instabile Sicherheitslage im betreffenden Staat zu überwinden, falls dessen Behörden nicht in der Lage sind, diese zu kontrollieren. (15) Er erläßt alle notwendigen Gesetze hinsichtlich der politischen Parteien und der Wahlen, um die in der Verfassung gesicherten politischen Rechte in die Praxis umzusetzen. (16) Er hat das Recht, den nationalen Notstand auszurufen und aufzuheben und diesen auf bestimmte Teile des Landes zu begrenzen. (17) Er bestimmt und leitet ebenso Angelegenheiten der Nationalität und Staatsbürgerschaft. (18) Er bestimmt und leitet alle Angelegenheiten bezüglich der Immigration, der Ausstellung von Reisepässen, der Einreise in das Land und der Ausreise aus dem Land sowie von Flüchtlingen und Asyl. (19) Er patentiert Erfi ndungen und schützt Copyrights. (20) Er legt einheitliche Meßstandards und den Kalender fest. (21) Er setzt Gesetze zur Regelung des Besitzes und des Tragens von Feuerwaffen in Kraft. Artikel 52 Die Befugnisse und Funktionen der Staaten (1) Alle Befugnisse, die nicht getrennt der Bundesregierung oder ausdrücklich und konkurrierend den Staaten und dem Bundesstaat übertragen werden, sind den Staaten vorbehalten. (2) Entsprechend Abs. (1) dieses Artikels haben die Staaten die folgenden Befugnisse: a) eine Staatsverwaltung aufzubauen, die bestmöglich die Selbstverwaltung, eine auf dem Primat des Gesetzes beruhende demokratische Ordnung und den Schutz und die Verteidigung der Bundesverfassung bewirkt; b) Verfassungen und andere Gesetze in Kraft zu setzen und auszuführen; c) Politik, Strategien und Pläne für ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zu formulieren und umzusetzen; d) das Land und die Nutzung anderer Naturressourcen in Übereinstimmung mit den Bundesgesetzen zu verwalten; e) Steuern und Abgaben zu erheben und einzuziehen, die den Staaten als Einnahmen zukommen, und das Staatsbudget zu erarbeiten und zu verwalten; f ) Gesetze über Verwaltungsangelegenheiten und die Dienstbedingungen für Staatsangestellte in Kraft zu setzen. Bei der Durchsetzung dieser Zuständigkeit ist zu sichern, daß die Anforderungen hinsichtlich Bildung, Ausbildung und Er-
Die Verfassung Äthiopiens fahrung für jede Verwaltungsposition dem durchschnittlichen nationalen Standard annähernd entsprechen; g) eine Staatspolizei aufzubauen und zu unterhalten und die öffentliche Ordnung und den Frieden innerhalb des Staates aufrechtzuerhalten. Kapitel VI: Die Räte der Demokratischen Bundesrepublik Artikel 53 Die Räte Es gibt zwei Räte der Demokratischen Bundesrepublik: den Rat der Volksvertreter und den Bundesrat. Teil I: Der Rat der Volksvertreter Artikel 54 Die Mitglieder des Rates der Volksvertreter (1) Die Mitglieder des Rates der Volksvertreter werden auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts in direkten, freien und fairen Wahlen für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt. Einzelheiten werden durch Gesetz geregelt. (2) Die Mitglieder werden aus den Kandidaten jedes Wahlbezirkes durch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt. Durch Gesetz werden Vorkehrungen zur gesonderten Vertretung von nationalen Minderheiten getroffen. (3) Die Anzahl der Mitglieder des Rates, die auf der Grundlage der Bevölkerungsstärke und der gesonderten Vertretung der nationalen Minderheiten festgelegt wird, beträgt maximal 550, davon haben die nationalen Minderheiten mindestens 20 Sitze. Einzelheiten werden durch Gesetz geregelt. (4) Die Mitglieder des Rates sind Vertreter des gesamten äthiopischen Volkes. Sie lassen sich leiten von: a) der Verfassung b) dem Volkswillen und c) ihrem Gewissen. (5) Ein Mitglied des Rates darf nicht aufgrund einer von ihm im Rat abgegebenen Stimme oder Meinung strafrechtlich belangt werden, noch darf aus diesem Grund ein Verwaltungsverfahren gegen ein Mitglied eingeleitet werden. (6) Ein Mitglied des Rates darf ohne Zustimmung des Rates nicht wegen eines Verbrechens verhaftet oder wegen eines Verbrechens angeklagt werden, es sei denn, es wurde beim Begehen der Tat gefaßt.
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(7) Ein Mitglied des Rates kann bei Verlust des Vertrauens der Wähler sein Mandat verlieren. Artikel 55 Die Befugnisse und Funktionen des Rates der Volksvertreter (1) Der Rat der Volksvertreter übt die legislative Gewalt in Fragen aus, die durch diese Verfassung in die Zuständigkeit des Bundes übertragen wurden. (2) In Übereinstimmung mit Abs. (1) dieses Artikels kann der Rat der Volksvertreter spezielle Gesetze zu folgenden Fragen erlassen: a) Land und andere Naturressourcen, die Nutzung von Seen und Flüssen, deren Wasser zwei oder mehrere Staaten verbinden oder über deren Grenzen fl ießen; b) Handel zwischen den Bundesstaaten und Außenhandel; c) Luft-, Schienen-, Wasser- und Seetransport, Hauptstraßen zwischen den Staaten, Post- und Telekommunikationsdienste; d) Durchsetzung der durch die Verfassung gesicherten politischen Rechte, Wahlgesetze und -verfahren; e) Nationalität, Immigration, Reisepaß, Ausreise aus dem und Einreise in das Land, Rechte von Flüchtlingen und Asyl; f ) einheitliche Meßstandards und Kalender; g) Patente und Copyrights; h) den Besitz und das Tragen von Feuerwaffen. (3) Arbeitsgesetzbuch. (4) Handelsgesetzbuch. (5) Strafgesetzbuch. Die Staaten können zu Fragen, die nicht in der Bundesstrafgesetzgebung geregelt sind, Strafgesetze erlassen. (6) Zivilgesetze, die vom Bundesrat als notwendig erachtet werden, um eine wirtschaftliche Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und zu pflegen. (7) Die Organisation der nationalen Verteidigung, der öffentlichen Sicherheit und einer nationalen Polizei. Wenn das Verhalten dieser Streitkräfte gegen die Menschenrechte und die Sicherheit der Nation verstößt, führt er die Untersuchungen und die notwendigen Maßnahmen durch. (8) In Übereinstimmung mit Art. 93 der Verfassung ruft er auf der Grundlage eines Notstandsbeschlusses des Ministerrates den Notstand aus. (9) Auf Grundlage einer Gesetzesvorlage des Ministerrates ruft er den Kriegszustand aus. (10) Er bestätigt die allgemeine Politik und Strategie der wirtschaftlichen und gesellschaft-
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lichen Entwicklung sowie die Steuer- und Geldpolitik des Landes. Er setzt Gesetze zu Fragen der Verwaltung der Nationalbank, des Devisenumtausches und der inländischen Währung in Kraft. (11) Er erhebt Steuern und Abgaben auf dem Bundesstaat vorbehaltene Einnahmequellen. Er ratifi ziert das Budget des Bundes. (12) Er ratifi ziert von der Exekutive ausgehandelte und unterzeichnete internationale Vereinbarungen. (13) Er bestätigt die Berufung der Bundesrichter, der Mitglieder des Ministerrates, der Commissioner, des Staatsrevisors und anderer Beamter, deren Berufung gemäß dem Gesetz durch ihn bestätigt werden muß. (14) Er richtet eine Menschenrechtskommission ein und bestimmt deren Befugnisse und Aufgaben durch Gesetz. (15) Er richtet die Institution des Ombudsmanns ein. Er wählt ihre Mitglieder und bestimmt durch Gesetz ihre Vollmachten und Aufgaben. (16) Er beantragt die gemeinsame Sitzung des Rates der Volksvertreter und des Bundesrates, um die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, wenn die staatlichen Behörden nicht in der Lage sind, Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Auf der Grundlage der gemeinsamen Ratsentscheidungen gibt er den betreffenden staatlichen Behörden Anweisungen. (17) Er hat die Vollmacht, den Premierminister und andere Amtsträger des Bundes vorzuladen und zu befragen und zu prüfen, ob die Exekutive ihrer Verantwortung gerecht wird. (18) Er erörtert auf Antrag eines Drittels der Mitglieder Fragen, die Befugnisse der Exekutive betreffen. Er hat in solchen Fällen das Recht, Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu verfügen, die er als notwendig erachtet. (19) Er wählt den Sprecher und den Stellvertretenden Sprecher des Rates. Er schafft ständige und zeitweilige Kommissionen, die ihm für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendig erscheinen.
Artikel 57 Die Annahme von Gesetzen Der Rat legt dem Präsidenten alle durch ihn verabschiedeten Gesetze vor. Der Präsident unterzeichnet ein ihm vorgelegtes Gesetz innerhalb von fünfzehn Tagen. Wenn der Präsident das Gesetz nicht innerhalb von fünfzehn Tagen unterzeichnet, tritt es ohne Unterschrift in Kraft.
Artikel 56 Die Befugnis der Regierungsbildung Eine politische Partei oder eine Koalition von politischen Parteien, die die größte Anzahl von Sitzen im Rat hat, bildet die Exekutive und führt sie.
Artikel 60 Die Auflösung des Rates (1) Mit Zustimmung des Präsidenten kann der Premierminister den Rat vor Ablauf seiner Legislaturperiode auflösen, um Neuwahlen durchzuführen. (2) Der Präsident kann die politischen Parteien zur Bildung einer Koalitionsregierung innerhalb einer Woche aufrufen, wenn der Ministerrat einer vorherigen Koalition aufgrund des Mehr-
Artikel 58 Die Sitzungen des Rates und deren Dauer (1) Ist mehr als die Hälfte der Mitglieder des Rates anwesend, ist dieser beschlußfähig. (2) Die jährliche Sitzungsperiode des Rates beginnt am Montag der letzten Woche des äthiopischen Monats Meskerem und endet am 30. Tag des äthiopischen Monats Sene. Der Rat kann sich während seiner jährlichen Sitzungsperiode für einen Monat Unterbrechung vertagen. (3) Die Ratsmitglieder werden für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt. Einen Monat vor Ablauf der Legislaturperiode des Rates fi nden Wahlen zum neuen Rat statt. (4) Der Sprecher des Rates kann eine Ratstagung einberufen, wenn der Rat seine Sitzung unterbrochen hat. Der Sprecher des Rates muß auf Antrag von mindestens der Hälfte der Mitglieder eine Tagung einberufen. (5) Die Tagungen des Rates sind öffentlich. Der Rat kann eine geschlossene Tagung durchführen, wenn die Exekutive oder Ratsmitglieder eine geschlossene Sitzung beantragen und wenn ein solcher Antrag von mindestens der Hälfte der Ratsmitglieder unterstützt wird. Artikel 59 Die Entscheidungen des Rates und die Verfahrensregeln (1) Sofern in der Verfassung nicht anders vorgesehen, werden die Ratsentscheidungen durch die Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder getroffen. (2) Der Rat bestätigt Regeln und Verfahrensweisen hinsichtlich der Organisation seiner Arbeit und des Gesetzgebungsprozesses.
Die Verfassung Äthiopiens heitsverlustes im Rat aufgelöst wurde. Der Rat kann aufgelöst werden, und es werden Neuwahlen durchgeführt, wenn sich die politischen Parteien nicht einigen, die gegenwärtige Koalition weiterzuführen, oder keine neue Mehrheitskoalition bilden können. (3) Neuwahlen werden in Übereinstimmung mit Abs. (1) und (2) dieses Artikels innerhalb von sechs Monaten nach Auflösung des Rates durchgeführt. (4) Der neue Rat tritt innerhalb von 30 Tagen nach Abschluß der Wahlen zusammen. (5) Nach Auflösung des Rates führt die frühere Regierungspartei oder die regierende Koalition die Amtsgeschäfte weiter. Mit Ausnahme der Tagesgeschäfte und der Organisation der Wahlen erläßt sie jedoch keine neuen Gesetze und Verordnungen und ändert oder annulliert keine bestehenden Gesetze. Teil II: Der Bundesrat Artikel 61 Die Mitglieder des Bundesrates (1) Der Bundesrat besteht aus den Vertretern der Nationen, Nationalitäten und Völker. (2) Jede Nation, jede Nationalität und jedes Volk ist im Bundesrat durch mindestens ein Mitglied vertreten. Jede Nation oder Nationalität ist je Bevölkerungsmillion mit einem weiteren Mitglied vertreten. (3) Die Mitglieder des Bundesrates werden durch die Staatsräte gewählt. Die Staatsräte können sie direkt wählen oder sie können Wahlen durchführen, um die Mitglieder des Bundesrates vom Volk wählen zu lassen. Artikel 62 Die Befugnisse und Funktionen des Bundesrates (1) Der Bundesrat hat die Befugnis, die Verfassung zu interpretieren. (2) Er schafft den Rat für Verfassungskontrolle. (3) Er entscheidet auf der Grundlage der Verfassung über Klagen, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Nationalitäten und Völker, einschließlich des Rechtes auf Sezession, beruhen. (4) Er fordert die in der Verfassung verankerte Gleichheit der Völker Äthiopiens und deren Einheit auf der Grundlage gegenseitigen Einvernehmens. (5) Er übt die Befugnisse und die Funktionen
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aus, die ihm und dem Rat der Volksvertreter konkurrierend übertragen wurden. (6) Er sucht nach Lösungen für Streitigkeiten und Mißverständnisse, die zwischen den Staaten auf kommen können. (7) Er legt die Verteilung der Einnahmen aus den gemeinsamen Bundes- und Staatensteuern und die Zuschüsse fest, welche die Bundesregierung den Staaten gewähren kann. (8) Er ordnet die Intervention des Bundes an, wenn ein Staat die verfassungsmäßige Ordnung bedroht. (9) Er beruft zeitweilige und ständige Kommissionen. (10) Er wählt den Sprecher und den Stellvertretenden Sprecher des Rates und nimmt Verwaltungs- und Verfahrensregeln an. Artikel 63 Die Immunität der Mitglieder des Bundesrates (1) Ein Mitglied des Rates darf ohne Zustimmung des Rates nicht verhaftet oder wegen eines Verbrechens angeklagt werden, es sei denn, es wurde beim Begehen der Tat gefaßt. (2) Ein Mitglied des Rates darf nicht aufgrund einer von ihm im Rat abgegebenen Stimme oder Meinung strafrechtlich belangt werden, und es dürfen aus diesem Grund keinerlei Verwaltungsverfahren gegen ein Mitglied eingeleitet werden. Artikel 64 Die Entscheidungen und Verfahrensregeln des Bundesrates (1) Der Rat ist beschlußfähig, wenn zwei Drittel seiner Mitglieder anwesend sind. Alle Entscheidungen erfordern die Zustimmung der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder. (2) Ratsmitglieder können nur abstimmen, wenn sie persönlich anwesend sind. Artikel 65 Das Budget Der Bundesrat legt dem Rat der Volksvertreter sein Budget zur Bestätigung vor. Artikel 66 Die Befugnisse des Sprechers des Bundesrates (1) Der Sprecher führt bei den Sitzungen des Bundesrates den Vorsitz. (2) Er leitet im Auftrage des Rates alle seine administrativen Angelegenheiten. (3) Er setzt die vom Rat gegen seine Mitglieder ergriffenen Disziplinarmaßnahmen durch.
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Artikel 67 Die Sitzungsperiode und die Dauer des Mandats des Bundesrates (1) Der Bundesrat führt mindestens zwei Sitzungsperioden jährlich durch. (2) Die Dauer des Mandats des Bundesrates beträgt fünf Jahre. Artikel 68 Das Verbot der gleichzeitigen Mitgliedschaft in zwei Räten Ein Mitglied eines Rates kann nicht gleichzeitig Mitglied eines anderen Rates sein. Kapitel VII: Der Präsident der Republik Artikel 69 Der Präsident Der Präsident der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien ist das Staatsoberhaupt. Artikel 70 Die Nominierung und Berufung des Präsidenten (1) Der Rat der Volksvertreter nominiert den Präsidentschaftskandidaten. (2) Der Kandidat wird zum Präsidenten gewählt, wenn die Räte auf einer gemeinsamen Sitzung ihn mit einer Zweidrittelmehrheit wählen. (3) Ein Mitglied eines der Räte gibt seinen Sitz auf, wenn es zum Präsidenten gewählt wird. (4) Die Amtszeit des Präsidenten beläuft sich auf sechs Jahre. Niemand darf für mehr als zwei Amtsperioden zum Präsidenten gewählt werden. (5) Nach seiner Wahl entsprechend Abs. (2) dieses Artikels stellt sich der Präsident vor der Übernahme seiner Verantwortung auf einer gemeinsamen Sitzung der Räte zu einem von dieser festgelegten Zeitpunkt vor und erklärt mit den folgenden Worten seine Loyalität gegenüber der Verfassung und den Völkern Äthiopiens: „Ich, . . . . . . . . . . . ., gelobe, wenn ich am (Datum des Tages) mein Amt als Präsident der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien übernehme, die mir übertragene hohe Verantwortung gewissenhaft wahrzunehmen.“ Artikel 71 Die Befugnisse und Funktionen des Präsidenten (1) Er eröffnet die gemeinsame Sitzung des Rates der Volksvertreter und des Bundesrates zu Beginn ihrer jährlichen Sitzungsperiode.
(2) Er verkündet mit seiner Unterschrift die vom Rat der Volksvertreter verabschiedeten Gesetze in der Negarit Gazette. (3) Er ernennt die ihm vom Premierminister benannten Kandidaten als Botschafter oder Außerordentliche Gesandte zur Vertretung des Landes im Ausland. (4) Er nimmt die Akkreditierungsschreiben der ausländischen Gesandten und Botschafter entgegen. (5) Er vergibt Medaillen, Preise und Zuwendungen entsprechend den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensweisen. (6) Er verleiht entsprechend den gesetzlichen Vorschriften hohe militärische Ränge an die ihm vom Premierminister benannten Kandidaten. (7) Er gewährt entsprechend den gesetzlich festgelegten Verfahren Begnadigungen. Kapitel VIII: Die Exekutive Artikel 72 Die Befugmisse der Exekutive (1) Die oberste Exekutivgewalt der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien liegt beim Premierminister und dem Ministerrat. (2) Der Premierminister und der Ministerrat sind dem Rat der Volksvertreter verantwortlich. Die Mitglieder des Ministerrates sind für die im Rat getroffenen Entscheidungen kollektiv verantwortlich. (3) Sofern in dieser Verfassung nicht anderweitig vorgesehen, entspricht die Amtszeit des Premierministers der Legislaturperiode des Rates der Volksvertreter. Artikel 73 Die Berufung des Premierministers (1) Der Premierminister wird vom Rat der Volksvertreter aus den Reihen seiner Mitglieder gewählt. (2) Die Partei oder die Parteienkoalition, die die Mehrheit im Rat der Volksvertreter hat, übernimmt die Exekutivgewalt. Artikel 74 Die Befugnisse und Aufgaben des Premierministers (1) Der Premierminister ist der oberste Exekutivbeamte, der Vorsitzende des Ministerrates und der Oberbefehlshaber der nationalen Streitkräfte. (2) Der Premierminister präsentiert dem Rat der Volksvertreter zum Zwecke der Bestätigung die Kandidaten für die Ministerämter, die Mit-
Die Verfassung Äthiopiens glieder eines der beiden Räte sind oder Personen darstellen, die nicht Mitglied eines der beiden Räte sind, jedoch nach seiner Einschätzung die erforderlichen Qualifi kationen besitzen. (3) Er sichert die Durchsetzung der Gesetze, der Politik, der Direktiven und der anderen Entscheidungen, die der Rat der Volksvertreter beschlossen hat. (4) Er leitet den Ministerrat, koordiniert dessen Arbeit und wirkt als sein Repräsentant. (5) Er kontrolliert die Durchsetzung der Politik, der Anordnungen, der Direktiven und der anderen Entscheidungen, die der Ministerrat beschlossen hat. (6) Er kontrolliert die Durchsetzeng der Außenpolitik des Landes. (7) Er wählt die Kandidaten für die Ämter des Obersten Richters und des Stellvertreters des Obersten Richters des Obersten Bundesgerichtes sowie des Staatsrevisors aus und präsentiert sie dem Rat der Volksvertreter zur Bestätigung. (8) Er sichert die Effektivität der Bundesverwaltung und ergreift die erforderlichen Korrekturmaßnahmen. (9) Er beruft die Beamten der Bundesregierung, die nicht diejenigen sind, die in Abs. (2) und (3) dieses Artikels genannt werden. (10) In Übereinstimmung mit den Gesetzen und den Entscheidungen des Rates der Volksvertreter benennt er dem Präsidenten die Kandidaten für die Vergabe von Medaillen, Preisen und Zuwendungen. (11) Er legt dem Rat der Volksvertreter periodisch Berichte über die Arbeit der Exekutive sowie deren Pläne und Vorhaben vor. (12) Er nimmt alle ihm durch diese Verfassung und andere Gesetze übertragenen Verantwortlichkeiten wahr. (13) Er achtet und schützt die Verfassung. Artikel 75 Der Stellvertretende Premierminister (1) Der Stellvertretende Premierminister: a) nimmt alle ihm durch den Premierminister übertragenen Verantwortlichkeiten wahr; b) ist bei Abwesenheit des Premierministers an seiner Stelle tätig; (2) Der Stellvertretende Premierminister ist dem Premierminister verantwortlich. Artikel 76 Der Ministerrat (1) Die Mitglieder des Ministerrates sind der Premierminister, der Stellvertretende Premierminister, die Minister der Bundesregierung und
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andere Bundesbeamte, deren Mitgliedschaft durch Gesetz festgelegt ist. (2) Der Ministerrat ist dem Premierminister verantwortlich. (3) Der Ministerrat ist dem Rat der Volksvertreter bei allen seinen Entscheidungen verantwortlich. Artikel 77 Die Befugnisse und Aufgaben des Ministerrates (1) Der Ministerrat sichert die Umsetzung der vom Rat der Volksvertreter angenommenen Gesetze und Beschlüsse. (2) Er entscheidet über die Organisationsstruktur der Ministerien und anderer Verwaltungsbehörden, die ihm und den Ministerien verantwortlieh sind. Er koordiniert deren Arbeit und leitet sie an. (3) Er entwirft das Jahresbudget des Bundes und setzt es nach Bestätigung durch den Rat der Volksvertreter um. (4) Er sichert die ordnungsgemäße Durchsetzung der Finanz- und Geldpolitik des Landes und die ordnungsgemäße Verwaltung der Nationalbank. Er entscheidet über die Geldemission und die Aufnahme von inneren und äußeren Anleihen und reguliert die Geld- und Devisenzirkulation. (5) Er schützt Patente und Copyrights. (6) Er formuliert die Wirtschafts- und Sozialpolitik und -strategie und setzt sie um. (7) Er legt einheitliche Meßstandards und den Kalender fest. (8) Er formuliert die Außenpolitik des Landes und übt die Kontrolle ihrer Durchsetzung aus. (9) Er sichert die Einhaltung von Recht und Ordnung. (10) Er entscheidet über die Organisationsstrukturen der Bundesministerien und anderer den Ministerien unterstehender Verwaltungseinrichtungen des Bundes. (11) Er ruft den Notstand aus und legt diese Verfügung innerhalb der verfassungsmäßig festgelegten Zeit dem Rat der Volksvertreter zur Bestätigung vor. (12) Er legt dem Rat der Volksvertreter Gesetzesentwürfe vor, die in seinen Kompetenzbereich fallen, einschließlich der Gesetze über die Kriegserklärung. (13) Er nimmt andere Verantwortlichkeiten wahr, die ihm von Rat der Volksvertreter und vom Premierminister übertragen werden können.
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Textanhang Kapitel IX: Die Struktur und die Befugnisse der Gerichte
Artikel 78 Die Unabhängigkeit der Justiz (1) Es wird eine unabhängige Justiz eingerichtet. (2) Die oberste Gerichtsgewalt liegt beim Obersten Bundesgericht. Der Rat der Volksvertreter kann durch Zweidrittelmehrheitsbeschluß im ganzen Land oder in einigen Regionen solche Hohe Bundesgerichte und Erstinstanzgerichte einrichten, die er für notwendig hält. Wenn und solange keine solche unter/nachgeordneten Bundesgerichte geschaffen worden sind, liegen die Erstinstanzvollmachten bei den Gerichten der Staaten. (3) Die Staaten richten Oberste und Hohe Gerichte sowie Erstinstanzgerichte ein. Zu diesem Zweck werden gesonderte Gesetze erlassen. (4) Die Schaffung von Sondergerichten oder zeitweiligen Gerichtshöfen außerhalb des regulären Gerichtssystem oder außerhalb von Institutionen, die rechtlich ermächtigt sind, Gerichtsfunktionen auszuüben, und die rechtlich vorgeschriebene Verfahrensweisen anwenden, ist verboten. (5) Entsprechend Abs. (5) des Art. 34 können der Rat der Volksvertreter und die Staatsräte religiöse oder Gewohnheitsgerichte schaffen oder sie offi ziell anerkennen. Religiöse oder Gewohnheitsgerichte, die von der Regierung anerkannt sind und bereits vor der Ratifi zierung der Verfassung tätig waren, sind auf der Basis der ihnen kraft Verfassung gewährten Anerkennung zu organisieren. Artikel 79 Die richterliche Gewalt (1) Sowohl auf der Bundes- als auch auf der Staatsebene liegt die richterliche Gewalt bei den Gerichten. (2) Gerichte aller Ebenen sind frei von Einmischung oder Einflußnahme der Regierungsbehörden. Regierungsbeamten oder sonstiger anderer Kräfte. (3) Die Richter üben ihr Amt in voller Unabhängigkeit aus und lassen sich allein vom Gesetz leiten. (4) Vor Erreichen des gesetzlichen Ruhestandsalters darf ein Richter nur unter folgenden Voraussetzungen von seinem Amt entbunden werden: a) wenn die Justizkommission entscheidet, ihn aufgrund von Verletzungen der Disziplinarord-
nung oder aus Gründen erheblicher Inkompetenz oder Ineffektivität von dem Amt zu entbinden; oder b) wenn die Justizkommission entscheidet, daß ein Richter sein Amt wegen Krankheit nicht länger ausüben kann; und c) wenn der Rat der Volksvertreter oder der Staatsrat mehrheitlich die Entscheidungen der Justizkommission bestätigt. (5) Das Ruhestandsalter eines Richters darf nicht über das gesetzliche Ruhestandsalter hinaus verschoben werden. (6) Das Oberste Bundesgericht entwirft das Verwaltungsbudget der Bundesgerichte und legt es dem Rat der Volksvertreter zur Bestätigung vor. Nach der Bestätigung setzt es das Budget durch. (7) Die Verwaltungsbudgets der Gerichte der Staaten werden durch die Staatsräte festgelegt. Der Rat der Volksvertreter entschädigt die Staaten für Aufwendungen, die deren Obersten und Hohen Gerichten durch die Verhandlung von Bundesstreitigkeiten entstehen. Artikel 80 Die gemeinsame Rechtsprechung der Gerichte (1) Das Oberste Bundesgericht ist die höchste und letzte Instanz der Rechtsprechung in Bundesangelegenheiten. (2) Die Obersten Gerichte der Staaten sind die höchste und endgültige Instanz der Rechtsprechung in Angelegenheiten der Staaten. Sie üben auch die Rechtsprechung des Hohen Bundesgerichtes aus. (3) Ungeachtet der Bestimmungen der Abs. (1) und (2): a) kann das Oberste Bundesgericht zur Korrektur grundlegender Rechtsfehler rechtsgültige Entscheidungen durch Kassation prüfen und korrigieren. b) kann das Oberste Bundesgericht zur Korrektur grundlegender Rechtsfehler rechtsgültige Entscheidungen über Angelegenheiten der Staaten durch Kassation prüfen und korrigieren. (4) Die Hohen Gerichte der Staaten üben neben der Rechtsprechung der Staaten die erstinstanzliche Rechtsprechung des Bundes aus. (5) Gegen die Entscheidungen der Hohen Gerichte der Staaten in erstinstanzlicher Rechtsprechung in Bundesangelegenheiten kann bei den Obersten Gerichten der Staaten Berufung eingelegt werden. (6) Gegen Entscheidungen eines Obersten Gerichts eines Staates in Bundesangelegenheiten kann beim Obersten Bundesgericht Berufung eingelegt werden.
Die Verfassung Äthiopiens Artikel 81 Berufung der Richter (1) Der Rat der Volksvertreter beruft auf Vorschlag des Premierministers den Obersten Richter und den Stellvertretenden Obersten Richter des Obersten Bundesgerichtes. (2) Der Rat der Volksvertreter beruft auf Vorschlag des Premierministers, der auf einer durch die Bundesjustizkommission getroffenen Auswahl beruht, die Bundesrichter. (3) Die Staatsräte berufen auf der Grundlage der Nominierungen durch die Staatschefs in ihrer Eigenschaft als Chef der Exekutive den Obersten Richter des Obersten Staatsgerichtes und dessen Stellvertreter. (4) Die Staatsräte berufen ebenso die Richter des Obersten Gerichts und der Hohen Gerichte der Staaten auf der Grundlage der ihnen von den Justizkommissionen der Staaten vorgelegten Nominierungen. Die Justizkommissionen der Staaten müssen vor Vorlage ihrer Nominierungen bei ihren Staatsräten die Meinung der Bundesjustizkommission hinsichtlich ihrer Kandidaten einholen und diese Meinung zusammen mit ihren Empfehlungen vorlegen. Wenn die Bundesjustizkommission ihre Meinung nicht innerhalb von drei Monaten äußert, beruft der Staatsrat die Kandidaten. (5) Die Staatsräte berufen alle Richter der ersten Instanz der Staaten auf der Grundlage der ihnen durch die Justizkommission der Staaten übermittelten Vorschläge. (6) Die zuständige Justizkommission entscheidet bezüglich der Disziplin und der Versetzung aller Richter. Artikel 82 Die Struktur des Rates für Verfassungskontrolle (1) Die Verfassung richtet den Rat für Verfassungskontrolle ein. (2) Der Rat für Verfassungskontrolle hat elf Mitglieder. Seine Mitglieder sind: a) der Oberste Richter des Obersten Bundesgerichtes als Präsident; b) der Stellvertreter des Obersten Richters des Obersten Bundesgerichtes als Vizepräsident; c) sechs Rechtsexperten, die auf Vorschlag des Rates der Volksvertreter aufgrund ihrer beruflichen Kompetenz und moralischen Zuverlässigkeit durch den Präsidenten der Republik berufen werden; d) drei Personen, die der Bundesrat aus den Reihen seiner Mitglieder benennt. (3) Der Rat für Verfassungskontrolle richtet die institutionellen Strukturen ein, die die ange-
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messene Ausübung seiner Aufgaben gewährleisten. Artikel 83 Die Interpretation der Verfassung (1) Alle Verfassungsstreitigkeiten werden durch den Bundesrat entschieden. (2) Der Bundesrat entscheidet innerhalb von dreißig Tagen nach Zustellung eines Streitfalles durch das Verfassungsgericht. Artikel 84 Die Befugnisse und Funktionen des Rates für Verfassungskontrolle (1) Der Rat für Verfassungskontrolle hat judikative Vollmachten. Seine Entscheidungen werden jedoch erst nach Bestätigung durch den Bundesrat endgültig. (2) Der Rat für Verfassungskontrolle legt nach Prüfung der ihm durch ein Gericht oder eine Partei des Streites vorgelegten Klage bezüglich eines Verstoßes gegen diese Verfassung durch Bundes- oder Staatsgesetze seine Feststellung dem Bundesrat zur endgültigen Entscheidung vor. (3) Der Rat für Verfassungskontrolle entwirft eine Verfahrensordnung und legt diesen Entwurf dem Bundesrat zur Bestätigung vor. (4) Sollten Fragen der Verfassungsinterpretation an anderen Gerichten entstehen, verfährt der Rat für Verfassungskontrolle folgendermaßen: a) Wenn er keine Gründe für eine Verfassungsinterpretation fi ndet, gibt er den Fall an das zuständige Gericht zurück. Sollte eine Partei mit der Entscheidung des Rates für Verfassungskontrolle nicht einverstanden sein, kann sie sich an den Bundesrat wenden; b) wenn er einen Grund zur Verfassungsinterpretation fi ndet, entscheidet er den Fall und gibt die Entscheidung zur endgültigen Bestätigung an den Bundesrat. Kapitel X: Die Direktiven der nationalen Politik Artikel 85 Das Ziel (1) Öffentliche Einrichtungen lassen sich bei der Umsetzung dieser Verfassung, anderer Gesetze und öffentlicher Politik von den in diesem Artikel enthaltenen Grundprinzipien und Zielen leiten. (2) Der Terminus Regierung bezeichnet entsprechend dem Kontext in diesem Kapitel den Bundesstaat oder einen Mitgliedsstaat.
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Artikel 86 Die Direktiven für die Auslandsbeziehungen (1) Achtung der Gleichheit und Souveränität anderer Staaten und die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten. (2) Förderung der Auslandsbeziehungen auf der Basis der Gleichheit und der Achtung der gemeinsamen Interessen; Sicherung der Achtung der Interessen Äthiopiens in internationalen Abkommen. (3) Einhaltung internationaler Vereinbarungen, die die Souveränität und die Interessen der Völker Äthiopiens achten und mit ihnen übereinstimmen. (4) Förderung der brüderlichen Beziehungen zu den Nachbarn Äthiopiens und anderen afrikanischen Ländern und Herstellung engerer wirtschaftlicher Beziehungen zu ihnen. (5) Suchen nach friedlichen Lösungen für internationale Streitfragen und Unterstützung solcher Lösungen. Artikel 87 Die Direktiven für die nationale Verteidigung (1) Die Zusammensetzung der nationalen Verteidigungskräfte bringt die gleichrangige Vertretung der Nationen, Nationalitäten und Völker Äthiopiens zum Ausdruck. (2) Der Verteidigungsminister ist ein Zivilist. (3) Die nationalen Verteidigungskräfte schützen die Souveränität des Landes. Sie nehmen die ihnen übertragenen Befugnisse bei jedem gemäß dieser Verfassung ausgerufenem Notstand wahr. (4) Die nationalen Verteidigungskräfte lassen sich zu jeder Zeit von dieser Verfassung leiten. (5) Die nationalen Verteidigungskräfte üben ihre Pfl ichten frei von jeglicher Parteinahme für eine politische Partei oder politische Organisation aus. Artikel 88 Die politischen Ziele (1) Geleitet von demokratischen Prinzipien, fordert und unterstützt die Regierung die Selbstregierung der Völker auf allen Ebenen. (2) Die Regierung achtet die Identität und Gleichheit der Nationen, Nationalitäten und Völker. Entsprechend hat die Regierung die Pfl icht, die Bande der Gleichheit, Einheit und Brüderlichkeit unter ihnen zu stärken.
Artikel 89 Die wirtschaftlichen Ziele (1) Die Regierung hat die Pfl icht, die Politik so zu gestalten, daß alle Äthiopier ohne Diskriminierung von den natürlichen und geistigen Ressourcen des Landes profitieren. (2) Die Regierung hat die Pfl icht zu sichern, daß alle Äthiopier ohne Diskriminierung die gleichen Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse haben und in gleichem Maße von der Verteilung des Reichtums profitieren. (3) Die Regierung ergreift Maßnahmen zum Schutz vor Naturkatastrophen und solchen, die von Menschen verursacht werden, und stellt im Katastrophenfall den Opfern schnelle Hilfe zur Verfügung. (4) Die Regierung gewährt den Nationen, Nationalitäten und Völkern, die wirtschaftlich und sozial am wenigsten entwickelt sind, besondere Unterstützung. (5) Die Regierung ist verpfl ichtet, Land und andere Naturreichtümer für die Völker Äthiopiens zu bewahren, damit sie zum gemeinsamen Nutzen und für die Entwicklung zur Verfügung stehen. (6) Die Regierung fördert auf allen Ebenen die Teilnahme der Völker an der Ausarbeitung der nationalen Entwicklungspolitik und -programme. Die Regierung hat die Pfl icht, die Initiativen der Völker zu ihrer Entwicklung zu unterstützen. (7) Die Regierung sichert die gleichberechtigte Teilnahme der Frauen an allen Programmen und Projekten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. (8) Die Regierung bemüht sich, die Gesundheit, das Wohlergehen und den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung des Landes zu schützen und zu fördern. Artikel 90 Die sozialen Ziele (1) In dem Maße, wie es die Ressourcen des Landes gestatten, zielt die Politik darauf ab, allen Äthiopiern Zugang zum öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen, zu sauberem Wasser, zu Wohnung, Lebensmitteln und sozialer Sicherheit zu gewähren. (2) Öffentliche und private Bildung ist frei von jeglicher politischer Parteinahme, religiösem Einfluß oder kulturellem Vorurteil zu vermitteln.
Die Verfassung Äthiopiens Artikel 91 Die kulturellen Ziele (1) Die Regierung hat die Pfl icht, die Kultur und die Traditionen, die mit demokratischen Normen und den Bestimmungen dieser Verfassung übereinstimmen, auf der Grundlage der Gleichheit, der Achtung der grundlegenden demokratischen Rechte und der Menschenwürde zu bewahren und zu bereichern. (2) Die Regierung und alle äthiopischen Bürger haben die Pfl icht, die Natur und die historischen Stätten und Güter des Landes zu schützen. (3) Die Regierung hat die Pfl icht, in dem Maße, wie es ihre Ressourcen gestatten, die Entwicklung von Kunst, Wissenschaft und Technik zu unterstützen. Artikel 92 Die Umweltziele (1) Die Regierung hat die Pfl icht zu sichern, daß alle Athiopier in einer sauberen und gesunden Umwelt leben. (2) Die Gestaltung und Umsetzung von Programmen und Projekten der Entwicklung dürfen die Umwelt nicht beschädigen oder zerstören. (3) Die Menschen haben das Recht, nach ihrer Meinung befragt zu werden und diese in die Planung und Umsetzung von Umweltpolitik und -projekten, die sie direkt betreffen, einzubringen. (4) Die Regierung und die Bürger haben die Pfl icht, die Umwelt zu schützen. Kapitel XI: Spezielle Bestimmungen Artikel 93 [Die Ausrufung des Notstandes] (1)a) Der Ministerrat der Bundesregierung ist befugt, den Notstand auszurufen, wenn das Land oder ein Teil des Landes durch folgende Umstände bedroht ist: eine Invasion von außen; ein Zusammenbruch von Recht und Ordnung, der von den regulären Rechtspflegeeinrichtungen und deren Personal nicht kontrolliert werden kann; eine Naturkatastrophe oder der Ausbruch von Epidemien, die das Leben der Bevölkerung gefährden. b) Die Exekutiven der Staaten können den Notstand ausrufen, wenn ihre Staaten durch eine Naturkatastrophe oder den Ausbruch von Epidemien, die das Leben der Bevölkerung gefährden, bedroht sind. Die Staaten nehmen in ihre Verfassungen spezielle Verfahrensweisen auf, die dieser Verfassung entsprechen.
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(2) Ein durch den Ministerrat entsprechend Abs. (1) Buchst. a dieses Artikels ausgerufener Notstand unterliegt dem nachfolgend aufgeführten Verfahren: a) Während der Sitzungsperiode des Rates der Volksvertreter wird ihm der Beschluß innerhalb von achtundvierzig Stunden nach seiner Annahme vorgelegt. Der Beschluß wird annulliert, wenn er nicht von einer Zweidrittelmehrheit des Rates gebilligt wird. b) Außerhalb der Sitzungsperiode des Rates der Volksvertreter wird ihm der Notstandsbeschluß innerhalb von fünfzehn Tagen zwecks Annahme vorgelegt. Die Bestimmung zur Annahme des Beschlusses aus Buchst. a gilt hier entsprechend. (3) Die durch den Rat der Volksvertreter bestätigte Ausrufung des Notstandes gilt für sechs Monate. Der Rat kann die Notstandsproklamation jedoch durch Votum einer Zweidrittelmehrheit um weitere vier Monate verlängern. (4)a) Der Ministerrat nimmt entsprechend den von ihm verabschiedeten Erlassen und Direktiven die zum Schutz von Souveränität und Frieden des Landes sowie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und von Recht und Ordnung erforderlichen Vollmachten wahr. b) Der Ministerrat ist befugt, in dieser Verfassung enthaltene demokratische und politische Rechte in dem Maße auszusetzen, wie dies zur Überwindung der Bedingungen, die zur Ausrufung des Notstandes geführt haben, erforderlich ist. c) Der Ministerrat kann in Wahrnehmung seiner Notstandsvollmachten jedoch nicht die in dieser Verfassung in den Artikeln 1, 18, 25 und in Abs. (1) und (2) des Art. 39 gewährten Rechte aussetzen oder beschränken. (5) Der Rat der Volksvertreter richtet gleichzeitig mit der Ausrufung des Notstandes eine Notstandskommission ein, welche die Umsetzung der Notstandsproklamation überwacht. Die Kommission besteht aus sieben Personen, die durch den Rat der Volksvertreter aus den Reihen seiner Mitglieder und Rechtsexperten berufen werden. (6) Die Notstandskommission hat die folgenden Befugnisse und Verantwortlichkeiten: a) die Namen der aufgrund des Notstandes Verhafteten innerhalb eines Monats sowie die Gründe für deren Verhaftung bekanntzugeben; b) abzusichern, daß während der Gültigkeit des Notstandes keine inhumanen Maßnahmen ergriffen werden; c) dem Premierminister oder dem Ministerrat Korrekturmaßnahmen zu empfehlen, wenn sie Fälle inhumaner Behandlung feststellt;
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d) die Strafverfolgung aller Personen zu sichern, die inhumaner Handlungen für schuldig befunden werden; e) dem Rat der Volksvertreter ihre Meinung zu unterbreiten, wenn dieser die Verlängerung des Ausnahmezustandes beabsichtigt. Art. 94 Finanzausgaben (1) Die Bundesregierung und die Staaten decken jeweils alle zur Wahrnehmung der ihnen durch Gesetz übertragenen Verantwortlichkeiten und Funktionen erforderlichen fi nanziellen Erfordernisse ab. Sofern nicht anderweitig vereinbart, entschädigen die Bundesregierung und die Staaten sich gegenseitig für im Auftrag des anderen ausgeführte Aufgaben. (2) Die Bundesregierung gewährt den Staaten Notstands-, Rehabilitations- und Entwicklungshilfe und Darlehen. Es ist jedoch darauf zu achten, daß solche Hilfen und Darlehen die Regierungspolitik hinsichtlich der Gleichheit der Entwicklungsmöglichkeiten der Staaten nicht unangemessen beeinträchtigen. Die Bundesregierung kontrolliert und überwacht solche Ausgaben. Art. 95 Die Einnahmen Die Aufteilung der Einnahmen zwischen der Bundesregierung und den Staaten erfolgt entsprechend Bundesvereinbarungen über die Regierungsbefugnisse. Art. 96 Die Bundesbefugnisse zur Besteuerung (1) Die Bundesregierung erhebt Zollgebühren, Steuern und andere Abgaben auf Importe und Exporte und zieht diese ein. (2) Sie erhebt Einkommensteuer für alle äthiopischen Angestellten internationaler Organisationen und zieht diese ein. (3) Sie erhebt die Einkommen-, Ertrags- und Umsatzsteuern von staatlichen Unternehmen und zieht diese ein. (4) Sie besteuert die Einkünfte aus nationalen Lotterien und anderen Glücksspielen. (5) Sie erhebt die Steuern aus Luft-, Schienen-, Fluß- und Seetransportleistungen und zieht diese ein. (6) Sie besteuert die Mieteinkünfte von Häusern und Grundstücken der Bundesregierung, legt die Mieten fest und zieht diese ein. (7) Sie legt die Gebühren für Regierungslizenzen fest und zieht diese ein. (8) Sie erhebt Steuern auf die Einnahmen von Staatsmonopolen und zieht diese ein.
(9) Sie setzt die Stempelgebühren der Regierung fest und zieht diese ein. Art. 97 Die Befugnisse der Staaten zur Besteuerung (1) Die Staaten erheben Einkommensteuer der Beschäftigten der staatlichen und privaten Unternehmen und ziehen sie ein. (2) Die Staaten legen die Gebühren für die Nutzung von Land fest und ziehen diese ein. (3) Die Staaten erheben die Einkommensteuern für private und Genossenschaftsbauern und ziehen sie ein. (4) Die Staaten erheben die Steuern auf die Einnahmen der im Staat ansässigen Händler und ziehen sie ein. Sie erheben auch Umsatzsteuern. (5) Die Staaten erheben die Wassertransportgebühren innerhalb ihrer Staaten und ziehen sie ein. (6) Sie erheben die Steuern auf Einkommen aus Privatbesitz innerhalb ihrer Staaten und ziehen sie ein. Sie ziehen die Miete auf Häuser ein, die sich in ihrem Eigentum befi nden. (7) Die Staaten erheben Steuern auf Gewinne und Einkommen von in ihren Staaten ansässigen Regierungsunternehmen und ziehen sie ein. Sie erheben auch Umsatzsteuern und ziehen sie ein. (8) In Übereinstimmung mit Art. 98 Abs. (3) erheben die Staaten Steuern auf Einkommen aus Bergwerken und ziehen Nutzungsgebühren und Pacht ein. (9) Sie erheben Gebühren für staatliche Lizenzen und Dienstleistungen. (10) Sie legen Abgaben für die Nutzung der Waldressourcen fest und ziehen diese ein. Artikel 98 Konkurrierende Besteuerungsbefugnisse (1) Die Bundesregierung und die Staaten erheben zusammen Steuern auf Einkommen und Gewinne von Unternehmen, die sie zusammen errichten und ziehen sie ein. Sie erheben auch gemeinsam die Umsatzsteuern und ziehen sie ein. (2) Sie erheben gemeinsam Steuern auf Gewinne von Körperschaften und auf an deren Anteilseigner gezahlte Dividenden und ziehen sie ein. (3) Sie erheben gemeinsam Steuern auf Einkommen aus Bergbau, Öl- und Gasförderung und ziehen sie ein, und sie bestimmen die Nutzungsgebühren und ziehen sie ein.
Die Verfassung Äthiopiens Artikel 99 Nicht bestimmte Besteuerungsbefugnisse Steuerbefugnisse, die nicht einzeln der Bundesregierung oder den Bundesstaaten oder beiden gemeinsam übertragen wurden, werden durch ein Zweidrittelvotum der gemeinsamen Sitzung des Bundesrates und des Rates der Volksvertreter festgelegt. Artikel 100 Die Besteuerungsrichtlinien (1) Wenn die Bundesregierung und die Staaten ihre Steuerbefugnisse ausüben, wird das Verhältnis zwischen Steuersatz und Einkommensquelle auf fairer Basis festgelegt. (2) Die Bundesregierung und die Staaten üben ihre Steuerbefugnisse in einer Art und Weise aus, die ihrem Verhältnis nicht abträglich ist. Der Steuersatz und die Steuersumme sollen den Leistungen entsprechen, deren Finanzierung sie dienen. (3) Weder die Bundesregierung noch die Staaten erheben Steuern auf Eigentum des anderen, ausgenommen gewinnbringende Unternehmen. Art. 101 Der Staatsrevisor (1) Nach der Nominierung durch den Premier minister beruft der Rat der Volksvertreter den Staatsrevisor. (2) Der Staatsrevisor legt dem Rat der Volksvertreter einen Bericht über die Prüfung der Konten der Ministerien und der anderen Regierungseinrichtungen sowie seine Einschätzung der Ausgaben des Bundesbudgets entsprechend den bestätigten Zuwendungen vor. (3) Der Staatsrevisor erstellt sein jährliches Budget und legt es dem Rat der Volksvertreter zur Bestätigung vor. (4) Die speziellen Befugnisse des Staatsrevisors werden durch Gesetz festgelegt. Art. 102 Die Wahlkommission (1) Die Verfassung richtet die Nationale Wahlkommission ein. Die Kommission ist eine unparteiische und autonome Einrichtung und dafür verantwortlich, daß alle Wahlen auf Bundes- und Staatsebene frei und fair verlaufen. (2) Die Mitglieder der Kommission werden auf Vorschlag des Premierministers durch den Rat der Volksvertreter berufen. Zur Festlegung der Einzelheiten wird ein spezielles Gesetz erlassen.
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Artikel 103 Die Volkszählungskommission (1) Es wird eine Nationale Volkszählungskommission eingerichtet, die periodische Volkszählungen durchführt. (2) Die Mitglieder der Nationalen Volkszählungskommission werden auf Vorschlag des Premierministers durch den Rat der Volksvertreter berufen. (3) Die Nationale Volkszählungskommission hat einen Generalsekretär und fachliche und technische Mitarbeiter. (4) Das Jahresbudget der Nationalen Volkszählungskommission wird dem Rat der Volksvertreter zur Bestätigung vorgelegt. (5) Alle zehn Jahre ist eine nationale Volkszählung durchzuführen. Der Bundesrat legt die Grenzen der Wahlbezirke auf der Grundlage der Zählergebnisse und einer dem Rat durch die Nationale Wahlkommission vorgelegten Studie fest. Die Nationale Volkszählungskommission ist dem Rat der Volksvertreter verantwortlich und legt dem Rat periodische Berichte über den Fortgang ihrer Arbeit vor. Artikel 104 Die Initiative zur Verfassengsänderung Jegliche Verfassungsänderung wird initiiert und unterliegt der nachfolgend genannten Verfahrensweise, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: wenn sie durch ein Zweidrittelvotum im Bundesrat unterstützt wird; oder wenn ein Drittel der Staatsräte durch Mehrheitsvotum in jedem Rat sie unterstützt haben. Artikel 105 Die Verfassungsänderungen (1) Alle in Kapitel III genannten Rechte und Freiheiten dieser Verfassung, dieser Artikel und Art. 94 können nur nach folgender Verfahrensweise geändert werden: a) wenn alle Staatsräte die vorgeschlagene Änderung mit Mehrheitsvotum akzeptieren; b) wenn der Rat der Volksvertreter die vorgeschlagene Änderung durch ein Zweidrittelvotum akzeptiert; und c) wenn der Bundesrat die vorgeschlagene Änderung durch ein Zweidrittelvotum akzeptiert. (2) Alle Bestimmungen dieser Verfassung außer den in Abs. (1) dieses Artikels enthaltenen können nur nach folgender Verfahrensweise geändert werden: a) wenn der Rat der Volksvertreter und der Bundesrat in einer gemeinsamen Sitzung die vorgeschlagene Änderung mit Zweidrittelvotum annehmen; und
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b) wenn zwei Drittel der Staaten der Föderation die Änderung durch Mehrheitsvotum annehmen.
Artikel 106 Die Version der endgültigen Rechtsgültigkeit Die amharische Version dieser Verfassung hat endgültige Rechtsgültigkeit. (Übersetzung: U. Himmler)
Sachregister Bearbeitet von Roland Schanbacher, Richter am Verwaltungsgericht Die Zahlen verweisen auf die Seiten des Jahrbuchs
Abkürzungen – im Öffentlichen Raum 427 f. Abwägung – normative ~ 106 f. – ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse 89 ff. – Regeln 106 f. Addis Abeba – city government 821 Administrative Tribunals 74 Ästhetik 413 ff. – Ausprägungen 422 ff. – Namensgebung 418 f. – öffentliche ~ (Ausprägungen) 422 ff. – u. Verfassungstexte 421 f. Äthiopien s. a. Verfassung von ~ – Addis Abeba (city government) 821 – bundesstaatliches Gerichtssystem 821 ff. – Bundesverfassung (Beratung) 808 ff. – Council of Constitutional Inquiry 823 – Daten 830 – Föderalismus 801 ff. – – andere Föderationen 801 ff. – – Besonderheiten 825 ff. – geo-politischer Auf bau 827 f. – historische Wurzeln 830 f. – Staatsprinzipien 836 – Staatsziele 836 – Tigray (Verfassungsentwurf ) 812 – Verfassung – – Gliederung 833 ff. – – Textanhang 838 ff. – Verfassung der Regionen 804 ff. – Verfassungsberatung 800 ff. – Verfassungsgebung 797 ff. – Verfassungsentwicklung 813 ff., 830 f. – Verfassungsgeschichte 832 f. Afrika – Verfassungsgebung 797 ff. – Verfassungsmodelle 813 ff. – – Social-Script 814 f. Agenturen (EU) – Arzneimittelagentur 216 f. – Begriff u. Typen 215
– EZB (Parallelen) 223 f. – Gemeinschaftsinstitutionen 213 ff. – Glaubwürdigkeit 223 f. – Gleichgewichtsverletzung 218 f. – Legitimationsprobleme 215 f. – Unabhängigkeit 223 f. – Verhaltenskontrolle 226 f. akademische Konsequenzen – wissenschaftliches Fehlverhalten 329 ff. Akteneinsichtsrecht 37 Aktenöffentlichkeit 37 Akteure – Konglomerat (Zivilgesellschaft) 27 f. Akteursgruppen – Zivilgesellschaftliche ~ 52 ff. – – internationale ~ 55 ff. – – nationale ~ 53 f. Alltagsästhetik – Namen 413 f. – Staatsrechtswissenschaft 418 f. Amerika – Verfassungsrecht 699 ff. Antagonismus – struktureller ~ – – Exekutive – Öffentlichkeit (Verhältnis) 41 Anthropologie – Deskriptive ~ 96 ff. Arzneimittelagentur – europäische ~ 216 f. Atatürk 672 Aufgabenkatalog – Staatsaufgaben (BVerfG) 165 ff. – – Kritik 165 f. Augsberg, S. 579 ff. Auslegung – dynamische ~ 126 f. – u. Rechtsbildung 129 f. Ausschussöffentlichkeit 32 Ausschusswesen (EU) 293 ff. s. a. Komitologie – demokratische Legitimation 321 ff. – Rechtsgrundlagen 298 ff. – u. europäischer Verwaltungsverbund 319 ff. – Verfahren 298 ff.
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Sachregister
Außenwirkung – Promotion 342 f. Bayern – Verfassungsrechtspflege 477 f. Beamtenrecht – u. Generationengerechtigkeit 575 f. Befähigungsnachweis – akademischer ~ 337 f. – unmittelbare Außenwirkung 342 f. – Verwaltungsakt 345 f. Begriffsjurisprudenz 126 ff. Begründungsrationalität 530 f. Behandlungsqualität – Gesundheitswesen 579 f. Berufsanerkennung – in der EU 189 f. – – Pfl ichten (Reichweite) 190 Besetzung – der Landesverfassungsgerichte 469 ff., 485 f. Beweislast – wissenschaftliches Fehlverhalten 354 ff. Biene Maja 495 ff. – Außenseiterstellung 497 ff. – Bienenfabel 503 – Bienenstaat 500 ff. – Entstehungsgeschichte 496 f. – Recht 499 – „Thierstaaten“ 504 – Vermenschlichung 497 f. Bienengleichnis 509 f. Bienenstaat 500 ff. – historische Zeugnisse 500 f. – konstitutioneller ~ 504 f. Bill of Rights 759 ff., 792 ff. Bonsels, W. – Bienenstaat 506 f. Brinktrine, R. 557 ff. Bryde, B. O. 533 f. Bürgerinitiative 49 – europäische ~ 229 ff., 236 ff. Bürgerrechte – vs. Volksrechte (Schweiz – EU) 276 Bürokraten – akademische ~ (Türkei) 677 ff. – judikative ~ (Türkei) 679 ff. Bund – Texte u. Zeichen 428 ff. Bundesexekutive (Australien) 835 Bundesgerichtsbarkeit – in Äthiopien 821 f. Bundesrepublik Deutschland – Zivilgesellschaft (Bedeutung u. Funktion) 15 ff. Bundesverfassung – von Äthiopien 808 ff.
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) – „Eurocontrol“-Entscheidung 83 – Europäisierung (Grenzentrias) 192 f. – „Hartz IV“-Entscheidung 525 f. – u. Landesverfassungsgerichte 450 ff. Casper, G. 699 ff. Chiffren – im öffentlichen Raum 422 ff. City government (Addis Abeba) 821 Civil Society 17 s. a. Zivilgesellschaft Common law 725, 730 ff. Conseil constitutionnel 655 f. Constitution-making-process (Kenya) 748 ff. Constitution of Kenya (2010) 744 ff., 757 ff. – aspirations 758 ff. – balancing and controlling power 773 ff. – courts 778 ff. – diffusing power 781 ff. – electoral system 769 ff. – executive 773 ff. – government 769 ff. – land 768 f. – leadership and integrity 767 – legislature 773 ff. – recognizing diversity 781 f. – rights 759 ff., 763 ff. – transitional provisions 786 f. – values 758 f. Council of Constitutional Inquiry (Äthiopien) 823, 826 Courts – in Kenya 778 ff. Daseinsvorsorge (EU) 195 ff. – Aufgaben 203 – Ausgestaltungswettbewerb 208 ff. – Begriff 200 f. – Beschränkungen 203 f. – Dimension 197 f. – Entwicklungen (Primärrecht) 203 f. – Konzept 201 – nach Lissabon 204 f. – Relativierungen 203 f. – unionale Rahmensetzung 208 – Verfassungserwartungen 202 f. – vor Lissabon 203 Defi nition – Zivilgesellschaft 23 ff. Demografischer Wandel 557 ff. – Auswirkungen 558 ff. – Generationenkonfl ikte (Gefahr) 558 ff. Demokratie – direkte ~ (EU) 269 f.
Sachregister – liberale ~ 103 f. – Schweiz 242 ff. Demokratietheorien – Partizipation der Öffentlichkeit 46 f. Deskriptive Anthropologie – versus Präferenztheorie/Effi zienztheorie 96 ff. Dienstgerichte 74 Dienstrecht – der Landesverfassungsrichter 457 ff., 487 ff. Diskontieren – ökonomisches ~ (Friktionen) 111 f. Diskriminierungsschutz – Türkei 662 f. Dispositionsbefugnis – Graduierung 396 ff. Dispositionsfreiheit – Schutz (Staatsaufgabenlehre) 175 f. Doppelbewegung – des Rechts 115 ff., 150 ff. Doktorgrad – Dispositionsbefugnis 396 ff. – ehrenhalber 398 f. – Entziehung 377 ff., 401 f. – – Ermächtigungsgrundlage 381 f. – redlicher Neuerwerb 402 f. – Rückgabe 387 f. – Verlust 377 ff. – Verzicht 387 ff., 401 ff. – wissenschaftliche Bedeutung 376 f. „double standard argument“ 82 f. Durchführungsrechtsetzung (EU) 312 f. – u. Delegationsrechtsetzung (Abgrenzung) 317 ff. Effi zienztheorie 96 f. EGMR 83 f., 661 s. a. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Ehrenamt 489 Ehrenautorenschaften – fachspezifi sche Konventionen 356 f. Ehrendoktorwürde 398 ff. Ekardt, F. 89 ff. Electoral system – of Kenya 769 ff. Elternwahlrecht 564 f. EMRK 793 s. a. Europäische Menschenrechtskonvention Entrechtlichung 115 Entwicklungen – Verfassungsrecht (Amerika) 699 ff. Entziehung – der Doktorwürde 377 ff., 401 f. Erdogan, M. 686 Establishment – in der Türkei 669 ff.
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Ethik – liberal-demokratische ~ 93 ff. – universalistische (Konzeption) 102 f. EURO-Rettungsschirm (BVerfG) – Europäisierung (Grenzen) 193 Eurocontrol-Entscheidung (BVerfG) 83 f. Europa – Verfassungsrecht (Entwicklungen) 629 ff. – Verfassungsreformen 629 ff. Europäische Arzneimittelagentur 216 f. Europäische Bürgerinitiative 229 ff. – Ablauf 239 ff. – gerichtlicher Rechtsschutz 275 ff. – inhaltliche Schranken 258 f. – Kommission (Organkompetenz) 257 f. – majoritarian difficulty 285 f. – materielle Schranken 251 f. – Partizipation 275 ff. – Paternalismus 273 f. – Primärrecht (Regulativ) 272 f. – Rechtsschutz 241 f. – Stief kind der EU-Organe 269 f. – Zuständigkeitsschranken 255 f. Europäische Kommission – Komitologiebeschlüsse 300 ff. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 793 – Religionsfreiheit 657 f. – Weltanschauungsfreiheit 657 f. Europäische Union (EU) – Agenturen 213 ff. – Ausschusswesen 293 ff. – Berufsanerkennung 189 f. – Daseinsvorsorge 195 ff. – – Aufgaben 203 f. – – Begriff 200 f. – – Dimension 197 f. – – Entwicklungen (Primärrecht) 203 f. – – Konzept 201 – – Relativierungen 203 f. – – Verfassungserwartungen 202 f. – direktdemokratische Partizipation (Schranken) 229 ff. – Diskriminierungsschutz 662 f. – Durchführungsrechtsetzung 312 f. – Institutionen (Kontrolle) 213 ff. – Komitologiebeschluss (1987) 298 ff. – Rechtsetzungsdelegation – – Bedingungen u. Grenzen 307 ff. – – Begründung u. Beendigung (Befugnis) 309 f. – – Komitologie (Funktion) 310 ff. – Regelungsverfahren 302 ff. – Verwaltungsverfahren 301 f. Europäische Verfassungsreformen – Türkei (Einsichten u. Aussichten) 629 ff.
864 Europäische Zentralbank (EZB) – Geldpolitik 220 f. – Kontrollverzicht 221 f. – unabhängiges Unionsorgan 219 f. – – Kontrollfunktion 219 ff. Europäischer Gerichtshof (EuGH) – Übertragung von Befugnissen (Grenzen) – – „Meroni-Entscheidung“ 217 f. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – Minderheitenschutz 661 – „Überwirken“ 83 f. Europäisierung (Rechtsbegriff ) – Arten der ~ 182 ff. – Berufsanerkennung 189 f. – Defi nitionen (Schrifttum) 178 f. – Exekutive 188 f. – Fahrerlaubnisanerkennung – – Grenzen 192 – – Pfl icht zur ~ 191 f. – – Rechtsgrundlagen 190 f. – Funktionsweisen 179 ff. – gesamtheitliche ~ 187 ff. – Grenzen der ~ 192 f. – – EURO-Rettungsschirm 193 f. – institutionelle ~ 186 f. – materielle ~ 183 ff. – Phasen 178 – prozedurale ~ 185 f. – Referenzentscheidungsmodell 189 f. – Verfahrensrecht 184 f. Exekutive – Europäisierung 188 f. – in Kenia 773 ff. – u. Öffentlichkeit – – Entwicklung 36 ff. – – Probleme 40 f. – – Zwischenfazit 41 – Verfassung von Äthiopien (1994/95) 820 f. Fahrerlaubnisanerkennung – in der EU 190 f. – – Grenzen 192 – – Pfl ichten 191 f. – – Rechtsgrundlagen 190 f. Familienwahlrecht 565 f. Farben – im Öffentlichen Raum 424 ff. Federal Court System (Äthiopien) 821 ff. Fehlverhalten – wissenschaftliches ~ – – akademische Konsequenzen 329 ff. Fink, M. 725 ff. Flüchtlingsrecht 63 Föderalismus – in Äthiopien 801 ff.
Sachregister – – Besonderheiten 825 ff. – weitere Systeme 824 f. Föderationsrat (Äthiopien) 835 Föderative Struktur – Verfassung von Äthiopien 834 Folgerichtigkeit – demokratischer Rechtsetzung (Fallibilität) 533 ff. – „irrationaler“ Gesetzgeber 531 f. – ratonaler Gesetzgebung (Konzept) 528 ff. – Realitätskonstruktion 530 f. – Selbstbindung des Gesetzgebers 528 ff. Forschung – Förderung 370 f. – interdisziplinäre ~ 373 f. – Kategorisierungsmodelle 372 f. – Output 372 f. Forschungsförderung 370 ff. Forsthoff, E. 200 Forswearing Allegiance 699 ff. – Bibliography 721 ff. Frankreich – „More Proximate European Systems“ (Türkei) 640 ff. Frauenanteil – der Verfassungsgerichte 486 f. Gärditz, K. F. 449 ff. Gaitanides, Ch. 213 ff. Gegenöffentlichkeit – juristische ~ 454 Geheimhaltungsprinzip 37 Geldpolitik – der EZB 220 f. Geltungsanspruch – des Rechts 106 Gemeinden – als Staatliche Namensgeber 432 ff. Gemeinschaftsinstitutionen – Agenturen (EU) 213 ff. – Gleichgewichtsverletzung 218 f. – Vergleich 219 Generationengerechtigkeit (Idee) – u. Seniorendemokratie 562 ff. – – verfassungsrechtliche Ebene 562 ff., 573 ff. Generationenkonfl ikt 558 ff. – demografi scher Wandel 558 ff. – Eindämmung durch Verfassungsbestimmungen 569 ff. – Lastenverschiebung – – Haushaltsrechtliche Grenzen 572 f. – Vermeidung (Optionen 561 – Wahlrecht 562 f. Genfer Flüchtlingskonvention 63 f. Gerechtigkeit – u. Objektivität 93 ff.
Sachregister Gerechtigkeitstheorie – philosophische ~ 96 ff. Gerechtigkeitsvorstellung – Wandel 156 f. Gerichte – in Äthiopien (Struktur) 835 f. – in Kenia 778 ff. Gerichtssystem – in Äthiopien (Federal-Court System) 821 f. Gerichtsverfahren – u. Öffentlichkeit 42 Gerichtswesen – der USA 729 f. Gesellschaftstheorie 96 Gesetzgebung – in Kenia 773 ff. – rationale ~ – – Folgerichtigkeit (Konzept) 528 ff. Gesetzgebungskunst – u. Verfassungsrecht (Wechselbeziehung) 535 f. Gestaltungselement – Öffentlichkeit 50 Gesundheitsrecht – Innovatonsförderung 587 f. – Innovationstoleranz 587 f., 591 – Innovationsübernahme 587 f. Gesundheitswesen – Behandlungsqualität (Verbesserung) 579 f. – Innovationen 579 ff. – – Funktion u. Erscheinungsformen 579 f. – juristische Innovationsorientierung 593 – Kostenersparnis (Zielsetzung) 579 ff, – rechtliche Innovationshemmnisse 595 f. – Transformationsphase 583 – Versorgungsstrukturen 579 ff. – Weiterentwicklungen 582 f. Gewalten – Europäisierung 187 ff. Gewaltenteilung – USA 728 f. Gewaltmonopol (Staatsaufgabe) 163 ff. Gillich, I. 725 ff. Gleichheitsrechte – Verfassung von Äthiopien 818 f. Görisch, C. 163 ff. Goerlich, H. 651 ff. „Governance-Kodizes“ (Verhaltenskontrolle) 226 f. Government – of Kenya 769 ff. Graduierung 376 ff. s. a. Doktorgrad – Dispositionsbefugnis 396 ff. Grenzen – der Europäisierung 192 ff.
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Grundrechte – u. Generationengerechtigkeit 563 f. – Verfassung von Äthiopien 819 f. Grundwerte-Klauseln – in der Verfassung von Kenia 791 f. zu Guttenberg, K. Th. 354 f. Häberle, P. 4, 368, 418, 500, 520, 789 ff. Handlungstheorie 96 Haushalt – Staatsaufgabe 163 ff. Hermeneutik – Interpretationsregeln 137 f. Herrschaftseliten (Türkei) – bürokratische, militärische, zivile ~ 669 ff. Hesse, K. 789 Hochschullehrer – akademische Bürokraten (Türkei) 677 ff. – als Verfassungsrichter 479 f. Höchstwahlalter (Einführung) 568 f, Idealisierung – des Rechts 154 f. Individualbeschwerde 66 f. Individualrecht – auf Rechtsschutz 64 f. Individualrechtsschutz – übergreifende Garantie 86 f. – u. Völkerrecht 87 f. Innovationen – im Gesundheitswesen 579 ff. – in der Verfassung von Kenia 594 f. Innovationsförderung – im Gesundheitsrecht 587 f. Innovationsforschung – Kooperations- u. Koordinationserfordernisse 596 f. – Rechtswissenschaftliche ~ (Gesundheitswesen) 593 f. Innovationshemmnisse – rechtliche ~ (Gesundheitswesen) 595 f. Innovationsoffenheit – des Rechts 584 ff. Innovationstoleranz – im Gesundheitsrecht 587 f. Innovationsübernahme – im Gesundheitsrecht 587 f. Institutionen – der EU (Kontrolle) 213 ff. Instrumente – direktdemokratische Partizipation (EU) 236 ff. Integration – soziale ~ (EU) 195 ff. Internationale Organisationen – Rechtsschutzgarantien 72 f.
866 Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) 64 f. – Individualrechtsschutz 64 f. – Kontrollgremium 65 f. Internationales Recht – Rechtsschutzgarantien 61 ff. Internationalisierung – der Verfassungsgebung 632 ff. Interpretationsregeln – Hermeneutik 137 f. – positivrechtliche ~ 135 f. – u. Machtverteilung 135 f. Investitionsschutzrecht – Garantieformen 68 ff. Isensee, J. 418 Italien – „More Proximate European Systems“ (Türkei) 640 ff. Ius cogens 229 ff. – extrinsische Schranke? 280 ff. – Werte der Union 229 ff. judiciary – of Kenya 778 ff. Judikative – u. Öffentlichkeit 41 ff. Jurisprudenz – u. Philosophie 513 Juristokratie (Türkei) 687 Justiz – in Kenia 778 ff. – in der Türkei 679 ff. – Öffentlichkeitsarbeit 43 Kant, I. 657 f. Katalogisierung – von Staatsaufgaben 165 f. Kenia s. a. Kenya s. a. Verfassung von Kenia (2010) 747 ff. Kenya – constitution-making-process 748 ff. Kilian, M. 411 ff. Kinderwahlrecht 566 f. Kirchhof, P. 418 Klein, E. 418 Klement, J. H. 115 ff. Klimaökonomik – Kosten-Nutzen-Analyse 90, 92 Komitologie – Begriff 295 ff. – delegierte Rechtsetzung 310 f. – Entstehung 295 ff. – Entwicklung 294 – Funktion 295 ff., 310 ff. – in der EU 293 ff.
Sachregister – nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 304 ff. – Neuordnung 294 f. – Rechtsgrundlagen 298 ff. – Verfahren 298 ff. – Verordnung 2011 311 ff. Komitologieverordnung 2011 – Altrechtsakte (Überleitung) 316 f. – Berufungsausschuss 316 – Prüf- u. Beratungsverfahren 314 ff. – Vereinbarkeit mit Art. 201, 290 AEUV 325 ff. Kommunikationssystem – Öffentlichkeit 46 Kompetenzordnung – bundesstaatliche ~ – – Dienstrecht (Landesverfassungsrichter) 457 ff., 487 ff. Kontrollfunktion – der Europäischen Zentralbank (EZB) 219 f. Kontrollinstrument – Öffentlichkeit 50 Kontrollverzicht – EZB 221 f. – – Glaubwürdigkeitsdefi zite 222 Kosmopolitisierung – der Verfassungsgebung 632 ff. Kosovo – Territorialverwaltung 76 f. – UNMIK 76 f. Kosten-Nutzen-Analyse – öffentlich-rechtliche Abwägung 113 f. – ökonomische ~ – – versus Verhältnismäßigkeit 89 ff. – Tatsachenmaterial (Probleme) 92 f. Kostenersparnis – im Gesundheitswesen (Zielsetzung) 579 f. Kotzur, M. 195 ff. Kultur – Staatsaufgabe 163 ff. Kulturstätten – Namensgebung 439 ff. Kulturwissenschaft – u. Namensgebung 419 ff. Kunstnamen – im öffentlichen Raum 427 f. Länder – Texte u. Zeichen 431 f. Laienbeteiligung – Landesverfassungsgerichtsbarkeit 470 f., 474 ff. Laizität – in der Türkei 651 ff. – u. EMRK 654 f. Landesverfassungsgerichte – Akteure 449 f. – Aktionsfelder (Bedeutungszuwachs) 452 f.
Sachregister – Berufsrichter 470 f. – – bayer. Sonderweg 477 f. – Besetzung 469 ff., 485 ff. – juristische Gegenöffentlichkeit 454 – Laienbeteiligung 470 f., 474 f. – personale Dimension 449 ff. – pluralistische Rechtsetzung 454 – Richterbank 470 – Richterpersonal 454 ff. – Richterwahl 459 ff. – u. Bundesverfassungsgericht 450 ff. Landesverfassungsrecht – Richterarten 472 ff. Landesverfassungsrichter 449 ff. – Berufsbeamtenrichter 460 ff. – Dienstrecht 457 ff. – Ehrenamt 489 – Frauenanteil 486 f. – Nebentätigkeit 491 – politische Erfahrung 482 f. – Wahl (Legitimationsakt) 459 f. – Wahlamt (Dauer) 464 – Wahlrichter 460 ff. – Zusammensetzung 478 ff. Landsgemeinde (Schweiz) 278 Langer, L. 229 ff. Larenz, K. 547 Legalität – Schwinden der ~ 115 ff. – – Thesen 125 ff. – – Ursachen 155 f. Legislative – in Kenia 773 ff. – u. Öffentlichkeit 30ff. – Verfassungsbindung 120 ff. Legislativorgan – Parlament 34 ff. Legitimation – des Ausschusswesens (EU) 321 ff. Legitimationsakt – Richterwahl 459 ff. Legitimationsprobleme – der Agenturen (EU) 215 f. Legitimität – soziale Integration 195 ff. Leibniz, G. W. 373 Lenk, H. 542 Lissabon-Urteil 163 ff. Lorenz, D. 383 f. Luther, J. 629 ff. Machtstellung – des Militärs (Türkei) 688 ff. Machtverteilung – Legislative – Exekutive – Judikative 135 ff.
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Mandeville, B. – Bienenfabel 503 f. Maßnahmen – geldpolitische ~ (EZB) 220 f. – – Kontrolle 220 Menschenrechte – Verfassung von Äthiopien (Katalog) 817 ff. Menschenrechtserklärung – Verfassung von Äthiopien 818 Menschenrechtspakte – regionale ~ (Garantien) 67 f. Menschenrechtsschutz 62 f. „Meroni-Entscheidung“ (EuGH) 217 f. Militär – in der Türkei (Machtstellung) 688 ff. Mittelstraß, J. 513 ff., 537 f., 542 Möllers, Chr. 537 „More Economic Approach“ 144 ff. „More Proximate European Systems“ – Italien u. Frankreich 640 ff. von Münch, I. 418 Müller, Th. 229 ff. Murray, Chr. 747 ff. Namensgeber – Alltagsästhetik 413 f. – Auffälligkeiten 442 f. – Gemeinden u. Landkreise 432 ff. – Kulturwissenschaft 419 ff. – mittelbare Staatsverwaltung 438 f. – öffentliche Unternehmen 441 f. – Staatsverwaltung 438 f. – u. Öffentlichkeit 414 – u. Verfassungstheorie 416 ff. – wissenschaftliche Forschung 412 f. Neuerwerb – Doktorwürde 402 f. Neutralität – religiöse ~ (Türkei) 652 ff. Normativität 97 ff. Normenkollisionen – Europäisierung 179 ff. „Notstandslegalismus“ 149 Objektivität – u. Gerechtigkeit 93 ff., 97 ff. „Occupy-Bewegung“ 52 Öffentliche Unternehmen – Namensgebung 441 f. – Privatisierung 441 f. Öffentlicher Dienst – Rechtsschutz 74 Öffentlicher Raum – Abkürzungen 427 f. – Chiffren 422 ff. – Farben 424 ff.
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Sachregister
Öffentlicher Raum – Kunstnamen 427 f. – Texte u. Zeichen 411 ff., 422 ff. – – Einzelbereiche 428 ff. Öffentliches Recht – ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse 90 ff. Öffentlichkeit – als Gestaltungselement 50 – als Kommunikationssystem 46 – als Kontrollinstrument 50 – des gerichtlichen Verfahrens 42 – im republikanischen Rechtsstaat 28 ff. – Publizität staatl. Handelns 29 – u. Exekutive – – Entwicklung 36 ff. – – Probleme 40 f. – – Zwischenfazit 41 – u. Judikative 41 ff. – u. Legislative 30 ff. – u. Parlament 30 f. – u. staatsleitende Prinzipien 48 f. – u. Zivilgesellschaft 15 ff. Öffentlichkeitsarbeit – der Justiz 43 Öffentlichkeitsgebot 32 Öffentlichkeitsprinzip – im Parlament 31 Ökonomisierung – der Wissenschaft 369 f. Ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse – Klimaökonomik 90, 92 – u. Öffentliches Recht (Abwägungsparadigma) 90 f. Ökonomisches Diskontieren 111 f. Organisationen – internationale ~ – – Rechtsschutzgarantien 72 f. Organisationslehre 338 Organisationsstrukturen – in der türk. Verfassung 660 f. Organkompetenz – EU-Kommission 257 f. Özal, T. 669 ff. Parlament – in Äthiopien 823 ff. – Kontrolleur u. Kontrollierter 30 ff. – Legislativorgan 34 f. – Öffentlichkeit 33 f. Partizipation – direktdemokratische ~ (Schranken) 229 ff. – – autoritativer Entscheidungsmechanismus 231 f. – – Bekenntnis 230 f. – – Diskurs- u. Lernpotenziale (EU – Schweiz) 269 ff.
– – Instrumente 275 ff. – – Rechtsschutz 275 ff. – – Schranken 234 f., 250 ff. Paternalismus – Bürgerinitiative 273 Patientensouveränität 582 f. Philosophie – u. Jurisprudenz 513 – Theoretische ~ 517 Politik – u. Recht (Unterscheidung) 157 ff. Präambel – Verfassung von Äthiopien 815 f. Präferenztheorie 96 f., 102 f. Präsenzöffentlichkeit 49 Präsident – Verfassung von Äthiopien 820 f. Primärrechtsbindung – der Bügerinitiative (EU) 251 ff. Prinzipien – Kemalistische (Türkei) 672 – Staatsleitende ~ – – Öffentlichkeit (Auswirkung) 48 f. Prinzipientheorie 133 f. Privatisierung – öffentlicher Unternehmen 441 f. – von Staatsaufgaben (Grenze) 173 f. Promotion s. a. Doktorgrad – Bedeutung 332 f., 376 f. – Befähigungsnachweis 337 f., 342 f. – Einführung 329 ff. – Prüfungsausschuss 338 ff. – rechtliche Einordnung 333 f. – Titelführungsrecht 350 f. – Verfahren 332 f. – Verlust 377 ff. – Verzicht 387 ff., 401 ff. Promotionsentscheidung – organisationsrechtliche Absicherung 348 f. Promotionsverfahren – Ablauf 322 f. – Regelungswirkung 341 f. Publikationen – wissenschaftliche ~ – – rechtliche Rahmenbedingungen 358 ff. Publizität s. a. Öffentlichkeit – staatl. Handelns 29 f. Quantifi zierungen – ökonomische ~ 89 f. – – Friktionen 108 ff. – – normative Abwägungen (Vergleich) 106 f.
Sachregister Rademacher, T. 61 ff. Rationalität 97 ff. – der Realitätskonstruktion 530 f. – des Rechts 525 ff., 541 ff. – – Rechtsdidaktik (Bedeutung) 551 f. – – Rechtsdogmatik (Bedeutung) 546 f. – Irrationalität 525 ff. Rationalitätsbegriff – des Rechts 513 ff. – der Wissenschaftstheorie 513 ff., 521 f. Raum – öffentlicher ~ 441 ff. Realitätskonstruktion 530 f. Recht 599 ff. – amerikanisches ~ – – völkerrechtliche Verträge (Geltung) 734 – – Völkergewohnheitsrecht (Geltung u. Wirkung) 740 ff. – Beschleunigung 154 – Doppelbewegung 115 ff., 150 ff. – Europäisierung 179 ff. – Geltungsanspruch 106 – Idealisierung 154 f. – internationales ~ – – Rechtsschutzgarantien 61 ff. – Rationalitätsbegriff 513 ff. – Selbstentmachtung 146 ff. – Selbstermächtigung 144 ff. – u. Gesundheitswesen – – Innovationen (Herausforderung) 583 ff. – u. Politik (Unterscheidung) 157 ff. – Zweck im ~ 128 f. Rechtsakte – delegierte ~ (EU) 307 ff. – Durchführungs~ 317 f. – EU (Verbandskompetenz) 255 f. Rechtsanwendung – Systembildung 150 f. – Verselbständigung 152 ff. Rechtsauslegung 129 f. Rechtsbildung – Begriff 129 ff. Rechtsbindung – Ubiquität 119 f. Rechtsdidaktik 541 ff. – u. Rationalität des Rechts 551 ff. Rechtsdogmatik 541 ff. – u. Rationalität des Rechts 546 f. Rechtserzeugung – pluralistische ~ 454 Rechtsfolge – wissenschaftliches Fehlverhalten 385 f. Rechtsfortbildung – richtlinienkonforme ~ 139 ff. – verfassungskonforme ~ 138 f.
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Rechtskonzeption – universalistische ~ 102 f. Rechtsnormen – als Prinzipien 133 ff. Rechtsphilosophie 513 ff. Rechtsetzung – „Irrationalität“ demokratischer ~ 525 f. Rechtsetzungsbefugnisse – der EU (Delegation) 293 f. Rechtsschutz – direktdemokratische Partizipation (EU) 275 ff. – durch internationale Instanzen 81 f. – durch nationale Instanzen 81 – EU-Bürgerinitiative 241 f. – im Öffentlichen Dienst 74 f. – Individualrecht 64 f. Rechtsschutzgarantien – des internationalen Rechts 61 ff. – Gewährleistungsdimensionen 80 – im Öffentlichen Dienst 74 f. – internationale Organisationen 72 f. – internationales Wirtschaftsrecht 68 f. – – Investitionsschutzrecht 68 f. – – UN-Charta 72 f. – – WTO-Recht 68 f. – in völkerrechtlichen Verträgen 62 f. – Menschenrechtsschutz 62 f. Rechtsstaat – demokratischer ~ – – Zivilgesellschaft u. Öffentlichkeit 15 ff. – republikanischer ~ – – Öffentlichkeit (Funktionen) 28 ff. Rechtstheorie 513 ff. Rechtsvergleichung – Supreme Court (USA) 730 ff. Rechtsverletzungen – durch internationale Akteure 82 – – Rechtsschutz durch nationale Instanzen 85 f. Rechtswidrigkeit 149 Rechtswissenschaft – als Kulturwissenschaft 131 f. – Innovationen im Gesundheitswesen 583 ff. Referenzentscheidungsmodell – Europäisierung 189 f. Regelungstechnik – von Verfassungen 665 f. Regelungsverfahren – in der EU 302 ff. Regierung – Kenia 769 ff. – Verfassung von Äthiopien 820 f. Regierungspartei – PGA (Türkei) 681 ff., 701
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Sachregister
Regionen – Äthiopien – – Verfassungsberatung 804 ff. Religionsbehörde – Türkei (Aufgaben) 664 f. Religionsfreiheit – in der Türkei 651 ff., 657 f. – in der EMRK 657 f. Republikanische Volkspartei (Türkei) 685 f. Richter s. a. Landesverfassungsrichter Richterdienstrecht – allgemeines ~ 487 ff. Richterentschädigung 489 f. Richterwahl – als Legitimationsakt 459 ff. Rixen, S. 525 ff. Rundfunkanstalten – Namensgebung 439 ff. Sachverständnis-Klauseln – in der Verfassung von Kenia 791 f. Säkularität (Türkei) 652 ff., 661 f. Sanktionen – des UN-Sicherheitsrates (Listing-Verfahren) 8 Schlacke, S. 293 ff. Schmidt-Aßmann, E. 61 ff., 178, 199 Scholler, H. 797 ff. Schranken – direktdemokratischer Partizipation 250 ff. – EU-Bürgerinitiativen 251 ff. Schuldenbremse 572 f. Schwarz, M. 495 ff. Schweiz – direktdemokratische Partizipation (Schranken) 229 ff., 264 ff. – Volksinitiative 229 ff., 242 ff., 277 ff. – – Rechtskontrolle 249 f. – – Schranken 264 ff. – – Selbstverfassungsrecht 270 f. – „Wiege der Demokratie“ 242 ff. Selbstbefassungsrecht – direkte Demokratie (Schweiz) 270 f. Selbstdarstellungen – Staatsrechtslehre 599 ff. Selbstentmachtung – des Rechts 146 ff. Selbstermächtigung – „Ausnahme“ vom Recht 144 ff. Seniorendemokratie 557 ff. – demografi scher Wandel 557 f. – Generationengerechtigkeit (Idee) 562 ff. – Lastenverschiebung – – haushaltsrechtliche Grenzen 572 f. – Problemstellung 557 ff. – Schuldenbremse 572 f. – Wählermacht 559 ff.
Seniorenwahlrecht 562 f. – u. Höchstwahlalter 568 f. Siegel, Th. 177 ff. „Social-Script“ – Verfassungen (Afrika) 814 f. Sommermann, K.-P. 178 Soziale Integration – Legitimität 195 ff. Soziales – Staatsaufgabe 163 ff. Staat 599 ff. – u. Öffentlichkeit – – Zwischenbilanz 44 ff. Staatsaufgaben – Aufgabenkatalog 164 ff. – Aufzählung (Willkürlichkeit) 170 ff. – Gewaltmonopol 163 – Haushalt 163 – Katalogisierung 165 – Kultur 163 – Privatisierungsdebatte 173 f. – Soziales 163 – verfassungsnotwendige ~ 163 ff. – vergleichende Perspektive 163 ff. Staatsaufgabenlehre – Dispositionsfreiheit 175 f. Staatsmacht – Träger der ~ (Türkei) 673 ff. – – Bürokratie 677 ff. – – Großkonzerne 691 ff. – – kemalistische Intellektuelle 691 ff. – – Militär 688 ff. – – Politik (eingeschränkte Rolle) 693 ff. Staatsmodell – der Türkei 670 ff. Staatsorganisation – der USA 728 f. Staatspolitik – der Türkei – – Herrschaftselite (Rolle) 669 ff. Staatsrecht – der Bundesrepublik Deutschland (Klaus Stern) 607 Staatsrechtslehrbuch – v. Klaus Stern 605 f. Staatsrechtslehre – Selbstdarstellungen 599 ff. Staatsrechtswissenschaft – u. Ästhetik 418 f. Staatstreue 699 ff. Staatsverständnis – türkisches ~ 617 f. Staatsverwaltung – Namensgebung 438 f. Staatsziele – Verfassung von Äthiopien 836
Sachregister Stern, Klaus 599 ff. – Forschungsschwerpunkte 620 ff. – im Dienst von Recht, Staat u. Wissenschaft 599 ff. – internationale Kontakte 617 f. – Jugendzeit 600 – Kommissionsmitgliedschaften 608 f. – Staatsrechtslehrbuch 605 f. – staatsrechtliche Arbeiten 606 ff. – Studium 600 ff. – Veröffentlichungen 620 f. – Vortragstätigkeit 614 f. – Wirkungsstätten 603 ff. Strukturkonservativität – des Rechts 584 ff. Stumpf, G. H. 329 ff. Subsidiarität – Daseinsvorsorge (Konzept) 201 f. Supreme Court – der USA 726 ff. – – Rechtsvergleichung 730 ff. Telos – der Wissenschaft 330 ff. Territorialverwaltung – im Kosovo 76 f. Tertiärrechtsetzung – Rechtsakte ohne Gesetzescharakter 305 f. – Rechtsgrundlagen 304 ff. Textanhang – Verfassung von Äthiopien 838 ff. Texte – im öffentlichen Raum 411 ff. Tigray (Äthiopien) – Verfassungsentwurf 812 Titelführungsrecht – Doktorgrad 350 f. Türkei – Bürokraten – – akademische ~ (Hochschullehrer) 677 ff. – – judikative ~ 679 ff. – Diskriminierungsschutz 662 f. – Establishment 669 ff. – Grundrechtskombinationen 659 – Herrschaftseliten 669 ff. – Justiz 679 ff. – kemalistische Prinzipien 672 – Laizität 651 ff. – Militär 688 ff. – „More Proximate European Systems“ 640 ff. – Organisationsstrukturen 660 f. – Regierungspartei PGA 681 ff., 701 – Religionsfreiheit 651 ff., 657 f. – Republikanische Volkspartei 685 f., 693 ff. – Säkularität 652 ff. – Staatsmodell 670 ff.
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Staatsverständnis 671 f. Träger der Staatsmacht 673 ff. Verfassung der 3. Republik (1982) 671 Verfassungserwartungen 647 f. Verfassungsgericht 680 ff., 701 Verfassungsreform 651 ff. s. a. europäische Verfassungsreformen – Verfassungsreformprozess (heute) 629 ff. – Verwaltungsbürokratie 674 ff. – Weltanschauungsfreiheit 658 Ubiquität – der Rechtsbindung 119 f. Umweltrecht – Konfl iktbewältigungsregeln 574 f. Unabhängigkeit – der EU-Agenturen 223 f. UN-Charta – Rechtsschutz 72 f. UN-Sicherheitsrat – individuelle Sanktionen (Listing-Verfahren) 78 f. Unentschiedenheiten – verfassungsrechtliche ~ 6 ff. UNMIK 76 f. Unternehmen – Öffentliche ~ – – Namensgebung 441 f. – – Privatisierung 441 Unwürdigkeit – akademische ~ 378 ff. Ursachen – wissenschaftliches Fehlverhalten 351 ff. USA – Völkerrecht 725 ff. US-Recht – Völkergewohnheitsrecht – – Geltung u. Wirkung 740 ff. – völkerrechtliche Verträge (Geltung) 734 f. Vereinte Nationen (UN) – Konvention über Vorrechte und Immunitäten 72 f. Verfahrensrecht – Europäisierung 184 ff. Verfassung – der Regionen (Äthiopien) 804 ff. – Konvergenz u. Divergenz 4 – Wissenschaft 1 ff. Verfassung der Türkei – Auszüge 667 f. – Laizität 652 ff. – Organisationsstrukturen 660 f. – Weltanschauungsfreiheit 658 Verfassung der USA – Gerichtswesen 729
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Sachregister
Verfassung der USA – Gewaltenteilung 728 f. – Staatsorganisation 728 f. – Verfassungsgerichtsbarkeit 728 ff. – Völkerrecht (Einfluss) 725 ff. Verfassung von Äthiopien (1994/95) 833 f. – Abschnitte 815 ff. – Exekutivgewalt 820 f. – Gleichheitsrechte 818 – Gliederung 833 ff. – Grundrechte 819 f. – Menschenrechte (Katalog) 817 ff. – Parlament 823 ff. – Präambel 815 f. – Präsident u. Regierung 820 f. – Textanhang 838 ff. – Verfassungsentwicklung 813 ff. – Verfassungsentwurf (Beratung) 800 ff. – Verfassungsprinzipien 816 f. Verfassung von Kenia (2010) 747 ff. – Bill of Rights 792 ff. – Grundwerte-Klauseln 791 f. – Innovationen 794 f. – Präambel 790 f. – Sachverständnis-Klauseln 791 f. – wichtige Textensembles (Auswahl) 790 ff. Verfassungen – Regelungstechnik 665 f. Verfassungsänderung 642 ff. Verfassungsberatung – in Äthiopien 800 ff. – – Regionen 804 ff. Verfassungsbindung – der Legislative 120 ff. Verfassungsentwicklung – von Äthiopien 830 f. Verfassungserwartungen – Daseinsvorsorge 202 f. Verfassungsgebung 642 ff. – in Äthiopien 797 ff. – in Afrika 797 ff. – in Kenia 748 ff. – Internationalisierung (Formen u. Grenzen) 632 ff. – Kosmopolisierung (Formen u. Grenzen) 632 ff. Verfassungsgericht – der Türkei 680 ff. – – Verfassungsänderung (Urt. v. 7. 7. 2010) 685 f. Verfassungsgerichtsbarkeit – in Äthiopien – – Council of Constitutional Inquiry 823, 826 – der Länder 449 ff. – der USA 728 ff.
Verfassungsgeschichte – des republikan. Äthiopien 832 f. Verfassungsinitiative 646 f. Verfassungslehre – Daseinsformen 9 f. Verfassungslehrer 1 ff. – Folgerungen 12 f. – in der Diaspora 4 ff. – Versuchungen 10 f. Verfassungsmodelle – in Afrika 813 ff. Verfassungsprinzipien – Verfassung von Äthiopien 816 f. Verfassungsrecht – im außereuropäischen Raum 699 ff. – im europäischen Raum 629 ff. – in Amerika 699 ff. – u. Gesetzgebungskunst 535 f. Verfassungsreferendum 646 f. Verfassungsreformen – europäische ~ (seit 1989) 636 ff. Verfassungsreformprozess – türkischer ~ (heute) 629 ff. Verfassungsrichter – der Länder 449 ff. s. a. Landesverfassungsrichter – Hochschullehrer 479 ff. Verfassungstheorie – Namensgebung 416 ff. Verfassungswissenschaft 1 ff. Verhältnismäßigkeit – ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse 89 ff. Verhaltenskontrolle – der Agenturen (EU) (Governance-Kodizes) 226 f. Verrechtlichung 115, 117 ff. – Begriff 118 f. - Ursachen 124 Versorgungsstrukturen – im Gesundheitswesen 579 f. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) 293 ff. Vertrag von Lissabon – Daseinsvorsorge 204 ff. – delegierte- u. Durchführungsrechtsakte (Abgrenzung) 317 f. – Komitologie 293 ff. Verwaltungsakt – Befähigungsnachweis (Promotion) 345 f. Verwaltungsbürokratie – in der Türkei 674 ff. Verwaltungshandeln – Außenwirkung (internationale Organsiationen) 75 f. Verwaltungsrecht – u. Generationengerechtigkeit 573 f.
Sachregister Verwaltungsverbund – europäischer ~ – – Ausschusswesen (Bedeutung) 319 ff. – – Daseinsvorsorge (Dimension) 197 f. Verwaltungsverfahren – in der EU 301 f. Verzicht – Doktorgrad 387 ff. – – Voraussetzungen 390 ff. Völkergewohnheitsrecht – im US-amerikanischen Recht – – Geltung u. Wirkung 740 ff. Völkerrecht – als Aktionsrecht 79 – Individualrechtsschutz 87 f. – Verfassung der USA 725 ff. Völkerrechtliche Verträge – Anwendbarkeit (USA) 735 ff. – Geltung (USA) 734 f. – Rechtsschutzgarantien 62 ff. Vogt, C. – „Thierstaaten“ 504 f. Volksinitiative – „Majoritarian Difficulty“ 285 f. – Schweiz 229 ff., 242 ff., 277 ff. – – Rechtskontrolle 249 f. – – Verfahren 247 ff. Volksrechte – vs. Bürgerrechte (Schweiz – EU) 276 Wählermacht – der Senioren 559 ff. Wahl – der Landesverfassungsrichter 459 ff. – – Mehrheitserfordernisse 465 f. – – Wählbarkeit 467 ff. – – Wahlamt 464 f. Wahlrecht – der Eltern 564 f. – der Familien 565 f. – der Minderjährigen/Kinder 566 f. – der Senioren 562 ff. – – Höchstwahlalter 568 f. Wahlsystem – in Kenia 769 ff. Wandel – demografi scher ~ 557 ff. Weber, M. 526, 543 ff. Weiler, J. H. H. 195 Weiß, N. 15 ff. Weltanschauungsfreiheit – in der EMRK 657 f. – in der türk. Verfassung 658 Welthandelsrecht (WTO) – Garantieformen 71 f.
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Werte – der EU 229 ff. Windthorst, K. 541 ff. Wirtschaftsrecht – internationales ~ – – Rechtsschutzgarantien 68 f. Wissenschaft – Doktorwürde 383 ff. – Einführung 329 ff. – Kategorisierungsmodelle 372 ff. – Ökonomisierung 369 f. – Organisation 370 ff. – Output (Forschungsindikator) 372 – Telos 330 ff. – Verfassung 1 ff. wissenschaftliche Forschung – Namensgebung 412 f. wissenschaftliche Praxis – Absicherung (Qualität) 375 f. – Akademische Konsequenzen 375 ff. wissenschaftliche Publikationen – rechtliche Rahmenbedingungen 358 ff. wissenschaftliches Fehlverhalten – akademische Konsequenzen 329 ff. – Beispiele 356 ff. – Beweislastverteilung 354 ff. – Falsifi kation 363 f. – methodische Fehler 364 f. – objektiver Tatbestand 351 ff. – Rechtsfolge 385 – Ursachen 351 ff., 369 ff. – Wissenschaftsplagiate 366 ff. Wissenschaftsgemeinde 334 ff. – Aufnahme (Promotion) 345 ff. Wissenschaftsplagiate 366 ff. Wissenschaftstheorie 517 ff. – Rationalitätsbegriff 513 ff., 521 f. Wolff, H. J. 338 Würdeverständnis – akademisches ~ 380 f. – historisches ~ 378 f. Yildiz, H. 669 ff. Zagrebelsky, G. 1 ff. Zeichen – im öffentlichen Raum 411 ff., 422 ff. Zentralbank – Europäische ~ (EZB) 219 ff. Zentralgewalt – in Äthiopien 809 Zeugnisse – historische ~ – – Bienenstaat 500 ff. Zielkonfl ikte – Hochschul-Urheber u. Prüfungsrecht 362 f.
874 Zivilgesellschaft – Defi nitionsversuche 23 ff. – gesellschaftliche (Teil-)Formationen (Abgrenzungen) 26 ff. – heutiges Verständnis 23 ff. – u. Öffentlichkeit 15 ff. – Zusammenschluss v. Individuen 27 f.
Sachregister Zusammenschluss – v. Individuen 27 f. Zustimmungsfunktion 44 f. Zweck – im Recht 128 f. Zwischenbilanz – Staat – Öffentlichkeit 44 ff.